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German Pages 614 Year 2018
Kristina Kuhn Subtexte der Menschheitsgeschichte
Lettre
Kristina Kuhn, Literaturwissenschaftlerin, forscht als Postdoktorandin an der Universität Erfurt zu kulturwissenschaftlichen und wissenshistorischen Themen. Sie wurde 2014 an der Universität Erfurt promoviert. Zuvor gehörte sie u.a. dem Doktorandenkolleg »Zeitkulturen« des Exzellenzclusters »Kulturelle Grundlagen von Integration« an der Universität Konstanz an.
Kristina Kuhn
Subtexte der Menschheitsgeschichte Zur Literarisierung von Geschichtsphilosophie bei Immanuel Kant, Johann Gottfried Herder und Christoph Martin Wieland
2014 an der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt angenommene Dissertation.
© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Titelblatt (Vignette) aus: Segner, Johann Andreas von: D. Johann Andreas Segners Einleitung in die Natur-Lehre, Zweyte Auflage, Göttingen: Vandenhoeck 1754. Bayerische Staatsbibliothek München, 932812 Phys.g. 427, Bl. 2 r, urn:nbn:de:bvb:12-bsb10131984-0 Lektorat & Satz: Kristina Kuhn Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4299-5 PDF-ISBN 978-3-8394-4299-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
EINLEITUNG │ 9 Der Subtext der Empirie │ 14 Subtexte und Zitierspiele │ 15 Literarizität, Intertextualität und ästhetische Digression │ 17 „Mikrostrukturen des Wissens“ – Methodische Strategien und Aufgabenstellung │ 18
I. E RZÄHLUNGS -EXPERIMENTE. ANFANG UND ENDE ERZÄHLEN │ 21 1.
Immanuel Kants Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte. Versuche zur Poetologie der Mutmaßung │ 28
1.1 Karten und Dokumente │ 32 1.2 Ästhetik der Weigerung │ 35 1.3 Entdeckung der Zukunft │ 36 1.3.1 Anmerkung │ 38 1.4 Eine Fußnote zur Anmerkung – Spiel im Spiel im Spiel? │ 40 1.5 „Beschluß der Geschichte“ │ 43 1.6 „Schluß-Anmerkung“ │ 47 2.
Ausblick: Wie man etwas beendet. Kants Das Ende aller Dinge │ 52
2.1 Kulturaustausch? – und wieder eine Fußnote │ 54 3.
Christoph Martin Wielands Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit. Destruierte Anfangsutopie? Koxkox und Kikequetzel │ 59
3.1 Die Metapher des Sehens: Sehen und philosophische Erkenntnis │ 59 3.2 Sehen und Idealität │ 62 3.3 Repräsentation: Philosophischer und kultureller Relationismus im Rahmen des Gemäldes │ 65 3.4 Reiz-Reaktionsmechanismen │ 76 3.5 Antagonismen: Sehen und Tasten – Korrelationen: Sehen und Gewalt │ 80 3.6 Augensprache │ 85 3.7 Kunst ist Natur, Natur ist Kunst │ 91 3.8 Zeichen und Zeigen: Sprachphilosophie │ 99 3.9 Der Sündenfall │ 103 3.10 Gemeinschaft der Frauen │ 106 3.11 Traum │ 111
4.
Das augenfällig Geheime. Zur vermittelten Unmittelbarkeit spätaufklärerischer Historiographie in den Beyträge[n] │ 115
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6
Augen-Schein │ 115 Eine Schrift aus lauter Beyträge[n] │ 116 Offensichtliches und Verborgenes │ 118 Epistemologie │ 118 Geheimnis │ 121 Zitierpraktiken │ 126
II. K ANTS GESCHICHTSPHILOSOPHISCHE ‚E SSAYS ‘ │ 135 1. 2. 3. 4.
Systematik und Beitrag │ 136 Gattungsfragen │ 138 Das Beispielhafte │ 139 Zur Bedenklichkeit des Marginalen: Kant und die Reisebeschreibung. Komplexe Methoden: Philosophiegeschichte – Detaillierung │ 141
4.1 „Die letztere Bemerkung wird hier nicht als beweisend angeführt, ist aber doch nicht unerheblich.“ │ 146 4.2 Erzählen oder Beschreiben? – Der Begriff der „Historia“ und die Reisebeschreibung │ 147 4.2.1 Differenzierungsversuche: Naturgeschichte – Naturbeschreibung │ 156 4.3 Sprachphilosophisches Problem – „Historia“ │ 160 4.4 Paradoxie des Simplizitätsprinzips und Fall-Beispiel │ 162 4.4.1 Der Fall – Belegstrategien │ 163 4.5 Nachträgliche Diskurs-Begründung? │ 166 4.6 Metaphorische Differenzierungen │ 168 5.
Kunstordnung und Geschmacksanthropologie. Attributive Verfahren │ 170
5.1 „Von der Eintheilung der schönen Künste“, ihrer „Verbindung [...] in einem und demselben Producte“ und der „Vergleichung“ ihres „ästhetischen Werths“. Kritik der ästhetischen Urtheilskraft, § 51-53 │ 177 5.2 Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen │ 189 5.3 Bühnentauglich? – Die Fußnote als Ort ästhetischer Übermittlung │ 212 5.4 Reflexion zur Wahrhaftigkeit der Kunst. Implizite ästhetische Theorie │ 216 5.4.1 Portrait − Intrinsische Regelpoetik der Abbildung │ 218 5.4.2 Anmutige Darstellung (Schiller) │ 227 5.4.3 Roman (Blanckenburg) │ 237 5.4.4 Episode und Hauptschauplatz │ 241
5.4.5 Die große Weltbühne │ 245 5.4.6 Possenspiel │ 251 5.4.7 Disziplin Geschichte │ 254 6
Einsätze des Exemplarischen │ 257
Das Exempel zwischen Literatur, Logik und Rhetorik │ 257 Exemplarische Gattungen │ 261 Präsentationen des Exemplarischen │ 264 Das Exempel bei Kant │ 265 6.4.1 Kants Differenzierung von Exempel und Beispiel │ 266 6.4.2 Das Beispiel in der Theorie │ 269 6.4.3 Literarisierung moralischer Beispiele – Ästhetische Exempel? │ 272 6.5 Kleine Formen │ 282 6.6 Exempel und Metapherntheorie │ 286 6.7 Metapher oder Metonymie? │ 292 6.1 6.2 6.3 6.4
III. J OHANN GOTTFRIED H ERDER . VOM ‚B EITRAG‘ ZU DEN IDEEN UND ZURÜCK: EINE R EISE DURCH HISTORISCHE G EFILDE UND ÄSTHETISCHE W ÄLDER │ 299 1. 2. 3.
Unüberbrückbare Differenzen? │ 299 Vor-Arbeiten, Anschlüsse: Metapher und Stil │ 301 Über die Sprache der Theorie. Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele │ 305
3.1 Wahrnehmung, geheimnisvolle Epistemologie, innere Repräsentation │ 309 3.2 Einbildungskraft │ 313 4.
Einschalten, Fürsprechen, Aus-Ziehen. Stimmliche Vielfalt in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit │ 317
4.1 Sprechinstanzen │ 317 4.1.1 Ein Wust an Stimmen – Personale Pronomina │ 320 4.1.2 Ich und uneigentliche Zitate │ 320 4.1.3 Er, Sie, Es │ 323 4.1.4 Der Philosoph │ 327 4.1.5 Du – Dialogform │ 333 4.1.6 Wir – Wissenschaftsform │ 338 4.1.7 „‚Der Schriftsteller von hundert Jahren‘“ │ 343 4.1.8 „if it were possible to be vain of having read books“ – Getreuer Auszug Robertsons │ 352
5.
Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menscheit und Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit im Vergleich │ 374
5.1 Doppelter Kursus der Ideen │ 374 5.2 Wiederholstruktur der Frühschrift │ 381 5.3 Doppelter Kursus – doppelter Diskurs │ 385 5.3.1 Exkurs: Analogie oder Allegorie? │ 390 5.3.2 Sprachallegorie │ 396 5.4 Anknüpfung: Doppelter Diskurs (Frühschrift) │ 407 6.
Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit │ 418
6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6
zurückblicken, durchwandern, sehen │ 419 Reliefkarte: fluten, strömen, überschwemmen. Lange Dauern │ 421 Gatterers Planiglobien. Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen │ 428 Gemälde-Metaphorik? │ 433 Sprache │ 460 Der Parrhasische Demos │ 469
7.
Doppelter Diskurs der Ideen │ 474 Griechenland │ 474 Rom │ 479 Mittelalter │ 490 Roman, Romantik │ 498 Roman und „Rittergeist“ │ 518 Arabien als „underplot“ der Geschichte │ 521
7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6
8. „disiecti membra poëtae“ │ 534 9. Lessings Laokoon │ 540 10. Medientheorie │ 549
Z UM S CHLUSS │ 553 „Hocuspocus“ in der Metakritik │ 553 Allegorie und Metaschema │ 557 „an der Anmut Kette“ │ 563 Christoph Martin Wielands „Idee eines allegorischen Gemähldes“ │ 567
LITERATUR - UND M EDIENVERZEICHNIS │ 577 D ANK | 611
Einleitung
Bei den Schriften Kants, Herders und Wielands, die das analytische Zentrum meiner Arbeit bilden, handelt es sich um Texte diverser Anlage und Intention. Dennoch liegt meiner Analyse daran, nachzuweisen, dass ihre spezifische Konstitution sowie Komposition auf dem gemeinschaftlichen Prinzip der Beiträge beruht, das den Rahmen der Geschichtsphilosophie antizipierend sprengt und retrospektiv verrückt. Die Projektion, welche die Texte der Geschichtsphilosophie zuschlägt, schuldet sich dem durch Hegel in Umlauf gebrachten systematischen Anspruch, der erhoben wird, sobald der erhabene Gegenstand der Menschheitsgeschichte und deren philosophische Reflexion zum Thema werden. Das gemeinschaftliche Prinzip destruiert jedoch den Charakter des Prinzipiellen selbst, insofern die untersuchten Texte der Vereinzelung des Historischen Rechnung tragen. Somit wäre es fehlgedacht, jene Texte einer alternativen Gattung von Geschichtsphilosophie zurechnen zu wollen, insofern sich deren Anlage(n) als Beiträge der Schließung (zu) einer Gattung vom Grundgedanken her verweigert. Pragmatische geschichtsphilosophische Narrative stellen kein Surplus an diskursiver Deutungsmacht (etwa gegenüber ‚schöner Literatur‘) bereit, sondern teilen deren literarischen, rhetorischen und medialen Praktiken. Daher untersucht die voliegende Studie Verfahren der Literarisierung anstelle einer bloßen Narrativierung. Es geht (in) den untersuchten Texten nicht darum, etwaige Faktengehalte narrativ mit philosophischer Reflexion zu verknüpfen, um sie (beispielsweise) zu didaktisieren. Sondern die Studie weist nach, dass Kant, Herder und Wieland mit dem Problem umgehen, dass philosophische oder historische Argumente aufgrund ihrer sprachlichen Verfasstheit Schreibpraktiken unterliegen, und daher auch keine höhere Deutungsmacht entfalten können als literarische Texte. Dies schlägt sich in der Gestaltung der hier analysierten Texte nieder. In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass etwa Kant (nicht allein) im Falle der geschichtsphilosophischen Schreibart metonymisch verfährt (s. den Abschnitt zur Diskussion über das Attribut bei Kant sowie den dortigen Abschluss zu den exemplarischen Verfahren). Die Form des Beitrags wird von den Autoren deshalb bevorzugt, weil
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sie per definitionem keine eigene Gattung ausbilden kann. Ein Beitrag trägt eben immer nur zu etwas Anderem bei und weicht insofern von anderen Texten/ Gattungen ab, als er sie ergänzt (daher am ehesten Schnittmengen mit einem Supplement ausbilden würde). Etwas vereinfacht könnte man demnach formulieren, dass ‚Geschichtsphilosophie‘ aufgrund ihres Gegenstandes im Grunde gar keine klar abgegrenzte Gattung ausbilden, sondern nur in literarischen Versuchen fortwährend an der Adäquation an einen Gegenstand (wie Menschheitsgeschichte) arbeiten kann. Eine erste Differenz, die sich im Kontrast zwischen Wieland und Herder bzw. Kant aufspannt, hängt von der relativen Nähe ihrer Texte zur Philosophie bzw. Dichtung ab. Während Wielands „Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit“ in erster Linie unterhaltsame Erzählungen entwerfen, denen die Komplexität historischen Schreibens sowie philosophischer (philologischer) Exkurse inseriert wird, liegt mit Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ eine vorrangig historiographisch fundierte Menschheitsgeschichte vor, welche universalgeschichtlichen Charakter trägt: Schließlich umfasst sie die gesamte Menschheitsgeschichte bis in die Neuzeit, welcher die Naturgeschichte als Appendix vorangestellt wird. So sehr den „Ideen“ philosophische Reflexion eignet, gestalten sie die Geschichte der Menschheit (vor allem in ihrem dritten Teil) nach dem Muster disziplinärer Historie, wenngleich sie – zieht man vergleichsweise professionelle Entwürfe heran – trotz ihres Umfangs wesentlich knapper ausfallen. Herders „Ideen“ schöpfen aus einem gewaltigen Fundus (literalen) historischen Wissens, sind im Gegensatz zu mehrbändigen Weltgeschichten jedoch gezwungen, das Erzählte zu kondensieren (vgl. Robertson, Schlözer). Bewegen sich Herders Texte generell in einem Spannungsfeld zwischen Philosophie und Literatur, das kaum zulässt, sie einem Fach oder einer Gattung zuzuschlagen, und das ihre Rezeption damit zum Teil bis heute verstellt, steht die philosophische Ausrichtung der Texte Kants kaum zur Disposition. An dieser Wahrnehmung trägt die historische Auseinandersetzung zwischen Kant und Herder sicher ihren Anteil. Disqualifizieren sich die beiden Gelehrten gegenseitig, so stellen sie des anderen philosophische Befähigung in Frage, Phänomene und Mechanismen der erlebten Welt zutreffend zu erfassen. Gestalten sich die Gegensätze epistemologisch, so kritisiert Kant vor allem Herders Gebrauch der Sprache (bzw. einiger Begriffe wie der Kraft) innerhalb des Problembereichs. Jene Auseinandersetzung zwischen Kant und Herder, u. a. im Rahmen von „Ideen“ und „Metakritik“1, ist ausgiebig erforscht und kann nur kurso1
Zur „Metakritik“ einführend Marion Heinz, „Herders Metakritik“, in: dies. (Hg.), Herder und die Philosophie des Deutschen Idealismus, Amsterdam, 1997, S. 89-106 [FichteStudien Supplementa 8]; umfassend: Christa Kaupert, Verstand und Erfahrung in Kants Vernunftkritik und Herders Metakritik, Bonn, 2006. Vgl. ferner den von Ulrich Gaier und Ralf Simon herausgegebenen Sammelband: Zwischen Bild und Begriff. Kant und Herder
E INLEITUNG
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risch gestreift werden. Zudem betonen neuere Forschungsansätze, dass es sich nicht um unüberwindliche substantielle Differenzen handelte, sondern dass der Austausch (mehr oder minder stark provozierten) Missverständnissen unterlag, welche die erwartbare Similarität ihrer Zugänge und Thesen von vornherein ausschloss. Herders Schreibstil gibt sich ungleich literarischer als Kants durchexerzierte spröde Diktion – dies gilt selbst noch für die (von mir ausgewählten) populären, auf eine breitere intellektuelle Öffentlichkeit zugeschnittenen, Abhandlungen Kants, welche ich aufgrund dieser Ausrichtung und ihres Veröffentlichungsorgans als Aufsätze oder Essays bezeichne. Dabei handelt es sich im Einzelnen um die Texte „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ (1784), „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ (1786), „Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie“ (1788), „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“ (1793), „Das Ende aller Dinge“ (1794) sowie die „Erneuerte Frage: Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei“ (1798). Bis auf die letztgenannte Schrift wurden alle Texte zunächst in Zeitschriften publiziert. Die Abhandlung „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793) war zunächst als Veröffentlichung in der Berlinischen Monatsschrift geplant (siehe die betreffenden Kommentare in der Akademie-Ausgabe). Dennoch gelten – und das werde ich exemplarisch an der „Kritik der reinen Vernunft“ nachweisen – auch für streng philosophisch ausgerichtete Schriften Kants ähnliche Kompositionsmerkmale wie für die beabsichtigt offenen und leichter rezipierbaren Essays. Dabei handelt es sich nicht einfach um stilistische Eigenheiten der Texte, sondern ihre Gestaltung wirkt auf epistemologische Probleme und argumentative Aporien zurück, indem sie Antworten offeriert, welche auf der angestrebten Ebene diskursiver Eindeutigkeit angesichts eben jener methodischen Vorgaben nicht mehr formulierbar sind. Die Bandbreite der Texte Herders bietet sich anders gelagert und umfassender dar, als dies in Kants Essays erfolgt. Dass Herder als Literat, Übersetzer, Literaturkritiker sowie Literaturtheoretiker schriftstellerisch tätig war, spiegelt sich nicht allein in den literaturtheoretischen Abhandlungen wider, welche der vorliegenden Untersuchung den Weg bahnen, sondern hält in die beiden historiographischen – häufig auf Geschichtsphilosophie reduzierten – Entwürfe „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beitrag zu vielen Beiträgen des Jahrhunderts“ und „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ Einzug, wobei der Entwurfscharakter der Frühschrift zweifellos stärker hervortritt. zum Schema, München, 2010; Tilman Borsche, „Kritik oder metakritisch. Die philosophische Aktualität Herders“, in: ders. (Hg.), Herder im Spiegel der Zeiten. Verwerfungen der Rezeptionsgeschichte und Chancen einer Relektüre, München, 2006, S. 126-141; Marion Heinz (Hg.), Herders Metakritik. Analysen und Interpretationen, Stuttgart-Bad Cannstatt, 2013.
