Philosophieren mit Kindern zum Thema Menschenrechte: Vernunft und Mitgefühl als Grundvoraussetzungen einer demokratischen Dialogkultur 9783495860625, 9783495485965


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Inhalt
Einleitende Gedanken: Für eine »Kultivierung der Menschenrechte« – Probleme, Perspektiven und Prognosen
1. Forschungsstand zur Menschenrechtsbildung
1.1 Menschenrechtsbildung zwischen Werte- und Demokratieerziehung
1.2 Kontextspezifische Probleme der Werte- und Demokratiebildung
1.3 Problemkontext und Herausforderungen der Menschenrechtsbildung
1.4 Materialien zur Menschenrechtsbildung: Trends und Zielsetzungen
1.5 Fazit und Forschungsdesiderat: Menschenrechtsbildung im Fokus von Vernunft und Mitgefühl
2. Schüsselkompetenzen der Menschenrechtsbildung: bildungspolitische Notwendigkeiten und entwicklungspsychologische Grundbedingungen
2.1 Kommunikative Vernunft und politische Rationalität
2.1.1 Vernunft und Rationalität in der Politischen Bildung
2.1.2 Kommunikative Vernunft und die Entwicklung von Moral: das Stufenmodell von L. Kohlberg
2.1.3 Fazit: inhaltliche und methodische Erweiterungen des Kohlberg-Modells
2.2 Mitgefühl
2.2.1 Entwicklungspsychologische Grundlagen
2.2.2 Ansätze und Projekte zur Förderung von Mitgefühl
2.2.3 Fazit: Forschungsdesiderat für eine sinnesfundierte Förderung von Mitgefühl
2.3 Fazit: inhaltliche und methodische Ausrichtung des Bildungsmodells
2.3.1 Kernkompetenzen
2.3.2 Methodische Konsequenzen: Anwendung primärer philosophischer Methoden zur Vernunfts- und Mitgefühlsförderung innerhalb des Bildungsprojektes
3. Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«: die Kultivierung von Vernunft und Mitgefühl im Hinblick auf eine zeitgemäße Menschenrechtsbildung
3.1 Aktuelle Denkansätze, empirische Arbeiten und Methoden des »Philosophierens mit Kindern«
3.1.1 Internationale Institutionen und Ansätze des »Philosophierens mit Kindern«
3.1.2 »Philosophieren mit Kindern« in der politischen Bildung
3.1.3 Philosophieren mit Kindern und die Förderung des kritischen, kreativen und mitfühlenden Denkens
3.1.4 Desideratum und konzeptionelle Erweiterung für ein Bildungsprojekt zur Menschenrechtsbildung
3.2 Theoretisches Fundament des Bildungskonzeptes »Philosophieren mit Kindern«
3.2.1 Philosophisch-politische Dimensionen der Kindheit
a. Kindsein als politischer »Akt«
b. Kinder philosophieren – Überforderung oder pädagogische Notwendigkeit?
c. Das Kind in der Menschenrechtsbildung
3.2.2 Philosophieren als politische Praxis
a. Philosophiebegriff: Philosophieren als Tätigkeit
b. Philosophische Anhaltspunkte: Inhalte, Methoden und Haltung
c. Der philosophische Prozess: Staunen-Fragen, Denken-Fühlen-Sprechen, Werten-Handeln
3.2.3 Vernunft und Mitgefühl im philosophischen Prozess: die drei Formen des Denkens nach Matthew Lipman
a. Vom »critical thinking« zur kommunikativen Vernunft (Habermas)
b. Vom »creative thinking« zur sozialen Utopie (Rorty)
c. Vom »caring thinking« zum Mitgefühl (Rorty)
3.3 Philosophische Inhalte: Quellen zum Staunen und Fragen
3.3.1 Die Bedeutung des Staunens und Fragens
3.3.2 Hermeneutisch-phänomenologische Zugänge zum Staunen und Fragen
3.3.3 Bedeutung für die Kultivierung der Menschenrechte
3.3.4 Didaktische Anregungen
3.4 Philosophische Methoden: Hilfen zum Denken, Fühlen und Sprechen
3.4.1 Philosophieren als Methode: thematische Einführung
3.4.2 Die »Community of Inquiry« als Dialoggemeinschaft
a. Theoretische Grundlegung
b. Didaktischer Leitfaden
3.4.3 Methodenspezifische Erweiterungen der Community of Inquiry zur Kultivierung von Mitgefühl und kommunikativer Vernunft
a. Phänomenologie (Husserl/Merleau-Ponty): die Sensibilisierung des Mitgefühls durch die Kultivierung der Sinne
b. Philosophische Hermeneutik (Gadamer): vom verstehenden Perspektivenwechsel zur kontextsensiblen Verantwortungsethik
c. Dialektik und Analytik (Habermas): abstrakter Perspektivenwechsel zwischen Einheit und Differenz
d. Spekulation (Rorty): von der Hoffnung zur Innovation
e. Exkurs zur Ironie (Rorty): vom individuellen Wachstum zur sozialen Freiheit
3.5 Philosophische Haltung: Möglichkeiten des Wertens und Handelns
3.5.1 Zum Verhältnis zwischen Theorie und Praxis: philosophietheoretische Vorüberlegungen
a. Die Philosophie als Lebenspraxis in der Antike
b. Die Hermeneutik als Tätigkeit
3.5.2 Philosophische Haltung und Tugenden: die praxisgeleitete Kultivierung der Menschenrechte
3.5.3 Didaktischer Leitfaden: der Übergang von der Community of Inquiry zur Community of Action
4. Zum Abschluss: exemplarischer Versuch der Didaktisierung der Dialogmodelle von Jürgen Habermas und Richard Rorty
4.1 Für eine Schule des Mitgefühls nach Richard Rorty
a. Philosophiebegriff und die Bedeutung der Philosophie im öffentlichen Raum: theoretische Rechtfertigung für die Didaktisierung im Hinblick auf die Menschenrechtsbildung
b. Didaktischer Leitfaden
4.2 Für die Kultivierung einer idealen Diskurssituation nach Jürgen Habermas
a. Philosophiebegriff und die Bedeutung der Philosophie im öffentlichen Raum: theoretische Rechtfertigung für die Didaktisierung im Hinblick auf die Menschenrechtsbildung
b. Didaktischer Leitfaden
Literaturverzeichnis
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Philosophieren mit Kindern zum Thema Menschenrechte: Vernunft und Mitgefühl als Grundvoraussetzungen einer demokratischen Dialogkultur
 9783495860625, 9783495485965

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A

Barbara Weber

Philosophieren mit Kindern zum Thema Menschenrechte Vernunft und Mitgefühl als Grundvoraussetzungen einer demokratischen Dialogkultur

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495860625

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Barbara Weber Philosophieren mit Kindern zum Thema Menschenrechte

VERLAG KARL ALBER

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https://doi.org/10.5771/9783495860625 .

»Gerecht ist, wenn keiner der Chef ist und alle mitspielen dürfen!« »Gerecht ist, wenn es keinen Krieg oder Streit gibt und man sich nicht gegenseitig auf die Nerven geht!« »Gerecht ist, wenn jeder so viel wert ist wie der andere!« Kinder entwickeln schon früh ein Bewusstsein für Ungerechtigkeiten – gegenüber sich selbst als auch gegenüber anderen. Um dieses Bewusstsein zu schulen und gemeinsame Rechte trotz bestehender Unterschiede auszuhandeln, braucht es beides: ein umfassendes Mitgefühl sowie die Fähigkeit intersubjektive »Wahrheiten« im demokratischen Dialog zu generieren. Was aber bedeutet diese Einsicht für die Kultivierung eines Menschenrechtsbewusstseins bei Kindern? Ist es möglich, rationale Dialogfähigkeit und Mitgefühl parallel zu kultivieren, bzw. bedingen diese sich unter Umständen sogar gegenseitig? Die Autorin entwirft anhand moderner und postmoderner Theorien eine Art »dialogische Blickwinkelpädagogik«, welche die Kultivierung von individueller bzw. kultureller Identität nicht gegen, sondern mit und durch Andere versteht. »Identitätsbildung« wird als Teil der politischen Kultur gedeutet und umfasst den generalisierten Perspektivenwechsel ebenso wie die Sensitivierung für Ähnlichkeit und Andersheit durch Mitgefühl und Sprache. Bildungstheoretisch wählt die Autorin hierfür John Dewey als Ausgangspunkt, um die gesellschaftspolitische Aufgabe der Philosophie als Demokratiebildung neu zu bestimmen. Aus diesem theoretischen Ansatz wird das »Philosophieren mit Kindern« als Mittel zur Förderung von Demokratie und Dialogkompetenz abgeleitet.

Die Autorin Barbara Weber, geb. 1976 in München, ist Professorin für Philosophie und Psychologie im Department für Human Development, Learning and Culture an der University of British Columbia in Kanada. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Phänomenologie, Hermeneutik, zeitgenössische politische Philosophie sowie das Philosophieren mit Kindern.

https://doi.org/10.5771/9783495860625 .

Barbara Weber

Philosophieren mit Kindern zum Thema Menschenrechte Vernunft und Mitgefühl als Grundvoraussetzungen einer demokratischen Dialogkultur

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495860625 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2013 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48596-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86062-5

https://doi.org/10.5771/9783495860625 .

Für Prof. Dr. Eva Marsal und Prof. Dr. Takara Dobashi, gewidmet in Dankbarkeit und Freundschaft

https://doi.org/10.5771/9783495860625 .

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Inhalt

Einleitende Gedanken: Für eine »Kultivierung der Menschenrechte« – Probleme, Perspektiven und Prognosen . . . . . . . . . . . . . 1. Forschungsstand zur Menschenrechtsbildung . . . . . . . . 1.1 Menschenrechtsbildung zwischen Werte- und Demokratieerziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Kontextspezifische Probleme der Werte- und Demokratiebildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Problemkontext und Herausforderungen der Menschenrechtsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Materialien zur Menschenrechtsbildung: Trends und Zielsetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Fazit und Forschungdesiderat: Menschenrechtsbildung im Fokus von Vernunft und Mitgefühl . . . . . . . . . . Schlüsselkompetenzen der Menschenrechtsbildung: bildungspolitische Notwendigkeiten und entwicklungspsychologische Grundbedingungen . . . . . . . . . . . . . 2.1 Kommunikative Vernunft und politische Rationalität . . . 2.1.1 Vernunft und Rationalität in der Politischen Bildung 2.1.2 Kommunikative Vernunft und die Entwicklung von Moral: das Stufenmodell von L. Kohlberg . . . . . . 2.1.3 Fazit: inhaltliche und methodische Erweiterungen des Kohlberg-Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Mitgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Entwicklungspsychologische Grundlagen . . . . . . 2.2.2 Ansätze und Projekte zur Förderung von Mitgefühl . 2.2.3 Fazit: Forschungsdesiderat für eine sinnesfundierte Förderung von Mitgefühl . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

2.3 Fazit: inhaltliche und methodische Ausrichtung des Bildungsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Kernkompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Methodische Konsequenzen: Anwendung primärer philosophischer Methoden zur Vernunfts- und Mitgefühlsförderung innerhalb des Bildungsprojektes . Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«: die Kultivierung von Vernunft und Mitgefühl im Hinblick auf eine zeitgemäße Menschenrechtsbildung . . . . . . . . 3.1 Aktuelle Denkansätze, empirische Arbeiten und Methoden des »Philosophierens mit Kindern« . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Internationale Institutionen und Ansätze des »Philosophierens mit Kindern« . . . . . . . . . . . 3.1.2 »Philosophieren mit Kindern« in der politischen Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 »Philosophieren mit Kindern« und die Förderung des kritischen, kreativen und mitfühlenden Denkens . . 3.1.4 Desideratum und konzeptionelle Erweiterung für ein Bildungsprojekt zur Menschenrechtbildung . . . . . 3.2 Theoretisches Fundament des Bildungskonzeptes »Philosophieren mit Kindern« . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Philosophisch-politische Dimensionen der Kindheit . a. Kindsein als politischer »Akt« . . . . . . . . . . b. Kinder philosophieren – Überforderung oder pädagogische Notwendigkeit? . . . . . . . . . . c. Das Kind in der Menschenrechtsbildung . . . . . 3.2.2 Philosophieren als politische Praxis . . . . . . . . . a. Philosophiebegriff: Philosophieren als Tätigkeit . b. Philosophische Anhaltspunkte: Inhalte, Methoden und Haltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Der philosophische Prozess: Staunen-Fragen, Denken-Fühlen-Sprechen, Werten-Handeln . . . 3.2.3 Vernunft und Mitgefühl im philosophischen Prozess: die drei Formen des Denkens nach Matthew Lipman . a. Vom critical thinking zur kommunikativen Vernunft (Habermas) . . . . . . . . . . . . . . b. Vom creative thinking zur sozialen Utopie (Rorty) c. Vom caring thinking zum Mitgefühl (Rorty) . .

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Inhalt

3.3 Philosophische Inhalte: Quellen zum Staunen und Fragen . 3.3.1 Die Bedeutung des Staunens und Fragens . . . . . . 3.3.2 Hermeneutisch-phänomenologische Zugänge zum Staunen und Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Bedeutung für die Kultivierung der Menschenrechte 3.3.4 Didaktische Anregungen . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Philosophische Methoden: Hilfen zum Denken, Fühlen und Sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Philosophieren als Methode: thematische Einführung 3.4.2 Die Community of Inquiry als Dialoggemeinschaft . a. Theoretische Grundlegung . . . . . . . . . . . . b. Didaktischer Leitfaden . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Methodenspezifische Erweiterungen der Community of Inquiry zur Kultivierung von Mitgefühl und kommunikativer Vernunft . . . . . . . . . . . . . a. Phänomenologie (Husserl/Merleau-Ponty): die Sensibilisierung des Mitgefühls durch die Kultivierung der Sinne . . . . . . . . . . . . . b. Philosophische Hermeneutik (Gadamer): vom verstehenden Perspektivenwechsel zur kontextsensiblen Verantwortungsethik . . . . . c. Dialektik und Analytik (Habermas): abstrakter Perspektivenwechsel zwischen Einheit und Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Spekulation (Rorty): von der Hoffnung zur Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e. Exkurs zur Ironie (Rorty): vom individuellen Wachstum zur sozialen Freiheit . . . . . . . . . 3.5 Philosophische Haltung: Möglichkeiten des Wertens und Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Zum Verhältnis zwischen Theorie und Praxis: Philosophietheoretische Vorüberlegungen . . . . . a. Die Philosophie als Lebenspraxis in der Antike . b. Die Hermeneutik als Tätigkeit . . . . . . . . . . 3.5.2 Philosophische Haltungen und Tugenden: die praxisgeleitete Kultivierung der Menschenrechte 3.5.3 Didaktischer Leitfaden: der Übergang von der Community of Inquiry zur Community of Action .

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Inhalt

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Zum Abschluss: exemplarischer Versuch der Didaktisierung der Dialogmodelle von Jürgen Habermas und Richard Rorty . 225 4.1 Für eine Schule des Mitgefühls nach Richard Rorty . . . . 226 a. Philosophiebegriff und die Bedeutung der Philosophie im öffentlichen Raum: theoretische Rechtfertigung für die Didaktisierung im Hinblick auf die Menschenrechtsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 b. Didaktischer Leitfaden . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 4.2 Für die Kultivierung einer idealen Diskurssituation nach Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 a. Philosophiebegriff und die Bedeutung der Philosophie im öffentlichen Raum: theoretische Rechtfertigung für die Didaktisierung im Hinblick auf die Menschenrechtsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 b. Didaktischer Leitfaden . . . . . . . . . . . . . . . . . 236

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitende Gedanken: Für eine »Kultivierung der Menschenrechte« – Probleme, Perspektiven und Prognosen

Die Frage, welche Antwort die Philosophie heute angesichts der Problematik transkulturell eingeforderter Solidarität geben kann bzw. was eine plurale Gesellschaft im Innersten zusammenzuhalten vermag, wird sehr unterschiedlich beantwortet und mündet oftmals in einem Gegensatz von Vernunft und Mitgefühl: 1 Die Anerkennung des Personseins des Anderen sowie das mitfühlende Verstehen seines In-derWelt-Seins sind Voraussetzungen für das Eintreten in einen rationalen Diskurs. Rationale und demokratische Entscheidungen sind hingegen dann zentral, wenn es um die Art und Weise der positiven Rechtswirklichkeit auf nationaler oder internationaler Ebene geht. »Allgemeiner gesagt, ist jede Form und jedes Verfahren sozialer Akzeptanz solange undemokratisch, wie es sich nicht um offene Diskurse handelt, die alle Meinungen zum Zuge kommen lassen.« 2 Wie aber können wir erwarten, dass Menschen aller Kulturen dazu bereit sind, einen solchen offenen Dialog zu wagen, d. i. ein Diskurs, welcher die Fehlbarkeit der eigenen Kultur, Weltanschauungen oder Identität in Frage stellen könnte? Ein Blick auf die gegenwärtige Situation der konkreten Einsetzung der Menschenrechte zeigt, dass sich die sozialen, ökonomischen In meinem Buch »Vernunft, Mitgefühl, Körperlichkeit: Eine phänomenologische Rekonstruktion des politischen Raumes«, Freiburg 2013, wird aufgezeigt, dass kommunikative Vernunft und Mitgefühl sich nicht ausschließen, sondern vielmehr einander bedingen. Das Mitgefühl geht dabei sowohl konzeptionell als auch genetisch der kommunikativen Vernunft voraus. Beide sind ferner an die Leiblichkeit des Menschen rückgebunden: a. Das Mitgefühl ist Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt eine ethische Konfliktsituation wahrnehmen und diese beheben möchten. b. Kommunikative Vernunft ist abhängig von der Fähigkeit zum Perspektivenwechsel innerhalb eines leiblich konstituierten intersubjektiven Raums. 2 F. I. Michelmann, Bedürfen Menschenrechte demokratischer Legitimation?, in: H. Brunkhorst, W. R. Köhler, M. Lutz-Bachmann (Hg.), Recht auf Menschenrechte. Menschenrechte, Demokratie und internationale Politik, Frankfurt am Main 1999, 53. 1

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Einleitende Gedanken

und kulturellen Menschenrechte im Gegensatz zu den politischen Freiheitsrechten nur sehr langsam realisieren. Quinteroz-Yanez sieht den Grund hierfür darin, dass es einen Gegensatz gibt zwischen einerseits der bürgerlich-individualistischen Auffassung von Rechten und Freiheiten, welche allen Menschen zustehen, und andererseits einer historisch-materialistischen Interpretation dieser Rechte und Freiheiten als »kontingentes Phänomen des Überbaus«, der von dieser Wirklichkeit bestimmt wird. 3 Rechte wie soziale Sicherheit, körperliche und geistige Gesundheit u. Ä. werden für immer weniger Menschen zugänglich und die Kluft zwischen Privilegierten und Marginalisierten vergrößert sich. Dadurch werden insbesondere in Ländern der Dritten Welt fundamentale Rechte verletzt. »Alle Menschenrechte und Grundfreiheiten sind unteilbar und wechselseitig voneinander abhängig. Sie verdienen gleiche Aufmerksamkeit und dringliche Beachtung […]. Die volle Verwirklichung der bürgerlichen und politischen Rechte ohne Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte ist unmöglich; die Erzielung dauerhafter Fortschritte […] ist abhängig von einer vernünftigen und wirksamen nationalen und internationalen Politik der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung.«4 Eine ähnliche Interpretation der Problematik wird aus philosophischer Perspektive u. a. durch Richard Rorty vertreten. Für ihn ist eine Menschenrechtskultur nur dort möglich, wo bereits gewisse soziale Sicherheiten gegeben sind, d. h. »Menschen genug Zeit haben, um einander zuzuhören«. 5 Erst hieraus kann sich eine wechselseitige Anerkennung verschiedener Kulturen in ihrem Menschsein entfalten. 6 Dies ist auch die Voraussetzung dafür, dass Kulturen überhaupt mit illokutionärer Absicht in einen verstehenden Dialog treten. Eine demokratische Legitimierung von Menschenrechten hält Rorty selbst hingegen für nicht

Vgl. J. C. Quinteroz-Yanez, 1990, 620, zit. nach: C. Lohrenscheit, Das Recht auf Menschenrechtsbildung. Grundlagen und Ansätze einer Pädagogik der Menschenrechte. Mit einer Studie über aktuelle Entwicklungslinien der »Human Rights Education« in Südafrika, Frankfurt 2004, 304. 4 Vgl. die Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen 32/130, 1977. 5 Vgl. R. Rorty, Menschenrechte, Rationalität und Empfindsamkeit, in: Wahrheit und Fortschritt, Frankfurt am Main 2000, 258 f. 6 Rorty verweist immer wieder darauf, dass es ihm dabei nicht um die Anerkennung irgendeiner »Essenz des Menschseins« geht, sondern vielmehr um ein eher kreatürliches Mitgefühl mit dem Anderen. 3

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Einleitende Gedanken

unbedingt notwendig, weil er davon ausgeht, dass wir zu Menschen, mit denen wir uns solidarisch fühlen, ohnehin »nett« sind. 7 Rortys philosophischer »Gegenspieler« Jürgen Habermas sieht hingegen den positiven Rechtscharakter der Menschenrechte (in Form einer demokratischen Anerkennung) als Voraussetzung dafür, dass die konkreten Inhalte solcher Rechte global anerkannt und im Notfall auch vermittels Sanktionen durchgesetzt werden können. Habermas fundiert seinen Ansatz deshalb, und im Gegensatz zu Rorty, in einem lebensweltlich verankerten intersubjektiven Wahrheitsbegriff: Soziale Wahrheiten müssen sich zunächst im Dialog und schließlich in der Praxis bewähren. Er widerspricht damit Rortys pragmatischem Ansatz nicht inhaltlich, sondern verlagert seine Argumentation auf eine andere epistemologische Ebene. 8 Dieser Konflikt zwischen Rorty und Habermas macht auf eine wichtige Unterscheidung aufmerksam: 9 a. der abstrakte Begriff als »Idee der Menschenrechte« (d. i. die Anerkennung des Personseins des Anderen durch Solidarität oder Mitgefühl) einerseits und b. die tatsächliche Durchsetzung inhaltlich gesetzter Rechte durch eine positive Verankerung in verschiedenen Ländern andererseits. Hieraus resultiert die Frage, ob Menschenrechte demokratische Entscheidungen erst ermöglichen oder solche Rechte aus demokratischen Dialogen hervorgehen. Ersteres entspricht einer liberalen, Zweiteres einer kommunitaristischen Lesart. 10 Das hier vorliegende Buch ist Bestandteil eines größeren ForVgl. ebd. Vgl. hierzu meine Veröffentlichung im Verlag Karl Alber (Freiburg 2013): »Zwischen Vernunft und Mitgefühl: Jürgen Habermas und Richard Rorty im Dialog über Wahrheit, politische Kultur und Menschenrechte«. 9 Vgl. zu dieser Unterscheidung auch F. I. Michelmann, Bedürfen Menschenrechte einer demokratischer Legitimation?, in: M. Lutz-Bachmann, H. Brunkhorst, W. R. Köhler (Hg.), Recht auf Menschenrechte – Menschenrechte, Demokratie und internationale Politik, Frankfurt am Main 1999, 52. 10 Rorty nimmt hierzu nur im Vorübergehen Stellung, weil es ihm grundsätzlich um die Kultivierung einer dialogisch konstruierten Gesellschaft geht, in welcher Objektivität durch Solidarität und Rationalität durch Mitgefühl ersetzt werden. Aus diesem Grund spielen für ihn die genauen Inhalte der Menschenrechte keine gewichtige Rolle. Rationale Diskurse sind für ihn nichts anderes als der Versuch, seine Sichtweise so kohärent wie möglich darzustellen. Habermas plädiert hingegen für die Gleichzeitigkeit von Demokratie und Menschenrechten, betont aber, dass die demokratische Einigung auf die Inhalte solcher Rechte erst ihre Legitimität begründet. Ein »Nebenprodukt« solcher Diskurse ist für ihn die Solidarität. 7 8

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Einleitende Gedanken

schungsprojekts, innerhalb dessen untersucht wurde, inwieweit die respektiven Konzeptionen von Jürgen Habermas (kommunikative Vernunft) und Richard Rorty (Mitgefühl) einander nicht widersprechen, sondern vielmehr vermittels des leiblichen In-der-Welt-Seins des Menschen einander bedingen und voraussetzen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen wurden zeitgleich zum hier vorliegenden Buch im Verlag Karl Alber veröffentlicht. Die Titel lauten: »Zwischen Vernunft und Mitgefühl: Jürgen Habermas und Richard Rorty im Dialog über Wahrheit, politische Kultur und Menschenrechte« sowie »Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit: Eine phänomenologische Rekonstruktion des politischen Raumes«. Quintessenz für das hier entwickelte Bildungsprojekts ist, dass der Idee der Menschenrechte, im Sinne der Anerkennung der Unvertretbarkeit und Einzigartigkeit des Anderen, immer schon ein mitfühlendes Interesse am Anderen vorausgehen muss, damit Menschen überhaupt mit illokutionärer Absicht in eine öffentliche Sprechsituation eintreten. Wenn es jedoch um die konkreten Inhalte geht, so erlangen diese nur in Abhängigkeit von einer demokratischen Abstimmung Legitimität, d. i. durch rationale Diskurse. 11 Diese Auseinandersetzung verweist jedoch auf ein komplexes Problem: Forderungen nach reziproker Anerkennung, demokratischen Vermittlungsprozessen und transkultureller Solidarität bauen auf einem langen und intensiven politischen Bildungsprozess auf, welcher solchen demokratischen Verhandlungen immer schon vorangegangen sein muss. Aus diesem Grund genügt es nicht, ein Recht auf kulturelle bzw. personale Anerkennung zu fordern, insofern Kulturen insular und unabhängig von den globalen Entwicklungsprozessen durchgesetzt oder erhalten werden sollen. Um Menschen eine freiheitliche und originäre Aneignung von Kultur in einer multikulturellen Gesellschaft zu ermöglichen, muss kulturelle Identität in Auseinandersetzungen mit verschiedenen Kulturen frühzeitig generiert werden. Erst aus einer solchen »dialogischen Blickwinkelpädagogik« generiert sich individuelle bzw. kulturelle Identität nicht gegen, sondern mit und durch Andere. Identität wird als kontinuierlicher Prozess solcher Überlagerungen von Fremdheit und Ähnlichkeit gesehen; d. h. dialogische Identitätsbildung wird zur wesentlichen Zielsetzung der politischen Kultur und umfasst den generalisierten Perspektivenwechsel ebenso

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Vgl. B. Weber, Zwischen Vernunft und Mitgefühl, a. a. O.

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Einleitende Gedanken

wie die Sensitivierung für Ähnlichkeiten und Andersheit durch Mitgefühl und Sprache. Was bedeutet aber diese Einsicht für die Kultivierung eines Menschenrechtsbewusstseins in Kindern? Ist es möglich, rationale Dialogfähigkeit und Mitgefühl parallel zu kultivieren bzw. bedingen diese sich unter Umständen sogar gegenseitig? Diese Fragen sind Gegenstand des vorliegenden Bandes, in welchem versucht wird, eine theoretische Konzeption einer zeitgemäßen Menschenrechtsbildung zu entwerfen. Bildungstheoretisch wird hierfür der amerikanische Pragmatismus (insbesondere John Dewey) als Ausgangspunkt gewählt, um die gesellschaftspolitische Aufgabe der Philosophie als Demokratiebildung neu zu bestimmen. Aus diesem theoretischen Ansatz wird das »Philosophieren mit Kindern« als Mittel der Demokratiebildung und Dialogkompetenz abgeleitet und durch einige praktikable Vorschläge gezeigt, wie hierdurch eine lebensweltliche Reproduktion der demokratischen Grundhaltung unterstützt und kultiviert werden kann. Selbstverständlich geht es dabei nicht um die Vermittlung eines inhaltlichen Katalogs an Menschenrechten, sondern zuallererst um die Kultivierung eines dialogisch verstandenen politischen Raumes, d. i. in seiner Funktion der Ermöglichung von Freiheit und Identität. Hierzu gehören die gegenseitige Anerkennung, der reziproke Perspektivenwechsel sowie das empathische Verstehen des Anderen in seinem Ausdruck. Das Ziel ist, alle Kommunikationsteilnehmer in ihrem Personsein anzuerkennen sowie Identitätsentwicklung nicht antithetisch, sondern thetisch als dialogischen Prozess zu begreifen. Ferner wird versucht, Kinder auf die tatsächliche Einigung auf konkrete Inhalte im sozialen Miteinander vorzubereiten. Konflikte gehören zu diesem Prozess genauso wie die konstruktive Kritik am eigenen Denken sowie am Denken des Anderen. Zur besseren Lesbarkeit werde ich alternativ zum Ausdruck »Kultivierung eines Bewusstseins für Menschenrechte« auch »Menschenrechtsbildung« bedeutungssynonym verwenden.

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1. Forschungsstand zur Menschenrechtsbildung

1.1 Menschenrechtsbildung zwischen Werte- und Demokratieerziehung Die aktuelle Menschenrechtsbildung sieht sich durch die komplexen Anforderungen der politischen Bildung stark herausgefordert. In ihrem Anliegen kann sie sowohl als wichtiger Bereich der Demokratiebildung 1 als auch als Bestandteil der Wertebildung gesehen werden, 2 obgleich sie in keinem dieser beiden Bereiche vollkommen aufgeht. 3 Ferner kommen Menschenrechte dem Menschen eben nicht einfach zu, sondern müssen genauso wie Politik und Demokratie gelernt und kultiviert werden. 4 Sie realisieren sich erst durch eine gesamtgesellschaftliche Anerkennung und umgreifendes Verantwortungsbewusstsein. Für viele Ansätze gilt deshalb die Zielsetzung, dass Menschen sich mit Werten und Rechten identifizieren und danach handeln bzw. diese

1 Der Council of Europe deutet auf die Interdependenz zwischen dem Respekt für Menschenrechte und Demokratiebildung hin (vgl. Council of Europe 1996, Doc. 7568, report of the Committee on Legal Affairs and Human Rights, rapporteur: Mr Severin, 59): »Democracy is best learned in a democratic setting where participation is encouraged, where views can be expressed openly, where there is freedom of expression for pupils and teachers, and where there is fairness and justice. An appropriate climate is, therefore, an essential complement to effective learning about human rights« (ebd. 22). 2 Selbstverständlich impliziert eine solche Einordnung eine politikwissenschaftliche Perspektive, denn die Menschenrechtsbildung spielt natürlich auch in der interkulturellen Pädagogik oder dem globalen Lernen eine große Rolle und umfasst verschiedene Aufgaben. 3 Vgl. zur Bedeutung der Menschenrechte in der politischen Bildung: K. P. Fritzsche, Bedeutung der Menschenrechte für die Politische Bildung, in: G. Himmelmann u. D. Lange (Hg.), Demokratiekompetenz. Beiträge aus Politikwissenschaft, Pädagogik und politischer Bildung, Wiesbaden 2005. 4 Ebd., 79.

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Forschungsstand zur Menschenrechtsbildung

aktiv einfordern. 5 Von Lothar Müller und Birgit Weyand wird dies als wichtigstes Präventionsmittel gesehen, weil nur eine »kritische Masse« von Bürgerinnen und Bürgern, die um ihre Rechte wissen und diese wertschätzen, auch für diese eintreten und für andere einfordern. 6 Deshalb wurde bzw. wird in manchen Bildungskonzepten der Vermittlung konkreter Menschenrechte ein relativ hoher Stellenwert beigemessen. 78 Letzteres ist selbstverständlich in sich bereits ein Wert, welcher wiederum auf der freiheitlichen Kultivierung von Werten basiert und daher nicht »voraussetzbar« ist. Aus diesem Grund gilt für die meisten Ansätze der Menschenrechtsbildung, dass eine Indoktrination ausgeschlossen bleibt und vielmehr einzig dialogische Methoden zur eigenständigen Aneignung von Werten didaktisch angebracht sind. »Menschenrechtsbildung ist deshalb eine Art Schule des kritischen Denkens und des auf Veränderung zielenden Handelns.« 9 Oder anders gesagt: Eine inhaltliche Lernzielstrategie muss fehlschlagen, weil ihr Anliegen eigentlich nur die Vermittlung von Dialogkompetenzen umfassen kann, damit SchülerInnen im eigenständigen Diskurs und in der Auseinandersetzung mit globalen Ungerechtigkeiten Werte kultivieren. Mit Seitenblick auf Kant konstatiert deshalb Heiner Bielefeldt, dass ethische Aufklärung nie doktrinär verfahren soll. 10 Einer solchen kritischen Auseinandersetzung mit Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten geht jedoch die Sensibilität für ethische Konfliktsituationen voraus, d. h. das umfassende Mitgefühl für die Leiden und Demütigungen anderer. Letztlich verlangt die tatsächliche RealisaA. Mihr, Demokratie und Menschenrechtskultur, in: C. Mahler u. A. Mihr (Hg.), Menschenrechtsbildung. Bilanz und Perspektiven, Wiesbaden 2004, 221. 6 L. Müller u. B. Weyand, Wirkung von Menschenrechtsbildung – Ergebnis empirischer Forschung in Deutschland, in: C. Mahler u. A. Mihr (Hg.), Menschenrechtsbildung, a. a. O., 279. 7 Vgl. A. Mihr, Demokratie und Menschenrechtskultur, a. a. O., 221 ff. 8 H. D. Mehlinger u. S. J. Swensson, Die Menschenrechtserziehung in den Grund- und Sekundarschulen der USA, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Die Menschenrechte – eine Herausforderung der Erziehung, Bonn 1981, 84. 9 K. P. Fritzsche, Bedeutung der Menschenrechte für die Politische Bildung, a. a. O., 85. 10 Vgl. H. Bielefeldt, Die Würde als Maßstab. Philosophische Überlegungen zur Menschenrechtsbildung, in: C. Mahler u. A. Mihr (Hg.), Menschenrechtsbildung. Bilanz und Perspektiven, Wiesbaden 2004, 20. Und bei Kant: »ohne sie im mindesten etwas Neues zu lehren, sie nur, wie Sokrates tat, auf ihr eigenes Prinzip aufmerksam macht« (I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe (AA), Bd. IV, 404). 5

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Kontextspezifische Probleme der Werte- und Demokratiebildung

tion einer Kultur der Menschenrechte, dass sich eine Gesellschaft mehrheitlich für die Rechte anderer einsetzt, d. i., dass Rechte auch die Verpflichtung für andere umfassen. Voraussetzung hierfür ist natürlich, dass wir solche Rechte nicht nur unseren Landsleuten, sondern allen Menschen aus allen Kulturen, Altersstufen und Geschlechtern zusprechen. Rorty macht in diesem Zusammenhang insbesondere auf scheinbar unerhebliche Vorannahmen aufmerksam, wie z. B. dass Menschen im Westen oftmals das Gefühl haben, Afrikaner würden unter den schwierigen Umständen »weniger leiden« als »wir Europäer«, weil diese »daran gewöhnt« seien. 11 Das, was oft als die »Achtung der Würde« des Menschen bezeichnet wird, kann keinesfalls erzwungen, sondern allenfalls kultiviert oder geweckt werden. 12 Autoritäre oder indoktrinäre Vermittlungsmethoden sind deshalb per se ausgeschlossen. Vielmehr geht es sowohl um eine Klärung als auch um eine Sensibilisierung des sittlichen Bewusstseins 13. Weil Werte- und Demokratiebildung sowohl Grundlage als auch Bestandteil der Menschenrechtsbildung darstellen, wird im Folgenden auf die wesentlichen Probleme der Wertevermittlung, insbesondere im Hinblick auf die steigenden Pluralisierungstendenzen, eingegangen. Selbstverständlich konzentriert sich die Darstellung nur auf wesentliche und kontextspezifische Probleme und kann nicht den gesamten Problem- und Fragehorizont angemessen abbilden.

1.2 Kontextspezifische Probleme der Werte- und Demokratiebildung »Ein freiheitlicher Staat beruht auf sozial-moralischen Ressourcen, die er nicht von Staats wegen generieren kann. Würde er dies tun, so würde er seine eigene freiheitliche Basis beschädigen (Böckenförde-Theorem).« 14 Deshalb ist jeder Versuch der Wertevermittlung feststehender Werte zum Scheitern verurteilt bzw. widerspricht der Idee des demoVgl. Rorty zu den Menschenrechten in B. Weber, Zwischen Vernunft und Mitgefühl, a. a. O. 12 Vgl. H. Bielefeldt, Die Würde des Menschen, a. a. O., 26. 13 Ebd. 14 A. Scherb, Demokratie-Lernen und reflexive Urteilskompetenz, in: G. Himmelmann u. D. Lange (Hg.), Demokratiekompetenz. Beiträge aus Politikwissenschaft, Pädagogik und politischer Bildung, Wiesbaden 2005, 270 f. 11

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kratischen Rechtsstaats per se. Politische Bildung muss deshalb zwischen der Vorgabe von Inhalten einerseits und der subjektivistischen Selbstbestimmung eine Balance schaffen. In einem Vortrag an der Ludwig-Maximilians-Universität München zum Thema »Kann man Werte lehren und lernen?« 15 konstatiert der Ethikexperte Markus Vogt: »[…] hinsichtlich der Motivation ist die Pädagogik der Ernstfall der Ethik«. Gerade in einer zunehmend pluralen Lebenswelt sind die Anforderungen an die persönlichen Entscheidungen komplexer geworden. Pädagogische Vermittlung erschöpft sich nicht mehr nur in der Anwendung von Normen, sondern sie gehört selbst zum Kernbereich der Ethik. Das Sollen muss zum Wollen und schließlich zur tatsächlichen Handlung fortschreiten. Bildung als solche sieht Vogt deshalb in der Trias von Wollen – Wissen – Können. Optimalerweise gehen Sensitivität für ethische Konfliktsituationen, kognitive Reflexion und konkrete Handlungskompetenz ineinander über. In diesem Sinne werden Werte und Normen nicht nur vermittelt, sondern Erziehung »macht moralische Themen zum Gegenstand kommunikativer Prozesse« 16. Die pädagogische Situation ist nicht nur Vermittlungsort, sondern konstituiert selbst eine solche Wertekultur, d. h. ist Ort der Aneignung und Transformation von Werten. In diesem Sinne muss sich die Lehrkraft den Diskussionen mit den SchülerInnen selbst aussetzen. Erst in einer solchen hermeneutischen An- und Enteignung bleiben Werte demokratisch und schließen an die veränderten Lebensbedingungen der heranwachsenden Generation an. 17 Aus diesen vielfachen Anforderungen konstatiert Claudia Solzbacher: »Das Konzept der Vermittlung politischer Rationalität durch Politische Bildung bei gleichzeitiger Weckung von Engagement sieht sich neu herausgefordert.« 18 Was hier bereits anklingt, ist die Notwendigkeit einer Verknüpfung von emotionalem Engagement und Rationalität in der politischen Bildung. 19 Denn in der Praxis bleiben einerseits Rationalitätskonzeptionen zu sehr an das kantianisch inspirierte KohlVortrag gehalten im Rahmen der MKE-Vorlesungsreihe im WS 2009/10 »Qualitäten des Menschlichen – Facetten einer aktuellen Bildungsethik« am 29. Oktober 2009. 16 J. Oelkers, Pädagogische Ethik. Eine Einführung in Probleme, Paradoxien und Perspektiven, Weinheim 1992, 15. 17 Erinnert sei hier an Martin Bubers Plädoyer der »pädagogischen Begegnung« (vgl. ders., Reden über Erziehung, Heidelberg 1953). 18 C. Solzbacher, Politische Bildung im pluralistischen Rechtsstaat, Opladen 1994, 210. 19 Durchwegs politische Relevanz hat hier hingegen das kanadische Bildungsprojekt mit 15

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berg-Modell angeschlossen und müssen sich mit all den damit einhergehenden Einwänden auseinandersetzen 20 oder andererseits wird Partizipation zum Selbstzweck und bleibt unreflektiert. An diese Problematik schließt die Forschungslandschaft der politischen Kultur- und Wertewandelforschung an. Politische Kulturforschung beschäftigt sich mit der Untersuchung subjektiver Dimensionen politischer Realität, d. h. welche subjektiven Einstellungen das konkrete politische Verhalten bestimmen. Politische Kultur in diesem Sinne ist der Bestand von vorhandenen Einstellungen und Wissensbeständen kognitiver, affektiver und werthafter Art. Neuere politikwissenschaftliche Forschungen auf dem Gebiet bestätigen, dass zwischen dem Bereich der subjektiven Orientierungen (kognitiv, affektiv und werthaft) sowie der Stabilität einer politischen Ordnung eine enge Verknüpfung besteht. 21 Politische Bildung kann als die Bemühung gesehen werden, derartige Einstellungen zu erzeugen oder weiterzuentwickeln. In der Praxis schlägt sich die weit proklamierte Wertepluralität bei Jugendlichen oftmals als Werterelativismus nieder. Dieser Umstand führt oftmals zu einem Gefühl der Unsicherheit in Bezug auf die eigene Identität und begünstigt eine Substitution traditioneller Werte durch Hedonismus, Konsum oder Materialismus. 22 Diese Situation verweist auf die enge Interdependenz zwischen Werte- und Identitätsbildung: »dass ich erst dann physisch und psychisch, individuell und gesellschaftlich lebens- und handlungsfähig bin, dass ich erst dann Identität erworben habe, wenn ich im Bewusstsein meiner existentiellen und historischen Genese lebe und urteile«. 23 Das heißt, dass sich das Selbstverständnis des Einzelnen erst in der Auseinandersetzung mit der eigenen geschichtlich-sozialen Verwiesenheit entwickelt. Dies kann als ein durchwegs hermeneutischer Prozess im Sinne Gadamers dem Namen »Roots of Empathy«, welches sich gezielt mit der Förderung von Mitgefühl bei Kindern auseinandersetzt (vgl. http://www.rootsofempathy.org). 20 Siehe hierzu auch Habermas’ Erweiterung des Kohlberg-Modells um die 7. Stufe, welches durch das Autonomie-Autismus-Paradox aufgelöst werden soll, d. h., Wertebildung bleibt hierdurch sowohl autonom als auch intersubjektiv (vgl. J. Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt am Main 1983, 127 ff.). Ich werde diese Erweiterung in Kapitel 2 näher ausführen. 21 Vgl. u. a. Solzbacher, Politische Bildung im demokratischen Rechtsstaat, a. a. O. 22 Vgl. A. Magendzo 1998, 25, zit. nach: C. Lohrenscheit, Das Recht auf Menschenrechtsbildung – Grundlagen und Ansätze einer Pädagogik der Menschenrechte, Frankfurt am Main 2004, 324. 23 E. Jouhy, Das programmierte Ich, München 1973, 183.

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interpretiert werden, d. h., das Individuum kommt erst in der Auseinandersetzung mit seiner jeweiligen Wirkungsgeschichte zu sich selbst. 24 Diese Problematik wird auf gesellschaftlicher Ebene dadurch verstärkt, dass durch die Kulturrevolution seit den 70er Jahren der ideologische Graben aufgerissen wurde und ein Konsens an Werten nichts selbstverständlich Vorgegebenes mehr darstellt. 25 Noelle-Neumann spricht aufgrund umfangreicher Studien über den Wandel von Einstellungen und Werten in Deutschland seit den 68er Jahren von einem »epochalen Werteumbruch«. 26 Und Klages sprach bereits in den 80er Jahren im Zusammenhang der Wertewandelforschung von einem »Universalschlüssel zum Verständnis sozialer Einstellungen und Verhaltensdispositionen«. 27 Am meisten beeinflusst haben die Wertewandelforschung die Untersuchungen von Inglehart 28 und seine These des Übergangs von einer materialistischen Gesellschaft hin zu einer postmaterialistischen Gesellschaft aus den 90er Jahren. Klages entwickelt diese These weiter und kommt zu einer wesentlichen Unterscheidung zwischen Pflichterfüllung und Sozialisation (Selbstentfaltung, Partizipation, Demokratisierung). Die Frage jedoch, welche grundlegenden Werte in einer pluralistisch-demokratischen Gesellschaft notwendig sind, damit das erstrebte Ziel der Menschenwürde und politischen Ordnung erreicht werden kann, wird besonders in der weitläufigen Wertewandelforschung diskutiert, jedoch nicht eindeutig beantwortet. Einige »Lösungswege« werden durch die Betroffenheitslogik 29 oder Habermas’ Diskursethik vorgeschlagen. Innerhalb dieses Problemkontextes kommt dem Sozialisationsort Schule seine hohe Bedeutung zu, wenn es um die Vermittlung von H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990. 25 Vgl. J. Isensee, Verfassungsgarantie ethischer Grundwerte und gesellschaftlicher Konsens, Neue Juristische Wochenschrift 13 (1977), 545 ff., hier 551. 26 Vgl. E. Noelle-Neumann, Werden wir alle Proletarier? Wertewandel in unserer Gesellschaft, Zürich 1979. 27 H. Klages, Wertorientierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen, Frankfurt, New York 1984, 9. 28 R. Inglehart, Kultureller Umbruch: Wertewandel in der westlichen Welt, Frankfurt am Main 1995. 29 S. Papcke, Vernunft und Chaos. Essays zur sozialen Ideengeschichte, Frankfurt am Main 1985, 19. 24

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Kontextspezifische Probleme der Werte- und Demokratiebildung

Werten und Sinnorientierung geht. An diese Einschätzung der Bedeutung der Schule für die politische Bildung schließt Bernhard Claußen 30 an, denn der Trend der Gesellschaft, Erziehungsaufgaben immer mehr in den Schulbereich zu verlegen, geht mit der Notwendigkeit einher, Schule als primären Ort politischer Sozialisation von Kindern zu erforschen und strukturell auszubauen 31. Selbstverständlich kann Schulunterricht niemals nur ein Konglomerat wertfreier Fächer sein, sondern nimmt in sich immer schon Wertungen vor. 32 Dabei geht es jedoch um Transparenz und intersubjektive Begründung solcher impliziter Werte. Es werden im Kontext der Wertewandelforschung und Bildung durchaus Chancen für eine Revitalisierung bürgerschaftlicher Kompetenz gesehen, insofern man Spielräume für selbstständiges und eigenverantwortliches Handeln schafft. 33 Zu diesem Schluss kommt Borkin bereits Ende der 70er Jahre, wenn er konstatiert: »Obwohl das Recht zu partizipieren garantiert werden kann, können weder die Partizipation selbst noch die damit verbundene Pflicht und Verantwortung gegeben oder weggegeben werden. Echte Partizipation vollzieht sich freiwillig.« 34 Seit den 90er Jahren wird politische Sozialisation und Bildung insbesondere auch im Kontext Europas diskutiert. 35 Besonders problematisch wird hier die Kluft zwischen europäischen Gesellschaften mit traditionellen und religiösen Orientierungen auf der einen sowie postmodernen bzw. säkularen Bürgergesellschaften auf der anderen Seite gesehen. 36 Die Herausforderung für Europa besteht deshalb darin, dass ihre Bürger »are new adaptive personalities, people who can live within the confines of an ambivalent and confusing society, but one which combines high risk with chances for significant historical advances« 37. Farnen sieht für Europa das Bildungsziel: »democracy as […] a princiB. Claußen, Die Politisierung des Menschen, a. a. O. Ebd., 33. 32 B. Sutor, Politische Bildung und praktische Philosophie, hg. v. J. Detjen, Paderborn 2005, 171. 33 Vgl. u. a. die Beiträge von Sarcinelli und Gensicke in: G. Breit u. S. Schiele (Hg.), Werte in der politischen Bildung, a. a. O. 34 J. Botkin, No Limits to Learning. Bridging the Gap. A report to the Club of Rome, Oxford 1979, 58 f. 35 Vgl. R. Farnen (Hg.), Reconceptualizing Politics, Socialization, and Education. International Perspectives for the 21st Century, Oldenburg 1993. 36 Ebd., 26. 37 Ebd., 27. 30 31

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ple or way of life. Democratic school practices are seen as a key method for learning the realities of democratic life, requiring democratic teaching and learning methods«. 38 Und nicht nur im Hinblick auf die Intensivierung europäischer Integration und das Zusammenwachsen Europas zu einem politischen System, sondern auch global im Hinblick auf die Menschenrechte, stellt sich also die dringende Frage nach der Notwendigkeit und den Realisierungschancen einer gemeinschaftlichen Wertebasis. 39 Sobald man nämlich über eine diffuse Unterstützung demokratischer Prinzipien hinausgeht und nach einem demokratischen Leben der Union als Kern einer politischen Identität fragt, reicht das Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten nicht mehr aus. »Wichtiger ist, dass diese Werte für den Bürger erkennbar und auch auf der europäischen Ebene verwirklicht werden, dass er sich als europäischer Citoyen begreifen kann, dass das unter Titel VI des Verfassungsvertrages genannte ›demokratische Leben der Union‹ wirklich lebendig wird.« 40 Es müsste hier um die Herausbildung eines europäischen politischen Bewusstseins gehen. Politische Bildung hat jedoch darüber hinaus das Ziel, dass Bürger mit einer gewissen Pluralität leben können. Eine Aufarbeitung der Pluralismusfrage findet sich bei Claudia Solzbacher, die politische Bildung zwischen Pluralität, Rationalität und Allgemeinbildung verortet. 41 Gleichzeitig muss der Staat Sorge tragen, dass es einen friedlichen Wettbewerb zwischen unterschiedlichen Wertvorstellungen geben kann. Dadurch ist der demokratisch verfasste Staat aber an sich schon wieder werthaltig. Demokratie wird von Alemann und Himmelmann 42, und im Anschluss an John Dewey, nicht nur als Staatsform, sondern vielmehr als Lebensform gesehen. 43 Auch Stange und Tiemann betonen, dass es bei Ebd., 31. Vgl. hierzu den aufschlussreichen Beitrag von Hörnlein in: G. Breit u. S. Schiele (Hg.), Werte in der politischen Bildung, a. a. O. 40 Ch. Schwaabe, Politische Identität und Öffentlichkeit in der Europäischen Union. Zur Bedeutung der Identitätsdiskurse im »post-abendländischen« Europa, in: Zfp, 52. Jg. 4/ 2005, 441. 41 C. Solzbacher, Politische Bildung im pluralistischen Rechtsstaat, a. a. O. 42 G. Himmelmann, Demokratie lernen: als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform, Schwalbach 2001. 43 U. v. Alemann, Demokratie, in: Mickel, W. (Hg.), Handlexikon zur Politikwissenschaft, Bonn 1986, 75–79, 75. 38 39

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Problemkontext und Herausforderungen der Menschenrechtsbildung

der Demokratieerziehung durch Partizipation darum geht, das Erlernen von Demokratie nicht nur als politisches System, sondern als alltägliche Lebensform zu betrachten. Beteiligungsangebote sind dort zu machen, wo Kinder sich für die Gestaltung ihrer Lebenswelt interessieren, um dadurch politische, soziale und kulturelle Grunderfahrungen zu ermöglichen. 44 Partizipation ist für sie eng an Emanzipation angegliedert und dadurch gekennzeichnet, dass der Diskurs der Mitglieder gesellschaftliches Handeln steuert. Claußen kritisiert hierbei aber, dass die pädagogische Kritik die Defizite an politischer Aktionsfähigkeit zwar aufarbeitet und kompensiert, jedoch blind sei, insofern sie Partizipation zum Wert an sich aufblähe. 45 Dieses Paradox der Wertevermittlung in einer pluralen Gesellschaft, d. i. die Spannung zwischen Grundwerten und subjektiver Selbstaneignung, lässt sich nur dann adäquat auflösen, wenn man den offenen Dialog über Werte selbst als Voraussetzung begreift: einerseits für die Aufrechterhaltung der demokratischen Kultur und andererseits als Voraussetzung einer dialogischen Selbstbestimmung, d. i. mit, gegen und im Austausch mit Anderen. Der Ort einer solchen Wertekultur der Begegnung wird selbstverständlich in weitem Maße in und durch die Schule getragen werden müssen.

1.3 Problemkontext und Herausforderungen der Menschenrechtsbildung Die Diskurse über Menschenrechte und ihre Kultivierung stehen in einem engen Zusammenhang. 46 1978 tagte eine UNESCO-Konferenz mit dem Titel Erziehung und Unterricht für Frieden, Demokratie und Menschenrechte in Racine-Wisconsin. 47 Während der Tagung wurden bereits damals drei zentrale Fragen aufgeworfen: a. Gibt es trotz kultureller Pluralität universale Menschenrechte?, b. Ist eine bestimmte Altersgruppe für die Menschenrechtserziehung »besonders geeignet«? und c. Werden globale Fragen zu den Menschenrechten in verschiedeC. Brunsemann, W. Stange u. D. Tiemann, Mitreden – Mitplanen – Mitmachen. Kinder und Jugendliche in der Kommune, Berlin 1997. 45 Vgl. B. Claußen, Die Politisierung des Menschen, a. a. O. 46 Der Begriff der Menschenrechtsbildung taucht erstmals Ende der 80er Jahre auf (vgl. C. Lohrenscheit, Das Recht auf Menschenrechtsbildung, a. a. O., 54). 47 C. Lohrenscheit, Das Recht auf Menschenrechtsbildung, a. a. O., 53. 44

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nen Staaten unterschiedliche gelehrt und, falls ja, mit welchen Folgen?. 48 Sicherlich, und wie auch auf den folgenden Seiten dargestellt, kann man bei der Beantwortung dieser immer noch aktuellen Fragen sehr unterschiedlicher Meinung sein (mit mehr oder weniger begründeten Antworten). Insbesondere die erste Frage führt zu weitreichenden Problemen, nämlich auf welche Weise Menschenrechte adäquat zu vermitteln seien: als inhaltliche Rechte, als geschichtliche Entwicklung oder in Form einer eigenständig dialogischen Aneignung. Menschenrechtsbildung lässt sich am ehesten als eine Perspektive und nicht als spezifischer Inhalt definieren. 49 Deshalb plädieren Jeismann und Schönemann dafür, die »Legitimität differierender Perspektiven, Wahrnehmungen und Wertungen« ebenso festzuschreiben wie das Ziel, »durch Unterricht die Fähigkeit zur rationalen, diskursiven Auseinandersetzung über das historische Selbstverständnis« zu entwickeln. Der Schwerpunkt liegt auf »Erklären, Verstehen und (Einüben von) Denkformen« und nicht auf »inhaltliche[n] oder wertende[n] Festlegungen«. 50 Selbstverständlich ist eine solche einseitig dialogische Unterrichtsmethode nicht unkritisiert geblieben. 51 Stacy Churchill bringt deshalb die Debatte auf folgenden Punkt: »[… Menschenrechtsbildung] sollte die Jugendlichen auf der einen Seite lehren, allgemeine Verhaltensregeln zu befolgen, und gleichzeitig die Fähigkeit zur Kritik pflegen, die notwendig ist, um gegen den Strom dessen zu schwimmen, was die eigene Gesellschaft oder Altersgruppe diktiert, das heißt, Widerstand gegen ›die Regeln‹ zu leisten.« 52 Oder anders ausgedrückt: Auch hier zeigt das »Böckenförde-Theorem« 53 der Werte- und Demokratiebildung erneut seine Richtigkeit. Aus diesem Grund machen die Herausgeber in der Einleitung eines internationalen Bandes zur Menschenrechtserziehung in Europa auf die Notwendigkeit aufmerksam, Lehrer und Schüler auf AnnahVgl. in: Bundeszentrale für politische Bildung, Die Menschenrechte – eine Herausforderung der Erziehung, Bonn 1981, 9. 49 K.-P. Fritzsche, Frieden und Demokratie, Baden-Baden 1998, 18 ff. 50 Jeismann u. Schönemann, Geschichte amtlich, Lehrpläne und Richtlinien der Bundesländer. Analyse, Vergleich, Kritik, a. a. O., 125 f. 51 Freilich bleiben solche Forderungen nicht unkritisiert. Ein Beispiel hierfür wurde von Stacy Churchill vorgebracht (vgl. dies., Kriterien und Voraussetzungen für die Menschenrechtserziehung, in: Bundeszentrale für politische Erziehung (Hg.), Die Menschenrechte: eine Herausforderung für die Erziehung, a. a. O., 69 ff.). 52 Ebd., 73. 53 Vgl. die Argumentation des letzten Abschnittes. 48

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Problemkontext und Herausforderungen der Menschenrechtsbildung

men, Einstellungen und implizite Werte aufmerksam zu machen: »One of the main goals of teacher trainers should therefore be to equip these professionals with knowledge and abilities of how to reflect upon and deal with values issues.« 54 Besondere Aufmerksamkeit wird dabei auf die Interaktion zwischen Lehrer und Kind gelegt. Denn der punktuelle Einbezug von Menschenrechts-Handbüchern genügt nicht, vielmehr soll die Sensitivität für Menschenrechtsverletzungen, die Reflexion über eigene Werte und die Diskussion über politische Verantwortung und Partizipation den gesamten Unterricht durchziehen, sodass sie zu einer Basis des eigenen Denkens und Handelns werden. 55 Eine besondere Bedeutung kommt bei diesem Problem – und wie oben eingehend erläutert – der Werteerziehung in einer sog. »postmodernen Welt« zu. »The post-modern slogan that anything is possible and anything is allowed is perhaps inviting to intellectuals who stand firm. For the rest of humanity, however, post-modern non-committal behaviour is a disaster. They lack sufficient foundation and background to come to the construction of an elastic identity.« 56 Auf der einen Seite steht die Sensitivität für eine Verschiedenartigkeit an Werten, auf der anderen Seite das Bedürfnis der Kinder nach Sicherheit und Eindeutigkeit. Bereits Anfang der 90er Jahre fragt deshalb Pouwels mit gutem Grund: »Should fundamental ideas about nationality, freedom and democracy, human rights and identity be redefined or actually be reinforced? What is the role and the responsibility of education in this discussion? What is the possible contribution of education in developing ›European‹ values.« 57 Stacy Churchill spricht deshalb von der Notwendigkeit von »Mindestnormen« bei gleichzeitigem Bewusstsein für divergierende Wertsysteme und unterschiedliche Weltsichten. 58 In engem Zusammenhang mit der Problematik einer universalen Werteethik steht natürlich auch die eigene Identitätsentwicklung – das heißt, sich der moralischen Dimensionen in alltäglichen Situationen bewusst zu werden und so implizite Wertentscheidungen offen zu leD. Evans, H. Grässler, J. Pouwels (Hg.), Human Rights and Values Education in Europe. Research in educational law, curricula and textbook, Freiburg 1997, 16. 55 Vgl. ebd., 21. 56 H. van Loo, De nieuwe huiselijkheid (The new domestic), in: De Volkskrant 1994, zit. nach J. Pouwels, in: Evans, Grässler, Pouwels (Hg.), Human Rights, a. a. O., 28. 57 Ebd., 30. 58 S. Churchill, Kriterien und Voraussetzungen für die Menschenrechtserziehung, a. a. O., 67. 54

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gen. Als besonders wichtig ist hierbei der regelmäßige, strukturierte und offene Dialog mit Kindern über ihre Werte im menschlichen Miteinander sowie über den Stellenwert des Individuums innerhalb der Gesellschaft. Stacy Churchill unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen drei Unterrichtsmodellen 59 zur moralischen Bildung: a. das Value Transfer Model, welches vorgefertigte Werte und Standards unterrichtet. b. Das Value Clarification Model, welches sich an die Methode des kritischen Nachfragens hält. Es soll kritisches, freies Denken, Autonomie und Toleranz fördern. Und c. das Value Development Model, welches durch moralische Dilemmasituationen Kinder auf Wertkonflikte aufmerksam macht. Es arbeitet über die kognitive Dissonanztheorie Leon Festingers und unterstützt die Fähigkeit der Perspektivenübernahme. Ähnlich wie die Idee der Demokratie die Verankerung im tagtäglichen Leben benötigt, d. h. die Makroebene des Staates nur funktioniert, wenn die Mesoebene demokratiefördernd strukturiert sowie auf der Mikroebene Menschen demokratiefreundliche Einstellungen und Verhaltensweisen aufzeigen, 60 ebenso muss auch eine Kultur der Menschenrechte auf allen drei Ebenen verankert sein und gestützt werden. 1994 wurde deshalb von der Generalversammlung der Vereinten Nationen eine UN-Dekade für Menschenrechtsbildung ausgerufen (1995–2005). Menschenrechtsbildung wurde in dieser Generalversammlung als ein lebenslanger Prozess definiert, d. h. »durch den Menschen […] lernen, die Würde anderer Menschen zu achten, und darüber aufgeklärt werden, mit welchen Mitteln und Methoden die Achtung dieser Würde […] gewährleistet werden kann« 61. Die Empfehlung der Kultusministerkonferenz lautet, durch Menschenrechtserziehung solche Kenntnisse und Einsichten zu vermitteln, welche die Frage der tatsächlichen Verwirklichung von Menschenrechten hinterfragen sowie die Bereitschaft bei den SchülerInnen wecken, selbst aktiv Vgl. ebd. Vgl. hierzu G. Himmelmann, Demokratie lernen: als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform, a. a. O., 37 ff. 61 Entschließung der Generalversammlung 49/184, 23. 12. 1994, zit. nach: Erziehung für Frieden, Menschenrechte und Demokratie im UNESCO Kontext. Sammelband ausgewählter Dokumente und Materialien, hg. v. Europäisches Universitätszentrum für Friedensstudien (EPU), Deutsche UNESCO-Kommission, Österreichische UNESCOKommission, Stadtschlaining 1997, 139. 59 60

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tätig zu werden. Auf ähnliche Weise strebt der Ansatz von Amnesty International nach der Vermittlung der Menschenrechte: Es sollen Inhalte vermittelt, Bewusstsein geschaffen und Handlungen initiiert werden. 62 Insbesondere zur Schaffung eines Bewusstsein für die Notwendigkeit von Menschenrechten wird fast ausschließlich die Methode der Dilemmata-Studien von Lawrence Kohlberg genannt – ein Zeichen dafür, dass es bisher wenig Alternativen für eine dezidierte und dialogische Problemreflexion gibt. In der UNESCO-Bildungskommission wird 1996 folgende Strukturierung der Menschenrechtsbildung anhand von vier Säulen beschrieben: a. Lerning to know (Wissensvermittlung; kognitive Lernziele und -inhalte), b. Learning to do (Handlungskompetenz; arbeits- und tätigkeitsbezogene Lernziele und -inhalte), c. Learning to live together with others (Empowerment; soziale und moralische Lernziele und -inhalte) und d. Learning to be (Sensibilisierung; Entwicklung der Persönlichkeit). 63 Amnesty International unterscheidet bei der Menschenrechtsbildung hingegen zwischen Knowledge, Values und Skills. Dabei gehören zu den wesentlichen Fähigkeiten kommunikative Kompetenzen wie z. B. aktives Zuhören und Analysieren, kritische Reflexion, problemlösendes Denken, Kooperation und Verhandlung. 64 Selbstverständlich bleibt bei diesen »Einsichts- und Reflexionsmodellen« fraglich, inwiefern eine rational gewonnene Erkenntnis auch von emotionalem Interesse und tatsächlicher Handlungsmotivation begleitet wird; das heißt unter welchen Umständen eine Theorie bzw. rationale Einsicht in der tatsächlichen Konfrontation mit einem ethischen Konfliktfall auch Anwendung findet. Ferner fehlt eine Theorie über die soziale Dynamik, die erklärt, warum auch sog. »humane Traditionen« offensichtliche »Rückfälle« erleiden. 65 Durch die Frage nach der »Wirksamkeit« von kognitiv verankerten Menschenrechtsbildungskonzepten ist die Bedeutung der affektiven Ebene für die Sensibilisierung für ethische Konfliktfälle wieder mehr ins Zentrum gerückt: insbesondere auf welche Weise MenschenFür beide Ansätze vgl. L. Müller, Menschenrechtserziehung in der Schule. Defizite, Konzepte, Perspektiven, in: Amnesty International (Hg.), Menschenrechte im Umbruch: 50 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Neuwied/Kriftel 1998, 224. 63 Vgl. V. Lenhardt, Pädagogik der Menschenrechte, Wiesbaden 2006, 51 f. 64 Vgl. C. Lohrenscheit, Das Recht auf Menschenrechtsbildung, a. a. O., 63. 65 S. Churchill, Kriterien und Voraussetzungen für die Menschenrechtserziehung, a. a. O., 67. 62

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rechtspädagogen Kinder für ethische Konfliktfälle auch emotional anzusprechen vermögen und dürfen. Denn es wird davon ausgegangen, dass eine emotionale Betroffenheit für die Einsicht in die Notwendigkeit einer kognitiven Auseinandersetzung unerlässlich ist. Die Bedeutung der Kultivierung einer Sensibilität für Menschenrechtsverletzungen im öffentlichen Bewusstsein ist nicht zu unterschätzen. Denn Institutionen können nur gegen Verletzungen der Menschenrechte vorgehen, insofern deren Offenlegungen emotional durch ein Unrechtsbewusstsein von einer breiten Masse getragen werden. 66 In diesem Zusammenhang besteht jedoch die Gefahr der Indoktrination, d. h., dass bestimmte Werte suggestiv »aufgepfropft« werden. Neben der didaktischen Vermittlung gibt es selbstverständlich auch eine inhaltliche Schwierigkeit der Menschenrechtsbildung, welche sich aus der Struktur und Formulierung der Menschenrechte ergibt. 67 Zum Beispiel ist unklar, inwiefern man über die historische Entwicklung der Menschenrechte in der Schule berichten kann, ohne dabei der westlichen Kultur sozusagen »die Krone der Entwicklung« aufzusetzen bzw. sich allen anderen Kulturen gegenüber fair zu verhalten und deren Standpunkte adäquat miteinzubeziehen bzw. zu vertreten. Da Menschenrechte aber per definitionem immer global gedacht und gehandhabt werden müssen, bedürfen sie einer angemessenen historischen Behandlung im Unterricht. 68 Ferner stellt das hohe Abstraktionsniveau, welches Formulierungen wie »Freiheit«, »Gleichheit«, »Würde« etc. einschließt, ein Problem dar, weil diese Begriffe eine eingehende Auseinandersetzung und Erläuterung erfordern. Mit ihnen werden verschiedene kulturspezifische Interpretationen und Bewertungen angenommen, welche den Schülern in ihrer Komplexität klargemacht werden müssen. Ein Hilligen hält dies letzten Endes sogar für wichtiger als Institutionen zur Wahrung der Menschenrechte. Denn diese können nur in dem Maße eingreifen, als Bekanntmachungen auf breiter Ebene auf Unmut stoßen (vgl. Hilligen, Menschenrechte in Erziehung und Unterricht, a. a. O., 49). 67 Vgl. hierzu L. Müller, Menschenrechtserziehung in der Schule, in: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hg.), Die Menschenrechte – eine Herausforderung für die Erziehung, a. a. O., 230 f. 68 Stacy Churchill fordert deshalb eine Gratwanderung zwischen einem historischen und einem ahistorischen Zugang zu den Menschenrechten im Unterricht (vgl. S. Churchill, Kriterien und Voraussetzungen für die Menschenrechtserziehung, Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Die Menschenrechte – eine Herausforderung der Erziehung, a. a. O., 67.) 66

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Problemkontext und Herausforderungen der Menschenrechtsbildung

weiteres Problem ist das Verhältnis der einzelnen Menschenrechte untereinander, weil diese u. a. wechselseitig konkurrieren. Letztlich stellen die Menschenrechte einen transkulturellen Mindestkonsens dar, welcher sich jedoch innerhalb der verschiedenen kulturellen Situationen je unterschiedlich realisieren lässt. In diesem Sinne ist die Idee der Menschenrechte nie abgeschlossen, sondern muss sich für kulturspezifische Anpassungen offenhalten. »[Die Lehrperson] ist mit dafür verantwortlich, den Geist und Sinn der Menschenrechtserklärung zu vermitteln und zugleich einen offenen Diskurs über Menschenrechte zu ermöglichen. Deshalb kann es weder um Werte-Indoktrination noch um einen normativen Relativismus gehen«. 69 Ziel ist es, eine Balance zwischen der Universalität der Menschenrechte und den jeweiligen Interpretationen und notwendigen Neubewertungen zu finden. Schließlich klaffen bei der Frage nach dem geeigneten Alter die Ansichten weit auseinander. Judith Torney gibt zu bedenken, dass Kinder in der Regel erst ab der dritten Klasse eine Vorstellung davon haben, was Rechte sind. 70 Es lässt sich jedoch nachweisen, dass das Unterrichtserlebnis umso tiefer geht, umso frühzeitiger es erfahren wurde. Mit ca. 12 bis 13 Jahren ist die Phase des sich sozial erweiternden Bewusstseins weitgehend abgeschlossen und Jugendliche wenden sich nun allen voran der eigenen Peergroup zu. Torney schließt daraus, dass die Phase zwischen 8 und 12 Jahren besonders gut für die Menschenrechtsbildung geeignet ist, jedoch nicht auf diese begrenzt sein dürfe. 71 Selbstverständlich lässt sich auch bei sehr jungen Kindern ein grundsätzliches Unrechtsbewusstsein feststellen. »Sobald dem Kind die Existenz anderer Menschen bewusst wird, scheint es ihnen auch eine grundsätzliche Menschenwürde zuzugestehen.« 72 Erst später kann durch »Pseudo-Spezialisation« ein solches universales Gefühl für Gerechtigkeit gegenüber allen Menschen wieder »verloren« werden. 73

L. Müller, Menschenrechtserziehung in der Schule, a. a. O., 231. J. Torney, Internationale Menschenrechte und Werte-Erziehung, a. a. O., 92. 71 Ebd., 92. 72 Ebd., 95. Torney bezieht sich mit dieser Aussage auf Untersuchungen von RadkeYarrow, welche mitfühlend-altruistische Triebkräfte nachweisen konnten. 73 Vgl. Torney bezieht sich hier auf Erik Eriksons Theorie der Pseudo-Spezialisation, vgl. ebd., 95. 69 70

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Forschungsstand zur Menschenrechtsbildung

1.4 Materialien zur Menschenrechtsbildung: Trends und Zielsetzungen Politische Bildung zielt häufig auf die Förderung von Kompetenzen ab, wie Diskussionskompetenz, Offenheit und Perspektivenübernahme angesichts pluraler Gesellschaftsstrukturen und Wertevorstellungen. Die Menschenrechtsbildung sieht sich hingegen mit der paradoxen Aufgabenstellung konfrontiert, einerseits einen vorgegebenen Rechtskanon zu unterrichten, d. h. über Rechte aufzuklären, andererseits aber eine Menschenrechtskultur zu generieren, welche selbst solche Werte in einem gleichberechtigten Dialog hervorbringt. Sie muss deshalb sowohl auf kulturelle Unterschiede aufmerksam machen als auch Kompetenzen vermitteln, welche kulturelle Differenzen vermittels Dialogund Verstehensfähigkeiten transzendieren. Wie auf diese »Doppelbelastung« in bisherigen didaktischen Materialien reagiert wird, ist sehr unterschiedlich und ich möchte im Folgenden exemplarisch einige Strömungen aufzeigen. Bei den didaktischen Vorschlägen und Handreichungen zur Menschenrechtsbildung geht es einheitlich um die Förderung von Fähigkeiten und Einstellungen sowie Ideen und Verhaltensweisen, die es ermöglichen, eine stabile Menschenrechtskultur zu erzeugen. 74 Zu den Kerninhalten solcher Programme gehören Kognition, Motivation sowie die Fähigkeit, Wissen und Einstellungen in Handlungen umzusetzen. 75 Dabei werden als zentrale Methoden die kritische Reflexion und das Rollenspiel erwähnt. Darüber hinaus wird die kritische Selbstreflexion in einer Art Meta-Dialog vorgeschlagen, um die Selbstverantwortlichkeit des eigenen Lernfortschritts zu unterstützen. Volker Lenhart erarbeitet drei Ziele für die Menschenrechtsbildung: Kennen der eigenen Menschenrechte, Kennen und Wahren der Menschenrechte anderer, Anerkennen der Menschenrechte als eigene Werte. Bei der Vermittlung werden das Aufmerksamkeitsmodell, das Verantwortlichkeitsmodell sowie das Transformationsmodell unterschieden. 76 Ersteres versucht durch öffentliche Aufklärung die instruVgl. P. J. Martin u. C. Kissane, Evaluierung von Menschenrechtsbildungsprogrammen, in: C. Mahler und A. Mihr (Hg.), Menschenrechtsbildung, a. a. O., 55. 75 Ebd., 59. 76 Vgl. hier und im Folgenden: V. Lenhart, Kontextspezifische Didaktik der Menschenrechte, in: C. Mahler u. A. Mihr (Hg.), Menschenrechtsbildung, a. a. O., 42 ff. 74

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Fazit und Forschungsdesiderat

mentelle Fähigkeit zur Durchsetzung von Menschenrechten zu fördern. Sie ist auf den gesellschaftlichen Konsens über die Menschenrechte angewiesen. Methodisch wird vor allem das Kohlberg’sche Stufenmodell verwendet. 77 Das Verantwortungsmodell spielt dort eine Rolle, wo es um professionsangehörige und menschenrechtsrelevante Berufe geht und das eigene Handeln einen Einfluss auf die rechtliche Einhaltung der Menschenrechte hat. Das Transformationsmodell wird im Kontext friedensschaffender Bildungsmaßnahmen eingesetzt, wo es also um die tatsächliche gesellschaftliche Veränderung geht, um akute Bedrohungen zu unterbinden. Insgesamt lässt sich feststellen, dass der Schwerpunkt auf der Vermittlung von Inhalten liegt anstatt auf dem Kompetenzerwerb – generell findet wenig Reflexion über die Inhalte der Menschenrechte an sich statt. Das heißt, Menschenrechte werden nur selten in ihren Inhalten zur Diskussion gestellt, sondern allenfalls als Lernziel eines Dialogs bereits vorgegeben. Bei den Reflexionsmöglichkeiten bleibt die Didaktik in der Regel bei der Dilemmata-Methode Kohlbergs stehen, ohne dessen philosophisch-kulturelle Implikationen genauer zu hinterfragen. Insgesamt konzentrieren sich Materialien zur Menschenrechtserziehung vor allem auf die Vermittlung von Werten und geben nur wenig Hilfestellung dafür, wie ein Dialog über Werte und mit Kindern demokratisch gestaltet werden kann.

1.5 Fazit und Forschungsdesiderat: Menschenrechtsbildung im Fokus von Vernunft und Mitgefühl Als Fazit lässt sich konstatieren, dass Menschenrechte genauso wie Politik und Demokratie gelernt werden müssen. 78 Aus diesem Grund gilt seit einiger Zeit die Menschenrechtsbildung selbst als Menschenrecht, weil Menschen erst durch das Bewusstsein über ihre Rechte diese tatsächlich für sich und andere einfordern können. 79 Claudia Lohrenscheit Es wird mehr im Bereich der Werteerziehung angewendet, weil es stärker um moralische denn um rechtliche Belange geht; vgl. B. Reardon, Education for Human Dignity. Learning about Rights and Responsibilities, Philadelphia 1995. 78 K. P. Fritzsche, Bedeutung der Menschenrechte für die Politische Bildung, in: G. Himmelmann u. D. Lange (Hg.), Demokratiekompetenz. Beiträge aus Politikwissenschaft, Pädagogik und politischer Bildung, Wiesbaden 2005, 79. 79 Vgl. hierzu auch die umfangreiche Untersuchung von C. Lohrenscheit, Das Recht auf 77

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Forschungsstand zur Menschenrechtsbildung

fasst die verschiedenen Ziele folgendermaßen zusammen: Würde und Bewusstsein; Werte, Einstellungen und Urteilskraft; Verantwortung; Empowerment; Basic needs; Partizipation; Solidarität. Sie können jedoch nicht wirklich als Kategorien gelten, sondern sind in sich komplexe Konzepte, welche erst noch mit Inhalten und Methoden gefüllt werden müssen. 80 Hieraus ergibt sich ein enormer Forschungsbedarf, wodurch in den nächsten Jahren ein umfassendes Konzept entwickelt und systematisiert werden sollte. Interessant ist hierbei, dass konkrete Inhalte gar nicht mehr genannt werden, sondern vielmehr Fähigkeiten, solche Inhalte gemeinsam zu generieren und umzusetzen. Karl Peter Fritzsche spricht deshalb auch von Menschenrechten als einem »way of life«, welcher schon früh durch entsprechendes Erfahrungslernen unterstützt werden soll. 81 Die Menschenrechte umfassen dabei real existierende sowie noch zu realisierende Menschenrechte, sie fungieren als »Schule des kritischen Denkens« und zielen auf Veränderungen von Handlungen. 82 Aus diesem Grund beschreibt Fritzsche die Menschenrechtsbildung als Hilfe zur Selbsteinsicht oder »sokratische Hebammenkunst«, 83 welche genügend Raum für Dialoge, Neuinterpretationen und Rollenspiele braucht, um sowohl die rationale als auch emotionale Position des Anderen wahrnehmen und nachvollziehen zu können. Das Ziel dieses Prozesses ist es, nicht nur rationale Übereinstimmung zu erzielen, sondern darüber hinaus den Anderen zunehmend als Person, d. i. in seiner Verletzlichkeit und seinem Andersdenken, wahrzunehmen. Hierfür wird häufig der Begriff der Würde verwendet. 84 Dieses Ineinander von rationalem Dialog und Kultivierung von Mitgefühl (oder auch Solidarität) hat zu einem Konflikt zwischen Vernunft und Mitgefühl geführt. 85 Menschenrechtsbildung. Grundlagen und Ansätze einer Pädagogik der Menschenrechte, a. a. O. 80 C. Lohrenscheit, Das Recht auf Menschenrechtsbildung, a. a. O., 114. 81 Vgl. K. P. Fritzsche, Bedeutung der Menschenrechte für die politische Bildung, a. a. O., 82 f. 82 Ebd., 85. 83 Ebd. 84 Betty Reardon ist eine der wenigen, welche sich eingehender mit der Bedeutung der »Würde des Menschen« bildungstheoretisch auseinandergesetzt und diesen hinterfragt hat (B. Reardon, Education for Human Dignity. Learning about Human Rights and Responsibilities, a. a. O., 4 ff.). 85 Vgl. hierzu den Dialog zwischen Habermas und Rorty in B. Weber, Zwischen Vernunft und Mitgefühl, a. a. O.