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Darin liegt eine Gemeinsamkeit Herders mit Wieland vor, dessen Texte von literaturtheoretischen bzw. literarhistorischen, ausschweifend ästhetischen Exkursen durchsetzt sind, was nicht nur für die „Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit“, sondern auch für dessen Romane gilt. Trotz aller Ironisierung ästhetischer Diskurse sowie der Karikatur philosophischer Standpunkte bewegt sich Wielands Auseinandersetzung innerhalb der Erzählungen immer auf Höhe des zeitgenössischen Diskussionsniveaus und leistet über dessen literarische Anverwandlung seinen Beitrag zu den betreffenden Streitpunkten. Wieland nutzt das Moment des Literarischen offensiv für die Gestaltung seiner Erzählungen und Abhandlungen, während Herder stärker narrativ ausgerichtete Passagen an divergierenden Einsatzpunkten in seine Natur- und Menschheitshistorie integriert. Zwar unterliegt die Menschheitsgeschichte naturgemäß einer narratio. Gleichwohl entfalten voneinander abweichende Typologien von Erzählungen vielschichtige Wissensfelder, für die sie epistemische Regeln festlegen, welche ihre jeweilige Glaubwürdigkeit (z. B. Wissenschaftlichkeit) absichern.2 Daher erscheint es mir sinnvoll, von narrativen sowie literarischen Momenten (Elementen) innerhalb der Texte Kants, Herders und Wielands zu sprechen. Die Detailanalyse jener Phänomene – welche auf mehreren Ebenen statthaben – lehnt sich an die These der narrativen Verfassung von Wissensformationen in Poetologien des Wissens an, indem sie das literaturwissenschaftliche Instrumentarium für die Lektüre der Texte selbst fruchtbar macht.3 Die Form der Texte koppelt auf deren Inhalt zurück, beide lassen sich nicht sinnvoll voneinander trennen. Da es sich jeweils um Textstrategien handelt, lässt sich kein haltbarer Grund benennen, den reflexiven vor den narrativen Passagen oder Subtexten Vorrang einzuräumen. Eine solche Hierarchisierung wirkt sich angesichts der hybriden Anlage der Texte bei der 2
In der Geschichtswissenschaft hat Hayden Whites „Metahistory“ diese Sichtweise etabliert, die sich u. a. durch den kulturpoetischen Ansatz des New Historicism festigte. Hayden White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt am Main, 1994; ders., Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart, 1991. Moritz Baßler (Hg.), New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, die gleichlautende „Einleitung“, Tübingen/Basel, 22001, S. 7-28. Albrecht Koschorke weitet diesen Befund disziplinenübergreifend aus. Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt am Main, 22012, s. bes. Kap. VI. Epistemische Narrative, S. 329-398.
3
Joseph Vogl (Hg.), Poetologien des Wissens um 1800, München, 1999, S. 7-16, die Einleitung. Kritisch resümierend: Nicolas Pethes, „Poetik/Wissen. Konzeptionen eines problematischen Transfers“, in: Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, hg. v. Gabriele Brandstetter u. Gerhard Neumann, Würzburg, 2004, S. 341-372.
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intern fokalisierenden Analyse des Materials eher störend aus. Ihr geht es darum, speziell über das Dreiecksverhältnis Gemeinsamkeiten sowie Differenzen herauszuarbeiten. Während die Analyse der Schriften Herders und Kants sich darauf konzentriert, die verborgenen Subtexte der Darstellung aufzuspüren (zu denen die ästhetische Diskussion, die ut pictura poiesis-Debatte gehören), hebt die Untersuchung Wielands ebenfalls auf poetologische Diskurse ab, widmet sich jedoch vor allem der praktischen Erprobung von Anfangs- und abschließenden Erzählungen („Koxkox und Kikequetzel“ sowie „Reise des Priesters Abulfauaris ins innere Afrika“ und dessen „Bekenntnisse“), die ihr Gegenstück jeweils in Kants Entwürfen „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ sowie „Das Ende aller Dinge“ finden. Alles epistemologische sowie poetologische Interesse ist in die „Beyträge“ eingelassen, welche selbst wiederum Bedingungen der Möglichkeit von Erzählungen ausloten. In den weniger narrativen Einzelbeiträgen tritt die Auseinandersetzung mit Rousseau, besonders seinem Diskurs über die Wissenschaften und Künste, ins Zentrum. Hier übernehmen Wielands „Beyträge“ den Charakter von Abhandlungen und führen ihren Protagonisten in der Überschrift an (und im Text vor). Da Wielands Auseinandersetzung mit Rousseau intensiv aufgearbeitet wurde, interessiert sie hier nur am Rande.4 Eingeschobene, phantastisch-mythologische Erzählungen kommentieren jedoch auch diese von der Reprise dominierten „Beyträge“ und übernehmen narrativ die Funktion übergeordneter Reflexion. Beide, Reflexion und narratio, kippen beständig ineinander, geraten zum Kommentar oder Subtext des jeweils anderen. Insofern kennzeichnet der Verzicht auf Hierarchien das Verfahren der „Beyträge“, den sie gerade in den (narrativen bzw. reflexiven) Exkursen und durch die verschachtelte Erzählsituation einlösen. Jene Unentschiedenheit der „Beyträge“ resultiert aus dem entschieden bruchlosen ironischen Verfahren, das die seriöse Aussage des Textes in der Schwebe zu halten sucht.
4
Stellvertretend verweise ich auf Walter Erhart, „‚Was nützen schielende Wahrheiten?‘ Rousseau, Wieland und die Hermeneutik des Fremden“, in: Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption, hg. v. Herbert Jaumann, Berlin/New York, 1995, S. 47-78; ders., Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands ‚Agathon‘-Projekt, Tübingen, 1991 [Studien zur deutschen Literatur 115], Kapitel IV, 1. ‚Das Rousseauische Problem‘, S. 189-206. Zur Einbettung der „Beyträge“ in diesem Kontext, s. S. 191f., S. 194, S. 199.
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D ER S UBTEXT
DER
E MPIRIE „Die letztere Bemerkung wird hier nicht als beweisend angeführt, ist aber doch nicht unerheblich.“5
Jene eine Fußnote einführende Relativierung in Kants Aufsatz „Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie“ (1788) besitzt für Kants Umgang mit der Frage nach der Empirie, aber auch in Bezug auf die Funktionsweise von Argumenten in seinen Texten paradigmatische Bedeutung. Dabei verweist die Bemerkung nicht auf den theoretischen Hintergrund der zu explizierenden Teleologie – auf deren transzendentalen Gehalt –, sondern sie bezieht sich auf einen epistemologisch, aber auch gesellschaftspolitisch ambivalenten Beleg aus der Welt der Empirie. Für Kants gemeinhin als geschichtsphilosophisch qualifizierte (populäre) Essays nimmt das obzessive Zitieren von Reisebeschreibungen eine tragende Funktion ein, die sich auf eine der anspruchsvollsten wissenschaftlichen Aufgaben bezieht: auf das Ausloten des Verhältnisses von Empirie und Theorie, von Beobachtung und Analyse, von Geschichte und gedanklichem Experiment. In diesem Fall respondiert die Reisebeschreibung auf die vermeintlich offensichtliche Frage nach der Bestimmung des Rassebegriffs. Ihr Zitat, das als Anhang in der Fußnote auftaucht, gleicht einem Ausweichmanöver des theoretisch argumentierenden Textes, der seine empirische Anwendbarkeit bzw. Rückführbarkeit im Haupttext vehement negiert. Somit stellt die Reisebeschreibung einen Subtext der auf dem Paradigma der Wissenschaftlichkeit bestehenden theoretischen Abhandlung dar, deren epistemischer Status nicht zuletzt durch diesen Gestus undeutlich oder zweideutig bleibt. Im Subtext verbirgt sich das unzugängliche Moment der Erkenntnis, das trotz eindeutiger theoretischer Absagen von epistemologischer Warte die Korrespondenz von theoretischer Leistung und empirischer Beobachtbarkeit absichert.6 5
Immanuel Kant, Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie [nachfolgend: Über den Gebrauch], in: Kants Werke, Akademie-Textausgabe [nachfolgend: KAA], Bd. VIII: Abhandlungen nach 1781, Berlin, 1968 [unveränderter photomechanischer Abdruck von: Kants gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VIII, Berlin, 1912/23], S. 157-184, S. 174f. Hervorhebungen im Original werden immer (außer ggf. in historischen Buchtiteln) übernommen, eigene Hervorhebungen werden eigens gekennzeichnet.
6
Genauer handelt es sich bei diesem empirischen Subtext um eine literarische Konvention, für die bestimmte Gattungsregeln eintreten. Von den Komplikationen (mit) dieser Gattung der Beobachtung und Beschreibung gibt die sog. Kant-Forster-Kontroverse beredtes Zeugnis ab. Für den Fokus auf die in dieser Arbeit behandelten Schriften insgesamt nimmt die Frage nach der Gattung Geschichtsphilosophie heuristische Funktion ein.
E INLEITUNG
S UBTEXTE
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Z ITIERSPIELE
Sowohl Kants Essays (1784-1798) als auch Chr. M. Wielands „Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit“ (1769-1777)7 bilden Konvolute aus divergierenden literarischen Gattungen zurechenbaren Sub-Texten, die ihre Geschlossenheit einerseits abzusichern und sie andererseits beständig aufzulösen suchen. Für J. G. Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784-1791) besitzt eine ähnliche Beobachtung Geltung: Ihre Aufteilung in kosmogonisch-geologische, anthropologisch-systematische sowie dezidiert historiographische und ethnologische Kapitel und Unterkapitel gibt gerade in der Vereinzelung dem umfassenden Erklärungsansatz Ausdruck, präsentiert jedoch partiell ein didaktischlexikographisches Format, das formelhaft und rekursiv auftritt. Herders frühere Schrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ (1774) erzählt noch eine ganz bestimmte eurozentristische raumsemantische Entwicklungsgeschichte – den „‚Gang Gottes über die Nationen! […]‘“.8 Die Brüche dieser Erzählung vermitteln sich sowohl über die reflexive als auch die rhetorische Dimension.9 Jene im ersten Abschnitt erwähnte Doppelbödigkeit historischer (Re-)Konstruktion – sei es auch nur einer mutmaßlichen Menschheitsgeschichte – spielt auch in Wielands und Herders metahistoriographischen Inszenierungen zur Geschichtsphilosophie, welche jedoch keiner der drei Autoren in Titel oder Paratext so bezeichnet, eine tragende Rolle. Die selbstreflexive und zugleich präsentische Dimension historiographischer Texte fasst Stephan Jaeger unter der Funktion des Performativen. Obgleich Jaeger die Erkenntnisse von linguistic sowie performative turn, ferner Hayden Whites „Metahistory“, berücksichtigt, neigt seine Studie dazu, jene performative Dimension der referentiellen beizugesellen10, anstatt die Wirk7
Im Falle Kants lässt sich die Tendenz zur Ausdifferenzierung oder Zerfaserung innerhalb der Einzeltexte konstatieren, während Wielands „Beyträge“ aus jener Konvolutbildung allererst entstehen. Quellenangaben bei den Einzelanalysen.
8
Johann Gottfried Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beitrag zu vielen Beiträgen des Jahrhunderts [nachfolgend: Auch eine Philosophie], in: Herders Werke in 10 Bänden [nachfolgend: FHA], Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774-1787, hg. v. Jürgen Brummack u. Martin Bollacher, Frankfurt am Main, 1994, S. 9-107, S. 88.
9
Für alle drei Autoren gilt ferner, dass Erscheinungsformen historischer sowie argumentativer Konstruktion und Dekonstruktion sowohl auf Mikro- als auch auf Makroebene der Texte auftreten können.
10 Stephan Jaeger, Performative Geschichtsschreibung. Forster, Herder, Schiller, Archenholz und die Brüder Schlegel, Berlin/Boston, 2011 [Hermaea 125]. Obgleich „Geschichtsschreibung“ „[…] eine klare Opposition zwischen Referenz und Selbstreferenz
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mächtigkeit der sprachlichen (literarischen) Gestaltung, der stets ein gewisser Grad an Performativität innewohnt, als konstitutiv sowohl für die Erzeugung präsentischer Effekte als auch für ihre spezifische metahistori(ographi)sche Botschaft zu begreifen. Metahistoriographische Strukturen, präsentische Adressierung sowie Ereigniswerdung bedingen sich im historiographischen Text wechselseitig und liegen in seiner literarischen Form beschlossen (sind darin angelegt), welche dann den ihr jeweils korrespondierenden Modus des Referentiellen erzeugt. Jene Trennung der Ebenen, welche der Begriff des Performativen gerade sinnvoll integrieren könnte, scheint besonders in der Abspaltung reflexiver Funktionen Jaegers These vom „Sinnbildungsdefizit“ der deutschen Historiographie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu forcieren, welche ihren Gegenpol in der reflexiven Überfrachtung der Geschichtsphilosophie fände.11 Fußnoten, Exkurse, Metaphernnetze und in besonderem Maße das scheinbar ungenaue Zitieren nebulöser Quellen geben im Falle der von mir untersuchten Schriften12 Aufschluss über die Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen der historischen Narration, über die Fiktion des Faktischen ebenso wie über die liminale, aber auch grenzüberschreitende Funktion des Ästhetischen. Als literarisch ist somit der experimentelle Charakter der Texte auszuweisen: das Experiment mit den formalen Kompositionsregeln diverser Erzählgattungen ebenso wie das Experimentieren mit der Einbettung des faktographischen Materials. Unter dieser Funktion firmieren etwa Reisebeschreibung, physiologisch-anatomische Abhandlung sowie historiographischer Bericht.13 […]“ kaum zulässt, opponiert Jaeger zufolge gerade in selbstreflexiver Funktion das Performative gegen das Referentielle (Konstative), vgl. a. O., S. 44, zur Parallelisierung der Dimensionen, S. 47f. in Bezug auf Ricœur – und das, obwohl Jaeger den Vollzugscharakter historiographischer Texte betont. 11 A. O., S. 5f., S. 27, passim. Wenngleich ich der Theorieversessenheit deutschsprachiger geschichtsphilosophischer Entwürfe zustimmen würde, halte ich die These vom „Sinnbildungsdefizit“ für unzutreffend. 12 Welche Jaeger gemäß historische Detailarbeit, sowohl metahistorische als auch metahistoriographische Reflexionen sowie ihre eigene Prozessierung in der Adressierung des Lesers durchsetzen, also performativ wirksam werden. Auf sie trifft die Differenzierung von historiographischem Text und Geschichtsphilosophie kaum zu, wenngleich sie einen hohen reflexiven Anteil aufweisen, vgl. Jaeger, a. O., S. 6, zu den „Sekundärgeschichten“, die indes weitaus häufiger, als von Jaeger zugestanden wird, Ereignisse, Handlungen und individuelle Motive einbeziehen. 13 Die Beziehungen zwischen Literatur und Experiment, die im untersuchten Korpus eine Rolle spielen, sind vielfältig. Wielands Texte wagen Gedankenexperimente mit hohem fiktivem Anteil, um ironisch gebrochen Hypothesen zu belegen, die sich nahe am empirischen Versuch angesiedelt begreifen. Insgesamt nimmt das Spannungsverhältnis zwi-
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Neben dieser kreativ-konstruktiven literarischen Auseinandersetzung läuft jedoch beständig die selbstreflexive Infragestellung der eigenen Konstruktionen und potentieller Konstruktionswege mit. Sie gewinnt jedoch niemals so weitgehend an Bedeutung, dass die ästhetische Annäherung an den Gegenstand überhaupt ihre Berechtigung verlöre.
L ITERARIZITÄT , I NTERTEXTUALITÄT ÄSTHETISCHE D IGRESSION
UND
Gerade die geschichtsphilosophische Abhandlung erweist sich als nicht systematisierbar, weshalb sie auf das literarische Experiment zurückgreift. Im Falle Kants geht es also u. a. darum, die Funktion der ästhetischen Theorie für die verschiedenen Bereiche theoretischer, praktischer und eben ästhetischer Erkenntnis scharf zu stellen. Anhand des Aufsatzes zur Teleologie lässt sich besonders gut zeigen, wie nicht allein heterogene, auf recht unterschiedlichen Ebenen gelagerte Themen wie die Definition des Rassebegriffs, die letztlich inkonsistent bleibende Differenzierung von Naturgeschichte und Naturbeschreibung, die Teleologie, aber auch Überlegungen die Kohärenz und Schlüssigkeit von Kunstformen (des Portraits) oder die „anmuthige[ ] Darstellung trockener abgezogener Lehren“14 betreffend miteinander verknüpft werden – und das in einer Weise, die sozusagen kontraintuitiv eine gewisse Zwangsläufigkeit (Konsistenz) generiert. Sondern jener Aufsatz kombiniert ferner vielfältige Register des Präsentierens, Kommunizierens, Sprechens und Erzählens. Dabei entsteht eine merkwürdige Form von Intertextualität, die ihn sowohl in die philosophische Diskussion als auch in den schen literarischen, das meint hier Epistemologien durch Schreibweisen hervorbringende, erprobende und subvertierende, Versuchsanordnungen und wissenschaftlichen Schreibweisen, die sich mit ihnen überschneiden, großen Raum ein (vgl. Marcus Krause, Nicolas Pethes, „Zwischen Erfahrung und Möglichkeit. Literarische Experimentalkulturen im 19. Jahrhundert“, in: dies. (Hg.), Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, Würzburg, 2005 [Studien zur Kulturpoetik 4], S. 7-18, s. S. 7, S. 12, S. 16; in der vorliegenden Arbeit vgl. dazu z. B. Herders Medientheorie). Das Changieren des Experiments zwischen Steuerbarkeit (empirischer Versuchsanordnung und ihrer Gesetzmäßigkeiten) und Offenheit (offenem, variablem Ausgang) prädestiniert es als „[…] Medium der Beobachtung zweiter Ordnung“ (ebd., S. 14), das „Aktualität“ zu erzeugen, dabei jedoch „Potentialität“ präsent zu halten vermag – der Möglichkeitsraum, den es eröffnet, reflektiert zugleich die Bedingungen seiner Wissensvermittlung. Siehe ferner: ‚Es ist nun einmal zum Versuch gekommen‘. Experiment und Literatur I, 15801790, hg. v. Michael Gamper, Martina Wernli u. Jörg Zimmer, Göttingen, 2009. 14 Kant, Über den Gebrauch, a. O., S. 183.
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Diskurs der Reisebeschreibung – die sich in ihren Konstruktionsregeln bereits selbst hinterfragt – einschreibt, ohne dass er im letzten Falle wirklich ‚mitreden‘ kann. Die verschriftlichte Geste des Beobachtens wird hier durch das Register der exzessiven Beschreibung und Ausdifferenzierung ersetzt.15 Eine Einbeziehung des diskursiven Umfeldes findet auch bei Herder und Wieland statt: etwa über anonymes, rein formales Ansprechen der Vertreter einer bestimmten Meinung oder These, das durch uneigentliches Zitieren in den Text eingebettet wird. Das Zitat von Meinungen, cultural knowledge, Theorien und Texten findet dabei durch Schwundstufen und Verschiebungen statt; und es bildet in ähnlicher Weise Subtexte aus wie die zahlreichen digressiven Exkurse in Wielands „Beyträge[n]“. Ein gemeinsames Moment der Aufsätze Kants und der übrigen innerhalb der Arbeit behandelten Texte lässt sich heuristisch unter dem Titel „Mikrostrukturen des Wissens“ fassen.
„M IKROSTRUKTUREN DES W ISSENS “ – M ETHODISCHE S TRATEGIEN UND AUFGABENSTELLUNG In Opposition zu den „großen Erzählungen“ der Geschichtsphilosophie interessieren sich diese Texte dezidiert für breit angelegte Detaillierungen: Sie fragen nach ihrer Bedeutung in Wissenssystemen – und stehen somit innerhalb eines sich seit der Aufklärung formierenden Paradigmenwechsels, der mit der ebenso phantastischen wie pedantischen Philologisierung von Texten anhebt und über weitere Akzentverschiebungen in die Kulturwissenschaften mündet –, setzen sie allerdings auch performativ in den literarisch-argumentativen Strategien ihrer Narrative um.16 „Das Detail stellt die Universalität des Wissens auf die Probe“17 – und dies in doppelter Hinsicht. Als Symptom und therapeutische Strategie zugleich konstatiert es einerseits einen neuartigen Bedarf der Vereinbarkeit von Allgemeinem und Besonderem. Andererseits zeigt gerade Kants ambivalente theoretische sowie narratologisch relevante Funktionalisierung des Exempels das Misslingen jeglicher Legitimationsstrategien auf: Dadurch aber, dass das Detail dem Text als Intarsie einge15 „[…] der, welchem Hogarths Grabstichel fehlt, muß, was der Zeichnung am Ausdrucke mangelt, durch Beschreibung ersetzen.“ Immanuel Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen [nachfolgend: Beobachtungen], in: KAA II: Vorkritische Schriften II 1757-1777, Berlin, 1968 [unveränderter photomechanischer Abdruck von: Kants gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. II, Berlin, 1905/12], S. 205-256, S. 214. 16 ‚Der liebe Gott steckt im Detail‘. Mikrostrukturen des Wissens, hg. v. Wolfgang Schäffner, Sigrid Weigel u. Thomas Macho, München, 2003, Einleitung S. 7-17, Zitate und Paraphrasierungen (kursive Passagen) s. S. 10-11. 17 A. O., S. 8.
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schrieben bleibt, markiert es das Problembewusstsein des Textes angesichts der Funktionalisierung ästhetischer Formen – ein Problembewusstsein übrigens, das sich in den Texten Wielands und Herders gleichfalls ausdifferenziert findet. „Mikrologische Figuren“18 treten über Fußnoten in den Text ein oder rufen den Texten externe Kontexte auf: über verschiedene Modi des Zitierens19, Auslassungspunkte oder Anführungszeichen20 sowie Paratexte21 – oder sie weisen auf digressive und regressive Strukturen hin (wie etwa Kants ‚Sternchen‘ oder Wielands Exkurse mit Erzählerwechsel). Meine Aufgabe besteht in der Katalogisierung und Qualifizierung jener mikrologischen Strukturen und Subtexte und schließt die Frage nach ihrem Ursprung aus konkreten Gattungstraditionen ein. Im Falle des Exempels etwa steht seine hybride Stellung innerhalb eines heterogenen Gattungsfeldes aus Fabel, Parabel und Emblematik zur Disposition.22 Durch diese ‚Mikroerzählungen‘ werden Exemplare von Exemplarität überhaupt erst literarisch bzw. repräsentational erzeugt, und stellen somit bereits narrativ gewendete Antworten auf das dialektische Grundsatzproblem bereit. Exemplarisch gestaltet sich somit nicht allein der Einsatz des empirischen oder historisierenden Belegs, der sich als un-ästhetisch und damit als wissenschaftlich ausweist. Vielmehr werden die formalen ästhetischen und literarischen Gestaltungsmöglichkeiten von Geschichtsphilosophie unter metahistoriographischer Perspektive in den Blick genommen: Alle drei Autoren reflektieren die Angemessenheit distinkter Formen wie des Portraits, des Romans, der Fabel und des Epos für die Inszenierung oder narrative Strukturierung des Gegenstandes Menschheitsgeschichte. Obgleich jenes Erzählpotential in der Regel nur hypothetisch im Modus des Als-ob in Betracht gezogen wird, besitzen die – mitunter regelhaft verkürzten – Reflexionen selbst gattungstheoretische Relevanz: Sie stellen Ästhetiken in nuce dar. Aus diesem Grund greift das am je einzelnen Aufsatz orientierte close reading der Aufsätze auf weitere ästhetische und kunsttheoretische Konzeptualisierungen aus. Angesichts der vermeintlich universalen Narrative wäre der Stellenwert der Ästhetik neu zu justieren. 18 A. O., S. 13. 19 Programmatisch: Instrument Zitat. Über den literarhistorischen und institutionellen Nutzen von Zitaten und Zitieren, hg. v. Klaus Beekman u. Ralf Grüttemeier, Amsterdam/Atlanta, GA, 2000; Roland Posner (Hg.), Zeitschrift für Semiotik, 14 (1-2), Zitat und Zitieren (1992). 20 Vgl. Bernhard Siegert, […] Auslassungspunkte. Vortrag an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, Leipzig, 2003 [allaphbed 8]. 21 Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt am Main, 2001; bes. „Motti“, „Zwischentitel“ und „Epitext“, der auf verstrickte Weise in den Peritext integriert (zum Teil vorweggenommen) wird. 22 Ferner deren Verhältnis zur übergreifenden Topik und Rhetorik.
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Medientheoretisch bestärkt der Fokus auf die Form und vor allem den Ort der geschichtsphilosophischen Essays – die Zeitschrift – den Eindruck der Partikularisierung, aber auch der Ästhetisierung des Großprojekts. Hintergründig weist die formal gehaltene Frage nach den etwaigen künstlerischen sowie narrativen Gestaltungsmöglichkeiten der Geschichte der Menschheit auf die Zurückweisung systematisch gehaltener Geschichtsphilosophie hin: Es ist ihre Form – wobei die Korrespondenz von Form und Inhalt bei allen drei Autoren phantasmatisch besetzt bleibt –, die Offenheit und Anschlussfähigkeit gewährleisten muss. Für diesen instaurierenden Blick plädiert damit die formale Gestaltung der ‚Beiträge‘ der drei Autoren als Beiträge selbst: Indem sie heterogene Konvolute bilden, richten sie ihren Fokus verstärkt auf das Nebenbei-Gesagte, auf das Exkursive, Digressive und das scheinbar Nebensächliche, das sich am Rande der Texte ansiedelt (Fußnote, Intertext). Obgleich meine Arbeit keinen systematischen Abgleich von ästhetischer Theorie und literarischem Phänomen vornimmt, sucht sie den Standort der Ästhetik innerhalb philosophischer Theorien bzw. historiographischer Konzeptualisierungen typologisch zu bestimmen. Dass die untersuchten Texte in ihrem digressiven Charakter dabei nicht allein die Verschränkung und das Ineinandergreifen vielfältiger Wissensfelder beschreiben, sondern auch die Modi ihres Austauschs im Sinne einer „Historia Literaria“23 (rhetorisch) beschwören, scheint mir Merkmal ihres Interesses an großen Themen zu sein, das die Notwendigkeit seiner eigenen Partikularisierung bereits auf diversen Ebenen erprobt hat. Damit zerfällt die Kommunikation über die großen Gegenstände in einzelne Beiträge, deren verdeckte Rückseite die Enzyklopädie ist.
23 Vgl. Helmut Zedelmaier, „‚Historia Literaria‘. Über den epistemologischen Ort des gelehrten Wissens in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts“, in: Das 18. Jahrhundert, 22,1 (1998): Enzyklopädien, Lexika und Wörterbücher im 18. Jahrhundert, hg. v. Carsten Zelle, S. 11-21. Wenn in der Einleitung und im Folgenden von Kant, Herder und Wieland oder weiteren Autorennamen die Rede ist, so meine ich das nicht im Sinne der historischen Person, sondern im Sinne des jeweiligen Textes bzw. der Texte des jeweiligen Schriftstellers.
I. Erzählungs-Experimente Anfang und Ende erzählen
In mehreren innerhalb dieser Arbeit thematisierten Texten treten Fragen der Gestaltung und Interpretation von Anfang und Ende besonders hervor. Dabei fällt auf, dass jene initialen Texte sowohl thematisch als auch strukturell in medias res beginnen bzw. aufhören. Als kleine Formen innerhalb mehrerer Beiträge markieren sie auf makrostruktureller Ebene den paradoxen Charakter ihrer eigenen Setzung. Im Falle von Christoph Martin Wielands Sammlung „Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit“ (1769-1777) bilden die Texte zu „Koxkox und Kikequetzel“ – sieht man einmal vom programmatischen Vorbericht ab – sowie zur „Reise des Priesters Abulfauaris“, welche ihrerseits durch ein autobiographisches „Bekenntnis“ repetiert und dabei modifiziert wird, die anfängliche bzw. abschließende Klammer zu allen anderen Texten.1 Auf Ebene ihres discours beginnen diese beiden 1
In der Ausgabe der Weidmannschen Buchhandlung von 1911. Andere Ausgaben variieren die Anordnung zum Teil. In der Oßmannstedter Ausgabe stehen die „Beyträge“ unter dem Titel „Beyträge zur Geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens. Aus den Archiven der Natur gezogen.“, und sind in zwei „Theil[e]“ und sechs Bücher unterteilt. Dem „Vorbericht“ und der Erzählung von „Koxkox und Kikequetzel“ folgen im „Zweyte[n] Buch“ die Erzählung über den Priester „Abulfaouaris“ sowie dessen „Bekenntnisse“ (die hier im Gegensatz zu allen anderen Beiträgen mit diesem Titel ausgewiesen werden). Dann fügen sich die „Beyträge“ ein, die sich mit Rousseau auseinandersetzen, bis die Erzählung um „Koxkox und Kikequetzel“ im „Fünfte[n] Buch“, deren glückliche Gemeinschaft aufnehmend (in der von mir genutzten Ausgabe mit dem 18. Kapitel, S. 344), fortgesetzt und zu ihrem Ende geführt wird. Da es an dieser Stelle sehr auffällig ist, weise ich darauf hin, dass der Text nicht nur in der Anordnung, sondern in seinem Erzählerkommentar abweicht; die abschließende Erzählung des mexikanischen Paares erhält eine einleitende Reflexion. Ich nutze, da die gesonderten Überschriften die Binnenstrukturierung der „Beyträge“ erleichtern, die ältere Ausgabe der Weidmannschen Buchhandlung. Alle „Beyträge“ siehe: Christoph Martin Wieland, Beyträge zur geheimen
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Texte verspätet bzw. enden sie verfrüht. Im letzten Fall schließen sie die durch sie initiierte Geschichte nicht ab. Das Ende der Geschichte besteht in der Erzählung über den Priester Abulfauaris in der Auseinandersetzung mit dem Zeitalter der Kolonialisierung. Jedoch verlegt Wieland dieses vermeintliche Spätstadium der Menschheitshistorie in die Vorgeschichte europäischer Kultur, ins alte Ägypten.2 Griechenland – über den freidenkenden und naiven Hofphilosophen Diagoras repräsentiert – steckt noch in den Kinderschuhen. Nachdem man seiner Kolonialismuskritik kein Gehör schenken wollte, wird er in die griechische Provinz zurückgeschickt. Metahistoriographisch Geschichte der Menschheit, in: ders., Gesammelte Schriften [nachfolgend: WWA], Abt. 1, Werke V (Bd. 7, 8/2): Verserzählungen, Gedichte und Prosaschriften, hg. v. Siegfried Mauermann, Hildesheim, 1986, S. 315-483 [Nachdruck der Ausgabe der Weidmannschen Buchhandlung, Berlin, 1911/1937]. Aus Gründen der Übersichtlichkeit habe ich die Titel teilweise sinngemäß verkürzt. Allerdings ist es erhellend, sich die vollständigen Titel mit ihren Untertiteln genauer anzusehen. Ferner ist zu erwähnen, dass die Titel im Inhaltsverzeichnis von denen im Text mehr oder minder abweichen. Vollständige Titel im Einzelnen: Vorbericht (1770), S. 315-316, Koxkox und Kikequetzel. Eine mexikanische Geschichte. Ein Beytrag zur Naturgeschichte des sittlichen Menschen (1769/70), S. 317367, Betrachtungen über J. J. Rousseaus ursprünglichen Zustand des Menschen (1770), S. 367-392, Über die von J. J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche den wahren Stand der Natur des Menschen zu entdecken nebst einem Traumgespräch mit Prometheus (1770), S. 392-416, Über die Behauptung daß ungehemmte Ausbildung der menschlichen Gattung nachtheilig sey (1770), S. 417-438, Über die vorgebliche Abnahme des menschlichen Geschlechts (1777, nicht in Bd. 9.1 der Oßmannstedter Ausgabe), S. 438-457, Reise des Priesters Abulfauaris ins innere Afrika (o. J.), S. 458-468, Die Bekenntnisse des Abulfauaris gewesenen Priesters der Isis in ihrem Tempel zu Memfis in Nieder-Ägypten. Auf fünf Palmblättern von ihm selbst geschrieben und aus des berühmten Evemerus Beschreibung seiner Reise in die Insel Panchäa gezogen. (o. J.), S. 468-483. Oßmannstedter Ausgabe: Beyträge zur Geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens. Aus den Archiven der Natur gezogen. (1770), in: Wielands Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 9.1: Text, bearb. v. Hans-Peter Nowitzki, Januar 1770-Mai 1772, hg. v. Klaus Manger u. Jan Philipp Reemtsma, Berlin/New York, 2008, S. 107-305. Zur Überlieferungsgeschichte vgl. Band 9.2 (mit zugehörigem Kommentar) der entsprechenden Ausgabe. 2
Diese Verschiebung kann man als anthropologische Konstanzannahme lesen. Ich halte es hingegen für zutreffender, dass Wieland über die Generierung eines Verfremdungseffekts versucht, die Kolonialisierungspraxis seiner Gegenwart bzw. der nahen Vergangenheit zu kommentieren und damit zu entmystifizieren. Der Missionierungseifer des Priesters Abulfauaris hängt nämlich von profanen – ökonomischen und sexuellen – und keineswegs von religiösen oder humanistischen Motiven ab.