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Fazit und Forschungsdesiderat

Im ersten Fall wird der vernunftgeleitete Dialog bzw. das gemeinsame Auffinden von Übereinstimmungen als Voraussetzung dafür angesehen, dem Gegenüber ein »Personsein« zuzuschreiben. Im zweiten Fall wird das Mitgefühl bzw. das Anerkennen seiner Verletzlichkeit als Voraussetzung für einen solchen rationalen und auf Kooperation abzielenden Diskurs gesehen. Das eigentliche Problem besteht darin, dass solche Dialoge in der »Erwachsenenkultur« immer schon vorausgesetzt werden. Die Menschenrechtsbildung geht deshalb einen Schritt zurück und versetzt die Generierung einer solchen Dialogkultur in die Lebenswelt der Kinder. Dahinter steht die Hoffnung, die Identität und das Selbstverständnis der Kinder an eine plurale Dialogkultur rückzubinden, um das eigene Denken in der Auseinandersetzung mit anderen Perspektiven und Deutungsweisen zu entwickeln. Eine solche dialogische Identitätsentwicklung sollte frühzeitig kultiviert werden. Himmelmann geht deshalb von einer frühzeitigen Demokratiebildung aus, welche er in der Primärstufe ansetzt und als »Demokratie als Lebensform« begreift. 86 Grundlage für eine solche umfassende Auseinandersetzung und Deutung der eigenen Lebenswelt ist selbstverständlich der Körper, welcher schließlich die Grundlage für die Möglichkeit eines gegenseitigen Verstehens und eines Lebens in einer gemeinsamen Welt darstellt. 87 Als Forschungsdesiderat ergibt sich hieraus die Entwicklung eines Modells der Menschenrechtsbildung, welches emotionale Betroffenheit und methodisch strukturierte Reflexionshilfen miteinander verknüpft. Insofern Werte nicht nur vermittelt, sondern auch aktiv angenommen und umgestaltet werden, können sie auf diese Weise in die eigene Persönlichkeitsstruktur integriert werden. Das schlussendliche Ziel einer solchen Menschenrechtsbildung ist, dass Menschen eine ethische Konfliktsituation erkennen und altruistisches Verhalten an den Tag legen. Hieraus folgt eine mehrstufige Einteilung des Entscheidungsprozesses: a. emotionale Betroffenheit (Erkennen einer emotionalen Konfliktsituation), b. ethische Reflexion (Einordnung in eine Wertehierarchie und Erkennen von Ungerechtigkeit), c. tatsächliche Bewertungsphase (Motivation) und schließlich d. die HandlungsausVgl. G. Himmelmann, Demokratie lernen: als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform, a. a. O. 87 Vgl. hierzu die genauen Ausführungen in B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O. 86

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Forschungsstand zur Menschenrechtsbildung

führung (Entscheidung über Art und Weise des Handelns). Eine besondere Problematik stellt hierbei der Schritt vom Erkennen einer moralischen Konfliktsituation sowie der rationalen Einsicht in die Ungerechtigkeit hin zum eigentlichen Handeln dar. Vielfach wird dabei die Wichtigkeit betont, das Gefühl zu haben, tatsächlich etwas bewirken zu können sowie für sich selbst und den Anderen verantwortlich zu sein. Zusammenfassend lassen sich für die Menschenrechtserziehung vielfältige Zielsetzungen feststellen: Neben der Vermittlung von Wissen sind hier vor allem die Notwendigkeit der kritischen Reflexion und Diskussion, die selbstständige Aneignung und Interpretation von Werten, die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel sowie die Sensibilität für ethische Konfliktsituationen zu nennen. Gegenüber dieser Vielfalt an Zielsetzungen fallen jedoch die Vorschläge für konkrete Methoden einer solchen Förderung eher gering aus 88 und beschränken sich weitestgehend auf die Dilemmata-Methode von Kohlberg. 89 Sehr wenig didaktisches Material findet sich in Bezug auf konkrete Kommunikationsstrategien, d. h., auf welche Weise Diskussionen über Werte »nichtindoktrinierend« geleitet werden sollen. Ferner bleibt unklar, wie emotionale Betroffenheit und kritische Reflexion miteinander verknüpft werden sollen und können, damit sowohl die Sensitivität für die Verletzlichkeit von Menschen als auch die kritische und eigenständige Anwendung von Entscheidungskriterien gefördert werden. Schließlich fehlen Methoden, um die Qualitätssicherung eines solchen offenen Wertediskurses im Sinne einer Metakommunikation sicherzustellen. Diesem Desiderat soll durch die Methode des »Philosophierens mit Kindern« beispielhaft entsprochen werden. 90 Entwicklungspsychologisch wird an das Stufenmodell und die Dilemmatasituationen Kohlbergs angeschlossen. Didaktisch wird das Modell jedoch um das Methodenpotential der Philosophie erweitert. 91 Inhaltlich wird die DiVgl. hier auch C. Lohrenscheit: »Insgesamt lässt sich für die UNESCO-Dokumente feststellen, dass sie im Laufe der Jahre zwar konkretisiert und ausdifferenziert wurden, in Fragen der Umsetzung und Realisation jedoch meist auf der deklaratorischen Ebene bleiben« (dies., Das Recht auf Menschenrechtsbildung, a. a. O., 59). 89 Die umfangreichste Analyse und Anwendungsstudie findet sich bei B. Reardon, Education for Human Dignity, a. a. O. 90 Beispielhaft deshalb, weil das Philosophieren mit Kindern sicher nur eine denkbare Methode darstellt. 91 Ich schließe mich hierfür den ausführlichen Analysen von Ekkehard Martens an: vgl. E. Martens, Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts: Philosophieren als elementare Kulturtechnik, Hannover 2003. 88

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Fazit und Forschungsdesiderat

chotomie zwischen Vernunft und Gefühl auf der Grundlage der phänomenologischen Erörterungen an anderer Stelle 92 aufgeschlossen werden. Im Anschluss an John Dewey werden ferner auf theoretischer Ebene Demokratieerziehung und die Kultivierung eines Wertediskurses als eine der gesellschaftlichen Aufgaben der Philosophie interpretiert.

Vgl. hierzu die genauen Ausführungen in B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O.

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2. Schüsselkompetenzen der Menschenrechtsbildung: bildungspolitische Notwendigkeiten und entwicklungspsychologische Grundbedingungen 1

Ziel dieses Kapitels ist die Anknüpfung der Kernkonzepte der »kommunikativen Vernunft« und »Mitgefühl« an aktuelle Fragestellungen der Menschenrechtserziehung und damit die Darstellung der Bedeutung des hier vorgestellten Bildungsprojektes für die heutige Problemlage. Auf einer zweiten Ebene werden jeweils die entwicklungspsychologischen Rahmenbedingungen der Kultivierung von Vernunft und Mitgefühl angesprochen. Der Fokus liegt auf der Darstellung von solchen themenspezifischen Vorbedingungen, aus welchen sich Hinweise für eine pragmatische didaktische Umsetzung ableiten lassen.

2.1 Kommunikative Vernunft und politische Rationalität Im Folgenden wird versucht, Anknüpfungspunkte für die kommunikative Vernunft im Bereich der politischen Bildung zu finden, um diese in die aktuelle Diskussion innerhalb der politischen Bildung, respektive Menschenrechtsbildung, einordnen zu können. In einem weiteren Schritt wird diskutiert, welche entwicklungspsychologischen Grundbedingungen zu beachten sind. Hierbei wird insbesondere auf Kohlbergs bekanntes Stufenmodell eingegangen werden. Die in anderen

Wenn es im Folgenden um eine bildungspolitische Konkretisierung spezifischer Schlüsselkompetenzen geht, werden freilich nicht mehr sämtliche Konzepte von neuem aufgerollt werden können, sondern ich verweise hiermit lediglich auf die beiden anderen Veröffentlichungen: »Zwischen Vernunft und Mitgefühl« sowie »Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit«, a. a. O. In diesen beiden Veröffentlichungen habe ich sowohl den hier verwendeten Vernunft- und Mitgefühlsbegriff eingehend erläutert sowie deren Bedeutung für die Kultivierung von Menschenrechten dargestellt. Die folgenden Kapitel dienen deshalb der spezifischen Verortung dieser Konzepte im bildungspolitischen Problemkontext.

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Kommunikative Vernunft und politische Rationalität

Veröffentlichungen 2 vorgebrachte Kritik an einer einseitig rationalen Moralbildung führt zu der Notwendigkeit, Kohlbergs Ansatz zu erweitern. Inhaltlich geschieht dies: a. durch die Einbeziehung der Lebensweltproblematik durch Habermas’ Kritik am Kohlberg’schen Modell und b. durch die Einbeziehung des emotiven Ansatzes Rortys, welcher auf einem erweiterten Mitgefühlsbegriff basiert. Didaktisch soll die Eindimensionalität von Kohlbergs Dilemmamethode durch den Methodenpluralismus 3 des »Philosophierens mit Kindern« erweitert werden.

2.1.1 Vernunft und Rationalität in der Politischen Bildung Die Wichtigkeit von kognitiver Kompetenz wird sowohl für die politische Bildung und Demokratieerziehung als auch, und insbesondere, für die Menschenrechtsbildung betont. 4 Der Grund hierfür liegt in der theoretischen und interkulturellen Problematik der Menschenrechte: Die Inhalte solcher Wertsetzungen müssen grundsätzlich für Kritik offen sein, weil sonst die Legitimität und der transkulturelle Anspruch auf der Kippe stehen. Deshalb sind Menschenrechte kein fester Rechtskanon, sondern gelten vielmehr als Diskussionsgrundlage. Letztlich zielen sie auf einen Minimalkonsens ab, welcher jedoch nur in der wechselseitigen Anerkennung Anwendung finden kann. Ferner muss die Problematik der Menschenrechte lebensweltadäquat vermittelt werden. Sie kann deshalb nur im offenen Diskurs mit den Kindern geschehen, um bei deren originären Erfahrungen anzuknüpfen. In diesem Sinne gilt für die Menschenrechte dasselbe, und vielleicht in noch dringlicherem Maße, was auch für die Wertevermittlung und Demokratiekompetenz gefordert wird: nämlich eine reflektierte Dialogkultur zu schaffen, welche zwischen Universalität und Wertepluralität eine Balance findet. Aus diesen Gründen kommt der Kommunikationskompetenz und politischen Rationalität von Kindern eine zentrale Bedeutung zu und wird in der Menschenrechtsbildung als eine der wesentVgl. B. Weber, Zwischen Vernunft und Mitgefühl, a. a. O. Vgl. ebd. 4 Zumeist wird hier die Kohlberg’sche Methode als einzige didaktische Möglichkeit erwähnt; vgl. u. a. V. Lenhardt, Kontextspezifische Didaktik der Menschenrechte, in: C. Mahler u. A. Mihr (Hg.), Menschenrechtsbildung, a. a. O., 41 ff. oder auch B. Readon, Education for Human Dignitiy. Lerning about Rights and Responsibilities, a. a. O. 2 3

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Schüsselkompetenzen der Menschenrechtsbildung

lichen Kernfragen gehandelt. Unklarheit besteht jedoch darin, was genau unter einer solchen Kompetenz zu verstehen ist. 5 Bereits in den 70er Jahren haben Bernhard Sutor und Manfred Hättich an dem Begriff der »politischen Rationalität« 6 im Sinne einer vernunftgeleiteten politischen Praxis gearbeitet. 7 Sie gehen davon aus, dass rationale und sozialethisch-moralische Aspekte politischer Bildung unwiderruflich zusammengehören und nur durch eine dialogischkommunikative Entfaltung von Rationalität gefördert werden können. 8 Demnach dürfe keine Form der Verstandeskenntnis vernachlässigt werden. Umgekehrt lasse sich politische Rationalität nicht auf ein instrumentelles Verständnis beschränken, weil dies einer »positivistischen Halbierung« von Rationalität gleiche. Sie ist vielmehr »über kausale Erklärungsversuche, über Zweck-Mittel-Relationen und Prognosen hinaus die verstehende Interpretation und die argumentative Auseinandersetzung mit Normen, Werten, Überzeugungen und Sinnorientierungen. Erklären, Verstehen, Argumentieren bedürfen einer gewissen Distanz zum Gegenstand und verantwortliche Urteilsbildung setzen Freiheit im kommunikativen Denkprozess voraus.« 9 Politische Bildung erschöpft sich nicht in politischen Handlungen, sondern erfordert darüber hinaus auch die gemeinsame Reflexion über Inhalte und Formen von Handlungen. Es wird deshalb für die politische Bildung als wesentlich erachtet, dass Inhalte nicht vorgeschrieben, sondern gemeinsam erarbeitet werden. Einer solchen Didaktik geht selbstverständlich der »Respekt vor der Würde des einzelnen als Person« voraus. 10 Damit wehrt sich Hättich gegen die einseitige Fortschrittsorientierung, welVgl. hierzu verschiedene Beiträge in: B. Schäfer und Th. Schulze (Hg.), Menschenrechte im Unterricht, Analysen und Texte zu einem Preisausschreiben der Unterrichtszentrale für politische Bildung, Bonn 1992. 6 In der Politikwissenschaft und politischen Bildung wird zumeist von Rationalität gesprochen. Ich werde den Begriff immer dann verwenden, wenn er beim Autor selbst vorkommt. Ansonsten bleibt es bei der Begriffsverwendung von »Vernunft«. 7 D. Grosser, M. Hättich, H. Oberreuter, B. Sutor (Hg.), Politische Bildung. Grundlagen und Zielprojektionen für den Unterricht an Schulen, Stuttgart 1976, 30 ff.; B. Sutor, Philosophisch-anthropologische Grundlagen der Politischen Bildung, in: P. Gutjahr-Löser u. H. H. Knütter (Hg.), Der Streit um die Politische Bildung. Was man von Staat und Gesellschaft wissen und verstehen soll, München 1975, 43–72; C. Solzbacher, Politische Bildung im pluralistischen Rechtsstaat, a. a. O., 161 ff. 8 B. Sutor, Politische Bildung und praktische Philosophie, Paderborn 2005, 163. 9 C. Solzbacher, Politische Bildung im pluralistischen Rechtsstaat, a. a. O., 162. 10 Ebd. 5

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Kommunikative Vernunft und politische Rationalität

che sich immer schon in Besitz der Wahrheit wähnt und selbstkritische Reflexionen daher von Anbeginn ausschließt. Vielmehr sollen die Beiträge aller Kommunikationsteilnehmer in ihrer Gültigkeit bedacht werden. Politische Bildung wird so als wesentlich dialogisch gesehen, die kein geschlossenes Curriculum verträgt, weil es ihrem ureigensten Sinn widerspricht. Sie offenbart sich nicht als unbefragbare Axiomatik, sondern muss Inhalte interpretierend anbieten. Sie erfordert von allen Beteiligten eine »dialogoffene Haltung«. 11 Insbesondere Sutor betont hierbei, dass auch die emotional-affektive Seite des unterrichtlichen Prozesses nicht an der Rationalität des Schülers vorbeigeht und umgekehrt auch die Rationalität von Schülern immer schon in einem psychisch-sozialen Unterrichtsgeschehen beheimatet ist. 12 Deshalb kann es bei der emotionalen Komponente auch niemals um manipulative oder appellierende Moralisierungsversuche gehen, sondern vielmehr um die Motivation zu eigenständigen Denkprozessen, welche in der Betroffenheit ihren Ursprung haben. 13 Emotionen gelten deshalb als wichtiger Bestandteil des Lernprozesses und sind rein faktisch nicht von den Rationalisierungsprozessen zu trennen. Letztlich soll Schülern die Möglichkeit gegeben werden, sich moralische Prinzipien eigenständig und aktiv im Dialog anzueignen. Didaktisch geht es für Sutor bei dem Begriff der politischen Rationalität darum, die Schüler durch problem- und sinnhafte Denkinhalte zu kommunikativen Reflexions- und Bearbeitungsprozessen zu motivieren und dadurch zur verantwortlichen Urteilsbildung zu ermutigen. Lehrkräfte können solche Prozesse nur anbahnen oder ermöglichen, nicht aber vorschreiben. 14 Ferner muss es, insofern ein selbstbestimmtes und in einem inneren Vorgang rational begründbares und verantwortbares politisches Verhalten kultiviert werden soll, um ein Entfalten von Rationalität im dialogischen Umgang mit Problemen Vgl. ebd., 164 ff. sowie B. Sutor, Philosophisch-anthropologische Grundlagen der Politischen Bildung, in: P. Gutjahr-Löser u. H. H. Knütter (Hg.), Der Streit um die Politische Bildung. Was man von Staat und Gesellschaft wissen und verstehen soll, München 1975, 43–72. 12 B. Sutor, Politische Bildung und praktische Philosophie, a. a. O., 174. 13 Selbstverständlich wird die Schlüsselkompetenz des Mitgefühls weiter unten noch genauer ausgeführt. Es geht hier lediglich darum, auf die Verbindung zwischen Emotion und Kognition im Unterrichtsverlauf allgemein hinzuweisen, weil diese einen wichtigen Aspekt im aktuellen Forschungsdialog darstellt. 14 B. Sutor, Politische Bildung und praktische Philosophie, a. a. O., 179. 11

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Schüsselkompetenzen der Menschenrechtsbildung

und Fragen gehen – der innere und vom sozialen Miteinander abstrahierte Rationalitätsprozess reicht nicht aus. Schließlich müssen an solche offenen Entscheidungsprozesse tatsächliche Handlungskonsequenzen anschließen, weil nur so SchülerInnen lernen, für ihre gemeinsamen Entscheidungen Verantwortung zu übernehmen. 15 Armin Scherb teilt die bürgerpolitischen Kompetenzen in kognitive, prozedurale und habituelle Kompetenzen. Erstere umschreibt er als die Fähigkeit, Strukturen und Prozesse der Demokratie zu erfassen, Zweitere beschreibt den gesamten Prozess der Verständigung, d. i. kognitive Elemente des Verstehens sowie empathische Elemente des Verständnisses. Hier zeigt sich eine weitere Verknüpfung zwischen der Vernunft und der Emotion der Empathie: Es geht nicht nur darum, eigenständig zu denken, sondern, andere Meinungen zu verstehen und deren Standpunkt zu erwägen. Die dritte Kompetenzgruppe bei Scherb zielt auf die gewissenhafte und verantwortungsbewusste Urteilsbildung, welche durch Gründe belegt werden kann. 16 Scherb entwickelt in diesem Zusammenhang einen fünfstufigen Reflexionsprozess, welcher in seinen Grundlagen an Kohlberg/Habermas anschließt. Interessant ist, dass Scherb die Metareflexion als letzte Ebene erschließt. Dabei geht es um die reflexive und eigenverantwortliche Beurteilung der Qualität des Dialogs. Für das hier vorliegende Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern« ist gerade auch der letzte Punkt entscheidend. Denn nur durch eine solche Metareflexion erwerben SchülerInnen die Kompetenz, die Qualität der Dialogkultur eigenverantwortlich zu überprüfen. Auch Herbert Schneider propagiert als Schlüsselkompetenz für politisch verantwortliches Handeln, dass SchülerInnen »dazu befähigt werden [sollen], politische Probleme zu analysieren und sich in die Lage der davon Betroffenen hineinzuversetzen sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, wie er/sie die Problemlösung im Sinne seiner/ ihrer wohlverstandenen Eigeninteressen unter Berücksichtigung seiner/ihrer Mitverantwortung für das soziale Zusammenleben und das politische Ganze beeinflussen kann.« 17 Auch Himmelmann propagiert Vgl. ebd. A. Scherb, Demokratie-Lernen und reflexive Urteilskompetenz, in: G. Himmelmann u. D. Lange (Hg.), Demokratiekompetenz. Beiträge aus Politikwissenschaft, Pädagogik und politischer Bildung, Wiesbaden 2005, 270 f. 17 H. Schneider, Gemeinsinn, Bürgergesellschaft und Schule – Ein Plädoyer für bürgerorientierte politische Bildung, in: S. Schiele u. H. Schneider (Hg.), Reicht der Beutels15 16

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Kommunikative Vernunft und politische Rationalität

eine frühe politische Bildung, welche sich am Leitbild der »Demokratie als Lebensform« orientiert, um auf solche Weise die Grundlagen für Diskursfähigkeit und Auseinandersetzung mit Pluralität zu legen. 18 Trotz dieser vielschichtigen Forderungen einer frühen Förderung politischer Rationalität gibt es bislang nur wenige konkret didaktische Fördermöglichkeiten. Die Dilemmatasituationen von Kohlberg sind oft die einzig erwähnte Methode, aus welcher junge Menschen idealerweise als »postkonventionelle Bürger« hervorgehen können. Allerdings steht auch am Ende eines solchen Prozesses nicht der »fertige demokratische Bürger«, sondern ein »suchender junger Mensch«. Politische Rationalität im Bildungsprozess kann deshalb nicht auf Ergebnisse angelegt sein, sondern lediglich auf die Kultivierung eines Dialograums, welcher Identitätsprozesse unterstützt. Ziel ist es, dass sowohl die Sensibilität für soziale Missstände geweckt als auch die Kompetenz gefördert wird, soziale Konflikte im Dialog zu bewältigen. Im Sinne einer kommunikativen Vernunft wird also ein genügend eigenständiges Denken angestrebt, das sich von Lebensweltgewissheiten zu lösen vermag, um in der Beobachterperspektive sowie dem gegenseitigen Rollentausch soziale Konventionen auf ihre Gerechtigkeit und soziale Verantwortbarkeit zu hinterfragen. Im Austausch mit anderen sollen eigene Prinzipien für das Denken und Handeln abgeleitet werden, welche in hermeneutischer Manier eine situationssensible Anwendung finden. Ob für eine so geartete kommunikative Vernunft das Dilemmamodell von Kohlberg ausreicht, soll deshalb im Folgenden genauer untersucht werden. 19

bacher Konsens? Stuttgart 1996, 220. Diese emotionale Komponente wird im vorgeschlagenen Bildungsprojekt selbstverständlich genügend Raum gegeben, um gerade ein solches rivalisierendes Verhältnis zwischen Rationalität bzw. Vernunft und Mitgefühl zu vermeiden. 18 Vgl. G. Himmelmann, Demokratie lernen, a. a. O. 19 Selbstverständlich müssen diese Diskurskompetenzen später durch das spezifische Wissen über das Funktionieren der Demokratie ergänzt werden. Ebenso wird das hier entwickelte Bildungsprojekt, und mit Blick auf die vorhergegangenen Überlegungen zur politischen und moralischen Bildung, wenig Wert auf Inhaltsvermittlung legen. Selbstverständlich soll durch eine solche Schwerpunktsetzung die Inhaltsvermittlung in der politischen Bildung, und natürlich insbesondere im Hinblick auf die Menschenrechtsbildung, nicht abgewertet, sondern lediglich auf eine andere Ebene verlegt werden.

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Schüsselkompetenzen der Menschenrechtsbildung

2.1.2 Kommunikative Vernunft und die Entwicklung von Moral: das Stufenmodell von L. Kohlberg Bei der Beschreibung der kognitiven moralischen Entwicklung von Kindern ist Kohlbergs Stufentheorie nach wie vor prägend; nicht nur entwicklungspsychologisch, sondern insbesondere auch didaktisch als Modell der politischen Bildung 20. »Kohlbergs Modell gilt als Plädoyer für politisches Lernen schlechthin, das sich methodisch dem Gespräch und der Auseinandersetzung bedient, das sich didaktisch nicht als Inhaltslernen, sondern als kategoriales, auf Strukturen und Prinzipien zielendes Lernen versteht und als ein Lernen, das den moralischen Gehalt politischer Konflikte ins Zentrum seines Interesses rückt.« 21 Dem Anliegen Kohlbergs geht seine These voraus, dass politische Bildung nicht technokratisch-methodisch einem behavioristischen Reiz-Reaktionsschema folgen kann, sondern durch dialogisch-kommunikative Auseinandersetzung 22 mit sozialen Problemen und politischer Gestaltung stattfindet, um in diesem Prozess zu universalen moralischen Prinzipien vorzustoßen. Kohlbergs Stufenmodell bezieht sich entwicklungspsychologisch auf Jean Piaget und moralphilosophisch auf Immanuel Kant. 23 Vernunft wird als das Ergebnis von Interaktionsprozessen zwischen Organismus und Umwelt gedeutet. Dabei sind kognitive und affektive Entwicklungen nicht voneinander getrennt, sondern stellen vielmehr verschiedene Perspektiven für die Definition der strukturellen VerIn beinah allen Ansätzen zur moralischen Bildung innerhalb eines politischen Kontextes wird einzig auf Kohlberg Bezug genommen (vgl. u. a. C. Solzbacher, Politische Bildung im pluralistischen Rechtsstaat, a. a. O., B. Sutor, Menschenrechtsbildung, a. a. O.). 21 Vgl. C. Solzbacher, Politische Bildung im pluralistischen Rechtsstaat, a. a. O., 131. 22 Kohlberg grenzte seinen dialogischen Ansatz zum Ende seiner Forschungen wieder ein: »Ich glaube heute, dass die Konzeptionen der Moralerziehung teilweise indoktrinierend sein müssen, da wir in einer Welt leben, in der Kinder stehlen, betrügen, Gewalt anwenden, in einer Welt, in der wir nicht warten können, bis die Schüler die fünfte Schulklasse erreicht haben, um dann mit ihnen ethisches Verhalten direkt zu erörtern« (L. Kohlberg, Revisions in the theory and practice of moral development, in: W. Damon (Hg.), Moral Development: New Directions for Child Development, San Francisco 1978, 84). 23 Ferner werden die Theorien von James Mark, John Dewey, George Herbert Mead und Jane Loevinger herangezogen (L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, Frankfurt am Main 1974, 7). 20

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änderungen dar. 24 Die Rollenübernahme durch Kommunikation spielt hierbei eine zentrale Rolle, nämlich im Sinne eines »Wissens, dass der andere mehr oder minder wie das Ich ist und dass der andere dies weiß und auf das Ich innerhalb eines Systems komplementärer Erwartungen reagiert« 25. Ein weiterer wichtiger Bestandteil von Kohlbergs Theorie ist George Herbert Meads Ansatz einer dialogischen Struktur des Ich, d. h., dass sich Ich-Identität über die Rollenübernahme entwickelt und in der Transformation der verschiedenen Rollenbeziehungen hinweg konstituiert. 26 Kohlberg baut zudem auf dem moralpädagogischen Ansatz von John Dewey auf, indem er das Kind mit konfliktuösen Erfahrungen konfrontiert bzw. diese im Alltag als Ausgangspunkt für ein kooperatives Problemlösungsdenken verwendet. 27 Moralische Entwicklung wird in folgenden Stufen beschrieben: 1. Orientierung an Bestrafung und Gehorsam, 2. instrumentellrelativistische Orientierung, 3. Orientierung an personengebundener Zustimmung, 4. Orientierung an Recht und Ordnung, 5. legalistische oder Sozialvertrags-Orientierung und 6. Orientierung an allgemeingültigen ethischen Prinzipien. 28 Kohlbergs Erfahrung ist, dass diese Stufen von Kindern immer nacheinander und in derselben Reihenfolge durchlaufen werden. Hierbei zeigen sich selbstverständlich verschiedene Geschwindigkeiten bzw. das Verharren für einige Zeit zwischen zwei Stufen. In neueren Kohlberg-Interpretationen wird angenommen, dass diese Stufen durch den Einfluss von Medien früher durchlaufen werden. Ferner ist festzustellen, dass sich die Geschwindigkeit je nach sozialem Milieu unterscheidet. Kohlberg versucht die Entwicklung des Moralverhaltens zu unterstützen, indem er Kinder in Diskussionen über moralische Dilemmata mit solchen Argumentationen konfrontiert, welche je ein bzw. zwei Stufen über dem aktuellen Stand des Kindes liegen. Er macht mit Hilfe Ebd. Ebd., 10, auch zit. in: M. Wasna u. B. Schäfer, Emotionale Betroffenheit, in: B. Schäfer und Th. Schulze (Hg.), Menschenrechte im Unterricht, Analysen und Texte zu einem Preisausschreiben der Unterrichtszentrale für politische Bildung, Bonn 1992, 115. 26 Ebd., 11 sowie G. H. Mead, Mind, Self, and Society, hg. v. Charles W. Morris, Chicago 1934. 27 Vgl. zu diesem Ansatz: J. Dewey, Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik, Braunschweig 1964. 28 L. Kohlberg, Essays on Moral Development, Vol. I, San Francisco 1981, 409 ff.; vgl. hierzu auch die Erweiterung der Stufen durch J. Habermas, in: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt am Main 1983, 127 ff. 24 25

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der Methode des sokratischen Dialogs auf inhärente Argumentationskonflikte der aktuellen Einstellungen aufmerksam. Dies führt zu einer kognitiven Dissonanz im Denken des Kindes. 29 Um eine solche Dissonanz auszulösen, muss die Lehrkraft: a. ein Wissen haben, auf welcher Stufe sich das Kind aktuell befindet, b. einen echten Moralkonflikt erzeugen und c. Denkmodelle präsentieren, welche je um ein bis zwei Stufen höher liegen. 30 Es geht Kohlberg und seinem Mitarbeiter Turiel darum, in einer kollaborativen Diskurssituation Strategien der Entscheidungsfindung zu erlernen, um damit rigide Abwehrmechanismen dort zu verhindern, wo Kinder mit der Wahrnehmung gegenläufiger Werte oder Konfliktsituationen konfrontiert werden. Kohlberg wehrt sich mit dieser Vorgehensweise gegen die noch in den 70er und 80er Jahren geläufige Indoktrination von festgelegten Regeln. 31 Es geht darum, dass Lehrer und Eltern nicht mehr versuchen, ihre eigene Moralauffassung an Kinder weiterzugeben, ohne die von Kindern getroffenen Werturteile zunächst anzuhören. Dies halten Kohlberg/Turiel auch deshalb für wichtig, um a. zu sehen, warum Kinder auf gewisse Weise handeln (auch hinter einer altruistischen Tat kann ein egoistisches Motiv stehen), und b. um sie zum eigenständigen Denken anzuregen und dadurch der Gefahr zu entgehen, auf der Stufe eines Regelkonformismus stehen zu bleiben. Natürlich ist Indoktrination didaktisch »bequemer«, aber sie widerspricht den Prinzipien einer demokratischen Gesellschaft. 32 Gegnern einer solchen Vorgehensweise hält Kohlberg vor: »Wer der Schule verweigert, die moralische Basis der Verfassung zu vermitteln, hält Unterweisung in der Verfassung für verfassungswidrig.« 33 Von anderer Seite wurde kritisiert, dass Kohlberg von »höheren« und »niedrigeren« Stufen spricht. Er betont jedoch, dass ein Kind nicht Auf den Effekt solcher Dissonanzen auslösenden Interventionen hat bereits Leon Festinger in den 50er Jahren hingewiesen (vgl. L. Festinger, A Theory of Cognitive Dissonance, Stanford, CA, 1957). 30 L. Kohlberg u. E. Turiel, Moralische Entwicklung und Moralerziehung, in: G. Portele (Hg.), Sozialisation und Moral. Neuere Ansätze zur moralischen Entwicklung und Erziehung, Weinheim/Basel 1978, 20. 31 Ebd., 20. 32 Vgl. ebd., 51. Auf Kohlbergs Argumentation gegen eine relativistisch motivierte Moralerziehung werde ich an dieser Stelle verzichten. Die Auseinandersetzung zwischen Ethnozentrismus und Modernismus findet sich bereits in meiner Veröffentlichung »Zwischen Vernunft und Mitgefühl«, a. a. O. 33 Vgl. ebd., 51. 29

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deshalb als »weniger wertvoll« gesehen werden kann, nur weil es sich in seiner moralischen Entwicklung auf einer niedrigeren Stufe befindet. Generell dürfen moralische Entscheidungen nicht von außen beurteilt werden, sondern vielmehr geht es darum, den natürlichen Reifungsprozess des Kindes durch anregende Diskussionen mit Mitschülern zu unterstützen. Selbstverständlich spielt für Kohlberg die steigende Fähigkeit zur Abstraktion im Denkprozess von Kindern eine sehr wichtige Rolle. Jedoch wurzelt die moralische Fortentwicklung des Moralbewusstseins in der Fähigkeit zur emotionalen Betroffenheit: Insbesondere die konventionelle Stufe bedeutet ein emotionales »bonding« mit Menschen, die dem Kind nahestehen. Die postkonventionelle Stufe geht nun davon aus, dass alle Menschen gleich behandelt werden sollen. Das heißt, die platonische Kategorie einer Unterscheidung in »Freund« und »Feind« wird aufgelöst und alle Menschen werden nun nach gleichen Prinzipien behandelt. 34 Das Kind abstrahiert dadurch von der partikular-emotionalen Beziehung und beruft sich auf übergeordnete Prinzipien, die aber dennoch in den universal menschlichen Dispositionen der Empathie (Besorgnis um das Wohl anderer) und der Gerechtigkeit (Streben nach Gleichheit und Gegenseitigkeit) verankert bleiben. 35 Das Prinzip der Gleichwertigkeit aller Menschen resultiert also nicht aus einer Gleichgültigkeit, sondern vielmehr aus der ursprünglicheren Fähigkeit des Mitgefühls und der Betroffenheit. Das Kind entwickelt jedoch erst auf der nächsten Stufe das Bewusstsein für Rechte wie die der Menschenrechte, welche sich in ihrem Inhalt von den aktualisierten Rechten des Staates oder der Anweisung eines Vorgesetzten unterscheiden können. Kohlberg zielt darauf ab, dass Menschen unabhängig von Autorität und Staat in jeder Situation einsehen können, ob eine Anweisung oder ein Verhalten mit ihren inneren moralischen Prinzipien übereinstimmt. Nur hierdurch – und gerade im Kontext einer Erziehung im Schatten des Holocausts – kann die Einhaltung grundlegender Menschenrechte sichergestellt werden. »Die letzte [postkonventionelle] Stufe repräsentiert ein Denken in Prinzipien: hier geht es um das universale, beständige und umfassende Prinzip der Gerechtigkeit, auf dem Vgl. hierzu den Dialog über die Gerechtigkeit in Platon, Politeia, Buch I. Vgl. L. Kohlberg u. E. Turiel, Moralische Entwicklung und Moralerziehung, a. a. O., 38.

34 35

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die Menschenrechte beruhen. Auf Stufe 6 fühlt man sich […] nicht mehr an das Gesetz gebunden, nur weil es Gesetz ist.« 36 Solche Prinzipien können im Idealfall auf alle Menschen in allen Situationen angewendet werden. Sie basieren, im Sinne der praktischen Vernunft bei Kant, nicht auf Neigung noch auf gesetzlichen Vorgaben, sondern orientieren sich einzig an der Idee des kategorischen Imperativs, wodurch im Rollentausch jedes Prinzip auf seine Allgemeingültigkeit überprüft wird. 37 Kohlbergs didaktische Methode kann am ehesten als »Sokratischer Dialog« beschrieben werden, indem sie weder indoktriniert noch sich auf soziale Autoritäten verlässt, sondern einzig auf die natürliche Überzeugungskraft der Argumente baut. Moral-Unterricht wird deshalb als offener Diskussionsprozess definiert und moralisches Verhalten wird nicht als »richtiges Verhalten« beschrieben, sondern als ein Verhalten, das im Einklang mit dem gereiften moralischen Urteilsvermögen steht. 38 Eine offene Gesprächssituation ist aber auch deshalb die beste Methode, um zu erfahren, warum und wie Kinder denken und insbesondere welche Begründungen sie hierfür vorbringen. Wenn es nämlich nur um »richtiges« und »falsches« Verhalten geht, dann werden Kinder zwar schnell lernen, was die Lehrkraft hören möchte. Diese Aussagen werden sich jedoch nicht mit der eigentlichen Einstellung der Kinder decken. Sobald sich ein Kind »unsichtbar« wägt, wird es sich nicht mehr an die »gelernten Prinzipien« halten. 39 Dies beweist u. a. Krebs in einigen Untersuchungen:40 Menschen der konventionellen Stufe entscheiden dann gegen Betrug, wenn externe Autoritäten sie hierzu drängen, aber sobald keine Sanktionen erwartet werden, ändert sich das Verhalten. Hingegen zeigt sich, dass Menschen der postkonventionalistischen Stufe weit resistenter gegenüber solchen ÜbertritVgl. ebd., 56. Selbstverständlich gehen mit einer solchen philosophischen Vorentscheidung einige Probleme einher. Ich werde diese im nächsten Kapitel ansatzweise ausführen. Für das hier vorliegende Bildungsprojekt wird dieser Rollentausch durch den öffentlichen Dialog, im Sinne von Habermas, erweitert. 38 Vgl. ebd., 75. 39 Dies zielt natürlich auf die berühmte Fabel »Der Ring des Gyges« in Platons Politeia. 40 Vgl. R. Krebs, Some Relations between Moral Judgement, Attention and Resistance to Temptation, University of Chicago, 1967, zit. in: L. Kohlberg u. E. Turiel, Moralische Entwicklung und Moralerziehung, a. a. O., 71; sowie A. Brown, J. Morrison u. G. Couch, Influence of Affectional Family Relationships on Character Development, in: Journal of Abnormal and Social Psychology, 42, 1947, 422–428. 36 37

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ten sind, weil ihre Entscheidung ihren eigenen inneren Prinzipien folgt, nicht äußeren Autoritäten oder Gesetzen. 41 Kohlberg begründet die Notwendigkeit einer frühestmöglichen moralischen Förderung, indem er zeigt, dass der Dissonanzeffekt durch abweichende Argumentationsverläufe umso schwächer wird, je länger ein Kind auf einer Stufe stehen bleibt. Es entwickelt stärkere Abwehrmechanismen gegen solche Merkmale der sozialen Umwelt, welche nicht mit seiner eigenen Denkstufe übereinstimmen. Alternative Argumentationsverläufe werden deshalb weniger wahrgenommen. Ferner wird im Erwachsenenalter gerade dann ein prinzipiengeleitetes Denken nicht mehr erreicht, wenn sich die Entwicklung nicht mit ca. 13 Jahren mindestens auf Stufe 3 oder 4 befindet bzw. sich Stufe 5 oder 6 nicht zumindest bis zum ca. 20. Lebensjahr einstellt. 42 Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, dass der Stufenwechsel eben nicht »direkt« unterrichtet werden kann, sondern sich nur dann vollzieht, wenn: a. das Dilemma real und als echtes Dilemma empfunden wird, b. im Gespräch durch Dissonanz die Unvollständigkeit des eigenen Denkansatzes erkannt wird und c. die nächste Stufe im eigenen Denkprozess selbstständig erklommen wird. Jeder Wandel der Denkstruktur ist deshalb eine eigenständige Entdeckung des Kindes und kann nicht einfach vorgeführt werden. Diese Denkleistung kann von der Lehrkraft deshalb nur unterstützt, jedoch nicht selbst für die Kinder vollzogen werden. Ferner muss die Lehrperson für diesen Prozess die aktuelle Stufe, auf welcher sich das Kind befindet, richtig einschätzen können, entwicklungsgerechte Denkanstöße geben (die sich um ein bis zwei Stufen darüber befinden), sich auf die selbst gefundenen Begründungen des Kindes konzentrieren sowie die Überlegenheit der nächsthöheren Stufe vor Augen führen. Didaktisch ist es besonders wichtig, die Aussagen des Kindes gut zu bedenken, Inkonsistenten aufzudecken und zur Beseitigung dieser durch andere Lösungen anzuregen. »Wie unsere Untersuchungen zeigen, versucht ein Kind, wenn es zur Wahrnehmung von Widersprüchen in seinem eigenen Denken angeleitet wird, neue und bessere Lösungen moralischer Probleme zu entwickeln. Die Diskussionsbeiträge des Lehrers müssen daher pro-

Vgl. L. Kohlberg u. E. Turiel, Moralische Entwicklung und Moralerziehung, a. a. O., 71 ff. 42 Ebd., 59. 41

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vokant sein und wichtige Themen anschneiden, so dass das Kind eher einen echten Moralkonflikt erfährt.« 43 Schließlich verweist Kohlberg auf die Notwendigkeit, dass Kinder nicht nur durch Dialoge in ihrem Denken gefördert werden, sondern dass die Entscheidungen auch im realen Leben der Schule ihre Umsetzung finden: Schüler sollen sich an Moral-Entscheidungen ihrer Schule beteiligen sowie darüber hinaus für die aktive Teilnahme an politischen Belangen motiviert werden. 44 »Aus pädagogischer Sicht ist das Ziel der Stimulierung gereiften moralischen Denkens die Entwicklung eines Gerechtigkeits-Bewusstseins – was im Endeffekt die Schaffung gerechter Schulen bedeutet, in denen die Kinder gleichberechtigt partizipieren. Es geht daher nicht nur um freie Beteiligung an Moraldiskussionen im Unterricht, sondern um die gesamte Atmosphäre der Schule.« 45 Entscheidend für die hier vorliegende Untersuchung ist ferner der Zusammenhang zwischen politischem Verhalten und moralischem Denken, da politisches Verhalten stark von Moralvorstellungen beeinflusst wird. 46 Kohlberg schreibt: »[…] in einer freien Gesellschaft [würde] niemand ein politisches Erziehungsprogramm verteidigen, das Schüler zu bestimmten ›guten‹ politischen Verhaltensweisen anleitet bzw. überreden will. Nichts spricht jedoch dagegen, den Reifungsprozess reflektierten politischen Urteilens, wie überhaupt der Reflektion über politische Gegebenheiten, pädagogisch zu fördern.« 47 Kritische Stimmen gegen Kohlberg Trotz der flächendeckenden Bezugnahme und Anwendung der Kohlberg-Methode für die Moralerziehung und politische Urteilsbildung wurde das Stufenmodell von vielen Seiten kritisiert. Selbstverständlich kann im Folgenden nicht auf alle Kritikpunkte eingegangen werden. Es folgt deshalb eine Einschränkung auf die relevanten Gesichtspunkte im Hinblick auf die Entwicklungspsychologie, die Philosophie sowie die

Ebd., 66. Vgl. ebd., 68. 45 Ebd., 79. 46 Haan weist nach, dass die von College-Studenten in politischen Dilemmata gewählten Handlungsalternativen in Beziehung zu der jeweiligen Stufe des moralischen Urteilsvermögens stehen (vgl. N. Haan, Moral Redefinition in Families as the Critical Aspects of the Generational Gap, in: Youth and Society, 2, 1971, 259–283). 47 L. Kohlberg u. E. Turiel, Moralische Entwicklung und Moralerziehung, a. a. O., 78. 43 44

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didaktische Ausführung. Im Anschluss daran wird dargelegt, in welchen Punkten das vorliegende Bildungsprojekt an Kohlbergs Methode anschließt bzw. diese inhaltlich und methodisch ergänzt. Allen voran muss aus entwicklungspsychologischer Sicht die strikte Stufenabfolge eingeschränkt werden, welche sich vor allem an Piaget orientierte. Heutzutage werden die Zeitangaben durch die Informationsquelle der Medien und der allgemeinen Auseinandersetzung von Kindern mit divergierenden Moralvorstellungen weiter gefasst. Die rigiden Zeitvorstellungen der Phasenentwicklung werden verneint. Ferner wird das Überspringen von Phasen bzw. rudimentäre Anklänge von späteren Phasen in früheren nicht mehr ausgeschlossen. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass durch eine entsprechende kognitive Förderung von Kindern ihre Entwicklung drastisch beschleunigt wird. Ein »pädagogischer Pessimismus« erwies sich deshalb als unangebracht in Bezug auf die kognitive Entwicklung von Kindern. 48 Nichtsdestotrotz gibt es seit Kohlberg kein vergleichbares oder alternatives Gesamtkonzept zur Erklärung moralischen Lernens. 49 Trotz Kohlbergs sozialkognitiver Ausgangsposition wurde von verschiedenen Seiten kritisiert, dass seine Dilemmageschichten zu wenig Wert auf die Emotionen des Individuums legen. Insbesondere Michael Kärn weist darauf hin, dass das Individuum über eine große Portion Einfühlungsvermögen verfügen muss, um sich in die oft sehr abstrakten und fremden Situationen der Dilemmasituationen einzufühlen. Hierzu benötigt das Kind insbesondere die Fähigkeit, eigene Gefühle wahrzunehmen, um schließlich die Lage des Anderen zu verstehen. 50 Philosophisch gesprochen huldigt Kohlberg einem »rationalistischen Optimismus«, indem er andere wichtige Faktoren der Moralentwicklung vernachlässigt. Hierzu gehört insbesondere sein auf den Perspektivenwechsel reduzierter Empathiebegriff. Ferner legt dieser rationalistische Optimismus die Vermutung nahe, zu den MenschenF. J. Mönks u. A. M. P. Knoers, Lehrbuch der Entwicklungspsychologie, München 1996, 164. 49 Ebd. 50 »[…] das Individuum muss eine Kompetenz entwickeln durch den Umgang mit seinen eigenen Emotionen.« Oder weiter oben: »[…] der Umgang des Individuums mit sich selber wird nicht oder nur ungenügend berücksichtigt« (vgl. M. Kärn, in: G. Portele (Hg.), Sozialisation und Moral. Neuere Ansätze zur moralischen Entwicklung und Erziehung, a. a. O., 100). 48

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rechten und der Anerkennung der Menschenwürde führe eine bequeme und breit ausgelegte Straße, eine Art natürliche Entwicklung, welche fast jeder Mensch erreicht, wenn er nur lange genug nachdenkt. Diese Annahme wurde sowohl von postmodernen als auch feministischen Theorien stark kritisiert. Die Dilemmasituationen suggerieren »eindeutig richtige« Antworten, welche sich an eine Prinzipienmoral anlehnen, ohne dabei verantwortungsethische Gesichtspunkte genügend einzubeziehen. Im konkreten Problemfall muss nämlich, und insbesondere wenn es um Fragen der Menschenrechte geht, eine sorgfältige Pro und Kontra Abwägung stattfinden. »Eine nach menschlichen Maßstäben verfasste absolut gerechte Welt ist zugleich auch eine zutiefst inhumane und gnadenlose Welt«. 51. Sie schließt die Besonderheit der jeweiligen Situation des anderen Menschen aus. Ballauff spricht hier sogar von einer »autistischen Selbstrechtfertigungslehre der Menschen«, welche auf reibungslose Abwicklung von politischen Verfahrensmodalitäten drängt. Wichtiger wäre hier, laut Ballauff, der Blick auf das Ganze, d. i. die Mitmenschen und Dinge in ihrer konkreten Besonderheit. 52 Darüber hinaus wäre es partiell gefährlich, Kindern zu vermitteln, dass jedes Dilemma eine eindeutig »richtige« Lösung hat. Stufe 5 und 6 basieren nämlich weitestgehend auf subjektzentrierten Entscheidungen: Zwar gibt es einen Dialog zwischen Erzieher und Kind, nicht aber zwischen Kindern unter sich, d. i. dort wo kooperative Denkleistungen und Dialogkompetenzen eigentlich erworben werden. Der Fragemodus bei Kohlberg ist ein pädagogischer, insofern die Lehrkraft die »richtige Lösung« bereits »weiß«. 53 Dadurch wird ausgeschlossen, dass Kinder eine ganz eigene Lösung der Konfliktsituation vorbringen, welche den Denkrahmen eines Erwachsenen zu sprengen vermag. »Für Kohlberg ist Moralerziehung letztlich eine Frage rational geleiteten Einübens in sozial verträgliches Handeln und als Politische Bildung eine bestimmte Methode der Herstellung politisch erwünschter Haltungen in einem demokratisch verfassten Gemeinwesen.« 54 Hinter Kohlbergs Konzeption steht ferner ein stark defizitäres C. Solzbacher, Politische Bildung im pluralistischen Rechtsstaat, a. a. O., 136. Vgl. T. Ballauff, Pädagogik als Bildungslehre, Frankfurt am Main 1986. 53 Vgl. Gadamer zur Offenheit der philosophischen Frage in: Wahrheit und Methode, a. a. O., 137 ff. 54 C. Solzbacher, Politische Bildung im pluralistischen Rechtsstaat, a. a. O., 134. 51 52

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Bild des Kindes, welches den Menschen zunächst als egozentrisches Wesen sieht, das sich erst durch die Vernunft für die Belange anderer Menschen öffnet. Die an anderer Stelle 55 erörterten Darstellungen zur Entwicklung von Mitgefühl und Vernunft haben jedoch gezeigt, dass Kinder zunächst relationale Wesen sind, bevor sie überhaupt ein Konzept von einem getrennten Selbst entwickeln. 56 Letztlich implizieren solche Kindheitstheorien eine spezifische Sichtweise, welche die Rolle von Kindern in der Gesellschaft von vornherein minimiert bzw. unterdrückt.57 Insbesondere der Philosoph Gareth Matthews hat die reduktionistische Sichtweise von Kindern als »Mängelwesen«, wie sie solchen Stufentheorien implizit zugrunde gelegt ist, scharf kritisiert. 58 Für das vorliegende Bildungsmodell wird deshalb ein hermeneutisches Kindheitsmodell vorgeschlagen, welches den offenen Dialog über Werte ermöglicht.

2.1.3 Fazit: inhaltliche und methodische Erweiterungen des Kohlberg-Modells Als Fazit dieser Ausführungen wird das hier vorgeschlagene Bildungsprojekt an die Grundgedanken zur Moralentwicklung bei Kohlberg anknüpfen, jedoch diverse inhaltliche (1.) sowie methodische Erweiterungen (2.) erwägen. In dieser Erweiterung wird die Notwendigkeit der eingehenden Mitgefühlskultivierung bereits deutlich werden. Eine genaue Analyse der Art und Weise einer solchen Kultivierung wird jedoch erst im darauffolgenden Kapitel expliziert.

Vgl. B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O. Merleau-Ponty spricht deshalb von der primordinalen Intersubjektivität des Menschen (Phänomenologie der Wahrnehmung, a. a. O.). 57 Die genauen gesellschaftlichen Gefahren einer solchen Sichtweise habe ich in folgendem Aufsatz eingehend erörtert: B. Weber, Die Würde der Zukunft ist unantastbar. Der generationsübergreifende Dialog über Philosophie und Werte bei G. Matthews im Diskurs mit H. Arendt und E. Lévinas, in: Childhood & Philosophy, vol. 2, 2005, 1–14; auch veröffentlicht in: K. Herb, S. Höfling, R. Wiesheu (Hg.), Kinder philosophieren, München 2007. 58 G. Matthews, Philosophy of Childhood, Cambridge, Mass., 1994. 55 56

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1.

Inhaltliche Modifikationen

a. Die Erweiterung der Moralerziehung durch den diskursethischen Ansatz bei Habermas Kohlberg will beweisen, dass universale menschliche Strukturen oder Prinzipien des moralischen Denkens sich in invarianter Reihenfolge entwickeln und diese in verschiedenen Kulturen übereinstimmen. Er versucht eine relativistische Einstellung gegenüber moralischen Konflikten dadurch zu überwinden, indem er objektive Entscheidungskriterien liefert sowie deren kulturelle Übereinstimmung beweist. 59 Eine solche Moralentwicklungspsychologie baut implizit bereits auf philosophischen Vorannahmen wie dem Kognitivismus, dem Universalismus und dem Formalismus auf. Der philosophische Gehalt eines solchen Versuchs wurde freilich von mehreren Seiten 60 kritisiert. Ziel ist es zu klären, auf welche Weise Kohlbergs dialogische Methode durch die diskursethische Erweiterung von Habermas gegen solche Einwände besser gewappnet ist. 61 Habermas weist darauf hin, dass sich die impliziten Gewissheiten, wie z. B. soziale Konventionen (3. und 4. Stufe), erst im Rahmen einer kollaborativen Auseinandersetzung über die Lebenswelthintergründe ablösen und so durch kooperatives Einverständnis zu etwas explizit Gewusstem und frei Gewähltem werden (5. u. 6. Stufe). 62 Sphären der Lebenswelt lösen sich in dem Maße ab, als darüber ein fallibles Einverständnis erzielt werden kann. Das Weltverständnis und damit in eins unsere eigene Identität (im Sinne unseres eingewöhnten und leibsinnlich fundierten und habituierten Verhaltens gegenüber der Welt) werden dezentriert. Durch das kontinuierliche Aufbrechen der eigenen Lebensweltgewissheiten und Handlungsgewohnheiten wird dem IndiVgl. L. Kohlberg, Stage and Sequence: The Cognitive-Developmental Approach to Socialization, in: D. Goslin (Hg.), Handbook of Socialization: Theory and Research, Chicago 1969, 384 ff. 60 Ich kann an dieser Stelle nicht sämtliche kritischen Stimmen gegen Kohlberg anführen und beschränke mich auf die hier thematisch relevanten Anmerkungen. 61 In meiner Veröffentlichung »Zwischen Vernunft und Mitgefühl« (a. a. O.) wurde die Auseinandersetzung zwischen Habermas und der Postmoderne eingehend bearbeitet. Deshalb werde ich an dieser Stelle nur mehr ausführen, inwiefern die Diskurstheorie die Kohlberg’sche Moraltheorie aufgreift und auf solche Weise weiterführt, dass sie auch gegen Einwände der Postmoderne sowie gegen einige feministische Einwände besser gefeit ist. 62 Vgl. J. Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, a. a. O., 149. 59

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viduum seine Handlungsalternativen überhaupt erst bewusst und es wird auf diese Weise in seine eigentliche Freiheit gesetzt. Insbesondere stellt sich ihm hier die Frage des »Warum so?« oder »Warum nicht anders?«. Gadamer beschreibt dieses als ein »in die Schwebe gesetzt sein« des Menschen. Eine »Erfahrung« wird erst durch diesen Aufbruch der Gewissheiten möglich. 63 Durch diese »Schwebehaltung« zwischen Alternativen ereignet sich zugleich eine Erweiterung der Freiheit, weil sich das Individuum nun zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten zu entscheiden vermag. 64 Erst auf der Ebene dieser reflexiv gewordenen und freien Entscheidungen spricht Habermas von »moralischem« Handeln, weil es ein durch moralische Einsicht geleitetes Handeln ist: Es hat sich von der Unhinterfragtheit lebensweltlichsozialer Gewissheiten und Konventionen gelöst und ist im Durchgang durch den universalen und diskursethisch fundierten Rollentausch zum explizit gewählten Handlungsmodell geworden. 65 Damit erweitert Habermas den prinzipiengeleiteten Ansatz Kohlbergs und versetzt ihn in die diskursethische Gemeinschaft, in welcher die idealisierte Form der Reziprozität zur kooperativen Wahrheitssuche wird. Die konventionelle Moral, welche noch den lebensweltlichen Gewissheiten verhaftet bleibt, steigt zur postkonventionellen Moral auf. Die Transformation vom Gewissen zum Gewussten geschieht nun bei Habermas in der offenen Diskurssituation und nicht im sokratischen Dialog. Dies erfordert freilich das Verstehen und Zurechtfinden in einer komplexen Perspektivenstruktur, in welcher zwischen verschiedenen Welten- und Sprecherperspektiven unterschieden wird. 66 Selman 67 beschreibt, dass das Kind bei der Beurteilung von Handlungen noch unfähig ist, den eigenen Standpunkt beizubehalten, um sich zugleich in die Lage eines anderen zu versetzen. Denn im frühen LeVgl. zur philosophischen Frage in: H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, a. a. O., 137 ff. 64 Vgl. J. Mensch, Embodiments: From the Body to the Body Politic, Evanston, Ill., 2009, 129 ff. 65 J. Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, a. a. O., 174. 66 Als Sprecherperspektiven werden die Kommunikationsrollen der ersten, zweiten und dritten Person bezeichnet. Die Weltperspektiven umfassen die drei Welten, wie sie von Habermas in der »Theorie kommunikativen Handelns« (a. a. O.) expliziert werden. Diese sind: a. objektive Welt/Wahrheit – Sinn, b. subjektive Welt/Wahrhaftigkeit – IchStärke und c. soziale Welt/Richtigkeit – Solidarität. 67 R. L. Selman, Stufen der Rollenübernahme in der mittleren Kindheit, in: R. Döbert, J. Habermas, G. Nunner-Winkler (Hg.), Entwicklung des Ichs, Köln 1977, 111 ff. 63

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bensalter überträgt ein Kind seine eigene Vorstellung bezüglich eines emotionalen Zustands auf denjenigen einer anderen. Dies kann als eine Form der Gefühlsansteckung gesehen werden, weil kein Unterschied gemacht wird zwischen dem eigenen und dem fremden Gefühl. 68 Ein reflexiv »ethisches« Handeln ist deshalb nicht möglich, weil das Kind die eigenen Handlungen nicht vom Standpunkt des anderen aus beurteilen kann. Sobald das Kind aber erkennt, dass es ein Subjekt ist, das seine eigene Perspektivenvorstellung hat, wird ihm bewusst, dass auch andere Personen ihre subjektive Perspektivenvorstellung haben. Etwa ab dem sechsten Lebensjahr erkennt ein Kind aufgrund dieser erworbenen Fähigkeit des reziproken Denkens, dass seine eigene Person von anderen als Objekt wahrgenommen wird. Ab dem neunten Lebensjahr kann ein Kind in Distanz zu sich selbst von außen beobachten und dabei wahrnehmen, wie es sich gegenüber anderen sozial verhält. Ab diesem Zeitpunkt ist es befähigt, verschiedene Perspektiven und mit ihnen komplexe soziale Netzwerke empathisch zu erfassen und zu reflektieren. 69 Die Stufe einer reflexiven Handlungskoordination ist also erst dann erreicht, wenn die Kommunikationsteilnehmer auf der Grundlage einer gemeinsamen Situationsdefinition ihre Sprecher-Hörer-Beziehung auf die Beziehung zwischen Akteuren ausdehnen, die die gemeinsame Handlungssituation im Lichte ihrer jeweiligen Pläne, aus verschiedenen Perspektiven deuten. 70 Zugleich vermag es nun strategisch bzw. manipulativ zu handeln. 71 Es wird also ein zweifaches Bewusstsein benötigt: sich in die Handlungsperspektive des anderen zu versetzen, ohne die eigene aufzugeben, und zugleich zu wissen, dass auch der andere sich in meine Perspektive hineinzuversetzen vermag. Eine weitere Stufe wird durch die Einführung der dritten Person erreicht, d. h., dass eine neutrale Einstellung einer unbeteiligt anwesenden Person eingenommen wird, d. i. die Perspektive des neutralen Beobachters. 72 Es können von nun an Beobachter- und Teilnehmerperspektiven wechselseitig angenommen werden. Erst jetzt wird auch zum Vgl. B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O. Vgl. R. L. Selman, Stufen der Rollenübernahme in der mittleren Kindheit, a. a. O. 70 Vgl. J. Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, a. a. O., 156. 71 In meinem Buch »Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit« (a. a. O.) wurde gezeigt, dass, anders als in Habermas’ Darstellung, das kommunikative Handeln auf Intersubjektivität basiert und deshalb dem subjektzentrierten strategischen Handeln genetisch vorausgeht. 72 Vgl. ebd., 157. 68 69

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Perspektivenwechsel selbst (d. i. die Austauschbarkeit der Positionen von A und B) eine bewusst-reflexive Position eingenommen. Dabei geht Habermas davon aus, dass die jeweils höhere Stufe bei diesem Perspektivenwechsel die niedrigere Stufe nicht ersetzt, aber in reorganisierter Form aufbewahrt. Bereits an anderer Stelle wurde ausführlich gezeigt, 73 dass die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel eine zu erlernende ist und ihre Vorbedingung in der grundsätzlichen und angeborenen Fähigkeit des Kindes zum Mitgefühl gründet. 74 Es wurde ferner gezeigt, dass der Perspektivenwechsel, insofern er auf ein kooperativ-kommunikatives Handeln abzielt, die intersubjektiv-mitfühlende Ebene nicht verlassen darf. Freilich wird durch eine solche Rückbindung des Perspektivenwechsels an das Mitgefühl ein verantwortungsethisches Verhalten eingeführt, weil eine mitfühlende Haltung den Anderen immer schon in seiner Einzigartigkeit und organischen Unvertretbarkeit erkennt. Das Subjekt vermag nicht mehr nur einen prinzipientreuen Standpunkt im Sinne Kohlbergs einzunehmen. Die Kritik der einseitigen Prinzipienethik des Kohlberg-Modells wurde u. a. von Gilligan und Vertretern der relativistischen Position angeführt. Hierbei geht es um das Dilemma, dass eigentlich moralisch »reifere« Personen in Kohlbergs Schema nur mehr der Stufe 4 zugeordnet werden konnten, weil sie verantwortungsethische Aspekte miteinbezogen haben. 75 Relativistische Verantwortungsethiken wurden der Stufe 4 ½ zugeordnet, obgleich sie die realen Folgen der gestellten Dilemmata einbezogen und so der Komplexität gelebter ethischer Konfliktsituationen besser gerecht wurden, indem sie nicht nur nach den Aspekten der Gerechtigkeit, sondern darüber hinaus nach Gesichtspunkten der Fürsorge und Verantwortung geurteilt haben. Die von Habermas vorgeschlagene Neuerung impliziert, dass keine inhaltlichen Orientierungen vorzugebenen sind, wie bei Kohlberg, sondern vielmehr diese durch eine Diskursprozedur zu ersetzen. Der Diskurs knüpft zwar an ähnliche Operationen an, welche auch Kohlberg gefordert hatte – Reversibilität des Standpunkts, Universalität Vgl. B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O. Vgl. hier die eingehende Darstellung der impliziten Zusammenhänge zwischen Leib, Mitgefühl und Vernunft in: B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O. 75 C. Gilligan, In a different Voice: Women’s Conceptions of Self and Morality, in: Harv. Ed. Rev. 47, 1977, 481 ff. 73 74

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durch Einschluss aller Betroffenen und Reziprozität durch gleiche Anerkennung der Geltungsansprüche aller Argumente von allen Personen. 76 Weil aber Habermas eine offene Struktur des Diskurses fordert, welche lediglich prozeduralen Regeln folgt, werden auch verantwortungsethische Argumente zugelassen. Die Ergebnisse solcher voraussetzungsvollen Diskurse gelten damit als legitim. »Die ideale Rollenübernahme dient als Stichwort für einen prozeduralen Begründungstypus. Sie verlangt anspruchsvolle kognitive Operationen. Diese stehen wiederum in internen Beziehungen zu Motiven und Gefühlseinstellungen, wie z. B. der Empathie. Anteilnahme am Schicksal des ›Nächsten‹, der oft der Fernste ist, ist in Fällen soziokultureller Distanz eine notwendige emotionale Bedingung für die vom Diskursteilnehmer erwarteten kognitiven Leistungen.« 77 Ähnliche Interdependenzen bestehen selbstverständlich auch zwischen Kognition, Einfühlungsvermögen und Agape, wenn es um die hermeneutische Leistung einer kontextsensiblen Anwendung von normativen Prinzipien geht. Beides gehört, laut Habermas, zum moralischen Urteilsvermögen und kennzeichnet gerade auch die »Reife« solcher moralischen Entscheidungen. Habermas rechnet deshalb den verantwortungsethischen Ansatz nicht der Stufe 4½ zu, sondern vielmehr der postkonventionellen Stufe. 78 Sowohl Kohlberg als auch Habermas beziehen sich mit ihren Identitätskonzepten auf George Herbert Mead, welcher sich, im Gegensatz zu Freud, auf die sozialkognitiven Bedingungen der Internalisierung spezialisiert hat. Bestimmte Verhaltensmuster werden erst dann generalisiert, wenn die Person sich selbst gegenüber eine objektivierte Haltung einnehmen kann und so sich eine Situation verschränkter Handlungsperspektiven zwischen zwei Personen vor seinem Hintergrundkontext abhebt. Reflexivität erlangt das Kind erst durch die vermittelte Außenperspektive über den Anderen. Der Identitätsbildung wird deshalb der Perspektivenwechsel zugrunde gelegt. Auf diese Weise bildet sich Identität in den komplexen Zusammenhängen kommunikativen Handelns, d. i. in seiner Interaktion mit der objektiven, sozialen und subjektiven Welt, welche sich vor dem Hintergrund des Vgl. J. Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, a. a. O., 133. Ebd., 194. 78 Der relativistische Ansatz hat sich zwar vom unmittelbaren Lebensweltkontext gelöst, jedoch noch nicht der legitimen Lösung des Problems zugewendet. Der Zusammenbruch der Welt der Konventionen wird dann mit dem Durchschauen eines falschen kognitiven Spiels gleichgesetzt. 76 77

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Lebensweltkontextes ausdifferenziert. 79 Durch die »Herauslösung« aus den konformen Lebensgewissheiten kommt es jedoch zu einer radikalen Ich-Dezentrierung, welche zur Identitätskrise werden kann. »Wer Lebensformen in Frage stellt, in denen sich die eigene Identität gebildet hat, muss die eigene Existenz in Frage stellen. Die Distanz, die in solchen Lebenskrisen hergestellt wird, ist von anderer Art als der Abstand des normprüfenden Diskursteilnehmers vor der Faktizität bestehender Institutionen.« 80 Oder an anderer Stelle: »Mit einem Schlage ist die naiv eingewöhnte, unproblematisch anerkannte soziale Welt der legitim geregelten interpersonalen Beziehungen entwurzelt, ihrer naturwüchsigen Geltung entkleidet.« 81 Diese »Entfremdung« des Gewohnten ist eine Konsequenz des offenen Diskurses. Die freie Wahl und Aneignung des identitätsstiftenden Ausgriffs auf die Welt, im Sinne eines »Ich kann«, wird nämlich erst durch das im Diskurs erlangte »Fraglich-Werden« des Alltäglichen erreicht. Der offene Diskurs ist Voraussetzung für die kontinuierliche und autonome »Wiederaneignung« des fraglich gewordenen Lebensweltkontextes. Zugleich ist der Diskurs der Ort der Rückversicherung, an dem das Individuum autonom und kooperativ eine Handlungsmodalität zu wählen vermag und seine Geltung im Austausch mit anderen überprüft. Selbstverständlich ist ein solcher Diskurs existentiell, aber er resultiert in einer freien und autonomen Wahl des »so« oder »anders«. Eine Wahl, die mir erst durch den anderen Standpunkt ermöglicht wird. 82 In diesem Sinne dienen solche Diskurse auch der Identitätsentwicklung und -stärkung. Und indem Andersheit nicht mehr als identitätsbedrohlich, sondern -erweiternd gesehen wird, kann zunehmend und ohne Angst die Perspektive des Anderen eingenommen werden; sie führt nicht mehr notwendig zur totalen »Entfremdung«. 83 Ziel solcher Dialoge ist die Stärkung der Ich-Identität und damit die verminderte Notwendigkeit für Identitätsbildung durch Aus- oder Abgrenzung. 84 In diesem Sinne kann die TeilVgl. J. Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, a. a. O., 194. Ebd., 189. 81 Ebd., 137. 82 Vgl. hierzu B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O. 83 Diese Annahme schließt an die Überlegungen zum politischen Raum an anderer Stelle an (vgl. B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O.) und unterstreicht, dass die Dialogkultur nicht von der Idee der Identitätsbildung getrennt werden kann. 84 Vgl. Ch. Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, a. a. O., sowie 79 80

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habe an politischen Entscheidungen selbst als ein Menschenrecht propagiert werden. 85 Selbstverständlich geht es in diesen Dialogen auch um die angemessene Balance zwischen menschlicher Akzeptanz und Ermöglichung von Streitkultur. 86 Denn einerseits soll jeder Kommunikationspartner in seiner Meinung, Bewertung und seinem Urteil ernst genommen, andererseits aber eine kämpferische Auseinandersetzung nicht verhindert werden. Ein genauer Blick auf dieses Verhältnis macht jedoch klar, dass es sich hierbei nicht um Gegenpole handelt, sondern beide sich einander bedingen: Denn nur wenn sich alle Kommunikationsteilnehmer in ihren Überzeugungen ernst nehmen, werden sie sich mit den divergierenden Meinungen auseinandersetzen. Die eingehende Kritik und Erwägung von Standpunkten ist daher in sich ein Zeichen, dass der andere ernst genommen wird. Eine künstliche Schonung ist hingegen ein Zeichen der Missachtung des Anderen. Sutor weist darauf hin, dass sich die Schule als demokratischer Raum einfacher als die reale Politik am Modell eines herrschaftsfreien Diskurses ausrichten kann, auch wenn tatsächliche Machtverhältnisse nie ganz ausgeschlossen werden können. 87 Schließlich bleibt die Frage offen, ob eine frühe Kultivierung kommunikativer Vernunft unter diesen existentiell bedrohlichen Vorbedingungen wünschenswert und überhaupt möglich ist. Man könnte argumentierten, dass man Kinder, welche noch wenig in ihrer Lebenswelt gefestigt sind, solchen existentiell bedrohlichen Dialogen gar nicht aussetzen möchte. Ein zweiter Einwand besteht in der Annahme, dass Kinder gerade aufgrund des »Fehlens« eines gefestigten Lebenswelthintergrundes gar nicht fähig sind, einen solchen Perspektivenwechsel vorzunehmen. Ich halte den ersten Einwand für eine Art »Selbstschutz« bzw. Projektion. Dahinter steht oftmals die Angst, sich mit kindlichen Infragestellungen des Gewohnten ernsthaft auseinandersetzen und sich B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O., zu den Menschenrechten und der Identitätsbildung. 85 Vgl. in: B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O., zur Phänomenologie der Menschenrechte. 86 B. Sutor, Politische Bildung und praktische Philosophie, a. a. O., 191. 87 Selbstverständlich kritisiert Sutors Ansatz einer Streitkultur an anderer Stelle den habermasschen Ansatz des herrschaftsfreien Dialogs (u. a. B. Sutor, Politische Bildung und praktische Philosophie, a. a. O., 284).

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hierbei auf einen wahrhaften Dialog einlassen zu müssen. Zumeist sind es nicht die Kinder, welche vor dem Einreißen von Lebensweltzusammenhängen Angst haben oder hiervon bedroht werden, sondern es sind Erwachsene, welche sich in der Konformität eingelebt haben und diese nur schwer wieder aufgeben möchten. 88 Der zweite Einwand erscheint schwerwiegender und er wird in dem hier zu entwickelnden Bildungsprojekt genau zu bedenken sein. Kohlberg argumentiert für eine frühestmögliche Moralerziehung, damit Kinder nicht auf einer Stufe stehen bleiben. 89 Habermas sieht die Fähigkeit zur kommunikativen Vernunft in der dialogischen Bedingtheit von Identität (nach G. H. Mead) bereits angelegt. Er geht jedoch davon aus, dass diese kultiviert werden muss: »Gegenseitige Anerkennung bedeutet beispielsweise, dass religiöse und säkulare Bürger bereit sind, in öffentlichen Debatten aufeinander zu hören und voneinander zu lernen. In der politischen Tugend des zivilen Umgangs miteinander drücken sich bestimmte kognitive Einstellungen aus. Diese können nicht verordnet, sondern nur erlernt werden.« 90 Es kann aber im Erwachsenenalter nur das vorausgesetzt werden, was bereits in der Kindheit gelernt wurde. Hieraus lässt sich deshalb eine pädagogische Notwendigkeit zur Kultivierung kommunikativer Vernunft ableiten. Es bleibt zu bedenken, inwieweit Lebensweltgewissheiten konstituiert werden müssen, bevor sie destruiert werden können. M. E. wird es hierbei, insbesondere bei sehr jungen Kindern, zunächst nur um die Kultivierung der Fähigkeit zum Perspektivenwechsel gehen, welcher im mitfühlenden Betroffensein für die Existenz des anderen verwurzelt bleibt. Auch Kinder argumentieren bereits vor dem Hintergrund von Lebenswelt-»Gewissheiten«, wenngleich diese in der Regel weniger »starr« sind als bei Erwachsenen. Mehr als Erwachsene sind Kinder der Veränderung des eigenen Weltbildes fast täglich ausgesetzt, weil sie immerzu mit Überraschungen konfrontiert werden, welche sie entweder in bestehende Muster einordnen (assimilieren) oder zur Formung neuer Kategorien anregen (akkommodieren). Es liegt deshalb der Schluss nahe, dass Kinder weniger beschwerlich und mit weniger Ich habe in folgendem Artikel eingehend auf diese Problematik hingewiesen: B. Weber, Die Würde der Zukunft ist unantastbar. Der generationsübergreifende Dialog über Philosophie und Werte bei G. Matthews im Diskurs mit H. Arendt und E. Lévinas, in: Childhood & Philosophy, vol. 2, 2005, 1–14. 89 Vgl. zu Kohlberg weiter oben. 90 J. Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt am Main 2005, 9. 88

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innerer Scheu an solchen Dialogen teilnehmen. Das Ziel wäre dann, dass sich starre Lebensweltgewissheiten überhaupt nicht erst ausbilden und die Individuen deshalb für alternative Lebensweltinterpretationen offen bleiben. Im Anschluss an das dialogische Identitätsverständnis bei Mead wäre zu hoffen, dass Identität nicht im manipulativ-strategischen Rückzug in die Privatheit der Monade endet, sondern im intersubjektiv-dialogischen Raum mit dem Anderen verweilt und dort seine stete Nahrung zur Veränderung und Aktualisierung der eigenen Freiheit erfährt. Das eigene Bewusstsein ginge dann nicht auf den Tod des Anderen, sondern der Andere wäre vielmehr die Voraussetzung für jenes Bewusstsein. 91 b. Die Bedeutung von Perspektivenwechsel und Empathie Eine weitere inhaltliche Ergänzung betrifft die Bedeutung des Perspektivenwechsels und der Empathie. Kohlberg spricht der Empathie bei der Moralentwicklung eine entscheidende Rolle zu. Soziales Leben basiert für ihn gänzlich auf der Vorstellung, dass andere Menschen dieselben Gedanken und Gefühle haben. Anknüpfend an das dialogische IchKonzept bei Mead geht er deshalb davon aus, dass das Ich das Konzept eines gemeinsamen Ichs ist, »weil das Individuum ohne die Vorstellung anderer Ichs nicht über ein sich selbst bewusstes Ich verfügen kann« 92. Kohlberg setzt voraus, dass Empathie angeboren ist und nicht erst kultiviert werden muss. »Was die Entwicklung und die Sozialisation leisten, ist die Organisation der empathischen Phänomene zu konsistenten sympathischen und moralischen Rücksichten, nicht die Bildung von Empathie als solcher.« 93 Es handelt sich vornehmlich um einen kognitiven Fortschritt, um zu solchen konsistenten und selbstbestimmten Moralkonzeptionen vorzudringen. »Im Verlauf des Sozialisationsprozesses wird die Affektivität des Kindes so unter Kontrolle gebracht, dass durch Reize ausgelöste empathische Erfahrungen mitfühlende Handlungen nach sich ziehen. Mit zunehmender Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten kann der affektive Wert altruistischen Verhaltens durch die kognitive Repräsentation der Konsequenzen für andere erfasst werden; das Kind ist dann von den direkt erfahrbaren Konsequenzen für sich selbst und den direkt beobachtbaren Konsequenzen für 91 92 93

Vgl. B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O. M. Wasna u. B. Schäfer, Emotionale Betroffenheit, a. a. O., 120. L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, a. a. O., 91.

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andere unabhängig geworden.« 94 Es geht nicht mehr nur um diejenigen Personen, für welche wir persönliche Gefühle empfinden, sondern das Empfinden für andere wird aus dem konkreten Bezug herausgelöst und so auf die Menschheit in ihrer Allgemeinheit erweitert. Trotz dieser Ablösung von den unmittelbaren Emotionen spricht sich Kohlberg für deren Wichtigkeit und Bedeutung aus, um durch die Dilemmasituationen einen Lernerfolg zu erreichen: Denn insbesondere bei solchen Schülern ist ein starker Lernfortschritt zu verzeichnen, welche die Dilemmata und Konflikte als besonders stark empfinden und damit eine Lösung am dringlichsten »herbeisehnen«. 95 Daraus ist zu schließen, dass die emotionale Betroffenheit, welche durch den Konflikt ausgelöst wird, einen wesentlichen Faktor darstellt, dass SchülerInnen überhaupt eine Lösung für das Problem finden wollen. Auf sehr ähnliche Weise konstatiert auch Habermas, dass die Sensibilität für das Vorliegen eines ethischen Konflikts eine notwendige Voraussetzung für den rationalen Dialog darstellt. 96 Voraussetzung für eine solche Betroffenheit bleibt deshalb das Mitgefühl mit dem Leid der Protagonisten; dass es sich hier um ein leidensfähiges Wesen wie mich handelt und zugleich, dass sich dieses Wesen in einer einzigartigen und von mir verschiedenen Situation befindet (Wahrnehmung des Menschen in seiner Unvertretbarkeit und Verletzlichkeit). 97 Erst diese Empfindsamkeit löst einen echten ethischen Konflikt aus, weil der Ausgang der Situation einen oder mehrere Menschen betrifft. Eine solche Sensibilität geht jedoch dem rationalen Dialog nicht nur voraus, sondern sollte, und in Abweichung von Kohlberg, die rationale Entscheidungsfindung stets mit begleiten, d. i. in dem Bewusstsein, dass es bei dieser Entscheidung tatsächlich um diesen (oder mehrere) spezifische(n) Menschen geht. Der Rollentausch, welcher in einer solchen Diskurssituation vorgenommen wird, ist deshalb für das vorliegende Bildungsprojekt kein abstrakter, sondern ein konkreter und von entsprechenden Emotionen begleiteter. 98 Nur so ist es möglich, dass die KommunikationsteilnehZur Darstellung des Kohlberg’schen Modells im Kontext der Menschenrechtsbildung, vgl. auch in: M. Wasna u. B. Schäfer, Emotionale Betroffenheit, a. a. O., 124. 95 Vgl. L. Kohlberg u. E. Turiel, Moralische Entwicklung und Moralerziehung, a. a. O., 68. 96 J. Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, a. a. O. 97 Vgl. hierzu B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O. 98 Diese unmittelbare Erfahrung von Menschen in ihrer organischen Verletzlichkeit und Einzigartigkeit wird heute durch den Einsatz von Medien wie Fernsehen und Com94

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mer auch im Sinne einer verantwortungsethischen Entscheidung die Konsequenzen ihres Handelns bedenken. c. Hermeneutik der Kindheit Für das vorliegende Bildungsprojekt wird Kindheit ferner nicht defizitär, d. i. im Sinne eines Mangelzustandes, sondern produktiv interpretiert. Das führt dazu, dass Kinder in ihrem eigenständigen Denken und Weltdeutungen ernst genommen werden. Man kann hier auch von einer »hermeneutischen« (d. h. grundsätzlich am Verstehen ausgerichteten) Haltung gegenüber Kindern sprechen: Kind und Erwachsener entfalten vor dem wirkungsgeschichtlichen Hintergrund, im Austausch von Tradition und selbstständiger Neudeutung, gemeinsam eine Denk- und Sinnwelt. Dieser Lernprozess ist kein einseitiger, sondern ereignet sich als wechselseitige Horizonterweiterung. Kind und Erwachsener gleichen deshalb nicht (mehr) dem Bild von »Zu-Führendem« (Kind) und »Führendem« (etymologische Bedeutung von »Pädagoge«) 99, sondern vielmehr dem Bild zweier Weggefährten, d. h., Pädagoge gilt allenfalls als »erfahrenerer« und damit »beratschlagender« oder auch »nachzuahmender« Begleiter. Eine solche Haltung entwertet »pädagogische Fragen« genauso wie »suggestive Fragen«, wie sie im Kohlberg-Modell vorgeschlagen werden, um auf eine »höhere Stufe« zu gelangen. Ich werde diese Haltung und die daraus folgende didaktische Erweiterung innerhalb des Bildungsmodells weiter ausführen. d. Abweichende Zielsetzung Das hier vorliegende Bildungsmodell orientiert sich nicht an den Zielen einer reinen Prinzipienmoral. Deshalb ist das Ziel nicht das Erklimmen einer nächsthöheren Stufe, sondern vielmehr das Erlernen solcher Dialogkompetenzen, die Kinder in komplexen moralischen Konfliktsituationen helfen, auch angesichts pluralistischer Verschiedenheiten der Kommunikationsteilnehmer, Konflikte kooperativ auszudiskutieren und dadurch handlungsfähig zu bleiben. Kinder lernen auf diese Weise, ihre moralischen Entscheidungen immer umfassender und intersubputer immer weniger möglich. Die Kultivierung der Sinne und damit die Sensibilität für die Verletzlichkeit des Anderen wird deshalb als Voraussetzung für die Auslösung einer kognitiven Dissonanz im Sinne Kohlbergs gesehen. 99 Wie es im Übrigen die Etymologie des Wortes »Pädagoge« suggerieren würde.

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jektiv nachvollziehbarer zu begründen sowie auf in Frage gestellte Geltungsansprüche adäquat zu antworten. Durch die Offenheit des Diskurses, welcher sich lediglich an prozedurale Vorgaben hält, werden auch verantwortungsethische Beiträge in Erwägung gezogen und auf ihre intersubjektive Gültigkeit überprüft. Dabei wird: a. von einer Reversibilität aller Standpunkte ausgegangen, von denen aus die Beteiligten Argumente vorbringen; b. von einer (intersubjektiv begrenzten) Universalität, 100 insofern alle Betroffenen in den Dialog einbezogen werden und c. von Reziprozität, d. i. einer gleichmäßigen Anerkennung der Ansprüche eines jeden Beteiligten durch alle anderen. 101 Damit wird das inhaltsorientierte Stufenmodell durch das prozedurale Diskursmodell von Habermas abgelöst. 102 Dabei sei noch einmal daran erinnert, dass es nicht »nur« um eine Erweiterung von Kohlbergs Modell durch Habermas’ Diskursethik geht, sondern in eins auch um eine Erweiterung des Diskursmodells um den Aspekt des Mitgefühls; d. i. die Kultivierung der Fähigkeit zur Sensibilität für ethische Konfliktsituationen (Erfahrung des Anderen in seiner Verletzlichkeit = Ähnlichkeit des Anderen) und des Perspektivenwechsels (Einzigartigkeit = Andersheit des Anderen). 2.

Methodische Erweiterung

a. Erweiterung durch problemsensitive Geschichten Im Anschluss an Rortys Forderung der Kultivierung von Mitgefühl soll das Kohlberg’sche Modell so erweitert werden, dass nicht mehr nur ethische Dilemmata zum Nachdenken anregen, sondern durch die Darstellung von Lebenssituationen die Sensitivität für das Leiden an100 Hierbei sei auf den Dialog über den Wahrheitsbegriff zwischen Habermas und Rorty in: B. Weber, Zwischen Vernunft und Mitgefühl, a. a. O., erinnert. Es wurde gezeigt, dass dieses Problem in der Definition von Wahrheit seinen Ursprung nimmt. Mit dem Zusatz »intersubjektive Wahrheit« soll klar gemacht werden, dass es hier nicht um einen absoluten Wahrheitsbegriff im Sinne Rortys geht. Selbstverständlich würde Rorty jedoch in diesem Fall die Verwendung des Begriffs »Wahrheit« durch den der »Solidarität« oder der »Kohärenz« ersetzen. 101 Vgl. hierzu J. Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, a. a. O., 133. 102 Vgl. zur Kritik Habermas’ an dem Stufenmodell in ebd. 140 sowie der Vorschlag eines prozeduralen Vorgehens ebd. 132: »Die Diskursethik gibt keine inhaltlichen Orientierungen an, sondern eine voraussetzungsvolle Prozedur, die Unparteilichkeit und Urteilsbildung garantieren soll.«

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derer Menschen vertieft wird. Insbesondere geht es dabei um die von Rorty angesprochene Erweiterung des »Wir«-Begriffs, wodurch Menschen fremder Kulturen als in ihrer Leidensfähigkeit gleichartig und ihrer Einzigartigkeit gleichwertig betrachtet werden. Dies kann durch Romanausschnitte oder Krisenreportagen erreicht werden. Wichtig ist, dass sich Kinder mit dem Schicksal einer Menschengruppe sowie individuellen Schicksalen identifizieren können und durch ihre eigene Betroffenheit dazu angeregt werden, eine Lösung oder Hilfe zu finden. Hierzu gehört auch das Erlernen eines Vokabulars, welches Gefühle adäquat auszudrücken vermag. Dadurch wird es Kindern erleichtert, sich in die Situation der Protagonisten einzufühlen und zugleich bei sich zu bleiben (wie geht es A, wie B, wie geht es mir selbst). Bei der Verwendung solcher Geschichten geht es nicht um »Manipulation« durch Sentimentalität, d. h., die Geschichten sollen nicht »schockieren«, sondern informieren, differenzieren und sensibilisieren. Denn die Überfrachtung mit emotional belastenden Informationen kann u. U. zur inneren Abwehr und damit zur Resignation führen. Erst die Betroffenheit wird Kinder zur Lösung des Dilemmas motivieren und zugleich bei der rationalen Erwägung verschiedener Möglichkeiten das Schicksal des konkreten Menschen verantwortungsethisch im Auge zu behalten. Selbstverständlich ist eine solche komplexe Denkaufgabe von Kindern schwer alleine zu lösen. Aus diesem Grund vertraut die Methode des »Philosophierens mit Kindern« darauf, dass die Mitglieder der Gruppe einzelne Denkleistungen (kritisieren, nachfragen, klären, zuhören, Alternativen erwägen etc.) für die Lösung eines Problems übernehmen, sich hierdurch gegenseitig anregen und voneinander lernen. b. Erweiterung durch einen methodischen Pluralismus Kohlberg vertraut methodisch auf die Wirkung kognitiver Dissonanzen in logischen Argumentationsketten. Das Gespräch findet vornehmlich zwischen Schüler und Lehrkraft statt, wobei Letztere durch argumentative Schritte das Kind von einer moralischen Stufe auf die nächste führt. Dieses Vorgehen wird legitimiert durch den prinzipiengeleiteten Ansatz bei Kohlberg, welcher es erlaubt zwischen »richtigen« und »falschen« Argumentationen zu unterscheiden. Einer solchen Methode liegen die Operationen des analytischen Denkens (critical thinking) zu Grunde. Das vorliegende Bildungsmodell zielt hingegen auf eine proze66 https://doi.org/10.5771/9783495860625 .

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durale Diskursmethode, welche verantwortungsethische Inhalte mit bedenkt, um so die konkrete Situation des Betroffenen nicht aus den Augen zu verlieren. Habermas spricht hier auch von einer »hermeneutisch sensiblen Anwendung von diskursiv gewonnenen Prinzipien«. 103 Ziel ist die kooperative und diskursive Infragestellung von gesellschaftlich problematisch gewordenen Lebensweltgewissheiten. Aus diesem Grund wird das vertikale Gespräch zwischen Lehrkraft und Schüler auf die horizontale Ebene zwischen Schülern verschoben. Die Lehrperson stellt hier keine autoritäre Macht dar, sondern hat allenfalls Modellfunktion. Für eine solche Gesprächssituation wird auf die Methode der Community of Inquiry zurückgegriffen, wie sie im Bereich des »Philosophierens mit Kindern« entwickelt wurde. 104 Ferner werden die logischen Operationen bei Kohlberg durch einen philosophischen Methodenpluralismus 105 erweitert, welcher sich umfassend der Denkmethoden der Philosophiegeschichte bedient. Philosophieren wird als »Kulturtechnik« interpretiert, welche ähnlich wie Lesen, Schreiben und Rechnen gefördert werden muss. 106 Ekkehard Martens hat im Kontext des »Philosophierens mit Kindern« fünf philosophische Methoden expliziert. 107 Hierzu gehören die Phänomenologie, die Hermeneutik, die Dialektik, die Logik und die Spekulation. 108 Diese Methoden werden für das vorliegende Bildungsprojekt im Hinblick auf die Kultivierung von Menschenrechten rekonstruiert, um Mitgefühl, interkulturelles Verstehen, kommunikative Vernunft und Perspektivenwechsel bei Kindern zu fördern. c. Erweiterung durch konkreten Handlungsbezug und praktische Methoden Kohlberg selbst betont in einem späteren Aufsatz: »Aus pädagogischer Sicht ist das Ziel der Stimulierung gereiften moralischen Denkens die Entwicklung eines Gerechtigkeits-Bewusstseins – was im Endeffekt die Schaffung gerechter Schulen bedeutet, in denen die Kinder gleichVgl. J. Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, a. a. O., 192. Vgl. inbs. M. Lipman u. A. Sharp, Thinking in Education, Cambridge 2003. 105 E. Martens, Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts. Philosophieren als elementare Kulturtechnik, a. a. O. 106 Vgl. zur Idee des Philosophierens als Kulturtechnik in: E. Martens, Methoden im Ethik- und Philosophieunterricht, a. a. O. 107 Vgl. ebd. 108 Ich werde die einzelnen Methoden weiter unten ausführen. 103 104

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berechtigt partizipieren. Es geht daher nicht nur um freie Beteiligung an Moraldiskussionen im Unterricht, sondern um die gesamte Atmosphäre der Schule.« 109 Moralentwicklung ist mit dem kognitiven Denkprozess nicht abgeschlossen, sondern muss in konkrete Handlungsentscheidungen einfließen, um so gestalterisch an der Umwelt teilzunehmen. Ein ähnlicher Gedanken wird auch von Studien zur political efficacy vertreten. Hier wird nahegelegt, dass Kinder umso mehr politisch partizipieren, als sie erfahren, dass ihre Handlungen zu konkreten Änderungen ihrer Umwelt beitragen. Das bedeutet, dass Diskussionen über Werte und moralische Konfliktsituationen auch in konkrete Akte überleiten sollen. Dies muss aber nicht nur die schulische Atmosphäre betreffen, sondern kann auch das Schreiben eines Briefes bedeuten, das Erstellen einer Unterschriftenliste oder Ähnliches. Im Milieu der Klasse geht es ferner darum, gemeinsam gefundene alternative Handlungsmodi durch Rollenspiele »einzuüben«. Ebenso spielt der gestalterische Ausdruck eine große Rolle, um unausgesprochenen Aspekten einer Diskussion zum Ausdruck zu verhelfen. Hieraus gehen oft neue Lösungsmöglichkeiten hervor, welche während des Gesprächs nicht gefunden werden konnten. d. Grundriss des Bildungsprojektes »Philosophieren mit Kindern« Aus diesen drei Erweiterungen ergibt sich schließlich der dreistufige Grundriss des Bildungsprojektes: – Staunen und Fragen: In einer ersten Phase geht es um die Sensibilisierung für ethische Konfliktsituationen und menschliche Notlagen. Lebensweltliche Gewissheiten werden fraglich bzw. hinterfragt. Die vorherrschenden philosophischen Methoden sind hier die Phänomenologie und die Hermeneutik. – Denken und Sprechen: In einer zweiten Phase werden durch gezielte und kooperative Reflexionen perspektivische Differenzen sowohl hervorgehoben als auch überschritten. Angestrebt werden ein Konsens bzw. neue Lösungen. Die vorherrschenden Methoden sind hier die Hermeneutik, die Dialektik, die Logik sowie die Spekulation. Grundlegendes Unterrichtsgesprächsmodell ist die Community of Inquiry, welche im Hinblick auf die Schaffung einer idealen Diskurssituation im Sinne Habermas’ für dieses Bildungsmodell erweitert wird. 109

L. Kohlberg u. E. Turiel, Moralische Entwicklung und Moralerziehung, a. a. O., 79.

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Mitgefühl



Werten und Handeln: In der dritten Phase geht es um die konkrete Umsetzung der kooperativ geschaffenen Lösungsmodelle. Es müssen Kompromisse bzw. Konsenslösungen erzielt sowie konkrete Schritte für eine Umsetzung geplant und durchgeführt werden. Philosophie wird hier in ihrer pragmatischen Aufgabe der Demokratieerziehung auf der Grundlage von John Dewey rekonstruiert. Das heißt, Philosophieren wird als konkrete Problemlösungsstrategie interpretiert und an seinem pragmatischen Lösungspotential gemessen. Ferner dient die Idee der »vita activa« von Hannah Arendt als eine theoretische Grundlegung gemeinsamen Handelns. Handeln wird so zur Sinnstiftung und Aktualisierung von Identität im Netzwerk sozialer Bezüge. Als philosophische Methode spielt hier u. a. die Spekulation (im Sinne einer innovativen Lösungsfindung) hinein sowie die Phänomenologie im Hinblick auf ihren Lebensweltbezug und der Wahrnehmung des konkret Machbaren im Handlungsvollzug.

2.2 Mitgefühl »Dear Teacher: I am a survivor of a concentration camp. My eyes saw what no man should witness: Gas chambers built by learned engineers. Children poisoned by educated physicians […]. So I am suspicious of education. My request is: Help your students become human.« (Haim Ginott)

Diese und ähnliche Zitate lassen eine einseitig kognitiv ausgerichtete Menschenrechtsbildung unvollständig oder gar gefährlich erscheinen. Und die Frage Adornos bleibt, wie man Zivilisationen davor bewahren kann, in die Barbarei zurückzufallen. 110 In anderen Veröffentlichungen wurde begründet, 111 warum es moralisch und entwicklungspsychologisch notwendig ist, den kognitiven Perspektivenwechsel an eine Kultivierung des Mitgefühls rückzubinden. Auf welche Weise dies bisher allgemein in der Pädagogik und im Speziellen in der politischen Bildung und Menschenrechtserziehung als sinnvoll erachtet und praktiziert wurde, soll an einigen Beispielen dargestellt werden. Es folgen 110 Vgl. T. W. Adorno, Rundfunkansprache 1966, abgedruckt unter dem Titel Erziehung nach Auschwitz, in ders.: Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt am Main 1981. 111 Vgl. B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O.

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einige entwicklungspsychologische Ergebnisse, welche grundsätzliche Rahmenbedingungen für die Förderung von Mitgefühl festlegen. Schließlich wird eine eingehende Kritik bisheriger Empathietheorien folgen, um hieraus eine leibphänomenologisch-hermeneutische Erweiterung gängiger Bildungsprojekte zur Förderung von umfassendem Mitgefühl vorzuschlagen.

2.2.1 Entwicklungspsychologische Grundlagen Es wurde an anderer Stelle ausführlich gezeigt, 112 dass Kinder bereits wenige Wochen nach der Geburt auf das Ausdrucksverhalten von Bezugspersonen reagieren. 113 Diese Fähigkeit des unmittelbaren Verstehens der Mimik ist eine Grundvoraussetzung für die Entwicklung von Identität und Kommunikationsfähigkeit. Sie gleicht einem Hinübergleiten in den Anderen und des Anderen in denselben, weil eine Trennung der beiden Körper noch nicht wahrgenommen wird. Das Sehen des Anderen bedeutet deshalb zugleich eine innere Transformation. Hierbei spielen die Spiegelneurone eine wichtige Rolle; d. h., neurologisch gibt es keinen Unterschied, ob ich eine Bewegung selbst vollziehe oder diese »nur« bei jemand anderem beobachte. 114 Diese Unmittelbarkeit in der Gefühlswahrnehmung nimmt im fortschreitenden Alter durch zunehmende Reflexionsfähigkeit ab. 115 An ihre Stelle tritt nun der Perspektivenwechsel, welcher mit dem Bewusstsein der eigenen Ich-Identität einhergeht. Mit ca. 12 Monaten entwickeln Kinder bereits eine gewisse Personenpermanenz. Mit ca. 2–3 Jahren können sie die Gefühle und Gedanken anderer von den eigenen unterscheiden. Mit ca. 4 Jahren ist es möglich, Anzeichen von Glücklichsein und Traurigkeit zu erkennen und darauf angemessen zu Vgl. B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O. Vgl. u. a.: R. A. Spitz, The first year of life: a psychoanalytic study of normal and deviant development of object relations, New York 1965 und D. Stern, The First Relationship. Infant and Mother, Cambridge 1977. 114 Vgl. u. a. G. Rizzolatti, C. Sinigaglia, Mirrors in the Brain. How We Share our Actions and Emotions. Oxford u. a. 2008 oder auch: S. D. Preston u. F. B. M. de Waal, Empathy: Its ultimate and proximate bases, in: Behavioral and Brain Sciences, 25, 2002, 1–72. 115 Die Funktion der Spiegelneurone bleibt davon unberührt, vielmehr kann dieses Phänomen auch bei Erwachsenen beobachtet werden. 112 113

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reagieren. Auf dieser Grundlage entwickeln Kinder die Fähigkeit zur Rollenübernahme, d. h. sich in gemischte und komplexe Gefühle Anderer einzufühlen. 116 Mit zunehmender Herausbildung des Selbstkonzeptes sowie einem angemessenen Zeitbewusstsein von Kontinuität vermag sich das Kind schließlich sowohl von der eigenen konkreten Situation als auch der des anderen zu lösen. Jetzt entwickelt es eine allgemeine Vorstellung von der Gesamtsituation des Anderen und vermag die Stimmung zu erfassen. 117 Das Kind kann nun einen Widerspruch zwischen dem augenblicklichen Ausdrucksverhalten und der Gesamtsituation des anderen erkennen. »Die Transformation von empathischer Einfühlung in sympathische Einfühlung setzt mit der Differenzierung der Wahrnehmung von Selbst und Anderen ein. Sie vollzieht sich in den letzten drei Entwicklungsstufen und ist gekennzeichnet durch die Interaktion kognitiver und affektiver Komponenten.« 118 Erst später und mit zunehmender Fähigkeit zur Abstraktion, ist es schließlich möglich, sich in die Situation einer ganzen Gruppe oder Kultur hineinzuversetzen. Es wurde darauf hingewiesen, dass frühere entwicklungspsychologische Beschreibungen von Rollentausch und Empathie diese entweder einseitig kognitivistisch oder emotional deuteten. Die neueren Annahmen, die von einer Wechselwirkung zwischen Gefühlen, Kognitionen 119 und physischen Prozessen (Körper) ausgehen, werden durch aktuelle neuropsychologische Studien weitgehend unterstützt.120 »Ins116 Diese Angaben sind selbstverständlich nur Richtlinien, welche sich seit den intensiven Untersuchungen der 60er und 70er Jahre wohlweislich verschoben haben. Ich füge eine solche Stufenfolge hier ein, weil sie einen adäquaten Vergleich zum Kohlberg-Modell aufweist (vgl. H. Borke, Interpersonal perception of young children: Egocentrism or empathy, in: Developmental Psychology, 5, 1971, 263–269 sowie N. D. Feshbach u. K. Roe, Empathy in six- and seven-year-olds, in: Child Development 39, 1968, 133– 145). 117 Bei der konkreten Rollenübernahme wird aus entwicklungspsychologischer Perspektive zwischen der perzeptiven, der begrifflichen und emotional-motivationalen Rollenübernahme unterschieden. Diese drei Aspekte sind natürlich nur schwer voneinander zu trennen und überschneiden sich thematisch. 118 M. Wasna u. B. Schäfer, Emotionale Betroffenheit, a. a. O., 128. 119 Zum Beispiel konnte gezeigt werden, dass Personen mit einer mangelnden Gefühlsfähigkeit rationale Prozesse nicht mehr richtig nutzen können und dadurch erhebliche Störungen in ihrem Sozialleben haben (vgl. A. R. Damasio, Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, Berlin 2004, 78 u. 87–107). 120 Ein weiteres Beispiel stellt die bereits erwähnte Theorie der Spiegelneuronen dar. Mit ihrer Hilfe werden beobachtete und selbst ausgeführte Handlungen emotional ge-

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gesamt gehen emotional-kognitive Empathietheorien davon aus, dass emotionale Vorgänge kognitive Prozesse motivational bestimmen. Andererseits können auch unter bestimmten Bedingungen kognitive Prozesse wiederum Gefühle und Emotionen rückwirkend beeinflussen. Das Besondere dieser Theorien besteht darin, dass emotionale Faktoren erst in einem wechselseitigen Prozess mit Kognitionen Synergien herstellen, mit denen ein passendes emotionales Verstehen herbeigeführt werden kann.« 121 Ich werde im Folgenden auf die Untersuchungen von Ciompi eingehen, um daraus die Querverbindungen zwischen Körper, Affekten und Kognitionen abzuleiten. Hierbei werde ich mich auf solche Aspekte beschränken müssen, welche eine unmittelbare Auswirkung auf die didaktische Verknüpfung von Körper, Mitgefühl und Vernunft mit sich führen. Insbesondere geht Ciompi von einer klaren Interdependenz von Affekt, Kognition und Handlungsabläufen aus. Dieser Annahme liegen verschiedene Thesen zugrunde, welche er durch seine Forschungen belegen konnte: Ciompi sieht die Verbindung von Emotion, Kognition und Handlung als energetisierende Faktoren, welche eine steigende bzw. sinkende affektive Spannung im psychosozialen Feld bewirken. Diese Spannungen gelten als entscheidende Kontrollparameter. 122 Ferner haben Affekte für Ciompi eine stark genetische Grundlage, weil sie Voraussetzung dafür sind, das Überleben von Menschen durch Zusammengehörigkeitsgefühl, Sozialkontakte und Fürsorgeverhalten zu unterstützen. 123 Für Ciompi ist deshalb das »autonome Individuum« eine theoretische Konstruktion: »Das autonome ›freie‹ Individuum ist ein Stück weit eine Fiktion, eine rezente ›Erfindung der Neuzeit‹, hat doch praktisch jedermann ein Minimum an sozialer Zugehörigkeit nötig, um psychisch (und sogar physisch) überhaupt zu überleben«. 124 speichert und dann für kognitive Entscheidungsprozesse herangezogen (vgl. u. a. J. Bauer, Das Gedächtnis des Körpers, München, Zürich 2004, 64–69). 121 B. Gassner, Empathie in der Pädagogik. Theorien, Implikationen, Bedeutung, Umsetzung, Dissertation an der Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg 2006, 31 ff. 122 Vgl. L. Ciompi, Die affektiven Grundlagen des Denkens, Göttingen 1997, 156; folgende Darstellung von Ciompis Theorie findet sich in komprimierter Form bei B. Gassner, Empathie in der Pädagogik, a. a. O. und folgt seiner Darstellung inhaltlich, jedoch mit leichten Ergänzungen im Hinblick auf die hier angestrebte Argumentation. 123 Vgl. ebd., 78 ff., sowie 100 ff. 124 Eine solche These findet sich u. a. bei Damasio, Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken

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Schließlich gelten Affekte unter dem funktionellen Gesichtspunkt als entscheidend für die Dynamik und Qualität der Denk- und Handlungsprozesse eines Menschen. 125 Ciompi sieht diese als motivationale Operatoren oder »Energielieferanten«, »Motoren« und »Motivatoren« sämtlicher kognitiver Dynamik. 126 Ein abnehmender energetisierender Zustand wirkt hemmend, ein zunehmend energetisierender Zustand hingegen mobilisierend auf kognitive Prozesse. Affekte beschleunigen allgemein sowie kontextspezifisch die Denkweisen und organisieren auf diese Weise die Hierarchie der Denkinhalte. Sie bewirken einen schnellen Zugang zu unterschiedlichen Gedächtnisspeichern, fokussieren Denkprozesse kontinuierlich auf ein ausbalanciertes Motivationssystem und verbinden hierfür in passender Weise ähnliche Affekte miteinander. Sie fassen ferner kognitive Informationen zusammen und reduzieren dadurch die Komplexität. 127 Ferner geht Ciompi davon aus, dass, wenn ein gewisses Energielevel entweder über- oder unterschritten wird, es zu einer umfassenden Neuverteilung der Energie kommt. Dies bewirkt negative Fühl-, Denkund Handlungsweisen einer Person und die Reaktion ist nun unvorhersehbar geworden; z. B. plötzliche Wut, Wahnideen bzw. Antriebslosigkeit. Ciompi bezeichnet dieses Umschlagen als »Bifurkation«. 128 Aus diesem Grund bilden Affekte im Zusammenspiel von bestimmten Denk- und Handlungsweisen eine spezifisch energetische Form einer Motivationsstruktur, die Ciompi als »Attraktor« 129 bezeichnet. Ein solches Zusammenspiel wird als energiesparend und deshalb lustvoll erlebt. Dies trifft in gleicher Weise auf die kleinste Einheit (z. B. Person) und die größte (z. B. Gruppe) fraktal zu und kann deshalb auf diesen unterschiedlichen Ebenen gleichermaßen passend erfasst werden. 130 Wenn nun ein Attraktor eine charakteristische Konfiguration mit einem spezifischen emotionalen Kontext eingeht, fungiert er als hochsensibler Sensor für die Wahrnehmung und Reflexion spezifischer differentieller Kognitionen. Ciompi bezeichnet diese auch als »Trajekund das menschliche Gehirn, a. a. O.; bei J. Bauer, Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneuronen, Hamburg 2005. 125 Vgl. Ciompi, Die affektiven Grundlagen des Denkens, a. a. O., 95. 126 Ebd. 127 Ebd., 99. 128 Ebd., 135 u. 156 f. 129 Ebd., 140 ff. 130 Vgl. ebd., 148, 150 ff.

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toren«. 131 Ein Trajektor umfasst immer alle Fühl-, Denk- und Verhaltensabläufe und enthält eine charakteristische Gestalt und Konfiguration. Bernhard Gassner schließt daraus, dass verschiedene Empathiefaktoren, wie Selbstempathie, Sozialempathie und Objektempathie, einschließlich ihrer individuellen Ausformung bei einer Person als Sinn-Trajektor bezeichnet werden. 132 Aufgrund dessen hat Empathie als Sinn-Trajektor einen maßgeblichen Einfluss auf kognitive und handlungsmotivierende Prozesse. Ferner gehen auf neuronaler Ebene physische und psychische Prozesse ineinander über. Damit unterscheidet sich das menschliche Gehirn grundlegend von der Funktionsweise eines Computers, bei welchem Soft- und Hardware getrennt bleiben. Dies führt dazu, dass Kinder frühzeitig eine Sinnesschule erfahren müssen, um ihre Sinnestätigkeit und damit Sensibilität optimal zu steigern. Diese Sinnes- und Fühlmechanismen sind entscheidend, damit affektive und kognitive Prozesse optimal ineinander gehen bzw. einander unterstützen. Der Körper fungiert sozusagen als Resonanzkörper, weil nur über ihn Stimulierungen aus der Umwelt wahrgenommen werden können. Eine wesentliche Rolle für die Sinnesschulung spielt die musische und künstlerische Erziehung, d. i. die Achtsamkeit für sinnesbezogene Wahrnehmungen und Wahrnehmungsstrukturen. 133

2.2.2 Ansätze und Projekte zur Förderung von Mitgefühl Besonders in den letzten beiden Jahrzehnten haben sich eine Menge von Theorien und Projekten zur Empathieförderung hervorgetan. Der Pädagoge Bernhard Gassner strukturiert in seinem umfassenden Werk zur Empathieförderung die Vielfalt der Ansätze folgendermaßen: a. Finale Theorien ohne Notwendigkeit einer Empathieerziehung – Evolutionäre Empathietheorien b. Finale Theorien mit der Notwendigkeit einer Empathieerziehung – Psychologische Empathietheorien Ebd., 154. B. Gassner, Empathie in der Pädagogik, a. a. O., 288. 133 Vgl. hier das Bildungsprojekt von Michael von Brück (2010), vorgestellt in seinem Vortrag »Freude des Lernens: Projekt einer integrierten Pädagogik mit den Erziehungszielen Qualität und Kreativität durch musikalische Bildung«, gehalten im Rahmen der Vorlesungsreihe »Qualitäten des Menschlichen. Facetten einer aktuellen Bildungsethik« (org. durch Prof. Bäuml-Roßnagl und Prof. Vogt) an der LMU am 10. 12. 2009. 131 132

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Psychosoziale Empathietheorien Psychoanalytische Empathietheorien Finale Empathietheorien (normale, wie: Mitgefühls- und Mitleidserziehung, Moralerziehung, Erziehung zu prosozialen Handlungsweisen, und besondere, wie: Friedens- oder Gedenkstättenpädagogik) 134 Je nach disziplinspezifischen Vorannahmen kommt es zu je unterschiedlichen Bewertungen von Empathie in ihrer sozialen Bedeutung sowie geeigneten Förderungsmaßnahmen: 135 Psychologische Theorien postulieren, dass durch das Sich-Einfühlen und den hierbei wahrgenommenen Körperprozessen ein sozioemotionales Verstehen erreicht wird. Es wird angenommen, dass ein solches vertieftes Spüren auch prosoziale Handlungsweisen zur Folge hat. Psychosoziale Theorien deuten Empathie hingegen als eine besondere Form der Rollenübernahme innerhalb eines komplexen emotionalen Erfahrungssystems. Eine empathische Person muss deshalb über die Fähigkeit der Rollendistanz, der Ambiguitätstoleranz und der empathischen Kommunikation verfügen. Empathiefähigkeit ist deshalb auch entwicklungs- und damit altersgebunden. In psychoanalytischen Theorien wird Empathie als eine kurzzeitige Identifikation mit dem affektiven Zustand einer Person gesehen, wodurch ein emotionales Verstehen einer anderen Person möglich wird. Finale Empathietheorien 136 zielen in erster Linie auf die Förderung prosozialer Handlungsweisen, welche im moralischen Verantwortungsgefühl und der Mitmenschlichkeit ihren Ausgang nehmen. Zum Empathiekonzept gehören inhaltlich die persönliche Betroffenheit, das Miterleben, das Sich-Einfühlen in eine andere Person, das Mitleiden, das emotionale Verstehen, das moralische Gefühl sowie die Selbsteinschränkung egoistischer und aggressiver Bedürfnisse. Zu den prosozialen Handlungsweisen zählen: faires und gerechtes Handeln, rücksichtsvolles, tolerantes und fürsorgliches Handeln, soziale Umgangsformen, Konfliktregelung, Dialogfähigkeit sowie der Einsatz gegen Gewalt und unsoziale Handlungsweisen. 137 Als begünstigende FakB. Gassner, Empathie in der Pädagogik, a. a. O., 162 f. Für die folgenden Darstellung beziehe ich mich inhaltlich auf B. Gassner, Empathie in der Pädagogik, a. a. O., 47 ff. 136 Vgl. zur folgenden Darstellung: B. Gassner, Empathie in der Pädagogik, a. a. O., 97 ff. 137 Vgl. ebd., 135 ff. 134 135

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toren werden eine gewisse Abstraktions- und Imaginationsfähigkeit, ein positives Selbstwertkonzept, die empathische Vorbildfunktion der Lehrkraft oder des/der Pädagogen/-in sowie die gesellschaftlich positive Einstellung gegenüber empathischem Verhalten vorausgesetzt. Insofern lassen sich finale Empathietheorien am ehesten mit dem moralpädagogischen Ansatz von Kohlberg vergleichen. Im Folgenden soll auf solche Ansätze näher eingegangen werden, welche sich thematisch der Moralerziehung, der politischen Bildung bzw. dem interkulturellen Verstehen am ehesten zuordnen lassen. Empathieförderung im Kontext der Moralerziehung und interkulturellen Pädagogik Im Unterschied zur politischen Rationalität wird der Einsatz von Mitgefühl im Bereich der politischen Bildung und Moralerziehung nicht ausschließlich positiv bewertet. Ein Beispiel ist hier der umfangreiche Aufsatz Emotionale Betroffenheit und moralisches Urteilen im Unterricht über Menschenrechte 138 von Maria Wasna und Bernd Schäfer. Sicherlich ist eine solche Voreingenommenheit auch nicht ganz unberechtigt, wenn davon ausgegangen werden kann, dass insbesondere bei Kindern die Gefahr der Manipulation sehr hoch ist. Ferner ist Mitgefühl eben nicht erzwingbar und kann deshalb auch nicht die Zurechnungsfähigkeit von Personen auf gesellschaftlicher Ebene garantieren. Schließlich kann Mitgefühl als episodisches Gefühl nicht universalisiert werden und »verdünnt« sich in seiner Intensität, wenn es auf eine größere Personengruppe ausgeweitet wird. Auf der anderen Seite gibt es, insbesondere aus der Pädagogik, auch viele befürwortende Ansätze. Ihnen ist die Annahme gemein, dass verschiedene Aspekte des Mitgefühls, wie emotionales Verstehen, moralische Haltung, Betroffenheit etc., ein moralisches Verhalten erst hervorbringen. Solche Theorien problematisieren den Umstand, dass in westlichen Gesellschaften Individualismus und Erlebnisgesellschaft moralische und prosoziale Verhaltensweisen in den Hintergrund drängen, weil ihr Stellenwert eher gering geachtet wird. Um dieses Defizit auszugleichen, besteht der Versuch darin, die Fähigkeit des Sich-Einfühlens, emotionale Betroffenheit und Selbstkontrolle zu fördern. Hierdurch sollen prosoziale Verhaltensweisen wie Kooperation, Wertschätzung, und Vermeidung destruktiver Denk-, Sprech- und Verhal138

Vgl. M. Wasna u. B. Schäfer, Emotionale Betroffenheit, a. a. O.

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tensweisen gefördert werden. Das Vorbildlernen übernimmt eine wichtige Rolle. Ferner werden auch die Reaktionen einer empathisch behandelten Person auf die empathisch handelnde Person berücksichtigt. Beispielsweise wird eine Verringerung der Empathiebereitschaft einer empathischen Person angenommen, wenn jene erkennt, dass die andere Person eine angebotene Hilfe ausschlägt oder sich gegen ihr Leid nicht wehrt. Ebenso kann eine empathische Person ihre Empathiefähigkeit verlieren, wenn sie während des Empathieprozesses eigene Hilflosigkeit oder einen sozialen Imageschaden für sich selbst wahrnimmt. 139 Untersuchungen zu Motivationskonzepten zeigen darüber hinaus, dass emotionale Erregung nicht immer die Akzeptanz eines vorgeschlagenen Verhaltens zur Folge hat, sondern bei Überreizung sogar zur totalen Verdrängung der Lerninhalte führen kann. 140 Im Extremfall kann eine empathische Überreizung in das Gegenteil umschlagen: nämlich in egoistisch selbsterhaltende Handlungen oder in Resignation. Der Grund hierfür liegt darin, dass bei Überreizung das Individuum zu sehr mit den eigenen Gefühlen beschäftigt ist und deshalb dem anderen nicht wirklich helfen kann. 141 Aus diesem Grund erscheint eine mittlere Erregung optimal, um eine tatsächliche Handlungsmotivation zu erlangen. Ferner reicht aber eine emotionale Betroffenheit allein nicht aus, um zu altruistischem Verhalten anzuregen, sondern braucht, insbesondere um ein zielgerichtetes Verhalten zu bewirken, immer auch die kognitive Verarbeitung im Unterricht. 142 Denn empathische Erregungen stehen immer in Verbindung mit kognitiven Prozessen. 143 Die Motivation für altruistische Handlungen bzw. den Ausgleich von Ungerechtigkeit wurde in den 70er Jahren durch die »Equity Theory« erforscht. Es konnte gezeigt werden, dass Menschen grundsätzlich versuchen, eine »ausgewogene Gerechtigkeit« herzustellen. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, inwiefern sich der Einzelne für die Vgl. B. Gassner, Empathie in der Pädagogik, a. a. O., 135 ff. K. H. Beck u. A. Frankel, A conceptualization of threat communications and protective health behaviour, Social Psychology Quarterly 44, 1981, 204–217. Die erwähnten Beispiele beziehen sich jedoch auf gesundheitliche Vorsorge (hier das Zähneputzen). 141 Ebd., 129. 142 M. Wasna u. B. Schäfer, Emotionale Betroffenheit, a. a. O., 114. 143 J. I. Lacey, Psycho-physiological approaches to the evaluation of psychotherapeutic process and outcome, in: E. A. Rubinstein u. M. B. Parloff (Hg.), Research in psychotherapy, Washington, D.C., 1959. 139 140

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Situation verantwortlich sieht, d. h. inwiefern er glaubt, durch seine Handlung etwas verändern zu können. Eine Einsicht, welche später in der politischen Bildung durch den Begriff der political efficacy wieder auftaucht. Emotionale Betroffenheit und Unbehagen müssen gleichzeitig von dem Gefühl begleitet sein, durch die eigene Handlung zur Überwindung der Ungerechtigkeit beitragen zu können. 144 Denn allein das Bewusstsein oder Akzeptieren von moralischen Normen ist noch keine Garantie, dass ein entsprechendes Verhalten in ethischen Konfliktsituationen tatsächlich gezeigt wird. Schwartz schlägt deshalb folgende vier Stufen vor: 1. Wahrnehmung von Not und Verantwortung, 2. Konstruktion von Normen, Erleben von Gefühlen moralischer Verpflichtung, 3. Einschätzung, Bewertung und Neueinschätzung möglicher Reaktionen und 4. Ausführen der Handlung. 145 Ein weiteres entwicklungspsychologisch und didaktisch relevantes Konzept liefern Gerris und Jansen für den spezifisch sozial-politischen Kontext. Das Modell verfügt über drei Teilgebiete: a. soziale Kognition: Wissen über das Tun anderer Menschen, b. Fähigkeiten im Umgang mit anderen: verschiedene Kontaktformen wie z. B. altruistisches und kooperatives Verhalten, und c. soziale Werte: das Denken und Handeln in der sozialen Wirklichkeit aus bestimmten Wertpräferenzen heraus. 146 Anhand von Geschichten und didaktisch geleiteten Fragen werden Kinder dazu angeregt, sich in die verschiedenen Gefühlslagen der Protagonisten hineinzuversetzen. Ein eher evolutionstheoretisch motivierter Ansatz stammt von Dehner. 147 Er postuliert, dass soziale Gruppen durch eine »sozietäre Moral« und Hilfsbereitschaft zusammengehalten werden. Menschen neigen aber auch zu Abgrenzung und Trennung; d. h., Brutalität und Grausamkeit sind dem Menschen ebenso natürlich wie das Mitempfinden. Der Mensch ist fähig, durch Reflexion von den unmittelbaren Handlungsimpulsen zurückzutreten und frei zu entscheiden. Deshalb ist es notwendig, grenzüberschreitende Erfahrungen und ethische Re144 S. H. Schwartz, Normative influences on altruism, in: L. Berkowitz (Hg.), Advances in Experimental Social Psychology 10, 1977, 221–279. 145 Ebd., 221 ff. 146 Vgl. J. R. M. Gerris, F. J. Jansen u. C. R. Badal, Denken over jezelf en de ander, Den Bosch 1980, zit. nach: F. J. Mönks u. A. M. P. Knoers, Lehrbuch der Entwicklungspsychologie, München 1996, 93. 147 K. Dehner, Lust an Moral: Die natürliche Sehnsucht nach Werten, Darmstadt 1998, 63–72.

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flexionen zu kultivieren. Ziel ist es, eine »reflexive Steuerung« zu erlernen, welche zu moralischem Handeln motiviert und aggressive Verhaltensweisen einschränkt. Empathie ist für Dehner die Fähigkeit, sich in emotionale Zustände von Menschen hineinzuversetzen. Auf diese Weise sollen Menschen zu sozialem und mitmenschlichem Handeln angeregt werden. 148 Dehner sieht die Kultivierung von Empathie als »politische Aufgabe von höchster Priorität« und Grundlage für moralische Erziehung. 149 Anders als Kohlberg greift Dehner jedoch weniger auf ein kognitives Konzept zur Moralerziehung zurück, sondern setzt seinen Schwerpunkt auf die Motivation zu moralischem Handeln: Hierzu gehören Bindung, Neugier und Anerkennung. Damit greift er auf eine bereits existierende Antriebsdynamik für moralisches Handeln zurück. Sein Empathietraining umfasst Übungen zum Perspektivenwechsel und zur Rollenübernahme. Es geht um das Erlernen, Emotionen auszudrücken sowie Andere in ihrem emotionalen Ausdruck zu verstehen. Letztlich stehen die Reflexion und das Einüben adäquater Verhaltensweisen in spezifisch emotional geladenen Situationen sowie die Fähigkeit zum diskursiven Interessenausgleich und zur Kompromissfindung im Vordergrund. 150 Interessant an Dehners Ansatz ist, dass er die Wichtigkeit der Handlungsmotivation für moralisches Handeln betont. Es bleibt jedoch unklar, ob moralisches Handeln ein positiver Trieb ist oder dieser durch Triebbeherrschung pädagogisch gefördert werden muss. 151 In der konkreten Methodik weicht Dehner wenig von den gängigen Empathieförderprojekten ab, sondern fördert vornehmlich eine kognitiv verstandene Empathie durch den Rollentausch. Es bleibt deshalb unklar, auf welche Weise die Motivation zu moralischem Handeln kultiviert wird. Ropers entwickelt eine Theorie zur »interkulturellen Empathie«. Es geht ihm darum, »sich in andere Kulturen oder Nationen bzw. deren Angehörige hineinzuversetzen und ihre Werte, Einstellungen und Weltbilder möglichst differenziert zu erfassen«. 152 Eine solche Empathie hat die Funktion, Ich-Identität im Unterschied zu anderen IdentiEbd., 60 ff. Ebd., 72. 150 Ebd., 105. 151 Vgl. zu dieser Anmerkung B. Gassner, Empathie in der Pädagogik, a. a. O., 119. 152 N. Ropers, Vom anderen her denken. Empathie als paradigmatischer Beitrag zur Völkerverständigung, in: R. Steinweg u. Ch. Wellmann, Die vergessene Dimension internationaler Konflikte, Frankfurt am Main 1990, 114–150, hier 141. 148 149

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täten zu konstituieren. Die Gefahr besteht jedoch in der Schaffung kultureller »Metabilder«, welche das Selbstverständnis einer kulturellen Gruppe dokumentieren. Solche Metabilder können aber zur kulturellen Selbstherrlichkeit bzw. zu interkulturellem Missverstehen führen. Deshalb versucht Ropers durch sein Empathiekonzept einer solchen Haltung entgegenzuwirken. Ziel ist die Auseinandersetzung mit der Geschichte und den Lebensweisen der eigenen und fremden Kultur sowie die Begegnung mit Menschen aus anderen Kulturen. Hierdurch soll das Bewusstsein geweckt werden, dass solche Metabilder ein gemeinsames Weltproblem darstellen und deshalb überwunden werden müssen. Methodisch konzentriert sich Ropers’ Erziehungskonzept hauptsächlich auf die Vermittlung von Informationen sowie die Begegnung mit anderen Kulturen. Es ist fraglich, wie dadurch »Mitgefühl« kultiviert werden soll, d. h. wie die Begegnung zwischen Kulturen auszusehen hat, damit sie empathiefördernd wirkt. Auch Borellis Konzept zur Erziehung friedlicher Koexistenz stellt einen sozial und politisch engagierten Ansatz dar. 153 Er verbindet Empathieförderung mit der Erziehung zu Solidarität, kulturellem Respekt und der Überwindung des Nationaldenkens. Empathie ist für ihn die Fähigkeit des Perspektivenwechsels, d. i., die Probleme mit den Augen des Anderen zu sehen, woraus Sympathie resultiert. Empathieförderung soll insbesondere die »Aufgeschlossenheit« fördern – gerade in Bezug auf Andersartigkeit. Deshalb stehen die Aufgeschlossenheit, das Sich-Einfühlen in die Andersartigkeit des Anderen sowie die Sympathie im Mittelpunkt seiner Theorie. 154 Leider erschließt sich in Borellis Konzept nicht, wie all diese Aspekte gefördert werden sollen noch auf welche Weise sie voneinander abhängen (z. B. Sympathie und Andersartigkeit). 155 153 Vgl. M. Borrelli (Hg.), Interkulturelle Pädagogik. Positionen – Kontroversen – Perspektiven, Bd. 4, Baltmannsweiler 1986. 154 Ebd., 76. 155 Weitere Projekte zur Förderung prosozialen Verhaltens innerhalb eines interkulturellen Kontextes finden sich bei: M. Lin-Huber, Chinesen verstehen lernen, Bern 2001; P. Rostampour u. W. Melzer, Transkulturelle Empathie und Auflösung von Nationalitätsstereotypen durch Jugendbegegnung?, in: Gemende, Schröer u. Sting (Hg.), Zwischen den Kulturen. Pädagogische und sozialpädagogische Zugänge zur Interkulturalität, Weinheim/München 1999, 133–155; U. Friedrichs, Kulturkontakt – Kultur intakt?!, in: Gruppe und Spiel, 21, 1995, 2, 18–32; K. Schüle, Fremdverstehen im fremdsprachendidaktischen Feld. Einige sozialwissenschaftliche und fremdsprachliche Gesichtspunkte,

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Insgesamt kann hieraus geschlossen werden, dass Ansätze zur Förderung interkulturellen Verstehens und Friedens Empathie als einen wichtigen Faktor miteinbeziehen. Es können folgende Empathiefaktoren unterschieden werden: 156 a. Empathiefaktoren, welche prosoziales Verhalten fördern: Empathische Aufgeschlossenheit und Bereitschaft zum respektvollen Umgang mit fremden Kulturen, emotionale Selbstreflexion und Selbstkontrolle sowie die Reflexion der eigenen kulturellen Identität. b. Empathiefaktoren, welche ein emotionales Verstehen begünstigen: Einfühlen in fremde Werte und Weltbilder, sprachliche Ausdrucksweise als Spiegelung kultureller Fühl-, Denk- und Handlungsweisen, emotionale Anteilnahme an anderen Kulturen, Toleranz für die Andersartigkeiten sowie ein vertrauensvoller, wertschätzender, emotionaler Dialog. c. Empathiefaktoren für das Verstehen schwieriger kultureller Situationen: dauerhaftes empathisches Bemühen um eine friedliche Koexistenz, empathische Bereitschaft zur Versöhnung trotz bestehender früherer, nicht wiedergutzumachender Unrechtshandlungen sowie eine aktive empathische Form der Gegenwehr, wenn die Gefahr einer Verletzung koexistenzieller Bedingungen erkannt wird. Auf der konkreten Ebene führte jedoch die Empathieförderung im Kontext interkulturellen Verstehens in der Vergangenheit häufiger zu Problemen. Ein Grund hierfür liegt einerseits in der direkten und indirekten Verweigerung zur Mitarbeit. Andererseits fühlen sich Lehrkräfte angesichts dogmatischer Vorstellungen oder Riten verstört 157 bzw. auf der Ebene der Moralerziehung mit unauflösbaren Dilemmata konfrontiert. Solche Dilemmata konnten jedoch auch durch rein kognitive Ansätze nicht immer aufgelöst werden. 158

in: Neusprachliche Mitteilungen aus Wissenschaft und Praxis, 48. Jg., H. 2, 1995, 78– 86; vgl. zu dieser Literatursammlung B. Gassner, Empathie in der Pädagogik, a. a. O. 156 Vgl. B. Gassner, Empathie in der Pädagogik, a. a. O., 152 ff. 157 G. Auernheimer, V. v. Blumenthal, H. Stübig u. B. Willmann, Interkulturelle Erziehung im Schulalltag. Fallstudien zum Umgang von Schulen mit der multikulturellen Situation, Münster/New York 1996, 231 ff. 158 Siehe hierzu weiter oben zu Kohlberg.

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2.2.3 Fazit: Forschungsdesiderat für eine sinnesfundierte Förderung von Mitgefühl Es wurde gezeigt, dass Mitgefühl vielen pädagogischen Ansätzen der Moralerziehung sowie des interkulturellen Verstehens zugrunde liegt. Dabei lässt sich festhalten, dass Kinder in der Lage sein müssen, Gefühle anderer von ihren eigenen zu unterscheiden, um nicht eigene Gefühle in andere hineinzuprojizieren. Sie müssen ferner die Situation des anderen in ihrer Komplexität erfassen und vor dem Hintergrund eines größeren Zusammenhangs nachvollziehen können, d. h. u. a. von der konkreten Situation des Anderen abstrahieren zu können. Im Allgemeinen muss bedacht werden, dass sich sowohl die Entwicklung von Empathie als auch der Kognition in den letzten Jahren verschoben hat, so dass Kinder heutzutage oft schon früh solches Verhalten zeigen bzw. rudimentäre Anklänge von späteren Phasen eher auftauchen. Es spricht deshalb nichts dagegen, Kinder mit höherer Komplexität zu konfrontieren, weil eine solche Konfrontation in der Regel einen Sprung in eine nächste Phase zur Folge hat. Ferner müssen sich Kinder hierdurch mit verschiedenen Einstellungen auseinandersetzen, wodurch ihnen auch die eigene Sichtweise schneller bewusst wird. Selbstverständlich kann eine solche Konfrontation nicht willkürlich sein und muss von der jeweiligen Lehrkraft immer mit Rücksicht und Blick auf alle Vor- und Nachteile abgewogen werden. 159 Insbesondere müssen altersspezifische Charakteristika, individuelle Lebensgeschichten und Erfahrungen sowie Persönlichkeitsentwicklung und soziales Milieu berücksichtigt werden. Grundsätzlich sollte bei der Benutzung affektiver Medien in der Menschenrechtserziehung bedacht werden, dass das eigentliche Ziel auf dem Empowerment von Kindern liegt, weil sonst leicht das Gefühl der Machtlosigkeit und Resignation entsteht. a. Konzeptionelle Erweiterung der Erziehung zu »Mitgefühl« Insbesondere der letzte Aspekt führte in der Vergangenheit zu einem gewissen Misstrauen, in der Moralerziehung auf die Kultivierung des Mitgefühls zu vertrauen. Es wird argumentiert, Mitgefühl könne kein Garant für moralisches Handeln sein, weil es der subjektiven Befindlichkeit unterliege und deshalb von kognitiven Entscheidungsprozes159 Diese wurden weiter oben genau beschrieben und werden hier nicht nochmals aufgeführt.

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sen getrennt sei. Die Gefahr von Manipulation wäre deshalb zu groß. Hiergegen lassen sich jedoch viele neurologische Untersuchungen vorbringen, welche den eindeutigen und engen Zusammenhang zwischen Fühlen, Denken und Handeln herausstreichen. Leider werden diese Zusammenhänge in didaktischen Konzepten zur Empathieförderung nur teilweise bedacht. Ferner kann umgekehrt argumentiert werden, dass die Gefahr der Manipulation dann am größten ist, wenn gerade keine »Gefühlserziehung« im Sinne einer »Gefühlssensibilisierung und -kultivierung« stattfindet. Auf dieser Ebene gehen kognitive und emotionale Prozesse ohnehin Hand in Hand. Gefühlsreaktionen werden nicht »missbraucht«, um zu kognitiven Prozessen anzuregen, sondern dienen als Sensoren für ethische Konfliktsituationen. Eine besonders interessante Interpretation des Mitgefühls wird in diesem Zusammenhang von Helge Landweer vorgebracht: dass nämlich Sympathiegefühle als Wahrnehmungsorgan für die Situation und die Gefühle anderer fungieren. 160 Der Schwerpunkt liegt hier auf dem Aspekt der »Wahrnehmung« und der sensiblen Sinnestätigkeit. In anderen Veröffentlichungen wurde gezeigt, 161 auf welch komplexe Weise der Körper – im Sinne eines Begegnungsfeldes überkreuzender Erfahrungen – eine Verankerung in der gemeinsamen Welt darstellt. Denn einerseits sind Menschen qua Leib voneinander absolut getrennt (ein Leib kann nie in den anderen übergehen oder sich vermischen); andererseits ist aber der Körper dasjenige Organ, das mich qua Sinnestätigkeit mit dem Anderen verbindet. Die ähnliche Verkörperung in der Welt ist Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt der Welt einen ähnlichen Sinn entnehmen 162 und zugleich – durch Einfühlung – das Befinden des Anderen vermittels seines Ausdrucks wahrnehmen. Erst hierdurch konstituiert sich eine Welt der Sozialität: Der Körper gilt als »Resonanzkörper«, welcher verschiedene Ausdrücke des Anderen an seinem eigenen Leib spürt und deshalb das Befinden des Anderen »erfühlt«. 163 Diese andauernde Spiegelung durch den Anderen wurde 160 H. Landweer, Resonanz oder Kognition. Zwei Modelle des Mitgefühls, in: N. Gülcher u. I. v. d. Lühe (Hg.), Ethik und Ästhetik des Mitleids, Freiburg 2007, 66. 161 Vgl. B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O. 162 Vgl. das Konzept des »Ich-kann« bei Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, a. a. O. 163 Die Richtigkeit solcher Empfindungen wird insbesondere dort deutlich, wo dem Menschen sein Gefühl eigentlich erst durch den Anderen zukommt, d. h., wenn die eigentlichen Gefühle unterdrückt werden, aber über den Körper sichtbar werden.

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als zentrale Voraussetzung für die Identitätsbildung gedeutet. 164 Die aktuelle Entdeckung der Spiegelneuronen beschreibt diesen Prozess auf neuronaler Ebene. Hieraus folgt, dass der emotionale Perspektivenwechsel die Basis für eine moralische Entwicklung ist, weil erst hierdurch überhaupt die Notlage des Anderen erkannt wird; d. h., dass ich den Anderen in seiner leiblich-affektiven Sensibilität und Einzigartigkeit wahrnehme sowie die Besonderheit seiner Notlage emotionalrational erfasse. 165 Insofern ist es richtig, von Mitgefühl als »SinnTrajektor« 166 und »Motivator« zu sprechen. Mitgefühl soll deshalb im Sinne einer allgemeinen Haltung eines »mitfühlenden In-der-WeltSeins« kultiviert werden. Und noch ein weiterer Umstand legt eine sinnlich-emotionale Förderung des Mitgefühls nahe: Mehrere Untersuchungen bestätigen ein erhebliches Defizit im Erkennen fremder Gesichtsausdrücke und damit dem Erkennen der Gefühlszustände anderer Menschen. Interessanterweise wurden in diesen Studien keine komplizierten Gefühle untersucht, sondern Basisgefühle wie Wut, Freude, Angst, Schmerz etc. Dieses Defizit gilt nicht nur für das Kindergartenalter oder junge Schulkinder, sondern hält bis ins Erwachsenenalter an. Als wesentliches Problem folgt hieraus, dass sowohl Kinder als auch Erwachsene gar nicht angemessen auf Situationen reagieren können, weil sie nicht erkennen, wie der Andere sich fühlt. 167 Im schlimmsten Fall fehlt die Sensibilität für die Unangemessenheit des eigenen Verhaltens, weil gar nicht wahrgenommen wird, dass der andere leidet. Diese Untersuchungen zeigen ferner, dass hierbei auch der Faktor der Fremdheit des Aus-

164 Vgl. hier die Theorien von Rene Spitz, Daniel Stern oder auch George Herbert Mead, ausgeführt in: B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O. 165 Die genauen Zusammenhänge zwischen Mitgefühl und Vernunft, insbesondere im Hinblick auf den Perspektivenwechsel, wurden in folgender Veröffentlichung ausführlich erörtert: B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O. 166 Vgl. L. Ciompi, Affektlogik. Über die Struktur der Psyche und ihre Entwicklung, Stuttgart 1998. 167 S. C. Widen u. J. A. Russell, A Closer Look at Preschoolers’ Freely Produced Labels for Facial Expressions, in: Developmental Psychology, vol. 39, no I, 2003, 114–128; O. Holm, V. Claesson, E. Greaker, C. Karlsson, A. Strömberg, Experiences of Longing in Six-Year-Old Swedish Children, in: The Journal of Psychology, vol. 134, no 3, 2000, 346–348; O. Holm, E. Greaker, A. Strömberg, Experiences of Longing in Norwegian and Swedish 4- and 5-Year-Old Children, in: The Journal of Psychology, vol. 136, no 6, 2002, 608–612.

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sehens eine wichtige Rolle spielt: Es konnte nämlich festgestellt werden, dass Menschen noch größere Schwierigkeiten haben, wenn es um das Erkennen des Ausdrucks von Menschen einer anderen Herkunft geht. 168 Das Erkennen von Gefühlsäußerungen ist dabei auch an die Sensibilität für eigene Gefühle gebunden, weil der Ausdruck des anderen mit etwas Eigenem in Verbindung gebracht werden muss. Daraus folgt, dass Mitgefühl sowohl an die Sensibilität für eigene körperlichemotionale Vorgänge als auch an das Erkennen fremder Ausdrücke gebunden ist. Die Reduktion vieler Erziehungsprojekte auf Mitgefühl als entweder rein affektives oder rein kognitives Phänomen erscheint aus diesem Grund als falsche Alternative, weil die eigentliche Voraussetzung die Sensibilisierung der körperlichen Sinnestätigkeit ist. Ich schlage deshalb eine ganz andere Vorgehensweise für die Mitgefühlsförderung vor: Der Rückgang auf die Sinnestätigkeit und damit den eigenen und den fremden Körper – hierin enthalten ist eine Schulung der Achtsamkeit und Präzisierung sinnlicher Eindrücke. 169 b. Methodische Erweiterung zur Kultivierung von »Mitgefühl« und Anbindung an das »Philosophieren mit Kindern« Anders als für die kommunikative Vernunft spielen für die Förderung des Mitgefühls nur zwei philosophische Methoden eine große Rolle: 170 die Phänomenologie und die Hermeneutik. Phänomenologie als Schärfung der Sinnestätigkeit Ausgehend von Edmund Husserl ist die Eigenwahrnehmung grundsätzlich notwendig, um den emotionalen Zustand eines anderen zu verstehen. Denn erst vermittels der sinnlichen Wahrnehmungsebene, d. i. der Urpräsenz, wird es möglich, den emotionalen Zustand zu erfassen und, durch Einfühlung in ein personenbezogenes Handlungssystem 168 P. L. Harris, T. Olthof and M. M. Terwogt, Children’s Knowledge of Emotion, in: Journal of Child Psychology and Psychiatry, vol. 22, no 3, 1980, 247–261. 169 Ich beziehe mich mit diesem Ansatz wiederholt auf den bereits zitierten Vortrag von Michael von Brück an der LMU. Auch zu finden unter: http://epub.ub.uni-muenchen.de/11470/1/Bildungsethik-epub.pdf (Stand: 19. 04. 2013). 170 Sicherlich kann Mitgefühl auch Bestandteil anderer philosophischer Methoden sein, wie z. B. der Logik oder der Dialektik; insbesondere wenn es darum geht, einen Perspektivenwechsel innerlich zu vollziehen, um intersubjektiv nachvollziehbare gedankliche Operationen hervorzubringen.

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der Appräsenz, diesen zu transformieren. 171 Husserl beschreibt hier die Einfühlung in mehreren Schritten: Zunächst erfahren wir die andere Person als »abgeschlossene Einheit«. Diese Zuständigkeit wird nun analog zum eigenen Nacherleben als Alter Ego auf die eigene Subjektivität und Gefühlswelt übertragen. Durch einen solchen Vergleich erkennt nun die einfühlende Person sowohl die Unterschiede als auch die universell existierenden Überschneidungen, welche schließlich eine intersubjektive Welt ergeben. Eine einfühlende Deckungsgleichheit ist jedoch nicht möglich, weil Einfühlung immer an die eigenen emotionalen Erfahrungen rückgebunden bleibt. 172 Eine transpersönliche Erweiterung wird einzig durch das Erschließen universaler Gefühlszustände möglich, welche die Grundlage für ein emotionales Verstehen bilden. Bei Merleau-Ponty wird der Analogieschluss vom Ich zum Anderen durch die Idee der primordinalen Intersubjektivität ersetzt. Das Ich ist qua Leib immer schon Teil der sozialen Welt und erfasst den Anderen in seinem leiblichen Ausdruck unmittelbar. Eine solche Sichtweise wurde durch die Entdeckung der Spiegelneuronen in gewisser Hinsicht bestätigt. Der Andere ist mir nicht nur »äußerlich« gegeben, sondern ist in seinem Ausdruck immer schon in mir selbst präsent: Er ist mir »innerlich« gegeben, als neuronaler Prozess. 173 Charakteristisch für eine phänomenologische Deutung von Mitgefühl ist die Idee des Körpers und der Sinnestätigkeit über welche wir mit Anderen verbunden sind. Die Sinnestätigkeit ist dabei nicht nur Voraussetzung für die Wahrnehmung des Anderen, sondern zugleich Sediment meiner eigenen Identität, d. i. meines originären Seins-zur-Welt. In der Pädagogik wurde die Notwendigkeit der Sinnesschärfung längst erkannt und als Voraussetzung einer sinnvollen Lebensplanung interpretiert. Beispielhaft sind hier die langjährigen Arbeiten von Maria-Anna Bäuml-Roßnagl zu nennen: »Eine wichtige pädagogische Aufgabe ist es heute, mit den Kindern gemeinsam den Weg von den Sinnen zum Sinn zu gehen. In der allseitig erfahrenen Wahrnehmungskrise der Gegenwart ist für den Menschen die Bedeutung und 171 E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, hg. v. M. Biemel, The Hague 1952, 162 ff. 172 Vgl. ebd., 169 ff. 173 Vgl. G. Rizzolatti, Empathie und Spiegelneuronen. Die biologische Basis des Mitgefühls, Frankfurt am Main 2008.

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der Sinn der Dinge und des Lebens unklar geworden. Sinnlich erfahrene Wirklichkeit wird von vielen Menschen als ›Kulissenwirklichkeit‹ (Wiese) oder ›zerrissene Wirklichkeit‹ (Hegel) erfahren. Welchen gültigen Zugang zur Welt können unsere Sinne uns heute noch schaffen? Der Siegeszug der technologischen, von den realen Dingen abstrahierenden Vernunft hat den Menschen als Ganzes vernachlässigt und aus der umfassenden Wirklichkeitserfahrung herausgenommen. Das impliziert einen Verlust der Orientierungskraft der Vernunft und einen Verlust der Sinnessicherheit im Zuge der sinnesverarmten Lebensführung. Die Frage, welche heute von Wissenschaftlern, Anthropologen, Philosophen und in anschaulicher Weise von Künstlern und Dichtern neu gestellt wird, lautet: Gibt es für uns Menschen der Gegenwart ein Denken und Leben, das nicht losgelöst von den Dingen der Erde ist? Was bedeutet die Erde, die Materie für uns? Haben Materie und Erde für die menschlichen Sinne noch so viel Sinnlichkeit, dass sie Sinnstiftung bewirken können?« 174 Als methodische Erweiterung dieses Bildungsprojektes wird deshalb die Phänomenologie als Methode der Sinnesschärfung und -sensibilisierung interpretiert und didaktisiert. Eine solche Deutung der Phänomenologie vermag zunächst verwundern, weil das Philosophieren häufig als rein intelligible Fähigkeit verstanden wird. Die Phänomenologie als Phänomenenschau bedient sich jedoch der Sinne sehr genau, um zu beschreiben, auf welche Weise die Dinge der Welt sinnhaft erscheinen. Sie verlangt deshalb die präzise Verwendung durch eine umfassende Kultivierung der Sinne. 175 Hermeneutik als Kunst des empathischen Verstehens Sämtliche Modelle zur Kultivierung des Mitgefühls haben auf die Schwierigkeit aufmerksam gemacht, dass im echten Mitgefühl mir der Andere sowohl als mir ähnliche Person offenbar wird und zugleich in seiner Einzigartigkeit und Andersheit gegenübertritt: Der Andere ist einerseits in seiner organischen Funktion unersetzlich und als Leib absolut von mir getrennt; andererseits ist er mir in seiner Weise der Verkörperung grundsätzlich ähnlich. Vermittels des Mitgefühls kann ich 174 M.-A. Bäuml-Roßnagl, Leben mit Sinnen und Sinn in der heutigen Erlebniswelt. Wege in eine zeitgerechte pädagogische Soziologie, Regensburg 1990, 66 f. 175 Die genaue Methode wird im Kontext des Bildungsprojektes und auf der Grundlage spezifischer phänomenologischer Ansätze beschrieben.

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an seinem organischen Leid und seiner Freude Anteil nehmen, weil diese Gefühle zu meinem eigenen Leib analog sind. Die Möglichkeiten psychischer Demütigungen können jedoch von meiner eigenen Verletzlichkeit abweichen. Hier bin ich auf ein empathisches Verstehen des Anderen angewiesen, denn die Verständigung ist eine Grundkonstante der Sozialisierung. Sie wird dann zum Problem, wenn sich das Selbst in den privaten Raum zurückgezogen hat, um abseits von Intersubjektivität, sich selbst antithetisch zu konstituieren. In anderen Veröffentlichungen habe ich gezeigt, 176 dass meine eigene Identität sich erst im Verstehen des Anderen aktualisiert, weil nur durch diese Perspektivenübernahme ich selbst vor eine Alternative gesellt bin, welche mir Freiheit ermöglicht. Eine solche Identitätsbildung setzt den Dialog mit dem Anderen immer schon voraus, d. h. dass ich den Anderen als Person wie mich selbst wahrnehme und seine Äußerungen bedenke. In einem solchen Dialog wird mir klar, dass mir der Andere in seiner Andersheit jedoch immer schon entflieht: Ich kann sein Handeln und den Inhalt seines Sagens nicht im Vorhinein wissen. Vermittels dieser Ähnlichkeit hingegen habe ich das Vermögen, den Anderen grundsätzlich zu verstehen; durch seine Andersheit entflieht mir der Andere jedoch in die Unvorhersagbarkeit seiner Zukunft, d. i. seine Freiheit. Wie aber können wir eine Balance oder Vermittlung zwischen Ähnlichkeit und Andersheit erreichen? Ist es überhaupt möglich, den Anderen jemals gänzlich zu verstehen? Welche Rolle spielt hierbei das Mitgefühl? Wilhelm Dilthey sieht bei empathischen Prozessen immer auch die Erinnerung an ähnliche eigene emotionale Erfahrungen beteiligt. Gefühle sind deshalb stets personenbezogen und können nicht ohne andere emotionale Erfahrungen verstanden werden. 177 Erst durch die Veränderung der eigenen »Erinnerungsbilder« entsprechend des psychischen Zustandes einer anderen Person kommt laut Dilthey ein emotionales Verstehen zustande. 178 Aus diesem Grund ist für ihn die emotionale Erfahrungsbreite und -tiefe ausschlaggebend, um eine andere Person zu verstehen. Dabei geht es um universelle, kulturelle und personenbezogene Gefühle. Seine These geht davon aus, dass emotionale Vgl. B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O. W. Dilthey, Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens, Bd. VI, Stuttgart/Göttingen 1958, 205 ff. 178 Ebd., 206 ff. 176 177

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Erfahrung und Übung im emotionalen Verstehen wesentlich sind, um Verstehen genuin zu ermöglichen. Carl Rogers geht im Gegensatz zu Dilthey von einer inneren emotionalen Verbundenheit zwischen Menschen aus. In seiner hermeneutisch-psychologisch fundierten Lehre des Verstehens anderer Menschen sieht er die emotionale Begegnung als Voraussetzung für die gegenseitige Anerkennung unserer jeweiligen existentiellen Besonderheit. Menschen sind im Hinblick auf ihre Identitätsentwicklung auf einen solchen verstehenden personenbezogenen Dialog in sozialen Räumen angewiesen. Dieser kann aber nur stattfinden, wenn dem Anderen eine »bedingungslos positive Zuwendung« 179 zukommt. Der Andere soll hierbei in seinem gesamten emotionalen und inhaltlichen Ausdruck angenommen und durch ein solches empathisches Verstehen in seinem motivationalen Handlungsfaktoren erfasst werden. Als Empathie bezeichnet Rogers: »Die private Welt des Klienten verspüren, als wäre sie die eigene, ohne jedoch diese ›Als-ob-Qualität‹ außer Acht zu lassen«. 180 In dem steten dialogischen Reflexionsprozess des Fremdspürens und Eigenspürens soll ein möglichst vorurteilsfreies Fremdverstehen angestrebt werden. Für Rogers ist Empathie nicht angeboren, sondern erlernt. 181 Ferner ist sie stark von der körperlichen Fitness des Einzelnen abhängig, weil die direkte Kommunikation den Pulsschlag erhöht. Aus diesem Grund können Menschen mit höherer Fitness die Intensität eines solchen Dialogs länger aufrechterhalten und gehen öfters auf die Bedürfnisse des Anderen ein. 182 Nicht zuletzt sieht Rogers C. R. Rogers, Entwicklung der Persönlichkeit, Stuttgart 1973, 75. Ebd. 181 C. R. Rogers, Empathie – eine unterschätzte Seinsweise, in: C. R. Rogers u. R. Rosenberg, Die Person als Mittelpunkt der Wirklichkeit, Stuttgart 1980, 85. 182 Rogers trägt Forschungsarbeiten der Gruppe D. Aspy und F. Roebuck zusammen. Besondere Aufmerksamkeit erhalten dabei die Korrelationen von körperlicher Befähigung und zwischenmenschlichen Fähigkeiten (vgl. C. R. Rogers, Freiheit und Engagement. Personenzentriertes Lehren und Lernen, München 1984, 169 ff.). Z. B. beeinflusst die direkte Kommunikation mit einem Menschen deutlich den Pulsschlag. In geringerem Maße jedoch bei durchtrainierten Menschen. Und bei Lehrern und Krankenschwestern ist die körperliche Befähigung ein besseres Anzeichen für die berufliche Leistung als der Notendurchschnitt. Des weiteren gehen Lehrkräfte mit einem höheren Maß an körperlichem Vermögen öfters auf die Gedanken der Schüler ein als vergleichbare Lehrkräfte mit geringerem Vermögen (vgl. ebd., 169). »Müdigkeit, ungenügende Ernährung und Mangel an körperlicher Betätigung [sind] einer positiven zwischenmenschlichen Beziehung abträglich.« (ebd., 170) Entscheidend ist dabei, dass auch Lehrkräfte mit einer geringeren körperlichen Befähigung kurzzeitig eine konstruktive zwischenmenschliche 179 180

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die Fähigkeit zur Empathie als notwendige Grundkonstante für das Funktionieren einer Gesellschaft. Die Abwesenheit empathischen Verstehens führt, laut seinen Untersuchungen, zu Egoismus, Wettbewerbsorientierung und einem verantwortungslosen, gleichgültigen und unmenschlichen Handeln. Eine solche Atmosphäre beschränkt wiederum das Lernen und die Selbstentfaltung des Menschen. 183 Letztlich muss hervorgehoben werden, dass sich die Methode der Hermeneutik nicht auf ihre Anwendung auf Texte beschränkt, sondern sich leicht auf soziale Kontexte übertragen lässt. Das empathische Verstehen des Anderen in seinem Ausdruck wird dabei zur existentiellen Voraussetzung für Identitätsentwicklung sowie die Anerkennung von Andersheit. Sie wird so zur Grundlage einer jeden Auseinandersetzung über Menschenrechte, weil erst hierdurch die Besonderheiten und Gemeinsamkeiten transparent werden. Als Methode dient sie idealerweise der vorurteilsfreien bzw. -bewussten Begegnung zwischen Kulturen sowie einem vertieften Verstehen von Fremdem und Anderem.

2.3 Fazit: inhaltliche und methodische Ausrichtung des Bildungsmodells 2.3.1 Kernkompetenzen Maria Wasna und Bernd Schäfer schließen aus ihren Analysen, dass emotionale Erregung ohne kognitive Verarbeitung gefährlich werden kann. Umgekehrt legen zahlreiche Analysen nahe, dass emotionale Betroffenheit und ethische Sensibilität Voraussetzungen für kognitive Verarbeitungsprozesse und moralisches Verhalten darstellen. Selbstverständlich reichen affektive Lernzieldimensionen nicht aus, sondern erhalten nur im Zusammenhang mit kognitivem und sozialem Lernen Beziehung entstehen lassen können, dass diese Atmosphäre jedoch – da körperlich anstrengend – nicht lange aufrechterhalten werden kann. Resümierend ergibt sich, dass körperliche Befähigung offenbar die Grundlage bildet, »aus der sich zwischenmenschliche Fähigkeiten entwickeln können, die ihrerseits den Grundstein für die geistige Entfaltung legen. Das ist beileibe keine neue Erkenntnis, sondern lediglich eine erneute Bestätigung von Dingen, die wir an unseren Schulen lange Zeit nicht genügend unterstützt haben« (ebd. 171). 183 C. Rogers, Bildungspolitik, in: C. R. Rogers u. R. Rosenberg, Die Person als Mittelpunkt der Wirklichkeit, Stuttgart 1980, 129 ff.

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Fazit: inhaltliche und methodische Ausrichtung des Bildungsmodells

(hierzu gehört auch das praktische Einüben von Verhalten bzw. das gemeinsame Tätigwerden im Klassenverbund) ihre Wirkung. Insbesondere benötigen Kinder das Gefühl, dass sie durch ihr Verhalten tatsächlich etwas verändern. Nur so werden sie Verantwortung für ihr eigenes Verhalten sowie für das Befinden anderer Menschen übernehmen. Insbesondere haben Rollenübernahme und Empathie dort eine Bedeutung, wo es um das Verstehen komplexer Situationen bzw. die Gesamtlage eines anderen geht. Das Gespräch spielt hier selbstverständlich eine wichtige Rolle. »Eine solche Förderung [des Bewusstseins für Menschenrechte] gelingt nicht ohne Diskussion, die zur Beteiligung ermutigt, einzelne Meinungen respektiert, Meinungsverschiedenheiten zulässt und Strategien der Entscheidungsfindung vermittelt.« 184 Menschenrechtsbildung zielt in letzter Konsequenz auf eine Verhaltensänderung. Bereits Kohlberg deutete an, dass die kognitive Verarbeitung moralischer Probleme noch nicht ein tatsächliches Engagement garantiert. Wichtig ist deshalb insbesondere bei Kindern, dass sie das Gefühl erhalten, kooperativ und autonom Lösungen zu generieren und damit gemeinsam etwas bewirken zu können. Dahinter steht die Idee des Empowerment: »Empowerment is a process through which people and/or communities increase their control of mastery of their own lives and the decisions that affect their lives […]. Empowering education supplies the means by which people deal critically and creatively with reality and moreover how to participate in the transformation of their work.« 185 Es geht darum, dass das Subjekt sich selbst als handlungsfähig erfährt, in Kooperation mit anderen Solidarität entwickelt und dadurch im Rahmen soziokultureller Kollektive an der Gestaltung von Wirklichkeit aktiv teilhat. Der andere wird dabei nicht nur als Widerstand oder Einschränkung meiner Freiheit gesehen, sondern als solidarisch und meine eigenen Ziele unterstützend. Schließlich soll Menschenrechtsbildung als ganzheitliches Lernen, Wissen und Fühlen verstanden werden, d. i. als Interdependenz von Kognitionen, Emotionen und Handlungen. 186 Claudia Lohrenscheit 187 M. Wasna u. B. Schäfer, Emotionale Betroffenheit, a. a. O., 139. C. Leclerc u. G. Meintjes, 2000, 5 ff., zit. nach: C. Lohrenscheit, Das Recht auf Menschenrechtsbildung, a. a. O., 280. 186 Vgl. C. Lohrenscheit, Das Recht auf Menschenrechtsbildung, a. a. O., 280. 187 Ebd., 282. 184 185

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konstatiert in diesem Zusammenhang drei Schlüsselkompetenzen für die adäquate Menschenrechtserziehung: a. Urteilsfähigkeit: als Grundlage der im Dialog und durch Reflexion gefundenen Werte und Prinzipien b. Soziale Kompetenzen: Anerkennung von Gleichheit und Differenz, Pluralität und Diversität, positive und offene Grundeinstellung gegenüber Menschen c. Handlungskompetenz: gewaltfreie Konfliktlösungen, Verantwortung übernehmen, Partizipation und Nutzung von lokalen, nationalen und regionalen Mechanismen zur Einsetzung von Gerechtigkeit. Als Fazit lässt sich daraus konstatieren, dass inzwischen zahlreiche Untersuchungen eine Interdependenz von Vernunft und Gefühl bestätigen. Der Leib gilt dabei als Fundament des Mitgefühls und der vernunftbasierten intersubjektiven Sinnfindung. Und obgleich die gezielte Sinnesförderung in der Pädagogik längst Eingang gefunden hat, 188 wird der Zusammenhang zwischen Ästhetik, moralischer Empfindung und Vernunft in konkreten Menschenrechtsprojekten noch wenig bedacht.