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potenziert sich dieses Verhältnis weiter. Versucht man, das im Text generierte Ägypten historisch zu verorten, es wiederauferstehen zu lassen, erschließt es sich als Ägypten der Griechen, das Herodot im zweiten Buch seiner „Historien“ beschreibt.3 In Immanuel Kants Schrift „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ (1786) übernimmt die Kolonialisierung anderweitig zwiespältige Funktion. Sie bildet die Grundlage (menschenrechtlicher) Ungleichheit, womit sie zugleich als Motor der kulturellen Fortentwicklung der Menschheit eintritt. „Von dieser ersten und rohen Anlage konnte sich nun nach und nach alle menschliche Kunst, unter welcher die der Geselligkeit und bürgerlichen Sicherheit die ersprießlichste ist, allmählich entwickeln, das menschliche Geschlecht sich vermehren und aus einem Mittelpuncte wie Bienenstöcke durch Aussendung schon gebildeter Colonisten überall verbreiten. Mit dieser Epoche fing auch die Ungleichheit unter Menschen, diese reiche Quelle so vieles Bösen, aber auch alles Guten, an und nahm fernerhin zu.“4
Als Basisnarrativ enthält dieses Zitat bereits alle Merkmale des menschheitshistorischen Plots, wie ihn Kant im „Muthmaßliche[n] Anfang“ sowie weiteren Essays entwirft. Die Geschichte endet mit der Selbstmobilisierung der Menschen, mit dem Heraustreten aus dem zugewiesenen (oder zufälligen) Lebensraum in die geographische Freiheit, welche indes politische Unterdrückung befördern kann. Bei Wieland endet diese Erzählung mit der reuevollen Offenbarung der verborgenen Motive des Kolonialisten (vgl. „Bekenntnisse des Priesters Abulfauaris“, 476f.), dessen Hinterlassenschaft lediglich in der (unfreiwilligen) Offenlegung einem „profanen“ („Reise des Priesters Abulfauaris“, 467) Publikum gegenüber besteht: einer Nachwelt, der sie eher nutzen als schaden wird. Wie die Geschichte im „innern Afrika“ (458) ihren Lauf nimmt, d. h., wie Ägypten sich zukünftig ökonomisch sowie weltpolitisch verhält, bleibt unklar. Weltbewegend wirkt sich das reuevolle Geständnis des Einzelnen keineswegs aus. Das Ziel der Etappen dieser Geschichte liegt in ihrer 3
Herodot, Historien, 2. Buch, Griechisch/Deutsch, übers. u. hg. v. Kai Brodersen, Stuttgart, 2005. Siehe mein Kapitel „Das augenfällig Geheime“, den Abschnitt zu den „Zitierpraktiken“, der die Frage ‚Psammuthis oder Psammetichos?‘ aufwirft. Vgl. ferner Kants Einschätzung in der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, derzufolge erst „[…] von der griechischen Geschichte – als derjenigen, wodurch uns jede andere ältere oder gleichzeitige aufbehalten worden, wenigstens beglaubigt werden muß […]“ auszugehen ist. Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht [nachfolgend: Idee], in: KAA VIII, S. 15-31, S. 29 (s. a. FN). Vgl. mein Kapitel „Episode und Hauptschauplatz“.
4
Immanuel Kant, Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte [nachfolgend: Muthmaßlicher Anfang], in: KAA VIII, S. 107-123, S. 119. Vgl. zur Frage des Menschenrechts a. O., S. 117f., FN.
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Historisierung, insofern Überlieferung zwar intendiert eingeleitet, aber unter falschen Vorzeichen weiter tradiert wird. Verspätete Anfänge liegen bei Kant und Wieland in markanter Abweichung vor. Um den mutmaßlichen Anfang erzählen zu können, bedarf es einer Grundausstattung, welche die Schöpfung unterschlagen kann: „Der erste Mensch konnte also stehen und gehen; er konnte sprechen […] ja reden, d. i. nach zusammenhängenden Begriffen sprechen […], mithin denken. Lauter Geschicklichkeiten, die er alle selbst erwerben mußte (denn wären sie anerschaffen, so würden sie auch anerben, welches aber der Erfahrung widerstreitet); […].“5
Obwohl Kants Text sich der „heiligen Urkunde […] als Karte“6 bedient, geht seine Geschichte nicht vom Ursprung aus. Er setzt weder bei der Schöpfung der Welt noch des Menschen selbst ein. Das Bibelzitat verstellt das Paradox der Ursprungserzählung – als Folie dient ein Text, dem sich dieses Problem (als einzigem) nicht stellt7 – und markiert es umso deutlicher, insofern dieser Anfang ausgespart wird. Damit beginnt Kants Erzählung früher als das Pendant Wielands, das den paradiesischen Zustand ins postdiluviale Zeitalter verlegt. Ihre Protagonisten bilden ebenfalls Menschen, welche sich die oben genannten Fähigkeiten angeeignet haben (eine Vorbedingung, die klärt, weshalb auch diese Erzählung verspätet einsetzt). Die mütterliche Natur sichert ihre leicht zu erhaltende Existenz ab. Am wieder eingeholten Ursprung steht auch bei Wieland ein erstes Paar, das sich als (vorübergehende) Idealfigur gerade erst konstituiert und nur erhalten kann, solange alle anderen Menschen und sozialen Bande vernichtet sind und sich nicht neu knüpfen. Die (naturwissenschaftlich begründete) Sintflut ermöglicht den gesellschaftlichen Neubeginn im Paradies. Das Ende der Geschichte besteht im Sündenfall erneuter Vergesellschaftung. Im Gegensatz dazu deutet Kants Erzählung den biblischen Sündenfall positiv um, insofern dem Menschen erst im Anschluss daran möglich ist, kulturell und moralisch fortzuschreiten.
5
Kant, Muthmaßlicher Anfang, a. O., S. 110f.
6
A. O., S. 109.
7
Als Text stellt sich dem 1. Buch Mose das Problem der Ursprungserzählung wie jedem anderen Text. Dennoch wäre ihm kulturell ein anderer Status zuweisen. Als Text prätendiert es, dass gerade der Anfang erzählbar sei, und es die einzig beglaubigte Version dieser Erzählung enthalte. Für Gläubige kann er diesen Anspruch an Wahrhaftigkeit einlösen und besitzt innerhalb ihrer Gemeinschaft Realitätsstatus, was ihn als Text mit einmaliger Erzählabsicht ausweist. Er behauptet, den Anfang erzählen zu können, und führt dessen Merkmale narrativ aus: mit allen Folgen, die dies für Epistemologie, Religionsgeschichte, Politik und Philosophie hatte.
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Wielands Erzählung „Koxkox und Kikequetzel“ interessiert sich mehr für die Rolle der Protagonistin, deren Putz-Sucht letztlich indirekt zur vom Erzähler desavouierten Gesellschaftsform führt: der Gemeinschaft der Frauen. Unter GenderPerspektive mag das generierte Frauenbild angreifbar sein; als Figur ist Kikequetzel zumindest vielschichtiger angelegt als der bei Kant zur Absicherung der Familie8 eingeführte Prototyp eines mehr geistig als sinnlich zu liebenden Weibes. Freilich nimmt sich Kants Ursprungserzählung weniger plastisch und ausführlich als Wielands minutiöse romantische Errichtung und skeptische Zerstörung des arkadischen Zustands aus. Verfremdend wirkt hier das Setting. Die Wiederauferstehung des Paradieses situiert Wielands Text in Mexiko, keineswegs im biblischen Zweistromland.9 Sowohl in Wielands als auch in Kants Erzählung stoßen die Menschen ihre Vertreibung aus dem Paradies an. Indem sie ihre ursprüngliche Naivität durch Bildung eines sozialen Gefüges einbüßen, vertreiben Koxkox und Kikequetzel sich selbst aus dem paradiesischen Zustand und werden nicht etwa vertrieben.10 Eine Gesellschaft, die aus mehr als einem Paar besteht, bzw. ein Paar, das (mehr) Gesellschaft akzeptiert, ist dem Verfall gewidmet.11 Kants Text interpretiert das Element der Vertreibung als „Entlassung“ um.12 Damit stellt er die Leistung der menschlichen Vernunft heraus, die sich ihren Zu8
Kant, Muthmaßlicher Anfang, a. O., S. 110, S. 112f.
9
Was die Ent-Europäisierung der Ursprungserzählung betrifft, sind viele Deutungen möglich. Eine zweite Schöpfung scheint nicht mehr als solche, sondern nur als Überbleibsel einer fast vollständigen Vernichtung denkbar, die in einem gänzlich zivilisierten Weltteil kaum möglich wäre. Der ‚natürliche‘ Mensch kann nur dort übrig bleiben, wo er zuvor noch vorhanden war. Aber auch die partielle Überschwemmung wird in eine mythische Zeit verlegt. Christoph Martin Wieland, Beyträge, Koxkox und Kikequetzel, in: WWA, Abt. 1, Werke V (Bd. 7,8/2), S. 317-367, S. 317.
10 Nur der gesellschaftliche Zustand führt es mit sich, seine Mitmenschen als Mittel zu Zwecken und nicht als Selbstzweck wahrzunehmen (ein Gedanke, der unmittelbar mit der Einführung arbeitsteiliger Gesellschaft korreliert wird). Solange es allein um das Liebesverhältnis geht, kann jene Verwechslung nicht unterlaufen. Ähnlich formuliert Kant es mit normativem Anspruch, s. Kant, Muthmaßlicher Anfang, a. O., S. 114. 11 Wieland, Koxkox und Kikequetzel, a. O., S. 354, S. 366. 12 Von Vertreibung oder Verbannung ist keine Rede, sondern von „Entlassung“, s. Kant, Muthmaßlicher Anfang, a. O., S. 114. „Der Text von Gen 3 ist also für sich genommen nicht exemplarisch für die kirchliche Sünden- und Erbsündenlehre, sondern bildet eher eine kritische Instanz gegen sie.“ Wolfhart Pannenberg, Einleitung zu: Text und Applikation. Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch [Poetik und Hermeneutik IX], hg. v. Manfred Fuhrmann, Hans Robert Jauß u. Wolfhart Pannenberg, München, 1981, S. 15-23, S. 15. Zum Sündenfall als Emanzipation vgl. a. O., S. 20, S. 30.
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stand nunmehr frei wählen könne. Während mit Blick auf die bei Wieland explizierte Kolonialisierung des inneren Afrika durch Afrika (Ägypten) in der „Reise des Priesters Abulfauaris“ von einem open end der Menschheitsgeschichte zu sprechen wäre, die sich räumlich zunächst nur bis nach Griechenland erstreckt (Griechenlands kulturelle Relevanz über den intellektuellen Horizont des Diagoras jedoch implizit ausweist), so bezieht Kant im titelgebenden programmatischen Text „Das Ende aller Dinge“ mit ein. Die Zukunft kann hier einzig offen bleiben, da das Ende sich nicht mehr auf Zukünftiges bezieht, insofern zukünftig noch eine Zeitangabe umfasst, die nach dem Ende aller Dinge nicht mehr gelten kann. Tatsächlich reflektieren die Ursprungserzählungen als Anfänge mit Voraussetzungen die Bedingungen und Möglichkeiten ihrer eigenen Erzählbarkeit mit, insofern sie nicht ab ovo, sondern in medias res einsetzen. Während die weitreichenden Folgen der „Reise des Priesters Abulfauaris“ für die Nachwelt vage bleiben, was sowohl die historischen Auswirkungen als auch die nachkommenden Teilhaber dieser Offenbarung anbelangt, stellt die Geschichte von „Koxkox und Kikequetzel“ trotz allen initialen Aufwandes eine Verfallserzählung dar. Demgegenüber bleibt Kants philosophischer Nachvollzug der sittlichen Geschichte des Menschen13 kultur- und weltgeschichtlich (sowie völkerrechtlich) offen. Als Textprojekt konstatiert der mutmaßliche Anfang die Erzählbarkeit der Geschichte des ersten Paares, selbst wenn sie nicht bis zum Ursprung zurückführen kann. In diesem Zusammenhang diskutiert er ihre narrativen Bedingungen nicht allein historiographisch, sondern poetologisch. Als problematisch – nur mit Mühe nachvollziehbar – erweist sich begrifflich die den Text eröffnende Differenzierung von Mutmaßung und Fiktionalität. Was der ergänzte Text der überlieferten Geschichte unterlegen muss, da hier und dort die Zeugnisse fehlen, darf keinesfalls fiktionalen Charakter besitzen. Wie sich hingegen am Ende aller Dinge zeigt, geht es nicht (mehr) um die Bedingungen eines konkreten Narrativs, das sich am mutmaßlichen Anfang am Muster einer Mastererzählung orientiert, sich über jene rechtfertigt und sie zugleich überwindet, indem es sie an einschneidenden Gelenkstellen umschreibt (also nicht mehr um Erzählbarkeit), sondern um die Undenkbarkeit bestimmter Zusammenhänge. Jene Undenkbarkeit tritt dort ins Zentrum, wo es um Kants Zeittheorie geht. Da das Ende keinen zeitlichen Begriff mehr darstellt, ist das absolute Ende intellektuell unzugänglich. Dass dennoch ein unzureichendes, aber allgemeinverständliches Sprechen über das Unsagbare statthat, deutet Kants Auseinandersetzung mit der biblischen Apokalypse an. Die folgenden Kapitel interpretieren die vier genannten Erzählungen Kants und Wielands (ungleich gewichtet) ausführlicher und konfrontieren sie einander. Ein 13 Vgl. Kant, Muthmaßlicher Anfang, a. O., S. 111. Wielands Erzählung trägt den Untertitel „Ein Beytrag zur Naturgeschichte des sittlichen Menschen“; Wieland, Koxkox und Kikequetzel, a. O., S. 317.
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Ziel dieser Unternehmung besteht im vorläufigen Überblick über Anmerkungen und Versatzstücke zur Theorie der Zeitlichkeit sowie in der Beschreibung von Zeitformen, die als poetologische Strukturmerkmale und metahistoriographische Kommentare von Menschheitsgeschichten aufzufassen sind. Die Analyse widmet sich den Texten Kants als Ausgangspunkt und bewegt sich vom Anfang zum Ende.
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1. I MMANUEL K ANTS M UTHMASSLICHER A NFANG DER M ENSCHENGESCHICHTE . V ERSUCHE ZUR P OETOLOGIE DER M UTMASSUNG „Im Fortgange einer Geschichte“ nehmen „Muthmaßungen“ die systematische Stelle von Lückenfüllern ein.1 Als solche dürfen sie eingesetzt werden, insofern sie auf Ursache-Wirkungsverhältnisse zurückzubeziehen sind. Voraussetzung dieser Ergänzung stellt der Topos der Unvollständigkeit dar: Historie gestaltet sich vor allem deshalb komplex, weil sie nicht lückenlos bezeugt werden kann. Sie ist nicht grundsätzlich nicht repräsentierbar, sondern ihr fehlen Bindeglieder, die jedoch kausallogisch erschließbar sind und nachträglich eingefügt werden können. Fortgang bezieht sich hier auf eine rückblickende Perspektive, welche die partielle Ergänzung zu ihrem Ende hin erlaubt. Was die Fortsetzung einer Geschichte anbetrifft, bleibt die Fülle an Mutmaßungen jedoch limitiert. Überschreiten sie diese Limitierung, gerät die Geschichte zu Roman oder Erdichtung. Damit nimmt der Text keine basale Gattungsdifferenzierung vor, welche die Mutmaßung im Gegensatz zu Erdichtung und Roman als nonfiktional ausweist; es sei denn, die Überschreitung dieser quantitativen Grenze (Häufung) ließe die Mutmaßung zu etwas fundamental Anderem werden. „Allein eine Geschichte ganz und gar aus Muthmaßungen entstehen zu lassen, scheint nicht viel besser, als den Entwurf zu einem Roman zu machen. Auch würde sie nicht den Namen einer muthmaßlichen Geschichte, sondern einer bloßen Erdichtung führen können.“2
Angesichts der rein quantitativen oder graduellen Abweichung von Mutmaßung und Erdichtung scheint die vom Text suggerierte Differenz zwischen (naturgesetzlicher) Ergänzung der historischen Realität und fiktionalen Elementen nicht haltbar. Idealiter stiften Kausalitätsverhältnisse den Bezug zum Naturgesetz. Wie die folgende Auseinandersetzung mit Blanckenburgs Romantheorie nahe legt, bildet die Vereindeutigung von Kausalitätsverhältnissen auch hier den neuralgischen Punkt poetologischer Reflexion. Blanckenburgs Forderung besteht in der durchgängigen Motivierung des Geschehens: eine Romanauffassung, die derjenigen Kants korreliert, insofern Kant sie als der Weltgeschichte unangemessen ausweist.3 Von einer
1
„[…] Muthmaßungen einzustreuen, um Lücken in den Nachrichten auszufüllen“, heißt es im Text. Kant, Muthmaßlicher Anfang, a. O., S. 109.
2
Ebd. Vgl. dazu, was mit Blanckenburg bezüglich der Stimmigkeit des Romans expliziert wird, welchen Kant als literarische Form der Weltgeschichte zurückweist, s. Kap. „Roman“.
3
Kant, Idee, a. O., „Neunter Satz“, S. 29.