2.3.2 Methodische Konsequenzen: Anwendung primärer philosophischer Methoden zur Vernunfts- und Mitgefühlsförderung innerhalb des Bildungsprojektes Vernunft und Mitgefühl sind an das »Ursensorium« des Körpers rückgebunden. Daraus ergibt sich die Förderung und Sensibilisierung der Sinnestätigkeit als primäre Zielsetzung des Projekts. Methodisch wird hierfür auf die Phänomenologie zurückgegriffen. Als zweite Methode wird die Hermeneutik als Kunst des Verstehens herangezogen, um die Andersheit des Anderen zu erkennen und zugleich das Solidarische jenseits der Unterschiede sichtbar zu machen. Die Dialektik stellt die dritte Methode dar und konzentriert sich auf die Bewusstmachung der Unterschiede in der Lebensweltinterpretation (These-Antithese), welche schließlich in eine synthetische Sichtweise übergehen. Es entsteht die Notwendigkeit für Kompromisse und Kooperationen. Die Logik, als 188 Als einer der ersten Ansätze gelten hier Schillers Briefe zur ästhetischen Erziehung. Vgl. hierzu B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O.

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Fazit: inhaltliche und methodische Ausrichtung des Bildungsmodells

vierte Methode, versucht sowohl das Solidarische als auch die Unterschiede in die Sphäre der Intersubjektivität der Geltungsansprüche zu heben. Das heißt, gegenseitige Geltungsansprüche müssen so lange eingelöst werden, bis der zwanglose Zwang des besseren Arguments als Lösung daraus hervorgeht. Die Spekulation sprengt schließlich die vermeintliche Sicherheit logischer Schlüsse und führt zu Neubeschreibungen des Gegebenen. Sie führt ferner zur Auflösung festgefahrener Gegenpositionen durch kreative Neuschöpfungen. 189 Im Kontext des nun folgenden Bildungsprojektes wird die genaue Bedeutung der jeweiligen Methoden weiter ausgeführt und didaktisch aufgearbeitet.

189 Eine solche Methodenpluralität beruft sich auf den philosophiedidaktischen Ansatz von Ekkehard Martens (vgl. E. Martens, Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts: Philosophieren als elementare Kulturtechnik, a. a. O.).

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3. Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«: die Kultivierung von Vernunft und Mitgefühl im Hinblick auf eine zeitgemäße Menschenrechtsbildung

3.1 Aktuelle Denkansätze, empirische Arbeiten und Methoden des »Philosophierens mit Kindern« Die Idee des »Philosophierens mit Kindern« ist keine gänzlich neue: Beispielsweise setzt bereits Platon mit seinen philosophischen Dialogen bei Jugendlichen an. Und selbst Kant fordert in seinem kleinen Aufsatz Was heißt: sich im Denken orientieren 1 die frühe Förderung der Vernunft. Ziel ist die Befreiung von jeglicher Art der Obrigkeitshörigkeit, welche die Freiheit des Einzelnen zerstören würde. Deshalb sollen bereits Zehnjährige zum selbstständigen Denken angeregt werden, weil nur so die Vernunft zum freiheitskonstituierenden Wegweiser oder Kompass wird. 2 Lyotards Bedenken gilt hingegen dem Auseinanderdriften zwischen maschineller Rationalität und menschlicher Emotionalität im Ausgang des Computerzeitalters. Insbesondere kritisiert er ein strenges Vorgehen nach einem vorgegebenen Curriculum sog. »exakter Wissenschaften«. Stattdessen müssen sich Kinder und Erwachsene gemeinsam den dringendsten philosophischen Fragen stellen oder, wie Lyotard sagt: Man muss »die Kindheit des Denkens geduldig ertragen« 3. Freilich endet Lyotards eigene Einschätzung der Bildungssituation eher pessimistisch. Etwas optimistischer gestalten sich hingegen Walter Benjamins Radiobeiträge der 80er Jahre, mit welchen er Menschen aller Altersgruppen zum philosophischen Denken anregen wollte. Auf der Grundlage seiner Vision einer sinnlichen Vernunft,

I. Kant, Was heißt: Sich im Denken orientieren (1786), in: Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleine Schriften, hg. v. H. Brandt, Hamburg 1999. 2 Vgl. hierzu auch E. Martens, Philosophieren mit Kindern, Stuttgart 1999, 53 ff. 3 J.-F. Lyotard, Der philosophische Gang, in: ders.: Postmoderne für Kinder: Briefe aus den Jahren 1982–1985, Wien 1985, 130, auch zit. in: E. Martens, Philosophieren mit Kindern, a. a. O., 53. 1

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Aktuelle Denkansätze, empirische Arbeiten und Methoden

versuchte er einen Brückenschlag zwischen Emotionalität und Rationalität, Anschauung und Begriff. Adorno bezeichnet Benjamins Vorgehen mit den Worten: Als ob der »[…] Gedanke der Sache auf den Leib [rücke], als wollte er in Tasten, Riechen, Schmecken sich verwandeln.« 4 Selbstverständlich nimmt Benjamin mit dieser Vorgehensweise auf die originäre Erlebnisweise von Kindern Bezug, welche vornehmlich durch die Unmittelbarkeit der Sinne die Welt erfahren und in ihrer existentiellen Bedeutung am eigenen Leib als sinnvoll begreifen lernen. Dies sind nur einige exemplarische »Vorläufer«. Die konkrete Implementierung des Bildungsmodells »Philosophieren mit Kindern« 5 in Schulen zur ethischen, persönlichkeitsbildenden und politischen Erziehung gibt es seit beinahe 40 Jahren in den USA und seit ca. 35 Jahren im deutschen Sprachraum. Seither haben sich aus dieser Grundidee verschiedenste theoretische, methodische und praktische Konzeptionen entwickelt. Allen Ansätzen ist gemein, dass sie die selbstständige und umfassende Denkfähigkeit von Kindern fördern möchten. Hierzu gehören aber nicht nur das kritische, sondern auch das kreative und das mitfühlende Denken. Ein weiteres Anliegen besteht in der Unterstützung der Kinder in ihrer Selbstwertschätzung und autonomen Meinungsbildung. Nicht zuletzt wird das Philosophieren mit Kindern oftmals in unmittelbarem Zusammenhang mit der Unterstützung der Demokratiefähigkeit gesehen. Manche der seither hervorgebrachten Konzeptionen sind bisher nur skizzenhaft entworfen worden, andere stellen hingegen voll ausgereifte Theoriesysteme dar, mit begleitenden Methoden und themenspezifischen Handreichungen. Die ausgereiftesten und weitverbreitets-

T. W. Adorno, Charakteristik Walter Benjamins. In: Th. Prismen, Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1976, 299, auch zit. in: Martens, Philosophieren mit Kindern, a. a. O., 181. 5 Im Folgenden wird ausschließlich der Begriff »Philosophieren mit Kindern« verwendet. Er subsummiert sämtliche Ansätze, welche sich explizit auf philosophische Inhalte, Methoden oder Haltungen berufen, um Kinder in ihrem Denken, Fühlen und/oder Handeln zu unterstützten. Damit wird versucht, den begrifflichen Konfusionen zu entgehen, weil in vielen Ansätzen zum Teil Abgrenzungen versucht werden, die jedoch nicht ganz genau herausgearbeitet werden. Z. B. gibt es die Begriffe »Philosophy for Children«, »Kinder philosophieren«, »Nachdenken mit Kindern« oder auch »Kinderphilosophie«. 4

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

ten Konzeptionen sind Matthew Lipmans Transformierung der Klassengemeinschaft in eine Community of Inquiry, Ekkehard Martens philosophiedidaktischer Ansatz sowie die Methode des Sokratischen Gesprächs von Leonard Nelson und Gustav Heckmann, welches vor allem von Philosophen und Pädagogen in Nordeuropa praktiziert wird. Der folgende Literaturbericht wird zunächst diese drei Ansätze knapp darstellen, um schließlich einen kurzen Überblick über führende WissenschaftlerInnen und PraktikerInnen des Philosophierens mit Kindern zu geben. Selbstverständlich bleibt ein solcher Überblick unvollständig und die Auswahl ist notgedrungen exemplarisch. Sie sagt nichts über die Wichtigkeit einzelner Vertreter aus, sondern möchte vielmehr die Bandbreite an Aktivitäten und Theorieansätze demonstrieren. Im Anschluss daran folgt eine fragmentarische Rekonstruktion politischer Dimensionen bisheriger Theorien, Methoden und Ansätze des Philosophierens mit Kindern weltweit. Die Darstellung ist aus der Metaperspektive und strukturiert die derzeitige Theorielandschaft in spezifische Themenschwerpunkte, wobei auch ideengeschichtliche Epochen bzw. philosophische Richtungen als Ausgangspunkte genommen werden. Grundsätzlich werden die Forschungsarbeiten in Theorieansätze und empirische Arbeiten unterteilt. Ziel ist es, die methodischtheoretische Bandbreite sowie die empirische Nachweisbarkeit des Philosophierens mit Kindern im Hinblick auf Demokratiefähigkeit und Wertebildung nachzuweisen. Eine ähnliche Vorgehensweise wurde auch für den letzten thematischen Überblick über Forschungsarbeiten im Bereich der Förderung von kognitiven und affektiven Fähigkeiten durch das Philosophieren mit Kindern gewählt: In diesem Zusammenhang wird zunächst die gängige Unterscheidung im Philosophieren mit Kindern zwischen kritischem, kreativem und mitfühlendem Denken expliziert. Schließlich werden sowohl inhaltliche als auch empirische Arbeiten exemplarisch vorgestellt.

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Aktuelle Denkansätze, empirische Arbeiten und Methoden

3.1.1 Internationale Institutionen und Ansätze des »Philosophierens mit Kindern« »Perhaps it is a symmetry born of the notion that P4C seeks to find the roots of one’s being and thinks it has found it in childhood, while children seek to discover the core meaning of their being and think to find it by means of philosophy.« (M. Lipman)

a.

Matthew Lipman: Institute for the Advancement of Philosophy for Children (IAPC)

Die Frustrationen und gescheiterten Dialogversuche zwischen Studenten und Universitäten während der Studentenproteste 1968 ließen Lipman, der damals Professor für Philosophie an der Columbia University (USA) war, über die grundsätzliche Lehrsituation an Schulen nachdenken. Insbesondere kritisierte er dabei folgende Punkte: a. Bildung ist lediglich die Vermittlung von Wissen, b. die Rolle des Lehrers bei diesem Vermittlungsprozess ist eine autoritäre und wissende, c. Kinder lernen Informationen, Daten und Quantitäten auswendig, d. in diesem Prozess spielt die eigene Denkaktivität keine Rolle, e. Wissen selbst wird als unbezweifelbar, eindeutig und ›anti-mystisch‹ gesehen und ist zwischen den Teildisziplinen ohne Überschneidungen aufgeteilt. 6 Aus diesen Gründen wollte Lipman den Unterricht an den Schulen von Grund auf reformieren. Insbesondere sollten Wissensfächer durch Denkfächer ergänzt werden, 7 damit Kinder nicht nur über bestimmte Inhalte, sondern allem voran über das Denken selbst nachdenken. Nicht nur das »ordinarily thinking«, sondern allem voran das »reflective thinking« sollte gefördert werden. 8 Der Begriff des »reflexiven Denkens« folgt dabei wesentlichen Kriterien des deweyschen Pragmatismus: a. es handelt es sich um ein Denken, das sich seiner Konsequenzen und Wirkungen bewusst ist, b. es wertet die Folgen höher als die Intention und c. Erkennen ist nicht passiv, sondern aktiv-handelnd. 9 Das heißt, das Subjekt erkennt keine objektive, jenseitige Wirklichkeit, M. Lipman, Thinking in Education, a. a. O., 18. M. Lipman (Hg.), Thinking Children and Education, Iowa 1993, 376. 8 Eine Unterscheidung, mit welcher bereits an dieser Stelle Deweys Einfluss auf Lipmans Konzept deutlich wird (vgl. J. Dewey, How we think, Second revised edition, Lexington 1933). 9 Vgl. J. Dewey, How we think, a. a. O. 6 7

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

Erkennen ist vielmehr die theoretische und praktische Bewältigung von Herausforderungen der Wirklichkeit. Ein so verstandenes Denken wird die sozialen Implikationen seines Erkennens immer mit im Blick behalten. Politische Partizipation ist dann nur mehr der nächste Schritt: Es ist das tätiggewordene Erkennen in und für die Gemeinschaft. »To know the consequences of ideas is to know their meaning, for as Dewey, pragmatist and follower of Peirce, was convinced, their meaning lies in their practical bearings, the effects they have upon our practice and upon the world.« 10 Diese Art des »Denkhandelns« resultiert schließlich in Lipmans »reflexive paradigm«, welches Bildung als Partizipation an einer geleiteten Community of Inquiry versteht, in welcher gegenseitiges Verstehen generiert, »good judgment making« geübt und kreative Lösungen für allgemeine Probleme gefunden werden sollen. Im Gegensatz zu Wissensfächern geht es nicht um das Ansammeln von Information, sondern das Erkennen von Beziehungen zwischen Fächern, Fragen und Problemen. 11 Mit dem Ziel, die Bildung an Schulen von Grund auf zu reformieren, gründete Lipman in den 70er Jahren das Institut for the Adavancment of Philosophy for Children (IAPC) an der Montclair State University. Damit ist die IAPC das älteste und weitverbreitetste Institut seiner Art. Auf der Grundlage von traditionellen philosophischen Themen und Fragestellungen werden seit mehr als vier Jahrzehnten philosophische Geschichten mit begleitenden Unterrichtseinheiten für alle Altersgruppen entwickelt. 12 Die Geschichten für Kinder thematisieren Grundprobleme der Ästhetik, Logik und Ethik und orientieren sich damit an den drei Grundideen Platons, dem Schönen, Wahren und Guten. In diesem Rahmen wurde auch die Gesprächsmethodik der Community of Inquiry (eine demokratisch-philosophische Gesprächsform) entwickelt. Die Leitung der IAPC wurde vor einigen Jahren von Maughn Gregory übernommen, welcher den Einfluss des Pragmatismus auf die Community of Inquiry erforscht und auf diese Weise eine demokratische Gesprächskultur in den Schulen unterstützen möchte. 13 2010 wurden die Aktivitäten der IAPC aufgrund der finanziellen Lage M. Lipman, Thinking in Education, a. a. O., 35. Ebd., 18 f. 12 Beispiele hierfür sind die philosophischen Kinderromane Harry Stottlemeier, Pixie, Elfie und viele mehr. 13 Ich werde seinen Ansatz weiter unten eingehender ausführen. 10 11

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Aktuelle Denkansätze, empirische Arbeiten und Methoden

in der USA stark beschränkt, das Institut musste schließlich aufgelöst werden. b.

Ekkehard Martens und die Aktivitäten der Universität Hamburg

Auf philosophiedidaktischer Ebene kann Ekkehard Martens als einer der zentralen Vordenker gesehen werden. Er hat mit seinem Methodenpluralismus und elementaren Philosophieverständnis das Philosophieren mit Kindern grundsätzlich revolutioniert und stellt damit einen der wichtigsten Ansätze des Philosophierens mit Kindern zur Verfügung. Für Martens ist Philosophieren als Tätigkeit eine Kulturtechnik, d. h. eine elementare Fähigkeit wie Rechnen, Schreiben oder Lesen. 14 Aus den Dialogen Platons extrahiert er fünf grundlegende philosophische Methoden: Phänomenologie, Hermeneutik, Analytik, Dialektik und Spekulation. Er geht dabei nicht von einem Methodenmonismus, sondern einem Methodenpluralismus aus, d. h., alle fünf Methoden können grundsätzlich in einem philosophischen Gespräch auftauchen und für die Exploration einer Frage genutzt werden. 15 Institutionell fungiert Ekkehard Martens in zwei Arbeitsgruppen: Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe »Philosophieren mit Kindern« umfasst Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Disziplinen, die in ihren Fächern jeweils Lehrveranstaltungen zum Philosophieren mit Kindern anbieten. 16 Die Arbeitsgruppe für Philosophiedidaktik und Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen besteht aus Vertretern des Faches Didaktik der Philosophie an der Universität, des Lehrerverbandes, der Schulbehörde und der Lehrerfortbildung in Hamburg. Sie hat zum Ziel, Bildungsprozesse des Philosophierens mit Kindern und Jugendlichen theoretisch, praktisch und institutionell zu untersuchen und zu fördern (u. a. Konzepte, Curricula, Praxismodelle, Unterrichtsmedien, empirische Forschung, Aus- und Fortbildung). Die Arbeitsgruppe entE. Martens, Can Animals Think? The Five most important Methods of Philosophizing with Children, in: B. Weber, Guest Editor for Thinking: The Journal for Philosophy for Children: Special Edition Germany, Vol. 18, Nr. 4, 2008, 32–35. 15 E. Martens, Methoden des Ethik- und Philosophieunterrichts, a. a. O. 16 Vgl. B. Brüning u. B. Weber, Philosophieren mit Kindern in Deutschland, in: ZDPE, 1, 2008; auch abgedruckt im UNESCO-Bericht über das Philosophieren mit Kindern in Deutschland, 2008, 91. 14

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

wickelt das langjährig erprobte fachdidaktische Hamburger Modell eines schüler- und problemorientierten Philosophierens weiter und unterstützt die aktuellen bildungspolitischen Entwicklungen zum Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene. 17 c.

Detlef Horster: das Sokratische Gespräch

Detlef Horster arbeitet an der Universität Hannover. Sein Schwerpunkt umfasst die Bereiche Ethik und Recht sowie zentrale philosophische Fragen der Erziehungswissenschaften. Er ist Leiter des Projektes »Jugend denkt« innerhalb des Vereins Kulturregion Hannover und publizierte zahlreiche Bücher und Artikel im Bereich des Philosophierens mit Kindern. Unter anderem interessiert ihn die Sokratische Methode, die er auch im Bereich der Erwachsenenpädagogik einsetzt. Denn im Gegensatz zur amerikanischen Methode der Community of Inquiry ist in Nordeuropa vielfach das »sokratische Gespräch« verbreitet. 18 Sie wurde ursprünglich von Leonard Nelson und Gustav Heckmann entwickelt und gleicht methodisch moderierten Gruppengesprächen. Der Leiter enthält sich jedweder Meinungsäußerung zum Gesprächsgegenstand und fragt auch nicht manipulativ. Vielmehr wird ausgehend von konkreten Erfahrungen der Gesprächsteilnehmer und in klar definierten Abstraktionsschritten eine Begriffsdefinition, die Lösung einer Frage oder eine Entscheidung gesucht und im Konsens aller getroffen. 19 d.

Weitere internationale Institutionen und Ansätze des Philosophierens mit Kindern

Gareth Matthews war mit Matthew Lipman einer der ersten, welcher sich um einen philosophischen Dialog mit Kindern bemühte. Als Spezialist für altgriechische Philosophie orientiert sich sein Philosophieverständnis vor allem an Sokrates. Ferner erarbeitete Matthews zentrale Ansätze zur Philosophie der Kindheit. Im Einzelnen plädiert er dafür, sich von defizitären Theorieansätzen zu distanzieren, um Kinder Vgl. ebd., 91 f. D. Horster, Philosophieren mit Kindern, Opladen 1992. 19 D. Horster, Das Sokratische Gespräch in der Erwachsenenbildung, Hannover 1986 und ders., Das Sokratische Gespräch in Theorie und Praxis, Opladen 1994. 17 18

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Aktuelle Denkansätze, empirische Arbeiten und Methoden

als gleichberechtigte Gesprächspartner in einem Dialog über Werte und Wahrheiten anzuerkennen. 20 Laurance Splitter war während der 90er Jahre stark an der Integration des Philosophierens mit Kindern in australischen Schulen beteiligt. Seit einigen Jahren ist er Dozent an der Montclair State University (ehem. IAPC) und interessiert sich hauptsächlich für die Förderung des kritischen, kreativen und mitfühlenden Denkens. Auf der Grundlage analytischer Gesprächsmethoden soll eine demokratische Gesprächskultur gefördert werden. 21 David Kennedy gehört ebenfalls der ehemaligen IAPC an und möchte mit Hilfe des Philosophierens mit Kindern demokratische Dialogkompetenzen fördern. Anders als Splitter greift er hierfür jedoch auf poststrukturalistische und hermeneutische Ansätze zurück. 22 Ronald Reed arbeitete in Texas (USA) und erforschte insbesondere den Einfluss des Philosophierens mit Kindern auf den Eltern-Kind Dialog sowie die Zusammenhänge zwischen Demokratiebildung und Philosophieren mit Kindern. 23 In Kanada leitet Michel Sasseville an der Universität Laval die Association Québécoise de Philosophie pour les Enfants (AQPE) und führt zahlreiche empirische Studien durch. Hierzu gehört die Entwicklung von Tests zur Evaluierung der Qualität von philosophischen Dialogen mit Kindern. 24 In Australien existiert, angeregt durch die umfassenden Arbeiten von Philip Cam, das Philosophieren mit Kindern bereits an vielen Schulen. Cam didaktisierte insbesondere die Methodik der Community of Inquiry, rekonstruierte das kritische Denken auf der Grundlage des deweyschen Pragmatismus und wendete es im Unterricht an. 25 In G. Matthews, Philosophy of Childhood, a. a. O. L. Splitter, Listen to them think: Reflections on philosophy, inquiry and dialogue, in: M. Robertson and R. Gerber (Hg.) Children’s Ways of Knowing: Learning through Partnerships, Melbourne: ACER Press, 2001, 112–127, ders., Concepts, communities and the tools of good thinking, in: Inquiry: Critical Thinking Across the Disciplines 19(2), 2000, 11–26. 22 D. Kennedy, The Well of Being: Childhood, Subjectivity, and Education, SUNY Series, Albany 2006. 23 R. Reed, Talking with Children, Denver, Colorado 1983 sowie J. P. Portelli u. R. F. Reed, Children, Philosophy and Democracy, Calgary 1995. 24 M. Sasseville, Presentation d’elements observables dans une communauté de recherché philosophique en action, in: E. Marsal, T. Dobashi u. B. Weber (Hg.), Children Philosophize Worldwide: Theoretical and Practical Concepts, Frankfurt am Main 2009, 47–61. 25 P. Cam, Thinking Together. Philosophical Inquiry for the Classroom, Marrickville 20 21

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

Israel entwickelt Jen Glaser umfangreiche Theorien und Modelle der gerechtigkeitsorientierten und partizipatorischen Demokratieerziehung. 26 Marina Santi ist die Direktorin des Centro Interdisciplinare di Ricerca Educativa sul Pensiero (CIREP) in Padua (Italien) und bemüht sich um eine Implementierung und Fortentwicklung der Methode einer Community of Inquiry. 27 Die niederländischen Autoren Karel van der Leeuw und Pieter Mostert versuchen philosophische Kompetenz durch eine Typologie philosophischer Probleme zu beschreiben. Dieses Bemühen beruht auf der Vorannahme, dass sie philosophische Kompetenz als eine Vermittlungsfunktion zwischen philosophischen Problemen und problemlösenden Fähigkeiten verstehen. 28 In Frankreich arbeiten Michel Tozzi und Oscar Brenifier an philosophiedidaktischen Konzepten für die allgemeine Schule und die Grundschule. 29 Jean-François Goubet arbeitet an der Université d’Arras und forscht über das Philosophieren mit Kindern als Disziplin und organisiert internationale Konferenzen und Veröffentlichungen zu diesem Thema. In Österreich gilt Daniela Camhy als bedeutendste Vertreterin. Philosophiedidaktisch lehnt sich ihr Ansatz stark an das amerikanische Programm der IAPC an. 1985 gründete sie die Österreichische Gesellschaft für Kinderphilosophie. Außerdem ist sie Vorstandsmitglied von »Sophia«, der Europäischen Föderation zur Förderung des Philosophierens mit Kindern. Ihre Aktivität zeichnet sich jedoch nicht nur durch zahlreiche Veröffentlichungen aus, sondern vor allem durch ihre umfassende Tätigkeit als Organisatorin, engagierte Praktikerin und Herausgeberin. 1996. Natürlich gibt es eine Menge weiterer Vereinigungen, welche sich um die Einführung des Philosophierens mit Kindern an australischen Schulen bemühen. Leider können an dieser Stelle nicht sämtliche aufgezählt werden. 26 J. Glaser, Educating for Citizenship and Social Justice, in: E. Marsal, T. Dobashi u. B. Weber (Hg.), Children Philosophize Worldwide: Theoretical and Practical Concepts, a. a. O. 27 M. Santi, Philosophers Go to School. Some Constaints and Shared Remarks, in: E. Marsal, T. Dobashi u. B. Weber (Hg.), Children Philosophize Worldwide: Theoretical and Practical Concepts, a. a. O. 28 Vgl. K. v. d. Leeuw und P. Mostert: Philosophieren lernen. Delft 1988. 29 M. Tozzi, De quelques modèles didactiques de l’apprentissage du philosopher avec les enfants, sowie O. Brenifier, La philosophie à l’ecole primaire, beides in: E. Marsal, T. Dobashi u. B. Weber (Hg.), Children Philosophize Worldwide: Theoretical and Practical Concepts, a. a. O.

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Aktuelle Denkansätze, empirische Arbeiten und Methoden

In der Schweiz ist Eva Zoller als Gründerin der Schweizerischen Dokumentationsstelle für Kinder- und Alltagsphilosophie bekannt für ihre vielfältigen Aktivitäten. Sie stützt sich hauptsächlich auf die Theorien von Matthew Lipman, Gareth Matthews und Barbara Brüning 30 und erweitert diese um den wichtigen Aspekt des sinnlich-kreativen Unterrichts (explizit durch Rollen- und Bewegungsspiele, Malen, Phantasiereisen u. v. m.). 31 Darüber hinaus gibt es weltweit zahlreiche weitere Ansätze und Institutionen in über 45 verschiedenen Ländern. Besonders aktiv sind hier u. a. Hawaii, Mexiko und Brasilien. 32 In Deutschland bemühen sich ebenfalls seit mehreren Jahren verschiedene Personen um eine theoretische Fundierung und praktische Umsetzung. 33 Hierzu gehört u. a. Maria-Anna Bäuml-Roßnagl, welche sich insbesondere um eine Verknüpfung von Kinderphilosophie und Sachunterricht bemüht. Im Mittelpunkt stehen die anthropologische Begründung einer sinnennahen Pädagogik und der konkrete Lebensweltbezug philosophischer Inhalte. 34 Eine eher handlungsorientierte Gesprächstheorie 35 vertreten dagegen Hans-Ludwig Freese und Helmut Schreier. Freeses Schwerpunkt liegt weniger im Bereich der Vermittlung von Denkfähigkeiten, sondern vielmehr in der Entfaltung des kreativen Denkens bzw. der Förderung kindgemäßen Denkens. 36 Auch Schreier will das kreative Denken von Kindern fördern und frühzeitig eine demokratische Gesprächskultur im Sinne John Deweys kultivieren. 37 Eva Marsal und Takara Dobashi sehen das Philosophieren mit Kindern grundsätzlich als Urspiel und Urwissenschaft. Sie setzen sich einerseits mit den Selbstkonzepten von Kindern in einer Community Vgl. E. Zoller, Philosophieren lernen und lehren in der Volksschule, Basel 1987. Vgl. E. Zoller, Zum Umgang mit schwierigen Kinderfragen, Zürich 1991. 32 Eine ausführliche Sammlung aktueller und internationaler Ansätze findet sich in: E. Marsal, T. Dobashi u. B. Weber (Hg.), Children Philosophize Worldwide: Theoretical and Practical Concepts, a. a. O. 33 Für einen aktuellen und umfassenderen Überblick siehe: B. Brüning u. B. Weber, Philosophieren mit Kindern in Deutschland, in: ZDPE, 1, 2008. 34 Vgl. u. a. M.-A. Bäuml-Roßnagl: Leben mit Sinnen und Sinn in der heutigen Erlebniswelt. Wege in eine zeitgerechte pädagogische Soziologie, Regensburg 1990. 35 Vgl. S. Englhart, Modelle und Perspektiven der Kinderphilosophie, Heinsberg 1997. 36 Vgl. H.-L. Freese, Kinder sind Philosophen, Weinheim, Berlin 1989. 37 Vgl. H. Schreier, Über das Philosophieren mit Geschichten für Kinder und Jugendliche, Heinsberg 1993, sowie ders.: Die Zukunft der Umwelterziehung, Hamburg 1994. 30 31

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

of Inquiry auseinander und andererseits mit den Inhalten von Konzepten, welche Kinder in einer solchen Community of Inquiry entwickeln. Die Schwerpunkte dieser Untersuchungen liegen auf dem Grundschulbereich, dem interkulturellen Vergleich und den Gender-Studies. Ein weiterer Forschungsschwerpunkt ist die Bedeutung des Spiels für das Philosophieren mit Kindern. Bei der empirischen Auswertung der Forschungsergebnisse werden sowohl quantitative als auch qualitative Untersuchungsmethoden verwendet. 38 Mechthild Ralla geht es in ihrem betont sinnesgeprägten Ansatz darum, »[w]elche Materialbegegnungen besonders geeignet [sind, um] ›echte‹, also intrinsische Fragen des Kindes hervorzurufen«. Sie verwendet hierfür verschiedenste Materialien wie z. B. Wolle, Papier, Steine oder Holz. Dieser Ansatz ist interessant, weil er eine stark von Kant geprägte Auffassung der Philosophie mit einer eher phänomenologischen Herangehensweise verknüpft, welche »Be-greifen« wortwörtlich versteht. 39

3.1.2 »Philosophieren mit Kindern« in der politischen Bildung Die meisten Modelle des Philosophierens mit Kindern haben das Ziel, die umfassende und eigenständige Denkfähigkeit von Kindern zu unterstützen. Manche Ansätze grenzen ihren Schwerpunkt ein und konzentrieren sich vor allem auf die Identitätsbildung bzw. Demokratieerziehung. Denkleistung und Demokratiefähigkeit werden dabei oftmals in unmittelbarer Abhängigkeit gesehen. Der Unterschied besteht nun darin, dass manche Ansätze Demokratiebildung implizit fördern, wohingegen andere Ansätze diese Förderung explizit anvisieren. Insbesondere in den letzten Jahren beschäftigen sich immer mehr Arbeiten mit dem Zusammenhang zwischen Philosophieren mit Kindern und Demokratieerziehung. Grundsätzlich können hier zwei Argumentationslinien unterschieden werden: Die einen sehen einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen logischem Denken und deVgl. die zahlreichen Artikel u. a. auch über Nietzsche und das Philosophieren mit Kindern sowie verschiedene japanische Ansätze des Philosophierens mit Kindern von Eva Marsal und Takara Dobashi u. a. in: E. Marsal, T. Dobashi u. B. Weber (Hg.), Children Philosophize Worldwide: Theoretical and Practical Concepts, a. a. O. 39 M. Ralla, Be-greifen. Auf dem Weg in philosophische Gespräche, in: Mitteilungen des Fachverbandes Philosophie e. V., 50, 2010, 65–70. 38

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Aktuelle Denkansätze, empirische Arbeiten und Methoden

mokratischer Kultur, die anderen sehen die Community of Inquiry selbst als eine Art der Bürgererziehung, indem dort demokratiefördernde Haltungen, Dispositionen und Tugenden kultiviert werden. 40 Im Einzelnen geht es der ersten Gruppe von Arbeiten um die Förderung der höheren Denkfähigkeiten wie dem kritischen, kreativen und mitfühlenden Denken. Wenn wir Demokratie als Regierungsform verstehen, welche auf höheren deliberativen Denk- und Dialogfähigkeiten beruht, dann müssen wir solche Fähigkeiten bereits in der Schule fördern. In diesem Kontext wird die Community of Inquiry als adäquate Methode gesehen, solche demokratischen Kompetenzen und Werte einzuüben. Dem zweiten Theorieansatz geht es hingegen um die Art der Beziehungsfähigkeit, welche durch eine Community of Inquiry kultiviert wird. Hierzu gehören der Respekt für Andere, aktives Zuhören, Empathie, die Anerkennung pluraler Sichtweisen sowie Gleichheit und Integration aller Teilnehmer. Solche Qualitäten menschlichen Zusammenseins werden als zentral für eine multikulturelle demokratische Gesellschaft gesehen. Damit stellen die beiden Ansätze zwei ganz unterschiedliche Fragen, nämlich: a. Welche Fähigkeiten benötigen wir, um eine demokratische Gesellschaft zu bilden, und b. welche Art der Staatsbürgerschaft soll kultiviert werden? 41 Im Folgenden werden exemplarisch zwei theoretische Ansätze sowie aktuelle empirische Arbeiten vorgestellt. Sie dienen als theoretischer Hintergrund, vor welchem das Bildungsprojekt zur Menschenrechtserziehung konzipiert wird. Fokus der Auswahl theoretischer Arbeiten ist die Rekonstruktion des pragmatischen Gedankenguts. a.

Theoretische Ansätze

Maughn Gregorys Ansatz 42 einer Demokratiebildung durch spezifische Denkschulung basiert auf der Theorie des Pragmatismus. Dieser wurde Vgl. zu dieser Unterscheidung: J. Glaser, Educating for Citizenship and Social Justice, in: E. Marsal, T. Dobashi u. B. Weber (Hg.), Children Philosophize Worldwide: Theoretical and Practical Concepts, a. a. O., 103 ff. 41 Ebd., 103. 42 Es gibt selbstverständlich noch weitere Ansätze, wenngleich nicht viele. Gregorys Ansatz zeichnet sich insbesondere durch seine pragmatisch-philosophietheoretische Fundierung aus, welche auch für das vorliegende Bildungsprojekt ausschlaggebend sein wird. 40

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

zunächst von Charles Peirce, später durch William James, George Herbert Mead und John Dewey, u. a. als ein organisches Modell zur Erklärung von Intelligenz entwickelt. 43 Im Grunde genommen handelt es sich dabei um eine Erweiterung der »pragmatischen Epistemologie«. Der Pragmatismus kritisiert, dass der Behaviorismus wichtige Elemente von Intelligenz ignoriert bzw. übersieht: nämlich die Fähigkeit durch die Interpretation von Zeichen, Hypothesen aufzustellen und zu überprüfen. Lernen bedeutet nicht nur, auf eine bestimmte Art und Weise durch Wiederholung des Stimulus zu reagieren. 44 Vielmehr sind intelligente Wesen in der Lage, aus solchen Erfahrung zu lernen, die ihnen die Konsequenzen ihres Handelns anzeigen. Intelligenz ist deshalb erstens die Fähigkeit, wichtige Erfahrungsinhalte als bedeutsam zu interpretieren, d. h. als Anzeichen für zukünftige Erfahrungsinhalte (z. B. ob etwas Angenehmes oder Unangenehmes passieren wird). Zweitens ist Intelligenz die Fähigkeit, unser Denken, Fühlen und Handeln – auf der Grundlage unserer Erfahrungen – so zu verändern, dass Schaden vermieden wird bzw. um Belohnung zu bekommen. Drittens ist sie die Fähigkeit der Selbstkorrektur: Wir verändern unser Ausgangsverhalten sobald wir merken, dass dieses nicht funktioniert oder schaden wird: »[…] intelligence is the process of constructing hypotheses for action on the basis of a semiotic interpretation of experience, testing our hypotheses in experience, and re-constructing and re-testing them until we hit on a mode of action that successfully avoids harm or achieves benefit.« 45 Vor dem Hintergrund einer solchen pragmatischen Lerntheorie entfaltet Gregory seinen Ansatz zur Demokratiebildung und Werteerziehung. Dabei spielt insbesondere der unmittelbare und praxisfundierte Erfahrungsbegriff bei Dewey eine große Rolle. Innerhalb einer Community of Inquiry, welche bei Gregory bis zu sechs Stufen umfasst, wird die Erfahrung reflektiert und schließlich wieder auf die konkrete Situation angewendet. Erst in der praxisbezogenen Bewährung ergibt sich jedoch die Richtigkeit eines Entschlusses. Eine solche Vorgehensweise ist eine anti-teleologische, weil sie nicht theoretische Vgl. hierzu: M. Gregory, Conflict, Inquiry and Education for Peace, in: S. N. Chattopadhyay (Hg.), World Peace: Problems of Global Understanding and Prospects of Harmony, Calcutta, India, 2004, 11. 44 D. i. durch die klassische bzw. operante Konditionierung. 45 M. Gregory, Conflict, Inquiry and Education for Peace, a. a. O., 11. 43

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Aktuelle Denkansätze, empirische Arbeiten und Methoden

Konzepte zum Ausgang nimmt, sondern die konkrete Erfahrung. Konfliktive Handlungsabläufe werden in die Sphäre des Dialogs gehoben, um hier eine neue und unvorhersehbare Wendung und Weiterentwicklung zu erfahren. »We should resist the temptation to make our conceptions of ideal health, beauty, justice, love, and other kinds of good too powerful: too far-reaching or too final. Concepts, being forms, at once inform the material they mediate for certain uses and deform it for others. As they become totalizing, the possibilities they ignore – the non-conforming details they obscure – become lost opportunities for growth. This is the central contention of pragmatism’s argument to replace teleology with evolution in all fields of inquiry, including value inquiry.« 46 Selbstverständlich führt Gregory die Methode der von Lipman entwickelten Community of Inquiry fort. Darüber hinaus versucht er jedoch mit Hilfe pragmatisch-sprachtheoretischer Analysen den theoretischen Hintergrund von Lipmans Modell weiterzuentwickeln. Jen Glaser geht der Frage nach: »What does it take to develop and sustain just democratic societies […] and what sort of citizenship does this require?« 47 Hiermit zielt sie auf einen vermittelnden Ansatz zwischen der Förderung demokratischer Fähigkeiten und einer beziehungsgeleiteten Bürgererziehung. Auch Glaser geht von einem pragmatischen Demokratie- und Philosophiebegriff aus. Deshalb steht die Förderung solcher Fähigkeiten im Zentrum ihrer Theorie einer gerechten Demokratie, welche Schülern ermöglichen, ihre kooperativ gefundenen Ideen gemeinschaftlich in die Tat umzusetzen und im Handlungsbezug auf ihre Tauglichkeit zu überprüfen. Ein wichtiges Moment übernimmt hier der Begriff der Gemeinschaft. Es geht Glaser nicht um »Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen«, welche wir als Mitglied einer sozialen Gruppe übernehmen, sondern um »group commitments and their manifestations«. 48 Das heißt, dass die Sorge um Gerechtigkeit als Wert und Einsatz dem Sinn der Community of Inquiry inhärent ist. »That is, it is to see our joint commitment to social justice as manifested in activities X, Y, and Z, rather than our commitment to social justice being something that obligates us to X, Y, and Z M. Gregory, Pragmatist Value Inquiry, Contemporary, in: Pragmatism Editions Rodopi, Vol. 3, No. 1, 2006, 107–128. 47 J. Glaser, Educating for Citizenship and Social Justice, a. a. O., 104. 48 Ebd., 109. 46

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

because we are members of a larger society.« 49 Zusätzlich zur Förderung von Partizipation und Deliberation will Glaser die Community of Inquiry als eine Praxis verstanden wissen, welche sich durch gerechtigkeitsstiftende und gemeinschaftliche Aktionen auszeichnet. Oder anders formuliert: Die Community of Inquiry wird selbst zur sozialen Praxis. Dies impliziert konkret die Integration von Dialog und Praxis, der kontextsensible Umgang mit gerechtigkeitsspezifischen Fragen, die Übernahme konkreter Verantwortung (Was soll ich/wir tun?) sowie das Ziel, handlungsbezogene und handlungsrealisierende Lösungen zu finden und zu verwirklichen. 50 Erst in der erfolgreichen Anwendung bewährt sich die gemeinschaftlich gefundene Idee. b. Empirische Forschungen und methodische Ansätze Mit dem zunehmendem Interesse an den politischen Implikationen des Philosophierens mit Kindern steigen auch die Versuche, die Effektivität dieser Methode empirisch zu belegen bzw. spezifische Programme zu entwickeln. Im Rahmen dieser Darstellung kann nicht auf die Einzelheiten dieser vielschichtigen Untersuchungen eingegangen werden. Ziel ist es vielmehr, einen Überblick über die empirischen Forschungsfragen und -inhalte zu geben sowie die Relevanz und Effektivität der Methode für das hier zu entwickelnde Bildungsprojekt zu demonstrieren. Ein umfassendes Pilotprojekt zur Reduktion der Fremdenfeindlichkeit wurde von Daniela Camhy vorgestellt. In der empirisch validierten Studie wird gezeigt, dass das Philosophieren mit Kindern eine signifikante Steigerung von Toleranz und Offenheit gegenüber Ausländern zur Folge hat. 51 Eine sehr umfangreiche Studie liefert auch Susan Gardner. Sie zeigt, dass die regelmäßige Teilnahme an einer Community of Inquiry die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel signifikant verbessert. 52 Palsson, Sigurdardottir und Nelson organisierten ein auf zwei Jahre angelegtes Pilotprojekt. Sie konnten zeigen, dass die Ebd., 109. Ebd., 110. 51 D. Camhy, Kann das Philosophieren mit Kindern eine Strategie gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sein?, in: E. Marsal, T. Dobashi, B. Weber u. F. Lund (Hg.), Ethische Reflexionskompetenz im Grundschulalter. Konzepte des Philosophierens mit Kindern, Frankfurt am Main 2007, 131–144. 52 S. Gardner, Participation in a Community of Inquiry Nourishes Participants’ Per49 50

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Aktuelle Denkansätze, empirische Arbeiten und Methoden

Experimentalgruppe ihr eigenes sowie ihr kulturell-nationales Selbstbewusstsein signifikant verbesserte. Intoleranz gegenüber Ambiguität, Orientierung an äußeren Gütern und Selbstschutz nahmen hingegen ab. 53 Ein aktuelles Experiment wird derzeit von Marie-France Daniel durchgeführt. Das Projekt arbeitet mit Kindergartenkindern im Alter von 2½ bis 4 Jahren in Frankreich und 5-jährigen Kindern in Quebec. Dabei wurde bereits im Jahre 2000 eine Vorstufe des Experiments durchgeführt. Es soll untersucht werden, welchen Effekt das Philosophieren auf die Intensivierung der eigenen Körperwahrnehmung sowie die Vermeidung von Gewalt hat. 54 2003 veröffentlichten Michael Schleifer, Marie-France Daniel, Emmanuelle Peyronnet und Sarah Lecomte die Forschungsergebnisse einer Studie, in welcher der Einfluss philosophischer Gespräche auf moralische Autonomie, Urteilsfähigkeit, Empathie und das Erkennen fremder Gefühle bei Kindergartenkindern untersucht wurde. Eine signifikante Verbesserung konnte in allen vier Bereichen sowohl bei der Kontroll- als auch bei der Experimentalgruppe nachgewiesen werden. Im Bereich der Empathie als auch der Urteilsfähigkeit (mit Blick auf das Erkennen von Gewalttätigkeit) war jedoch die Verbesserung der Experimentalgruppe höher. Bei dem Erkennen von Gefühlen verbesserte sich ein Teil der Experimentalgruppe (der Anteil von Kindern aus sozial schwerer gestellten Familien) signifikant. 55 Dennoch kann im Allgemeinen die Fähigkeit von Kindern, Gefühle anderer zu erkennen, als eher gering gesehen werden. Die Autoren schließen hieraus einen erhöhten Bedarf an Gefühlserziehung. In Deutschland hat sich vor allem Markus Tiedemann methodisch um die Verknüpfung von politischer Bildung und »Philosophieren mit Kindern« bemüht und hier einen wesentlichen Forschungsbeitrag geliefert. 56 spective-Taking Capacity, in: Philosophy for the Children on Top of the World, Akureyri, Island, 1999, 88–104. 53 H. Palsson, B. Sigurdardottir, Y. B. Nelson, Philosophy for Children Really Works!, in: Critical and Creative Thinking, 6 (1), 1998. 54 M.-F. und A.-M. Daniel, Learning to think and to Speak: An Account of an Experiment Involving Children Aged 3 to 5 in France and Quebec, in: Thinking, vol. 15, no. 3, 2000, 17–25. 55 M. Schleifer et al., The Impact of Philosophical Discussions on Moral Autonomy, Judgment, Empathy and the Recognition of Emotion in Five Year Olds, in: Thinking, vol. 16, no. 4, 2003, 4–12. 56 Vgl. z. B. M. Tiedemann, Philosophieren mit Grundschulkindern, in: Die europäische

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

3.1.3 Philosophieren mit Kindern und die Förderung des kritischen, kreativen und mitfühlenden Denkens Matthew Lipman unterscheidet in seinem Ansatz drei Formen des Denkens, welche durch das philosophische Gespräch gefördert werden sollen: das kritische (critical), das kreative (creative) und das mitfühlende (caring) Denken. Allgemein gesprochen umfasst das kritische Denken die gesamten Regeln der Logik und wird im Sinne der Dreiteilung Platons als Annäherung an die Idee der Wahrheit bezeichnet. Das kreative Denken beinhaltet die Ästhetik und fördert das Auffinden und Einschlagen ungewöhnlicher Denkwege, den kreativen Ausdruck sowie den Sinn für die Idee Schönheit. Als dritte Denkweise schlägt Lipman das mitfühlende Denken vor. Es umfasst das Gebiet der Ethik und fördert das Denken vom Standpunkt des Anderen. Die eigenen mentalen Zustände sollen vom Anderen unterschieden werden. Es gilt als Annäherung an die Idee des Guten. Hinter dieser Dreiteilung steht die Einsicht, dass kritisches Denken eben nicht alle Formen des Denkens umfasst und ferner, dass verschiedene Denkmodi als interdependent gesehen werden müssen. 57 a. Kritisches Denken Der Begriff des kritischen Denkens durchzieht seit Jahrzehnten, und unabhängig von der Methode des Philosophierens mit Kindern, die amerikanische Bildungslandschaft. Sowohl Schulkinder als auch Studenten müssen sich mit den Grundprinzipien der Logik auseinandersetzen. Entsprechend liegt eine Bandbreite an Handbüchern für den Unterricht vor. 58 Lipman kritisiert jedoch, dass bei den meisten Definitionsversuchen des kritischen Denkens nur von den Resultaten gespro-

Dimension der Bildung. Projekte und Erfahrungen, Europäische und pädagogische Arbeitshefte. Barcelona 2001 und M. Tiedemann, Erziehung zur Urteilskraft. Mit Kindern über Freiheit, Gerechtigkeit und Verantwortung philosophieren, in: Dagmar Richter (Hg.), Politische Bildung von Anfang an – Grundlagen und Themenfelder für die Grundschule. Bd. 1. Schriftreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, und: Wochenschau Verlag, 2007. 57 M. Lipman, Thinking in Education, a. a. O., 201. 58 Vgl. S. Gardner, Thinking Your Way to Freedom, Philadelphia 2009.

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Aktuelle Denkansätze, empirische Arbeiten und Methoden

chen wird. Der Problematik einer genauen Charakterisierung des Begriffs wird hiermit aus dem Weg gegangen. 59 Für Lipman zeichnet sich kritisches Denken dadurch aus, dass es sich auf Kriterien verlässt, selbst-korrigierend ist und sensibel auf den jeweiligen Kontext einer Situation eingeht. Es wirkt deshalb unterstützend auf die Urteilskraft. 60 Aus dieser Begriffsbestimmung leitet Lipman konkrete Methoden für das Gespräch ab: Schüler sollen dazu angehalten werden, »gute Gründe« für ihre Überzeugungen anzugeben bzw. in den Argumentationen von anderen ausfindig zu machen, sich selbst zu korrigieren, wenn sie ein besseres Argument hören und entsprechend der Situation ihr Urteil zu modifizieren. Das kritische Denken soll jedoch nicht als Methode der »wertfreien« und »objektiven« Urteilsbildung gesehen werden. Denn auch diese Art des Denkens unterliegt Metakriterien, welche strukturbildend sind und deshalb nicht weiter hinterfragt werden können. Zur ersteren Kategorie solcher Metakriterien gehört die Bedingung, dass Argumente kohärent, präzise und konsistent sein müssen. Hinzu kommen die Verlässlichkeit, Stärke und Relevanz von Begründungen. Zur zweiten Kategorie gehören Werte wie wahr, richtig, falsch, gut, schlecht, gerecht, schön o. Ä. 61 Kritisches Denken wird als Hilfsmittel gesehen, eine Fragestellung oder ein Problem besser zu verstehen. Es selbst bietet jedoch keine objektive Methode zur Erlangung von absoluter Wahrheit. Weil für Lipman Wahrheit intersubjektiv konstruiert ist, gilt es als Vorteil, wenn sich möglichst viele an der Wahrheitssuche beteiligen. Mit einer solchen intersubjektiven Wahrheitstheorie bezieht sich Lipman selbstverständlich auf Charles Peirce. Es geht ihm um eine pragmatische Konsensfindung, welche sich erst im praktischen Handlungsbezug bewährt. Das kritische Denken dient deshalb als eine Art Sammelsurium an Techniken, welche die Kohärenz, Präzision und Konsistenz von Argumenten optimiert und die Begründungen so für möglichst viele Menschen nachvollziehbar macht. Die Bereitschaft zur Selbstkorrektur ist eine wesentliche Voraussetzung einer solchen kollaborativen Wahrheitssuche. Methodisch ist Lipman der Überzeugung, dass die Philosophie alle 59 60 61

Vgl. M. Lipman, Thinking in Education, a. a. O., 209. Ebd., 212. Ebd., 201 ff.

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Werkzeuge für das Erlernen des kritischen Denkens bereithält. »It cannot be sufficiently emphasized however, that there is nothing in the practice of critical thinking that does not already exist in some form or other in the practice of philosophy […].« 62 Denn nur die Philosophie stellt sowohl logische als auch epistemologische Kriterien für ein solches Denken zur Verfügung. Hierzu gehören sowohl die Sensitivität für logische Fehlschlüsse 63 als auch die allgemeine Anwendung logischer Prinzipien wie z. B. Syllogismen. Für Lipman gibt es genaue Denkprinzipien, welchen ein gutes Argument gehorcht. Hierzu gehören die Relevanz, Präzision, Angemessenheit sowie Konsistenz. Die verschiedenen Fehlschlüsse lassen sich für Lipman jeweils klar erkennen und dadurch nachweisen, welches Kriterium verletzt wurde. 64 In seiner Bedeutung für die politische Bildung hält Lipman interessanterweise das kritische Denken für weitaus wichtiger für die Förderung der Demokratiefähigkeit denn das mitfühlende Denken. Dabei schlägt Lipman – und in Abhängigkeit zu Platons Staat – eine Analogie zwischen Selbst und Staat vor: »In this sense, we can consider democracy as a regulative idea for the development of the social structure, while reasonableness is a regulative idea for the development of the character structure, either of the individual citizen or of a particular procedure of a society.« 65 Kritik am kritischen Denken Lipman suggeriert mit seinem Modell des kritischen Denkens, dass die Möglichkeit besteht, »richtiges« Denken eindeutig von »falschem« Denken zu unterscheiden. Die Problematik einer solchen vernunftoptimistischen Sichtweise wurde in anderen Veröffentlichungen ausführlich besprochen. 66 Hinter der Erweiterung und Modifikation des kritischen Denkens in Richtung einer kommunikativen Vernunft durch das hier vorliegende Bildungsprojekt steht der Versuch, postmodernen und vernunftkritischen Einwänden zu entgehen und dadurch einen kultursensiblen Anwendungsbezug sicherzustellen. Lipman selbst hat in späteren Jahren eine Erweiterung seines Ansatzes in Ebd., 229. Beispiele solcher Fehlschlüsse sind u. a. ad hominem; post hoc, ergo propter hoc; non sequitur; naturalistischer Fehlschluss etc. 64 Vgl. hierzu die Tabelle in: M. Lipman, Thinking in Education, a. a. O., 236 f. 65 Ebd., 204. 66 Vgl. B. Weber, Zwischen Vernunft und Mitgefühl, a. a. O. 62 63

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Habermas’ Richtung vorgeschlagen, 67 weil er sich der Problematik einer einseitigen Auslegung bewusst war. Bisherige Versuche einer solchen Erweiterung sind jedoch spärlich und setzen sich kaum mit dem Denken von Habermas selbst auseinander. 68 Eine weitere Problematik betrifft den von Martens beklagten »Methodenmonismus« des lipmanschen Modells. Lipman betont die Förderung des logischen Denkens mit Hilfe der analytischen Philosophie und verschließt sich damit einer Reihe weiterer philosophischer Denkmethoden. b.

Kreatives Denken

Lipman selbst sieht das kreative Denken 69 eindeutig der Ästhetik zugeordnet: 70 Der kreative Denker (die kreative Denkerin) verfällt, laut Lipman, immer dann in Agonie, wenn das Denken zu »bequem« wird oder die Probleme sich »in Luft aufgelöst« haben. 71 Denn was ihn/sie treibt, ist der Zweifel und die Auflösung des Konventionellen. Für die Beurteilung kreativen Denkens stellt Lipman verschiedene Kriterien bereit. 72 Hierzu gehören die Originalität und Produktivität des Denkens, indem es eine machbare Lösung vorschlägt. Ferner spielt die Phantasie eine große Rolle: denn sie imaginiert Details eines Lösungsansatzes und erprobt Hypothesen in Gedankenexperimenten. Schließlich konzentriert sich der/die kreative Denker/-in auf das große Ganze anstatt auf die Teile – ähnlich wie wir auch bei der Beurteilung eines Gemäldes uns selten in den einzelnen Darstellungen verlieren, sondern Vgl. hierzu ein persönliches Gespräch mit Matthew Lipman im Sommer 2004, Montclair State University, New Jersey, USA. 68 Vgl. u. a. R. Reed, Critical Theory, Postmodernism and Communicative Rationality, in: J. Portelli u. R. Reed, Children, Philosophy and Democracy, Alberta 1995. Die Autoren berufen sich zwar auf den Namen »Habermas«, aber es wird für die Argumentation lediglich Sekundärliteratur über Habermas herangezogen. Die ungenaue Begrifflichkeit lässt vermuten, dass den Autoren nicht viel Primärliteratur von Habermas zur Verfügung stand. 69 Das kreative Denken wird hier nur am Rande und zum Zwecke der Vollständigkeit behandelt. 70 Dies mag vornehmlich an Lipmans akademischem Werdegang liegen: Kunst, Tanz und Ästhetik waren zunächst die Schwerpunkte seines philosophischen Denkens (u. a. What Happens in Art, New York 1967). 71 Vgl. M. Lipman, Thinking in Education, a. a. O., 254. 72 Ebd., 245 ff. 67

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zuallererst die Gesamtkomposition wahrnehmen. Schließlich handelt es sich um eine Art »expressives Denken«. Zur Explikation bedient sich Lipman hier dem Erfahrungsbegriffs Deweys. Expression speist sich für Lipman aus der Tiefe der Erfahrung und erhält von dort ihre Kraft. Die Erfahrungstiefe ist aber zugleich an den Erfahrungsgehalt selbst rückgebunden. 73 Eine weitere Charakterisierung dieser Art des Denkens ist die »Selbsttranszendenz«. Das kreative Denken versteht sich immer auch als eine Antwort auf alle vorhergehenden Antworten und übersteigt diese zugleich. Darüber hinaus zeichnet es sich durch eine Art Überraschungseffekt aus: Es geschieht unvorhergesehen und leitet sich nicht aus vorherigen Aussagen logisch ab. Zwei weitere Kriterien kreativen Denkens umfassen die Generativität und Maieutik. Ersteres bedeutet, dass kreatives Denken ein ähnliches Denken auch in anderen stimuliert. Der Begriff der Maieutik bedeutet für Lipman die Fähigkeit, das jeweils »Beste« aus anderen hervorzuholen, d. h. andere in ihrem intellektuellen Denken zu inspirieren. Als letztes Charakteristikum führt Lipman den Ideenreichtum auf. Dieser birgt jedoch auch eine Problematik in sich, weil mit den vielen Ideen auch Probleme hervorgerufen werden. In diesem Sinne stellt er zwar ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium dar. 74 Kritik am kreativen Denken Obgleich die Grundidee eines solchen Denkens konzeptionell gut begründet ist, bleibt der Abschluss des Kapitels unbefriedigend: insbesondere, dass trotz der langen Liste an Kriterien diese weder vollständig sind noch ausgeschlossen werden kann, dass sich einzelne Kriterien überschneiden bzw. Über- und Unterarten anderer Kriterien darstellen. Ferner erwägt Lipman, dass auch andere bzw. neue Kriterien für kreatives Denken erfunden werden und damit die Liste frei ergänzt werden könne. 75 Die Darstellung dieser interessanten Grundidee gleicht deshalb eher einer Art Skizze und nicht einer fundierten Theorie. 76 Völlig abwesend in Lipmans Modell bleiben die politischen Implikationen des kreativen Denkens. Eine solche Erweiterung wird im folgenden BilJ. Dewey, Art as Experience, New York 1934. Vgl. M. Lipman, Thinking in Education, a. a. O., 245 ff. 75 Vgl. ebd., 245 ff. 76 Da das kreative Denken nicht im Fokus der vorliegenden Arbeit steht, sehe ich hier von einer eingehenden Kritik ab. 73 74

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dungsmodell vermittels der Begriffe der »Hoffnung« und der »Neuerschaffung« durch die Anbindung an Rorty zumindest angedacht und in das philosophische Diskursmodell konzeptionell einbezogen. c.

Mitfühlendes Denken

Lipman sieht bereits 1978 eine enge Verbindung zwischen Denken und Fühlen: »It is (equally) necessary to insist upon the indissoluble bond between thinking and feeling. […] To separate the affective and cognitive in moral education is treacherous and mistakes the nature of learning.« 77 Die Integration des »caring thinking« in das »Lipman-Modell« ist jedoch neueren Datums und Lipman selbst gibt zu, dass dieses Konzept im Gegensatz zu den beiden anderen Denkmodi weniger ausgereift ist. »I do not feel, however, that I am in a position to offer a definition of caring thinking in the sense that I might contend that the criteria I offered for critical thinking could be combined to form a definition of that aspect of cognition. What I can offer, instead, is an inventory of a number of varieties of caring thinking that I sense to be neither non-overlapping nor exhaustive.« 78 Aufgrund der Relevanz des mitfühlenden Denkens für das Bildungsmodell zur Menschenrechtserziehung werde ich auf seine Entwicklung und Bedeutung näher eingehen. Es wird deshalb im Folgenden zunächst die Grundkonzeption des mitfühlenden Denkens bei Lipman dargestellt und im Anschluss daran die Erweiterungen durch Ann Sharp kurz erläutert. Darauf aufbauend wird die Relevanz für die Menschenrechtsbildung abgeleitet. Schließlich werden einige kritische Punkte angemerkt, welche auf eine begriffliche Präzision drängen. Grundsätzlich sieht Lipman Emotionen als eine Art des Denkens bzw. als Aspekte des Denk- und Urteilsprozesses. Mit einer solchen Definition nimmt er Anleihen bei Martha Nussbaum: »Emotion is a kind of thought. […] One will have to grant that if emotion is not there, neither is that judgment fully there […]. It means that in order to represent certain sorts of truths one must represent emotions. It also means that to communicate certain truths to one’s reader one will have

M. Lipman u. A. M. Sharp (Hg.), Growing up with Philosophy, Philadelphia 1978, 346 f. 78 M. Lipman, Thinking in Education, a. a. O., 264. 77

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to write so as to arouse the reader’s emotions.« 79 Zwar sind nicht alle Arten der Gefühle bereits Urteile, aber dennoch können Gefühle generell auch Urteile sein und damit den Urteilsprozess beeinflussen. Daraus schließt Lipman, dass auch Gefühle kultiviert und gefördert werden müssen. 80 »The educational approach to the teaching of thinking has to include affective thinking, not simply out of deference to some vague allegiance to democratic pluralism, but because underemphasize upon the other varieties simply results in the superficiality of the treatment of the one intellectual variety that is acknowledged.« 81 »To care for something« bedeutet im Englischen Betroffenheit, Fürsorge oder auch Mitgefühl empfinden. Es ist die Voraussetzung dafür, dass überhaupt etwas in unserem Leben Wichtigkeit erhält, denn nur so hinterlassen sinnliche Eindrücke eine Wirkung und motivieren uns, über etwas genauer nachzudenken. 82 Insofern kann es als ebenso starker philosophischer Impuls gesehen werden wie das Staunen. Für Lipman beinhaltet das mitfühlende Denken eine Sensibilität für das Verhältnis zwischen den Teilen und dem Ganzen, d. h. eine Nachdenklichkeit, welche versucht, alle Faktoren in Betracht zu ziehen und gegeneinander abzuwiegen. Als Intention bezieht es immer schon handlungsrelevante Aspekte in sein Denken mit ein, d. h., es zielt auf Anwendung. Lipman geht es um pragmatische Lösungsstrategien innerhalb eines sozialen Kontextes, wo andere fühlende Wesen von den eigenen Handlungskonsequenzen betroffen sind. Mitfühlendes Denken folgt deshalb eher einem normativen denn einem epistemologischen Impetus; es fragt nicht nach dem, was ist, sondern, was sein sollte. Selbstverständlich umfasst das mitfühlende Denken auch die Empathie und den Perspektivenwechsel und damit die Fähigkeit und Voraussetzung in einer »gemeinsamen Welt« zu leben. 83 M. Nussbaum, Emotions as Judgments of Value, in: Yale J. of Criticism 5, no. 2, 1992, 209 f. 80 Selbstverständlich wurde inzwischen die Interaktion zwischen Kognition und Emotion ausführlich durch Arbeiten wie Greenspan, Goleman oder Ciompi nachgewiesen (vgl. den ausführlichen Literaturbericht in B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O.). 81 M. Lipman, Thinking in Education, a. a. O., 266. 82 Selbstverständlich schließt eine solche Interpretation an die Argumentation von Hume an (vgl. D. Hume, A Treatise of Human Nature, New York 2000 (org. 1739/40) sowie ders., An Enquiry Concerning the Principles of Morals, Appendix I, hg. v. Tom Beauchamp, Oxford 2007 (org. 1751). 83 M. Lipman, Thinking in Education, a. a. O., 269. 79

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Lipmans Forderung, den Aspekt des mitfühlenden Denkens weiter auszuarbeiten, 84 wird in den 90er Jahren von Ann Sharp aufgegriffen. In einer Art pädagogisch inspirierter Annäherung versucht Sharp den Begriff des mitfühlenden Denkens entlang der ursprünglichen Klassifizierung bei Lipman weiter auszuformulieren 85 und dabei auf seine erzieherischen Implikationen hinzuweisen. Im Allgemeinen stimmt Sharp mit Lipman überein und sieht Emotionen grundsätzlich als Urteile sowie als wesentliche Motivatoren zur Strukturierung der Wahrnehmung. Damit sind Emotionen für die Beurteilung moralischer Situationen maßgeblich: »Upon seeing a hungry child asking for money on a street, one child is disdainful of the child’s appearance, another finds herself compassionate and a third child is indignant that this situation exists within the context of a wealthy country.« 86 Solche Urteile sind direkt verknüpft mit der Bereitschaft zu handeln. »Rarely does knowledge of moral norms or the capacity for moral reasoning alone motivate children to recognize the existence of a moral problem. […] If one tries to remove the underlying emotion, it is highly questionable whether cognition by itself would even notice the presence of a moral need, much less bring it to consciousness, and act on it.« 87 Als wertschätzendes Denken geht es um den inhaltlichen Austausch über Werte und die Erkenntnis, dass Menschen ihr Leben an bestimmten Werten ausrichten. Es werden jedoch nicht bestimmte Werte inhaltlich vermittelt, sondern umgekehrt gehört die Bewusstwerdung über solche impliziten »Werte« zur Kultivierung eines mitfühlenden Denkens. Die Affektivität dieser Art des Denkens charakterisiert ferner die Fähigkeit, Ungerechtigkeiten aufzuspüren. Sharp argumentiert, dass das Verspüren von Ungerechtigkeit zuallererst emotional ist und erst in einem zweiten Schritt rational begründbar wird. Im erzieherischen Prozess sollen Kinder für solche Gefühle sensibilisiert werden und lernen, darüber zu sprechen. Denn auch in der Kommunikation spielen Affekte eine große Rolle (z. B. der Körpersprache). Kinder sollen deshalb ihre Wahrnehmungsfähigkeit für die vielfältigen AusdrucksforEbd., 264. Vgl. hierzu A. Sharp, Caring Thinking and Education of Emotions, in: E. Marsal, T. Dobashi u. B. Weber (Hg.), Children Philosophize Worldwide: Theoretical and Practical Concepts, a. a. O., 411 ff. 86 Ebd., 415. 87 A. Sharp, Caring Thinking and the Education of the Emotions, a. a. O., 417. 84 85

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men schulen: »It is important that children learn how to discuss all sides of an issue, including the emotional component. They have to develop the patience to take into account all the different perspectives of the group members. Learning how to read faces as well as body language, to listen for as well as listen to tones, inflections, voice variations is all part of developing a sensitivity to what the other is trying to communicate.« 88 Darüber hinaus geht es bei dieser Art des Denkens auch um die Handlungsmotivation; d. h., dass Menschen nicht nur über Ungerechtigkeit nachdenken, sondern auch aktiv tätig werden. Ein rein rationales Klassifizieren einer Tat als ungerecht motiviert noch nicht zur Aktion. 89 Erst ein emotional reflektiertes und bewusstes Erleben einer Tat als ungerecht führt (mit zumindest größerer Wahrscheinlichkeit) zum verantwortungsvollen Eingreifen. Schließlich bewegt sich ein solches Denken nicht nur auf epistemologischer Ebene (Ist-Situation), sondern entwirft gleichzeitig einen Handlungsplan oder -wunsch mit Blick auf das, was sein könnte (Soll-Situation). Es wechselt damit auf eine normative Ebene. Aus diesem Grund möchte Sharp mit ihren philosophischen Geschichten und Handreichungen besonders folgende vier Fähigkeiten fördern: 90 (1) Identify one’s Emotions Durch Geschichten und den gemeinsamen Dialog soll das Bewusstsein für komplizierte emotionale Befindlichkeiten sensibilisiert und das entsprechende Vokabular vermittelt werden. Erst wenn wir über unsere Gefühle sprechen, erhalten sie soziale Realität und gegenseitiges Verständnis wird möglich. (2) Helping Children Ferret out the Underlying Belief of the Emotion Die gezielte Reflexion über Emotionen im philosophischen Kontext ermöglicht Kindern Einsicht zu erlangen in Vorurteile, welche ihren Gefühlen zugrunde liegen.

Ebd., 413. Vgl. hierzu die ausführliche Unterscheidung zwischen reason und sentiment bei Hume (An Enquiry Concerning the Principles of Morals, a. a. O.). 90 Vgl. A. Sharp, Caring Thinking and the Education of the Emotions, a. a. O. 88 89

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(3) Helping Children Identify a Procedure for Justifying their Emotions Durch die gemeinsame Reflexion können emotionale Zustände im allgemeinen Kontext bewertet werden. Gefühle sind nicht per se gut oder schlecht, sondern werden in ihrem jeweiligen Kontext beurteilt. (4) Building on Children’s Curiosity in regard to the Emotional Life Gefühle werden nicht von sich aus als peinlich oder störend bewertet, sondern Kinder sollen neugierig ihr eigenes Gefühlsleben erfahren und in der Gemeinschaft erforschen. Die politischen Dimensionen des mitfühlenden Denkens werden in der Forschungsdisziplin des Philosophierens mit Kindern sehr unterschiedlich gewertet. Im Folgenden werden insbesondere Ann Sharps Ausführungen dargestellt und mit Maughn Gregorys Theorie des mitfühlenden Denkens kontrastiert: Ann Sharp rekonstruiert das mitfühlende Denken um den Begriff der Urteilskraft und zielt hiermit auf das Verstehen vermittels eines empathischen Perspektivenwechsels in kommunikativen Prozessen. Das Problem ist Folgendes: »In the absence of knowing how concrete others would tell their stories of a particular situation, and how they see you with your perspective, your cultural baggage, it is impossible to understand what is good for another individual – much less whole nations […] to give children a public space in which they can educate their own emotions, to give children practice living a form of life that is pluralistic, multi-cultural and democratic, in nature, to become conscious of the philosophical dimension of human experience. All of these answers constitute part of a larger objective, which is to help children to make better judgments when it comes to relating to other people, other religions, other cultures, other states and other nations.« 91 Die Frage ist aber, wie wir von solchen Erfahrungsurteilen zu sogenannten Erkenntnisurteilen gelangen. Denn der Fehler besteht oftmals darin, dass wir versuchen zu erkennen, was für »alle Personen« gut ist. Aber diese Abstraktion vom Konkreten ist unmöglich und verneint die Pluralität

A. Sharp, Let’s Go Visiting: Learning Judgment-Making in a Classroom Community of Inquiry, in: E. Marsal, T. Dobashi u. B. Weber (Hg.), Children Philosophize Worldwide: Theoretical and Practical Concepts, a. a. O., 323.

91

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der Standpunkte. Dies charakterisiert für Sharp den Hauptfehler in interkulturellen Dialogen. 92 Aus diesem Grund integriert Sharp in ihr Konzept die arendtsche Idee des »Go visiting«. Anders als »allgemeine Urteile« sieht Hannah Arendt Urteilen immer als kontextspezifisch. Es ist eine Aktivität, in welcher wir versuchen als Selbst vom Standpunkt des anderen aus zu sehen: d. i. das intentionale Eintauchen in verschiedene Welten von verschiedene Personen, um von dort aus den verschiedenen Versionen einer Geschichte zuzuhören. Arendt selbst sagt: »The more people’s standpoints I have present in my mind while I am pondering a given issue, and the better I can imagine how I would feel and think if I were in their place, the stronger will be my capacity for representative thinking and the more valid my final judgment.« 93 Erst im Rekurs einer solchen Mehrperspektivität, unter welcher der Umstand immer einen intersubjektiv erfahrbaren Erfahrungsgehalt beibehält, können wir uns ein Urteil über einen bestimmten Umstand erlauben. Eine solche Perspektive ist deshalb auch niemals insular möglich, sondern braucht den Dialog mit Anderen in einer Gemeinschaft. »Good informed judging for Arendt is possible only within the limits of some community, because it is in community that dialogue and deliberation take place. To judge well is not to arrive at a universal concept, but rather to achieve a multi-perspective understanding through communal dialogue, distancing, visiting and storytelling – telling oneself the story of the visit, the multi-dimensional perspective that one has entered into, while at the same time remaining oneself and accepting responsibility for the final judgment. […] Good judging for Kant involves abstracting from the contingent situation to think as ›any‹ man. By contrast, Arendt presents good judging as feeling and thinking simultaneously from a plurality of standpoints.« 94 Sharp sieht nun die Community of Inquiry als einen Ort, an welchem Kinder lernen, nicht nur ihren eigenen Standpunkt zu begründen, sondern zuzuhören und vom Standpunkt des anderen (d. i. nicht als ein anderer, sondern als sie selbst) zu sehen. Eine solche Tätigkeit beinhaltet auch Kreativität bzw. die Kultivierung der eigenen Vorstellungskraft. Die Krux liegt selbstverständlich darin, weEbd., 328 ff. H. Arendt, Between Past and Future, Enlarged Ed., New York 1977, 241. 94 A. Sharp, Let’s Go Visiting: Learning Judgment-Making in a Classroom Community of Inquiry, a. a. O., 325. 92 93

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der die Perspektive des Anderen zu assimilieren noch vor seiner Fremdartigkeit zurückzuschrecken. Das Erzählen und Hören von Geschichten sind Praktiken der Weltdeutung, welche dazu führen, eine gemeinsame Welt, d. i. einen öffentlichen Handlungs- und Ideenraum entstehen lassen. Natürlich gehören zu diesen Praktiken auch das Hören und Erzählen von Geschichten und Lebensweisen aus anderen Ländern. Dies trägt zur interkulturellen Anerkennung und Identitätsbildung bei. Die Tätigkeit des Urteilens lässt uns handelnd am öffentlichen Raum teilhaben. Ann Sharp hofft, auf diese Weise eine Art »globales Bewusstsein« zu fördern: »Relational consciousness means knowing and feeling oneself intimately connected with and part of everything that is, and coming to act and relate out of that awareness. It is experiencing oneself not as an atomistic ego, but as a self in relationship to the other.« 95 Kritik am mitfühlenden Denken Maughn Gregory analysiert auf der Grundlage verhaltenstheoretischer Ansätze der Demokratietheorie, ob Fürsorge oder Mitgefühl spezifisch demokratische Tugenden sind. In Bezugnahme auf Carol Gilligan expliziert er sechs Kernaspekte der Fürsorge: »acquaintance, mindfulness, moral imagining, solidarity, tolerance, and self-care«. 96 Er bezieht diese auf zwei grundlegende demokratietheoretische Modelle, nämlich »soziale Nichteinmischung« und »soziale Kooperation«. Gregory kommt zu der Schlussfolgerung, dass insbesondere acquaintance, mindfulness, moral imagining und self-care zur Tugend einer demokratischen Gemeinschaft gehören und Toleranz das demokratische Ideal der gegenseitigen Nichteinmischung begünstigt. Interessanterweise sieht er jedoch Solidarität nicht als demokratisches Ideal, weil es dem Aspekt der Nichteinmischung widerspricht. Weil aber dennoch die meisten Aspekte des mitfühlenden Denkens dem demokratischen Ideal entsprechen, leitet er daraus die Forderung ab, ein solches Denken auch an öffentlichen Schulen zu fördern. »The enculturation of caring and democratic virtues requires that children practise the kind of inquiry in which these ideals are constructed.«97 A. Sharp, Caring Thinking and the Educating of the Emotions, a. a. O., 414. M. Gregory, Care as a Goal of Democratic Education, in: Journal of Moral Education, Vol. 29, No. 4, December, 2000, 2. 97 Ebd. 95 96

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Auf der Grundlage des Gesagten kann eine gewisse Skepsis gegenüber dem Einfluss des mitfühlenden Denkens auf das philosophische Gespräch und die Demokratieerziehung nicht ignoriert werden. Eine solche Skepsis wird von Susan Gardner aufgegriffen. Sie ist eine der wenigen Philosophinnen, welche die Probleme eines mitfühlenden Denkens für die Community of Inquiry expliziert hat. In ihrem Artikel Love thy neighbor argumentiert sie, dass die grundsätzliche Stärke dieser Gesprächskultur in ihrem »unbiased thinking« liegt, d. h., sämtliche Argumente können wertfrei auf ihre logische Konsistenz und Richtigkeit hin geprüft werden. Sie argumentiert, dass das »Philosophische« einer solchen Community gerade in ihrer Wertfreiheit liegt. Wenn aber umgekehrt keine epistemische, sondern eine normative Haltung vorliegt, dann werden Beispiele und Argumentationen auf das hin ausgelegt, was sein sollte, und es geht ein zentraler Aspekt der philosophischen Durchschlagskraft der Methode verloren. Es kann dadurch sogar der Bezug zur »sozialen Realität« abhandenkommen. 98 Deshalb stößt Gardner schließlich auf das Problem, dass ein falsch verstandenes mitfühlendes Denken bereits inhaltlich Werte vorausschickt, welche in einer Community of Inquiry eigentlich ergebnisoffen zur Debatte stehen sollten. Aufgrund dieser mangelnden Abgrenzung bzw. Bestimmung eines solchen Denkens warnt sie davor, dass Lehrkräfte mit der Intention die Klasse betreten könnten, einen bestimmten Wert zu »vermitteln«. Ein solches Vorhaben würde natürlich die Grundintention des philosophischen Prozesses an sich untergraben. Für Sharp ist gegen die Kritik von Gardner einzuwenden, dass mitfühlendes Denken an sich inhaltsoffen konstruiert ist. Es geht nicht um die Vermittlung von Toleranz, Fremdenfreundlichkeit oder Ehrlichkeit. Deshalb ist der Aspekt des »normative thinking« ein Missverständnis. Vielmehr soll es sich ebenso um eine formale »Art des Denkens« hanFolgendes Beispiel wird in einem Aufsatz von Susan Gardner diskutiert: Ein Mitschüler hat sich gegenüber einem anderen Kind rüde verhalten. Die Situation wird in einer Community of Inquiry diskutiert. Noch bevor die Diskussion startet, hat aber die Lehrerin schon entschieden, dass sich Kinder tolerant und verständnisvoll verhalten sollen. Aus diesem Grund werden die Mitschüler gar nicht offen über die Situation diskutieren, weil das Ergebnis des Dialogs bereits feststeht. Im Hintergrund steht vielleicht ein weiterer Konflikt, dass nämlich ein Freund wegen seiner afrikanischen Abstammung gehänselt wurde. Der Kern einer Community of Inquiry ist, dass gerade solche konkreten Dilemmasituationen offen diskutiert werden, d. h., wir haben uns nicht bereits im Vorhinein für einen Wert entschieden (vgl. S. Gardner, Love Thy Neighbor, in: E. Marsal, T. Dobashi u. B. Weber (Hg.), Children Philosophize Worldwide, a. a. O., 421).