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„entfernte[n] Ursache“ und dem „Nachfolgende[n] als Wirkung“ ausgehend, stellt sich die „Entdeckung der Mittelursachen“ (das Korrelat der Mutmaßungen) offenbar ohne größere Schwierigkeiten ein. Von Ableitung oder anderen an Logik angrenzenden Operationen ist keine Rede. Im Gegenteil handelt es sich bei den eingesetzten Metaphern um die der Entdeckung und des Übergangs.4 Es geht darum, „[…] den Übergang begreiflich zu machen“5: eine Forderung, die sich in abweichender Formulierung auch in Aristoteles’ „Poetik“ findet. „Ein Anfang ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht. Ein Ende ist umgekehrt, was selbst natürlicherweise auf etwas anderes folgt, und zwar notwendigerweise oder in der Regel, während nach ihm nichts anderes mehr eintritt. Eine Mitte ist, was sowohl selbst auf etwas anderes folgt als auch etwas anderes nach sich zieht. Demzufolge dürfen Handlungen, wenn sie gut zusammengefügt sein sollen, nicht an beliebiger Stelle einsetzen noch an beliebiger Stelle enden, sondern sie müssen sich an die genannten Grundsätze halten.“6
Was sich im Zitat auf dramatische Mimesis bezieht, ein motivierter oder erläuterter Übergang, nimmt mit Blick auf die Fiktion sowie die (angenommene) Wirklichkeit eine Scharnierfunktion ein. Jene in Kants Text vorgenommene Kategorisierung erfolgt keineswegs trennscharf. Die projektierte qualitative Differenzierung von Mutmaßung und Fiktion stellt selbst eine Figur des Übergangs (von der Fiktion zur historischen Nachricht) dar, die eindeutig weder in das Feld der Episteme (der Aufklärung historischer Wirklichkeit) noch zur Poetik (als Konstitution reiner Möglichkeiten) gehört. Die Leistung der Mutmaßung poetologisch zuzuordnen, löst das Dilemma zwar nicht auf. An den ambivalenten Kategorisierungen kristallisiert sich jedoch Kants epistemischer sowie rhetorischer Wunsch heraus, ein Bindeglied zwischen Realität und Fiktion auszumachen, das die nonfiktionale Historie durch ein Zwitterelement ergänzt, das als nicht-fiktional zu kategorisieren ist, und für das es dennoch kein Zeugnis (keine „Nachrichten“) gibt. Denn die Mutmaßung soll eine virtuelle Wirklichkeit absichern, der keine Korrespondenz der aktuellen Wirklich-
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Damit handelt es sich um Metaphern der Reise bzw. der Reisebeschreibung. Der Übergang vom einen zum anderen semantischen Feld gilt strukturalistisch als handlungsstiftendes Element. Die Grenzübertretung und damit Grenzverletzung konstituiert die Handlung.
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Zitate: Kant, Muthmaßlicher Anfang, a. O., S. 109.
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Aristoteles, Poetik, Griechisch-Deutsch, hg. u. übers. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart, 2003, S. 25. Hervorhebung: K.K. Bemerkenswert ist die potentielle Offenheit des Anfangs im Vergleich zum Ende. Das Ende wird als definitiv abgeschlossen charakterisiert, während der Anfang immer weiter nach vorn verlagert werden kann.
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keit mehr entspricht. Sie plausibilisiert oder bezeugt gar die verlorenen Zeugnisse, ihre getilgte, aber vormalige Existenz. Im Zuge der Analyse rückt weniger das Argument in den Vordergrund, dass die Konstitution historischer Wirklichkeit immer schon durch die Darstellungs- oder Textform (durch Aktualisierung) gebrochen sei (das versteht sich im Rahmen dieser Arbeit von selbst). Sondern es geht darum, dass Kant überhaupt mit poetologischen Begriffen operiert, und damit einen Beitrag zur Poetologie der Geschichte leistet. So inkonsistent diese eingerichtet sein mag: In ihrer spezifischen Organisation stellt sie einen Sonderfall dar. Ihre Originalität arbeitet meine Analyse im Verlauf der Kant-Passagen näher heraus. Während Mutmaßungen mit Blick auf den Fortgang von Geschichte wohldosiert eingesetzt werden müssen, nicht zu viele „Mittelursachen“ eingefügt werden dürfen, erweist sich der Anfang einer Erzählung als resistenter gegenüber der Überdosierung an Mutmaßungen. Formuliert Aristoteles, „[e]in Anfang ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, […]“, dann besteht der Umkehrschluss darin, dass ein Anfang durchaus auf etwas anderes folgen kann. Diese Definition scheint der Annahme zu widersprechen, die landläufig für den Anfang beansprucht wird. Der Anfang ist das, dem nichts vorhergeht. Die Anfänge, die Aristoteles nicht ausschließt, sind demnach vorläufige Anfänge, denen andere Anfänge vorhergehen können, die sich rückdatieren lassen. Selbst wenn man einwendet, es handle sich um Anfänge der Mimesis, ein Drama faktisch irgendwann einmal einsetzen müsse, so gilt dieser Einwand im Grunde nur für die histoire des Stücks, aus der die mimetische Darstellung (sie begrenzend) schöpft. In medias res zu beginnen, stellt sich als ökonomisches Verfahren heraus. Alles – jeden Einzelaspekt, der im Verlauf des Stücks (nochmals) aufgerufen wird – von Anfang an zu erzählen, lässt sich nicht nur schwer umsetzen, sondern erweist sich als überflüssig (hierin liegt das gravierende Argument) für seinen Verlauf (der Generierung richtungsweisender Übergänge), ermüdet mithin den Zuschauer. Motivisch nimmt sich die Vorgeschichte des Stückes endlos aus, auf darstellerischer (struktureller) oder performativer Ebene hat es einen definitiven Anfang. Jener semantische Mehrwert, der es erlaubt, weiter zurück zu erzählen, korrespondiert der Struktur des iterativen Anfangs. Man ist geneigt, immer nach einem Anfang vor dem Anfang zu fragen. Bei Aristoteles spiegelt die Mimesis nun die Struktur dieses Paradoxons wider, ohne es paradox wenden zu müssen. In der Mimesis entparadoxiert sich das Paradoxon zu reinem Erzählpotential, welches Kant den Regeln der Wahrscheinlichkeit folgend ausschöpft. „Gleichwohl kann das, was im Fortgange der Geschichte menschlicher Handlungen nicht gewagt werden darf, doch wohl über den ersten Anfang derselben, so fern ihn die Natur macht, durch Muthmaßung versucht werden. Denn dieser darf nicht erdichtet, sondern kann von der Erfahrung hergenommen werden, wenn man voraussetzt, daß diese im ersten Anfange nicht
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besser oder schlechter gewesen, als wir sie jetzt antreffen: eine Voraussetzung, die der Analogie der Natur gemäß ist […].“7
Zwischen Anfang und Fortgang wird eine (scheinbare) Differenz eingezogen. Obwohl der Anfang konträr zum Fortgang in toto „durch Muthmaßung versucht“ werden darf, gilt das Fiktionsverdikt für beide Stadien gleichermaßen. Jene Zwangsläufigkeit, die zuvor über das Kausalprinzip abgesichert werden sollte, wird nun an den Begriff der Natur gekoppelt. Naturgesetzlichkeit erweist sich aber gerade nicht als überempirisches allgemeingültiges Prinzip, sondern als erlebte empirische Gegenwart: „kann von der Erfahrung hergenommen werden, [...], daß diese im ersten Anfange nicht besser oder schlechter gewesen, als wir sie jetzt antreffen.“ Zwar macht Kants Argumentation das Axiom geltend, Natur verändere sich nicht. Zeitlichkeit füge ihren Gesetzlichkeiten keinen Abbruch zu. Das Prinzip, welches gegenwärtig erfahrenes Naturgesetz mit dem Stadium der Vergangenheit verbindet, ist die Analogie. Liegt in der Natur also das Prinzip, von dem ausgehend analogisch geschlossen wird – eine Analogie von der Natur genommen? Ist Natur epistemisch so ausgerichtet, dass sie analogisch verfährt? Die Garantie, Erfahrung sei am Anfang nicht besser oder schlechter als zu einem (beliebig) späteren Zeitpunkt, wäre somit der Analogie der Natur gemäß? Worin bestünde dann diese Analogie? Fügt sie sich zwischen Erfahrung und Natur – wobei Natur nichts anderes meinen kann als gegenwärtig erfahrene Natur? Schöpft die Analogie der Natur demnach aus gegenwärtiger Erfahrung? Dann würde es sich um eine Analogie der Erfahrung (in Bezug auf die Natur) und nicht um eine Analogie der Natur handeln. Hinter diesem Komplex steht die Bezugsetzung zweier Zeitebenen der Erfahrung, von denen eine prinzipiell nicht mehr erfahrbar ist. Meines Erachtens bleibt die „Analogie der Natur“ eine leere Vorstellung – eine leere Analogie –, der nichts korrespondiert als die Tautologie ihres eigenen Zirkels. Selbst wenn man zugesteht, was gemeint sein müsste, nämlich, dass Natur zu allen Zeiten sich selbst analog ist, so irritiert diese Auffassung angesichts des Potentials der Analogie, zwei (kategorial) unterschiedene Dinge miteinander vergleichen und so in Verbindung setzen zu können. Die Mutmaßung wird schließlich der „Naturphilosophie“ zugeordnet: einem Feld, das der Dichtung überlegen scheint, der Tatsachengeschichte indes nicht das Wasser reichen kann. Wie gewissenhaft die Auseinandersetzung mit der Mutmaßung erfolgt, den Ernst disziplinärer Historie erreicht sie nicht. Dennoch eignet ihr eine eigentümliche psychologische Funktion. Sie dient der seelischen Hygiene, insofern sie der unterdrückten Einbildungskraft
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Kant, Muthmaßlicher Anfang, a. O., S. 109.
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ihre Ausschweifungen zubilligt, um jene zugleich vernünftig einzuschränken.8 Nicht Selbstverlust der Einbildungskraft in ihren eigenen Phantasien erleidet der Mensch im Zuge der Entspannung, sondern er erfährt eine Restrukturierung der Phantasie angesichts der Lücken in den Nachrichten: ein Prozess, der an die Generierung von Fiktion erinnert. Dieser „Bewegung“ wohnt ein bewegendes und stabilisierendes Moment zugleich inne, sie funktioniert kathartisch. Die projektierte nonfiktionale und dennoch kathartische „Lustreise“ wird sogleich in vorgegebene Bahnen literarischer Tradition gelenkt: Niemand verreist ohne „Karte“, welche als „heilige[ ] Urkunde“ zudem doppelt beglaubigt wird. 1.1 Karten und Dokumente „Eben darum, und da ich hier eine bloße Lustreise wage, darf ich mir wohl die Gunst versprechen, daß es mir erlaubt sei, mich einer heiligen Urkunde dazu als Karte zu bedienen [...].“ Wie ist es zu verstehen, dass die „heilige Urkunde“, das literarische Vorbild, als „Karte“ bezeichnet wird? Repräsentational birgt eine solche Übertragung einen Medienwechsel von der „Urkunde“ über die verschwiegene Erzählung zur „Karte“. Die Sukzession des literarischen Textes würde in anschauliche Form übersetzt, von der man einen synchronen Überblick erwartet. Was das Verhältnis der realen Landschaft zur flächenhaften Darstellung auf der Landkarte betrifft, wäre auf mehreren Ebenen von repräsentationaler Reduktion oder Verkürzung zu sprechen (Dimensionalität, Plastizität, Maßstab etc.). Ohne eine kartographische Theorie entwerfen zu wollen, sei darauf verweisen, dass weitere Autoren der Aufklärung die kartographische Metapher auf die Menschheits- bzw. Weltgeschichte übertragen. Gatterer etwa entwirft materielle Karten, um die Stadien der (europäischen) Geschichte im Überblick darstellen zu können. Damit findet er ein weithin starres zeitloses Modell für die Repräsentation des Veränderlichen, dem aufgrund seiner Synchronizität didaktische Evidenz eignet (vgl. das Kapitel „Gatterers Planiglobien“). Literarisch bemüht Herders „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ ein ähnliches Modell, insofern seine Nationengeschichte einzelne geographische Stationen dem Muster der Translatio Imperii folgend nebeneinanderstellt (in der Sukzession des Textes freilich einander ablösen lässt), ohne die Übergänge vom einen zum anderen Weltreich zu erzählen. Herders „Ideen“ lassen den Leser demgegenüber einzelne Stationen abwandern, die ein natürliches Gefälle prägen. Weshalb die Metapher der Karte gewählt wird, lässt als Fragestellung mehrere Vermutungen zu. Nahe läge, verschiedene Stadien der körperlichen bzw. moralisch8
Psychologisch werden Mutmaßungen „[…] als eine der Einbildungskraft in Begleitung der Vernunft zur Erholung und Gesundheit des Gemüths vergönnte Bewegung“ charakterisiert. Zitate: ebd.
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geistigen Entwicklung der Menschheit als Topoi zu lesen, die als Elemente eines abgezirkelten Vorstellungsrahmens seit der Bibel zur Verfügung stehen. Dabei gestaltet die biblische Erzählung literarisch aus, was Kants Text intellektuell uminterpretiert. Sowohl die intellektuelle Zusammenstellung, welche die Bedingungen der Möglichkeiten moralischer Entwicklung abzuklären sucht, als auch die kultische Erzählung gehen von übereinstimmenden Grundbausteinen aus. Das biblische Vorbild wird als „heilige[ ] Urkunde“, als „historisch“ ausgewiesen. Der philosophische Nachvollzug dieser Geschichte hängt von Einbildungskraft und Vernunft gleichermaßen ab. Doppeldeutig bleibt der Begriff der Geschichte hier allemal, sie ist Kollektivsingular und Erzählbegriff zugleich. „Der Leser wird die Blätter jener Urkunde (1. Mose Kap. II-VI) aufschlagen und Schritt vor Schritt nachsehen, ob der Weg, den Philosophie nach Begriffen nimmt, mit dem, welchen die Geschichte angiebt, zusammentreffe.“9 Dokumentcharakter kommt der Urkunde insofern zu, als sie dem Leser erlaubt, etwas nachzusehen: so als ob der „Muthmaßliche[ ] Anfang“ ein Forschungsergebnis präsentierte, das sich intersubjektiv an historischen Zeugnissen überprüfen ließe. Den Ausgangspunkt der Modifikation neuartiger Geschichte stellt somit ein Produkt historischer Forschung und Kompilation zur Verfügung, das an den Mythos grenzt. Die Grundlage der modifizierten Erzählung gewährt ein anderer Text. Dieser kann parallel zur (durch ihn) generierten Erzählung aufgeschlagen und durchmustert werden. Offen bleibt, ob er den Status einer zitierten Quelle annimmt – dafür spräche, dass die Fundstellen jeweils in Klammern angegeben werden. Oder zieht der aufgeschlagene Bezugstext eher die Koordinaten ein, in deren Gitternetz jene neue Geschichte angesiedelt werden kann? Im Modus des so definierten Nachvollzugs dient die Urkunde in Kartenform der Veranschaulichung philosophisch zu definierender Stadien. Die Erzählelemente der Bibel lassen die Eckdaten philosophischer Menschheitsgeschichte plastischer hervortreten. Ihre Unterteilung in sehr reduzierte Kapitel und Plots fungiert als Fundus, der temporale sowie thematische Modifikationen erlaubt. Startpunkt der nun folgenden Erzählung stellt die paradiesische Existenz dar. Um den Schwärmereiverdacht gar nicht erst aufkommen zu lassen, setzt die Erzählung verspätet ein. Mit der Auslassung wird das erste Buch Mose implizit zur Schwärmerei degradiert, zumindest deutlich als Erzählung dessen markiert, von dem man nichts wissen kann. Ausgehend von der Fähigkeit des Menschen, sich selbst und seine Art zu erhalten, unterteilt sich die Erzählung in vier Schritte. Zu den konstitutiven narrativen Elementen dieses Stadiums gehören die notwendige physische sowie intellektuelle Ausdifferenzierung des Menschen, sein Dasein als Paar im (vor natürlichen Feinden geschützten) fruchtbaren Garten, dessen Zusammenleben zur familiären Ordnung tendiert. Was Kants Text in der Erzählung seiner philosophi9
Zitate: a. O., S. 109f.