98

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deln und bestimmte formale Denkoperationen umfassen, wie dies auch für das kritische Denken gefordert wird. Abschließend soll hinterfragt werden, warum überhaupt von einem »mitfühlendem Denken« gesprochen wird. Der dahinterstehende Einwand ist, dass eine Eingrenzung des Gefühls auf eine »Form des Denkens« zu schwerwiegenden epistemologischen Problemen führt und schließlich eine Dichotomie zwischen Vernunft und Gefühl u. U. begünstigt. Sowohl Lipman als auch Sharp glauben, dass Gefühle (in Anschluss an Nussbaum) wesentlich an der Urteilskraft beteiligt sind und reduzieren diese damit auf einen kognitiven Akt. 99 Die Frage aber bleibt, warum eine solche kognitive Reduktion des Gefühls notwendig ist. Der Grund dieser kognitiven Reduktion liegt vermutlich entweder darin, dass nur »Denken« oder »kognitive Akte« als förderungswürdig gelten oder aber, dass nur kognitive Vorgänge durch das Philosophieren gefördert werden können. In beiden Fällen kann dies auf eine Engführung des Philosophiebegriffs zurückgeführt werden: d. h. insofern Philosophie vorwiegend als Sprachphilosophie gesehen wird. Diese begriffliche Engführung des Gefühlsbegriffs führt schließlich zu einer methodischen Reduktion, weil Gefühle wesentlich als Sprech- und Denkakte gesehen werden. Umgekehrt verlieren Gefühle dort, wo sie mehr als bloße Sprechakte umfassen, die Berechtigung, »noch Philosophie« zu sein. Ferner stehen die inhaltlichen Zielbestimmungen des mitfühlenden Denkens hierzu in einem klaren Kontrast: Denn über den Perspektivenwechsel hinaus zählt Sharp zum mitfühlenden Denken auch die Wahrnehmungsschulung und Sensitivität für emotionale bzw. nonverbale Äußerungen. Diese inhaltlichen Zielbestimmungen des mitfühlenden Denkens sind zwar einleuchtend, es wird aber nicht klar, inwiefern hier philosophische Methoden zum Einsatz kommen bzw. auf welche Weise die Philosophie maßgeblich ist, um diese Fähigkeiten zu fördern. Insbesondere in diesem Fall, wo der Schwerpunkt der philosophischen Methoden vornehmlich auf die Logik zurückgreifen bzw. der Philosophiebegriff sich hauptsächlich an der Sprachphilosophie und dem Pragmatismus orientiert. In der Literatur wird vermutet, dass die Community of Inquiry »irgendwie« solche Prozesse anregt, aber es fehlt eine Begründung, 99

Vgl. M. Lipman, Thinking in Education, a. a. O.

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warum sie das tut und auf welche Weise. Es bleibt deshalb offen, welche Aspekte des mitfühlenden Denkens durch welche philosophischen Methoden gefördert werden. Ziel, Inhalt und Methode einer solchen Förderung bleiben unklar. Ferner werden kritisches und mitfühlendes Denken nicht in Beziehung gesetzt. Zwar finden sich vereinzelte Beispiele, aber es fehlt die Verankerung in einer übergreifenden Theorie, welche beide Denkarten in Beziehung setzt. Dennoch soll das Gesagte nicht so sehr eine Kritik, vielmehr eine Anerkennung und Würdigung darstellen. Das Bildungsmodell sieht sich nicht als »Ersatz«, sondern wesentlich als Weiterentwicklung dieser Gedanken. Das heißt, die konzeptionellen Schwachstellen sollen durch einen erweiterten Philosophiebegriff und Methodenpluralismus ausgeglichen werden. d. Empirische Forschungsarbeiten Über den positiven Einfluss des Philosophierens mit Kindern auf das kritische Denken und die kognitive Entwicklung gibt es umfassende empirische Untersuchungen, welche bis in die späten 70er Jahre zurückreichen. 100 Ich werde hier nur die neuesten Ergebnisse einbeziehen bzw. auf solche Arbeiten eingehen, welche kognitive Fähigkeiten in Relation zu sozialen und affektiven Kompetenzen untersuchen. Studien über den Einfluss auf emotionale und soziale Kompetenzen sind schwieriger ausfindig zu machen; unter anderem auch deshalb, weil nur wenig quantitative Evaluationsmöglichkeiten hierfür bereitliegen. Marie-France Daniel liefert eine qualitative Analyse, auf welche Weise kritische Dialogfähigkeiten auf vier verschiedenen Ebenen (logisch, kreativ, verantwortungsvoll und meta-kognitiv) durch das Philosophieren mit Kindern gefördert werden. Es findet eine Fortentwicklung von einer egozentrischen zu einer relativistischen und schließlich einer intersubjektiven Haltung statt. Die Untersuchung bezieht dabei Daten von drei verschiedenen Kulturen ein. 101 Felix Garcia Moriyon und seine Kollegen haben den Einfluss des Philosophierens mit Kin100 Eine der ersten Evaluationen wurde von Matthew Lipman in den 70er Jahren durchgeführt. U. a. konnten hierbei Verbesserungen im mathematischem Denken und der Lesefähigkeit festgestellt werden (durchgeführt durch den Educational Testing Service, New Jersey (1978), Pomtom Lakes and Newark 1976–78; veröffentlicht in: M. Lipman, Philosophy goes to school, Philadelphia 1988, 219–224). 101 M.-F. Daniel et al., The development of dialogical critical thinking, Montreal 2002.

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Aktuelle Denkansätze, empirische Arbeiten und Methoden

dern an drei Schulen in Madrid untersucht. Interessanterweise belegt die Studie zwar eine Verbesserung allgemeiner kognitiver Fähigkeiten, jedoch weder spezifischer kognitiver Fähigkeiten noch Änderungen in der Persönlichkeit. 102 Tim Sprod wies hingegen eine signifikante Verbesserung im naturwissenschaftlichen Denken nach. 103 Josh Hope entwickelte ein Experiment mit Kindern der fünften und sechsten Klasse und konnte eine signifikante Verbesserung der Lesefähigkeit, des kritischen Denkens und der zwischenmenschlichen Beziehungsfähigkeit nachweisen. Ferner lernten die Kinder die Wichtigkeit intellektueller Freiheit zu schätzen. 104 Auch Maureen McDermott kann eine signifikante Verbesserung der Vernünftigkeit von Kindern der Oberstufe durch die Verwendung des »Harry Stottlemeier«-Romans nachweisen. 105 Ein Projekt von Karin Murris an 18 Schulen in Wales zeigt, dass der gezielte Einsatz von philosophischen Denkweisen nicht nur das Denken und Argumentieren fördert, sondern darüber hinaus auch das Zuhören, den sprachlichen Ausdruck, Methoden der Gesprächsführung sowie das Selbstvertrauen und die Selbstschätzung. 106 Michel Sasseville zeigt in einer Studie an Kindern der dritten bis sechsten Klasse, dass das Philosophieren die Selbstwertschätzung und die logischen Denkfähigkeiten steigert. 107 Ein Artikel von A. Gray Thompson und E. Echeverria macht auf die Steigerung der Denkfähigkeiten und Förderung der demokratischen Einstellung bei Kindern aufmerksam. Das Projekt zielte auf die Demokratieerziehung in Guatemala. 108 102 F. G. Moriyon, R. Colom, S. L. Cerdà, M. Rivas, V. Traver, Valoración de »Filosofía para Niños«: un programa de enseñar a pensar, Psicothema, Vol. 12, no. 2, 2000, 207– 211. 103 T. Sprod, Improving Scientific Reasoning through Philosophy for Children: an Empirical Study, Thinking, vol. 13, no. 2, 1997. 104 Vgl. H. J. Hope, Miller Street and Morton Street, Newark 1975, zit. in: M. Lipman, Philosophy Goes to School, a. a. O. 105 Maureen M. McDermott, The encouragement of »reasonableness« through the practice of philosophy with high school students at risk, Doctor of Education thesis, Faculty of Education, University of Wollongong, 2001. http://ro.uow.edu.au/theses/ 982 (Stand: 19. 04. 2013). 106 K. Murris, Evaluating Teaching Philosophy with Picture Books, Memo graphic report, available on the IAPC webpage. 107 M. Sasseville, Self-esteem, Logical Skills and Philosophy for Children, Thinking, Vol. 11, no 2, 1994. 108 A. Gray Thompson und E. Echeverria, Philosophy for Children: A Vehicle for Promoting Democracy in Guatemala, Analytic Teaching, Vol. 8, 1., 44–52.

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

3.1.4 Desideratum und konzeptionelle Erweiterung für ein Bildungsprojekt zur Menschenrechtsbildung Philosophieren mit Kindern ist eine seit über 40 Jahren praktizierte Methode, welche weltweit angewendet wird und deren Wirksamkeit durch verschiedenste empirische Arbeiten belegt ist. Selbstverständlich haben sich in diesen Jahren unterschiedliche Methoden und Theorieansätze herausgebildet, welche sich jedoch zumeist am amerikanischen Modell einer Community of Inquiry oder der Methode des Sokratischen Gesprächs orientieren. Demokratiebildung wird zumeist im Kontext mit der Förderung des kritischen Denkens thematisiert. Die Förderung von Vernunft und Gefühl liegt dem Ansatz vermittels seiner Fokussierung auf das kritische, kreative und mitfühlende Denken zugrunde. Bei der Charakterisierung des critical thinking geht Lipman pragmatisch vor, indem er exemplarische Äußerungen kritischen Denkens innerhalb philosophischer Gespräche beschreibt. Allerdings fehlt eine Synthetisierung der verschiedenen theoretischen Anknüpfungspunkte. 109 Ganz allgemein setzt sich die Methode des »Philosophierens mit Kindern« wenig mit der interkulturellen Vernunftproblematik auseinander, 110 d. h., kritische Fragen, wie sie u. a. aus neueren postmodernen Strömungen hervorgegangen sind, bleiben weitgehend unbeachtet. Bei der Anwendung der Methode für die politische Bildung entsteht hieraus jedoch ein Problem, weil Kernfragen der politischen Philosophie, wie z. B. das Verhältnis von Werteuniversalismus und Werterelativismus oder Möglichkeiten und Grenzen interkulturellen Verstehens – Themen also, welche gerade für die Menschenrechtsbildung zentral erscheinen –, ignoriert werden. Noch schwieriger verhält es sich mit dem Begriff des caring thinking. Denn obgleich auch hier zahlreiche Unterrichtsmaterialien entwickelt wurden, 111 bleibt der Begriff selbst schemenhaft: Auf theoretischer Ebene gibt es Versuche, das Verhältnis zwischen Vernunft und 109 M. Lipman, Thinking in Education, a. a. O.; Aristoteles, Peirce, Ryle und Wittgenstein bilden die theoretischen Grundpfeiler des critical thinking. Es fehlt jedoch eine Synthese dieser verschiedenen Ansätze. 110 Als Ausnahme erscheint hier das Modell von Martens. 111 Vgl. vor allem die interessanten Unterrichtsmaterialien und Geschichten zur Thematik der Gefühlssensibilisierung und der Kinderrechte von Ann M. Sharp. Erhältlich über die IAPC.

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Aktuelle Denkansätze, empirische Arbeiten und Methoden

Emotionen durch Theorieansätze von Robert Solomon, Amelie Rorty, Martha Nussbaum und auch Hannah Arendt zu harmonisieren. 112 Allerdings stellt sich bei der genaueren Lektüre heraus, dass das Verständnis von Emotionalität und Vernunft von den genannten Autoren selbst je ein anderes ist. Eine Bezugnahme auf alle Philosophen für die Entwicklung einer eindeutigen Definition von caring thinking ist daher nicht sehr aussichtsreich. Die Unklarheit über die eigentliche Definition der Begriffe selbst hat zur Folge, dass das Verhältnis von critical und caring thinking auf dieser Ebene nicht geklärt werden kann. Durch die Bezugnahme auf zwei spezifische Autoren – nämlich Habermas und Rorty – soll eine solche begriffliche Unklarheit innerhalb des hier angestrebten Bildungsprojektes umgangen werden. Es wird deshalb, anstatt von critical und caring thinking, von kommunikativer Vernunft und Mitgefühl gesprochen. Die Zusammenhänge und philosophischen Implikationen beider Modelle wurden in anderen Veröffentlichungen eingehend geklärt. 113 An dieser Stelle sollen nun diese beiden Ansätze – mit spezifischer Erweiterungen des Mitgefühlsbegriffs – didaktisiert werden. Der Vorteil besteht darin, dass sich der Begriff der kommunikativen Vernunft viel stabiler gegenüber Einwänden der Postmoderne verhält. Der Begriff des Mitgefühls wird durch leibphänomenologische Theoreme an den Körper rückgebunden und läuft dadurch nicht Gefahr, auf ein reines Denken reduziert zu werden. Die Engführung des Philosophieverständnisses im amerikanischen Modell führt aber noch zu einer weiteren Schwierigkeit: Es läuft Gefahr als methodenmonistisch klassifiziert zu werden. 114 Zwar beruft sich das Modell in seinem Philosophieverständnis auch auf Dewey, aber methodisch ist das kritische Denken und damit die Sprachphilosophie vorherrschend. Selbstverständlich setzt sich Lipman durch diese Engführung des Philosophiebegriffs verstärkt der Kritik der Postmoderne aus. Aus diesem Grund schließt sich das vorliegende Bildungsmodell an Ekkehard Martens’ Ansatz eines Methodenpluralismus an und versucht diesen für die Menschenrechtsbildung zu didaktisieren. Denn es mangelt sowohl an einer Verbindung des amerikanischen und des deut112 A. M. Sharp, Let’s Go Visiting. The Art of Making better Judgments in the Classroom Community of Inquiry, in: E. Marsal, T. Dobashi u. B. Weber (Hg.), Children Philosophize all around the World, a. a. O. sowie M. Lipman, Thinking in Education, a. a. O. 113 Vgl. B. Weber, Zwischen Vernunft und Mitgefühl; sowie Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O. 114 Vgl. E. Martens, Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts, a. a. O.

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

schen Ansatzes sowie an einer didaktischen Anwendung von Martens’ Methodenpluralismus auf die Menschenrechtsbildung. 115 Die Förderung des Mitgefühls wird dabei methodisch an die Phänomenologie rückgebunden: Sie dient der Kultivierung der Sinne. Im Rückgriff auf die Hermeneutik geht es um eine Synthese der verschiedenen Perspektiven. Die Logik und Dialektik machen ferner auf die Verschiedenheiten aufmerksam und versuchen diese möglichst intersubjektiv verständlich zu machen. Es gilt der zwanglose Zwang des besseren Arguments. Schließlich eröffnet die Spekulation die Möglichkeit für kreative Ideen und Rekonstruktionen von Problemverhältnissen. Auf diese Weise werden Mitgefühl und Vernunft in ihrem Kontinuum vom unmittelbar sinnlichen Wahrnehmen bis hin zum abstrakten Perspektivenwechsel gefördert und an konkrete philosophische Diskussionsweisen rückgebunden. 116 Philosophieren mit Kindern wird jedoch nicht nur als Methode gesehen, sondern zeichnet sich ferner durch den Rückgriff auf adäquate philosophische Inhalte sowie eine philosophische Haltung aus. 117 Thematisch sind hierfür lebensnahe Beispiele der Menschenrechtsverletzungen leitend.

3.2 Theoretisches Fundament des Bildungskonzeptes »Philosophieren mit Kindern« Zielsetzung Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden ein politisches Bildungsmodell entworfen, welches sowohl auf die Idee der kommunikativen Vernunft (Habermas) als auch auf die Idee des Mitgefühls (Rorty) zurückgreift. In einer Zeit der Globalisierung und im Kontext einer frü115 Ein Versuch der konkreten Anwendung im Unterricht findet sich bei E. Marsal, Didactic Implementation of Ekkehard Martens’ Five Finger Model. Example: The Unit »Who am I? Dealing with Capabilities«, in: B. Weber, Guest Editor for Thinking. The Journal for Philosophy for Children: Special Edition Germany Vol. 18, Nr. 4 (2007). 116 Die Idee, Philosophieren als körperliche Tätigkeit zu interpretieren, findet sich im Bereich des Philosophierens mit Kindern u. a. bei Ch. Gefert, Philosophieren als embodiment – Zur Relevanz verkörperten Gebrauchswissens in philosophischen Bildungsprozessen, in: Johannes Rohbeck (Hg.), Anschauliches Denken, Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik, Bd. 6, Dresden 2005, 75–94. 117 E. Martens, Philosophieren mit Kindern, a. a. O., 9 ff.

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Theoretisches Fundament des Bildungskonzeptes »Philosophieren mit Kindern«

hen Menschenrechtsbildung gilt die Vorbereitung auf intersubjektive Wertebildungs- und demokratische Entscheidungsprozesse als regulative Zielidee. Hierbei sollen Kinder und Jugendliche durch lebensnahe Problemsituationen, Geschichten und philosophische Fragestellungen empathisch für unterschiedliche Bedürfnisse in einer wertepluralen Gesellschaft sensibilisiert und auf die Kontingenz eigener Überzeugungen aufmerksam gemacht werden (Rorty). Mithilfe einer Transformation von philosophischen Methoden (Martens) soll eine »herrschaftsfreie Kommunikationssituation« geschaffen werden, in welcher kommunikative Vernunft auf der Grundlage empathischen Verstehens entwickelt wird. Dies soll erreicht werden, indem öffentliche Handlungsräume geschaffen werden (Arendt/Mensch), in denen Kinder und Jugendliche an demokratischen Urteilsprozessen gemeinschaftlich teilhaben und im Sinne einer »liberalen Utopie« (Rorty) an der Generierung von Werten partizipieren dürfen. Die beiden Diskursmodelle von Habermas und Rorty werden auf der Grundlage der Methodik des »Philosophierens mit Kindern« für die demokratische Werteerziehung im Kontext der Menschenrechtsbildung nutzbar gemacht.

3.2.1 Philosophisch-politische Dimensionen der Kindheit »Eine mangelnde Klärung der beiden zentralen Begriffe ›Philosophieren‹ und ›Kinder‹ […] kann zu einer nicht wünschenswerten Praxis führen.« 118

Bevor die genauen Methoden und Inhalte des Projekts expliziert werden, soll eine Klärung der beiden zentralen Begriffe des Modells erfolgen: Kindheit und Philosophieverständnis. a.

Kindsein als politischer »Akt«

Schleiermacher gibt 1828 in einer Pädagogikvorlesung zu bedenken, ob ein Lebensaugenblick als bloßes Mittel zum Zweck verwendet werden dürfe. 119 Denn oftmals wird durch die pädagogische Handlung der geE. Martens, Philosophieren mit Kindern, a. a. O., 25. F. Schleiermacher, Pädagogische Schriften. Bd. 1, hg. v. E. Weniger. Düsseldorf; München 1988, 2. Aufl., 46. 118 119

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

genwärtige Augenblick für einen zukünftigen geopfert. Es wird erklärt, ermahnt und erzogen, um das Kind zum »vernünftigen Menschen« heranzuziehen. Dahinter steckt das Bild des Kindes als »Mängelwesen« oder »unvollkommenen Menschen«, welcher erst durch Erziehung zum »eigentlichen Menschen« wird. In der Kindheitsforschung lassen sich grundsätzlich drei Bilder von Kindheit unterscheiden: Das Preform-Model, das Logical-Model und das Recap-Model. Ersteres sieht das Kind, ähnlich den ChristkindBildern aus der Renaissance, bereits als kleinen Erwachsenen. Es entspricht den vor-pädagogischen Bildern der Indifferenz in der neueren Kindheitsforschung. 120 Es nivelliert den Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen. Ein pädagogisches Eingreifen wird dadurch überflüssig. Es gibt das berechtigte Bedenken, dass gerade das Philosophieren mit Kindern, ebenso wie das Preform-Model, den Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen ignoriert und Kindern dadurch eine Nachdenklichkeit überstülpt, die sie überfordert. Um dieser Gefahr zu entgehen, ist es wichtig, die implizite Haltung gegenüber Kindern zu reflektieren und kritisch zu prüfen, inwiefern die Eigentümlichkeit kindlichen Fragens, Staunens und Zweifelns dabei berücksichtigt wird. Das Logical-Model sieht Kinder als generalisierte Skizze des Menschen. Die Spezialisierung erfolgt mit zunehmendem Alter. Dabei entspricht zwar das Kleinkind bereits einem Lebewesen, besitzt aber noch nicht die spezifisch menschliche Ratio. Erst im Laufe der Jugend reift das Kind zum vollen Menschen heran und bildet seine logische Denkkraft aus. Einer der bekanntesten Vertreter des Recap-Models ist Piaget. Seine Theorie geht davon aus, dass der Mensch sowohl physisch als auch kognitiv während seiner Entwicklung sämtliche Stufen der Menschheitsgeschichte durchläuft. Die stufenspezifischen kognitiven Denkweisen und Weltbilder gelten jedoch als nicht kompatibel. Deshalb kann sich ein Kind, das sich z. B. auf der Stufe eines Primitiven befindet, nicht wirklich mit einem Erwachsenen verständigen. Innerhalb des Recap-Models wird das befremdliche kindliche Verhalten und Fragen als eine Vorform der Vernunft betrachtet. Durch die fortlaufende Entwicklung und Sozialisation wird dieser Mangel schrittweise behoben und die Fremdheit des Kindes an das entwickelte, erwachsene 120 Mit dieser Aufteilung in Indifferenz- und Differenz-Bilder über Kinder beziehe ich mich auf: H. Ulrich, Das Kind in der pädagogischen Kindheitsforschung, in: Pädagogische Rundschau, 54, 2000, 683–701.

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Dasein angeglichen. Sowohl das Logical-Model als auch das Recap-Model können in der neueren Kindheitsforschung als Differenz-Bilder gesehen werden, die im Gegensatz zu den Indifferenz-Bildern pädagogische Maßnahmen notwendig machen. Kinder sollen durch Erziehung an die erwachsene Kultur und ihre Verhaltensweisen angeglichen und ihre Fremdheit überwunden werden. Die Frage ist jedoch: Darf die Generation der Gegenwart, indem sie Kinder nach vorgegebenen Werten und Normen erzieht, den Raum der Zukunft usurpieren? Oder ist der Zustand der Kindheit nicht bereits in sich ein politischer Appell, der uns verbietet auf diesen Raum der Zukunft zuzugreifen? In Auseinandersetzung mit Hannah Arendt soll im Folgenden gezeigt werden, inwiefern der Dialog und die Erziehung von Kindern ontologisch der Sphäre des politischen Handelns angehört und deshalb gerade nicht usurpiert werden darf, weil man Kindern sonst ihrer politischen, d. i. genuin menschlichen, Dimension beraubt. Wurde die Zeit bei Aristoteles als ein unpersönlicher arithmos kineseos bzw. als numerus motus 121 (d. h. als Zahl in Bewegung) begriffen, so wird sie bei Heidegger als Dasein des Menschen bestimmt. Und zwar als sein Sein zum Tode. 122 Doch auch bei Heidegger werden die drei zeitlichen Ekstasen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von mir selbst aus entfaltet. Dadurch bleibt meine Zeit synchron: Meine Zeit und meine Freiheit sind souverän. Arendt teilt in ihrem Buch Vita activa 123 menschliches Tätigsein in drei Formen ein, nämlich das Arbeiten, Herstellen und Handeln. Diese drei Tätigkeiten spielen sich bei Arendt wiederum in unterschiedlichen Zeitformen ab. 124 Diese Zeitformen sind einerseits die natürlich-zyklische und andererseits die linear-menschliche Zeit. Die zyklische Zeit steht für das unterschiedslose Werden und Vergehen in der Natur. Deshalb ereignet sich hierin die Arbeit als unterste Tätigkeit des Menschen. Unter Arbeit versteht Arendt das beständige Produzieren und Konsumieren auf der Ebene des bloßen Überlebens. Die Arbeit bleibt damit der Sphäre des Privaten verhaftet, weil es lediglich um den Erhalt der Ökonomie des Körpers geht. 121 122 123 124

Aristoteles, Physik, 219b2. Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 2001. H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2002. Ebd., 28 ff.

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

Innerhalb dieses steten Wandels kreieren wir jedoch durch die Herstellung von Gegenständen (die mittlere Tätigkeitsform bei Arendt) ein wenig Dauer und Kontinuität. Ein Stuhl, ein Tisch oder gar ein Haus überdauern oft ein Menschenleben. Die Möglichkeit und Aufgabe dieser hergestellten Dingwelt ist es also, dem Menschen inmitten der zyklischen Zeit der Natur und der Arbeit eine beständige physische Heimat zu schaffen. Dank ihrer Existenz werden Kinder immer schon in eine bestehende Welt hineingeboren: in ein Haus, eine Stadt, eine feste Umgebung. Verbunden mit dieser Herstellungswelt ist auch die Kulturwelt, d. i. der traditionelle Umgang mit den Werkzeugen und Alltagsgegenständen. Doch sowohl das Arbeiten als auch das Herstellen gehören beide in den Bereich des Privaten und machen für Arendt nicht das Eigentliche des Menschseins aus. Die höchste Tätigkeit ist das Handeln. Es gehört dem öffentlichen Bereich an und vollzieht sich, im Gegenteil zum Arbeiten und Herstellen, immer in einer Mitwelt, d. h. in einem Gewebe von Worten und Taten. Das Handeln ereignet sich in der linearen Zeit, welche die spezifisch menschliche Zeitform darstellt. Durch die Einmalig- und Unvorhersehbarkeit des Handelns bricht der Mensch aus der zyklischen Zeit der Natur und Tradition aus. Die Möglichkeit des Neuanfangs ist dem Menschen »in die Wiege gelegt« und stellt das Zentrum von Arendts Anthropologie dar: »Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen.« 125 Bar jeder Geschichte ist der erste Schrei ein freier Seinsakt, mit dem sämtliche Möglichkeitsräume mit einem Male vor ihm ausbrechen. Obgleich nun Arendt selbst die Erziehung und all die traditionellen Arbeiten der Frau dem Bereich des Privaten zuordnet, steht die Kindheit durch seine ontologische Wesensbestimmung aus der Privatsphäre heraus: denn in der Kindheit liegt der Neuanfang des Menschen begründet. Oder anders gesagt: Die Geburt eines Menschen in sich ist eine politische Handlung, weil ein Neuanfang in einer bereits bestehenden Welt gewagt wird. Aber nicht nur die Kinderzeugung, sondern auch die Erziehung wird zum potentiell politischen Akt: Wenn Kinder nischenlos an die Vergangenheit angeschlossen werden, versiegt die politische Sprengkraft ihrer Existenz. Der Raum der Zukunft wird von der Vergangen125

Ebd., 215.

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Theoretisches Fundament des Bildungskonzeptes »Philosophieren mit Kindern«

heit usurpiert. Eine Sphäre des Politischen entsteht hingegen, wenn Menschen in eine bestehende Welt geboren werden, die sich für Nischen des Zukünftigen und Neuen offen hält. Insbesondere der letzte Gedanke kann durch die politische Dimension des Verzeihens und Versprechens bei Arendt erweitert werden: In der Begegnung zwischen den Generationen schenken wir Kindern unsere Vergangenheit als Tradition, damit sie in eine bestehende Welt hineingeboren werden. Das »Geschenk«, das Kinder uns bringen, ist wiederum ihre Zeit und ihr Neuanfang, welcher uns von den Fehlern der Vergangenheit entbindet. Dieser Dialog zwischen Neuanfang und Tradition kann auch als hermeneutische Aneignung einer Wirkungsgeschichte bezeichnet werden. 126 Die beiden Weisen der Anbindung und Entbindung lassen sich damit auf die beiden »Heilmittel gegen die Unwiderruflichkeit« des Handelns bei Arendt beziehen: »[das] Heilmittel gegen diese Unwiderruflichkeit – dass man Getanes nicht rückgängig machen kann, obwohl man nicht wusste, und nicht wissen konnte, was man tat – liegt in der menschlichen Fähigkeit, zu verzeihen. Und das Heilmittel gegen Unabsehbarkeit – und damit gegen die chaotische Ungewissheit alles Zukünftigen – liegt in dem Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten.« 127 Nur indem wir den Raum der Zukunft offen halten, entbinden uns Kinder von vergangenen Taten, weil sie in sich einen Neuanfang in der Geschichte darstellen. Die Zeit der Kinder fällt in unsere ein, nimmt etwas, trägt es weiter in einen offenen und unbesetzten Raum der Zukunft. Sie entsprechen damit einem generationalen Vergeben. Zugleich sind Kinder unser Versprechen, unsere Hoffnung, dass es »besser« werden wird und dass es »weiter geht«. Im Gegensatz zu Arendt, für welche die lineare Zeit zwar in den intersubjektiven Bereich des Handelns fällt, jedoch immer meine Zeit bleibt, hinterfragt Emmanuel Lévinas die Begegnung zweier souveräner Zeiten. Dabei geht es um die ethische Dimension, welche sich aus dem Umstand erschließt, dass der andere eine Zukunft hat, d. i. frei ist. Damit richtet Lévinas seinen Blick auf jenen Ort, wo ein Anderer (das 126 Ein Beispiel hierfür sind u. a. solch fatale geschichtliche Begebnisse wie der Holocaust oder die aktuellen Konflikte zwischen israelischen und palästinensischen Regierungsanhängern. Die aktuelle Generation kann sich wegen eigener Verstrickungen nur schwer befreien. Kinder sind hingegen noch offen und können einen Neuanfang wagen, insofern dieser nicht durch die bestehende Generation (z. B. durch Propaganda oder Manipulation) verbaut wird. 127 H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, a. a. O., 301.

133 https://doi.org/10.5771/9783495860625 .

Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

Kind) als Fremder in meine Zeit einbricht. »[D]ie Zukunft ist das, was nicht ergriffen wird, was uns überfällt und sich unser bemächtigt. Die Zukunft, das ist das andere. […] Die Situation des Von-Angesicht-zuAngesicht wäre der eigentliche Vollzug der Zeit; das Übergreifen der Gegenwart auf die Zukunft ist nicht die Tat eines einsamen Subjekts, sondern das intersubjektive Verhältnis.« 128 Dort, wo eine andere Zeit in meine einfällt, entsteht ein Riss: Die fremde Zeit ordnet sich mir nicht unter, sondern seine Freiheit kommt mir in die Quere. 129 Seine Anwesenheit zwingt mich zur Verantwortung vor dem Geschehenen. Sein Blick, meine Sichtbarkeit: Es gibt keinen Ausweg. Ich bin seine Geisel und muss mich stellen. Dieser Blick duldet nicht das einfache Übernehmen meiner Vergangenheit, die mir längst nicht mehr gehört, sondern unterwirft mich dieser Gegenwart, dem Gegenwärtigsein des Anderen, dem ich als Person antworten muss. »Vorladung zur Identität wegen der Antwort der Verantwortung, in der man sich nicht ersetzen lassen kann, ohne schuldig zu werden.« 130 Die Geschichte ist kein Objekt, das wir auf uns nehmen. Die Geschichte ist ein Imperativ für die Zukunft, den jeder in seiner Weise auf sich nimmt. Diese »Diachronie« ereignet sich in jeder Begegnung mit einem anderen Menschen, findet aber seine Erfüllung in der Elternschaft. Denn das Kind ist ein Fremder in besonderem Maße. Lévinas sagt: »Der Sohn, das bin ich, der ich mir selbst fremd bin.« 131 Durch diese Bejahung einer fremden Zeit entsteht ein freies Kind ex nihilo. »Als meine Zukunft und nicht meine Zukunft, als eine Möglichkeit, die mir zukommt, aber auch Möglichkeit des Anderen ist.« 132 Da aber das Kind weder mein Werk noch meine Schöpfung ist, kann meine Beziehung zu ihm weder in Kategorien des Wissens, Könnens oder Habens beschrieben werden. Durch das Erlernen von Kulturtätigkeiten und dem Gebrauch von Gegenständen führen Kinder unser Leben und unsere Subjektivität fort. Die Zukunft des Elternteils ist jedoch nicht die Zukunft des Kindes. Jedes Kind ist ein Bruch mit der Geschichte. Dadurch übernehmen Kinder die Verantwortung, wenn es für uns bereits zu spät ist. E. Lévinas, Die Zeit und der Andere, Hamburg 1989, 48 u. 51. E. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, München 1993, 438. 130 E. Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, München 1998, 311. 131 »[…] il est moi. C’est moi, étranger à soi.« (E. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, a. a. O., 391) 132 Ebd., 392. 128 129

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Kinder übernehmen Geschichte im Sinne einer Erzählung, woher sie kommen, wer sie sind und wohin sie gehen. Aber die aktive Übernahme bricht zugleich mit der ursprünglichen Bedeutung. Geschichte wird diskontinuierlich. Wenn dieser Raum für Neues usurpiert wird, dann gibt es kein Ende der Verstrickungen der Geschichte. »Die Transzendenz ist Zeit und geht zum Anderen. Aber der Andere ist nicht Ziel: Er hält die Bewegung des Begehrens nicht an. Der Andere, den das Begehren begehrt, ist noch Begehren, die Transzendenz transzendiert hin auf den, der transzendiert – dies ist das wahre Abenteuer der Vaterschaft, der Trans-Substantiation; es gestattet, über die bloße Erneuerung des Möglichen in dem unvermeidlichen Alterungsprozess des Subjekts hinauszugehen.« 133 Für den Dialog zwischen Generationen bedeutet das, dass wir in der Begegnung mit Kindern uns einer anderen Zeit, einer fremden Zukunft stellen und zugleich gegenwärtig Antwort stehen müssen für das Vergangene. Sehr oft aber befinden sich Pädagogen nicht in einem horizontalen, sondern in einem vertikalen Dialog mit Kindern. Erwachsene erklären dem Kind die Welt, geben Anweisungen oder stellen Fragen, deren Antworten sie schon zu wissen glauben. 134 Bernhard Waldenfels und Käte Meyer-Drawe beschreiben den Dialog zwischen Pädagogen und Kindern deshalb folgendermaßen: »Die Trennung von Eigenem und Fremdem gelingt um so mehr, je mehr der Diskurs reproduktiv und applikativ bleibt und sich auf die Wiedergabe und Weitergabe eines präfabrizierten Sinnes beschränkt.« 135 Eine solche reproduktive pädagogische Haltung verneint jedoch die politische Dimension des Kindseins. Gerade aus diesem Grund wird der philosophische Dialog als horizontaler 136 Begegnungsmodus vorgeschlagen, welcher Kinder in akEbd., 394. Matthews weist in diesem Zusammenhang auf ein Missverständnis der sokratischen Methode hin: Häufig wird diese Methode so verstanden, als würde man durch Fragen den Zögling auf das »richtige Ergebnis« einer Aufgabe bringen (vgl. dazu Platons Menon Dialog), welches der Pädagoge von vornherein weiß. Dies ist jedoch nur ein verkürztes Verständnis der sokratischen Methode (vgl. hierzu G. Matthews: Vom Nutzen der Perplexität, a. a. O., 11 bzw. orig.: Socratic Perplexity and the Nature of Philosophy, New York 1999). 135 K. Meyer-Drawe u. B. Waldenfels, Das Kind als Fremder, in: Vierteljahresschrift für wiss. Pädagogik, 64, 1988, 275. 136 Lévinas spricht natürlich von einem »umgekehrt vertikalen« Verhältnis, innerhalb welchem das Kind/der Andere vertikal in der Höhe, d. i. über uns, steht. 133 134

135 https://doi.org/10.5771/9783495860625 .

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tiver Weise an die Wirkungsgeschichte anbindet und zugleich durch eine staunende, kritische und hinterfragende Haltung den Raum der Zukunft offen hält: Gerade in der Auseinandersetzung mit philosophischen Fragestellungen gibt es kein vorgefertigtes Kommunikationsmuster oder Denkschema und keinen vorgefertigten Inhalt. Die Rolle des Wissenden bringt keinen Vorteil. Erwachsene liefern sich deshalb in der gemeinsamen Kreation von Sinn und Werten der Fremdheit und Neuheit kindlichen Denkens am meisten aus. Ganz ähnlich wird dies auch von Waldenfels und Meyer-Drawe beschrieben: »Die Trennung von Eigenem und Fremdem gelingt aber um so weniger, je produktiver der Diskurs ist und je mehr er dazu beiträgt, neue Verständnisbedingungen zu schaffen und Maßstäbe zu verändern, anstatt sie bloß anzuwenden.« 137 In einem Gespräch, das beide belangt und in dem Sinn neu kreiert wird, ereignet sich ein Chiasmus zwischen Kind und Erwachsenem. Dies ist jene Nahtstelle, an der sich Gegenwärtiges und Zukünftiges kreuzen. Erwachsene verbinden die Kinder mit der Vergangenheit durch Weitergabe einer Tradition, Kinder entbinden die Erwachsenen von dieser Vergangenheit durch ihren Neuanfang und werfen – metaphorisch gesprochen – »Angeln der Hoffnung« in eine neue Zukunft. Eine solche Konfrontation im philosophischen Gespräch kann verwirrend oder auch verstörend sein. 138 Aber erst in einer solchen Begegnung, in der uns Anderes überrascht und verwirrt, werden Kinder zu gleichwertigen, wenngleich nicht gleichartigen Gesprächspartnern. Hier muss der/die Pädagoge/-in – man bedenke hier die etymologische Bedeutung: griech. paid-agogós, also Führer des Kindes auf seinem Nachhauseweg – seine »Führungsposition« aufgeben und zum vertrauensvollen »Weggefährten«, bzw. gemeinsam mit dem Kind, »PfadFinder« auf einem Weg werden, den beide nicht kennen und nun ein Stück weit gemeinsam beschreiten. Nur eine solche Haltung in der pädagogischen Begegnung aktualisiert die politische Dimension des Kindseins. Kindsein ist nicht nur eine »vorpolitische Stufe des Menschseins«, sondern Voraussetzung dafür, dass überhaupt ein politischer Raum entsteht, d. i. ein Ort des freien Handelns, der Hoffnung und der Zukünftigkeit. Ebd., 275. Matthews selbst beschreibt, wie ihn das philosophische Gespräch über Angst mit Kindern aus dem Ghetto öfters überwältigte (vgl. G. Matthews, Vom Nutzen der Perplexität, a. a. O., 14). 137 138

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b.

Kinder philosophieren – Überforderung oder pädagogische Notwendigkeit?

Lipman geht grundsätzlich davon aus, dass Kindheit genauso zum Menschsein gehört wie alle anderen Phasen des Menschseins. Er sagt: »Moreover, just as the differences between male and female perspectives constitute no insuperable barrier to their being experientially shared, so the differences between child and adult perspectives represent an invitation to the shared experience of human diversity rather than an excuse for intergenerational hostility, repression and guilt.« 139 Selbstverständlich wird oftmals das Argument vorgebracht, Kinder könnten noch gar nicht logisch bzw. abstrakt denken und deshalb sei »Philosophieren mit Kindern« eine vergebliche Mühe. Lipman argumentiert hiergegen, dass ebenso wie es eine Zeit gab, da man Tieren und Kindern keine Schmerzmittel gab, weil man annahm, dass sie Schmerzen nicht wirklich empfinden, heutzutage davon ausgeht, dass Kinder kein logisches Denkvermögen besäßen. 140 Oftmals werden als Beweis die Untersuchungen Piagets angeführt, die auf eine Weise interpretiert werden, dass Kinder erst ab dem 11. Lebensjahr dazu fähig sind, logische Schlussfolgerungen zu verstehen bzw. selbst vorzunehmen. 141 Lipman argumentiert dagegen »[…] all that Piaget can suggest to educators is that they tailor the child’s education to conform to the phases of his logical development. Yet, as I shall contend later in more detail, even this meager advice is either erroneous or subject to erroneous interpretation. It does not allow for acceleration of education in thinking. And it suggests that because the child thinks concretely in a certain sense in his early years that his instruction during this period should likewise be concrete. Methodologically this is highly questionable.« 142 Analog wäre es genauso absurd zu argumentieren, man solle mit kleinen Kindern nicht sprechen, weil sie noch nicht sprechen können. 143 Daher schreibt Lipman weiter: »Children are treated as if they were incapable of philosophical deliberation, therefore they beM. Lipman, Thinking, Children, Education, a. a. O., 143. M. Lipman, A. M. Sharp u. F. S. Oscanyan, Ethical Inquiry, N.J.: IAPC, 1977, 2nd ed., IAPC and UPA, 1985, 408. 141 Selbstverständlich ist dies eine sehr verkürzte Interpretation von Piagets ausführlichen Untersuchungen und sie decken sich mit Piagets eigenem Ansatz nicht wirklich. 142 M. Lipman, Thinking, Children, Education, a. a. O., 376. 143 Ebd., 376. 139 140

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

have as if they were incapable of philosophical deliberation.« 144 Diese Vermutung Lipmans bestätigte sich 1971 nach einem breit angelegten Test. Damals wurde der California Test of Mental Maturity in einer Mittelschichtklasse mit weißer und farbiger Bevölkerung durchgeführt. Nach neun Wochen des Philosophierens mit diesen Kindern (je 2  40 Minuten pro Woche) schnitt die Pilotgruppen signifikant besser (p % 0,1) ab: Sie waren der Kontrollgruppe um einen mentalen Fortschritt von 27 Monaten voraus. Und selbst nach einigen Jahren schnitt die Pilotgruppe immer noch mit derselben Signifikanz besser ab als die Kontrollgruppe. 145 Lipmans Grundhaltung gegenüber Kindern ist deshalb, dass für ihn: a. Kindsein ein Teil des Menschseins ist, b. Kinder grundsätzlich soziale Wesen sind, die in einer demokratisch geordneten Gemeinschaft voneinander lernen, 146 sowie c. sie nicht irrationale und damit in Diskurssituationen minderbemittelte Agenten sind, sondern potentiell rationale, wenngleich förderungsbedürftige Wesen darstellen. Dabei ist er davon überzeugt, dass Kinder zuerst lernen müssen selbstständig zu denken, bevor sie sich aktiv am politischen Geschehen beteiligen. »We have got to learn how to teach children to think for themselves if we are to have a democracy worth having.« 147 c.

Das Kind in der Menschenrechtsbildung

Dies gilt in besonderem Maße für die Menschenrechtserziehung. »Menschenrechte […] bedingen die Selbst- und Mitbestimmung sowie die Mündigkeit der Lernenden, – von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gleichermaßen […]. Sie durchbrechen damit die tradierten Rollenmuster, Hierarchien und Machtstrukturen zwischen Lehrenden und Lernenden, die nicht Objekte pädagogisch-didaktischer Vorgaben, sondern Subjekte ihrer selbstbestimmten Lehr- und Lernprozesse sind.« 148 Das heißt, dass gerade hier ein staatlich-national vorgegeEbd., 378. Vgl. ebd., 381 ff. Selbstverständlich ist eine solche methodische Engführung des Philosophiebegriffs problematisch, denn philosophische Gespräche erschöpfen sich nicht darin, Kindern ein »richtiges Denken« beizubringen. 146 Hierbei bezieht sich Lipman selbstverständlich auf John Dewey, wie ich später eingehend ausführen werde. 147 M. Lipman, Thinking in Education, a. a. O., 35. 148 C. Lohrenscheit, Das Recht auf Menschenrechtsbildung, a. a. O., 40. 144 145

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bener Bildungskanon seine Funktion verliert. Selbstverständlich sind solche Gedanken zunächst schwer vorstellbar, weil Kinder ihre Bildung nicht selbst übernehmen können. Auch hier hilft die Vorstellung des Lernens als ein dialogisch-hermeneutischer Prozess, innerhalb welchem Erwachsene lediglich als »erfahrene Weggefährten« Kinder auf ihren eigenen Denkwegen begleiten; d. h. sowohl an tradierte Vorstellungen heranführen als auch neue Denkwege mit ihnen beschreiten. »Dialogisches Lehren und Lernen bedeutet: kritisches, überprüfendes Denken und Argumentieren, gegenseitiger Respekt, aktive Teilhabe sowie Mitsprache aller am Bildungsprozess Beteiligten. Kommunikation und dialogisch-argumentativer Umgang sind kontinuierliche Praxisprozesse und verstehen sich nicht als statischer Bewusstseinszustand.« 149 Menschenrechtsbildung wird dabei nicht als insulares Bildungsprogramm gesehen, sondern als ein in die Schule integriertes demokratisches Prinzip. Aus diesem Grund bietet sich hier die Methode des Philosophierens mit Kindern an, um eine solche Lernatmosphäre mit Hilfe spezifischer philosophischer Methoden zu fördern. Auf welche Weise dabei von einem »Philosophieren« gesprochen werden kann und warum diese Methode angemessen ist, wird im folgenden Abschnitt dargestellt.

3.2.2 Philosophieren als politische Praxis a.

Philosophiebegriff: Philosophieren als Tätigkeit

Grundsätzlich geht es dem Philosophieren mit Kindern darum, die Demokratie als gesellschaftliche Aufgabe der praktischen Philosophie wiederzubeleben. Philosophieren wird als Kulturtechnik 150 verstanden, in welcher der Prozessgedanke und das Gespräch im Mittelpunkt stehen. Selbstverständlich bietet sich an, das Konzept eines Philosophierens als gesellschaftliche Praxis bei John Dewey als Ausgangspunkt zu nehmen. 151 Daran anschließend wird die Rolle der Philosophie im öffentlichen Raum bei den Neopragmatikern Habermas und Rorty C. Lohrenscheit im Anschluss an die Gedanken von Heitger (1999), a. a. O., 41. Vgl. zu diesem Begriff E. Martens, Methoden des Ethik- und Philosophieunterrichts, a. a. O. 151 John Dewey wird auch im amerikanischen Modell von Lipman als theoretischer Ausgangspunkt genommen. 149 150

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hinterfragt, 152 um abschließend ein kohärentes und praxisbezogenes Philosophieverständnis zu explizieren, welches als Hintergrundfolie des Bildungsprojektes dienen wird. Selbstverständlich ist damit weder die Frage angesprochen, was Philosophie überhaupt sei, noch ihre ausschließliche praktisch-gesellschaftliche Aufgabe definiert. Ziel ist vielmehr, ein themen- und aufgabenbezogenes Philosophieverständnis im hier angestrebten Kontext zu generieren: d. i. einer Menschenrechtsbildung in Abhängigkeit von Mitgefühl und Vernunft. Der Philosophiebegriff bei John Dewey: 153 Philosophieren als praktische Tätigkeit 154 »Mit einem Wort, jene Ausweitung und Stärkung des individuellen Verständnisses und Urteils durch den kumulativen und weitergegebenen intellektuellen Reichtum der Gemeinschaft, welche die auf den Leichtsinn, die Unwissenheit und Voreingenommenheit der Massen gestützte Anklagen der Demokratie entkräften könnten, kann nur in den Beziehungen des persönlichen Verkehrs in der lokalen Gemeinschaft vollbracht werden. Die Verbindungen des Ohres mit dem vitalen und expressiven Denken und Fühlen sind unendlich enger und vielfältiger als die des Auges. Das Gesicht ist ein Zuschauer, das Gehör ist ein Teilnehmer. Die Veröffentlichung bleibt unvollständig und die Öffentlichkeit, die daraus resultiert, ist nur teilweise informiert und geformt, bevor nicht die von ihr gelieferten Bedeutungen von Mund zu Mund gehen. Die freie Erweiterung und Stärkung der beschränkten individuellen intellektuellen Gaben, die aus dem Strömen sozialer Intelligenz folgen kann, kennt keine Grenze, wenn diese mündlich von einem zum anderen in den Kommunikationen der lokalen Gemeinschaft zirkuliert. Das und nur das verleiht der öffentlichen Meinung Realität. Wie Emerson sagte, wir liegen im Schoße einer unermesslichen Intelligenz. Aber 152 Sowohl Habermas als auch Rorty beziehen sich in ihren Überlegungen zum politischen Raum auf den Pragmatismus. Auch aus diesem Grund erscheint der Bezug auf Dewey als philosophietheoretische Ausgangsbasis angebracht. 153 Im Folgenden werde ich aus den ins Deutsche übersetzten Werken von Dewey zitieren, insofern die Übersetzung den Gehalt des Gesagten einwandfrei wiedergibt. An einigen Stellen muss ich jedoch auf das Englische Original zurückgreifen, weil sonst der eigentliche Sinn des Gemeinten verloren geht. 154 Vieles des hier Gesagten über Dewey verdanke ich den Gesprächen mit Maughn Gregory; außerdem liegt folgender Aufsatz von Philip Cam den ausgeführten Gedanken hier zugrunde: Philip Cam, In-Suk Cha (Hg.), Teaching Philosophy for Democracy, Seoul 2000, 158–181. Beiden danke ich an dieser Stelle für alle Anregungen und tiefen Gespräche über Dewey.

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die Intelligenz schläft und ihre Kommunikation ist bruchstückhaft, unvernehmlich und matt, solange sie nicht die lokale Gemeinschaft als ihr Medium besitzt.« 155 (John Dewey, Die Öffentlichkeit und ihre Probleme, a. a. O., 181)

Die Wissenschaft strebt nach Erkenntnis. Die Philosophie hingegen ist das Nachdenken darüber, was das Erkannte für uns bedeutet. 156 Während wissenschaftliche Erkenntnis meist nicht verlangt sein Leben zu ändern, verlangt dies die Philosophie, insofern sie aufrichtig betrieben wird, schon. Oder anders gesagt: »Philosophie ist das seiner selbst bewusst gewordene Denken.« 157 An diesen Gedanken schließt Deweys grundlegende Kritik an: Philosophie neige zu einer Zwei-Welten-Theorie, die eine Trennung zwischen noumenaler und phänomenaler Welt vornimmt. Dabei versucht das reflexive Denken eine ebenso durchdringende Universalität zu erreichen, wie emotionale Überzeugungen dies versuchen. Deshalb fordert Dewey, dass das seiner selbst bewusst gewordene Denken zwischen dem positiven Tatsachenwissen einerseits und den traditionellen Vorstellungen vom Guten andererseits vermittelt. Letztere gehören für Dewey jedoch in den emotionalen Bereich von Phantasien, Wünschen, Hoffnungen, die dem Leben erst einen Sinn geben, wie z. B. persönliche Werte. »When it is acknowledged that under disguise of dealing with ultimate reality, philosophy has been occupied with the precious values embedded in social traditions, that it has sprung from a clash of social ends and from a conflict of inherited institutions with incompatible contemporary tendencies, it will be seen that the task of future philosophy is to clarify men’s ideas as to the social and moral strifes of their own day.« 158 Ähnlich wie Max Weber unterscheidet Dewey damit zwischen einer Art instrumentaler Rationalität und der Wahl letzter Werte. Erstere klärt die Wahl der Mittel, aber nur die Werte können die Richtung und damit den Sinn einer Handlung angeben. Daraus folgt für Dewey, dass das Philosophieren wesentlich eine praktische Tätigkeit darstellt. »[Philosophy is …] an explicit formulation of the problems of the formation of right mental and moral habitudes in respect to the diffi155 156 157 158

J. Dewey, Die Öffentlichkeit und ihre Probleme, Bodenheim 1996, 181. Vgl. M. Suhr, John Dewey zur Einführung, Hamburg 2005, 90. Ebd., 90. J. Dewey, Reconstruction in Philosophy, Boston 1948, 26.

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culties of contemporary social life. [Philosophy becomes a] theory of education in its most general phases [… and the] reconstruction of philosophy, of education, and of social ideals and methods thus go hand in hand.« 159 Ein Stuhl oder ein Werkzeug sind keine rein geistig erkennbaren Wesenheiten, sondern bestimmen sich durch den Handlungszusammenhang, die Erfahrungen und konkreten Bedürfnisse. Sie haben für sich genommen keinen Sinn, sondern der Sinn ergibt sich erst im konkreten Handlungs- und Erfahrungszusammenhang. Diesen Philosophiebegriff leitet Dewey aus seinem Wissenschaftsverständnis ab, denn auch die wissenschaftliche Erkenntnis ist keine statische Angelegenheit, sondern basiert auf dem pragmatischen Prinzip der Erfolgsorientierung oder Praktikabilität: Eine Theorie gilt so lange als »wahr« als sie adäquate Prognosen liefert. Oder anders gesagt: Sie ist innerhalb einer scientific Community of Inquiry die »bislang beste Theorie«. Dies skizziert Dewey mit Hilfe der Metapher des »Rads des Lernens«. Es bewegt sich von der Beobachtung, zur Entdeckung und schließlich der Innovation immer neuer Handlungen, welche sich der verändernden Umwelt je anpassen. 160 Aus diesem Wissenschaftsverständnis leitet Dewey seine Umformung der Philosophie ab: »[…] in the actual course of the development of science, a tremendous change has come about. When the practice of knowledge ceased to be dialectical and became experimental, knowing became preoccupied with changes and the test of knowledge became the ability to bring about certain changes. Knowing, for the experimental sciences, means a certain kind of intelligently conducted doing; it ceases to be contemplative and becomes in a true sense practical. Now this implies that philosophy, unless it is to undergo a complete break with the authorized spirit of science, must also alter its nature. It must assume a practical nature; it must become operative and experimental.« 161 Damit ist Deweys Verständnis des Pragmatismus nicht eine auf Intention, sondern auf Folgen ausgerichtete Philosophie. Das Subjekt erkennt nicht eine objektive, jenseitige Wirklichkeit, sondern Erkennen bedeutet eine theoretische und praktische Bewältigung von He159 J. Dewey, Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik, Braunschweig 1964, 328–331. (Original: Democracy and Education: An Introduction to the Philosophy of Education, New York 1966.) 160 Zum PDCA cycle siehe D. Kolb, Experiential Learning, Englewood Cliffs (N.J.) 1984. 161 J. Dewey, Reconstruction in Philosophy, a. a. O., 121.

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rausforderungen einer handfesten Realität. Eine gelungene Bewältigung bedeutet die Erkenntnis eines Stücks Wirklichkeit. Aus diesem Grund bedeutet Erkennen in eins Handeln. Philosophisches Nachdenken wird damit zu einer Art Erfahrung, einer Reflexion über mentale und moralische Gewohnheiten. Das Ziel ist, dass Menschen intelligenter mit Problemen und Möglichkeiten des sozialen Zusammenlebens umgehen. Solche Reflexionen finden jedoch nicht im abgeschlossenen Raum statt, sondern ereignen sich demokratisch, d. h., sie sind offen und kooperativ, beinhalten gemeinsame Aktivitäten, finden von Angesicht zu Angesicht statt und schenken möglichst allen Sichtweisen Beachtung. »It is of the nature of science not so much to tolerate as to welcome diversity of opinion, while it insists that inquiry brings the evidence of observed facts to bear to affect a consensus of conclusions – and even then to hold the conclusion subject to what is ascertained and made public in further new inquiries. I would not claim that any existing democracy has ever made complete or adequate use of scientific method in deciding upon its policies. But freedom of inquiry, toleration of diverse views, freedom of communication, the distribution of what is found out to every individual as the ultimate intellectual consumer, are involved in the democratic as in the scientific method.« 162 Dies führt zu einem gemeinsamen Bewusstsein bzw. Solidarität, weil sich Menschen in einem gemeinsamen sozialen und gedanklichen Raum bewegen. Aus dem Gesagten ergibt sich Deweys Wahrheitsbegriff: Wahrheit ist keine vorgefundene Seinsweise, sondern bedeutet eine erfolgreiche Problemlösung, welche die Handlungswirklichkeit beeinflusst. Solche »Erkenntnisse« (hier: Problemlösungen) werden so lange als wahr angesehen, bis sich die Umstände ändern und eine neue Lösung gefunden werden muss. Es folgt, dass Wahrheit immer konstruiert ist und nicht unabhängig vom sozialen Gefüge auf seine Entdeckung wartet. Oder anders gesagt: Sie entsteht nicht insular in der Abgeschiedenheit einer einsamen Kammer, sondern ist sozial vermittelt, d. i. intersubjektiv. Umgekehrt ist Wahrheit für Dewey aber auch kein gedanklicher Relativismus, weil ihre Inhalte stets an den erfolgreichen Handlungsmodi rückgebunden bleiben. Wahrheitsfindung wird zur steten Äquilibration des Organismus an äußere Bedingungen und entsteht nur in dieser Beziehung. Aus diesem Grund möchte Dewey die 162

J. Dewey, Freedom and Culture, New York 1963, 102.

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scientific method auch auf Wertebildungsprozesse innerhalb einer demokratischen Gemeinschaft angewendet sehen. Als Konsequenz ergibt sich hieraus, dass Differenz und Pluralität als Zugewinn gelten. 163 Dewey arbeitet nun zwei Kriterien heraus, welche das soziale Leben konstituieren und leitet daraus ab, auf welche Weise Philosophieren zur praktischen und öffentlichen Disziplin avancieren soll: Das erste Kriterium umfasst in welchem Maße Gruppen gemeinsam (nicht individuell) menschlich-existentiell bedeutsamen Interessen Ausdruck verleihen. Das zweite Kriterium betrifft den Grad der freien Kooperation zwischen Gruppen. 164 Optimalerweise führt dies zu einem Maximum an gemeinsamen Interessen und kreativer Freiheit in einer offenen Kommunikationsgemeinschaft. Dewey sagt: »The first signifies not only more numerous and more varied points of common interest, but greater reliance upon the recognition of mutual interests as a factor in social control. The second means not only freer interaction between social groups […] but change in social habit – its continuous readjustment through meeting the new situations produced by varied intercourse. And these two traits are precisely what characterize the democratically constituted society.« 165 Dies schließt an Deweys bekannte These an, dass Demokratie in erster Linie eine Weise des Zusammenlebens und weniger eine Regierungsform darstellt: »Die oberflächliche Erklärung besteht darin, dass eine auf dem allgemeinen Wahlrecht beruhende Regierung nicht erfolgreich sein kann, ohne dass diejenigen, die ihre Regierenden wählen und ihnen gehorchen, erzogen worden sind. […] Aber es gibt eine tiefergehende Erklärung. Die Demokratie ist mehr als eine Regierungsform; sie ist in erster Linie eine Form des Zusammenlebens, der ge-

163 Diese pragmatische Interpretation von Wahrheit wird später von Habermas und Rorty je unterschiedlich aufgearbeitet und führt zu einer diametral entgegengesetzten Aufgabenbestimmung für die Philosophie im öffentlichen Raum. Vgl. den ausführlichen Vergleich zwischen Habermas und Rorty in Kapitel 3 in: B. Weber, Zwischen Vernunft und Mitgefühl, a. a. O. 164 J. Dewey, Democracy and Education, a. a. O., 83. 165 J. Dewey, Democracy and Education, a. a. O., 86 f. (deutsch 129). Das, was von Dewey als die zwei Konstituenten der Gemeinschaft charakterisiert wird, ist verbunden mit dem traditionellen Trio demokratischen Lebens: Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit. Denn nur wenn diese drei Begriffe in der obigen Definition von Gemeinschaft verwurzelt sind, dann haben sie mehr als eine bloß sentimentale, falsche oder destruktive Bedeutung.

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meinsamen und miteinander geteilten Erfahrung.« 166 Der Umgang zwischen Menschen zeichnet sich dadurch aus, dass sie Erfahrungen miteinander teilen. Die Anteilnahme an Erfahrungen wird durch Erziehung erworben, welche sie dazu befähigt, an einem gemeinschaftlichen Leben teilzunehmen. 167 Sie haben Anteil an Zwecken und bilden deshalb eine Gemeinschaft der Interessen. »Die in diesen Kapiteln vertretene Idee der Erziehung lässt sich zusammenfassend bezeichnen als ›beständige Erneuerung der Erfahrung‹, eine Idee, die von denen der ›Vorbereitung für eine ferne Zukunft‹, der ›Entfaltung‹, der ›äußerlichen Formung‹ und der ›Wiederholung der Vergangenheit‹ klar geschieden ist.« 168 Auch hier bleibt der konkrete Handlungsbezug in der Gegenwart für Dewey entscheidend. Demokratie generiert einen gemeinsamen Lebenssinn und führt zum Wachstum und zur Weiterentwicklung einer Gemeinschaft. Hilary Putnam bringt dies auf folgenden Punkt: »In contrast, Dewey’s view is that we don’t know what our interests and views are or what we are capable of until we actually engage in politics. A corollary of this view is that there can be no final answer to the question of how we should live, and therefore we should always leave it open to further discussion and experimentation. That is precisely why we need democracy«. 169 Sinn und Werte entstehen also in diesem gemeinsamen Handlungsbezug eines »mutual exchange« (gegenseitiger Austausch). In einem solchen Gespräch und einer derartigen Auseinandersetzung mit der Geschichte wird ein historisches Selbstverständnis generiert. 170 Aus diesem Gedanken folgt Deweys Forderung der Demokratisierung aller J. Dewey, Democracy and Education, a. a. O., 82 f. (deutsch 120–121). Vgl. J. Dewey, Art as Experience, a. a. O. 168 J. Dewey, Democracy and Education, a. a. O., 72, (deutsch 112 f.). An dieser Stelle überschneiden sich Deweys Demokratieverständnis, sein pädagogischer Ansatz sowie sein Begriff der Erfahrung, so wie er ihn im Zusammenhang mit der Kunst entwickelt hat (vgl. Art as Experience, a. a. O.). Vgl. hierzu auch das Verständnis von Kindheit, wie es für das vorliegende Bildungsprojekt expliziert wurde. 169 H. Putnam, Renewing Philosophy, Cambridge, Mass., 1995, 189. 170 Der Gedanke, dass wir immer schon geschichtliche Wesen sind und in Auseinandersetzung mit dieser Geschichte Sinn neu kreieren bzw. vertiefen, lässt eine Nähe zu Gadamers Idee einer »Wirkungsgeschichte« zu (H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, a. a. O.). D. h., dass Denken und Sprechen je schon auf einen gemeinsamen Handlungszusammenhang bezogen sind und in jenem Bezugsgewebe Handeln stattfindet. Letzterer Gedanke erinnert wiederum an H. Arendt (vgl. H. Arendt, Vita activa, a. a. O., 234). 166 167

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Lebensbereiche sowie der Prozesscharakter solcher demokratischer Dialogformen. 171 Für Dewey zeichnet sich eine Gemeinschaft durch gemeinsame Aktionen und kontinuierliche Kommunikation aus. Die Teilnehmer müssen sich dabei der Konsequenzen ihres Sprechens und Handelns bewusst sein – jedoch nicht im Sinne einer individuellen Bewusstheit, sondern eher einer Art sozialen Gewissens: Das Aufrechterhalten von öffentlich einsichtigen Berichten, das Leiten von öffentlichen Dialogen über allgemeine Interessen, Entwicklung einer Kunst der Übersetzung von komplexer und technischer Information in eine intelligente und allgemein zugängliche Form und diese weit zu verbreiten – das zeichnet für Dewey eine verantwortliche öffentliche und deliberative Praxis aus, um eine informierte Meinung zu bilden und gemeinsames Bewusstsein und Wissen zu fördern. »Assoziierte oder gemeinsame Tätigkeit ist eine Bedingung für die Erzeugung einer Gemeinschaft. Assoziation selbst ist aber physisch und organisch, während das Gemeinschaftsleben moralisch, das heißt emotional, intellektuell, bewusst aufrechterhalten wird.« 172 Die demokratische Öffentlichkeit muss sich sowohl artikulieren können als auch informiert sein. Das ist nur möglich, wenn ein kontinuierlicher, systematischer und frei geleiteter sozialer Dialog stattfindet und die Inhalte flächendeckend an die ganze Gemeinschaft kommuniziert werden. Als Fazit für die Demokratiebildung lässt sich schließen, dass die offene Auseinandersetzung mit Belangen von allgemeinem Interesse, der Dialog und die Kommunikation sowie Kooperation und aktive Partizipation von breit gefassten assoziierten Gruppen wesentlich sind. Aus diesem Grund kritisierte Dewey vor allem die Art und Weise, wie Wissen (vor allem in Schulen und Universitäten) vermittelt wird bzw. wie wir Wissen interpretieren. »That the schools have mostly been given to imparting information ready-made, along with teaching the tools of literacy, cannot be denied. The methods used in acquiring such information are not those which develop skill in inquiry and in test of opinions. On the contrary, they are positively hostile to it. They tend to 171 Vgl. J. Dewey, Erneuerung der Philosophie (a. a. O.) sowie ders., Demokratie und Erziehung (a. a. O.). Im Gegensatz zu einer solchen Demokratie, welche auf Austausch von Erfahrung durch Kommunikation und Wechselseitigkeit von Interessen beruht, steht die Tyrannenherrschaft, welche auf den Prinzipien der Furcht und Isolation beruht. 172 J. Dewey, Die Öffentlichkeit und ihre Probleme, a. a. O., 130 f.

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dull native curiosity, and to load powers of observation and experimentation with such a mass of unrelated material that they do not operate as effectively as they do in many illiterate persons. The problem of the common schools in a democracy has reached only its first stage when they are provided for everybody. Until what shall be taught and how it is taught is settled upon the basis of formation of the scientific attitude, the so called educational work of schools is a dangerously hit-and-miss affair as far as democracy is concerned.« 173 Das Ziel von Bildung ist für Dewey deshalb die Kapazitäten von Bildung weiter auszubauen und weiteres Wachstum zu ermöglichen. Bildung ist niemals abgeschlossen, sondern gleicht einem kontinuierlichen Wachstum und funktioniert nur in einer demokratisch organisierten Gemeinschaft. »Denn diese Darstellung ging davon aus, dass es das Ziel der Erziehung sei, die einzelnen zur Fortführung ihrer Erziehung zu befähigen, dass Zweck und Lohn des Lernens die Fortdauer der Fähigkeit zu wachsen sei. Nun kann dieser Gedanke auf alle Mitglieder einer Gesellschaft nur dort angewandt werden, wo im Verkehr der Menschen untereinander volle Gegenseitigkeit gewährleistet ist, wo für den ständigen Neuaufbau der sozialen Gewohnheiten und Einrichtungen dadurch angemessene Vorsorge getroffen ist, dass von gleichmäßig verteilten Interessen mannigfache Anregungen ausgehen. Darin aber liegt das Wesen einer demokratischen Gesellschaft.« 174 Deshalb fordert Dewey, dass Schulen nicht nur Anstalten des Staates sind, sondern vielmehr »embryonale Orte der Gesellschaft«. 175 Ihr Zweck ist kein sittlich abstrakter, sondern die Schule ist der erste Kreis einer demokratischen Gesellschaft. Die implizite Abhängigkeit der Kultivierung eines Bewusstseins für Menschenrechte von einer praktizierten Demokratie verlangt deshalb nach einer solchen grundlegenden Rekonstruktion des Bildungssystems. Selbstverständlich ist dies eine langfristige, wenngleich nicht unerreichbare Zielidee. Für das vorliegende Bildungsprojekt gilt dennoch, dass die Forderungen Deweys dem grundsätzlichen Bildungsbegriff des Projektes zugrunde liegen und das Philosophieverständnis – im Sinne der Förderung einer demokratischen Kultur – wesentlich bestimmen.

J. Dewey, How we Think, a. a. O., 149–150. J. Dewey, Erziehung und Demokratie, a. a. O., 137 (Original 100). 175 Vgl. dazu Jürgen Oelkers zur Neuausgabe: Dewey in Deutschland – ein Missverständnis, in: J. Dewey, Demokratie und Erziehung, a. a. O., 489. 173 174

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Philosophieren als soziale Praxis bei Jürgen Habermas und Richard Rorty Habermas und Rorty greifen beide auf den Pragmatismus zurück, um sowohl ihre epistemologischen als auch ihre politiktheoretischen Überlegungen zu begründen. Interessanterweise kommen sie dabei auf entgegengesetzte Einschätzungen sowohl für ihre Wahrheitstheorie als auch bezüglich der gesellschaftlichen Rolle der Philosophie. Habermas geht davon aus, dass Wahrheiten nur im Diskurs, d. h. im Austausch und unter Einbeziehung möglichst vieler Perspektiven gefunden werden können. 176 Mit diesem Gedanken schließt er an der Idee einer scientific Community of Inquiry von Charles Peirce an. Der Modus einer solchen Wahrheitstheorie ist die kommunikative Vernunft, an welche alle anderen Arten der Vernunft rückgebunden bleiben. Hieraus folgt, dass kommunikative Vernunft sich niemals privat und unter Ausschluss der Öffentlichkeit ereignet, sondern ausschließlich in der Öffentlichkeit: im intersubjektiven Kommunikationsraum und vermittels eines kontinuierlichen Rollentausches. Die in einer solchen idealen Diskurssituation gefundenen Regelungen gelten solange als »wahr« als sie sich im konkreten Handeln bewähren. Eine Annäherung an Wahrheit ist möglich, insofern Diskurse an gegenseitige Lernprozesse im konkreten Handeln rückgebunden bleiben. Damit gleicht die diskursive Wahrheitsfindung einer steten Äquilibration. Aus dieser Wahrheitstheorie folgt, dass Philosophie zur gesellschaftlichen Praxis avanciert, weil nur im öffentlichen Diskurs eine kommunikative Vernunft generiert und hierdurch die Geltungsansprüche von Aussagen überprüft werden können. Das Philosophieren im Privaten wäre hingegen einzig im Sinne einer Vorleistung möglich. Umgekehrt ist für Habermas die Philosophie allein deshalb von Wert, weil sie etwas zum öffentlichen Diskurs beizutragen hat bzw. auf solche Umstände hinweist, welche eine unverzerrte Kommunikation verhindern. 177 Die Philosophie übernimmt dabei eine übergreifende Funktion, indem sie auf epistemische Bedingungen hinweist. Insgesamt hat sie deshalb einen 176 Selbstverständlich schwächt er später seine radikale Diskurstheorie der Wahrheit wieder ab. Ihre Geltung für den sozial-politischen Bereich bleibt jedoch bestehen (vgl. J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, a. a. O.). 177 Rorty konstatiert deshalb in »Wahrheit und Fortschritt«: »Der Grund (für meine Auseinandersetzung mit Habermas) liegt darin, dass ich Autoren wie Heidegger und Nietzsche als gute private Philosophen interpretiere, während sie von Habermas als schlechte öffentliche Philosophen gedeutet werden« (WuF 448).

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nur öffentlichen, jedoch keinen privaten Nutzen. 178 Philosophieren lässt sich (insofern es sich über den Begriff der kommunikativen Vernunft bestimmen lässt) als die Fähigkeit bezeichnen, an solchen öffentlichen Diskursen teilzunehmen und zu ihrem Erfolg beizutragen. Diskurs- und Argumentationsfähigkeit sind die Voraussetzung für einen solchen politischen und öffentlichen Wahrheitsfindungsprozess. Hieraus leitet sich eine implizite Notwendigkeit für eine frühe Förderung der Diskursfähigkeit, d. i. der kommunikativen Vernunft, ab. Die Unstimmigkeiten mit Rorty resultieren aus einem komplett verschiedenen Wahrheitsbegriff. 179 Für Rorty hat die Wahrheit, nach welcher die Philosophie strebt, sehr wenig mit der menschlichen Realität und ihren Problemen zu tun. Sie ist etwas vom Menschen unabhängig Seiendes und Statisches. Dennoch bleibt Rortys Philosophiebegriff eng an einen solchen absoluten Wahrheitsbegriff rückgebunden. Die Philosophie besteht für ihn aus einer Reihe inkommensurabler Vokabulare, welche miteinander in keinerlei Beziehung stehen. Die einzig vernünftige Haltung gegenüber der Philosophie ist deshalb die Ironie. Denn nur so entgehen wir der Gefahr des Essentialismus, d. i. einem exklusiven und damit fundamentalen Denken. Aus dem Gesagten folgt, dass die Philosophie in keiner Weise einen Beitrag zur Äquilibration an die konkrete Umwelt leisten kann. Allenfalls dient sie der privaten Erweiterung des identitätsstiftenden Vokabulars. Umgekehrt liegt für Rorty das Potential des Menschseins nicht in irgendeiner Art von Essenz, sondern gerade in seiner Wandelbarkeit. Anstatt auf Essentialismen der Vergangenheit zu bauen, vertraut Rorty auf die Phantasie und die Hoffnung auf eine »bessere« (d. i. angepasster an die Bedürfnisse) Zukunft. Als regulatives Teilziel gilt die Vermeidung von Grausamkeiten im öffentlichen Raum. Aus diesem Grund erhalten die Literatur und Poesie zwei Aufgaben: Sie sollen: a. uns für Grausamkeiten sensibilisieren und b. innovative Zukunftsvisionen hervorbringen. Fraglich bleibt jedoch in Rortys Konzeption, ob Mitgefühl einzig durch das Lesen von Romanen kultiviert werden kann oder ob nicht die tatsächlichen Begegnungen mit Menschen hier178 Anders als für Rorty bringt für Habermas die Philosophie für das Finden eines privaten »Sinn des Lebens« keinen Nutzen, weil sie die Entscheidung über moralische Fragen nicht tätigt (vgl. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, a. a. O., 246 ff.). 179 Ich habe diese These in folgender Veröffentlichung eingehend beschrieben: vgl. B. Weber, Zwischen Vernunft und Mitgefühl, a. a. O.

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für unerlässlich sind. 180 Ein weiteres Problem in Rortys Konzeption besteht darin, dass die Vermeidung von Grausamkeiten nach einem gemeinschaftlichen Einsatz verlangt. Hieraus folgt, dass die Öffentlichkeit bei Rorty nicht ganz negativistisch und insular begriffen werden kann, sondern sich implizit auch auf den gemeinschaftlichen Dialog verlässt. Rorty selbst deutet dies an verschiedenen Stellen an: Beispielsweise gibt er zu bedenken, dass sich selbst »Antiessentialisten« so kohärent und verständlich wie möglich ausdrücken, um ihre Argumentation und Ideen anderen plausibel zu machen und auf diese Weise Solidarität mit ihren Ideen generieren. 181 Der grundlegende Unterschied zwischen dem Dialogbegriff bei Habermas und dem bei Rorty geht besonders auf die gegensätzlichen Wahrheitsbegriffe zurück: Rorty beansprucht für seine Aussagen keine Allgemeingültigkeit oder Vernünftigkeit, sondern ersetzt »Objektivität« durch »Solidarität«, d. i. ein intersubjektives Einverständnis. Rorty möchte deshalb »Philosophie« (im Sinne eines absoluten Wahrheitsanspruches) aus dem öffentlichen Raum verbannen und durch einen offenen und poetisch-inspirierten Dialog ersetzen, welcher außerhalb vorgegebener Argumentationen vollkommen neue Ideen hervorbringt. Strukturell unterscheidet sich der von Rorty geforderte Dialog jedoch nicht wesentlich von Habermas’ Diskurssituation, weil sich beide grundsätzlich auf den pragmatischen Ansatz (d. i. Praxis und Problemlösung) berufen. Die Bedeutung und der Stellenwert der Philosophie für den öffentlichen Raum leiten sich sowohl bei Habermas als auch bei Rorty aus ihren diametral entgegengesetzten Wahrheitsbegriffen ab bzw. aus Rortys Reformulierung philosophischer Basisbegriffe (z. B. Objektivität durch Solidarität, Wahrheit durch Angepasstheit). Hieraus ergibt sich eine komplett andere Leseweise des Pragmatismus: Für Rorty hat die deweysche Realitätsbewältigung sehr wenig mit der philosophischen Wahrheitsfindung zu tun, sondern lediglich mit einer pragmatischen Problemlösung. Für Habermas gilt aber diese Problemlösung weiterhin als intersubjektive Wahrheitsfindung und wird deshalb als »Philosophieren« bezeichnet. Angesichts dieser Problematik muss im Hinblick auf das Bildungsprojekt begründet werden, inwiefern Rortys Ideen für ein »Phi180 Eine umfassende Kritik hierzu findet sich in B. Weber, Zwischen Vernunft und Mitgefühl, a. a. O. 181 Vgl. R. Rorty, Philosophy and Social Hope, London 1999, XIX.