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schen Geschichte voraussetzt, schließt er für den tatsächlichen Verlauf der Menschengeschichte gerade aus. Jene Erzählbarkeit absichernden konstitutiven menschlichen Fähigkeiten sind gerade nicht apriorisch oder angeboren („anerschaffen“). Dennoch nimmt er „einen großen Zeitraum“ zwischen „gänzliche[r] Rohigkeit seiner Natur“10 und dem späteren (initialen) Stadium an, den er ausspart, um die Limitierung der Mutmaßungen auch am Anfang nicht zu überschreiten. Obgleich der Mensch bereits ein ausdifferenziertes Wesen bildet, greift der Text auf die Vorstellung seiner instinktiven Leitung zurück. Damit stellt sich die Frage nach der Entwicklung der Vernunft, die nicht einfach im Menschen schlummert.11 Nachfolgend entwirft der Text eine kausale Verkettung der Modifikation menschlicher Eigenschaften und Fähigkeiten, die von der triebhaften Anlage des Menschen ausgeht, obgleich dieses Stadium bereits Vernunft voraussetzt. Somit stiftet der „Instinct“ „zur Nahrung“12 den Ausgangspunkt der Erzählung signifikanter Abweichungen, die sich unter der Hand zu kulturellen Handlungen oder Leistungen formieren. Der Instinkt hängt direkt von den fünf Sinnen des Menschen ab und stellt kein übergreifendes Prinzip als Konterpart der Vernunft dar. Durch Zivilisation geht der Instinkt nicht verloren, sondern dessen Gedankenwelt lenkt den zivilisierten Menschen von ihm ab. Nun hegt nicht die Vernunft selbst am ihr vorgesetzten Speiseverbot Zweifel. Der Sündenfall liegt in der Verwirrung der Sinne. Demnach handelt es sich um ein ästhetisches und kein moralisches Vergehen. Dem Gegenstand wird ein inadäquater Sinn zugeordnet, insofern er dem Wahrnehmungsbereich eines anderen Sinnes angehört. Geruch und Geschmack werden angesichts einer Speise vom Gesichtssinn übertölpelt, durch den die Vernunft über sichtbare Analogien auf deren Genießbarkeit zu schließen sucht. Sowohl das prekäre Prinzip der an Sichtbarkeit ausgerichteten Analogie als auch die Funktionalisierung falscher Sinne sind gleichermaßen als Missbrauch menschlicher Fähigkeiten und als entscheidende Faktoren zu lesen, welche die Lebensart des Menschen fundamental verändern. 10 A. O., S. 110. 11 Zum strukturell äquivalenten Problem – mit Blick auf den Sprachursprung vgl.: „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ von Johann Gottfried Herder – s. a. Franz Gniffke, der erläutert, inwiefern die Gleichsetzung von Instinkt und praktischer Vernunft das Paradox überwinden könne. „Mit dieser Deutung kann Kant die Paradoxie des Verbotes im Paradies vermeiden, die darin besteht, daß es als bewußte Grenze die Möglichkeit des Überschreitens und somit ein Wissen um das Böse bereits impliziert, während es durch die Überschreitung erst erlangt werden soll.“ Franz Gniffke, „Gegenwärtigkeit des Mythos in Kants Mutmaßungen über den Anfang der Menschengeschichte“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 38 (4), Frankfurt am Main, 1984, S. 593-607, S. 598f. 12 Kant, Muthmaßlicher Anfang, a. O., S. 111.
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„Die Veranlassung, von dem Naturtriebe abtrünnig zu werden, durfte nur eine Kleinigkeit sein; allein der Erfolg des ersten Versuchs, nämlich sich seiner Vernunft als eines Vermögens bewußt zu werden, das sich über die Schranken, worin alle Thiere gehalten werden, erweitern kann, war sehr wichtig und für die Lebensart entscheidend.“13
Den „[...] ersten Versuch von einer freien Wahl […]“ der Nahrung überführt der Text in das neugewonnene anthropologische „[…] Vermögen, sich selbst eine Lebensweise auszuwählen […].“14 Der Einzelfall, die konkrete, sinnlich motivierte Erfahrung, mündet unmittelbar in allgemeingültige Anthropologie, welche moralphilosophisch sogar die Entstehung der Freiheit zu erklären vermag. Im nächsten (zweiten) Schritt wird die neue Freiheit durch Verweigerung und Hinauszögerung eingeschränkt: eine kreative Leistung, die Liebe, Ästhetik, Moralität und Geselligkeit wie aus einem Guss entstehen lässt. 1.2 Ästhetik der Weigerung „Der Mensch fand bald: daß der Reiz des Geschlechts, der bei den Thieren bloß auf einem vorübergehenden, größtentheils periodischen Antriebe beruht, für ihn der Verlängerung und sogar Vermehrung durch die Einbildungskraft fähig sei, welche ihr Geschäft zwar mit mehr Mäßigung, aber zugleich dauerhafter und gleichförmiger treibt, je mehr der Gegenstand den Sinnen entzogen wird, und daß dadurch der Überdruß verhütet werde, den die Sättigung einer bloß thierischen Begierde bei sich führt. […]. Weigerung war das Kunststück, um von bloß empfundenen zu idealischen Reizen, von der bloß thierischen Begierde allmählig zur Liebe und mit dieser vom Gefühl des bloß Angenehmen zum Geschmack für Schönheit […] überzuführen. Die Sittsamkeit, eine Neigung durch guten Anstand (Verhehlung dessen, was Geringschätzung erregen könnte) Andern Achtung gegen uns einzuflößen, als die eigentliche Grundlage aller wahren Geselligkeit, gab überdem den ersten Wink zur Ausbildung des Menschen als eines sittlichen Geschöpfs.“15
Die Einrichtung moralischer Strukturen innerhalb der Gesellschaft führt in diesem Passus auf ästhetische Fragestellungen zurück. Nicht die Vernunft weist die animalische geschlechtliche Liebe als unmoralisch aus und sucht sie daher in Schach zu halten, sondern es gelingt dem kreativen Vermögen der Einbildungskraft, den Kontakt zwischen den Geschlechtern zu verschönern (und sogar zu verlängern)16, sodass 13 A. O., S. 111f. 14 A. O., S. 112. 15 A. O., S. 112f. 16 A. O., S. 112, „Verlängerung“. Materielles Symbol dieser Weigerung stellt das „Feigenblatt“ (S. 113) dar. Wieland deutet dieses Verhältnis konträr. Bei ihm manifestiert Bekleidung ebenfalls den ersten Ausdruck einer Verbergungskunst, welche hingegen nega-
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sie nach Einlösung ihrer tierischen Begierden einander nicht überdrüssig werden. Wenn „Weigerung“ als „Kunststück“ tituliert wird, dann zielt die Wahl der Metapher tatsächlich auf eine ästhetische Leistung ab. Obgleich die Weigerung über das Prinzip der Monogamie – als Auszeichnung eines allen anderen Dingen vorzugswürdigen Gegenstandes (ähnlich der Kikequetzel in Wielands Erzählung) – vorschnell zum Begriff der Schönheit und zum Geschmacksurteil hypostasiert wird, übt sie eine basale Funktion in der Normierung menschlicher Lebensbereiche aus. Sie stilisiert geschlechtliche Beziehungen zu Exklusivitätsverhältnissen, ordnet Subjekte einander zu, stiftet damit familiäre Strukturen – welchen Kant die Funktion einer gesellschaftlichen Keimzelle zuordnet17 – und reguliert in einer späteren Phase gesellschaftlicher Entwicklung den Umgang unter deren Mitgliedern, indem sie verweigert, dass Menschen einander schonungslos offenbaren. 1.3 Entdeckung der Zukunft Die Verweigerung des unmittelbaren spontanen Genusses des Geschlechterverhältnisses – sein Aufschub in der Paarbeziehung – führt zur Entdeckung eines neuen Zeitverhältnisses: der zukünftigen Dimension. „Der dritte Schritt der Vernunft, nachdem sie sich in die ersten unmittelbar empfundenen Bedürfnisse gemischt hatte, war die überlegte Erwartung des Künftigen. Dieses Vermögen, nicht bloß den gegenwärtigen Lebensaugenblick zu genießen, sondern die kommende, oft sehr entfernte Zeit sich gegenwärtig zu machen, ist das entscheidendste Kennzeichen des menschlichen Vorzuges, […].“18
Mit der Vergegenwärtigung des Künftigen entsteht überhaupt erst eine Vorstellung von Zeitlichkeit. Denn an diesem hypothetischen Anfang gibt es keine Vorgeschichte – weder strukturell noch für seine Figuren. Seinen Ausgangspunkt nimmt er dort, wo der Mensch bereits bestimmte, nicht weiter zurückzuverfolgende Fähigkeiten (erworben) hat. Demgegenüber führt die Antizipation der zukünftigen Dimension die elementare Unterscheidung zweier Zeitebenen mit sich: jetzt und spätiv gedeutet wird. Verbergung führt nicht zur Idealisierung oder Festigung von zwischenmenschlichen Beziehungen, von Sittlichkeit, sondern provoziert Lüge, gegenseitigen Betrug und Verfall der Gesellschaft. Nur nackte Menschen lieben einander natürlich und gleichermaßen idealistisch. 17 A. O., S. 110. Umfassendere Strukturen bzw. die Interferenz mehrerer Gruppen tendieren durch ihre basalen inneren Spannungen dazu, sich selbst zu zerstören, sind für den Anfang noch ungeeignet. Vgl. Wielands „Koxkox und Kikequetzel“. 18 Kant, Muthmaßlicher Anfang, a. O., S. 113. Jener Quell der Vorsorge wird zugleich als Quell der Besorgnis ausgewiesen.
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ter, vorher und nachher. Gleichwohl weist der Text aus, dass beide Ebenen nur in der Gegenwart als gegenwärtiges Erleben oder Antizipation ablaufen können. In dieser Entfaltung temporaler Strukturen liegt die Zurückweisung der vergangenen Dimension, welche als sekundär ausfällt – was dem erklärten Programm der Erzählung zuwiderläuft. In jedem Fall rollt sie das Zeitlichkeitsproblem von seiner zukünftigen und nicht von seiner vergangenen Dimension her auf. Die Geschichte der menschlichen Freiheit wird in vier Schritten erzählt. Der erste Schritt besteht in der Hinwegsetzung über den Instinkt und der Initialisierung der freien Wahl. Im zweiten Schritt trägt das Prinzip der Weigerung zur Entstehung von Liebe aus dem geschlechtlichen Reiz bei, während es durch Verbergung des egoistischen (tierischen) Selbst das Prinzip der Sittsamkeit einführt, welches Geselligkeit und letztlich Gesellschaft ermöglicht. Augenblicklicher Verzicht löst im dritten Schritt die Entdeckung der Zukunft aus. Der vierte und letzte Schritt setzt das grundlegende und oberste Prinzip der Moralität frei: Als Selbstzweck – nicht als Mittel zu anderen Zwecken – liegt im Menschen zugleich der höchste Zweck der Natur. Kant führt einen Gleichheitsgrundsatz ein, der nicht allein im zwischenmenschlichen Bereich, sondern in Bezug auf alle vernünftigen Wesen gilt, die Zwecke setzen können.19 Neben dieser klar durchstrukturierten, teleologisch angelegten Entstehung des Einen aus dem Anderen, welche über (metaphorische?) „Schritt[e]“20 erfolgt, stehen weitere Zeitworte, die Temporalverhältnisse anders deuten. Temporale Termini werden nicht durchgängig konsequent eingesetzt, sondern einem konkreten Zeitwort folgt oft ein abweichendes, das die Reihe durchbricht. Die wichtigsten Elemente der Erzählung stellen die Entdeckung der Freiheit (der Sündenfall) und das Prinzip der Verweigerung (das Feigenblatt) dar. Indem es als epochemachend eingeführt wird, durchbricht das letzte Prinzip den Rhythmus der vier Schritte. „Ein kleiner Anfang, der aber Epoche macht, indem er der Den19 „Und so war der Mensch in eine Gleichheit mit allen vernünftigen Wesen, von welchem Range sie auch sein mögen getreten […]: nämlich in Ansehung des Anspruchs selbst Zweck zu sein, von jedem anderen auch als ein solcher geschätzt und von keinem bloß als Mittel zu anderen Zwecken gebraucht zu werden. Hierin und nicht in der Vernunft, […], steckt der Grund der so unbeschränkten Gleichheit des Menschen selbst mit höheren Wesen, die ihm an Naturgaben sonst über alle Vergleichung vorgehen möchten, deren keines aber darum ein Recht hat, über ihn nach bloßem Belieben zu schalten und zu walten.“ A. O., S. 114. Mit diesem Zitat vollzieht sich eine Emanzipierung des Menschen von „allen vernünftigen Wesen“, damit von Gott selbst. Der Mensch darf sich nicht als Mittel zu Gottes Zwecken begreifen, so wie er Gott nicht als Garanten eines Heilsversprechens auffassen darf. Dieser Gleichheitsgrundsatz stellt es den Menschen frei zu glauben. Wenn sie jedoch glauben (möchten), dann steckt der Grundsatz einen völlig anderen Rahmen des Glaubens ab, dem ein religionskritischer Impetus zugrunde liegt. 20 A. O., S. 110, S. 113f.
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kungsart eine ganz neue Richtung giebt, ist wichtiger, als die ganze unabsehliche Reihe von darauf folgenden Erweiterungen der Cultur.“21 Die epochemachende Verbergungskunst liegt genau zwischen Schritt zwei und drei. Damit markiert sie eine Zäsur, auf welche die Entdeckung der Zukunft und somit der Zeitlichkeit überhaupt erst folgen kann. Im Grunde ist die Geschichte der – moralisch relevanten – menschlichen Ausdifferenzierung damit bereits einmal erzählt, Kant resümiert mit dem fatalistischen Bild negativer Anthropologie. Ins arkadische Zeitalter zurückzukehren, sei dem Menschen unmöglich, seine Vernunft entpuppt sich als Feind: „Sie treibt ihn an, die Mühe, die er haßt, dennoch geduldig über sich zu nehmen, dem Flitterwerk, das er verachtet, nachzulaufen und den Tod selbst, vor dem ihn grauet, über alle jene Kleinigkeiten, deren Verlust er noch mehr scheuet, zu vergessen.“22 Bis hierher bezieht der Text sich auf den Grundbestand des sittlichen, nicht mehr rein instinktiven Menschen, wie er unter den Zeitgenossen noch vorkommt. Die vier Schritte lassen die Ereignisse bruchlos, gleichsam einem natürlichen Rhythmus folgend, auseinander erwachsen, während andere Zeitworte und die Anmerkungsstruktur sie durchbrechen. 1.3.1 Anmerkung Diesem Teil des Textes folgt eine Anmerkung, die (paratextuell) nicht in die Fußnote verschoben, sondern mit der Überschrift „Anmerkung“ versehen wird.23 Als „Bestimmung seiner Gattung“ wird dem Menschen das „Fortschreiten zur Vollkommenheit“ zur Aufgabe gemacht: ein „[…] Gang, der für die Gattung ein Fortschritt vom Schlechteren zum Besseren ist, nicht eben das Nämliche für das Individuum.“24 In der Anmerkung wird der Bezug zur biblischen Vorlage erläutert, wobei bereits die Umdeutung der Vertreibung als Entlassung markiert, dass eine maßgebliche Reinterpretation des Urtextes vorliegt. „Die Geschichte der Natur fängt also vom Guten an, denn sie ist das Werk Gottes; die Geschichte der Freiheit vom Bösen, denn sie ist Menschenwerk.“25 21 A. O., S. 113. 22 A. O., S. 115. 23 Wie Anmerkungen in Kants Texten zu Fußnoten werden, bzw. wie Fußnoten in den Haupttext wandern oder den Haupttext vorwegnehmen – sowie ähnliche Verschiebungen an den Rändern der Texte –, wäre sicher eine vertiefende philologische Analyse von Kants Handschriften wert, die in diesem Rahmen jedoch nicht zu leisten war. 24 Ebd. Die Unterscheidung der Perspektiven von Gattung und Individuum, deren Auseinandertreten, formiert ein typisches Argument der Geschichtsphilosophie der Aufklärung – bzw. nähert es sich einer Antwort auf die Theodizee-Frage an. 25 Ebd. Im zweiten Teil „Die ‚Mythen‘ vom Anfang und vom Ende“ seines Buches „Symbolik des Bösen“ widmet sich Paul Ricoeur intensiv der Frage nach Form und Funktion
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Der negativen anthropologischen Einschätzung zum Trotz, bietet das Zitat eine Lesart der biblischen Vorlage an. Das Böse tritt (nicht) mit dem Sündenfall ein. Kants Reinterpretation zeigt auf, dass Fortschritt zum Besseren nur dann statthaben kann, sofern das Böse überhaupt existiert (bzw. in die Welt eingeführt wird). Insofern böte die Perspektive göttlicher Geschichte (ohne menschliche Intervention) entweder Stillstand – falls die Menschen naiv und somit moralisch unangetastet blieben – oder eine Verfallsgeschichte dar. Die Struktur der Erzählung bedarf des Sündenfalls, damit sie zur Fortschrittsgeschichte avancieren kann. Jene göttliche Geschichte zu erzählen, wäre schlichtweg eintönig, da ihr jegliche Dynamik fehlt. Kant nutzt die „Anmerkung“ dann als Fußnote zu Rousseau. Nach Exposition der Grundkonstellation, welche durch das initiale Ereignis (den Sündenfall) ermöglicht, mittels Verweigerung (Verbergung) stabilisiert und nach Entdeckung der Zeitkategorie nur zögerlich weiter entfaltet wird, folgt ein unterbrechendes interpretatorisches Zwischenspiel. Als Kommentar zur Theodizee-Frage setzt es sich mit der arkadischen Sehnsucht auseinander, welche im scheinbaren Konflikt mit den Errungenschaften der Kultur steht. Dabei weist Kant auf ein landläufiges misreading Rousseaus hin, indem er darlegt, inwiefern physische und sittliche Geschichte der Menschheit voneinander zu differenzieren seien, um die gattungsgeschichtliche Funktion der Kultur angemessen bestimmen zu können.26 Missverständnisse provozierten die differierenden Aussagen verschiedener Schriften Rousseaus nur dann, wenn man gattungsund individualgeschichtliche Perspektive miteinander vermische. Dabei wird die künstliche Kulturleistung, welche das Prinzip der Weigerung einführt, als notwendiger Initiator sittlicher Geschichte angesehen. Sittliche Verhaltensweisen werden als Kunststücke ausgewiesen. Das Ziel der Sittengeschichte formuliert sich als (ästhetischer) Topos der Perfektibilität. Die Kette künstlicher Errungenschaften setzt sich solange fort, „bis vollkommene Kunst wieder Natur wird“27. Das Zwischenspiel dient der Rehabilitierung Rousseaus, dessen Position am Rande eingespielt wird. derartiger Mythen und entwickelt eine entsprechende Typologie. Dabei betont er, dass der Mythos nicht auf die Allegorie zurückzuführen sei, sondern „daß die MythenErzählung symbolisch auf ein Drama verweist.“ Paul Ricoeur, Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II, München, 1971, S. 187f., S. 194, S. 196-200. Kants Umschrift bewegt sich zwischen Allegorie und Drama, insofern die Geschichte von Umbruch und Bösem einerseits Dynamik verspricht, die Umdeutung zur „Entlassung“ die Bibelerzählung des Sündenfalls andererseits abweichend auslegt. 26 Kant, Muthmaßlicher Anfang, a. O., S. 116. „[W]ie die Cultur fortgehen müsse, um die Anlagen der Menschheit als einer sittlichen Gattung zu ihrer Bestimmung gehörig zu entwickeln, so daß diese jener als Naturgattung nicht mehr widerstreite.“ 27 A. O., S. 117f.