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losophieren mit Kindern« zum Einsatz kommen. Hier erweist sich der rortysche Begriff der »bildenden Philosophie« (edifying philosophy) als fruchtbar: Ein Begriff, der zunächst im Spiegel der Natur ausgeführt, aber später nicht mehr weiterentwickelt wird. Rorty unterscheidet zwischen den »bildenden Philosophen« einerseits und einer »bildenden« Art und Weise, sich mit der Philosophie zu beschäftigen, andererseits. Die Kernthese besteht darin, philosophische Systeme nicht als einander ausschließende Wahrheiten zu interpretieren, sondern vielmehr Philosophen als Gesprächspartner zu sehen, welche sich über bestimmte Themen Gedanken gemacht haben. Dinge, welche auch für andere Menschen von Interesse sein könnten. Ein solcher Zugang zur Philosophie erinnert an Gadamers Idee einer Wirkungsgeschichte: Eine hermeneutische Interpretation von Texten vor dem Hintergrund des eigenen Verstehenshorizonts. 182 Die eigene Auslegung muss deshalb auch nicht »die richtige« sein, sondern viel wichtiger ist es, dass eine sinnstiftende Auseinandersetzung mit Ideen stattfindet. Selbstverständlich steht der politische Aspekt bei Rortys Philosophiebegriff zunächst nicht im Vordergrund, sondern vielmehr der identitäts- oder visionsbildende: Es geht nicht um ein Erkenntnisinteresse im Sinne einer Wahrheitsfindung, sondern – und hier ganz im Sinne der rortyschen liberalen Ironikerin – um das Spiel mit den Möglichkeiten der Zukunft und der eigenen Identität. Umgekehrt ist natürlich eine dialogisch verstandene Identitätsbildung auf den politischen Raum angewiesen. Ferner ergibt sich aus Rortys neopragmatischem Ansatz, dass der Mensch zuallererst ein symbolgebrauchendes Lebewesen ist, welches vermittels der Sprache sich eine Wirklichkeit konstituiert. Das heißt, wir verstehen und erleben uns selbst, die soziale Welt und die Natur nicht unmittelbar, sondern immer über Symbole (d. i. durch sprachliche und nicht-sprachliche Zeichen). Aus diesem Grund spricht Rorty von dem Zugang zur »realen Welt« nur vermittels »pressure points«. Der Sinn solcher »pressure points« ergibt sich aber erst durch den Gebrauch von Symbolen. Ein jeder Sprechakt ist deshalb immer schon eine Interpretationsleistung des Gegebenen und ist durch die Sprache sozial vermittelt. Erst die kooperative und im Dialog gefundene Übereinstimmung solcher Interpretationsakte führt dazu, dass wir in einer 182 Eine ähnliche Leseweise wird vorgeschlagen von S. Taubeneck, Rorty, Gadamer, Derrida and Heidegger (unveröffentlichtes Manuskript).

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»gemeinsamen« Welt leben. In diesem Sinne trägt eine jede solche Interpretationsleistung zur Konstitution einer Sphäre des Politischen bei. Für Rorty soll dieser Dialog jedoch ohne Wahrheitskriterium und Rationalitätsansprüche verlaufen. Zugleich schließt er aber die grundsätzliche Reflexivität des Denkens nicht aus. Der philosophische Dialog wird deshalb als offene Begriffs-Bildung gesehen und trägt auf diese Weise unmittelbar zur Selbst-Bildung bei, weil hierdurch eine reflexive, d. i. freiere Beziehung zur Symbolwelt gewonnen werden kann. Eine solche Begriffsbildung ist aber immer dialogisch konstruiert, weil sie nur dadurch angeregt wird, indem andere Sichtweisen aufgegriffen, kritisiert bzw. akzeptiert werden; d. h. wir uns mit anderen Sichtweisen auseinandersetzen. Solche Auseinandersetzungen sind selbstverständlich auch affektiv besetzt, weil wir auf andere Äußerungen und Sichtweisen reagieren. Aus diesem Grund rechtfertigt die Bezugnahme auf Rorty zur theoretischen Konstruktion des Bildungsprojektes, insofern »bildendes Philosophieren als Tätigkeit« als ein Beitrag zu einem solchen »wirklichkeitsoffenen« und »visionären« Dialog gesehen wird. Die Kultivierung des Mitgefühls sieht Rorty selbstverständlich unabhängig von einer Auseinandersetzung mit der Philosophie, sondern vielmehr im Zusammenhang mit dem Lesen von Romanen oder dem aktiven Zuhören in einer Kommunikationsgemeinschaft. Hierbei habe ich an anderer Stelle mehrfach gezeigt, 183 dass eine solche sprachphilosophische Engführung des Mitgefühlsbegriffs an der pragmatischen (d. i. tatsächlichen) Kultivierung von Mitgefühl vorbeigeht, weil Mitgefühl genuin im Leib und in der bedeutsamen und sinnbezogenen Begegnung mit Anderen verankert bleibt. Resümierend lässt sich schließen, dass Habermas (mit Blick auf Dewey) die Demokratieerziehung als gesellschaftliche Aufgabe der Philosophie interpretiert. Philosophieren avanciert zur praktischen Disziplin, welche sich in der Anwendung auf konkrete Probleme bewährt und hieraus ihr (sozial verankertes) Wahrheitskriterium erfährt. Konfliktsituationen werden als Ausgangspositionen für solche Lernprozesse gesehen, weil ihnen ein Reflexionspotential zugrunde liegt. Rorty zielt mit dem Dialog im öffentlichen Raum hingegen auf Problemlösungsstrategien, Reduktion von Grausamkeit und Kreation neuer Visionen. Der Unterschied besteht darin, dass Rorty unter »Phi183

Vgl. B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O.

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losophie« starre Systeme mit Wahrheitsanspruch sieht und deshalb bei solchen Dialogen nicht von Philosophie spricht. Dies lässt sich hauptsächlich als Begriffsproblem deuten. Ferner möchte er sich von der Idee der »Vernunft« verabschieden und deshalb lieber von »kohärenten Dialogen« sprechen. Eine Annäherung zwischen beiden gelingt, wenn überhaupt, nur durch den Begriff der »bildenden Philosophie« bei Rorty; d. i. der dialogoffene und hermeneutische Umgang mit philosophischen Texten und Ideen. Auf diese Weise sollen Ziel und Inhalte der Dialoge bestimmt werden. Ein solcher Austausch von Begriffen ist ideengeschichtlich selbstverständlich zentral, aber für die konkrete Kultivierung von öffentlichen Dialogen ergibt sich auf empirischer Ebene ein nur geringer Unterschied zwischen Habermas und Rorty. Rorty sieht dies selbst sehr ähnlich: »In a world which had not more urgent tasks that to stage social experiments in order to adjudicate philosophical disagreements, the decision between Habermas quasi-Kantian way of looking at rationality and morality and my quasi-Humean way would be made after seeing the result of experiments in training a large sample of the rising generation to think in exclusively Humean terms. My prediction is that these experimental subjects would be just as decent people as the control group – the ones who were brought up to understand the term ›universal validity‹.« 184 Spannungsfeld zwischen Philosophieren und Kindzentriertheit Der Philosophie geht es vornehmlich um den philosophischen Gehalt. Die Pädagogik zielt hingegen und zuallererst auf das Wohl des Kindes. Nun lassen sich verschiedenste Situationen konstruieren, in denen der Dialog mit Kindern einen echten philosophischen Beitrag liefert, jedoch nur wenig dem Wohl des Kindes dient, weil das Abstraktionsniveau zu hoch ist. Auf der anderen Seite stehen hoch motivierte Gespräche, die jedoch nur bedingt als »philosophisch« bezeichnet werden können. Es bleibt deshalb die Frage offen, ob sich diese Spannung zwischen philosophischer Abstraktion und Kindzentriertheit gänzlich vermeiden lässt bzw. ob es sich dabei überhaupt um sich ausschließende Eigenschaften des philosophischen Gesprächs handelt? Grundsätzlich kann die Philosophie (im Bereich des Philosophierens mit Kindern) niemals Endzweck sein. Dies verbietet sich bereits 184

R. Rorty, in: R. Brandom (Hg.), Rorty and his Critics, Oxford 2000, 63.

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aus dem kategorischen Imperativ heraus und damit durch das philosophische Ethos. Vielmehr bleibt der Mensch bzw. das Kind einziger legitimer Endzweck. Methodisch bedient sich der Ansatz der Philosophie bzw. »ruft sich die Philosophie zur Hilfe«. Die Philosophie ist deshalb als eine Art »Hilfsdisziplin« zu sehen und dient als »Mittel zum Zweck«, nicht als Endzweck. Um aber umgekehrt eine optimale Anwendung der Philosophie zu erreichen, muss herausgefunden werden, welche Aspekte im Prozess des Philosophierens mit Kindern wirklich philosophisch sind bzw. wo genau die »Philosophie« als solche ihre Anwendung findet. Eine Beliebigkeit gegenüber der Philosophie hat nichts mit pädagogischem Eros zu tun, sondern geht unweigerlich mit dem Verlust der Sprengkraft der Methode einher. »Woran es jedoch mangelt, ist eine breit angelegte und gründliche philosophische Fundierung, die einem inflationären, für die Kinder schädlichen, weil vernebelnden Herumphilosophieren entgegenwirken könnte.« 185 In solchen Fällen kommt es zu einer Vermischung zwischen Beziehungs- und allgemeiner Sachebene. 186 Aus pädagogischer Perspektive ist wiederum zu reflektieren, welche Themen, Methoden und Haltungen der Philosophie für das Philosophieren mit Kindern von erzieherischem Interesse sind. Aus diesem Grund kann eine Einbeziehung der Beziehungsebene – jedoch nur unter der Voraussetzung einer eingehenden Methodenreflexion – auch von Vorteil sein, weil hierdurch eine Vernetzung von Theorie und Praxis – philosophischer Reflexion und konkretem Anwendungsbezug – möglich wird. Um trotz dieser Spannung ein klares und einheitlich philosophisch fundiertes Bildungsmodell zu erarbeiten, werden im Folgenden spezifische Kriterien klassifiziert, anhand derer die philosophischen Gehalte eines Gesprächs didaktisch erarbeitet werden. Hierzu gehören die philosophischen Inhalte, Methoden und Haltungen. Darüber hinaus wird der philosophische Prozess selbst in drei Phasen gegliedert, wodurch im Fortgang einer Diskussion die philosophischen Gehalte immer wieder sichergestellt werden können. Diese Strukturierung bildet das Grundgerüst und die theoretische Hintergrundfolie des Bildungsmodells. Das Ziel ist, philosophische Hilfestellungen so effizient wie möglich in den Gesprächsprozess einzubringen. 185 186

E. Martens, Philosophieren mit Kindern, a. a. O., 7. Ebd., 67.

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b.

Philosophische Anhaltspunkte: Inhalte, Methoden und Haltung

Der Hoffnung, ein einheitliches und universales Konzept ausfindig zu machen, begegnet Ekkehard Martens mit Skepsis: denn die Grenze, wo Philosophieren beginnt und wo es endet, lässt sich selbst in den sokratischen Dialogen nicht genau bestimmen. 187 Um dennoch erste Kriterien für einen philosophischen Dialog mit Kindern aufzuspüren, schlägt er eine Unterscheidung zwischen Inhalten, Methoden und Haltungen vor. 188 Das Gerüst dieser Unterscheidung wird im Folgenden kurz dargestellt und schließlich im Kontext des Bildungsmodells weiter ausgeführt werden. Philosophische Inhalte werden zuallererst durch philosophische Fragen generiert. In der Regel sind dies Fragen, auf welche es keine eindeutigen Antworten gibt, welche sich nicht durch empirische Untersuchungen oder Wissen beantworten lassen, welche gewohnte Annahmen anzweifeln und sich mit Existentialien des menschlichen Lebens auseinandersetzen. Als Paradebeispiel philosophischer Inhalte werden oftmals die vier Fragen Kants vorgebracht. 189 Aber allein der wortwörtliche Inhalt der Fragen reicht nicht aus. Denn der philosophische Gehalt ergibt sich erst im Kontext des weiteren Verfahrens mit einer solchen Frage sowie der Haltung des Fragestellers. 190 Im Kontext des Philosophierens mit Kindern schlägt Martens deshalb vor, lieber von »Kinderäußerungen« zu sprechen, in welchen ein philosophisches Problem steckt, anstatt von einer auf solchen Fragen aufbauenden »Kinderphilosophie«. 191 Um jedoch das Aufkommens solcher Fragen überhaupt zu ermöglichen, braucht es eine gewisse Grundhaltung der Offenheit, des StauEbd., 12. In »Methodik des Philosophie- und Ethikunterrichts« (a. a. O.) unterscheidet Martens zwischen Inhalt, Methode, Zweck und Träger. Haltung wird hier als Aspekt der Methode gesehen (vgl. ebd., 17 f.). Eine solche Unterscheidung macht mit Sicherheit auch Sinn. Für das vorliegende Modell erscheint jedoch die frühere Unterscheidung nützlicher. 189 Es muss dabei jedoch betont werden, dass auch Kants vier Fragen (Was kann ich wissen?, Was soll ich tun?, Was darf ich hoffen?, Was ist der Mensch?) nicht vollständig sind. Ferner herrscht in der Philosophie keine Einstimmigkeit, dass sie sich immer nur mit »letzten Fragen« beschäftigt. Ein Beispiel hierfür ist die von Wittgenstein ausgehende Sprachphilosophie. 190 Ebd., 13. 191 E. Martens, Philosophieren mit Kindern, a. a. O., 129. 187 188

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nens und Sich-Wunderns. Dies bezeichnet eine durchwegs affektive Komponente der Sensibilität für Unklarheiten, Konfliktsituationen bzw. bloß vorgeschobene Erklärungen des Alltags. Das Philosophieren als praktische Tätigkeit beginnt durch ein solches Fraglich-Werden der Alltagswirklichkeit sowie der Neugier, über diese Phänomene nachzudenken. Eine solche Haltung beinhaltet ferner die Bereitschaft, auch ungewöhnlichen Denkweisen zu folgen, Irritationen zu ertragen sowie mit vorläufigen Antworten zu leben. Ferner umfasst die philosophische Haltung, dass die theoretische Einsicht das praktische Handeln beeinflusst. Oder anders gesagt: dass es sich bei philosophischen Fragestellungen nicht um »Scheinprobleme« handelt, sondern um solche, welche das eigene Leben entscheidend beeinflussen. 192 Letztlich umfasst die Philosophie auch die Urteilskraft. Zwar nicht im Sinne eines »richtigen Urteilens«, wohl aber im Sinne eines »gewissen Fingerspitzengefühls« sowohl situationsadäquat und problemsensitiv als auch mit intersubjektiv vertretbaren Gründen soziale Praktiken zu rechtfertigen. 193 Unter Methode versteht Martens im Allgemeinen bestimmte Vorgehensweisen, d. i. der Gebrauch klarer Begriffe und Argumente sowie die begrifflich-argumentative Auseinandersetzung mit anderen Sichtweisen. Grundsätzlich sieht Martens das Philosophieren als eine erlernbare Technik (im Sinne der griech. techne), d. i. als ein Handwerk, das lehr- und lernbar ist. Genetisch greift es dabei auf ein Können der europäischen Kultur zurück. 194 Aus anthropologischer Perspektive ist das Philosophieren eine natürliche Tätigkeit eines jeden symbolverwendenden Lebewesens, welches aus diesen Symbolen eine soziale Realität generiert. Ferner kann Philosophieren deskriptiv als Beitrag zu einer reflexiven und demokratischen Willensbildung gedeutet werden. Im normativen Sinne trägt sie zu einer sinnvollen und humanen Lebensweise bei. Eine legitimatorische Argumentation beschreibt Philosophieren als eine Kulturtechnik, welche im Rahmen der Schule, ähnlich wie Lesen und Schreiben, zum Zweck der Kritikfähigkeit und Persönlichkeitsbildung sowie der demokratischen Erziehung zu lehren ist. Nicht zuletzt geht Martens von einer didaktisch-methodischen 192 Vgl. zur philosophischen Haltung allgemein bei: E. Martens, Philosophieren mit Kindern, a. a. O., 12. 193 Ebd., 190. 194 Ebd., 187.

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Notwendigkeit aus, weil das Philosophieren als Fähigkeit niemandem von Natur aus zukommt. 195 Selbstverständlich lässt sich das Philosophieren, wie jede andere Kunst auch, nicht einzig auf eine lehrbare Technik reduzieren. Philosophische Einsicht oder Staunen ist weder planbar noch erzwingbar. Der Funke muss redensartlich »überspringen«. Hieraus lässt sich jedoch kein Methodenpessimismus ableiten, sondern vielmehr die Notwendigkeit, Kinder mit einer Methodenvielfalt zu konfrontieren und hieraus eine philosophische Praxis zu kultivieren. Einen solchen Methodenpluralismus vertritt Martens in späteren Jahren und leitet daraus sein »Fünf-Finger-Modell« ab. Es ist der Versuch, philosophische Methoden wie die Phänomenologie, die Hermeneutik, die Logik, die Dialektik und die Spekulation für das philosophische Gespräch mit Kindern zu didaktisieren. 196 Für das vorliegende Bildungsmodell wird die Methode einer Community of Inquiry von Lipman zugrundgelegt und im Hinblick auf die konkrete Förderung von kommunikativer Vernunft und Mitgefühl didaktisch erweitert. Das Fünf-Finger-Modell bietet sich dabei als gekonnte Ergänzung an, um kontextspezifisch Mitgefühl und kommunikative Vernunft gezielt zu fördern. Die Spekulation steht dabei für Rortys Idee eines anti-essentialistischen und futuristischen Denkens, welches die Kreativität und Innovation fördert und darüber hinaus sensibel auf Andersheit reagiert. Weil aber der Mitgefühlsbegriff Rortys im Hinblick auf eine sinnvolle pädagogische Förderung nicht nur sprachphilosophisch verstanden werden kann, wird die Phänomenologie zur Sensibilisierung der Sinne herangezogen. Die kommunikative Vernunft verläuft über die Wahrnehmung von Unterschieden zur Findung von Kompromissen bzw. der synthetischen Erweiterung des eigenen Horizonts. Die Methode der Logik wird ferner nicht mehr als transkulturelles und wahrheitsgenerierendes Instrument verstanden, sondern durch die Idee einer kommunikativen Vernunft ersetzt. Es geht um das Aufeinandertreffen von These und Antithese. Erst aus einer solchen Konfrontation von Unterschieden kann sich eine erneute Synthese optimalerweise ergeben. Die Logik steht innerhalb eines solchen Ansatzes deshalb in enger Verbindung zur Dialektik. Die Vermittlung zwischen gefühlsbezogenem Mitgefühl und einem abstrakten Perspektivenwechsel wird durch die Hermeneutik versucht. Hierbei 195 196

Vgl. E. Martens, Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts, a. a. O., 30 ff. Ebd., 65 ff.

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wird auf Gadamer zurückgegriffen – ein Ansatz, der sowohl für Rortys als auch für Habermas’ Gedankengang entscheidend ist. Die Hermeneutik soll der Generierung eines vorurteilsbewussten Denkens und Sprechens dienen. Sie zielt jenseits von Unterschieden auf die Wiederherstellung eines gemeinsamen Verstehenshorizonts. c.

Der philosophische Prozess: Staunen-Fragen, Denken-FühlenSprechen, Werten-Handeln

Aristoteles unterscheidet in seiner Rhetorik zwischen drei Überzeugungsmitteln: »Die Gesinnung ist im Spiel, wenn der Ausdruck den Redenden überzeugend erscheinen lässt. […] Den Hörer beeinflusst man, wenn man ihn durch die Rede zu einer Leidenschaft hinreißt. […] Durch Überlegung werden die Hörer überzeugt, wenn man Wahrheit oder deren Schein aus den einzelnen Überzeugungsmitteln erweist.« 197 Hieraus ergibt sich folgende Unterscheidung: a. Pathos, d. i. das Ergriffenwerden durch das Gehörte oder auch die Sensibilität für den emotionalen Gehalt einer Geschichte. Er steht am Anfang des philosophischen Dialogs, weil erst hierdurch die Notwendigkeit einer gedanklichen Auseinandersetzung mit einem Problem ersichtlich wird. b. Logos, d. i. die klare und begrifflich eindeutige Darlegung des Gesagten, damit es auch für die Hörer nachvollziehbar erscheint. Hierdurch wird die eigene Betroffenheit in Worte gefasst und schließlich das Problem aus verschiedenen Perspektiven ergründet. c. Ethos, d. i. die Wahrhaftigkeit des Gesagten, indem die eigene Einsicht auch im Handeln seine Anwendung findet. Alle drei Stufen sollen bei dem folgenden Konzept zur Menschenrechtsbildung beachtet werden. Sie umfassen das Staunen und Fragen durch die Konfrontation mit menschenrechtsrelevanten Geschichten (Pathos), das Denken und Sprechen durch den methodisch reflektierten Dialog (Logos) und schließlich das Werten und Handeln und damit die Haltung im konkreten Praxisbezug (Ethos). Dabei umfassen Staunen, Denken und Werten je den inneren Reflexionsprozess, während sich Fragen, Sprechen und Handeln an das Du bzw. die Gemeinschaft wenden. Durch die Auseinandersetzung mit Rorty und Habermas konnte gezeigt werden, dass es vornehmlich das Gefühl ist, welches einen Aspekt der Lebenswelt fraglich bzw. das ethische Konfliktpotential 197

Aristoteles, Rhetorik, 1356a4–11.

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Theoretisches Fundament des Bildungskonzeptes »Philosophieren mit Kindern«

einer Situation sichtbar werden lässt. Für die Reparatur des gestörten Lebensweltinhalts wird von Habermas eine ideale Diskurssituation vorgeschlagen, welche durch die Idee einer kommunikativen (anstatt subjektzentrierten) Vernunft getragen wird. Der intersubjektive Wahrheitsgehalt (Habermas) bzw. die Praktikabilität und Innovation (Rorty) der Lösung bewährt sich aber erst durch die praxisbezogene Haltung und damit dem Bestreben, die gefundene Lösung auf die Lebenswelt zu übertragen. In diesem Bestreben stimmen Habermas und Rorty überein, weil beide ihre Theorien an den Pragmatismus rückbinden. Die Aufteilung von Mitgefühl, Vernunft und Praxis gelingt selbstverständlich nur auf der theoretischen Ebene so eindeutig. Für die Praxis gilt, dass auch eine vernunftgeleitete Diskurssituation von Mitgefühl motiviert ist. Strukturierungen dieser Art gelten deshalb lediglich der bewussten Schwerpunktsetzung, um pädagogische Maßnahmen und didaktische Mittel zur Förderung gezielt einsetzen zu können. In Bezug auf die entwicklungspsychologischen und didaktischen Überlegungen sollen Mitgefühl, Vernunft und Praxis so verknüpft werden, dass sie Kinder für altruistisches Verhalten motivieren und zu verantwortungsbewusstem sozialen Verhalten in multikulturellen Gruppen anhalten. Theoretisches Profil Um den Dialog über kulturübergreifende Werte, Rechte und Normen zwischen Kindern und Jugendlichen anzuregen, habe ich bereits im Rahmen des Pilotprojekts Kinder philosophieren 198 (2003–2006) folgendes Modell des philosophischen Dialogs mit Kindern entwickelt. Philosophieren wird hierin als reflexives und methodisch geführtes sowie affektiv motiviertes Heraustreten aus der Lebenswelt gesehen. Ziel ist es, diese im Rückgang und im offenen Dialog zu »reparieren« und hierdurch die Solidarität zwischen zunächst fremden Kulturen zu stärken. Der philosophische Prozess beginnt deshalb mit dem Staunen bzw. der emotional motivierten Infragestellung des Gegebenen und entwickelt sich weiter entlang der Begriffshelix des Denkens-Sprechens, d. i. des methodisch geleiteten Dialogs, um schließlich durch Werten und Handeln zu einer praktischen Veränderung der Lebenswelt vorzudringen. Erst in der Praxis kann sich der theoretische 198 Diese Struktur wurde in Grundzügen in Kooperation mit den Mitgliedern des Projektteams Regensburg erarbeitet.

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Gehalt des Dialogs bewähren und zeigt die »soziale Wahrheit, Richtigkeit bzw. Wahrhaftigkeit« 199 der getroffenen Entscheidung. Die kooperative Partizipation an sozialen Situationen ist das eigentliche Ziel des Bildungsprojektes. Denn erst hier beweist sich, ob die im Dialog vorgenommenen Einstellungsänderungen im sozialen Umgang einen Unterschied machen und zu einer langfristigen Einstellungsänderung (Haltung) geführt haben. Die Förderung von Mitgefühl und kommunikativer Vernunft erfährt auf den Stufen des Fragens, Sprechens und Handelns je unterschiedliche Schwerpunktsetzungen. Während beim Staunen und Fragen die Kultivierung der allgemeinen Sinnestätigkeit im Vordergrund steht, rücken beim Denken und Sprechen der abstrakte Perspektivenwechsel und die kommunikative Vernunft in den Mittelpunkt. Beim Werten und Handeln kommt es zu einer Verkettung beider Elemente – d. i. der Konstitution einer gemeinsamen Sinn- und Handlungswelt. 200 Die folgende Graphik soll diese Zusammenhänge veranschaulichen. Selbstverständlich lassen sich die verschiedenen Stufen nur theoretisch klar voneinander trennen. Im philosophischen Prozess gehen sie ineinander über. Tendenziell lässt sich aber beobachten, dass die Haltung den philosophischen Prozess durch Staunen anregt und zu philosophischen Fragen/Inhalten führt. Die Methoden im Sinne spezifischer Gesprächs- und Herangehensweisen in Argumentationen stellen den Mittelpunkt dar. Abschließend kommt es wiederum auf die Haltung des Einzelnen an, die gewonnenen Einsichten auf konkrete Situationen zu übertragen. Diese Einstellungsänderung im Hinblick auf die allgemeine Haltung der Kommunikationsteilnehmer, welche sich nun auch außerhalb der Diskurssituation entsprechend verhalten, ist das eigentliche Ziel des Bildungskonzeptes. Denn nur durch eine solche Einstellungsänderung und Sensibilisierung werden Kinder auch außerhalb der Schulklasse auf ethische Konfliktsituationen, Menschenrechtsverletzungen und fremdes Leid reagieren. Eine solche Sen-

199 Ein Begriff, der zwischen der intersubjektiven Wahrheitstheorie Habermas’ und dem Kriterium der Praktikabilität Rortys zu vermitteln versucht. 200 Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung des Zusammenhangs zwischen Körper, Gefühl und Vernunft sowie zum identitäts- und öffentlichkeitsstiftenden Kerngedanken des »Ich-kann« bei Merleau-Ponty, in: B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O.

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Theoretisches Fundament des Bildungskonzeptes »Philosophieren mit Kindern«

Fähigkeiten: Mitgefühl:

Ziele:

Staunen-Fragen Philosophise Inhalte: phänomenologischhermeneutische Herangehensweise

Vernunft:

Problematisierung der Lebenswelt

Denken-Sprechen Philosophise Methoden: Transformation der Community of Inquiry durch Rorty und Habermas Praxis:

→ Sensitivität für ethische Konfliktsituationen

→ kommunikative Vernunft und Dialogfähigkeit

Reperatur der Lebenswelt

Werten-Handeln Philosophise Lebenshaltung als Praxis: pragmatische Umsetzung als »Wahrheitskriterium«; übergreifende Einstellungsänderung und genuin sensible Haltung → diese Haltung führt zu erneutem Staunen und Fragen

→ Wertebildung und Urteilskraft

sibilität trägt zu einer erneuten Problematisierung und Infragestellung des sozialen Miteinanders bei und macht die Notwendigkeit einer weiteren Auseinandersetzung im Diskurs notwendig. In diesem Sinne kann die philosophische Haltung zugleich als Voraussetzung als auch als Ziel des philosophischen Prozesses bezeichnet werden.

3.2.3 Vernunft und Mitgefühl im philosophischen Prozess: die drei Formen des Denkens nach Matthew Lipman Die Verschränkung von Vernunft, Mitgefühl und Praxis wird nun auch im philosophischen Prozess aufgegriffen und theoretisch an die Konzeptionen von Habermas und Rorty rückgebunden. Diese theoretische Grundlegung schließt prinzipiell an die Unterscheidung von critical, 161 https://doi.org/10.5771/9783495860625 .

Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

creative und caring thinking bei Lipman an, transformiert diese jedoch in kommunikative Vernunft, Imagination und Mitgefühl. a.

Vom »critical thinking« zur kommunikativen Vernunft (Habermas)

Eine »autoritäre Versuchung« innerhalb eines Philosophierens mit Kindern lässt sich beizeiten schlecht verleugnen und wird sowohl deutlich an den teilweise rigiden Handreichungen (insb. den philosophischen Übungen) des Lipman-Modells als auch der »sokratischen Methode«. 201 Insbesondere wenn sich eine Art der »Abfragelogik« einschleicht, kann sich das Philosophieren mit Kindern nur mehr schwer gegen den Vorwurf des Ethnozentrismus verteidigen. 202 Diese Gefahr besteht vor allem dann, wenn das critical thinking als Kernelement im Anschluss an ein rein analytisches Philosophieverständnis favorisiert wird. Die Schwierigkeit besteht darin, dass Personen entweder als identische rationale Wesen begriffen werden (analytische Philosophie) oder inkommensurable Unterschiede einen Austausch unmöglich machen (Postmoderne). Die kommunikative Vernunft versucht hier einen Brückenschlag zwischen der Verschiedenheit der Perspektiven und der grundsätzlichen Möglichkeit intersubjektiven Verstehens. »Die Einheit der Vernunft wird nur hörbar in der Pluralität ihrer Stimmen.« 203 Die konkreten Leistungen der kommunikativen Vernunft sollen gegenüber dem Modell des critical thinking nochmals kurz skizziert werden, um erstere schließlich in die Rekonstruktion einer Community of Inquiry einfließen zu lassen: Die kommunikative Vernunft unterscheidet sich grundsätzlich von jeder subjektzentrierten und strategischen Vernunft, weil sie zunächst versucht, mit dem Anderen darüber übereinzukommen, was ist. Vgl. zur Kritik an diesen Modellen: E. Martens, Philosophieren mit Kindern, a. a. O. Böhme und Böhme haben gezeigt, dass ein kultursensibles Erziehungsprojekt nicht notwendigerweise gegen den Begriff der Mündigkeit der Aufklärung steht. Vernunft – im Sinne eines genitivus subjectivus nützt gerade die Kraft der Vernunft, um sich und im Dialog mit anderen über eigene Vorstellungen Klarheit zu verschaffen. Diese geschieht immer auch und zugleich mit dem »Anderen der Vernunft«, d. i. mit Phantasien, der Natur und der Bildhaftigkeit des Denkens (vgl. G. Böhme und H. Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt am Main 1985). 203 J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt am Main 1988, 155. 201 202

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Eine solche Verständigung geschieht noch bevor irgendein manipulativer Eingriff auf die Lebenswelt vonstattengeht. Sie gleich deshalb einem reflexiven Rückzug aus der gewohnten Lebenswelt, um von dort in reflexiver und kommunikativer Manier eine Übereinkunft mit anderen zu erzielen. In der Kommunikationspraxis führt dies zur Aufforderung der argumentativen Begründung jeglicher Geltungsansprüche. Eine solche »Einübung« kommunikativer Vernunft resultiert in einer »loseren« Einstellung gegenüber Lebensweltgewissheiten: aufgrund des Bewusstseins, dass diese jederzeit angezweifelt werden können. Umgekehrt braucht es eine gewisse Sensibilität, um die Zweifel des Anderen zu erkennen bzw. zu sehen, dass eine Konfliktsituation vorliegt. Insbesondere sieht Habermas die kommunikative Vernunft als einen Ausweg aus dem Paradox einer postmodernen politischen Praxis: Jeder Dissens ist eine existentielle Herausforderung unserer eigenen Weltsicht (Lebenswelt) und trotzdem haben unsere Handlungen für immer mehr Menschen konkrete Folgen und verlangen deshalb nach einem kooperativen Entscheidungsprozess. Habermas interpretiert diese Situation als Vorteil, weil durch solche Kommunikationsprozesse dem Einzelnen die eigene Lebenswelt erst bewusst wird: Er erhält die Möglichkeit, im Reflexionsprozess Stellung zu nehmen. Die philosophische Praxis wird so zur Sache der Öffentlichkeit, weil die symbolisch immer schon vorgefundene Meinung durch die Infragestellung des Anderen zur rational gewählten und damit autonomen Gestaltung der Lebenswelt wird. Der Blick bzw. die Perspektive des Anderen ist Voraussetzung, um aus der eigenen Lebenswelt herauszutreten und führt zu einem identitäts- und wirklichkeitsverändernden Reflexionsprozess. 204 Aus diesem Grund ersetzt Habermas den subjektiven durch einen intersubjektiven Vernunftbegriff. Anders als bei Kant, ereignet sich Vernunft im öffentlichen und intersubjektiven Raum und setzt damit die Andersheit des Anderen als notwendige Bedingung des philosophischen Prozesses voraus. Aus diesem Grund resultiert Habermas’ Theorie in einer empirisch verifizierbaren Methode, wodurch die Einbeziehung der anderen Perspektiven im Diskurs garantiert oder zumindest begünstigt werden soll. Der kommunikativen Vernunft liegt ein steter Perspektivenwech204 Vgl. hierzu Habermas’ Ausführungen über G. H. Mead in: Nachmetaphysisches Denken, a. a. O., 187 ff.

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

sel zugrunde, weil nur so die verschiedenen Ansprüche und deren jeweilige Stellung innerhalb des dialogischen Gesamtgeschehens erkannt werden (Teilnehmer- und Beobachterperspektiven). Sowohl die manipulative als auch die kommunikative Vernunft greifen dabei auf ein propositionales Wissen zurück. Der Unterschied besteht jedoch in der Absicht: Erstere zielt auf Manipulation, die zweite hingegen auf gegenseitiges Verständnis. Sie ist auch aus diesem Grund geeigneter für eine Community of Inquiry, weil sie sich nicht auf die subjektzentrierten Denkoperationen eines critical thinking reduzieren lässt. Der Erfolg der kommunikativen Vernunft zeigt sich schließlich durch die Bewährung in der Praxis, d. i. die erfolgreiche Anwendung und Reparaturleistung des Lebensweltgeschehens. Diese dialogische »Verflüssigung« der Entscheidungsprozesse dient ferner der kontinuierlichen Offenheit gegenüber späteren Einwänden und Anpassungen. Diese beiden Aspekte schließen freilich an Deweys Konzeption eines continuous adjustments an. Denn erst durch die kontinuierliche Sprechpraxis wird eine gemeinsame Wirklichkeit erzeugt. Dabei wird Wirklichkeit wörtlich als »Einwirken auf das Seiende« verstanden, weil es auf ein gemeinsames, kooperatives und für alle erfolgreiches Handeln abzielt. 205 Selbstverständlich ist auch Habermas’ Konzept einer kommunikativen Vernunft nicht frei von idealistischen Behauptungen: Er geht davon aus, dass wir a. grundsätzlich einander verstehen und auch verstehen wollen (illokutionäre Absicht), b. die Einforderung vernünftiger Begründungen eine universale ist 206 und c. rationale Übereinkünfte uns auch zum Handeln motivieren 207. Nichtsdestotrotz stellt Habermas’ Rekonstruktion der Vernunft einen wichtigen Brückenschlag zwischen der modernen und post-metaphysischen Gesellschaft dar und gilt als mögliche Antwort auf die Forderung nach Sensitivität für kulturelle Unterschiede. 208 Die hier 205 Diese Vorstellung schließt an das Philosophieverständnis des Lipman-Modells an, welches sich ebenfalls zu einem großen Teil auf Dewey beruft. 206 Vgl. hierzu die Kritik Ch. Taylors in: Multiculturalism and the Politics of Recognition, Princeton 1992, 70 ff. 207 Vgl. hierzu auch R. Rortys Auseinandersetzung mit Habermas in: Kontingenz, Ironie und Solidarität, a. a. O., 315 ff. 208 Ferner wurde seine Theorie an anderer Stelle (vgl. B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O.) an das Mitgefühl rückgebunden, um so zentralen Einwänden zu entgehen.

164 https://doi.org/10.5771/9783495860625 .

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vorgeschlagene Community of Inquiry lässt sich deshalb als der Versuch verstehen, die ideale Diskurssituation für den philosophischen Diskurs mit Kindern zu didaktisieren und hierdurch das critical thinking durch die kommunikative Vernunft zu ersetzen. b.

Vom »creative thinking« zur sozialen Utopie (Rorty)

Bei Lipman bleibt das Konzept eines creative thinking fragmentarisch und steht in keinerlei Beziehung zum politischen Handeln. Aus diesem Grund wird auch hier eine Erweiterung bzw. Rekonstruktion des Begriffes vorgeschlagen, auch wenn die Förderung von Kreativität keinen zentralen Bestandteil des Bildungskonzeptes darstellt. Rorty schließt aus seiner Philosophiekritik, dass absolute Wahrheitsansprüche epistemisch zweifelhaft sind. Darüber hinaus gelten sie aus pragmatischer Sicht als öffentlichkeits- und solidaritätsgefährdend, weil sie Exklusivität beanspruchen. Aus diesem Grund wird die Rolle der Philosophie durch Literatur bzw. Kunst substituiert. Der Grund hierfür liegt darin, dass die Philosophie, ähnlich wie die Kunst, Modelle, Ideen und Utopien hervorbringt. Sie unterscheidet sich jedoch dadurch, dass sie hierfür, und anders als die Kunst, einen absoluten und exklusiven Wahrheitsanspruch einfordert. Hierdurch stehen sich verschiedene Ideen inkommensurabel gegenüber. Rorty möchte die philosophischen Prinzipien der Vernunft und der Exklusivität durch das Spiel, die Hoffnung und die Möglichkeit des Neuanfangs ersetzen. Als Anti-Essentialist lehnt er einen »ontologischen Zwang des Menschseins« ab. Hieraus folgt, dass der Phantasie grundsätzlich keine Grenzen gesetzt sind. Romane, Poesie und Kunst bieten dabei ungewöhnliche Vokabulare und Sichtweisen an, welche inflationär auf Konventionen und Einstellungen einwirken bzw. diese verändern. Ein solches kreatives Denken zeichnet sich einerseits durch Kohärenz und andererseits durch Überraschung aus: a. Kohärenz, weil sowohl »Antiessentionalisten« als auch Künstler verstanden werden und überzeugen möchten. Dabei geht es Rorty um eine »gradual inculcation of new ways of speaking, rather than of straightforward argument within old ways of speaking« 209. b. Überraschung, weil nur eine abrupte Abweichung einen echten Unterschied macht. Eine Metapher

209

R. Rorty, Philosophy and Social Hope, a. a. O., XIX.

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

gleicht deshalb einer »Ohrfeige« oder »einem plötzlichem Kuss«. 210 Sie steigt unerwartet aus dem gewohnten Sprachspiel auf, um ein Neues zu beginnen. Selbstverständlich ist auch die Metapher nicht unabhängig von Konventionen, sondern muss sich von diesem Hintergrund »abdrücken«. Beide Modi des Sprechens haben zum Ziel, ganz neue Weisen des Denkens über die Welt auszuprobieren und mit ihnen zu »spielen«. Und weil die Kunst keine fundamentalen Ansprüche erhebt, in Form philosophischer Ideologien, gilt sie in Rortys Augen als weniger »öffentlichkeitsgefährdend« (d. h. birgt weniger die Gefahr, Grausamkeiten und Unterdrückung zu generieren). Imagination und Kunst spielen für Rorty aber noch eine weitere zentrale Rolle und stehen auf diese Weise in enger Verbindung zum Mitgefühl: Sie sollen für Ungerechtigkeit sensibilisieren. Phantasie und Vorstellungskraft werden als Fähigkeiten gesehen, sich auch in andere Situationen hineinzuversetzen, um potentielle Unterdrückung oder Grausamkeiten zu erkennen. Deshalb übernimmt der Dichter die öffentliche und bedeutende Rolle eines »Wächters über die Gerechtigkeit«. Resümierend kann gesagt werden, dass ein solcher erweiterter Kreativitätsbegriff eine Brücke schlägt zwischen Philosophie, Imagination und Mitgefühl. Aus diesem Grund ersetzt die Imagination den rein ästhetisch verstanden Begriff des creative thinking bei Lipman für den Zweck des vorliegenden Modells zur Kultivierung eines Bewusstseins für Menschenrechte. c.

Vom »caring thinking« zum Mitgefühl (Rorty)

Auch das Konzept eines caring thinking innerhalb des Lipman-Modells ist nicht ganz unproblematisch: Einerseits wird caring auf ein bloßes »Denken« beschränkt und damit der Komplexität des Phänomens nicht gerecht. Umgekehrt bleiben explizit sinnesfundierte Didaktikkonzepte des caring thinking ohne inhaltlich-methodischen Bezug zur Philosophie. Nicht zuletzt gefährdet ein normatives und von vorneherein wertefundiertes Denken die grundsätzlich geforderte inhaltliche Offenheit des Philosophierens. Dies führt zur berechtigten Frage, ob die Philosophie das richtige Mittel sei, um caring thinking zu kultivieren bzw. ob diese Art des Denkens die philosophische Tiefe nicht sogar negativ beeinflusst. Aus 210

R. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, a. a. O., 44.

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Theoretisches Fundament des Bildungskonzeptes »Philosophieren mit Kindern«

diesem Grund soll das caring thinking durch die Kultivierung des Mitgefühls ersetzt werden. Das heißt, die von Rorty geforderte Notwendigkeit und Bedeutung des Mitgefühls wird wieder aufgegriffen, aber durch die an anderer Stelle erfolgte phänomenologische Aufarbeitung des Begriffs erweitert. 211 Ich werde dies im Folgenden nochmals themenbezogen zusammenfassen: Rorty stimmt mit Habermas darin überein, dass Vernunft intersubjektiv vermittelt ist. Er geht jedoch über diesen Gedanken hinaus und proklamiert, dass Mitgefühl – im Zusammenhang mit einer kreativen und hoffnungsvollen Haltung – eine noch viel wichtigere Rolle spielt, wenn es um die Kultivierung eines Menschenrechtsbewusstseins geht. Diesem Gedanken liegt Rortys pragmatische Problemanalyse zugrunde, nämlich die eigentliche Schwierigkeit sind nicht die genauen Inhalte solcher Menschenrechtskataloge, sondern dass vielmehr Menschen andere Menschen nicht als fühlende Personen wahrnehmen. Aus diesem Grund setzt er das Mitgefühl an die erste Stelle und beurteilt den inhaltlichen Dialog als zweitrangig. 212 Für den inhaltlichen Dialog gilt auch für Rorty als Ziel, eine möglichst große Kohärenz der einzelnen Aussagen zu erreichen. Jedoch spricht er hierbei nicht von Vernunft, weil er jegliche Assoziation mit einem Wahrheitsanspruch vermeiden möchte. Selbstverständlich setzt auch Rortys Forderung nach mehr Mitgefühl die Fähigkeit und Möglichkeit voraus, sich in andere hineinzuversetzen und ihnen zuzuhören. 213 Dies hat zwei Funktionen: a. unsere Vorstellung davon zu erweitern, was Menschsein bedeuten kann, und b. Ähnlichkeiten jenseits der Unterschiede zu erkennen, z. B. dass alle Menschen Schmerzen empfinden und gedemütigt werden können. Diese Perspektivenerweiterung und Vertiefung der Empfindungsfähigkeit führt zu einer Rekonstruktion des Vokabulars und sensibilisiert für implizite Denunziationen. Vgl. hierzu B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O. Es wurde gezeigt, dass eine solche Problemanalyse nicht unbedingt konträr zu Habermas steht, der selbst in Die nachholende Revolution zugibt, dass Mitgefühl in ethischen Konfliktsituationen eine Voraussetzung für den rationalen Dialog darstellt. An anderer Stelle wurde ausgeführt, warum eine solche Vermutung auch aus phänomenologischer Perspektive richtig erscheint (vgl. B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O.). 213 Vgl. R. Rorty, Menschenrechte, Rationalität und Empfindsamkeit, in: WuF, a. a. O., 258 ff. 211 212

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

Das Ziel ist deshalb keine festgelegte Agenda der Menschenrechte, sondern die Entwicklung eines Bewusstseins dafür, wie wir mit Menschen umgehen sollen und worunter Menschen leiden. Öffentlichkeit basiert für Rorty auf dem Gefühl der Solidarität mit allen empfindenden Wesen. Hieraus entwickelt sich erst der Wunsch, Grausamkeit und Demütigungen zu vermeiden. 214 Rortys sprachphilosophische Engführung des Mitgefühlbegriffs wurde an anderer Stelle durch die Leibphänomenologie erweitert und damit an die phänomenologischen Grundvoraussetzungen des Bewohnens einer gemeinsamen Lebenswelt rückgebunden. 215 Hierdurch wurde versucht, die traditionelle Dichotomie zwischen Mitgefühl und Vernunft zu dekonstruieren. Auf diesen Überlegungen aufbauend, wird im vorliegenden Bildungsmodell einerseits die Phänomenologie, als Methode zur Sensibilisierung der Sinne, sowie andererseits die Hermeneutik und Dialektik, als Methoden zur Förderung des abstrakten Perspektivenwechsels, herangezogen. Auf diese Weise wird versucht, die Sinnesförderung in der Praxis des Philosophierens methodisch zu verankern und in das Modell des Philosophierens mit Kindern zu integrieren.

3.3 Philosophische Inhalte: Quellen zum Staunen und Fragen 3.3.1 Die Bedeutung des Staunens und Fragens Philosophie wird oftmals als ein Staunen und Sich-Wundern (Aristoteles), ein Fragen (Russell) bzw. als das Eingeständnis verstanden, dass »man sich nicht auskennt« (Wittgenstein 216) bzw. »nichts weiß« (Sokrates) oder grundsätzlich an allem »zweifelt« (Descartes). Die Sprachphilosophie analysiert hingegen sprachliche Wendungen und fragt: »Was kann ich überhaupt verstehen?« 217 Neben solchen systemati214 Selbstverständlich erkennen wir oftmals erst dadurch unsere eigenen Beweggründe, indem wir darüber sprechen. Zugleich erlernen wir in einem solchen Dialog, anderen zu helfen, ihre Gefühle auszudrücken sowie die Welt aus ihrer Perspektive zu sehen. 215 Vgl. hierzu B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O. 216 Vgl. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main 2001, § 123. 217 Vgl. zu diesem Abschnitt die Ausführungen von E. Martens, Philosophieren mit Kindern, a. a. O., 125.

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Philosophische Inhalte: Quellen zum Staunen und Fragen

schen Herangehensweisen, gibt es selbstverständlich auch zahlreiche andere wissenschaftliche Paradigmen, welche das Staunen als natürliche Eigenschaft des Menschen herausstellen. 218 Hierzu gehört das durch die Ethologie hervorgehobene Neugierverhalten, das historischgesellschaftliche In-Frage-Stellen von Umgangsformen und gesellschaftlichen Gegebenheiten, das anthropologische Sich-Wundern als tiefe Betroffenheit im Hinblick auf existentielle Grundfragen (insbesondere nach dem Glück, dem Sinn oder der Identität) sowie die hermeneutische Prämisse, dass es ohne Fragen keine Antworten geben kann. Selbstverständlich beinhaltet das Staunen stark affektive Komponenten: Als Sensitivität für Konfliktpotentiale und Fragwürdiges ist es die Voraussetzung dafür, Gegebenes überhaupt in Frage stellen zu können. Im Bereich der Ethik setzt deshalb das Staunen Mitgefühl voraus; d. h., dass das Leid des Anderen mein eigenes Befinden kurzzeitig überlagert und hierdurch in Frage stellt (z. B. wenn wir einen hungernden Menschen sehen und uns fragen, warum wir selbst satt sind). Nur durch die Fähigkeit zum Mitgefühl vermögen wir den organischen Zustand des Anderen zu erfassen. Diese Überlagerung durch Fremdheit wird zugleich zu einem Anspruch: Warum isst Du und warum muss ich hungern? Erst durch diese sensible Wahrnehmung des Anderen vermögen wir die eigene Lage in Frage zu stellen und ihre Rechtmäßigkeit zu bezweifeln. Selbstverständlich kann das staunende »in die Schwebe bringen« eines Lebensweltgehaltes beunruhigend oder auch verwirrend sein. Aus diesem Grund verlangt es eine gewisse emotionale Kompetenz (d. i. die Fähigkeit, die eigenen Gefühle zu erkennen, sowie der Mut, ihnen zu begegnen), um die eigene Verwunderung in Form einer Frage nach außen zu tragen. Aus diesem Grund betont auch Martens 219, dass der affektive Gehalt des Wunderns und Staunens nicht vernachlässigt werden darf, weil man Kinder missverstehe, wenn man in ihrem Fragen nur den Wunsch nach eindeutigen Erklärungen sehe. Vielmehr ginge es Kindern gerade darum, gemeinsam zu staunen und im Dialog Denkmöglichkeiten auszuprobieren. In solchen Situationen können Sach- und Beziehungsebene selbstverständlich nicht immer genau voneinander unterschieden werden. Es besteht aber die Gefahr, Stau218 219

Vgl. ebd., 137. Ebd., 142 f.

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

nen zur bloßen Schwärmerei zu degradieren, wenn es nicht an eine kognitive Verarbeitung rückgebunden bleibt bzw. Auslöser für gemeinsame Denkprozesse ist. Umgekehrt bleiben kognitive Denkprozesse ohne die emotionale Betroffenheit hohl: »Die gesellschaftlich wirksame Abspaltung von Phantasie, Emotionen oder Affekten auf der einen Seite und von Vernunft, Reflexion oder Wissen auf der anderen Seite würde sich in einem reduktionistischen Paradigma von romantisierender ›Kinderphilosophie‹ nur verdoppeln. Dabei kämen weder die Gefühle noch die Vernunft zu ihrem Recht als Bestimmungen des ganzen Menschen.« 220 Resümierend lässt sich deshalb schließen, dass die Unbefangenheit des Kindes oftmals zu einer Reinterpretation und Neudeutung von Phänomenen in der Lebenswelt führt. Kinder lösen solche Reflexionsprozesse aus, weil ihnen die Lebenswelt gerade nicht als unhinterfragbar Gegebenes vorliegt, sondern sie sich diese Stück für Stück im konkreten Miteinander erschließen müssen. Solches Neudeuten und Hinterfragen von alltäglichen Zusammenhängen mündet deshalb oftmals in philosophischen Fragestellungen, welche nach Sinnzusammenhängen und Orientierung drängen. Sie stehen für die autonome und hermeneutische Aneignung und Transformation von Wissen und Traditionen. Ein solches Staunen kann selbstverständlich kultiviert werden, indem Pädagogen das genaue Hinhören, -sehen und Fühlen von Kindern zulassen und gegebenenfalls unterstützen. Grundlage hierfür ist das genaue Wahrnehmen bzw. das phänomenologische Erfassen einer Situation und damit die Kultivierung der Sinnestätigkeit des Menschen. Um diesen Prozess didaktisch noch gezielter zu fördern, greife ich auf die Ausführungen bei Gadamer zurück.

3.3.2 Hermeneutisch-phänomenologische Zugänge zum Staunen und Fragen Was eine philosophische Frage ist und wie man eine solche Fragehaltung kultiviert, gehört mit zu den schwierigsten Herausforderungen des Philosophierens mit Kindern. Kinder staunen häufig über konkrete Situationen und Geschichten oder stellen unvorhergesehene Fragen. 220

Ebd., 142.

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Philosophische Inhalte: Quellen zum Staunen und Fragen

Die Schwierigkeit liegt oftmals darin, dass sowohl Mitschüler als auch Lehrkräfte den philosophischen Gehalt solcher Fragen nicht erkennen und deshalb als pädagogische oder wissensbezogene Fragen deuten. Dies erscheint insbesondere unter dem Gesichtspunkt problematisch, dass das philosophische Potential einer Frage sich erst im Zusammenspiel von Fragendem und Hörendem entfaltet. Zum Beispiel kann die Frage »Was ist ein Tisch?« eine philosophisch hochproblematische Frage darstellen oder schlichtweg bedeuten, dass der Fragende die Bedeutung des Wortes »Tisch« nicht kennt. Erst die Intention des Fragenden und das Erkennen durch den Hörenden aktualisieren deren philosophischen Gehalt. Gadamers Überlegungen zur Struktur der philosophischen Frage bieten einen Leitfaden, um sich dem Prozess und der Entstehung eines solchen Fragens bewusst zu werden sowie eine infrage-stellende Haltung gegenüber den Lebensweltinhalten zu kultivieren. Gadamer knüpft in Wahrheit und Methode (WM) 221 explizit an die Dialektik Platons an und entwickelt hieraus die Idee der »hermeneutischen Erfahrung«. Eine Erfahrung setzt die Offenheit des Menschen voraus (WM 368). Sie führt dazu, dass überhaupt verschiedene Möglichkeiten wahrgenommen werden. Hieraus ergibt sich die grundsätzliche Struktur der Frage, d. h. »des So-oder-Anders« (WM 368). Zugleich ergibt sich hieraus die Erkenntnis, dass eine Frage richtig oder falsch sein kann, je nachdem ob sie in den Raum der Offenheit hineinreicht oder nicht und damit etwas »in die Schwebe« bringt (WM 369). Philosophische Fragen öffnen jedoch niemals einen unendlichen oder undefinierten Raum, sondern deuten immer schon in eine bestimmte Richtung. Sie öffnen einen gezielten Raum, innerhalb welchem eine Antwort überhaupt erst eine Bedeutung erhält. »[…] mit der Frage wird das Befragte in eine bestimmte Hinsicht gerückt. […] Der Logos, der dieses aufgebrochene Sein entfaltet, ist insofern immer schon Antwort.« (WM 368) Deshalb erhält die Frage ein besonderes Gewicht, weil sie die Grenzen des Feldes absteckt, innerhalb welchem eine Antwort erscheint. Ferner geht Gadamer davon aus, dass nur ein solches Fragen von Bedeutung ist, welchem ein tiefes inneres Verlangen zugrunde liegt. Dieses Verlangen hat aber seinen Ursprung in der Erkenntnis, dass man nicht weiß: »Um fragen zu können, muss man wissen wollen, d. h. aber: wissen, dass man nicht weiß« (WM 369). 221

H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, a. a. O.

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

Interessanterweise trifft gerade diese letztere Voraussetzung auf das existentielle In-der-Welt-Sein des Kindes in besonderer Weise zu: Kindsein ist der Zustand des »Nicht-Wissens« und darüber hinaus »des Wissens eines solchen Nicht-Wissens«. Jeder Tag gleicht einer neuen Herausforderung, der Begegnung mit dem Unbekannten und der Varietät von Möglichkeiten. Der Grund hierfür liegt darin, dass die Wahrnehmung der Umgebung bei Kindern noch wenig durch fixe Bedeutungsschemata und soziale Konventionen vorbestimmt ist. Sie sehen die konkreten Dinge noch vor ihrer Herauslösung von der Lebenswelt durch Abstraktionen. Hieraus resultiert die Fähigkeit, »die Nacktheit des Königs« zu erkennen. Die Kehrseite dieses »Nicht-Wissens« ist die ungebremste Neugier und manchmal auch das Bedürfnis nach »unumstößlichen Wahrheiten«, an welchen sich Kinder zu orientieren versuchen. Wird diesem Verlangen nach universalen Wahrheiten nachgegeben, führt es zu einem »Vorurteilsglauben«. Jede Antwort avanciert zur »universalen Gültigkeit«. Die Lebenswelt der Erwachsenen besteht vornehmlich aus symbolisch-sprachlichen Konventionen. Geschichte und Kultur einer Gesellschaft bilden daher den Hintergrund, vor welchem gegenwärtige Fragen und Probleme ihre Bedeutung erhalten. Gadamer bezeichnet dies als den »Verstehenshorizont«. Das In-der-Welt-Sein von Kindern ist hingegen unmittelbar, konkret und vornehmlich sinnlich. Sie sind nur unzureichend in einer sozialen Konsensrealität verankert, weil sie erst durch die Adaption eben jener Kultur solche »notwendigen Vorurteile« übernehmen. Aus diesem Grund sind Kinder für die Infragestellung der eigenen Kultur prädestiniert: Durch ihren Mangel an Verankerung ist es ihnen leichter, alte Muster zu durchbrechen und Teilbereiche zu rekonstruieren, um damit Kultur lebendig zu erhalten. 222 Die größte Gefahr der Pädagogik besteht deshalb in dem Irrglauben, immer schon »Bescheid wissen« zu müssen. Philosophieren mit Kindern dreht diesen Prozess deshalb um und zwingt Pädagogen, ihr eigenes Selbst- und Weltverständnis zu hinterfragen. Ein solcher gleichberechtigter und symmetrischer Dialog zwischen Generationen hat zum Ziel, dass Kinder ihre fragende und reflektierende Einstellung erhalten. Selbstverständlich ist die Gefahr groß, hier ein schwarz-weißes Bild zu zeichnen. Denn auch Kinder werden in eine bereits bestehende 222

Vgl. zum Stellenwert des Kindes in der Gesellschaft in diesem Kapitel weiter oben.

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Philosophische Inhalte: Quellen zum Staunen und Fragen

Welt hineingeboren. Ihre eigene Unsicherheit zwingt sie, manche Antworten und Erfahrungen assimilierend auf ähnliche Situationen unreflektiert anzuwenden. Die Frage ist, inwiefern eine solche Praxis in einer Gesellschaft kultiviert wird bzw. ob Kindern die Chance gegeben wird, sich Traditionen hermeneutisch (d. i. aktiv) anzueignen und hierdurch mit Veränderungen und Ambiguitäten umzugehen zu lernen. Philosophieren kann deshalb auch als »Urspiel« mit verschiedenen Wahrheiten verstanden werden, wodurch eine kreative Wirklichkeitsaneignung unterstützt wird. 223 Lernen und Erlernen einer Tradition wird so zu einem kreativen Akt der Neuinterpretation und greift Arendts Idee wieder auf, dass der Mensch in sich ein Neuanfang ist, der Initiative zu ergreifen vermag. 224 Eine wesentliche Schwierigkeit besteht, wie bereits erwähnt, darin, dass viele Lehrkräfte den philosophischen Gehalt kindlichen Fragens nicht erkennen. Die meisten Kinder, welche philosophische Fragen stellen, wollen nämlich gar nicht »nur Recht haben« oder eine eindeutige Antwort erfahren, sondern vielmehr steckt hinter ihrem Fragen ein wirkliches und existentielles Bedürfnis, sich die Welt auf ihre eigene Weise spielerisch anzueignen; weder im Sinne eines vorgefertigten Wissens noch im freien Fall. »Die Offenheit des Gefragten besteht in dem Nichtfestgelegtsein der Antwort. […] Es muss in die Schwebe gebracht werden […]. Jede echte Frage verlangt diese Offenheit. Fehlt ihr dieselbe, so ist sie im Grunde eine Scheinfrage […] wie etwa die pädagogische Frage.« (WM 369) Das tagtägliche Erleben des Nicht-Wissens macht Kinder weniger ängstlich, Dinge in Frage zu stellen. Sie sind deshalb offener gegenüber Neuem, weil ihnen ein entsprechendes Referenzwissen fehlt. Die Krux der Pädagogik besteht, wie bereits gesagt, darin, immer schon eine Antwort parat haben zu wollen. Diese Eifrigkeit verhindert jedoch die Möglichkeit, etwas zu erfahren oder zu lernen: »Meinung ist das, was das Fragen niederhält.« (WM

223 In ihrem Artikel über den dionysischen Gehalt des Philosophierens mit Kindern, betont Eva Marsal den spielerischen und erfinderischen Umgang von Kindern mit philosophischen Inhalten und Konzepten, vgl. E. Marsal, Wie viel Wahrheit wagt ein Geist? Die ›ethische‹ Wahrheitstheorie Nietzsches als einer der epistemischen Hintergründe des Philosophierens mit Kindern, in: E. Marsal, T. Dobashi, B. Weber, F. Lund (Hg.), Reflexionskompetenz im Vor- und Grundschulalter. Nationale und internationale Konzepte des Philosophierens mit Kindern, a. a. O., 35–56. 224 H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, a. a. O., 215.

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

371) Selbstverständlich ist das meiste, was wir zu wissen glauben, bloße Meinung. Wahres Wissen verhält sich hingegen dialektisch: es geht auf beides, auf das so und anders, und beinhaltet immer schon mehrere Möglichkeiten. »Wissen kann nur haben, wer Fragen hat.« (WM 371) Kinder befinden sich sehr oft in der Schwebe. Wenn Lehrkräfte aber angemessen auf ein solches Fragen reagieren möchten, dann müssen sie zunächst selbst in reflexiver Manier vom unmittelbaren oder unhinterfragten Lebensweltkontext zurücktreten. Dies impliziert, dass sie ihre eigene Unsicherheit zugeben und sich gegenüber dem Anspruch der Frage öffnen: d. h., mit der nächsten Generation eine nicht-hierarchische Begegnung zu wagen und sich auf Augenhöhe zu unterhalten. Die Philosophie kann zur Kultivierung einer fragenden Haltung beitragen, indem sie die Kunst des offenen Fragens unterstützt. Lehrkräfte können z. B., in Kooperation mit der Klasse, Fragen von Kindern so umformulieren, dass sie innerhalb der Community of Inquiry beantwortbar werden. Gadamer unterscheidet hierfür zwischen verschiedenen Arten von Fragen: z. B. ob eine Frage in die »richtige Richtung« zielt oder ob sie »schief« gestellt ist, d. h. nicht ganz in den Raum der Offenheit hineinreicht (vgl. WM 370). Eine echte und offene Frage umfasst nämlich sowohl das Für als auch das Wider und gibt damit beiden oder mehreren Aspekten Raum. Ferner sollen im Prozess des Fragens unbewusste Prämissen aufgedeckt werden. Lehrkräfte oder philosophische Gesprächspartner sollen deshalb Schüler dazu anregen, verhärtete Fronten aufzulösen und über diese scheinbar dichotomen Alternativen auf einer höheren Abstraktionsebene nachzudenken. In Auseinandersetzung mit Texten ist es wichtig, zu überlegen, auf welche Frage der Text überhaupt antwortet. 225 Selbstverständlich sind all diese Anregungen nicht als starre Methoden zu verstehen. Eine Metapher mag dies verdeutlichen: Der philosophische Dialog ist wie das Wandern in einer geistigen Landschaft. Wir werfen Ideen und Gedanken in diese Welt wie einen Ball. Und wo auch immer dieser hinfällt, folgen wir ihm und befreien uns durch diese Spontaneität von den ausgetretenen und konventionellen Wegen, um in neue und offene Gebie225 Vgl. H.-G. Gadamer, Hermeneutik als praktische Philosophie, in: H.-P. SchönherrMann (Hg.), Hermeneutik als Ethik, München 2004, 48: »Es ist eine der fruchtbarsten Einsichten der modernen Hermeneutik, dass jede Aussage als Antwort auf eine Frage angesehen werden muss und dass der einzige Weg, eine Aussage zu verstehen, darin besteht, die Frage zu gewinnen.«

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Philosophische Inhalte: Quellen zum Staunen und Fragen

te vorzudringen. »Die Kunst des Fragens ist die Kunst des Weiterfragens, d. h. aber sie ist die Kunst des Denkens.« (WM 372)

3.3.3 Bedeutung für die Kultivierung der Menschenrechte Die Ausführungen zur philosophischen Frage bei Gadamer haben gezeigt, dass das Entstehen einer echten und offenen Frage zwar unterstützt, aber nicht eingefordert werden kann. Aus diesem Grund gelten die folgenden methodischen Anregungen lediglich der Kultivierung eines Raumes, innerhalb dessen Lebensweltgewissheiten in die Schwebe gebracht und hierdurch eine reflexive Haltung gegenüber der sozialen Wirklichkeit eingenommen werden kann. Ziel eines solchen Fraglich-Werdens ist sowohl die autonome Aneignung traditioneller oder konventioneller gesellschaftlicher Einstellungen als auch die Toleranz gegenüber alternativen Wirklichkeitsinterpretationen. Der spielerische und zugleich autonome Umgang mit der eigenen Lebenswelt und Kultur gilt als wesentlich für die Identitätsentwicklung des Kindes: denn es versteht sich selbst nur in Relationen zu der Gesamtheit dieses sozialen Netzwerks. 226 Eine dialogische Rekonstruktion solcher Wirklichkeitsinterpretationen fördert zugleich die grundsätzliche Offenheit gegenüber alternativen Interpretationen, weil die eigene Sichtweise eine autonom Gewählte ist – in dem Bewusstsein, dass es noch viele andere mögliche Interpretationen gibt. Erstens werden hierdurch andere Deutungen nicht als »entfremdend« erlebt, weil die eigene Einstellung gegenüber Geltungsansprüchen verteidigt werden kann. Und zweitens führt sie zu einer offenen und spielerischen Haltung gegenüber neuen Möglichkeiten, welche grundsätzlich als Erweiterung des eigenen »Ich-kann« (Merleau-Ponty) gesehen werden. Nicht zuletzt geht es um die Reduktion der Angst vor dem Fremden und Anderen. Im Hinblick auf die Sensibilisierung für Menschenrechte geht es darum, überhaupt für die Notwendigkeiten und Bedürfnisse anderer Menschen aufmerksam zu werden, d. i. den Anderen trotz seiner Andersheit in seinem Fühlen und Denken als Menschen wie mich selbst wahrzunehmen. In dem Moment, da diese Andersheit als Bedrohung 226 Vgl. zum Zusammenhang von Perspektivenübernahme und Identitätsentwicklung: G. H. Mead, Mind, Self and Society, Chicago 1934.

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

empfunden wird, ist die Gefahr groß, dem Anderen sein Menschensein abzuerkennen, um hierdurch seinen Anspruch zu entwerten oder sein Leiden zu verdrängen. Nur der angstverminderte Umgang mit Andersheit macht es überhaupt erst möglich, dieser ins Gesicht zu blicken und sie zu erkennen. In dem Moment aber, wo Andersheit als solche erkannt wird, bedeutet sie immer zugleich eine Infragestellung des eigenen Lebensweltkontextes und geht mit der Forderung einer Begründung einher. So stellt das bloße Dasein und Leid des Anderen mein Wohlsein in Frage: Warum habe ich zu essen und der andere nicht? Das alltägliche Dasein wird durch das Mitgefühl für das organischen Sein des Anderen (der so ist wie ich und zugleich nicht ich ist) in die Schwebe des »Warum so und nicht anders?« gebracht. Die organische Trennung und Unersetzbarkeit des Anderen sowie die Möglichkeit, dass die Andersheit mein eigenes Empfinden überlagert, führt zu der Ermöglichung der Frage des »Warum?« oder »Wie anders?«. Das Fragen ist ferner die Voraussetzung für die reflexive Distanznahme zur eigenen Lebenswelt und damit für einen jeden rationalen Diskurs im Sinne von Habermas: Ein Stück des unbewusst Gegebenen wird durch die Frage »verflüssigt«. Auf dieser Grundlage erst erfolgt die gemeinsame Rekonstruktion der Lebenswelt, wodurch sich die Kommunikationsteilnehmer wieder annähern und in einer gemeinsamen Welt bewegen. Die Wirklichkeit wird in Auseinandersetzung mit sozialen Veränderungen je akkommodiert bzw. die inneren Einstellungen werden aufeinander abgestimmt. Selbstverständlich ist eine solche Darstellung idealisierend, weil dieser Prozess in der Realität durch Brüche, Sprünge und Konflikte gekennzeichnet ist. Sie gilt deshalb als regulative Zielidee sowie als Grundlage zur Reflexion über die Wichtigkeit, dem Fragen und Wundern gesellschaftlich einen Raum zu geben.

3.3.4 Didaktische Anregungen Kinder sind oftmals weniger ängstlich, sich mit den Inhalten der Lebenswelt auseinander-zusetzen. Oft übernehmen sie dabei selbst die Rolle des Fragenden. Deshalb ist es optimal, wenn Kinder selbst mit ihren Fragen zur Diskussion anregen. Um jedoch einen Frageraum zu kultivieren, eignen sich folgende Quellen, die gemeinhin als »philosophische Inhalte« bezeichnet werden können. Hierzu gehören philoso176 https://doi.org/10.5771/9783495860625 .

Philosophische Inhalte: Quellen zum Staunen und Fragen

phische Primärtexte wie z. B. ein Aphorismus von Heraklit, ein Dialog von Platon zur Gerechtigkeit o. Ä. Je nach Alter der Kinder und Schwierigkeit der Texte können solche Quellen leicht umformuliert werden, um das Lesen zu erleichtern. 227 Darüber hinaus wurden in den letzten 40 Jahren eine Reihe von philosophischen Kindergeschichten geschrieben. Hierzu gehören beispielsweise die Geschichten über Harry Stottlemeier oder Pixie aus der Lipman-Schule. 228 Sie zeichnen sich dadurch aus, dass die Texte mehrere philosophische Problemstellungen enthalten und dadurch Kinder nicht auf ein philosophisches Problem (z. B. das Thema der Gerechtigkeit) fixieren. Das heißt, Kinder bleiben frei, sich auf das Thema zu konzentrieren, welches ihnen selbst gerade relevant erscheint. Auf ebensolche Weise bergen literarische Texte der Kinderliteratur einen reichen Schatz philosophischen Potentials. 229 Der Philosoph Gareth Matthews hat viel Arbeit darauf verwendet, solche Literatur für Kinder aufzuarbeiten bzw. deren philosophischen Gehalt zu extrahieren. Der Vorteil dieser Quellen ist, dass sie durch die oftmals hohe literarische Qualität besonders auch die Emotionen der Kinder anrühren und eine vertiefte Einsicht in fremde Erlebnisweisen vermitteln können. Aber auch konkrete Alltagssituationen (z. B. Konflikte in der Schule, kritische Ereignisse der Politik) bieten eine Menge Möglichkeiten zum Hinterfragen und Staunen. Nicht zuletzt sind auch alternative Quellen wie Kunstwerke, Musik, Gedankenexperimente und -reisen, Hörspiele, Naturphänomene 230 und Filme unerschöpfliche Quellen der Kultivierung des Staunens und Fragens. Insbesondere letztere Quellen betonen den phänomenologischen Aspekt des genauen Hinhörens und Hinsehens und damit die 227 Martens hat in den letzten Jahren eine ganz Reihe solcher philosophischer Primärtexte zusammengestellt und zum Teil mit didaktischen Anregungen versehen. Vgl. u. a.: Ich denke, also bin ich. Grundtexte der Philosophie, eingel. und komm. v. E. Martens, München 2006; oder E. Martens, E. Nordhofen u. J. Siebert, Philosophische Meisterstücke, Ditzingen 2001. 228 Es gibt inzwischen zu den verschiedensten Themen philosophische Kindergeschichten mit entsprechenden Unterrichtsmaterialien: z. B. zur Förderung der Emotionen oder zu Kinderrechten (vgl. beides Ann M. Sharp). 229 Es gibt hier natürlich unzählige Beispiele. Besonders schöne Beispiele sind The Giving Tree von Shel Silverstein oder Die Brüder Löwenherz von Astrid Lindgren. 230 Vgl. hier vor allem die anregenden Arbeiten von Mechthild Ralla u. a. in: E. Marsal, T. Dobashi, B. Weber, F. Lund (Hg.), Ethische Reflexionskompetenz im Grundschulalter, a. a. O., sowie dieselbe, Be-greifen. Auf dem Weg in philosophische Gespräche, in: Mitteilungen des Fachverbandes Philosophie e. V., 50, 2010, 65–70.

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

Verfeinerung der Sinne und Sensibilität für Atmosphären und Stimmungsräume. Am Anfang des Philosophierens mit Kindern steht der philosophische Impuls. Da dies zumeist eine Geschichte ist, empfiehlt es sich, dass die Kinder einen Kreis bilden, so dass sich alle Teilnehmer gegenseitig sehen können. Ist die Geschichte komplexer, so kann sie zunächst im Stillen und anschließend in der Gruppe gelesen werden. Dabei kann ein jedes Kind einen Satz oder Abschnitt lesen. Eine andere Möglichkeit ist das Lesen mit verteilten Rollen oder die »Pop up«-Methode, bei der jedes Kind so lange liest, wie es möchte, und dann spontan von einem anderen Kind abgelöst wird. Selbstverständlich entscheiden die Kinder selbst, ob und wie lange sie lesen möchten. Nach dem gemeinsamen Lesen sollte es Raum für Verständnisfragen geben. Im Anschluss daran beginnt der eigentliche philosophische Frageprozess. Es können nun Fragen gestellt werden, welche weder durch Berechnung, systematische Untersuchung oder Experimente gelöst werden können. 231 Zu Beginn liegt es an der Lehrkraft, solche Fragen zu erkennen. Grundsätzlich sollte jedoch gelten, dass alles relevant ist, was die Kinder interessiert. Motivieren kann man diesen Prozess des Fragens, indem man ihnen die Gelegenheit gibt zu sagen, was sie beim Lesen der Geschichte am meisten interessiert oder verwundert hat. Dies kann in Fragen umformuliert werden. Eine andere Methode ist die Beobachtung: An welchen Stellen der Geschichte sind die Kinder verwundert, lachen oder runzeln die Stirn? Wenn einzelne Kinder gerade am Anfang Probleme haben, ihre Fragen zu formulieren, so kann man die Mitschüler dazu anregen, sich gegenseitig zu helfen. Darin liegt auch ein wichtiger sozialer Aspekt, der die philosophische Community of Inquiry stärkt. Nachdem alle Fragen auf die Tafel geschrieben wurden, kann die Gruppe versuchen, ähnliche Fragen zu bündeln. Anschließend wählen die Kinder durch blindes Abstimmen eine Frage aus, die sie am meisten interessiert. Die Diskussion kann z. B. damit beginnen, dass das Kind, welches die ausgewählte Frage gestellt hat, nochmals genauer erklärt, 231 Philosophische Fragen sind z. B. die berühmten vier Fragen Kants. Für den philosophischen Dialog mit Kindern werden jedoch konkretere Fragen vorgeschlagen, welche sich, wenn möglich, an einem konkreten Phänomen orientieren. Ein Beispiel ist hier die von Martens vorgebrachte und mit Kindern viel diskutierte Frage »Können Blumen glücklich sein?«.

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Philosophische Methoden: Hilfen zum Denken, Fühlen und Sprechen

was es hiermit gemeint hat oder warum es gerade an diesem Thema interessiert ist. Es ist zu empfehlen, dass auch nachdem eine Frage ausgewählt wurde, trotzdem alle Fragen an der Tafel stehen gelassen werden. Sie sind die Grundlage für spätere sogenannte »Diskussionspläne«. Auch können weitere Fragen, die während der Diskussion aufgeworfen werden, hinzukommen. In jedem Falle sollte man alle Fragen zumindest kurz ansprechen oder mit einbeziehen, damit kein Kind ausgeschlossen bleibt oder das Gefühl hat, dass seine Frage »nicht wichtig« war. Das Lesen der Geschichte und das Fragenstellen kann (besonders zu Beginn) bis zu einer gesamten Schulstunde in Anspruch nehmen.

3.4 Philosophische Methoden: Hilfen zum Denken, Fühlen und Sprechen 3.4.1 Philosophieren als Methode: thematische Einführung Tugendhat fragt in diesem Zusammenhang, ob die Philosophie auf eine bloße Wissensdisziplin reduziert werden könne oder ob Philosophieren »noch« Methode hat. Denn wenn sie auf die Idee einer vermittelbaren Philosophiegeschichte reduziert wird, dann bleiben die Methoden eines tätigen Philosophierens natürlich auf der Strecke. In den 60er Jahren führte diese Debatte zu mehreren Spaltungen bei den Verfechtern philosophischer Methoden: nämlich zwischen den Methodenmonisten und den Methodenpluralisten. Erstere vertraten entweder die dialektisch-hermeneutische oder die positivistisch-wissenschaftstheoretische Methode. Zweitere kämpften gegen die Ausschließlichkeit von Methoden und forderten zwar deutlich getrennte, jedoch mehrere Methoden im Miteinander einer pluralistischen Gesellschaft. 232 Ekkehard Martens stellt sich auf die Seite der Methodenpluralisten und entwickelt als »Werkzeug« für den didaktisch geleiteten Ethikund Philosophieunterricht eine Art »Methodenzirkel«. Dabei extrahiert er aus den Dialogen Platons folgende fünf Methoden, welche er als Vorläufer der z. T. später weiterentwickelten Ansätze interpretiert: 233 Die Phänomenologie umfasst das genaue Beschreiben, was ist, 232 233

Vgl. K. Wuchterl, Methoden der Gegenwartsphilosophie, Stuttgart 1998. Vgl. E. Martens, Methoden des Ethik- und Philosophieunterrichts, a. a. O.