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1.4 Eine Fußnote zur Anmerkung – Spiel im Spiel im Spiel? Bevor die Geschichte jedoch beschlossen wird, hat eine weitere Unterbrechung statt. Eine Fußnote ergänzt die „Anmerkung“, die nun Beispiele für das prekäre Verhältnis zwischen naturgesetzlicher (animalischer) und sittlicher Bestimmung des Menschen offeriert. Jene Fußnote fällt als Anmerkung zur Anmerkung ausführlicher aus als die gesamte „Anmerkung“ selbst.28 Die theoretische Erläuterung der „Anmerkung“, welche durch ein ambitioniertes ästhetisches Programm den Widerspruch zwischen Kultur und Natur aufzulösen sucht, bedarf ihrerseits der Plastizität dreier Bilder (an die Leseradresse gerichteter lebensweltlicher Beispiele). Allen Beispielen kommt temporale Inkohärenz (Verzögerung) zu. Im ersten Beispiel entwirft der Text ein Konzept von „Mündigkeit“, das als biologische Mündigkeit zu bezeichnen wäre. Zwischen Trieb und Vermögen im Naturzustand, „seine Art zu erzeugen“ und dem „cultivirten Zustande“, der dies dank äußerer Umstände erlaube, liegt eine zeitliche Differenz, „so daß diese Epoche bürgerlich wenigstens im Durchschnitte um 10 Jahre weiter hinausgerückt wird.“29 Innerhalb des menschlichen Lebens grenzt die eigene Reproduktion eine „Epoche“ ab – unabhängig davon, ob man sich im bürgerlichen oder naturgesetzlichen Zeitalter befindet. Die Übertragung des Zeitbegriffs „Epoche“ auf das individuelle Leben stellt aber eine der erwähnten begrifflichen Verschiebungen dar, spiegelt die in der Anmerkung monierte Verschränkung von phylo- und ontogenetischer Ebene, von Individuum und Gattung. Für diese Deutung spricht die aufgerufene Lebensalteranalogie.30 Dass Naturmensch und Bürger in der bürgerlichen Epoche gleichzeitig existieren, ermöglicht das Beispiel, wobei es den Blick auf die Epoche reiner Naturgesetzlichkeit verstellt.31 Über die ontogenetische Analogie wird die Gattungsebene adressiert, die
28 Sie nimmt über drei halbe Seiten ein, wobei das Schriftbild der Fußnote etwa nur halb so groß ausfällt wie das des Haupttextes. 29 A. O., S. 116 (FN). 30 A. O., S. 117 (FN). „Denn der Naturmensch ist in einem gewissen Alter schon Mann, wenn der bürgerliche Mensch (der doch nicht aufhört Naturmensch zu sein) nur Jüngling, ja wohl gar nur Kind ist; denn so kann man denjenigen wohl nennen, der seiner Jahre wegen (im bürgerlichen Zustande) sich nicht einmal selbst, viel weniger seine Art erhalten kann, ob er gleich den Trieb und das Vermögen, mithin den Ruf der Natur für sich hat, sie zu erzeugen.“ Die Differenz, auf die es ankommt, besteht zwischen „erhalten“ und „erzeugen“. Jene Differenz, von der die notwendige temporale Verschiebung abhängt, gilt nicht für die junge Frau. Für sie fallen biologisches und gesellschaftliches Alter (in der Regel) zusammen. 31 Denn umgekehrt gilt das nicht. Phylogenetisch existiert im Naturmenschen nicht zugleich der bürgerliche Mensch.
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Verspätung der Epoche der Mündigkeit verschiebt diese um hunderte bzw. tausende von Jahren, bleibt mithin unbestimmbar. Nachdem der biologische Konflikt erörtert wurde, der gesellschaftlich zum Laster erklärt, was im Naturzustand nicht moralisch sanktionierbar wäre, da dieser umfassende Versorgung gewährleistet, wird er nun in Opposition dazu angegangen. Im Fokus steht der Widerstand, den die Natur des Menschen für dessen Intellekt bedeutet. An das „‚Ars longa, vita brevis‘ des Hippokrates“, die beklagenswerte Alterung des Geistes anknüpfend, welche dazu führt, dass Wissenschaftler und Gelehrte mit ihren Bemühungen jedes Mal „wieder vom ABC“ beginnen müssen, zieht der Text den Schluss, „[…] die Natur [habe] ihre Entschließung wegen der Lebensdauer des Menschen offenbar aus einem anderen Gesichtspunkte, als dem der Beförderung der Wissenschaften genommen.“32 An dieser Stelle verweist die Fußnote auf eine Sentenz, welche „der griechische Philosoph“33 geäußert habe. Eine Sentenz zur späten Einsicht in die Lebenskunst schließt dieses Beispiel ab. Wie man hätte leben sollen, wisse man erst, sobald man stürbe. Als rückblickende Auslegung lässt sich verspätetes Einsehen vom Ende her deuten. Vom Ausgang einer Kette von Ereignissen her sei erst zu bestimmen, welche Handlungen und Entscheidungen dorthin geführt haben oder welche Maßnahmen diesen Weg hätten umlenken können – eine Perspektive, die Wielands „Bekenntnisse des Priesters Abulfauaris“ einnehmen. Auf göttliche Eingebung am Schluss des Lebens bezieht sich die Reflexion über das Ende nicht. Vielmehr zitiert Kant mit dem Aperçu berechnende Handlungspragmatik, selbst wenn Berechnung so spät nichts mehr einbringen kann. Die Quelle bleibt hingegen verborgen. Weder handelt es sich um ein Zitat – die Aussage wird dem Philosophen in den Mund gelegt – noch wird er als Autor dieser Aussage benannt. Anzunehmen, mit dem griechischen Philosophen werde auf Aristoteles angespielt (wie sich das Mittelalter häufig auf dessen Autorität bezog), füllt die Leerstelle keineswegs aus. Denn auch der philologische Kommentar der Akademie-Ausgabe schweigt sich nicht über diese Quelle aus, sondern markiert sie als unbesetzbar.34 Wie in weiteren Kapiteln gezeigt wird, erfüllen Zitate 32 Zitate: a. O., S. 117. 33 Ebd. 34 Kommentar zu: Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, in: KAA, Anm. Bde. VI-IX, Bd. VIII, Berlin, 1977 [unveränderter photomechanischer Abdruck von: Kants gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1902], S. 481. Hier heißt es: „der griechische Philosoph] Wen Kant hier meint, habe ich nicht ermitteln können.“ Die Akademieausgabe stellt in Bezug auf behandelte Schriften im Regelfall den ausführlichsten Kommentar zur Verfügung. Der Kommentar Heinrich Meiers bezieht sich hier nur auf diese einzige Stelle, obgleich es weitere kommentierungswürdige Passagen gäbe. Die Fußnote, Kant, Muthmaßlicher Anfang, a. O., S. 120, böte eine willkommene Gelegenheit für den historischen Kommentar dar. Offensichtlich
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und die Nennung vermeintlicher Quellen (bei Wieland und Kant) diverse Funktionen. Kein Zitat erfolgt indes wortwörtlich, sondern es wandelt das Zitierte funktional ab. Zwar stellen die Texte häufig Quellenbezüge her, legen sie jedoch nie vollständig offen. Die lebenskluge, als Prosopopoiia inszenierte Sentenz markiert einen Allgemeinplatz, der sich dadurch auszeichnet, dass er seine Behauptung just durch das (allgemein verfügbare) Zitat negiert. Die abschließende Erkenntnis kann aphoristisch antizipiert werden, ohne dass sie im konkreten Fall sinnhaft vor dem Ende auszugestalten wäre. Der Aphorismus tritt für eine nicht mehr umzusetzende narratio ein, für die er kaum mehr sein kann als eine allgemeine Regel. Zu überliefern ist die allgemeingültige Aussage (der Gemeinspruch), jedoch nie die Erkenntnis, wie man eigentlich hätte leben sollen. Die (imaginäre) Entfaltung dieser Dimension würde narrativ sogleich vom Sterben eingeholt. Konkretion der Person und der Fülle ihres Lebens ist nicht zu leisten – daher bleibt der weise griechische Philosoph namenlos. Der Zeitraum unmittelbar vor dem Tod ist zwar als Ort der Reflexion über das Leben reserviert, temporal kann er es leider nie einholen: nicht einmal in der Retrospektive. Die nachfolgende Generation verspätet sich, weil sie Erkenntnisse der vorhergehenden nur pro forma verfügbar halten kann, es bedarf einer zeitlichen Verzögerung, bis sie dort anzuknüpfen vermag, wo die ältere Generation aufhören musste. Der intellektuelle Ertrag der Gattungsperspektive bleibt fraglich. Während das erste Beispiel die Verzögerung um ein Dezennium aufgreift, welcher es nicht gelingt, die phylogenetische Perspektive abzugrenzen und zugleich einzuholen, argumentiert das zweite Beispiel mit der Absehbarkeit eines Endes, dem jede Substantialität fehlt: Man kann es weder sinnvoll vorwegnehmen noch daran anknüpfen. Auf das Menschenrecht betreffende Ungleichheit nimmt das dritte Beispiel Bezug. Insofern eine „[…] allgemeine und zwar äußere Gesetzmäßigkeit, welche das bürgerliche Recht heißt, [...]“ gefordert wird, um die „Ungleichheit“ „des allgemeinen Menschenrechts“35 zu bekämpfen, repetiert sich ein durchgehendes Argument Kants. Die Erfüllung dieser Aufgabe fordert die Natur von der Vernunft ein, sobald sie sie freilässt (entlässt). Zwar wird jenes Beispiel nicht eingehender entfaltet. Allerdings weist es Kongruenz zum ersten Beispiel auf. Was in der bürgerlichen Epoche um zehn Jahre hinausgerückt wird, die Entwicklung des jungen Mannes zum Bürger, könnte auch innerhalb des bürgerlichen Zeitalters noch einiger Verzögerung bedürfen. In ihrer politischen Brisanz adressiert die Bemerkung über das „Menschenrecht“ den zeitgenössischen Leser direkt als aufzuklärenden Bürger und fällt so aus der Reihe der lebensweltlichen Beispiele heraus.
befand Meier nur die Stelle über den „griechische[n] Philosoph[en]“ als dunkel genug, um sie der Nachforschung wert zu erachteten. Gefunden hat er hingegen nichts. 35 Zitate, s. a. O., S. 117f.
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1.5 „Beschluß der Geschichte“ Nach dem doppelten Zwischenspiel folgt der „Beschluß der Geschichte“. Seinen Ausgangspunkt nimmt er dort, wo das Setting des postlapsarischen Zustandes entfaltet worden war, bevor die Anmerkung einen Bruch markierte. Die in vier „Schritt[en]“ konstruierte Geschichte anthropologischer Potentiale und Notwendigkeiten wird in die nächste „Periode“ überführt, welche ihrerseits als „Anfang“ fungiert. Beide Phasen müssen durch „einen großen Sprung“ überbrückt werden – die Erzählung springt in ein anderes Setting, das den Figuren eine neue (landwirtschaftliche) Umgebung schafft.36 Die Anmerkungen dienen dem Überspringen, der Überbrückung von etwas, das nicht erzählbar ist, treten in diese Lücke ein, ohne sie auszufüllen. Aufgrund dieser Stellung kommt ihnen der Charakter eines Zwischenspiels zu. Ohne die Verkettung der Handlung (die vier Schritte oder Akte) selbst voranzutreiben, nehmen sie kommentierend auf das zuvor Entfaltete Bezug. Jedoch koppelt dieser Bezug nur lose, ordnet die Gedankenspiele und Anekdoten dem Erzählten bei, während die Szenerie – unsichtbar für den Zuschauer – umgebaut wird. Der Vorhang geht auf, und es eröffnet sich eine neue Szene „als das Vorspiel der Vereinigung in Gesellschaft“. Nicht nur abgewandelte Szenerien treten auf den Plan der philosophischen Erzählung, sondern auch neue Begrifflichkeiten, um sie abweichend oder nach einem anderen Aspekt zu strukturieren. So suggeriert die „Epoche“ einen Bruch der Zwangsläufigkeit der Schritte, vielleicht keine Peripetie, aber eine Zuspitzung des Konflikts zwischen Ackersleuten und Jägern, wobei der parallel aufgerufene Begriff der „Periode“ Modifikationen anbietet. Obwohl jener Textzugang den Eindruck des Einschubs, des Fremdkörpers, zu vermitteln vermag, kann es nicht darum gehen, die Anlage des Textes durchgängig einem dramatischen Verlauf anzugleichen. Dennoch baut die Metaphorik des „Vorspiel[s]“ diese mögliche Lesart ein. Ohne nähere Rahmung wird dann der Begriff „Periode“ eingeführt. Ob mit „Periode“ etwas periodisch Wiederkehrendes oder eine vorübergehende Dauer gemeint ist, bleibt offen. Jener Neubeginn wird als Übergang „[…] aus dem Zeitabschnitte der Gemächlichkeit und des Friedens in den der Arbeit und der Zwietracht, als das Vorspiel der Vereinigung in Gesellschaft, […]“37 gewertet. Doch dem Übergang fehlt ein verbindendes Element. Er wird nicht erzählt, sondern durch ein doppeltes Zwischenspiel ersetzt bzw. übersprungen. Stattdessen führt der Text die erwähnte negative Anthropologie weiter aus. Sie steht in Korrespondenz zum Hauptargument
36 Paläontologisch betrachtet wird das Leben als Jäger und Sammler ausgelassen. Auch die Bibel spart diese Phase aus. 37 Zitate: a. O., S. 118 (Haupttext). Vier „Schritt[e]“, S. 114 u. ö., „Epoche“, S. 113, S. 116, S. 119.
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der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“: dem Antagonismus der Kräfte. Dem Zwischenspiel folgt ein erneutes Vorspiel, das „Hirtenleben“ und „Ackerbau“ gegeneinander abgrenzt. Die himmlische Begünstigung des Hirten, der noch als Nomade lebt, resultiert aus einer Leerstelle. Da er keine Eigentumsverhältnisse kennt, ist er blind gegenüber den Bedürfnissen des Pflanzers. Dessen Ansinnen, über ein willkürlich in Anspruch genommenes Landstück zu verfügen, muss ihm als unmögliche Operation erscheinen.38 Diejenigen, deren Leben sich mühsamer gestaltet, ergreifen Maßnahmen, um es zu erleichtern. Obgleich zunächst nur der Versuch unternommen wird, sich von potentiellen Konkurrenten um abgegrenzte Territorien zu „entfernen“, wertet der Text dies als gewaltsamen Akt. Für diese „Scheidung“ tritt ein zweites Mal der Begriff „Epoche“ ein, wenngleich schon eine „dritte Epoche“39 aufgeführt wird. Während die erste epochale Leistung der initialen Weigerung eine kulturelle Kettenreaktion auslöst, scheidet die „dritte Epoche“ verschiedene Gesellschaftsgruppen und Lebensweisen voneinander. Als Station innerhalb der Erzählung der Ausdifferenzierung wird die zweite Epoche nicht explizit benannt. Allerdings taucht der Begriff Epoche zum zweiten Mal im Text auf: in der Fußnote zur Anmerkung, welche die (erlangte) Fähigkeit (des Individuums) zum Gattungserhalt als „Epoche“ ausweist.40 Der Begriff wird also abweichend akzentuiert. Während er in der Fußnote eher auf Kontiguität (dem Zusammenfall der Bedürfnisse von Individuum und Gattung durch Gattungserhalt)41 basiert, bezeichnen Epoche eins und drei (eigentlich zwei) Epochen der Menschheitsgeschichte: der „Weigerung“ bzw. „Sittsamkeit“42 und der „Scheidung“.43 Systematisch steht dagegen die „Periode“ der „Zwietracht“44 an zweiter Stelle, welche erstmals als Begriff auftaucht. Die zweite ausgelassene bzw. in die Fußnote ausgelagerte „Epoche der Mündigkeit“ nimmt eine Leerstelle ein, welche das verdoppelte Zwischenspiel von Anmerkung und Fußnote ausfüllt und damit prägnante Abweichungen konstituiert. Das gesellschaftliche Ereignis, das eher als epochal zu bezeichnen wäre, tritt im Text erst nach der forcierten Entfernung ein. Die epochale Leistung liegt darin, sich voneinander zu entfernen, während die gesellschaftliche Vereinigung zu Schutz38 Nicht etwa deshalb, weil er sein Recht nicht anerkennt, das er ihm gegenüber behauptet, sondern weil die ganze Operation des Pflanzers noch nicht als rechtlicher Vorgang wahrgenommen werden kann. Sie ist fragwürdig, insofern sie unverständlich bleibt. 39 Zitate: a. O., S. 118f. 40 A. O., S. 116: „Epoche der Mündigkeit“. 41 Vgl. a. O., S. 116f. 42 A. O., S. 113. 43 A. O., S. 119. 44 A. O., S. 118.