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und hiermit die Empirie. Die Hermeneutik hinterfragt eigene Lehrmeinungen, Interpretationen und ideengeschichtliches Wissen. Die Analyse möchte Prämissen, logische Widersprüche und zu enge bzw. weite Definitionen aufdecken. Die Dialektik wägt unterschiedliche Positionen ab, zielt im Dialog auf Pro und Kontra und muss Aporien aushalten. Die Spekulation stellt eine Art »Sonderfall« dar. Sie bedeutet, Einfälle zuzulassen, Phantasien einzubeziehen und Mythen zu Hilfe zu rufen. Selbstverständlich gilt sie nicht als klassische Methode, kann jedoch als ein wichtiger Aspekt des platonischen Dialogs gedeutet werden. Martens betont, dass diese Methoden als eine Abfolge in einem philosophischen Gespräch auftreten können, eine solche Abfolge aber nicht zwingend ist. 234 Für das vorliegende Bildungsprojekt gelten diese fünf Methoden als gezielte Schwerpunktsetzungen für die Vermittlung bzw. Kultivierung spezifischer Kompetenzen. Ausgangsbasis und Ort für die methodische Schwerpunktsetzung ist die Community of Inquiry. Sie ist eine Art demokratisch organisierte Dialogform, welche auf dem Philosophieverständnis Deweys aufbaut. Sie ist dem spezifischen Einsatz der Methoden immer schon vorgelagert. Aus diesem Grund werden Theorie und didaktische Praxis dieser Dialogform zunächst allgemein beschrieben, bevor einzelne Methoden zum Einsatz kommen. Zur gezielten Didaktisierung der fünf Methoden ist ferner eine weitere Spezifizierung notwendig. Der Grund hierfür liegt in der Tatsache begründet, dass die Geschichte der Philosophie viele Interpretationen der einzelnen Methoden hervorgebracht hat. Aus diesem Grund wird für die Phänomenologie auf Husserl und Merleau-Ponty zurückgegriffen. Sie dient der Sensibilisierung der Sinne und damit der Förderung des leibvermittelten Mitgefühls. Der Einsatz der Hermeneutik folgt der Theorie Gadamers bzw. den Weiterentwicklungen der philosophischen Hermeneutik durch Habermas und Rorty. Sie dient der Förderung eines kontextsensiblen, sprachlich vermittelten Mitgefühls, das durch die Suche nach Gemeinsamkeiten charakterisiert werden kann. Die Analyse und Dialektik werden im Sinne der kommunikativen Ver234 Es ist beispielsweise denkbar, dass das philosophische Gespräch mit einer genauen Beobachtung beginnt und hierdurch eigene Vorurteile in Frage gestellt werden, indem logische Widersprüche aufgedeckt werden. Im Dialog wird nun sowohl auf das Pro als auch auf das Kontra eingegangen. Die Spekulation vermag aus einem Dilemma herauszuhelfen, indem sie innovative Wege aufzeigt (vgl. E. Martens, Can Animals Think?, a. a. O.).

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nunft umgedeutet und hierdurch von ihren modernen bzw. analytischen »Altlasten« versucht zu befreien. Ziel ist das Hervorbringen von Unterschieden und damit die Einbeziehung des Anderen als Anderen (d. i. in seiner Einzigartigkeit). Gefördert werden soll ein kognitiver Perspektivenwechsel, welcher Fremden die Möglichkeit lässt, auch füreinander fremd zu bleiben und dennoch in einer gemeinsamen Lebenswelt zu leben und zu kooperieren. Ein solches Vorgehen wird auch »dialektisch« genannt, weil das Ziel das Zusammenbringen und damit die Reparatur der entzweiten Lebenswelt ist. Der Begriff der Spekulation greift schließlich die Idee der Utopie und Imagination wieder auf und soll das kreative Denken fördern.

3.4.2 Die »Community of Inquiry« als Dialoggemeinschaft Im Folgenden wird zunächst die theoretische Basis der Community of Inquiry beschrieben und schließlich einige didaktische Anregungen zur Kultivierung einer solchen Gesprächskultur vorgeschlagen. a.

Theoretische Grundlegung

Die philosophische Community of Inquiry, wie sie von Matthew Lipman entwickelt wurde, ist grundsätzlich eine demokratische Art des Dialogs, bei welchem alle Teilnehmer – egal welcher Religion, Alter oder Herkunft – auf einer Stufe stehen und sich gleichberechtigt an der Diskussion beteiligen. Es gilt das Prinzip des distributive thinking, d. h., im Laufe der Diskussion übernehmen die Teilnehmer verschiedene Denkoperationen bei der Bearbeitung einer Frage. Die Teilnehmer sitzen sich dabei gegenüber und sprechen sich direkt an. Anstatt Konkurrenz oder Leistung gilt das echte Interesse an der Frage. Die Teilnehmer entwickeln dadurch bei gleicher Zusammensetzung eine Art »denkerische Solidarität«: Die Diskussion basiert vornehmlich auf rationalen Denkoperationen, wie z. B. Kriterien, Gründe, Standards, welche im Laufe der Diskussion gegeneinander abgewogen werden. Jede Aussage entspricht einem Geltungsanspruch, welcher durch andere Teilnehmer herausgefordert werden kann. Optimalerweise wird hierbei unparteiisch verfahren und die Argumente nur nach inhaltlichen Kriterien geprüft. Erst wenn alle Teilnehmer von einer These überzeugt sind, gilt sie als vorläufig wahr. Das heißt, es geht in einer sol181 https://doi.org/10.5771/9783495860625 .

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chen Community of Inquiry nicht um eine Weitergabe von Wissen, sondern um die Verhandlung von gemeinsamen Werten und intersubjektiven Wahrheiten. Sie schafft einen Raum, in welchem alle Überzeugungen und Argumente hervorgebracht werden dürfen. 235 Formal orientiert sich die Community of Inquiry an Charles Peirces Konzept der Community of Scientific Inquiry, die eine Art konkurrenzlose Forschungsgemeinschaft darstellt. Das ultimative Merkmal des Menschseins ist für Peirce die Vernunft. Diese entsteht für ihn, da abhängig von der Sprache, einzig innerhalb einer Gemeinschaft. Aus der essentiellen Vernünftigkeit des Menschen einerseits sowie der sozialen Fundierung der Vernunft andererseits, macht auch das Selbst des Menschen, welches sich durch einen kontinuierlichen Wachstumsprozess auszeichnet, nur in Bezug auf Andere Sinn. Aus diesem Grund ist Denken niemals ein interner Prozess. Denn auch wenn das Selbst für sich nachdenkt, gibt es mindestens zwei Elemente: ein kritisch-vernünftiges und ein innovatives Element. Mit dieser Idee einer Verknüpfung von Gemeinschaft und Lernen bezieht sich Peirce auf die Idee des »sozialen Lernens« bei George Herbert Mead: »The child does not become social by learning. He must be social in order to learn.« 236 Hieran schließt nun die Idee des bereits erwähnten distributive thinking an: In der Praxis bedeutet das kooperative Nachdenken die Anwendung verschiedener Denkoperationen auf ein gemeinsames Problem; z. B. versucht ein Mitglied einen Vergleich von zwei Beispielen gerechten Verhaltens, während ein anderer Teilnehmer bemerkt, dass es sich bei diesen beiden Aussagen um zwei unterschiedliche Auf-

235 Auf natürliche Weise werden in einer solchen Situation auch gesellschaftlich inakzeptable Meinungen auftauchen (z. B. Ausländerfeindlichkeit). Dies ist ein wichtiger Bestandteil der Methode, welche von der offenen und unvoreingenommen Konfrontation sämtlicher Meinungen lebt. Die aktuellen Geschehnisse haben gezeigt, wie »versteckte Aggressionen« zu fatalen Folgen führen können. Die Community of Inquiry ist deshalb zuallererst ein Ort, an dem alles gesagt werden soll, darf und kann. Die Theorie einer idealen Diskurssituation sagt voraus, dass sozial schädliche Thesen aufgrund inhärenter logischer Widersprüche ihren Geltungsanspruch nicht aufrechterhalten können. Eine solche kognitive Dissonanz im Einstellungsgefüge der Teilnehmer führt zu einer Rekonstruktion von Einstellungen (vgl. Festingers kognitive Dissonanztheorie). 236 G. H. Mead, The Psychology of Social Consciousness Implied in Instruction, Science 31 (1910), 688–93: Ebenso sollten, laut Mead, Textbücher dialogisch aufgebaut sein, weil sie sich dann an der Art und Weise orientieren, wie wir denken. D. h. die Gedanke folgen dem Argument der Diskussion.

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fassungen von Gerechtigkeit handelt. Ein drittes Mitglied weiß zu helfen, indem es zeigt, dass es sich in der vorliegenden Situation nur um den einen Aspekt von Gerechtigkeit handeln kann. Das heißt, jedes Mitglied übernimmt eine Denkoperation und bringt dadurch die Diskussion voran. Für Peirce erfolgt Denken genau in diesem dialektischen Für und Wider verschiedener Perspektiven. Erst hieraus kann sich ein »vernünftiges« Ergebnis herausbilden. 237 Die Annahme, dass solche verteilten Denkprozesse internalisiert und schließlich auch von einzelnen Teilnehmern außerhalb der Community of Inquiry praktiziert werden, wird durch die Untersuchungen von Lev Vygotsky bestätigt. 238 Ein solches gemeinschaftliches Lernen in einer Community of Inquiry basiert darüber hinaus auf einer werthaften (d. i. emotionalen) gemeinsamen Erfahrung der Teilnehmer. Das bedeutet, dass sie gemeinsam selbst schwierige Problem lösen können bzw. Konflikte und Auseinandersetzungen kooperativ überwinden. 239 Das Konzept des distributive thinking folgt ferner der Grundidee der Demokratie: Alle Perspektiven werden aufgedeckt, aber inakzeptable Denkwege von der Gruppe selbst aufgespürt und widerlegt. Ein solcher Demokratiebegriff beruft sich selbstverständlich auf Dewey, weil die Erziehung zur Demokratie und Reflexion über gemeinschaftliche Werte zur gesellschaftlichen Aufgabe der Philosophie wird. 240 Das heißt, für Dewey ist die Philosophie allgemein eine »special nonscientific form of cognition that is concerned with the judgment of value as a unique form of inquiry – a judgment of judgment, a criticism of criticism« 241. Ihr geht es nicht um absolute Wissensgehalte, sondern um die 237 Dies gleicht dem Zusammenspiel zweier Freunde bei der Reparatur eines Fahrrades. Vier Hände befinden sich in einem gemeinsamen Dialog: die eine Hand hält, während die andere etwas am Rad befestigt. 238 L. Vygotsky, Denken und Sprechen, Weinheim 2002 und ders., Kindliche Kommunikation, Münster/ München 2007. 239 M. Lipman, Thinking in Education, a. a. O., 93. 240 Vgl. hierzu auch das bereits weiter oben erwähnte Zitat: »Wenn einmal erkannt ist, dass Philosophie unter dem Anschein, sich mit der letzten Realität zu befassen, in Wirklichkeit mit den kostbaren Werten beschäftigt ist, die in die sozialen Traditionen eingebettet waren, […] dann wird man sehen, dass die Aufgabe zukünftiger Philosophie darin besteht, die Vorstellungen der Menschen über die sozialen und moralischen Konflikte ihrer eigenen Tage zu klären.« J. Dewey, Die Erneuerung der Philosophie, Hamburg 1989, 73 f. 241 J. Dewey, Aesthetics: Problems in the Philosophy of Criticism, 1958, 398, zitiert nach Lipman, Thinking in Education, a. a. O., 38.

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Konstruktion einer sozialen und pragmatischen Wirklichkeit. Die Community of Inquiry versteht sich deshalb als didaktische Ausarbeitung einer solchen Zielsetzung. 242 b.

Didaktischer Leitfaden

Charakteristik der »Community of Inquiry« Durch das bereits Gesagte sollte klar geworden sein, dass es sich bei dieser Art des philosophischen Gesprächs weder darum handelt, zu interpretieren, was ein bestimmter Philosoph oder Philosophin gemeint hat, noch um die Aneignung von philosophiegeschichtlichem Wissen. Vielmehr diskutieren die Kinder ausgehend von einem Text oder einer alternativen Quelle eine philosophische Problematik, welche in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer eigenen Lebenssituation steht. Der wichtigste Unterschied zur normalen Unterrichtssituation ist, dass in einer Community of Inquiry weder die Lehrkraft noch die Kinder die Antwort auf die Frage wissen. Die Lehrperson nimmt deshalb eine orientierende, keine leitende Funktion ein. Sie zeigt Interesse an jeder Äußerung und vermittelt das Gefühl, dass jedes Kind/Teilnehmer einen Unterschied macht. Im Zentrum steht jedoch das Gespräch zwischen den Kindern. Dies führt zu einer weitestgehenden Eigenverantwortlichkeit der Gruppe, in welcher die Lehrkraft optimalerweise »nur« ein Teilnehmer von mehreren ist. Dabei ist darauf zu achten, dass sich möglichst alle Kinder an der Diskussion beteiligen. Es ist wichtig, dass die Kinder nicht das Gefühl haben, es ginge um Konkurrenz oder das gegenseitige Übertrumpfen von Argumenten, sondern vielmehr um das echte Interesse an der Frage und damit das gemeinsame Voranbringen der Diskussion. Selbstverständlich bedeutet das, dass manchmal eigene Ideen zurückstehen müssen, weil die Diskussion eine andere Richtung nimmt. Oftmals wird die Kultivierung von Solidarität in einer Klasse durch die bloße Anwesenheit einer Autorität unterbunden (»divideand-rule«-Methode). Da die Community of Inquiry jedoch ganz auf Selbstorganisation vertraut, spielt die stete Selbstreflexion eine große

242 Ein solches pragmatisches Philosophieverständnis von Dewey rechtfertigt den Ausbau eines stark partizipatorischen Ansatzes innerhalb des Philosophierens mit Kindern.

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Rolle, welche mit der Zeit das Gefühl der Solidarität zwischen den Kommunikationsteilnehmern fördert. In ihrem Vertrauen auf Selbstregulation und Vermeidung von autoritären Hierarchien ähnelt die Community of Inquiry der idealen Diskurssituation von Habermas. Struktur und Leitung der »Community of Inquiry« Zentral und charakteristisch für die philosophical Community of Inquiry ist der Einsatz mehrerer »Facilitators«.243 Diese übernehmen zwei Funktionen: eine anleitende und eine beobachtende. Der beobachtende Facilitator transkribiert die Sitzung, damit im Anschluss alle Inhalte und Argumentationsstrukturen von der Gruppe analysiert und nachvollzogen werden können. Dies ist einerseits für den leitenden Facilitator hilfreich, um seine Vorgehensweise zu reflektieren sowie die Dynamik der Gruppe besser verstehen zu können. Andererseits können auf diese Weise Fehlschlüsse nachvollzogen und beim nächsten Treffen korrigiert werden. »Thinking that generates judgments usually relies upon criteria, which is another way of saying that the making of good judgments can be traced back to utilization of strong and reliable reasons.« 244 Die Transkriptionen werden in der Regel zu Beginn des nächsten Treffens vorgelesen und dienen zur Anregung einer kurzen Metakommunikation der Gruppe über die Qualität und die Inhalte der letzten Sitzung. Diese Art der Metakommunikation übernimmt eine zentrale Funktion in der Kultivierung einer solchen Gesprächskultur, denn es geht darum, dass Kinder eine Sensibilität dafür entwickeln, welches Verhalten die Gruppe als Ganzes weiterbringt und welches dies verhindert. Es wird klar, dass philosophische Probleme nur von der Gruppe gemeinsam gelöst werden können. Hiermit soll das Verantwortungsgefühl für die Gruppe gestärkt und egozentrisches Verhalten unterdrückt werden. Das Vorlesen solcher Transkriptionen macht Kinder außerdem Stolz auf die kooperative Denkleistung als Gruppe. Bei älteren Kindern oder Jugendlichen kann diese Funktion u. U. auch von

243 Ich übernehme hier den englischen Ausdruck, weil es sich nicht um einen »Gesprächsleiter« im klassischen Sinne handelt, sondern vielmehr um einen »Ermöglicher«. Er übernimmt eine Vorbildfunktion zu Beginn, zieht sich aber zunehmend in seiner anleitenden Funktion zurück, damit sich die Gruppe schließlich vollends selbst verwaltet und die Funktion des »Facilitators« auf die gesamte Gruppe verteilt wird. 244 M. Lipman, Thinking, Children, Education, a. a. O., 638.

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der Gruppe selbst übernommen werden, denn nicht immer stehen mehrere Lehrkräfte zur Verfügung. Der leitende Facilitator übernimmt in den ersten Sitzungen eine Vorbildrolle: Er führt Gesprächswendungen (Engl. moves) vor, hört aktiv zu, fragt nach etc. Er/Sie ist ferner für die Rahmenbedingungen verantwortlich, wozu die Organisation der Meldungen, die Zeiteinteilung und der Ablauf gehören (Geschichte lesen, Diskussion, Zusammenfassung etc.). Struktur und Qualität der »Community of Inquiry« Nach dem Gesagten könnte nun der Eindruck entstehen, dass der Facilitator dieser Community of Inquiry eine stärker pädagogische Funktion hat und keine besonderen philosophischen Vorkenntnisse oder Fähigkeiten benötigt. Es soll im Folgenden jedoch das Gegenteil bewiesen werden: Eine Community of Inquiry benötigt oft eine längere Anlaufphase, bevor sie wirklich funktionieren kann und die Kinder tatsächlich in der oben beschriebenen Weise diskutieren. In dieser Übungsphase ist die Vorbildfunktion des leitenden Facilitators besonders wichtig. Er/Sie führt bestimmte leitende Gesprächswendungen (moves) ein. Diese kommentieren je, wo sich das Gespräch gerade befindet bzw. heben es auf eine weitere Abstraktionsebene. Wichtige Gesprächswendungen sind beispielsweise: – Identifikation und Gebrauch von Kriterien – Klassifizieren/Kategorisieren – Identifikation von Annahmen/Vorurteilen – Implikationen verfolgen – Verschiedene Perspektiven ausprobieren – Analoges Denken – Generalisieren – Differenzieren – Über mögliche Konsequenzen nachdenken – Lokalisierung des Arguments – Identifikation von Ähnlichkeiten und Unterschieden – Konditionelles Denken – Beispiele geben und ihre Nützlichkeit erwägen – Syllogismen benutzen (vom Allgemeinen zum Besonderen) – Mit Definitionen arbeiten 186 https://doi.org/10.5771/9783495860625 .

Philosophische Methoden: Hilfen zum Denken, Fühlen und Sprechen

– – – –

Klären und Wiederholen von Aussagen Mit Hypothesen arbeiten Zusammenfassen Unterscheidungen machen

Besonders bei der Einführung der Methode kann der Facilitator ein reflektierendes und nachfragendes Vorbild sein. Mit der Zeit werden die »Peers« sich gegenseitig Vorbild sein und hierdurch einen gewissen Stolz oder auch Zutrauen entwickeln, dass sie selbst denken und wechselseitig auf ihre Ideen aufbauen können. 245 Das heißt, die Kinder werden diese Gesprächswendungen (moves) selbst übernehmen. Idealerweise wird der Facilitator die Verantwortung für die Diskussion schrittweise an alle Mitglieder abgeben. Dennoch ist es seine/ihre Aufgabe – und zwar sowohl für den leitenden als auch für den transkribierenden – sich immer darüber im Klaren zu sein, was zu jedem Zeitpunkt in der Diskussion geschieht. Zur besseren Transparenz sollen deshalb verschiedene Gesprächsfacetten unterschieden werden: a. Die quantitative Gesprächsebene zeigt das Abstraktionsniveau an, d. h., ob sich das Gespräch mit einem Beispiel beschäftigt, eine argumentative Theoriebildung versucht oder auf der Metaebene über die allgemeine Qualität des Gesprächs reflektiert. b. Die inhaltliche Ebene unterscheidet zwischen verschiedenen »Gesprächswendungen«, z. B. Versuch der Theoriebildung, Hypothesen, Differenzierungen o. Ä. sowie c. die qualitative Ebene, welche die emotionale Ebene des Gesprächs umfasst (Frustration, Betroffenheit, Anspannung, Begeisterung etc.) und welche durch die Körpersprache sichtbar wird. Die verschiedenen Facetten des Gesprächs werden durch die folgende Graphik dargestellt. Selbstverständlich verlaufen solche Gespräche nicht linear, sondern sind durch Sprünge und Kurven gekennzeichnet.

245 Natürlich können Diskussionen durchaus auch einmal hitzig sein. Dann sollen Kinder erfahren, dass solche Herausforderung gut sein können, wenngleich nicht unbedingt aggressiv sein müssen. Natürlich hat hierbei die Körpersprache einen bedeutenden Einfluss – leider kann ich auf diesen Aspekt nur hinweisen, denn er würde ein Kapitel für sich in Anspruch nehmen.

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Hilfestellungen bei der Kultivierung der »Community of Inquiry« Folgende Aspekte helfen sowohl den Kindern als auch dem Facilitator, die Folgerichtigkeit der Diskussion zu gewährleisten und die Gruppe beim Thema zu halten. 246 Verständnis Immer wieder sollte gefragt werden, ob das, was gesagt wurde, von allen verstanden wurde. Bei einer komplizierteren These oder einem komplexeren Gedankengang ist es hilfreich, das Gesagte von einem anderen Kind wiederholen zu lassen. Es ist wichtig, dass eine Atmosphäre des sich gegenseitigen Helfens entsteht. Besonders zu Beginn sollte der Gesprächsverlauf immer wieder kommentiert werden, damit sich die Gruppe ihrer moves bewusst wird – z. B.: War die Definition hilfreich?, Auf welcher Ebene der Diskussion befinden wir uns?, Kann jemand ein Beispiel geben?, Welche Frage beantworten wir gerade? etc. 246 Mit der folgenden Darstellung beziehe ich mich sowohl inhaltlich als auch sprachlich in weiten Teilen auf die Ausführungen von Philip Cam (P. Cam, Thinking Together, Sidney 1998).

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Folgerichtigkeit Alle Teilnehmer sollen darauf achten, ob das Gesagte folgerichtig ist. Bei Uneinigkeiten ist es wichtig, diese bewusst zu machen und sie als lebendig und positiv zu bewerten. Uneinigkeiten sollen zu einem weiteren »Für und Wider« ermutigen. Dabei ist es nicht wichtig, wer letztlich Recht hat. Eine Einigung ist nicht unbedingt erforderlich. Kriterien Der Facilitator sollte immer wieder prüfen, ob geeignete Kriterien verwendet werden. Bei der Beurteilung soll die ganze Gruppe miteinbezogen werden. Zum Beispiel bei der Frage, ob die beiden Protagonisten einer Geschichte Freunde sind, ist zu fragen, aufgrund welchen Kriteriums das Kind annimmt, dass die beiden Freunde sind. Alternativen Immer wieder sollte über Alternativen nachgedacht werden. Vor allem, wenn die Diskussion im Streit über nur zwei Möglichkeiten stecken bleibt. Unterscheidungen Auch Unterscheidungen sind sehr wichtig. Vergleicht die Gruppe u. U. zwei Dinge, die eigentlich sehr unterschiedlich sind (z. B. das Verhalten zwischen Freunden und zwischen zwei Fremden)? Implikationen und Voraussetzungen Immer wieder sollte gefragt werden, von welchen Voraussetzungen die Diskussion ausgegangen ist (z. B. gehen wir von einer Verallgemeinerung oder falschen Grundbedingung aus?). Auch ist es wichtig, auf die Implikationen bzw. die Konsequenzen einer Äußerung hinzuweisen. Beispielsweise kann die Aussage, dass Lügen schlecht ist, in ein Dilemma führen, wenn ein Freund uns bittet, für ihn zu lügen. Es steht der Wert der Freundschaft gegen den Wert der Ehrlichkeit. Beim Thema bleiben Besonders bei jüngeren Kindern ist es wichtig, dass man durch gezielte Fragen, wie z. B. »Kannst Du das Gesagte mit unserem Thema verbinden?«, die Gruppe beim Thema hält. Wenn Kinder viele Beispiele bringen, so ist das wichtig und gut. Man sollte je189 https://doi.org/10.5771/9783495860625 .

Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

doch versuchen, die Beispiele auf das Thema zurückzubeziehen und zu klären, wie diese die Diskussion weiterbringen. Selbstkritik Für eine philosophische Diskussion ist es besonders wichtig, dass die Kinder sich selbst korrigieren, wenn sie während der Diskussion neue Impulse bekommen. Wenn Kinder ihre Meinung ändern und dies kundtun, sollte dies in besonderem Maße belohnt werden. Respekt Der Kern einer solchen Diskussion ist, dass sich die Kinder gegenseitig respektieren, die Diskussion nicht an sich reißen, mit Interesse Zuhören und Freude haben am gemeinsamen Denken. Dies erfordert Zeit und Geduld. Am Anfang mag es nur für wenige Minuten funktionieren. Doch je mehr der Facilitator selbst sich so verhält bzw. solches Verhalten belohnt, werden die Kinder dieses Verhalten nachahmen. Handhabung häufiger Probleme Oft wird man dem Problem begegnen, dass die Diskussion zu hastig voranschreitet und dadurch wichtige Aspekte oder Zwischenschritte übersprungen werden. Um die Diskussion zu verlangsamen, bietet es sich an, immer wieder nachzufragen, wo sich die Gruppe im Moment mit der Diskussion befindet, Definitionen zu überprüfen sowie komplexe Ideen von einem anderen Mitglied wiederholen zu lassen. Die Vorbereitung einer solchen Diskussion durch diskussionsleitende Interventionen, philosophische Übungen und Diskussionspläne kann davor bewahren, dass Gespräche ins Stocken geraten, auf einer reinen Wissensebene stecken bleiben, lediglich persönliche Erfahrungen sammeln oder Aussagen zusammenhangslos nebeneinander stehen bleiben. Ferner kann der Konflikt auftreten, dass man entweder »nett miteinander umgeht« oder auf der inhaltlichen Ebene weiterkommt. Hinter diesem Dilemma steckt in der Tat ein größeres Problem, nämlich die Frage, ob und was das Philosophieren mit Kindern erreichen möchte. Einerseits verlangt Philosophieren per se einen wertneutralen Dialog, in welchem alle Möglichkeiten und Argumentationen fair gegeneinander abgewogen werden, ohne sich schon im Voraus für einen Wert entschieden zu haben. Wenn wir aber – als Pädagogen/-innen – Kindern einen mitfühlenden, toleranten, verständnisvollen Umgang 190 https://doi.org/10.5771/9783495860625 .

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innerhalb einer Community of Inquiry vermitteln möchten, so haben wir insgeheim bereits über diese Werte entschieden. Dieser Konflikt wurde bereits im Zusammenhang mit dem Verhältnis zwischen Pädagogik- und Philosophieverständnis beschrieben und zeigt auch hier wieder, inwiefern das Philosophieverständnis die Intention und praktische Ausführung eines solchen Dialogs beeinflusst. 247 Wird dieses Dilemma ignoriert, so kann es sein, dass die Community of Inquiry irgendwann ihr »hässliches Gesicht« 248 zeigt: Dabei wird die Autorität des/der Gesprächsleiters/-in bzw. fundamentale Werte per se von den Teilnehmern in Frage gestellt. Der Facilitator sollte auf solche Reaktionen vorbereitet sein und diese rechtzeitig erkennen. Schließlich dienen solche »Krisen« der Reorganisation des »Gesamtsystems Klasse« und können dazu führen, dass der Dialog auf einem höher reflektierten Niveau weitergeführt wird.

3.4.3 Methodenspezifische Erweiterungen der Community of Inquiry zur Kultivierung von Mitgefühl und kommunikativer Vernunft Die Kultivierung einer funktionierenden Community of Inquiry wird als erster Schritt zur Förderung eines Bewusstseins für Menschenrechte gesehen. Um aber die Zielsetzungen einer Menschenrechtsbildung in Abhängigkeit von kommunikativer Vernunft und Mitgefühl zu erreichen, wird im Folgenden eine methodenspezifische Erweiterung der Community of Inquiry vorgeschlagen. Sie dient der Schwerpunktsetzung zur Kultivierung spezifischer Kompetenzen und bedient sich hierbei folgender Methoden: Der Phänomenologie (Husserl, Merleau-Ponty) für die Sensibilisierung der Sinne und damit dem gefühlsgeleiteten Mitgefühl; der Hermeneutik (Gadamer) für die Bewusstwerdung des eigenen Verstehenshorizontes und des Perspektivenwechsels (Einbeziehung des Anderen durch Gemeinsamkeiten); der Dialektik und Logik, welche jedoch als kommunikative Vernunft (Habermas) umgedeutet werden und damit die Unterschiede und Differenzen zwischen den Teilnehmern herausarbeiten (Einbeziehung des Anderen als Ande247 Vgl. zur eingehenden Diskussion dieses Problems: S. Gardner, Love Thy Neighbor, a. a. O. 248 Ausdruck angelehnt an ein Gespräch mit David Kennedy, Montclair State University, August 2005.

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

rer) sowie der Spekulation (Rorty), welche zum kreativen Denken jenseits von Verschiedenheit und Gemeinsamkeit anregen soll (Prinzip der Hoffnung und Imagination). Dabei soll nochmals betont werden, dass es nicht um eine getrennte und unabhängige Förderung von Mitgefühl und kommunikativer Vernunft geht, sondern vielmehr um die Förderung allgemeiner Sensibilität und Mitgefühl als Voraussetzung dafür, ethische Konfliktsituationen überhaupt wahrnehmen zu können. Umgekehrt benötigt die kommunikative Vernunft die Fähigkeit zur kontextsensiblen Anwendung der gefundenen ethischen Prinzipien (Einbeziehung der verantwortungsethischen Aspekte). Darüber hinaus wird die leibliche Verankerung in einer geteilten Lebenswelt als Voraussetzung dafür gesehen, dass wir uns durch Argumente verständigen, d. h., dass wir überhaupt einen Perspektivenwechsel vornehmen können. 249 a.

Phänomenologie (Husserl/Merleau-Ponty): die Sensibilisierung des Mitgefühls durch die Kultivierung der Sinne

An anderer Stelle 250 habe ich ausführlich begründet, warum eine sprachphilosophische Engführung des Mitgefühlsbegriffs nicht praktikabel erscheint. Vielmehr konnte gezeigt werden, dass die Kultivierung von Mitgefühl an eine Sensibilisierung der Sinne rückgebunden bleiben muss. Das Ziel des Bildungsprojektes ist deshalb die leibfundierte Sensibilisierung des Wahrnehmungsapparates als Basis eines solchen Mitgefühls sowie die Kultivierung eines gemeinsamen Sinn-Raumes. Die Phänomenologie als Methode für eine solche Sensibilisierung soll im Folgenden kurz dargestellt und schließlich durch einige didaktische Impulse ergänzt werden. Theoretische Grundlegung Die von Husserl ausgehende phänomenologische Methode gleicht dem Versuch, einen Erkenntnisgewinn durch die unmittelbare Beschreibung von Erscheinungs- und Wirkungsformen für den Menschen zu erzielen. Husserl geht davon aus, dass unser Bewusstsein immer auf einen Gegenstand gerichtet ist, d. h., die Intentionalität unseres Be249 Vgl. hier die Ausführungen in B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O. 250 Vgl. ebd. sowie B. Weber, Zwischen Vernunft und Mitgefühl, a. a. O.

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Philosophische Methoden: Hilfen zum Denken, Fühlen und Sprechen

wusstseins immer schon Bewusstsein von etwas ist. Die Gegenstände werden erst durch das Licht jener Intentionalität beleuchtet. Daran schließt der Begriff der Abschattung an, nämlich dass der Mensch immer nur eine Perspektive zu gegebener Zeit einnimmt. Deshalb haben alle Gegenstände für den Menschen immer eine Rückseite, d. h. eine für ihn im Moment unsichtbare Seite. 251 Den beiden Begriffen Noema und Noesis kommt in dieser intentionalen Gerichtetheit des Bewusstseins eine zentrale Bedeutung zu, denn sie sind die Grundmomente einer solchen Gegenstandskonstitution. 252 Obwohl Husserl kontextuelle Zusammenhänge von Erscheinungen beschreibt, möchte er dennoch zu den »Ideen«, d. i. der Identität eines Gegenstandes, vorstoßen. Eine solche Idee ist bei ihm jedoch von allen metaphysischen Gehalten befreit. Eine Annäherung geschieht vermittels der eidetischen Variation 253 bzw. der Epoche. Letztere ist für Husserl die Ausschaltung der Generalthesis der natürlichen Einstellung, d. i. die Einklammerung der Voreinstellungen. 254 Aus dem Gesagten lässt sich die Antithese zu Kants stehender Forderung »Sapere aude« folgendermaßen formulieren: »Habe Mut, Dich Deiner eigenen Sinne zu bedienen!« 255 Anstatt sich einer naiven Wissenschaftsgläubigkeit hinzugeben, ist die Phänomenologie der Versuch, sich mit den Komplexitäten der phänomenalen (d. i. erscheinenden) Welt auseinander-zusetzen. Dies basiert auf der Überzeugung, dass eine sinnenentbundene Weltinterpretation zu grundlegenden Missverständnissen führt. Ein Beispiel wird hier von James Mensch hervorgebracht: 256 Er betont, dass die Aussage »Es ist heute kalt, weil das Thermometer 0 Grad zeigt« eine falsche Interpretation einer bloßen Abstraktion sei. Denn selbstverständlich zeigt das Thermometer 251 Ein Beispiel dafür, dass bereits bei Husserl der Körper als spezifisches Zur-Welt-Sein des Menschen eine zentrale Rolle spielt. 252 Noesis ist die Art und Weise, wie sich der Mensch auf einen Gegenstand bezieht und Noema ist der Gegenstand, wie er durch diesen Akt erscheint (vgl. u. a. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Halle (Saale) 1913). 253 D. i. die Identität eines Gegenstandes in verschiedenen Intendierungsakten. 254 In einem ersten Schritt werden dabei alle theoretischen Vorannahmen ausgeschaltet. In einem zweiten Schritt wird die Existenz des Gegenstandes ausgeschlossen, um auf die bloße Washeit des Gegenstandes vorzustoßen (Wesenheit des Gegenstandes). 255 Vgl. hierzu auch zur Phänomenologie in: E. Martens, Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts, a. a. O. 256 J. Mensch, Ethics and Selfhood, a. a. O., 155.

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

weder warm noch kalt an, sondern ist schlicht die Folge einer chemischen Reaktion, welche das Quecksilber ansteigen lässt. Die Gefahr besteht deshalb darin, die Abstraktionen als reale Manifestationen zu deuten. Aus diesem Grund lautet Husserls Forderung: »Zurück zu den Sachen selbst«; d. h., dass wir uns dem zuwenden, wie uns die Dinge erscheinen, einen Unterschied für uns machen, eine Erfahrung bewirken und dadurch Sinn machen. Hieraus ergibt sich die Verknüpfung von Sinn und Sinnlichkeit. Diese Gedanken werden von Merleau-Ponty radikalisiert. Er sagt: »Bewusstsein ist Sein beim Ding durch das Mittel des Leibes«. 257 Denn erst durch das Verhältnis des Körpers zur Welt hinterlassen die Dinge eine Spur in unserem System, machen einen Unterschied und erlangen hierdurch Bedeutung. Eine »sinnen-entleerte« Erfahrung ist zugleich eine »sinn-entleerte«, weil sie zu unserem Körper in keiner Beziehung des »Ich-kann« steht und deshalb in ihrer Bedeutung abstrakt bleibt. Wenn also nur ein wahrgenommener Unterschied eine sinnvolle Erfahrung bedeutet, dann heißt das, dass eben diese »Wahrnehmung von Unterschieden« kultiviert werden muss. Ein Säugling nimmt beispielsweise noch wenige Unterschiede wahr und die Sinnenwelt ist deshalb weitgehend sinnentleert. Erst durch die Verknüpfung von Wahrnehmung und körperlicher Bewegung erlangen Gegenstände eine Bedeutung und stehen nun in einer sinnvollen Beziehung zueinander. Ähnliches gilt für die Interaktion zwischen Menschen und der Reaktion auf Mimik und Gestik: Nur ein wahrgenommener Ausdruck kann mit Sinn gefüllt werden. Das Wahrnehmen von Unterschieden geht aber oftmals mit der Empfindung des Verwundertseins einher: Etwas aus der Umwelt tritt mir in seinem Sein entgegen. Die Intentionalität bedeutet nun, dass den einzelnen Bewusstseinsakten (cogitationes) Einheit verliehen wird (im steten Bezogensein auf die Welt). Die Maxime der Phänomenologie lautet deshalb: »Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas«, da wir uns gedanklich stets auf eine konkrete Welt beziehen. Dies impliziert, dass sich eine phänomenologische Untersuchung nicht auf das Bewusstsein beschränken darf. Sie muss vielmehr das »vermeinte« Objekt, auf das das Bewusstsein gerichtet ist, berücksichtigen (d. h., es gibt kein Bewusstsein an sich). Für die Phänomenologie gibt es deshalb keinen archime257

M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, a. a. O., 167 f.

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Philosophische Methoden: Hilfen zum Denken, Fühlen und Sprechen

dischen Fixpunkt oder ein cartesisches Ich. In diesem Sinne kehrt sie zu den »Dingen selbst« zurück. Allerdings sind diese Dinge nicht einfach Dinge der unabhängig existenten Außenwelt – also objektiv zu beurteilende Dinge der Außenwelt (wie die »naive« Einstellung annimmt, die in einem ersten Schritt eingeklammert werden muss) –, sondern sie sind bestimmt als das »Sich-selbst-Gleichbleibende« im Wandel der verschiedenen, auf ein Objekt bezogenen Akte (z. B. kann man dieses Buch wahrnehmen, sich wünschen, verabscheuen usw.). Erkennen ist kein innerpsychischer Vorgang, sondern ein Aufdecken dessen, was sich uns als Seiendes in der Welt erschließt bzw. wie sich etwas als etwas zeigt. Eine Extraktion und vollständige theoretische Erfassung dieser Sinn- und Seinsweise des Menschen ist eben aufgrund ihrer vorgängigen und präreflexiven Struktur nicht möglich. Wohl aber kann das Bewusstsein für solche Wahrnehmungsakte geschärft werden. Didaktische Anregungen 258 Als Methode umfasst die Phänomenologie das Ausklammern aller theoretischen Erklärungsmuster und stattdessen die Auseinandersetzung mit den Phänomenen in ihren vielfältigen Erscheinungsweisen. Darüber hinaus konzentriert sie sich auf die lebensweltlichen, leibgebundenen und problemorientierten Zugangsweisen. Sie stellt oftmals das Selbstverständliche in Frage. Als Anregung gilt die Arbeit mit freien Formen, Bildern und Mythen. Sie zielt in dieser Auseinandersetzung auf intuitive Assoziationen im Zusammenhang mit verschiedenen Erscheinungen (ähnlich zur geleiteten Assoziation bei Freud). Ralla greift ebenfalls methodisch auf die Phänomenologie zurück und bedient sich verschiedener Naturmaterialien, um philosophisches Staunen und Fragen bei Kindern zu generieren. 259 Folgende Übungen stellen exemplarische Möglichkeiten der Phänomenologie dar, um die Sinnestätigkeit und damit die Kapazität für Mitgefühl anzuregen. Diese Beispiele gelten als eine Art Anregung sowie als Veranschaulichung, um das Gesagte konkreter zu machen: a. Eine Übung besteht darin, einen vorliegenden Gegenstand so genau wie möglich zu beschreiben und alle bekannten und vorstell258 Vgl. zu diesen Anregungen zur didaktischen Umsetzung der Phänomenologie: Johannes Rohbeck, Didaktik der Philosophie und Ethik, Dresden 2008 sowie Matthias Bublitz, Essay zu einer systemisch-historischen Philosophiedidaktik, Münster 2006. 259 Vgl. M. Ralla, Be-greifen. Auf dem Weg in philosophische Gespräche, in: Mitteilungen des Fachverbandes Philosophie e. V., 50, 2010, 65–70.

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

baren Verbindungen, Berührungen, Gebrauchs- und Verwendungszusammenhänge zu anderen Gegenständen und Menschen offenzulegen. Er soll so in die Welt eingeordnet werden, dass andere »erraten« können, um welchen Gegenstand es sich handelt, ohne dass der Name des Gegenstandes vom Beschreibenden genannt wird. b. Eine weitere Aufgabe ist, einen Gegenstand mit allen Sinnen zu erfassen. Diese sollen zu einem Gesamtbild verschmelzen. c. Ein Gegenstand soll beschrieben werden, indem nur darüber gesprochen wird, was er nicht ist. d. Auf ähnliche Weise sollen Gefühle beschrieben werden, z. B. das Gefühl des Zorns, der Trauer etc. Umgekehrt kann eine Aufgabe darin bestehen, eine genaue Phänomenanalyse zu versuchen und hierzu auch bildnerisches oder sinnenfreundliches Material zu benutzen (Farbe, Ton, Gestaltung). e. Eine weitere Übung umfasst die Beobachtung von Naturphänomenen und Tieren (z. B. Insekten). Die Bewegungen, Eigenarten und Verhaltensweisen können in Bewegungsspielen nachgeahmt werden, um eine weitere leib-sinnliche Identifikation zu ermöglichen. Für all diese Übungen ist der unmittelbare Kontakt zu den Gegenständen/Tieren/Personen unerlässlich. Die sinnlichen Erfahrungen werden anschließend der Gruppe mitgeteilt und ihre genaue Bedeutung untersucht. Hierzu können spezifische (und evtl. vorbereitete) Fragestellungen von Seiten der Lehrkraft hilfreich sein, damit die Erfahrungen von der Konkretion in ein intersubjektives Verstehen übergehen. b.

Philosophische Hermeneutik (Gadamer): vom verstehenden Perspektivenwechsel zur kontextsensiblen Verantwortungsethik

Theoretische Grundlegung Im sokratisch-aristotelischen Sinne bedeutet die Hermeneutik, sich »seiner eigenen Hinsichten oder Deutungen eines fraglichen Phänomens ausdrücklich zu vergewissern und auch die Deutungen anderer als ›glaubhafte Meinungen‹ (Aristoteles) einzubeziehen«. 260 Eine hermeneutische Schwerpunktsetzung bietet sich deshalb immer dann an, wenn kulturelle Lebensweltgewissheiten im Gespräch »verflüssigt«, 260

E. Martens, Methoden des Ethik- und Philosophieunterrichts, a. a. O., 73 f.

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Philosophische Methoden: Hilfen zum Denken, Fühlen und Sprechen

Ähnlichkeiten zwischen Kulturen aufgedeckt oder Vorurteile abgebaut werden sollen. Als regulative Zielidee gilt die gegenseitige Horizonterweiterung bzw. (Wieder-)Annäherung der Lebensweltinterpretation. Für die genaue Darstellung der hermeneutischen Methode wird im Folgenden auf die Ausführungen von Gadamer zurückgegriffen. Die Hermeneutik greift in ihrer Grundintention ein Problem auf, dem wir ständig ausgesetzt sind: dem Versuch, zu verstehen. Verstehen lässt sich aber nicht auf eine bloße Technik reduzieren, sondern erfordert den Einsatz der gesamten Persönlichkeit: Es geht nicht um das Verhalten des Subjekts zu einem unabhängigen Gegenstand, sondern um das Sein des Subjekts selbst. Jedes Verstehen basiert hierbei auf einem inhärentem Vorverständnis (Vorurteil). Das heißt, der Interpret befindet sich immer schon in einem lebensweltlichen Zusammenhang, der die Überlieferung, Sprache, Situation u. Ä. prägt (Verstehenshorizont). Verstehen geht nun über diesen Verstehenshorizont hinaus und verändert den Interpreten selbst. »Sprechen und Denken ist immer ein Überschreiten unserer selbst. Es ist immer noch mehr als in den Worten liegt.« Dabei hat »der Antwortende […] eine eigene Autorität. Er bekundet, wie er verstanden hat und was er dazu zu sagen hat. So ist es bei jeder Botschaft, die einen erreicht.« 261 Das Fragen und Hinterfragen stellt hier einen wesentlichen Bestandteil des Denkens und Sprechens dar. Es bringt die Vormeinung »in die Schwebe«, macht auf unbewusste Vorurteile aufmerksam und öffnet zugleich den Frageraum für unvorhergesehene Antworten. Ein weiteres wesentliches Merkmal dieser Vorgehensweise ist, dass jedes Argument so stark wie möglich gemacht wird, um jeden darin enthaltenen Vorteil hervorzuheben. »Denken und Verständigung fängt aber erst dort an, wo man hinter Widersprüchen das Gemeinsame sucht.« 262 Erst später können wir überlegen, ob das Gesagte auch für uns richtig ist. Denn Verstehen heißt nicht gleich, dass man mit dem Gesagten auch einverstanden ist. Erst im Anschluss an eine solche Vorgehensweise dürfen auch Kritik und Alternativen hervorgebracht werden. 263 261 H.-G. Gadamer, Über die Aktualität der Hermeneutik, in: Philosophiegeschichte und Hermeneutik, hg. v. V. Caysa, Leipzig 1996. 262 H.-G. Gadamer, Über die Aktualität der Hermeneutik, a. a. O., 320. 263 Eine solche Vorgehensweise geht natürlich zurück auf Platons Dialoge, worin Sokrates jedes Gegenargument immer so stark wie möglich macht, bevor er es widerlegt (vgl. z. B. den Dialog von Sokrates mit Thrasymachos oder Glaukon über die Gerechtigkeit im ersten Teil der Politeia).

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

Hierin zeigt sich auch ein wichtiger Unterschied zur idealen Diskurssituation bei Habermas: Nicht »der zwanglose Zwang des besseren Arguments« ist entscheidend, sondern die Kapazität, die eigenen Vorurteile aufzuschließen und hierdurch den Anderen zu verstehen. 264 Deshalb möchte Gadamer die philosophische Hermeneutik auch nicht als Methode im klassischen Sinne, d. i. als Werkzeug (techne), verstanden wissen, sondern als Grundhaltung. Die Frage bleibt jedoch, durch was sich eine solche Grundhaltung auszeichnet bzw. wie sie gefördert werden kann. Hierbei hilft der Blick auf sogenannte »normale« Gespräche. Gadamer betont, dass sich Menschen zumeist in Situationen befinden, in welchen sie einander nicht einmal zuhören wollen. Ihre eigentliche Intention bestehe vornehmlich darin, dass sie den anderen von den Vorzügen ihrer eigenen Meinung zu überzeugen versuchen. »Der eine möchte, ganz von der Wichtigkeit seiner Einsichten erfüllt, seine Ansicht ausführlich vertreten. Der Andere hat auch seine Ansichten und möchte gar nicht wirklich zuhören und selber wieder nur seine eigene Ansicht vertreten.« 265 Dies kann zu einer Art unzusammenhängender Abfolge von Monologen führen, weil sich die einzelnen Äußerungen kaum aufeinander beziehen. Ein solches Bestreben sieht Gadamer zwar als durchaus menschlich, »[…] doch ist es noch menschlicher, wenn man auch zuhören kann und dem Anderen Raum gibt, einen zu erreichen.« 266 Diese Bereitschaft, dem Anderen zuzuhören und seinen Argumenten Raum zu geben, ist deshalb Grundvoraussetzung, um ihn überhaupt zu verstehen. Das Zuhören gleicht jedoch nicht nur dem »Hinhören«, sondern es ist vielmehr ein gemeinsames Suchen mit dem Sprechenden um den richtigen Ausdruck. Denn Verstehen heißt für Gadamer auch »für den Anderen stehen, ihn vertreten«. 267 Besonders in Situationen, da ein Teilnehmer versucht, einen komplexen Gedanken oder ein Gefühl in Worte zu fassen, sind alle Beteiligten dazu angehalten, den Sprechenden hierbei zu unterstützen und mit ihm das richtige Wort zu suchen. 268 264 »[…] wenn auch nicht um jeden Preis.« (H.-G. Gadamer, Aktualität der Hermeneutik, a. a. O., 320) 265 H.-G. Gadamer, Aktualität der Hermeneutik, a. a. O., 323. 266 Ebd., 324. 267 Ebd., 330. 268 Eine solche Fähigkeit zeugt von Bildung und deshalb ist für Hegel »Bildung« die Fähigkeit vom Standpunkt des anderen aus zu denken. Metaphorisch gesprochen gleicht

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Philosophische Methoden: Hilfen zum Denken, Fühlen und Sprechen

Jedoch ist die Bereitschaft des Zuhörens nicht alles, denn darüber hinaus geht es darum, wie wir unseren eigenen Standpunkt einbringen. Hierbei ist es wichtig, dass wir zu dem anderen sprechen, d. h. die Dinge auf eine Weise sagen, dass sie der Andere versteht. Hierzu zählen relevante Beispiele, Rücksicht in der Ausdrucksweise, Einholen von Affirmation etc. Der Sprechende bekundet damit, dass der Andere mit dem Gesagten auch gemeint ist. »Dass ein jeder immer auf der Suche nach dem richtigen Worte ist, das für den Anderen das richtige ist.« 269 Verstehen heißt letztlich, nicht nur den Anderen verstehen, sondern mich mit ihm zu verstehen. Sprechen ist nicht nur die Verwendung eines vereinbarten Symbolsystems, sondern das Kreieren und Aktualisieren eines Selbstverständnisses in der Geschichte und im Austausch mit Anderen. Oft geschieht ein Gespräch unvorhergesehen. Dabei kann man nicht vorherbestimmen, wie man verstanden wird. Deshalb sollte auch das Ziel einer Aussage bescheidener sein, nämlich lediglich den Anderen ein wenig nachdenklich zu machen. Kritisches Denken und Logik sind selbstverständlich auch für den hermeneutischen Dialog wichtig, jedoch nur insofern sie eine Aussage durch Klarheit und Kohärenz verständlicher machen. Für ein »wahres« Verstehen des Anderen reicht dies aber nicht aus. Vielmehr wird ein »guter Wille« benötigt, um den Anderen in seiner Andersheit wahrzunehmen, weil »wer mit seinem lieben Nächsten nur nach den Gesetzen der Logik verfährt und um jeden Preis Widerspruchsfreiheit vermeiden will, von dem wird eine Kälte ausgehen, bei der es den Anderen friert. Man muss schon ein bisschen wärmer sein, wenn man Menschen Solidarität fühlbar machen will und dem Anderen das Bewusstsein gibt, dass man ihn meint und auf ihn eingehen will.« 270 Im Vordergrund steht deshalb nicht das Bestreben, die Inkohärenz der Aussage des Anderen aufzudecken, sondern die Einzigartigkeit und Komplexität der Aussage hervorzubringen. Bei der Interpretation von dies dem Sternegucken zweier Freunde. Einer der beiden entdeckt ein Sternbild und versucht es dem Anderen zu zeigen, damit auch dieser Freude daran hat. Aber er kann die Konstellation dem anderen nicht »vorsehen«, sondern der andere muss sie selbst entdecken. Der Freund kann nur vage in eine Richtung deuten, aber nicht »für den Anderen sehen«. Deshalb ist für Gadamer das Gespräch auch »das gegenseitige Suchen nach dem Ausdruck« (ebd., 322). 269 Ebd., 322. 270 Ebd., 322.

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

Texten spricht Gadamer sogar von dem Bestreben, »den Text zu heilen«. Ähnliches gilt für das Gespräch mit dem Anderen. Selbstverständlich weiß auch der Sprecher, dass seine Aussage keine »absolute Wahrheit« beansprucht: »Das heißt […], Sprache ist nur im Gespräch. Damit ist zugleich gesagt, es kommt nicht darauf an, unanfechtbare Sätze auszusprechen und für das, was man sagt die unumstößliche Wahrheit des Gesagten in Anspruch zu nehmen. Vielmehr kommt es darauf an, den Austausch, das Solidarische zwischen dem der spricht und dem, zu dem er spricht, zu treffen und fühlbar zu machen. Das ist die Kunst des Gesprächs. Wir wissen alle, wie selten wirkliche Gespräche sind.« 271 Die Sprengkraft der hermeneutischen Herangehensweise in einer Community of Inquiry wurde bereits von David Kennedy herausgearbeitet. Für ihn besteht das Ziel nicht darin, etwas Konkretes zu lernen, sondern vielmehr »to turn the whole soul around. […] As we learn to ›choose the good‹ in the interplay of horizons, the demand for collective as well as individual transformation asserts itself.« 272 Eine solche Community of Inquiry zielt darauf, ein ethisches Feingefühl zu entwickeln; das heißt, dass ethische Prinzipien nicht »situationsblind« angewendet werden, sondern je hinterfragt wird, ob eine Anwendung auch verantwortbar ist. 273 In diesem Sinne bildet sie eine Brücke zwischen der kommunikativen Einigung auf ethische Prinzipien in einer idealen Diskurssituation und einem verantwortungsethisch geleiteten Mitgefühl für die konkrete Anwendung solcher Prinzipien auf der Grundlage eines gemeinsamen Verstehenshorizontes. Didaktische Anregungen Bei der Anwendung der Hermeneutik auf die Arbeit mit Texten wird vorgeschlagen, primäre philosophische Texte zu benutzen und die darin vorgeschlagenen Argumente in einer Weise zu interpretieren, als habe sie ein Mitglied der Dialoggemeinschaft hervorgebracht. Es soll suggeriert werden, der Philosoph oder Autor sitze als Teilnehmer im Kreis der Community of Inquiry. Dieser Eindruck kann verstärkt werden, indem einer der Teilnehmer die Rolle des Philosophen/Autors Ebd., 322. D. Kennedy, Hans-Georg Gadamer’s Dialectic of Dialogue and the Epistemology of the Community of Inquiry, in: Analytic Teaching, 12, 1990, 28. 273 Ebd., 29. 271 272

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Philosophische Methoden: Hilfen zum Denken, Fühlen und Sprechen

übernimmt (bei jüngeren Kindern kann diese Rolle der Facilitator übernehmen) und auf die Fragen der Teilnehmer antwortet. Auf diese Weise soll versucht werden, den Text oder Argumentationsverlauf so stark wie möglich zu machen. Darüber hinaus soll die Relevanz und Aktualität des Textes durch aktuelle Beispiele bzw. Anwendung auf alltägliche Konfliktsituationen deutlich gemacht werden. Der Text/Philosoph wird zu einer Art »Helfer« oder »Weggefährten«. »Es ist daher mehr als eine Metapher – es ist eine Erinnerung an das Ursprüngliche, wenn sich die hermeneutische Aufgabe als ein In-das-Gesprächkommen mit dem Text begreift. […] Das in literarischer Form Überlieferte wird damit aus der Entfremdung, in der es sich befindet, in die lebendige Gegenwart des Gespräches zurückgeholt, dessen ursprünglicher Vollzug stets Frage und Antwort ist.« (WM 374) Eine solche Vorgehensweise macht es für Kinder leichter, den Sinn eines philosophischen Arguments zu verstehen. Selbstverständlich geht es hierbei nicht um eine »Wissensvermittlung« von Theorien, sondern um den Transfer der Theorien auf konkrete Situationen im Sinne einer Wirkungsgeschichte. Gleichzeitig wird auf diese Weise die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme unterstützt. Bei den Diskussionen soll insbesondere darauf geachtet werden, jede Aussage zunächst so stark wie möglich zu machen und ihre Implikationen zu überdenken, bevor ein gemeinsames Urteil gefällt wird. Auf diese Weise werden Kinder motiviert, die Perspektive des Anderen wirklich zu erwägen und von innen heraus zu verstehen. »Dialektik als die Kunst, ein Gespräch zu führen, ist zugleich die Kunst, in der Einheit einer Hinsicht zusammenzuschauen (synhoran eis hen eidon), d. h. sie ist die Kunst der Begriffsbildung als Herausarbeitung des gemeinsam Gemeinten. Das eben charakterisiert das Gespräch – gegenüber der erstarrten Form der zur schriftlichen Fixierung drängenden Aussage –, dass hier die Sprache in Frage und Antwort, im Geben und Nehmen, im Aneinandervorbeireden und Miteinanderübereinkommen jene Sinnkommunikation vollzieht, deren kunstvolle Erarbeitung gegenüber literarischer Überlieferung die Aufgabe der Hermeneutik ist.« (WM 374) Aus diesem Grund betont Gadamer, dass Denken und Verstehen dort beginnen, wo wir hinter den Differenzen nach Gemeinsamkeiten suchen. 274 Es muss jedoch klar sein, dass dies nicht bedeutet,

274

H.-G. Gadamer, Aktualität der Hermeneutik, a. a. O., 322.

201 https://doi.org/10.5771/9783495860625 .

Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

dass wir mit dem Anderen übereinstimmen müssen. Verstehen und Einverstandensein sind zwei unterschiedliche Sprechakte. Zusammenfassend zeichnet sich eine hermeneutische Community of Inquiry dadurch aus, dass durch die Zusammenführung verschiedener Interpretationen intersubjektiver Sinn generiert wird. Dabei geht es nicht um die Reduktion der Vielfalt auf das Eine, nicht um die Generierung einer einheitlichen Meinung, wohl aber um die Horizonterweiterung eines jeden Einzelnen, indem Ähnlichkeiten zwischen Differenzen gesucht werden und über diese Ähnlichkeiten Solidarität entsteht. Nach Gadamer kommt es nur so zu einer echten »Erfahrung«, d. h. einer inneren Veränderung. Sie transformiert die bloße Meinung in ein Nicht-Wissen, wodurch ein »So oder Anders« erst möglich wird. Das heißt, die so formulierte philosophische Frage »ist ein Offenlegen und Offenhalten von Möglichkeiten« (WM 304). Selbstverständlich beinhaltet dieser Vorgang auch vorläufige Missverständnisse und Auseinandersetzungen, die über eine bloße gegenseitige Affirmation hinausgehen. Ein solcher Generationendialog über Werte und existentielle Fragen knüpft an dem genannten Potential von Kindern an, traditionelle Meinungen oder Lebensweltinhalte in Frage zu stellen, d. h. das »So oder Anders« zu bedenken. Aus diesem Grund ist die Hermeneutik mehr als nur eine »Gesprächsmethodik« oder Textinterpretation. Vielmehr geht es um die Rekonstruktion von Lebensweltinhalten und Traditionen, um diese mit neuem Leben zu füllen. Kultur und Tradition werden nicht als unveränderbare Tatsache, sondern als lebendige, sich verändernde und wachsende Entität gesehen. Trotz solcher didaktischen Anregungen, kann die Hermeneutik nicht auf eine bloße Methode reduziert werden, denn »echte Gespräche« sind nicht erzwingbar. Wenn überhaupt, dann »geraten wir in ein Gespräch«. Nichtsdestotrotz kann die Sensitivität für solche Einstellungen und Verhaltensweisen geschult werden, welche ein Gespräch wahrscheinlicher machen. c.

Dialektik und Analytik (Habermas): abstrakter Perspektivenwechsel zwischen Einheit und Differenz

Theoretische Grundlegung Habermas geht es um die Transformation der subjektzentrierten in eine kommunikative Vernunft. Im übertragenen Sinne bedeutet dies, dass Analytik nicht als eine Reihe universaler logischer Denkketten 202 https://doi.org/10.5771/9783495860625 .

Philosophische Methoden: Hilfen zum Denken, Fühlen und Sprechen

verstanden wird, sondern vernünftig ist, wer intersubjektiv seine Geltungsansprüche verteidigen kann. Selbstverständlich helfen logische Denkprozesse, insofern sie zur intersubjektiven Verständlichkeit beitragen. Logik und Kohärenz sind jedoch in sich kein Selbstzweck, sondern enthalten ihren Sinn lediglich in Beziehung zu ihrem pragmatischen Nutzen. Ähnliches gilt für die genaue Begriffsverwendung: Die Herstellung einer intersubjektiv übereinstimmenden Verwendung von Begriffen ist keine Formalie, sondern dient der Optimierung gegenseitigen Verstehens. Die ideale Diskurssituation kann ferner als dialektisch bezeichnet werden: Durch das Aufeinandertreffen von These und Antithese wird ein Teilbereich des Lebenswelthintergrundes in Frage gestellt. Ziel ist die Reparaturleistung dieses Teilbereiches durch eine dialogisch-prozessuale Synthese der aufeinandertreffenden Lebensweltinterpretationen. Die kommunikative unterscheidet sich von der subjektzentrierten Vernunft vor allem dadurch, dass sie den Anderen als Anderen von Anbeginn einbezieht. Dabei geht es ihr nicht zuerst um die Gemeinsamkeiten, sondern um das Ausmachen der Unterschiede. Erst hierdurch kommen den Kommunikationsteilnehmern die eigenen Lebensweltinhalte stückweise zu Bewusstsein. Ziel ist es, trotz dieser gegebenen Unterschiede zwischen Weltinterpretationen durch die wechselseitige Perspektivenübernahme zu einem Konsens zu gelangen. Habermas setzt deshalb an der Frage des Verhältnisses zwischen Einheit und Differenz an: »Die Einheit der Vernunft wird nur hörbar in der Pluralität ihrer Stimmen.« 275 Das heißt, erst über die Bewusstwerdung von Differenzen kann die Komplexität einer Situation angemessen beurteilt und hierdurch sozialer Sinn generiert werden. Die Idee des Diskurses sollte daher nicht als »Entdeckungsverfahren«, sondern als »Herstellungsverfahren« des normativ Richtigen gelesen werden. Die Risikofrage betrifft dann nicht nur die praktische Umsetzung eines verbalen Konsenses, sondern den Konsens selbst. Eine Voraussetzung für die Herstellung eines vernünftigen Konsenses ist aber die klare Artikulation des Dissenses und damit die Verständigung über Strittiges. 276 J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, a. a. O., 155. Selbstverständlich können über die Dialektik auch hermeneutische Aspekte ausgemacht werden. Sie stehen jedoch, weil der Fokus auf der Sichtbarmachung von Differenzen liegt, methodisch nicht im Vordergrund. 275 276

203 https://doi.org/10.5771/9783495860625 .

Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

Didaktische Anregungen Die Diskurssituation liefert empirisch verifizierbare Kriterien, um die Hörbarmachung eines jeden Arguments zu garantieren: Hierzu gehören die Einbeziehung aller Teilnehmer, Einlösung von Geltungsansprüchen durch Argumente sowie selbe Rechte und Dialogkompetenzen, um auf gleiche Weise an dem Dialog teilzunehmen. Selbstverständlich bleibt die Situation immer eine »ideale«, weil eine hundertprozentige Garantie nicht gegeben werden kann. Diese Kriterien gelten deshalb als regulative Zielideen. Eine detaillierte Didaktisierung der Methode findet sich außerdem weiter unten im Zusammenhang der Umformung der Community of Inquiry zu einer idealen Dialoggemeinschaft. d.

Spekulation (Rorty): von der Hoffnung zur Innovation

Die Idee der Spekulation als philosophische Methode erscheint zunächst ungewöhnlich und soll deshalb kurz dargestellt werden. Martens betont, dass die spekulative Vernunft noch in der platonisch-aristotelischen Tradition als »ein Erkennen des reinen, absoluten Seins« das eigentliche Wesen der Philosophie ausmachte. 277 Auch Schnädelbach betont, dass die Spekulation einstmals die »höchste dem Menschen mögliche Erkenntnisweise« bedeutete. 278 Seit der transzendentalen Wende Kants ist dem Menschen jedoch eine solche Erkenntnis per definitionem verwehrt. Der sich seiner Grenzen bewusste moderne Mensch wird aus diesem Grund die Spekulation als Methode der Philosophie weitestgehend ablehnen. Trotz dieser Skepsis finden sich seit Kant eine Reihe von Rehabilitierungsversuchen. Unter ihnen ist Peirces Theorie der »Abduktion«, d. i. die Hypothesenbildung, zu finden. Dieser Theorie geht die Einsicht voraus, dass jeder Art der Theoriebildung oder Wissenschaft eine Art der Vermutung oder »Raterei« vorausgeht. 279 Der Mensch ist eben nicht nur ein logical animal, das aus gegebenen Schlussfolgerungen ableitet, sondern eben auch ein mit Instinkt begabtes Wesen, das intuitive Hypothesen bildet. 280 E. Martens, Methoden des Ethik- und Philosophieunterrichts, a. a. O., 89. H. Schnädelbach, Hegel zur Einführung, Hamburg 1999, 18, auch zit. in: E. Martens, Methoden des Ethik- und Philosophieunterrichts, a. a. O., 89. 279 Ch. Peirce, Collected Papers, Cambridge, MA, 1932, 2–755, auch zit. in: E. Martens, Methoden des Ethik- und Philosophieunterrichts, a. a. O., 94. 280 Ebd. 277 278

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Philosophische Methoden: Hilfen zum Denken, Fühlen und Sprechen

Ein anderer Rehabilitationsversuch findet sich bei Ernst Bloch und seinem Prinzip Hoffnung. »Die Philosophie ist mit Recht spekulativ, indem die Akte, Zeugnisse, Probleme, Postulate des Noch-Nicht-Seins ihr zentrales, nirgends nur empirisches Arbeitsgebiet ausmachen.« 281 Philosophie wird von ihm vornehmlich als das Aufdecken neuer Denkwege bezeichnet, wodurch sich gedankliche Verstrickungen lösen. Anregungen für eine solche »Umstrukturierung« können aus Mythen, Märchen, archetypischen Metaphern und Utopien stammen. Als eine solche Rehabilitation der Spekulation lässt sich auch Rortys Idee der »poetischen Utopie und Hoffnung« interpretieren. Diesem poetischen Optimismus geht seine anti-essentialistische These voraus: Wahrheit könne nur kreiert, nicht aber entdeckt werden und damit unterliege sie vollkommen der Imaginationskraft des Menschen. Ähnliches gilt für das »Wesen des Menschen«, welches Rorty einzig durch das Charakteristikum der »Wandlungsfähigkeit« bestimmt. Damit nähert sich Rorty an Jean-Paul Sartres These an, dass die Existenz der Essenz des Menschen vorausgeht und ihm dadurch die volle Verantwortung für sich selbst und seine wirklichkeitskonstituierenden Überzeugungen zukommt. Wirklichkeit ist die gedanklich-sprachliche Konstruktion von Vokabularträgern 282 (Menschen) und wird durch ihr Denken und Sprechen aktualisiert. Deshalb ist jede (gedankliche) Innovation ein Eingriff in die soziale Wirklichkeit und macht einen Unterschied. Durch diese sprachphilosophische und wahrheitskritische Radikalisierung des Poetischen erhält die Methode der Spekulation eine neue Sprengkraft. Sie ist nicht mehr an das »Auffinden« oder die »Anbindung« an »wahre Gehalte« rückgebunden, sondern umgekehrt ist die menschliche Wirklichkeit (im Sinne einer sozialen Realität) ein Produkt der Phantasie. Es gleicht einem »Denken ohne Geländer« 283, weil sich Ideen nicht mehr an eine materielle oder ontologische Wirklichkeit »anschmiegen«. Hierin sieht Rorty jedoch eine Art prometische Hoffnung des Menschen: nämlich mit Hilfe dieser neu gefundenen Freiheit und Autonomie, sich selbst zu erschaffen. 281 E. Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie, I., Frankfurt am Main 1963, 128, auch zit. in: E. Martens, Methoden des Ethik- und Philosophieunterrichts, a. a. O., 95. 282 Das Selbst ist nach Rorty ein »Netzwerk aus Überzeugungen und Wünschen« (Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, a. a. O., 32). 283 Dieser Begriff geht natürlich ursprünglich auf Hannah Arendt zurück und wird in diesem Zusammenhang als Metapher sowie sinnentfremdet gebraucht.

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

Selbstverständlich erscheint die Radikalität dieser Freisetzung von Phantasie utopisch. Im Kontext des Bildungsprojektes wird diese Methode deshalb lediglich als eine Ergänzung der vorhergehenden Methoden gesehen. Sie unterstützt den Versuch, sich von festgefahrenen Denkwegen und dichotomischen Verstrickungen zu lösen, um neue Möglichkeiten auszuprobieren. Die oft spielerische Herangehensweise von Kindern an Probleme kommt einer solchen Methode selbstverständlich entgegen. Didaktische Anregungen Anders als bei der Analyse und Dialektik lassen sich bei der spekulativen Methode (im engeren Sinne) kaum lehr- und erzwingbare Einzelschritte ausmachen. Aus diesem Grund spricht Martens von einer Art Handwerkskunst oder »Fingerspitzengefühl« für spekulative Denkweisen. Aus Rortys Ausführungen lassen sich zumindest einige wenige didaktische Hilfestellungen ableiten: Er ermutigt an mehreren Stellen dazu, neue Beschreibungsweisen und Metaphern zu erfinden. Im Hinblick einer Methode kann dies durch das kreative Schreiben oder Erfinden von Geschichten oder Mythen angeregt werden. Themen könnten z. B. die Vision einer Welt der Zukunft sein oder die Erfindung des Mythos der eigenen Kultur (Wer sind wir? Woher kommen wir? Welche »Schöpfungsgeschichte« erzählen wir uns?). Eine andere Methode ist das berühmte Dada-Experiment The Exquisite Corpse 284 (eigentlich eine Methode der bildnerischen Kunst). Dabei beginnt ein Teilnehmer mit dem Schreiben einer Geschichte zu einem bestimmten Thema. Nach der Fertigstellung des ersten Absatzes wird das Geschriebene verdeckt und der nächste Teilnehmer schreibt die Geschichte weiter. Erst zum Ende wird die gesamte Geschichte vorgelesen. In Diskussionen können Fragen oder Anmerkungen zur Spekulation anregen; z. B. die Aufforderung »klassische Begriffe« wie »Mann«, »Frau« oder »Mensch« zu dekonstruieren, dahinterliegende Annahmen aufzudecken und von dort aus neue Beschreibungen zu finden.

284 Es handelt sich dabei eigentlich um eine »Zeichenmethode«, sie wird hier aber als Möglichkeit des kreativen Schreibens umgedeutet. Diese Methode kann verschiedentlich variiert werden, d. h., das Verdecken des Geschriebenen ist beispielsweise nicht zwingend.

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Philosophische Methoden: Hilfen zum Denken, Fühlen und Sprechen

Anstatt »entweder oder«-Konstruktionen bieten sich »sowohl als auch«-Wendungen an. Neubeschreibungen können ferner durch folgende Fragen angeregt werden: »Wie würde die Welt aussehen, wenn es drei Geschlechter gäbe?«, »Wäre unser Leben anders, wenn wir unsterblich wären?« oder »Wie würden wir leben, wenn unser Leben nicht in Tag und Nacht eingeteilt wäre?«. Durch solche Fragen sollen sprachlich konstruierte Dichotomien aufgeweicht und Möglichkeit zur Neuinterpretation unterstützt werden. Auch diese Beispiele dienen nur der Anregung für weitere Ideen. e.

Exkurs zur Ironie (Rorty): vom individuellen Wachstum zur sozialen Freiheit

Im klassischen Sinne bedeutet die Ironie das Infragestellen von Alltäglichem. Diese Vorgehensweise kennen wir seit Sokrates, welcher meisterschaftlich durch scheinbar »harmlose« Fragen die Menschen des Marktplatzes auf ihre unbegründeten Vorurteile und Meinungen (doxa) aufmerksam machte. In diesem Sinne gilt sie als genauso mächtige Methode zur Anregung philosophischer Gespräche wie das Staunen. Bei Rorty hat sie ihren Platz im privaten Bereich und meint die ironische, d. h. nicht haftende und immer in der Schwebe bleibende Auseinandersetzung mit verschiedenen Weltanschauungen. Vokabulare werden nicht als exklusiv, sondern lediglich als idiosynkratische Philosophien betrachtet. Ziel einer solchen ironischen Haltung ist die Erweiterung des Selbst: Weil das Selbst für Rorty nichts anderes ist als ein Set verschiedener Überzeugungen und Vokabulare, bedeutet jede Aneignung einer neuen Perspektive zugleich die Erweiterung des Selbst. 285 Anders als beim gefühlsbasierten Mitgefühl im öffentlichen Raum geht es bei der Ironie um den spielerischen Perspektivenwechsel: das Ausprobieren von neuen Sichtweisen. Umgekehrt bedeutet ein solcher spielerischer Umgang mit neuen Perspektiven die Offenheit gegenüber anderen Einstellungen und Glaubensansätzen und wirkt damit mittelbar auf die Gewährleistung sozialer Toleranz, weil auch die eigene Wahl an Vokabularen und Überzeugungen als kontingent begriffen wird. Nichtsdestotrotz bleibt die Frage nach der Übereinstimmung mit fremden Vokabularen für Rorty immer eine private und hat 285

Vgl. R. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, a. a. O., 32 und 127 ff.

207 https://doi.org/10.5771/9783495860625 .

Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

nichts mit dem liberal-öffentlichen Bestreben der Vermeidung von Leid zu tun. Die Ironie wird an dieser Stelle nur zur Vollständigkeit erwähnt. Im Umgang mit Kindern lässt sie sich nur bedingt realisieren: Insbesondere kleine Kinder können ironische Äußerungen nur schwer bis gar nicht verstehen. Ihr Meinen gleicht ohnehin noch eher einem »Ausprobieren von Sichtweisen«. Aus diesem Grund wird an dieser Stelle von der Möglichkeit didaktischer Anregungen abgesehen.

3.5 Philosophische Haltung: Möglichkeiten des Wertens und Handelns Für Habermas dient das Sprechhandeln dem Ziele der Verständigung und der Rekonstruktion gemeinsamer Lebensweltbezüge. Dabei gibt er der Sprache gegenüber dem Handeln den Vorzug, weil für ihn das Handeln die intersubjektive Ebene verlassen und sich in die Subjektivität zurückgezogen hat. 286 Es ist jedoch nicht ganz klar, auf welche Weise sich eine solche subjektzentrierte Interpretation des Handelns mit der eher pragmatischen Deutung von Konsens vereinbaren lässt. Denn aus pragmatischer Perspektive kann der Erfolg eines sprachlich gefundenen Konsenses erst in der Praxis bestätigt werden und insofern als Gegenbegriff zum Nutzenkalkül eines strategischen und subjektzentrierten Handelns gesehen werden. Verstehen und Sprache müssen nicht auf den Gebrauch von Worten beschränkt sein, sondern dehnen sich durch das unmittelbare Verstehen von Handlungen auch auf die nonverbale Ebene aus (dessen Ermöglichung durch die grundsätzliche Ähnlichkeit des Leibes bedingt ist). Auch Rorty greift für seinen Erfolgsbegriff eines Dialogs auf den Pragmatismus zurück, d. h., der gefundene Konsens muss sich in der sozialen Praxis bewähren. Dennoch fehlt auch hier der Praxisbezug, weil sein Ansatz grundsätzlich sprachanalytisch angelegt ist – eine leibfundierte und intersubjektive Handlungspraxis fehlt. Hieraus ergibt sich folgendes Problem: Die Verständigung darüber, was in einer bestimmten Situation die angemessenste Handlung wäre, lässt sich m. E. leicht erreichen. Schwieriger wird es, wenn es darum geht, durch welche konkreten Schritte sich die Einzelnen an 286

J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, a. a. O., 14 ff.

208 https://doi.org/10.5771/9783495860625 .

Philosophische Haltung: Möglichkeiten des Wertens und Handelns

der Umsetzung und Realisation des Konsenses beteiligen. Das Problem ist nicht nur das Erzielen eines sprachlichen Konsenses, sondern wie dieser in die Tat umgesetzt werden soll. Habermas’ Vermittlungsversuch läuft auf der politischen Ebene über die Idee der kommunikativen Macht, wodurch administrative Entscheidungsprozesse immer an den Konsens der Kommunikationsteilnehmer rückgebunden bleiben. Für Rorty liegt die Lösung in der Rückbindung des öffentlichen Raums an die Emotionen. Durch die motivierende Kraft der Gefühle sollen Menschen zum sozialen Handeln angeregt werden. Der Schwachpunkt dieser Konzeption liegt darin, dass es wenig Möglichkeit gibt, konkrete Ansprüche einzulösen bzw. diese flächendeckend zu koordinieren. Das Gefühl muss deshalb der Konzeption einer dialogischen Auseinandersetzung vorgelagert sein. Ein weiteres Problem stellen inkompatible Wertinterpretationen dar. Die Frage ist, ob die rein strukturgeleitete ideale Diskursgemeinschaft diese Problematik auflösen kann. Denn: Abstrakt stimmen wir bei vielen Werten überein – z. B. Gerechtigkeit, Verminderung von Leid. Erste Schwierigkeiten treten aber dann auf, wenn es darum geht, was diese Abstraktionen im konkreten Fall bedeuten. Aus diesem Grund muss die Community of Inquiry immer an den konkreten Praxisbezug rückgebunden bleiben, damit sich dort die Praktikabilität von Lösungen bewähren und gegebenenfalls modifiziert werden kann. Die Community of Inquiry gilt hier als eine Art »Vorraum« zur Sphäre des Politischen. Sie bietet einen »intellektuellen und emotionalen Schutzort«, an welchem verschiedene Einstellungen und Verhaltensweisen ausprobiert und ausagiert werden können. Im Verstehen seiner sozialen Umwelt und in der Auseinandersetzung mit anderen entwickelt das Kind Maßstäbe für sein eigenes Werten und Handeln. Deshalb gilt die moralische Urteilskraft als Basis eines solchen verantwortlichen und kontextsensiblen Handelns in einer demokratischen Gesellschaft: Durch das wechselseitige Vorbildverhalten der Teilnehmer einer Community of Inquiry erfolgt eine Auseinandersetzung mit einer Vielzahl an Einstellungsanregungen, welche stets intersubjektiv durchdacht und bewertet werden. Eine solche konstante Selbstund Fremdreflexion soll Kinder dazu anregen, ihr eigenes Verhalten zu hinterfragen und auf diese Weise für ethische Konfliktsituationen (mögliches Leid Anderer) zu sensibilisieren. Eine solche Verhaltensänderung wirkt im besten Falle zurück auf die grundsätzliche Bereitschaft des Staunens und Hinterfragens auch außerhalb dieses Schutz209 https://doi.org/10.5771/9783495860625 .

Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

raumes. Um eine solche demokratische Sensibilisierung für Konflikte und Kultivierung von Werten 287 zu unterstützen, stellt die Förderung selbstbestimmter und sozial engagierter Individuen die wesentliche regulative Zielidee des Bildungsmodells dar. Aus diesem Grund soll aus dem philosophischen Gespräch immer ein konkreter Handlungsbezug abgeleitet bzw. gemeinsam gefunden werden. Dies kann sowohl ein gemeinsamer Wert für den zukünftigen Umgang mit einer Konfliktsituation in der Klasse sein, eine Verhaltensweise, welche im Rollenspiel erprobt werden kann oder eine konkrete politische Handlung bzw. gemeinsame Aktion. Pädagogisch ist dies mit Sicherheit die größte Herausforderung, weil sich eine Community of Inquiry zwar relativ schnell einstellt, hingegen nur schwer beeinflusst werden kann, inwiefern die Kinder die Erkenntnisse auch im sozialen Miteinander umsetzen: Das heißt, ob das Philosophieren nur Theorie bleibt oder als allgemeine Lebenshaltung auch die Praxis beeinflusst. Um das pädagogische Ziel genauer zu erfassen, werden aus diesem Grund der Begriff der »philosophischen Haltung« sowie die Idee der »Philosophie als Praxis« genauer analysiert. Insbesondere soll gezeigt werden, auf welche Weise das Philosophieren eine umfassende Einstellungsänderung bzw. Charakterbildung bedeuten kann. Diese Überlegungen haben selbstverständlich nichts mit einer philosophietheoretischen Definition zu tun. Sie zielen lediglich darauf, aus der Interpretation der antiken Philosophie und der »Hermeneutik als Lebenspraxis« wesentliche didaktische Schlussfolgerungen für das Bildungsprojekt abzuleiten. Im Anschluss daran werde ich einen Artikel von Ragnar Ohlsson einbeziehen und bedenken, inwiefern uns die Philosophie als Lebenspraxis helfen kann, philosophische Tugenden des Denkens und Sprechens zu vermitteln. Abschließend werde ich einige Methoden vorstellen, um den Transfer vom philosophischen Gespräch zum Werten und Handeln und damit zur Verhaltensänderung von Kindern didaktisch zu begleiten.

287 Auch hier erscheint wieder der Konflikt zwischen der philosophisch geforderten Offenheit einerseits und dem pädagogisch inspirierten Bestreben der Vermittlung »demokratischer Werte« wie Selbstbestimmung und kommunikativer Vernunftgebrauch andererseits. Je offener diesem Paradox in der Gruppe begegnet wird, desto eher lassen sich solche unvermeidbaren Prämissen durch den Dialog selbst »verflüssigen« (um hier ein Wort von Habermas zu verwenden).

210 https://doi.org/10.5771/9783495860625 .

Philosophische Haltung: Möglichkeiten des Wertens und Handelns

3.5.1 Zum Verhältnis zwischen Theorie und Praxis: philosophietheoretische Vorüberlegungen a.

Die Philosophie als Lebenspraxis in der Antike 288

Im Symposion verleiht Platon der »Philosophie« durch das Sprachrohr des Sokrates einen eigentümlichen Sinn. Der Dialog selbst ist dabei ganz nach sokratischer Art komponiert: Während des Gastmahls wird ein jeder angehalten, eine Rede zu Ehren des Gottes Eros zu halten. Da Sokrates jedoch »weiß, dass er nichts weiß«, hält nicht er eine Rede, sondern lässt Diotima durch ihn sprechen, die sich mit dem Inhalt ihrer Ausführungen sowohl auf Eros, Sokrates als auch auf den Philosophen im Allgemeinen bezieht und damit den »erotischen Aufstieg der Seele« mit der Idee des Begehrens verknüpft. Eros ist der Geschichte nach der Sohn von Penia (Armut) und Poros (Fähigkeit, sich zu helfen). Er wird am Geburtstag der Venus gezeugt. »Zuerst ist er immer arm und bei weitem nicht fein und schön, wie die meisten glauben, vielmehr rau, unansehnlich, unbeschuht, schläft vor den Türen und auf den Straßen im Freien.« (Symposion 203 c-d) Hierdurch gleicht er der Penia. Eros ist aber zugleich dem Poros ein würdiger Sohn: »Und nach seinem Vater wiederum stellt er dem Guten und Schönen nach, ist tapfer, keck und rüstig, ein gewaltiger Jäger, allezeit irgendwelche Ränke schmiedend, nach Einsicht strebend, sinnreich, sein ganzes Leben lang philosophierend, ein arger Zauberer, Giftmischer und Sophist.« (Symposion 203 d-e) Implizit zieht hier Platon eine Parallele zwischen Sokrates (als Inbegriff des Philosophen) und Eros: denn ähnlich dem Eros wird er sich seiner inneren Armut bewusst und erkennt, dass er nicht weiß (Penia). Gleichzeitig vermag er sich zu helfen (Poros) und begibt sich, getrieben von dem Begehren/Liebe (Bezug auf Venus) nach Weisheit, auf den Weg. Der Platon-Spezialist Pierre Hadot sieht hierin die grundsätzliche Lebensentscheidung des Philosophen: den Aufbruch aus dem Bekannten hin zum Unbekannten und Fremden. Dieser Aufbruch geht jedoch mit einer völligen Veränderung der Lebensform einher und ist als ein

288 Eine eingehende Auseinandersetzung mit der Idee der »Philosophie als Lebenshaltung« findet sich in: B. Weber, Der Weise als Waise? Faktoren einer philosophisch-ethischen Haltung, in Auseinandersetzung mit P. Hadot und der phänomenologischen Anthropologie, in: Karlsruher pädagogische Beiträge (kpb), 61, 2006, 128–143.

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

infiniter Prozess der Persönlichkeitsentwicklung zu verstehen. 289 Die Antike war sich sowohl bewusst, dass die Weisheit als Ideal nie erreichbar ist, jedoch in einigen Augenblicken vielleicht aufleuchtet, und dass jene transzendenten Augenblicke schließlich das Handeln leiten würden. 290 Für Hadot besteht deshalb die antike Philosophie einerseits im Willen, Weisheit zu erlangen (Penia) und andererseits hierfür spezifische philosophische Methoden bzw. Übungen zu entwickeln (Poros), um sich der Weisheit anzunähern. Antike Philosophie ist demnach für Hadot nicht nur Theorie, sondern wesentlich eine Lebensform. Sie ist nicht das distanzierte Betrachten eines Gegenstandes, sondern vielmehr das Staunen über und Fragen nach den Sinnzusammenhängen von Mensch, Welt und Gott, namentlich Ethik, Logik und Metaphysik. Der Beginn des Philosophierens besteht in der Bereitschaft, sich mit existentiellen Fragestellungen des Menschen und seiner Stellung zur Welt auseinanderzusetzen. »Eine solche Haltung lässt sich nur dann verstehen, wenn man annimmt, dass sich die antike Philosophie im höchsten Grade des unermesslichen, unendlichen Wertes der Existenz bewusst ist, der Existenz im Kosmos, in der einzigartigen Wirklichkeit des kosmischen Ereignisses.« 291 Die Lehre der antiken Philosophie besteht, nach Hadot, in der Aufforderung an jeden Menschen, »[…] sich selbst umzuformen. Die Philosophie bedeutet Umkehr, Transformation der Seinsweise und der Lebensweise, Suche nach Weisheit.« 292 Eine solche Umkehr muss mit der Einsicht der eigenen Armut beginnen, also der Einsicht, nicht zu wissen. Im Rahmen des Bildungsprojektes wird hier vom Staunen gesprochen, das durch ein Phänomen oder einen Text angeregt werden kann und zu einem Innehalten und Hinterfragen des Gegebenen führt. Grundsätzlich ist zu betonen, dass in der Antike die Selbsttransformation im Hinblick auf einen je spezifischen metaphysischen Überbau und den daraus entstehenden Wertinhalten gesehen wurde (vgl. z. B. die stoische Lebensweise, die epikureische Lebensweise etc.). Übertragen auf das Bildungsprojekt geht es um die Erkenntnis der »eigenen Armut«, d. i. die opake Lebenswelt, die eigenen Vorurteile und 289 Interessanterweise wird Eros oft als Kind dargestellt und ähnelt den Puti in der klassischen Kunst. 290 P. Hadot, Philosophie als Lebensform, Berlin 1991, 165. 291 Ebd., 169. 292 Ebd., 176.

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Philosophische Haltung: Möglichkeiten des Wertens und Handelns

blinden Flecken. Erst durch die Bewusstwerdung dieser Aspekte durch den Blick des Anderen wird die Infragestellung ihrer Inhalte überhaupt möglich. 293 »Weisheit« wird nicht mit Wissen gleichgesetzt, sondern mit der Bereitschaft, auf das Andere »hinzudenken«; d. i. das »in die Schwebe bringen« eines Inhaltes oder auch die Dialektik des »so oder anders«, wie dies bereits im Kontext der philosophischen Hermeneutik erörtert wurde. Eine solche Haltung im Sinne einer Einstellungsänderung führt zu einer Offenheit gegenüber alternativen Sichtweisen und damit zur Bereitschaft, das bloße Meinen (doxa) zu überwinden. Wenn aber Philosophie im Sinne der Selbsttransformation und Persönlichkeitsbildung Hadots gesehen wird, dann darf sie nicht nur eine Denkschulung sein, sondern zielt auf eine Umwandlung des ganzen Menschen, welche auch das Mitgefühl und Handeln umfasst. 294 Sie ist keine objektiv-betrachtende Wissenschaft, sondern Transformation des Seins und Kultivierung der Tugend. Und auch der Platonforscher Whitehead betont: »Der Begriff ist immer in Gefühl eingekleidet. […] Die Vorstellung einer reinen Erkenntnis, eines Wissens, das nichts weiter als Wissen ist, ist Platon völlig fremd.« 295 Letztlich besteht für Hadot das Philosophieren der Antike in einer grundlegenden Entscheidung, die durch Kontemplation und den gemeinsamen Dialog die Selbsttransformation zum Ziel hat. Sie endet nicht in einem solchen selbstbezogenen Akt, sondern sieht ihre wesentlichste Aufgabe in ihrer äußeren und für andere erfahrbaren Manifestation. So betont Hadot: »Es geht aber nicht bloß um abstrakte Diskurse; für Platon besteht die Aufgabe als Philosoph im Handeln.« 296 Der Weise oder Philosoph ist damit eben nicht nur derjenige, der schreibt und denkt, sondern vor allem der nach der Weisheit Lebende, d. h. derjenige, der die Weisheit verkörpert.

293 Bei Gadamer ist dies das »in die Schwebe bringen«, bei Habermas die Infragestellung der eigenen Lebenswelt durch den Anderen in Form der Einforderung von Geltungsansprüchen. 294 Vgl. zu der Dreiteilung in Pathos, Logos und Ethos von Aristoteles, Rhetorik (dargestellt weiter oben). 295 A. N. Whitehead, Abenteuer der Ideen, Frankfurt am Main 1971, 288 (91). 296 P. Hadot, Philosophie als Lebensform, a. a. O., 79.

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

b.

Die Hermeneutik als Tätigkeit

Werten und Handeln ist der Versuch der Übertragung der Theorie in die Praxis. Durch die Interpretation der Philosophie als »Lebenspraxis« bzw. »Lebenshaltung« besteht ihr Ziel darin, dass Kinder auch außerhalb der Community of Inquiry Situationen wahrnehmen, welche philosophisches (insbesondere ethisches) Konfliktpotential enthalten. Hierbei kann die philosophische Hermeneutik im Sinne einer praktischen Philosophie hilfreich sein, um diesen Übergang von der Theorie in die Praxis zu klären bzw. die Bedeutung der Philosophie für die Handlungspraxis aufzudecken. Schönherr-Mann betont mit Blick auf die Praxis der Hermeneutik: »Und natürlich auch um zur Realität etwas beizutragen, was diese humaner gestalten könnte, muss Philosophie ›Wissenschaft von der Wirklichkeit‹ im Sinne Hegels sein oder sich wenigstens in einem Nachdenken über die Realitäten wiederfinden. Dieser Anspruch beseelt die Hermeneutik gerade dann, wenn sie sich im Sinne Hans-Georg Gadamers als eine Perspektive entwirft, zwischenmenschliche Konflikte auf allen Ebenen – privaten, sozialen, politischen, kulturellen etc. – kommunikativ zu entschärfen.« 297 Die Hermeneutik nimmt das konkrete Problem der Unterschiede (soziale, private, kulturelle und politische) zum Ausgangspunkt ihrer Reflexionen. Hierzu gehört, dass unser Verhalten und unsere Vormeinungen als Teilaspekte des eigenen Lebenswelt-Horizonts zu Bewusstsein gebracht und vor dem Hintergrund einer Wirkungsgeschichte interpretiert werden. Ein solches Bestreben macht die Hermeneutik zu einem »philosophischen Werkzeug«, welches das Gelingen multikultureller Dialoge zum Ziel hat. »Der Sache gerecht werden, indem man sie richtig versteht, indem man sie nicht bloß aus der eigenen Perspektive betrachtet, ihre Interpretation nicht bloß an den eigenen Interessen orientiert, verbindet Hermeneutik und Deskription originär mit dem ethischen Anspruch der Gerechtigkeit.« 298 Ihr Bestreben, jeder Einstellung durch umfassendes Verstehen Gerechtigkeit zukommen zu lassen, macht sie im Sinne einer »Politik der Anerkennung« immer auch schon zu einer politischen Praxis. 299 297 H.-P. Schönherr-Mann, Hermeneutik als Antwort auf die Krise der Ethik, in: H.-P. Schönherr-Mann (Hg.), Hermeneutik als Ethik, München 2004, 11. 298 Ebd., 25. 299 In seinem Artikel »Hans-Georg Gadamer’s Dialectic of Dialogue and the Epistemo-

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Philosophische Haltung: Möglichkeiten des Wertens und Handelns

Jemanden »richtig« zu verstehen, ist nämlich kein neutraler Akt und verlangt mehr als nur die technische Anwendung einer Methode. Im Verstehen des Anderen darf dieser nicht auf ein Objekt reduziert werden, das verstanden oder »gelesen« werden kann, sondern muss in seiner Widerständigkeit und Andersheit anerkannt werden. 300 Deshalb ist ein solcher Verstehensprozess auch niemals abgeschlossen, sondern verlangt, dass der Verstehende immer wieder »zurückkehrt« und erneut versucht, zu verstehen. »Das Verstehen muss auf das Verstehen verzichten, ohne von der Anstrengung des Verstehens zu lassen.« 301 Es muss verzichten, weil es den Anderen nie »vollständig« und ein für alle Mal verstanden haben wird. Umgekehrt vollzieht sich Verstehen gerade und einzig in der Bescheidenheit seines Anspruchs. Gadamer selbst entfaltet die sozial-politische Relevanz der Hermeneutik, indem er sie als praktische Philosophie begreift. Aus dieser Interpretation ergibt sich die Forderung, sie eben gerade nicht als eine bloße Methode zu sehen, sondern allen voran als eine Haltung und Praxis im sozialen Miteinander: 302 Bis in das 18. Jahrhundert hinein wurde die Hermeneutik als techne gesehen und war eng mit der Rhetorik und Dialektik verwandt. Techne bezieht sich hier aber auf ein älteres Verständnis praktischer Philosophie – sie bedeutet nicht die einfache Unterscheidung zwischen theoretischer Wissenschaft und praktischer Anwendung. Dies zeigt Aristoteles in der Politik: Der aktivste Mann ist hier derjenige, dessen Tätigkeiten vor allem mental sind (1325 b 21 ff.). Theorie ist deshalb in sich selbst bereits eine Praxis. Im Rückgriff auf Jürgen Ritter weitet Gadamer diesen Gedanken aus und kommt zu dem Schluss, dass die

logy of the Community of Inquiry« (a. a. O., 28) konstatiert Kennedy die Relevanz der hemeneutischen Methode für die Community of Inquiry: »[…] thinking always points beyond itself to a unity of theoretical and practical reason in phronesis, or ›practical wisdom‹ – a kind of thinking oriented toward choice which flows directly over into action […] the drive to interpret is in essence the drive toward healthy social life […] and must illuminate something fundamental for social life.« 300 Vgl. H.-P. Schönherr-Mann, Hermeneutik als Antwort auf die Krise der Ethik, a. a. O., 25. 301 Ebd., 28: »Das Verstehen muss auf das Verstehen verzichten, ohne von der Anstrengung des Verstehens zu lassen.« 302 Als ein ähnliches Anliegen lässt sich auch Gadamers Hauptwerk »Wahrheit und Methode« verstehen. Mit folgenden Ausführungen beziehe ich mich jedoch hauptsächlich auf Gadamers Aufsatz »Hermeneutik als praktische Philosophie« (a. a. O.).

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

Praxis zwischen Handeln und Sein anzusiedeln ist. Aus diesem Grund ist sie auch nicht auf den Menschen beschränkt, sondern gleicht einer energeia, einer Art zu leben (bios), welche grundsätzlich auch Tieren zuteil ist. Der einzige Unterschied besteht darin, dass Menschen weniger determiniert sind: Wir haben prohairesis, d. i. einen freien Willen. Für Aristoteles ist das politische Handeln der freien Bürger durch die prohairesis ihrer Lebensweise charakterisiert. Die Praxis ist aus diesem Grund für den Menschen keine rein instinktive Angelegenheit. Gadamer geht jedoch noch weiter: Er unterscheidet ferner die praxis von der poiesis, welche mehr einer wissensgeleiteten Gestaltung gleicht. Praktische Philosophie zeichnet sich nun durch das praktische Wissen eines frei wählenden Menschen aus und nicht durch die gelernten Fähigkeiten eines Spezialisten (techne). »Praktische Philosophie hat es nicht mit den erlernbaren Handwerkskünsten und Fertigkeiten als solchen zu tun, […] sondern mit dem, was einem jeden als Bürger zukommt und was sein ›Areté‹ ausmacht. Die praktische Philosophie muss daher die Auszeichnung des Menschen, prohairesis zu haben, zum Bewusstsein erheben, sei es als Ausbildung der menschlichen Grundhaltungen solchen Vorziehens, die den Charakter der ›Areté‹ haben, sei es als die alles Handeln leitende Klugheit der Besinnung und Ratfindung.« 303 Wissen begleitet zwar unsere Handlungen, doch ist es keine bloße techne, die gelernt werden kann und die uns die Mühen des Denkens und Entscheidens erspart. Die praktische Wissenschaft zielt auf praktisches Wissen und nicht auf spezialisiertes Wissen (poiesis) oder theoretisches Wissen (wie die Mathematik). Das heißt, die praktische Philosophie gleicht einer Art Wissenschaft, die zwar in ihren Grundlagen erlernbar ist, welche sich jedoch darüber hinaus durch den steten Bezug auf ihre praktische Relevanz und Bezugnahme auf konkrete Situationen (sowohl durch den Lehrer als auch durch die Schüler) auszeichnet. Das Erlernen von Methoden und Wissen genügt deshalb nicht, sondern es ist darüber hinaus die stete Anwendungspraxis gefragt. Eine solche Interpretation rückt die praktische Philosophie freilich ein wenig an den Begriff der techne heran. Was sie jedoch von ihr unterscheidet ist, dass sie darüber hinaus Fragen stellt nach dem guten Leben, den besten Konditionen für den Staat etc. Die Konfrontation

303

Ebd., 36.

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Philosophische Haltung: Möglichkeiten des Wertens und Handelns

mit solchen konkreten und anwendungsbezogenen Fragen verlangt nicht nur techne, sondern eine darüber hinausgehende Intention. 304 Auch die Hermeneutik umfasst selbstverständlich bestimmte Fähigkeiten, welche gelehrt und gelernt werden können. Ihre eigentliche Charakteristik ist jedoch ein gewisses »In-der-Welt-Sein«, eine Haltung oder auch areté. Im Sinne eines, von Natur aus zukommenden Talents meint es die Fähigkeit, andere Menschen auf bedeutsame und verständnisvolle Weise zu behandeln, z. B. die Schwäche des anderen als eine zutiefst menschliche Weise des Seins zu interpretieren oder auch andere Kulturen zu verstehen und diese als einzigartigen Zugewinn und Anreicherung der sozialen Komplexität zu deuten. Der Versuch eines solchen anerkennenden Verstehensprozesses, welcher in seiner Grundintention an die »Politik der Anerkennung« von Charles Taylor erinnert, vollzieht sich immer dann, wenn wir Menschen begegnen oder in soziale Situationen verstrickt werden. Hierbei geht es weder um Bestimmtheit noch um eine korrekte Deutung, sondern vielmehr um das aufrichtige Bestreben einer kontinuierlichen und asymptotischen Annäherung an eine solche »soziale Wahrheit«. Verstehen ist deshalb nie abgeschlossen, sondern »immer unterwegs.« 305 Die menschliche Existenz ist endlich, und ebenso das menschliche Wissen. Die wesentliche Bedeutung der menschlichen Bedingtheit zu verstehen heißt deshalb, zu verstehen, dass Hermeneutik zunächst eine techne war, aber heute nicht mehr bloße techne sein kann. 306 Wir können uns dem kontinuierlichen Prozess des Verstehens nicht entziehen. Die hermeneutische Erfahrung gleicht der praktischen Philosophie, weil unsere Art und Weise, die Welt zu deuten, in sich bereits ein auf die Praxis bezogener Akt ist, welcher weitreichende Konsequenzen hat. »[…] dass Verstehen dort, wo es gelingt, ein Innewerden bedeutet, das als seine neue Erfahrung in das Ganze unserer eigenen geistigen Erfahrung eingeht. Verstehen ist ein Abenteuer und ist wie jedes Abenteuer gefährlich.« 307 Sie ist ein »Abenteuer«, weil wir unsere Vorurteile, unseren Bedeutungshorizont und damit Teile unserer Identität riskieren. Ferner ist Interpretation und Verstehen auf die Praxis bezogen und wirkt deshalb auf die soziale Realität ein. Eine mathematische Erkennt304 305 306 307

Ebd., 36 f. Ebd., 47. Vgl. ebd., 47. Ebd., 51.

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

nis bleibt demgegenüber harmlos, weil sie, für sich genommen, wirkungslos ist. 308 Sich diesem Abenteuer auszusetzen bedeutet zugleich, das Risiko einer Erfahrung einzugehen, d. i. zu wachsen. Die hermeneutische Erfahrung ereignet sich jedoch niemals alleine, sondern ist immer schon in den sozialen und sprachlichen Prozess einer Gesellschaft integriert. In diesem Sinne bleibt sie nicht intrasubjektiv. Selbsterweiterung ist vielmehr in sich immer auch eine soziale und politische Praxis: Wenn wir auf gegenseitiges Verstehen aus sind oder gemeinsam an einem Gespräch teilnehmen, dann verwirklichen und rekonstruieren wir unsere gemeinsame Erfahrung, wie wir in dieser Welt gemeinsam leben und handeln. Ein solches Gespräch ist dann fruchtbar, wenn wir darin eine gemeinsame Sprache finden. Erst hierdurch werden wir zu einer echten Kommunikationsgemeinschaft. »Das ist dann auch eine Art von Fortschritt, freilich nicht, wie der der Forschung, ein Fortschritt, hinter den man nicht zurückfallen kann, sondern der immer wieder in der Anstrengung unseres Lebens erneuert werden muss.« 309 Die Hermeneutik ist deshalb keine Methode, welche eins zu eins angewendet werden kann, sondern »im besten Falle« wird sie zu einer Lebenshaltung in Bezug auf die Praxis. Im Kontext des Dialogs zwischen Generationen hilft sie, das eigene Selbstverständnis zu hinterfragen und zu einem demokratischen und interkulturellen Sinnfindungsprozess beizutragen.

3.5.2 Philosophische Haltung und Tugenden: die praxisgeleitete Kultivierung der Menschenrechte Das Bildungsmodell nahm aufgrund des praxisorientierten Philosophiebegriffs von der Förderung eines bloß kritisch-begrifflichen Denkens Abstand und zielt darüber hinaus auf die Kultivierung von Mitgefühl und das kreative Denken. Die Frage bleibt jedoch, ob sich ein dialogorientiertes Bildungsmodell für die praxisorientierte Kultivierung eines Bewusstseins für Menschenrechte eignet. Oder anders gefragt: Auf welche Weise wirken sich die erworbenen Tugenden des Denkens, Fühlens und Wahrnehmens innerhalb eines Dialoges auch 308 Selbstverständlich bietet deshalb die Hermeneutik auch weniger Sicherheit (vgl. ebd., 51). 309 Ebd., 52.

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Philosophische Haltung: Möglichkeiten des Wertens und Handelns

auf das Handeln aus? Die Auseinandersetzungen mit der antiken Philosophie durch Hadot sowie Gadamers Überlegungen zur Hermeneutik als Praxis haben gezeigt, welchen wesentlichen Einfluss das Philosophieren haben kann, insofern es nicht auf eine Technik reduziert wird, sondern den ganzen Menschen – auf den Ebenen des Pathos, Logos und Ethos – anspricht, erfasst und umformt. Ragnar Ohlsson greift für die Beantwortung dieser Frage ferner auf die Idee der Kultivierung »intellektueller und moralischer Tugenden« zurück. Anders als das kritische Denken, das seit Hume als eher inaktives Prinzip gesehen wird, werden von Ohlsson die Tugenden als eine Gewohnheit oder auch umfassende Haltung gesehen. »They are rather general habits of thinking, and attitudes towards thinking and the goals of thinking.« 310 Das reflexive Abstandnehmen vom eigenen Denken und die Übernahme einer bestimmten Einstellung gegenüber den Gedanken Anderer führt für Ohlsson zu einer grundsätzlichen Einstellungsänderung gegenüber der Wahrnehmung und Verarbeitung von Informationen überhaupt: Es impliziert eine Verhaltensänderung, weil wir mit Informationen aus der Umwelt unterschiedlich umgehen. In dieser Möglichkeit zur »Meta-Reflexion« (das Nachdenken über das Denken) sieht Ohlsson einen wichtigen Anhaltspunkt für die Kultivierung von »Denk-Tugenden«. Um die Verbindung zwischen moralischen und intellektuellen Tugenden aufzuzeigen, greift Ohlsson auf einige Beispiele zurück: Ein »mutiger Denker« ist ein solcher, wer logischen Schlussfolgerungen bis zum Ende nachgeht, auch wenn das Ergebnis zunächst unbequem erscheint (z. B. wegen des Durchbrechens von gewohnten Lebensweltund Denkstrukturen). Ein »gerechter Denker« lässt allen Argumenten genügend Raum, um ihre Angemessenheit zu überprüfen. Auch den »mitfühlenden Denker« bezieht Ohlsson ein und meint damit die Fähigkeit, die Perspektive und die Emotionen des anderen gründlich und eingehend zu erwägen, um so den Standpunkt des Anderen genau nachvollziehen zu können. Schließlich bedeutet die »intellektuelle Ehrlichkeit«, dass der Zuhörer sich weder opportunistisch noch überkritisch gibt. Selbstverständlich können verschiedene Tugenden einander auch ausschließen wie z. B. der gerechte und der gütige Denker. Aus diesem 310 R. Ohlsson, Some Connections between Moral and Intellectual Virtues, in: E. Marsal, T. Dobashi, B. Weber (Hg.), Children philosophize Worldwide, a. a. O., 158.

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

Grund stellt die Community of Inquiry mit ihrem Potential des »verteilten Denkens« eine wertvolle Möglichkeit dar, möglichst viele verschiedene Tugenden zu kultivieren, weil Lehrkraft und Kinder je unterschiedliche Denk-Tugenden übernehmen werden. Die Nachahmung innerhalb der Peergroup wird dabei in ihrem Einfluss höher eingeschätzt als die Vorbildfunktion der Lehrkraft. 311 Wichtig und besonders an diesem Konzept ist, dass es nicht um die Vermittlung von einzelnen Denkabfolgen geht, sondern vielmehr um die Übernahme von Gewohnheiten im Dialog. Und im Gegensatz zum Erlernen logischer Denkfiguren (z. B. ad hominem) ist eine Gewohnheit etwas, das dauerhaft übernommen und in die Persönlichkeit integriert wird. Denkabfolgen können hingegen angewandt werden oder nicht und sind von der momentanen Motivation abhängig. Eine solche Verknüpfung von intellektuellen und moralischen Tugenden im Sinn einer übergreifenden Einstellungsänderung ist eine zentrale Zielsetzung des Philosophierens mit Kindern mit Blick auf die Kultivierung eines umfassenden Bewusstseins für Menschenrechte. Im Hinblick auf das vorliegende Bildungsprojekt werden deshalb die philosophischen Methoden an solche moralischen »Gewohnheiten« oder Tugenden angeschlossen. Das heißt, die Phänomenologie kultiviert die Sensitivität für soziale Missstände. Ferner schult sie die Geduld, genau hinzusehen und alle Ausdrücke in die eigene Deutung einzubeziehen. Die Analyse und Dialektik implizieren die Gewohnheit, auf die Unterschiede hinzudenken und diese »angstfrei« zu erschließen. Dahinter steht die Einstellung, dass Differenzen zur Erweiterung des eigenen Horizonts beitragen und das eigene Bild von »Realität« ergänzen. In der Hermeneutik steckt die Haltung, grundsätzlich auf den Anderen zu gehen und hinter den Unterschieden nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Ferner geht es um den Versuch, fehlende Information so zu rekonstruieren, dass der Andere verstehbar wird. Hinzu kommt die Tugend der Ausdauer, immer wieder zum Anderen zurückzukehren, um ihn »besser« zu verstehen. Die Spekulation umfasst schließlich den Mut, Neues zu Denken und damit alte Denkstrukturen aufzulösen. Diese Art von Mut beweist sich auch in konkreten sozialen Situationen, wenn es darum geht, gegen bestehende Autoritäten für das eigene Gefühl von Gerechtigkeit einzutreten. Mit Sicherheit lassen 311 L. Ross und R. Nisbett, The Person and the Situation: Perspectives of Social Psychology, Philadelphia 1991.

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Philosophische Haltung: Möglichkeiten des Wertens und Handelns

sich hier noch viele weitere Verbindungen zwischen intellektuellen und moralischen Tugenden ausmachen. Das Ziel ist aber nicht eine vorab Festlegung auf bestimmte Tugenden, sondern lediglich die Bewusstwerdung darüber, wie kooperatives Denken und Sprechen das Werten und Handeln im Sinne einer Veränderung von Verhalten und Gewohnheiten beeinflusst.

3.5.3 Didaktischer Leitfaden: der Übergang von der Community of Inquiry zur Community of Action Der Pädagoge als »praktischer Philosoph«: Möglichkeiten der Kultivierung einer philosophischen Haltung Idealerweise wird in der Antike der Lehrer als Weiser gesehen. Er ist also selbst Philosoph, das heißt nach Hadot »ein philosophisch Lebender«. Eine solche Forderung erscheint jedoch wenig praktikabel, da nicht jede Lehrkraft ein zusätzliches Philosophiestudium absolvieren kann. Was kann deshalb eine solche Forderung bedeuten? Der Weise nimmt bei Platon eine geradezu tragische Klangfarbe an. Er ist derjenige, der weiß, dass er nicht weiß, der weder in der Welt der Unverständigen noch in der Welt der Weisen, weder in der Welt der Tiere noch in der Welt der Götter völlig zuhause ist, also nicht klassifizierbar, sondern heimatlos ist, wie Eros und Sokrates. 312 Der Weise ist sozusagen ein Waise, ein puer aeternus im eigentlichen Sinne, da er die Armut seines scheinbaren Wissens erkennt, heimatlos wird und sich unvoreingenommen auf den Weg zur Weisheit begibt. Das Wachstum ist jedoch ein infiniter Prozess. Es gibt kein vorgefertigtes Ziel. »Zum Verständnis der antiken Werke wird man die besonderen Bedingungen des Philosophienlebens in dieser Zeit beachten, die tiefe Absicht des Philosophen entschlüsseln müssen, die nicht darin besteht, einen Diskurs zu entwickeln, der seinen Zweck in sich selbst hätte, sondern darin, auf die Seelen einzuwirken. […] Manchmal geht es darum, zu bekehren oder zu trösten, zu heilen oder zu ermahnen, immer aber und vor allem geht es darum, nicht ein vorgefertigtes Wissen zu übermitteln, sondern zu formen, d. h. ein Können zu lehren, einen habitus, ein neues Urteils- und Kritikvermögen zu entwickeln, und zu trans312 Vgl. P. Hadot, Wege zur Weisheit oder was lehrt uns die antike Philosophie, Frankfurt am Main 1999, 67.

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

formieren, d. h. die Art zu ändern, wie man lebt und die Welt betrachtet.« 313 Mehr als in anderen Fächern, hat daher die Lehrkraft durch die Philosophie einen weit größeren Einfluss auf die Persönlichkeit. Es ist keine Wissensvermittlung, sondern eine »Umwandlung des Selbst«. Die Lehrkraft kann deshalb auch nicht auf ein vorgefertigtes Wissen zurückgreifen, sondern muss sich der Ungewissheit und Offenheit aussetzen. Ein solches Nichtwissen und das Erkennen der eigenen Armut schwächt selbstverständlich die klassische Position des Pädagogen als Wissenden. Und es bleiben keine Positionen, keine Rollen oder letzten Wahrheiten mehr, hinter denen sich die Lehrkraft zurückziehen könnte. Hier begegnet uns das grundlegende Paradox der Selbstbestimmung des Pädagogen erneut. Wie bereits weiter oben erwähnt, ist die etymologische Bedeutung des Pädagogen die des »Führers des Kindes auf dem Weg nach Hause« (vgl. griech. paid-agogós). Übertragen kann der Pädagoge als der Führer auf dem Lebensweg des Kindes gedeutet werden. Jedoch ist dieses Selbstverständnis des Pädagogen als »neutraler Führer« im Hinblick auf das Philosophieren mit Kindern nicht haltbar. Der Pädagoge muss innehalten und sich umwenden, sonst wird er feststellen, dass die Kinder ihm nicht »folgen«, wenn er ohne Rücksicht auf deren existentielle Bedürfnisse im Alleingang voranschreitet. Hier muss die Lehrkraft insbesondere den anthropologischen Notwendigkeiten des Kindes, namentlich der Leiblichkeit, der originellen und originären Deutung der Welt sowie dem Bedürfnis nach einer offenen Auseinandersetzung mit metaphysischen Fragen gerecht werden. Der Pädagoge ist also einerseits erfahrener Pfadfinder und damit ein Vorbild: Er weiß sich zu helfen, indem er auf philosophische Methoden zurückgreifen kann (Poros). Andererseits muss er sich gegenüber dem Inhalt des philosophischen Gesprächs selbst öffnen, ohne ein bestimmtes Ergebnis anzuvisieren (Penia). Letztlich dient sein Vorbild als »praktizierender Philosoph« dazu, dass Kindern die Handlungsrelevanz ihres eigenen Denkens vor Augen geführt wird und so Denkgewohnheiten zu Handlungsgewohnheiten werden. Didaktische Anregungen zum gemeinsamen Werten und Handeln Die einfachste didaktische Möglichkeit, die Community of Inquiry zu einer Community of Action umzuformen, ist, die Frage zu stellen, wel313

Ebd., 314.

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Philosophische Haltung: Möglichkeiten des Wertens und Handelns

che Handlungsfolgen sich für jeden Einzelnen bzw. für die Gruppe aus der Diskussion ergeben. Zunächst muss hierfür überlegt werden, auf welche Weise das Gesagte die eigene Einstellung verändert hat bzw. welchen Wert oder welches Resümee der Einzelne für sich gezogen hat. Für diesen Schritt soll genügend Zeit zur Verfügung stehen. Schließlich sollen konkrete Problemsituationen überdacht und überlegt werden, auf welche Weise man sich in einer solchen Situation nun (und auf der Grundlage der Diskussion) anders verhalten würde. Dies kann in der Gruppe oder zunächst in Kleingruppen diskutiert werden. Ferner soll die Gruppe überlegen, inwiefern das Gesagte in der eigenen Klasse bzw. in den Familien oder mit Freunden umgesetzt werden kann sowie welche praktischen Probleme gegen eine konkrete Umsetzung sprechen. Für Kinder kann es wichtig sein, zu sehen, dass es mehrere Möglichkeiten gibt, die erarbeiteten Wertevorstellungen umzusetzen. Dabei kann auch geschehen, dass Kinder unterschiedliche Wertvorstellungen aus der Diskussion ableiten. Hier ist es wichtig, dass diese einerseits konkurrenzlos nebeneinander stehen bleiben können und andererseits dennoch, und durch entsprechende Kompromisse, eine solidarische Klassengemeinschaft kultiviert wird. Im Falle, dass Kinder sehr unterschiedlich auf die Diskussion einer philosophischen Geschichte reagieren, kann ihnen die Möglichkeit gegeben werden, die Geschichte selbst zu Ende zu schreiben bzw. ein neues (und für sie »gutes«) Ende zu finden. 314 Selbstverständlich kann es vorkommen, dass das Gefühl herrscht, die Diskussion sei noch nicht abgeschlossen. In diesem Fall bietet sich an, zu überlegen, ob die Ausgangsfrage nun anders formuliert werden würde bzw. welche weiteren Fragen aus der bisherigen Diskussion abgeleitet werden können. Häufig besteht ein Problem darin, dass Kinder zwar eine neue Einsicht haben und auch Situationen ausmachen, in welchen sie das neue Verhalten anwenden möchten, sich aber nicht trauen oder es schwer fällt, weil das neue Verhalten ungewohnt erscheint. In diesem Fall bieten sich Rollenspiele oder Theaterstücke an. Um gewonnene Einsichten für die Klasse als Gemeinschaft einzuüben, empfiehlt sich das Gestalten gemeinsamer Bilder und Plakate, um dem Übereinkommen eine physische Präsenz im Klassenzimmer zu verleihen. Schließlich bilden gemeinsame politische Aktionen eine zentrale Methode, um 314 Eine solche Methode wird häufig von Gareth Matthews verwendet (vgl. zu seiner Methode z. B. in: Philosophieren mit Kindern, Rostock 1996).

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Das Bildungsprojekt »Philosophieren mit Kindern«

Kindern zu zeigen, dass ihre Einsichten und Ideen eine Auswirkung auf konkrete gesellschaftlich relevante Entscheidungen haben. Solche politischen Aktionen können sein: das Schreiben eines Briefes, die Kontaktaufnahme mit einer Schule in einem anderen Land und Hilfe für dortige Kinder, gestalterische Eingriffe im öffentlichen Raum (z. B. Umgestaltung des Schulhofes) u. v. m. Im Allgemeinen soll betont werden, dass gerade am Anfang ein klarer didaktischer Leitfaden hilfreich sein kann. Selbstverständlich kann und soll diese »rohe Struktur« durch alle erdenklichen sinnlichästhetischen didaktischen Einfälle erweitert werden. Hier sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Insbesondere der Beginn einer philosophischen Schulstunde (d. h. die Anregungen zum Denken) als auch der Abschluss der Stunde (das Werten und Handeln) bieten viel Freiraum für ästhetische und sinnenbezogene Hilfsmittel und Anregungen.

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4. Zum Abschluss: exemplarischer Versuch der Didaktisierung der Dialogmodelle von Jürgen Habermas und Richard Rorty

Zum Abschluss werde ich versuchen, die Inhalte des hier entwickelten Bildungsprojektes konkret auf zwei Dialogmodelle anzuwenden. Mit Blick auf die Grundausrichtung dieses Projektes, nämlich die Förderung von Mitgefühl und kommunikativer Vernunft im Kontext der Kultivierung der Menschenrechte, werden hierfür die »Schule des Mitgefühls« bei Richard Rorty sowie die »ideale Diskurssituation« bei Jürgen Habermas aufgegriffen. Hierbei wird nach der Struktur Staunen – Fragen, Denken – Sprechen, Werten – Handeln bzw. entlang der Dreiteilung in Inhalte, Methoden und Haltungen verfahren werden, um auf diese Weise möglichst umfassende Anregungen aus den beiden Diskursmodellen abzuleiten. Das heißt, es werden zunächst die spezifischen Fragestellungen der beiden Philosophen extrahiert. Entlang der Argumentation und den rhetorischen Strategien lassen sich bestimmte Methoden herausarbeiten. Schließlich ist es möglich, spezifische Haltungen aus diesen Prozessen abzuleiten. Eine solche Vorgehensweise für die Didaktisierung der Dialogmodelle ist jedoch nicht im Sinne einer philosophischen Inhaltsvermittlung gedacht, sondern vielmehr eine Antwort auf die Frage, was ein bestimmter Philosoph (im Sinne eines Gesprächspartners) exemplarisch zu einer philosophischen Diskussion mit Kindern beizutragen hat. Dieser abschließende Didaktisierungsversuch dient der Anregung für Facilitators, mit Hilfe des hier entwickelten Modells, unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und philosophische Diskursmodelle in einer Community of Inquiry auszuprobieren.

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Zum Abschluss: exemplarischer Versuch der Didaktisierung der Dialogmodelle

4.1 Für eine Schule des Mitgefühls nach Richard Rorty a.

Philosophiebegriff und die Bedeutung der Philosophie im öffentlichen Raum: theoretische Rechtfertigung für die Didaktisierung im Hinblick auf die Menschenrechtsbildung

Zunächst erscheint Rortys »Schule des Mitgefühls« für die Moralerziehung eher kontraproduktiv: erstens weil sie dem Relativismus Tür und Tor öffnet und befürchtet wird, dass eine solche Offenheit Kinder überfordert, und zweitens, weil der sprachanalytisch motivierte Ansatz ein zu abstraktes Denkniveau suggeriert. Erwiderung auf den ersten Vorbehalt Aus Rortys Perspektive geht es lediglich darum, das private Streben nach Selbstverwirklichung nicht mit dem öffentlichen Bedürfnis nach einer Verminderung von Grausamkeit zu vermengen. Durch die pragmatisch motivierte Verabschiedung einer »Essenz des Menschseins« (z. B. »Vernünftigkeit«) müssen Personen ihre organisch-menschlichen Bedürfnisse (Essen, Schlafen, Zuneigung) nicht mehr rational begründen. Vielmehr ist die Basis eines transkulturellen Verstehens die Kapazität für Mitgefühl; d. i. das Wahrnehmen der Not und die Betroffenheit durch das Leiden des Anderen (gerade in seinem unvertretbaren organischen Dasein). Rorty verfolgt deshalb eine gänzlich andere Zielsetzung als der bloße Relativismus: nämlich die Wahrnehmung des Anderen als leidensfähiges und bedürftiges Wesen wie ich selbst. Dies ist für ihn die Grundvoraussetzung, um überhaupt ein Bewusstsein für die Idee der Menschenrechte zu entwickeln. Aus diesem Grund pocht er im öffentlichen Raum in hermeneutischer Manier auf die Gemeinsamkeiten: dass wir alle Schmerzen empfinden, unsere Familie lieben, gedemütigt werden können etc. Diese Art von Ähnlichkeiten sollen durch Geschichten, Romane etc. transparent gemacht werden. Die Stärke in Rortys Ansatz liegt also in seiner pragmatischen Ausrichtung und eindeutig pädagogischen Zielsetzung: die Erweiterung von Mitgefühl durch »traurige Geschichten«. Eine diskursive Auseinandersetzung wird nicht ausgeschlossen, wohl aber als zweitrangig betrachtet, weil für Rorty Solidarität nichts mit rationalem Verstehen (Objektivität) zu tun hat. Erst unter der Voraussetzung des Mitgefühls hält Rorty die Einigung auf wenige und allgemeinverbindliche Menschenrechte für 226 https://doi.org/10.5771/9783495860625 .

Für eine Schule des Mitgefühls nach Richard Rorty

möglich. Es geht nicht primär darum, ob Menschenrechte als solche legitim sind, sondern um die pragmatische Frage, wie man Menschen für das Leid Anderer sensibilisieren kann; nicht die Vermittlung eines »ethischen Wissens« steht im Vordergrund, sondern die Kultivierung eines moralischen Gefühls (d. i. die Erweiterung des »Wir-Gefühls«). 1 Erwiderung auf den zweiten Vorbehalt An anderer Stelle 2 wurde die Engführung von Rortys Mitgefühlsbegriff eingehend diskutiert und vorgeschlagen, diese Schwäche durch eine phänomenologische Fundierung zu umgehen. Einer solchen Rekonstruktion von Rortys Ansatz liegt die Annahme zugrunde, dass ein Mangel an Mitgefühl zuallererst seine Ursache in einer Deprivation der Sinne hat. Erst auf der Grundlage einer umfassenden Sinnesschulung kann eine Kultivierung des Mitgefühls durch Romane gelingen, weil Literatur bereits eine Abstraktion von der unmittelbaren Erfahrung bedeutet und nur durch die Fundierung in der Sinnlichkeit wortwörtlich »Sinn macht«. Es wurde ferner dargelegt, wie die Ökonomisierung des öffentlichen Raumes zu einer Abstumpfung und Verminderung sinnlicher Erfahrung führt und damit städtische Kommunikation auf den Distanzsinn des Sehens reduziert wird. An die Stelle der Empfindung und des Mitgefühls tritt in diesem Fall der Genuss, welcher zu weiterer Vereinzelung und schließlich zur Sinnentleerung des öffentlichen Raumes führt. Das Verhältnis zum eigenen Körper wird hierdurch instrumentalisiert und von ökonomischen Gesetzen bestimmt. 3 Aus diesem Grund wird bei der Didaktisierung des rortyschen Dialogmodells auf eine phänomenologische Ergänzung Wert gelegt. Der zwiespältige Nutzen der Philosophie Für Rorty bleibt die Auseinandersetzung mit der Philosophie zwiespältig. Sie ist einerseits anregend für die eigene Selbstentfaltung, taugt aber andererseits nur, insofern diese Auseinandersetzung durch eine ironische Haltung begleitet wird. Für die Kultivierung von MenschenMit einer solchen Argumentation bezieht sich Rorty selbstverständlich auf Humes Unterscheidung zwischen aktiven (emotionalen) und inaktiven (rationalen) Prinzipien. Denn nur aktive Prinzipien können uns für eine Aktion motivieren (vgl. D. Hume, Enquiry concerning the Principles of Morals, a. a. O.). 2 Vgl. B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O. 3 Vgl. beides B. Weber, Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit, a. a. O. 1

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Zum Abschluss: exemplarischer Versuch der Didaktisierung der Dialogmodelle

rechten greift Rorty deshalb eher auf Literatur und Poesie zurück. Dem kreativen Denken kommt hingegen eine ungleich größere Bedeutung zu, insofern es zu pragmatischen Veränderungen führt. Besonders wichtig ist die Umdeutung von verhärteten Theorien und Dichotomien, welche uns den Durchbruch zu einer Neudeutung verstellen. Für eine solche Dekonstruktion von alten Systemen kann der Dialog mit Kindern anregend sein. Umgekehrt können Kinder zu kreativen Neudeutungen angeregt werden. »The only point on which I would insist is that philosophers’ moral concern should be with continuing the conversation of the West, rather than with insisting upon a place for the traditional problems of modern philosophy within that conversation.« 4 Diese Zielsetzung wird im Folgenden aus seinem Ansatz der Mitgefühlsschulung extrahiert und für die Menschenrechtserziehung didaktisiert, ohne zugleich eine »relativistische« Haltung vermitteln zu müssen; d. h., nicht die Gleichgültigkeit gegenüber Grausamkeiten ist das Ziel, sondern die Sensibilisierung für die Wahrnehmung ebensolcher Grausamkeiten. Eine solche Zielsetzung geht deshalb einer relativistischen bzw. universalistischen Haltung voraus. »Moral progress is a matter of wider and wider sympathy. It is not a matter of rising above the sentimental to the rational. [… The pragmatists] substitute the idea of a maximally warm, sensitive and sympathetic human being for the Kantian idea of a Good Will.« 5 Rortys Schwerpunkt liegt deshalb nicht auf den genauen Inhalten der Menschenrechte, sondern auf der Einsetzung einer »Kultur der Menschenrechte«, d. i. einem kontinuierlichen Dialog darüber, was Menschen existentiell zum Überleben brauchen (Essen, eine gesunde Umwelt, Liebe etc.). Ist eine solche Dialogkultur überhaupt erst einmal installiert, damit wir in ein solches Gespräch mit anderen Menschen geraten, trägt dieser Austausch weiter zur Sensibilisierung für fremdes Leid bei. »People can be very intelligent, in this sense, without having wide sympathies. But their compassion can have a narrow scope. […] So it is best to think of moral progress as a matter of increasing sensitivity, increasing responsiveness to the needs of a larger and larger variety of people and things.« 6 4 5 6

R. Rorty, Philosophy and the Mirror of Nature, New Jersey 1979, 394. R. Rorty, Philosophy and Social Hope, London 1999, 82 f. Ebd., 81.

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Für eine Schule des Mitgefühls nach Richard Rorty

Mit seinem ersten Anliegen, der Einsetzung eines interkulturellen Dialogs, ist Rorty nicht weit von Habermas’ idealer Diskurssituation entfernt. Seine Motivation ist jedoch keine rationale (z. B. die Generierung einer gemeinsamen Lebenswelt, die Harmonisierung von Faktizität und Geltung, die Annäherung an eine intersubjektiv gültige Aussage), sondern eine emotionale: Ziel ist die zunehmende Sensibilisierung der Diskursteilnehmer für die physisch-existentiellen Belange Anderer. Die Kohärenz von Aussagen wird nur aus pragmatischen Gründen angestrebt, nämlich insofern es den Versuch der weitestmöglichen Transparenz des Gesagten für Andere unterstützt. Es wird deshalb nicht dem »besseren« (d. i. rationalen) Argument der Vorzug gegeben, sondern vielmehr denjenigen Gedanken, welche auf das Leid anderer am sensibelsten hinweisen bzw. welche innovative Vorschläge das Leiden verringern. Hierzu gehört u. a. die Kultivierung für ein Bewusstsein des Gebrauchs von Sprache; z. B. dass die Idee einer »Essenz des spezifisch Menschlichen« zugleich willkürlich zwischen »echten« Menschen und »Pseudo-Menschen« trennt und auf diese Weise Gefühlskälte bzw. Grausamkeit generiert. Das Einsehen, dass die Geschichte, welche wir uns über die Welt erzählen, reale Folgen hat, führt zu der Frage, welche Geschichte wir uns selbst erzählen, um Menschen zu mitfühlenden und rücksichtsvollen Wesen zu machen. Eine weitere Charakteristik ist die offene und ironische Haltung gegenüber Lebensweltkontexten und Traditionen. Hierdurch eröffnet Rorty einen Raum der Spekulation, d. h., jenseits des essentialistischen Denkens werden Möglichkeiten der Transzendenz des Gegebenen und des »Scheinwissens« eröffnet. b.

Didaktischer Leitfaden

Inhalte Für Rorty stellen Romane, Geschichten und Gedichte die Quellen dar, wodurch unser Mitgefühl für andere stimuliert wird. Erzählungen sind kein pädagogisches Werkzeug oder Helfer, um moralische Kataloge zu vermitteln, sondern im Gegenteil geht er davon aus, dass Literatur, wie Uncle Tom’s Cabin, tatsächlich die Einstellung und das Mitgefühl für Menschen verändert. Dieser Annahme geht ein sprachphilosophisch inspiriertes Verständnis von Identität voraus: »Eine Person [ist] nichts anderes als eine kohärente und plausible Menge von Überzeugungen

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Zum Abschluss: exemplarischer Versuch der Didaktisierung der Dialogmodelle

und Wünschen«. 7 Geschichten sind jedoch keine kohärenten Weltansichten, sondern offene Systeme, welche uns anrühren und auf diese Weise unsere Einstellung gegenüber der Welt rekonstruieren. Als Quellen stehen der Community of Inquiry verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung: Am besten geeignet sind selbstverständlich Texte der klassischen Kinderliteratur. Ebenfalls bieten sich Augenzeugenberichte oder Autobiographien an. Es ist jedoch Vorsicht geboten, wenn die Inhalte zu schockierend sind, weil solche Erfahrungen die Empfindungen von Kindern eher abstumpfen oder sie resignieren lassen. Selbstverständlich gibt es auch extra für diesen Zweck geschriebene philosophische Kinderromane wie z. B. die von Ann Sharp zur Gefühlserziehung geschriebenen Geschichten. 8 Bedenklich ist dabei einzig, dass die Geschichten einen geringeren literarischen Stellenwert haben und deshalb u. U. nicht so anregend und -rührend sind wie anspruchsvollere Literatur. Der didaktische Fokus auf die Literatur weist auf einen wesentlichen blinden Fleck in Rortys Denken hin, welcher weiter oben bereits eingehend diskutiert wurde: das Paradox einer »sprachfundierten Sinnesschulung«. Aus diesem Grund plädiert der vorliegende Bildungsansatz für den umfassenden Einsatz weiterer Medien. Im Vordergrund stehen hier die sinnesbezogene Auseinandersetzung mit verschiedenen Kulturen und Menschen; z. B. der Besuch eines Asylbewerberheimes mit anschließendem Gespräch mit den Kindern und Erwachsenen. Während einer solchen Begegnung können auch andere Medien eingesetzt werden, wie z. B. das gemeinsame Spiel oder die Gestaltung eines gemeinsamen Bildes oder der Entwurf einer Zukunftsvision. Möglich ist auch der Besuch eines anthropologischen Museums, um einen Einblick in fremde Kulturen und Lebensumstände zu erhalten. Ein solcher Besuch kann mit einem nachfolgenden Rollenspiel ergänzt werden. Andere bedeutende Medien stellen die Bewegung und die Musik dar, um die Sensibilität für nonverbale Ausdrucksformen zu wecken. Schließlich gibt es die Möglichkeit, Kinder selbst eine Geschichte schreiben zu lassen und sie dadurch anzuregen, sich in die verschiedenen Perspektiven der Protagonisten hineinzuversetzen. Selbstverständlich gibt es unzählige Möglichkeiten, welche je speR. Rorty, Solidarität oder Objektivität? Drei philosophische Essays, Stuttgart 1988, 44. 8 Vgl. die bereits weiter oben erwähnten philosophischen Geschichten von Sharp. 7

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Für eine Schule des Mitgefühls nach Richard Rorty

zifische Fähigkeiten in den Vordergrund stellen. Solche Möglichkeiten sind nicht neu, werden aber durch die Erweiterung von Rortys Mitgefühlsbegriff für die Menschenrechtsbildung philosophisch und bildungstheoretisch legitimiert Natürlich genügt nicht die bloße Konfrontation mit solchen Inhalten, um eine langfristige Einstellungsänderung und Handlungsmotivation zu erreichen. Sie sind – im Kontext dieses Bildungsmodells – vielmehr als erste Infragestellung des Gewohnten, des Innehaltens und des Staunens zu verstehen. Sie inspirieren und regen zum Nachdenken an, sind aber in sich noch keine Auseinandersetzungen, sondern lediglich Eindrücke oder Erlebnisse. Zu echten Erfahrungen werden sie erst durch die in 3.4 dargestellten philosophischen Methoden. Methoden Die Methoden richten sich nach den in 3.4 ausgearbeiteten Anmerkungen, insbesondere der Spekulation und in eingeschränkter Weise der Ironie. Hinzu kommt die Phänomenologie als Methode der Sinnesschulung Haltung Die Schwierigkeit der Bestimmung einer philosophischen Haltung ist bereits weiter oben expliziert worden. Sie kann weder unmittelbar gelehrt noch schlicht vorausgesetzt werden. Am ehesten gleicht die Haltung einer Gesprächsqualität, die es wahrzunehmen gilt. 9 Haltungen stehen am »Rande« des Dialogs, weil sie übergeordnete Einstellungsänderungen verkörpern, welche sich nicht auf die Zeit und den Ort des philosophischen Dialogs beschränken. Vielmehr sollen sie das Werten und Handeln auch außerhalb der Dialoggemeinschaft bestimmen. In diesem Sinne gilt eine solche Einstellungsänderung als – sicherlich idealistische – umfassende Verhaltungsänderung, welche das Miteinander auch außerhalb der Dialoggemeinschaft bestimmt. Eine spezifische Haltung im Sinne Rortys ist das Denken außerhalb der vorgegebenen Strukturen. Das heißt, ein Denken, das nicht schlicht zu scheinbar »ultimativen« letzten Werten wie das Gute, Schöne oder Wahre zurückkehrt, sondern jenseits kultureller Vorurteile Ragnar Ohlsson spricht in diesem Zusammenhang auch von »intellektuellen Tugenden«, welche er als regulative Zielideen philosophischer Dialoge spezifiziert (vgl. hierzu weiter oben).

9

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Zum Abschluss: exemplarischer Versuch der Didaktisierung der Dialogmodelle

nach Gemeinsamkeiten bzw. neuen Lösungen sucht. Hierzu gehört das Bewusstsein einer umfassenden Verantwortlichkeit für das Denken und Handeln. Da für Rorty soziale Missstände nicht notwendig, sondern selbst produziert sind, liegt die Verantwortlichkeit ganz in der Hand des Einzelnen, welcher in Beziehung zu den Missständen steht bzw. diese mit Hilfe von Denkmustern »rationalisiert« oder auch rechtfertigt. Die Übernahme einer solchen umfassenden Verantwortung geht für Rorty nicht mit Verzweiflung, sondern vielmehr mit Hoffnung einher: Soziale Missstände sind nicht an unveränderbare Essenzen rückgebunden, sondern können durch die Rekonstruktion von Weltbildern aufgelöst werden. Deshalb macht jedes Denken und Handeln einen Unterschied. Als Pragmatist ist sich Rorty natürlich bewusst, dass sich sämtliche gedanklichen Rekonstruktionen im sozialen Handeln bewähren müssen. Auch außerhalb der Dialoggemeinschaft sollen Kinder auf diese Weise angeregt werden, neue Sichtweisen auszuprobieren und die Praktikabilität von Vorschlägen im Hinblick auf ihre Effektivität zur Reduktion von Leiden zu bedenken. Inhalte

Methoden

Haltung

z.B. Poesie, Literatur, Begegnungen mit Kulturen

Ironie, Phänomenologie, Spekulation

eine handlungsorientierte Kultur der Menschenrechte

Staunen und Fragen

Denken und Sprechen

Werten und Handeln

Kreatives Denken: Infragestellung der Lebenswelt, Neuschöpfung durch Worte, Erweiterung der Imagination

Kreatives Denken: Rekonstruktion des Vokabulars, Erfindung neuer Metaphern

Kreatives Denken: Offenheit gegenüber Neuem, Überwindung von Konventionen

Mitgefühl: Sensibilisierung der Wahrnehmung

Mitgefühl: Förderung gegenseitigen Verstehens, Perspektivenwechsel

Mitgefühl: Hoffnung und Sensibilität für Grausamkeit und Demütigung

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Für die Kultivierung einer idealen Diskurssituation nach Jürgen Habermas

4.2 Für die Kultivierung einer idealen Diskurssituation nach Jürgen Habermas a.

Philosophiebegriff und die Bedeutung der Philosophie im öffentlichen Raum: theoretische Rechtfertigung für die Didaktisierung im Hinblick auf die Menschenrechtsbildung

Grundsätzlich versucht Habermas den subjekttheoretischen kategorischen Imperativ bei Kant durch den Begriff einer intersubjektiv vermittelten Vernunft zu erweitern, um damit »das Projekt der Moderne zu retten«. Sein pragmatisches Anliegen besteht darin, ideale Diskurssituationen im öffentlichen Raum zu institutionalisieren, in welchen sämtliche Argumente gehört und verstanden werden. »Tatsächlich können wir […] Sätze in Äußerungen nur verwenden, indem wir mit Hilfe der pragmatischen Universalien die Bedingungen möglicher Kommunikation und damit die Sprechsituation erst hervorbringen; nämlich die Ebene der Intersubjektivität, auf der Personen Dialogbeziehungen eingehen und somit als sprach- und handlungsfähige Subjekte auftreten können, und die Ebene der Gegenstände, auf der Reales als Gegenstand möglicher Aussagen abgebildet werden kann. Wir können deshalb auch von dialogkonstituierenden Universalien sprechen.« 10 Unter den Bedingungen, welche eine solche ideale Diskurssituation ermöglichen, erwähnt Habermas, dass alle Personen die gleiche Möglichkeit haben, an der Diskussion teilzunehmen. Die Teilnehmer dürfen und sollen Interpretationen, Behauptungen, Vorschläge, Erklärungen und Rechtfertigungen beitragen, diese dürfen wiederum von allen Teilnehmern angezweifelt, hinterfragt und kritisiert werden. Jede Behauptung muss gerechtfertigt oder zurückgezogen werden, wenn der Geltungsanspruch nicht verteidigt werden kann. Eine Tat oder Norm wird für wahr anerkannt, wenn alle mit einer Aussage übereinstimmen. Vernunft führt, nach dieser Annahme, zu gegenseitigem Verständnis und Konsens. 11 Philosophietheoretisch nähert sich Habermas’ Wahrheitstheorie an eine Konsenstheorie der Wahrheit 12 an und führt zu einem J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zum Begriff des kommunikativen Handelns, Frankfurt am Main 1995, 110. 11 Methodisch nähert sich hier die ideale Diskurssituation klar an die Community of Inquiry von Lipman an. 12 Selbstverständlich wird diese Wahrheitstheorie von Habermas später eingeklammert und auf soziale Kontexte beschränkt (vgl. WuR). 10

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Zum Abschluss: exemplarischer Versuch der Didaktisierung der Dialogmodelle

pragmatischen Verständnis von Sprache, d. h., jede Aussage ist gleichzeitig eine gemeinschaftliche Aktion 13 – die Entscheidung für »gut« oder »wahr« ist das Ergebnis einer offenen und freien Diskussion. Die Idee einer idealen Sprechsituation ist eng an die Vorstellung einer demokratischen Kultur geknüpft. Als Aufgabe der Demokratie gilt nicht nur das Erstellen eines Systems von Gesetzen, sondern allen voran ein System von Sprache und Zeichen in einer Gemeinschaft von freien Individuen, welche alle mit gleichen Rechten ausgestattet sind. 14 Vor diesem Hintergrund steht auch Habermas’ Theorie der Menschenrechte. »Der gesuchte interne Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Volkssouveränität besteht dann darin, dass die Menschenrechte die Kommunikationsbedingungen für eine vernünftige politische Willensbildung institutionalisieren.« 15 Menschenrechte sind essentiell, um eine ideale Diskurssituation in einer demokratischen Gesellschaft bilden zu können, weil eben dort soziale Wahrheit und ethische Normen in einem vernunftorientierten Dialog generiert werden. In der Auseinandersetzung mit Rorty läuft der Konflikt auf die Frage hinaus, ob wir Menschenrechte brauchen, damit eine ideale Diskurssituation zustande kommt (Habermas) oder ob wir zuerst in einen Dialog treten, um hieraus inhaltliche Menschenrechte abzuleiten (Rorty). Theoretische Vorüberlegungen Die Hermeneutik zielt auf Gemeinsamkeiten hinter der Verschiedenheit. Die Spekulation erhält die Offenheit für Neues. Die Phänomenologie sensibilisiert schließlich für die konkreten Leiden des Anderen. Habermas’ ideale Diskurssituation übernimmt in diesem Zusammenhang eine weitere wichtige Rolle: Sie bezieht den Anderen in seiner Andersheit ein. Die Motivation dahinter ist die Notwendigkeit, das eigene Bild von Wirklichkeit durch die Andersheit des Anderen zu ergänzen (hierfür stehen Habermas’ epistemologischen Vorüberlegungen). »Aber die kommunikative Bewährung dieser Konflikte bildet in einer säkularisierten Gesellschaft, die mit ihrer Komplexität auf bewusste Weise umzugehen gelernt hat, die einzige Quelle für eine SoliVgl. zum »Sprechhandeln« bei Habermas in: B. Weber, Zwischen Vernunft und Mitgefühl, a. a. O. 14 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung, a. a. O., 83. 15 J. Habermas, Die postnationale Konstellation, a. a. O., 175. 13

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Für die Kultivierung einer idealen Diskurssituation nach Jürgen Habermas

darität unter Fremden – unter Fremden, die sich bei der kooperativen Regelung ihres Zusammenlebens, auch das Recht zugestehen, füreinander Fremde zu bleiben.« (FuG 374) Wenn Rorty die Solidarität über Ähnlichkeiten proklamiert, so ist es für Habermas die Solidarität trotz und gerade wegen dieser Unterschiede. Die ideale Diskurssituation setzt deshalb auf das gegenseitige Verstehen über die Hervorhebung der Unterschiede. Eine wesentliche Voraussetzung hierfür ist die Arbeit über Geltungsansprüche, d. h. das Lautwerden von Unstimmigkeiten, sobald diese Auftreten. Erst durch eine solche kontinuierliche gegenseitige Vergewisserung ist es möglich, schrittweise eine gemeinsame Lebenswelt zu generieren. 16 Die frühe Kultivierung einer solchen Diskurssituation, in welcher die Differenzen nicht als Bedrohung, sondern notwendige Ergänzung des eigenen Bildes gesehen werden, ist Voraussetzung dafür, dass Menschen auch später in sozialen Situationen eine solche Auseinandersetzung suchen und sich hierdurch nicht in ihrer Identität bedroht, sondern gefördert fühlen. Die Transformation der Community of Inquiry in eine ideale Diskurssituation ist implizit bereits in der theoretischen Konzeption angelegt und wurde erstmals von Matthew Lipman in einem persönlichen Gespräch erwähnt. 17 Weil für Habermas kommunikative Vernunft nur im öffentlichen Raum realisiert wird und sie die Voraussetzung dafür ist, auf intersubjektive Wahrheitsgehalte vorzustoßen, erhält die Philosophie im öffentlichen Raum eine exponierte Stellung. Mit einer solchen Schwerpunktverschiebung bewegt sich Habermas jedoch konträr zu Rorty, welcher die Philosophie in den privaten Bereich verbannt. Der Nachteil einer einseitigen Umstrukturierung der Community of Inquiry nach Habermas besteht darin, dass hierdurch emotionale Gehalte vom Diskurs verbannt werden. Und es bleibt die Frage offen, wie die Kommunikationsteilnehmer – ohne Emotionen – für einen solchen Dialog ethisch motiviert werden bzw. wie ethische Konfliktsituationen überhaupt wahrgenommen werden können. Aus diesem Grund wird die Transformation der Community of Inquiry in eine ideale Diskurssituation an die zweite Stelle gesetzt; an den Punkt des philosophischen Prozesses, da die Notwendigkeit für die sprachliche AuseinanderEine solche Vorgehensweise erinnert auch an die kontinuierlichen Affirmationen, welche die Platon-Dialoge durchziehen. 17 Persönliches Gespräch August 2004. 16

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Zum Abschluss: exemplarischer Versuch der Didaktisierung der Dialogmodelle

setzung bereits erkannt wurde sowie ethische Konfliktpotentiale zu Bewusstsein gekommen sind. 18 Ein zweites Problem betrifft die kontextsensible Anwendung der Ergebnisse solcher Verhandlungen. Habermas geht immer schon von einer hermeneutisch gekonnten Interpretation der Konsense aus, beschreibt jedoch nicht, warum hierauf zu hoffen ist. Deshalb ist eine darüber hinausgehende Haltung notwendig, welche im Mitgefühl – im Sinne des emotionalen Verstehens und der Sensitivität für Problemkontexte – verankert bleibt. Im Folgenden werden nicht alle Ähnlichkeiten zwischen der traditionellen Community of Inquiry und der idealen Diskurssituation nochmals hervorgehoben. Vielmehr ist es das Ziel, eine Didaktisierung der Diskurssituation zu unternehmen. Dabei wird versucht, die traditionelle Community of Inquiry durch den Fokus auf eine kommunikative Vernunft von ihrem westlich geprägten Vernunftbegriff (critical thinking) zu lösen. b.

Didaktischer Leitfaden

Staunen und Fragen: Bewusstsein über die eigene Lebenswelt Am Anfang steht auch für Habermas das Hinterfragen und damit die Bewusstwerdung eines Teils der Lebenswelt. Dies kann niemals alleine geschehen, sondern setzt den Blick des Anderen voraus. Habermas sieht in diesem Schritt eine Notwendigkeit, ohne welche wir nicht in einen interkulturellen Dialog treten könnten. Damit einher geht die Wahrnehmung moralischer Konflikte wie z. B. Kränkungen oder Verletzungen. Dieser Ausgangspunkt ist nicht immer leicht für die Lehrkraft, weil ihr selbstverständlich die eigene Lebenswelt so lange verdeckt bleibt, bis sie von einer zweiten Perspektive offengelegt wird. Nichtsdestotrotz können wir für solche Infragestellungen sensibilisiert werden. Anzeichen hierfür sind anormale Reaktionen auf Meinungen: Irritationen und Ängste auf Dialoginhalte sind oftmals ein Zeichen dafür, dass mit einer Aussage elementare Inhalte unseres Verstehenshorizontes hinterfragt werden. Darüber hinaus hilft der sensible Gebrauch von zentralen Begriffen (das Gute, Vernunft, Gott, Glück), inIch habe weiter oben bereits erwähnt, dass Habermas selbst ein solches Vorgehen vermutlich begrüßen würde (vgl. J. Habermas, Die nachholende Revolution, a. a. O.).

18

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Für die Kultivierung einer idealen Diskurssituation nach Jürgen Habermas

dem immer wieder hinterfragt wird, was wir mit diesen eigentlich meinen. Oftmals befinden sich nämlich die Diskursteilnehmer nur vermeintlich im Konsens, haben aber gänzlich andere Vorstellungen von der konkreten Umsetzung des Konsenses oder der Bedeutung der Begriffe. Ferner ist immer dann Vorsicht geboten, wenn es sich um schnelle Affirmationen handelt. Ja-Sagen kann höflich sein, unterbindet jedoch den eigentlichen Zweck der Diskursgemeinschaft: d. i. die jeweiligen Differenzen zum Vorschein zu bringen. Denken und Sprechen: Reparatur der zerrissenen Lebenswelt Es geht bei Habermas um eine Transformation der subjektzentrierten in eine kommunikative Vernunft. Das heißt, dass Logik nicht mehr im Sinne einer Reihe universaler logischer Denkketten verstanden wird. Vielmehr ist vernünftig, was intersubjektiv seine Geltungsansprüche verteidigen kann. Selbstverständlich helfen logische Verkettungen, insofern sie zur intersubjektiven Verständlichkeit beitragen. Kohärenz ist jedoch in sich kein Selbstzweck, sondern steht immer im Verhältnis zu seinem pragmatischen Nutzen gegenseitigen Verstehens. Dialektisch ist das Vorgehen, weil es ein Aufeinandertreffen von These und Antithese bedeutet und auf eine synthetische Reparaturleistung des Lebenswelthintergrundes abzielt. Die Idee des Diskurses sollte ferner kein »Beweisverfahren« sein, sondern die kooperative Einigung auf normativ Richtiges. Eine Voraussetzung für die Herstellung eines vernünftigen Konsenses ist die klare Artikulation des Dissenses und damit die Verständigung über Strittiges. Habermas stellt nun zwei konkret umsetzbare Methoden für die Kultivierung einer idealen Diskurssituation zur Verfügung: Die Diskurssituation liefert empirisch verifizierbare Kriterien, um die Hörbarmachung eines jeden Arguments zu garantieren. Hierzu gehören die Einbeziehung aller Teilnehmer, Einlösung von Geltungsansprüchen durch Argumente, selbe Rechte und Dialogkompetenzen, um auf gleiche Weise an dem Dialog teilzunehmen. Selbstverständlich bleibt die Situation immer eine »ideale«, weil eine hundertprozentige Garantie nicht gegeben werden kann. Diese Kriterien gelten deshalb als regulative Zielideen. Eine weitere methodische Hilfestellung ist die Charakterisierung von Geltungsansprüchen. Für die Community of Inquiry bedeutet dies eine genaue Charakterisierung des Widerspruchs: Wird die Wahrheit einer Aussage angezweifelt, dann muss ein Beweis angeführt werden; 237 https://doi.org/10.5771/9783495860625 .

Zum Abschluss: exemplarischer Versuch der Didaktisierung der Dialogmodelle

Inhalte

Methoden

Haltung

Hinterfragen des kulturellen Lebenswelthintergrundes

Gestaltungsansprüche, Eigenschaften der Diskurssituation

Erweiterung des eigenen Horizontes, illokutionären Absicht, kommunikatives Handeln

Staunen und Fragen

Denken und Sprechen

Werten und Handeln

Was sehe ich, was sieht der Exploration der Andersheit des Anderen Auf welche Weise habe ich mich Andere? Wahrheit, Richtigkeit, Wahrhaftigkeit, durch den Dialog verändert? Was sind meine Vorurteile? Verständlichkeit Möchte ich den Andern wirklich Wie verwende ich meine Worte? Recht der freien Meinungsäußerung verstehen? Was sind meine Grundwerte und Recht, Gestaltungsansprüche einzufordern In welchen Punkten konnten wir uns warum sind diese mir wichtig? Kommunikationskompetenzen einigen? Welche Handlungskonsequenzen ergeben sich daraus?

wird die Richtigkeit einer Aussage in Frage gestellt, muss ein Argument für Angemessenheit des gewählten Prinzips hervorgebracht werden; wird die Wahrhaftigkeit einer Aussage angezweifelt, so muss durch ein entsprechendes Verhalten (selbstverständlich außerhalb des Dialogs, aber in der Gemeinschaft) die Aufrichtigkeit bewiesen werden; wird schließlich die Verständlichkeit kritisiert, dann muss der Versuch unternommen werden, das Gesagte anders zu formulieren. Werten und Handeln: Erproben der Vereinbarungen in der Lebenswelt Abschließend gibt es bestimmte Haltungen und Gewohnheiten, welche sich aus einer solchen Dialogsituation ergeben und welche entsprechend verstärkt werden können. Beispielweise sollte jede Einstellungsänderung der Teilnehmer gelobt werden. Einstellungsänderungen gelten nicht als »Verlieren«, sondern als »Gewinnen« im Diskurs, weil dies ein Anzeichen inneren Wachstums und Weiterentwicklung ist. Ferner sollte jedes Bedenken und Zögern in der Bereitschaft eine Meinung nachzuvollziehen zu ihrem Ursprung zurückverfolgt werden, um implizite »Gewissheiten« oder »Gewohnheiten« aufzuspüren. Schließlich sollten gefundene Beschlüsse der Gruppe immer eine direkte Handlung zur Folge haben, damit Ansprüche nicht nur verbal, sondern auch in ihrer pragmatischen Anwendung auf ihre Praktikabilität überprüft werden. Der Erfolg wird in der Gruppe diskutiert. 238 https://doi.org/10.5771/9783495860625 .

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Barbara Weber

Zwischen Vernunft und Mitgefühl Jürgen Habermas und Richard Rorty im Dialog über Wahrheit, politische Kultur und Menschenrechte 328 Seiten. Kartoniert ISBN 978-3-495-48594-1

Einerseits ist die Idee der Menschenrechte aus westlicher Perspektive zunächst so eingängig, dass zu fragen bleibt, warum die globale Durchsetzung auf solche Widerstände stößt. Andererseits scheint es, als würde der Dialog darüber, welche konkreten Rechte mit dem Menschsein einhergehen, die globalisierte Gesellschaft an den Rand ihrer Fähigkeiten bringen. Philosophisch betrachtet stehen sich hier zwei Diskursmodi globaler Verständigung gegenüber: der auf kommunikativer Vernunft basierende »ideale« Diskurs (Habermas) und die auf Mitgefühl setzende »Kultur der Menschenrechte« (Rorty). Dieses Buch ist jedoch mehr als ein bloßer Vermittlungsversuch: Vielmehr begibt sich die Autorin auf eine Art Spurensuche und führt die divergierenden politischen Visionen auf deren zugrundeliegende Epistemologien zurück. Erst hierdurch wird verständlich, warum Habermas und Rorty folgende Fragen so unterschiedlich beantworten: Müssen wir uns zunächst in rationalen Diskursen annähern, um für Menschen fremder Kulturen Solidarität zu empfinden? Oder aber gelingt die Kultivierung eines umfassenden Mitgefühls, um von dort zu einer transkulturellen Solidarität vorzudringen? Ist eventuell die Substitution der Vernunft durch Mitgefühl ein Gestus der Aufrichtigkeit einer Disziplin, die sich ihrer Grenzen bewusst geworden ist: ein »selbstloser Akt«, der das Eingestehen des eigenen Unvermögens über die Denunziation anderer stellt? Oder aber ist der rationale Diskurs im multikulturellen Dialoggefüge aktueller politischer Diskurse unersetzlich?

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Barbara Weber

Vernunft, Mitgefühl und Körperlichkeit Eine phänomenologische Rekonstruktion des politischen Raumes 228 Seiten. Kartoniert ISBN 978-3-495-48595-8

In dem Maße, in dem wir nicht mehr bezeugen, sondern nur beobachten, keine sozialen Erfahrungen machen, sondern als Voyeur den Anderen objektivieren, verschwindet der Mensch in seinem lebendigen Dasein aus dem öffentlichen Raum. Der politische Teilnehmer wird zum bloßen Betrachter, der sich in die Anonymität der Privatsphäre zurückgezogen hat. Das Sichtbarwerden des konkreten Menschen in seiner Körperlichkeit und Verletzlichkeit ist jedoch das Fundament für ethisches Bewusstsein und politische Verantwortung. Dieses Buch ist ein emphatisches Plädoyer für die Bedeutung des Körpers und der Gefühle: Der öffentliche Raum ist auf das Sehen und das Gesehenwerden angewiesen, weil sich erst hieraus ein gemeinsamer Sinn sowie eine Sensitivität für das Dasein des Anderen entwickeln können. Ein Rückzug in die Monade des Selbst führt hingegen zur Destruktion des Politischen: Denn das auf den privaten Raum reduzierte Individuum ist seiner sozialen Funktionen beraubt. In diesem Sinne ist diese Studie eine »phänomenologische Rekonstruktion des politischen Raumes« auf der Grundlage des Körpers. Damit ist sie mehr als nur die Antwort auf ein Forschungsdesiderat: Sie ist vielmehr die Offenlegung eines geistesgeschichtlichen blinden Flecks und führt in der Konsequenz zu einer Bedeutungsumkehrung wesentlicher politischer Begriffe wie »Freiheit«, »Macht« oder »politischer Raum«.

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