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und Interessengemeinschaften („Dorfschaften“)45 demgegenüber als epigonaler Nachklapp erfolgt. Erst nach Schließung des Gesellschaftsvertrages und weiteren kulturellen Errungenschaften spitzt sich der Konflikt arbeitsteiliger und damit ethnisch differenzierter Gesellschaft richtig zu. Ähnlich wie die unmittelbaren Folgen der Verweigerungsleistung arrangieren sich die anknüpfenden kulturellen Entwicklungen parataktisch. Ohne eingehende Entfaltung werden sie schlicht aufgezählt. Abweichende, daher vertauschbare „Lebensart“ mündet (ansatzweise) in arbeitsteilige Gesellschaft, bringt „Kunst“ und „Cultur“ hervor, führt „[...] zur bürgerlichen Verfassung und öffentlicher Gerechtigkeit“ („Regierung“). Die Leistungen menschlicher Vergesellschaftung sind nicht allein als künstlich, sondern als Lebenskunst zu begreifen. „Von dieser ersten und rohen Anlage konnte sich nun nach und nach alle menschliche Kunst, unter welcher die der Geselligkeit und bürgerlichen Sicherheit die ersprießlichste ist, allmählich entwickeln, […].“ Mit dieser Entwicklung beschließt der Text seinerseits eine menschheitsgeschichtliche Epoche (die zweite). Die Erzählung endet mit der Kolonialisierung, welche die (dritte) „Epoche“ der „Ungleichheit“46 einläutet. Diesem allerdings nur vorläufigen Ende folgt die nachträgliche Entfaltung des Zwistes zwischen Hirten und Ackersleuten, deren Konflikt als Paradigma des perpetuierten Krieges zwischen verfeindeten Gruppen (verschiedener Lebensart) oder Völkern überhaupt gelesen wird. Als poetologische Elemente strukturieren Vorläufigkeit und Nachtrag das nicht auszuführende Ende, das sich nur in den Bereich des Bekannten vorziehen oder exkursiv überspringen und damit auslassen lässt. Als retardierendes Moment bereiten Zivilisierung und kultureller Fortschritt auf die Katastrophe vor, die in der schwelenden Bedrohung des Krieges bereit liegt. Das in Kants Texten vermehrt anzutreffende Argument des stabilisierenden bzw. destabilisierenden Krieges (zur Kriegsgefahr) wird hier nicht näher beleuchtet. Als Ursachen des Verfalls entlarvt auch dieser Entwurf (ähnlich wie Wielands Erzählungen) Luxus und Eitelkeit. Dass Hirten von „städtischen Weiber[n]“47 in die Städte gelockt werden, bildet nur den Anfang bevölkerungspolitischer Vermischungen, die menschheitsgeschichtlich verfrüht einsetzen. Mangelnde äußere Gefahren destabilisieren das Innere der beschränkten Gesellschaft, zerstören ihre innere Disziplin und begünstigen despotische Machtergreifung. Fühlt man sich zu sicher, hemmt das die weitere Entwicklung. Ewiger Frieden eignet sich nur für die Spätphase der Menschheit. Unabhängig davon, ob man der Annahme zwingender äußerer Bedrohung zur Gewährleistung des inneren Zusammenhalts folgen mag, indiziert der Text den Kriegszustand nur mehrfach gebrochen. Während er vorerst auf den biblischen vorsintflutlichen Verfall – auf die Vermischung von Gottessöhnen und Menschentöch45 A. O., S. 119. 46 Zitate: ebd. 47 A. O., S. 120.
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tern – Bezug nimmt, überträgt Kant die illegitime Vermischung rückblickend auf den Konflikt zwischen Hirten und Ackersleuten (Nomaden und Städtern). Dabei sucht der Text die Unabhängigkeit der Hirten sowohl über die Autorität der Bibel48 als auch den philologisch-historischen (etymologischen) Verweis in der Fußnote abzusichern, die sich mit der Selbstbeschreibung eines „Hirtenvolke[s]“ auseinandersetzt. Die doppelte mythische49 sowie empirische Absicherung der Behauptung erfolgt unter abweichenden epistemischen Vorzeichen und spielt dem allgemeinverbindlichen Kriegsargument zu. An den „Hirten“ exemplifiziert der Text ein Verfahren gegensätzlicher Kontextualisierungen. In einem Zuge werden sie (über die etymologische Fußnote)50 historisch vereinzelt sowie verallgemeinert. Ihr Beispiel zeigt die Folgen illegitimer – aus temporaler Perspektive frühzeitiger – Vermischungen auf.51 Mit der Gleichschaltung von historischem Einzelphänomen (nomadischer Lebensart) und universalhistorischer Aussage gewinnt das Kriegsargument an Plastizität, so wie es bevölkerungspolitisch entschärft wird. Zwischen Empirie, Historie, Mythos und metahistoriographischem Prinzip changiert ein Exempel, dessen Status mehrdeutig bleibt. Indirekt diskreditiert die Fußnote die nomadische Lebensart. Obgleich Kant zugesteht, dass Hirten ihre mangelnde Einsicht in Eigentumsverhältnisse nicht vorzuwerfen sei, wertet er die umherschweifende Lebensart als Treulosigkeit, die keine gesellschaftliche Zugehörigkeit kennt.52 48 Es handelt sich um die Riesen bzw. Helden der Vorzeit: s. Gen 6, 4. 49 „Der literarischen Form nach handelt es sich bei Gen 3 zweifellos um eine Mythe, wenn darunter nicht nur eine denkwürdige geschichtliche Tat, sondern eine Erzählung verstanden wird, die ein Ereignis vor aller Geschichte verewigen soll, das in seinem Ausmaß das Ganze der Welt betrifft, das Verhältnis des Menschen zu Gott oder höheren Mächten einschließt und eine elementare Frage damit beantwortet, daß sie durch jenes anfängliche Ereignis ein für alle Mal vorentschieden worden sei.“ Hans Robert Jauß, „Die Mythe vom Sündenfall (Gen 3) – Interpretation im Lichte der literarischen Hermeneutik“, in: Poetik und Hermeneutik IX, a. O., S. 25-35, S. 25. Meines Erachtens gilt das gleichermaßen für die funktionale Beschreibung von Gen 6, welche die Vorstufe zur Sintflut darstellt, obgleich die Behauptung nachvollziehbar wäre, dass die ‚Historie‘ mit Gen 4 einsetzt. 50 „Die arabischen Beduinen nennen sich noch Kinder eines ehemaligen Schechs, des Stifters ihres Stammes (als Beni Haled u. d. gl.). Dieser ist keinesweges Herr über sie und kann nach seinem Kopfe keine Gewalt an ihnen ausüben.“ Kant, Muthmaßlicher Anfang, a. O., S. 120. 51 Den Teleologie-Aufsatz beschäftigt dieses Thema ebenfalls: Kant, Über den Gebrauch, in: KAA VIII, S. 157-184, vgl. mein Kapitel „Kant und die Reisebeschreibung“. 52 „Denn in einem Hirtenvolke, da niemand liegendes Eigenthum hat, welches er zurücklassen müßte, kann jede Familie, der es da mißfällt, sich sehr leicht vom Stamme absondern, um einen andern zu verstärken.“ Kant, Muthmaßlicher Anfang, a. O., S. 120.
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1.6 „Schluß-Anmerkung“ Jener „Beschluß der Geschichte“ wird abermals von einer „Schluß-Anmerkung“ flankiert, welche die drei Beispiele der langen Fußnote auf den Seiten 116ff. modifizierend aufnimmt. Sie werden mit der Theodizeefrage verknüpft, da der „denkende Mensch“ mit der „Vorsehung“53 hadere. Im Interesse der Selbstbesserung und um zur Zukunft zu ermutigen, wird dagegen Zufriedenheit mit der Vorsehung eingefordert. Der Begriff der „Vorsehung“ kommt ins Spiel, ohne genauer definiert zu werden.54 Diesmal nimmt der Text das völkerrechtliche Beispiel von Krieg und ständiger Rüstung kritisch auf, indem er die Ausbeutung von Ressourcen der Bevölkerung konzediert. Um Despotismus vorzubeugen, stelle „äußere[ ] Gefahr“ ein adäquates Mittel dar, „[…] den Oberhäuptern der Staaten diese Achtung für die Menschheit […]“55 abzunötigen. Nachdem dieses Argument unlängst entfaltet – am Beispiel der Hirten anthropologisch generalisiert sowie historisch rückgebunden – wurde, wird es ein zweites Mal ins empirische Feld geführt. Diesmal weist der Text auf die aktuelle Situation in einem Land hin, dem aufgrund seiner geographischen Lage äußere Konflikte erspart blieben: „Sina“.56 Daher wird es als unfreies Land ohne Entwicklungspotential gewertet, der Topos frühzeitiger Verschmelzung bruchlos wiederholt. Abweichend wird die Verantwortung den Menschen zugeschoben, deren kulturelle Leistungen zurückbleiben. Dass Fortschritte der Wissenschaften Erkenntnis hemmender Verzögerung unterworfen seien, überträgt der Text auf das zu kurze Leben generell. Mögliche Unzufriedenheit mit dieser Einrichtung enttarnt er hingegen als Selbstwiderspruch. Denn ein endloses Leben bedeute lediglich die „[…] Verlängerung eines mit lauter Mühseligkeiten beständig ringenden Spiels“; ein solcher Wunsch entspringe „kindische[r] Urtheilskraft“, die „[…] den Tod fürchtet, ohne das Leben zu lieben“57. Der Text nimmt das (scheinbar) biblische Argument auf, demzufolge die höhere Lebensdauer eine Zunahme an Lastern bedeute. Diese These impliziert, dass über Zeit nur als knappes endliches Gut sinnvoll zu verfügen sei, bzw. dass Sinn erst entstehe, sobald Zeit als (limitierte) Ressource zu begreifen wäre. Entzerrung (Entschleunigung) des Zeithorizontes dient keiner planvoll besetzbaren Restrukturierung, sondern artet in hedonistische Lebensentwürfe aus, die im wiedereingesetzten (zeitlosen) Naturzustand alle zu Feinden aller werden ließen.
53 Ebd. 54 Etwas, das Kant bei Kernbegriffen, die er traditionellem Bestand entnimmt, selten versäumt. 55 A. O., S. 121. 56 Ebd. 57 A. O., S. 122.
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Stärker vermittelt gestaltet sich die Wiederaufnahme temporaler Divergenzen zwischen natürlichem und bürgerlichem Leben. Nachdem die utopische Hoffnung auf ein längeres Leben durch den biblischen Mythos widerlegt und ewiger Frieden unter Verweis auf mythische sowie empirisch-historische Beispiele als verfrüht58 zurückgewiesen wurden, formuliert der Text Kritik am literarischen Modell, das sich weniger mit Utopien als mit „leere[r] Sehnsucht“ auseinandersetzt. Die Utopie der Übereinkunft des Menschen mit sich selbst richtet sich in die Vergangenheit, während die beiden anderen Wunschvorstellungen sich auf (ungewisse) Zukunft projizieren. „[D]as Schattenbild des von Dichtern so gepriesenen goldenen Zeitalters“, heißt es, „[macht] die Robinsone und die Reisen nach den Südseeinseln so reizend […]“59, da man einen friedlichen und versorgten Zustand damit assoziiere. Darin erkennt Kant weniger den Wunsch, ein genügsames Leben zu führen, an, sondern degradiert ihn zur faulen Sehnsucht. Seine einmal getroffene Entscheidung in (zur) Freiheit könne der Mensch nicht rückgängig machen. Die erwartbare Argumentation umschifft indes das im ersten Beispiel forcierte Thema reproduktiver Ungleichzeitigkeit. Stattdessen wird es zur Frage nach der Bereitschaft, sinnvolle Handlungen vorzunehmen, d. h. zu arbeiten, überführt bzw. überformt.60 Literarisches Modell (Robinsonade) und empirischer Bericht (Reisebeschreibung) werden gleichzeitig aufgerufen, obwohl deren Differenz andernorts anerkannt (wenn auch nicht definitiv festgelegt) wurde. Zu Kants ambivalenter Affinität der Reisebeschreibung gegenüber vgl. das entsprechende Kapitel dieser Arbeit. Nach dem modifizierenden Wiederaufruf, dem Durchexerzieren der drei Beispiele, folgt die abschließende Conclusio, welche sich der Rezeption und Zielsetzung des vorliegenden Textes widmet. Sein Zweck liegt in der Didaxe, er dient der Erbauung, welche die Selbstverantwortung des Lesers stärken soll. Um sie zu gewährleisten, entwirft er ein narratives Telos, das fundamental vom literarischen Vorbild der Bibel abweicht. Im Dienste von Selbstbestärkung und Theodizee kehrt sich die biblische Erzählung um. Die Erblichkeit der Sünde wird negiert, Akzeptanz der Vorsehung gefordert. Indem sie in den Verantwortungsbereich eines jeden Einzelnen verwiesen wird, tilgt sich das Moment der Schuld aus dem anthropologischen Modell. Seine Schuld erbt man nicht, als Eigenverantwortlichkeit modifiziert läuft sie untergründig mit. Was die Theodizee betrifft, sind Übel keinesfalls als Bestrafung zu werten, welche die eigene oder die Schuld der Vorfahren sühne. Übel ergeben sich vielmehr zwangsläufig aus fehlgeleiteten Handlungen. Schuld bildet eine (virtuelle) anthro58 Dabei ist wichtig, dass das Tabu, das durch den vorzeitigen Frieden gebrochen wird, in der Bevölkerungsvermischung besteht. 59 Ebd. 60 Vgl. dazu die widersprüchliche Arbeitsanthropologie im Aufsatz zur Teleologie (im Kap. „Kant und die Reisebeschreibung“).
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pologische Konstante, da jeder Mensch seine Freiheit gleichermaßen ausnutzt. Grundsätzlich lässt sich die Vernunft missbrauchen, sie ermöglicht jedoch auch adäquaten Gebrauch, der Mitwirkung am Fortschritt einschließt. Somit kehrt sich die Ausrichtung der biblischen Erzählung des „[…] Gange[s] menschlicher Dinge im Ganzen, der nicht vom Guten anhebend zum Bösen fortgeht, sondern sich vom Schlechtern zum Besseren allmählig entwickelt“, um.61 Die moralische Überfrachtung des Kommentars, der Versuch, sich unbefangen in betroffene Parteien hineinzuversetzen und ihre Positionen gegeneinander abzuwägen, setzt sich über das wandlungsreiche Bühnengeschehen hinweg und sucht, sich kontrolliert und rational zu positionieren. Worin besteht nun die Funktion der „Schluß-Anmerkung“?62 Sie setzt am (vorläufigen) Ende der biblischen Erzählung ein. Sie beschließt den discours des Textes, während auf Ebene der histoire die Sintflut folgen müsste. Die „SchlußAnmerkung“ adaptiert den perpetuierten Zustand mangelnder kultureller Entwicklung vor der Sintflut. Jedoch fungiert die anzitierte ausgelassene Sintflut nicht als implizite Warnung. Vielmehr stellt sie (wie die vorangehende Fußnote) einen aktuellen Bezug – zum bürgerlichen Leben („uns“)63 und zum zur Selbstverantwortung ermahnten sowie erbauten Leser – her. Wieder schließt sich „ein[ ] große[r] Sprung“64 an, der als notwendige Auslassung die temporale Lücke zwischen postlapsarischem sowie prädiluvialem Zeitalter und zeitgenössischer Gegenwart aufhebt. Da kollektivierte Erb-Schuld ausgeklammert wurde, bleibt die Bestrafung eine Leerstelle. Obgleich die zugehörige Bibelstelle angezeigt wird, entfaltet der Text sie weder narrativ noch interpretierend. Das Ende der Bibelauslegung, die einzelne Kapitel und Stellen der Bücher Mose aufnimmt, lässt den Menschen frei: befreit ihn von der Übermacht vernünftiger Wesen (einschließlich Gott) und von einer Vorgeschichte, die ein unentrinnbares Schicksal für die Nachwelt bedeutet. Die Bibelzitate werden mitunter gewaltsam in die vorliegende Erzählung integriert. Insofern die Vertreibung aus dem Paradies positiv als Entlassung aus dem Mutterschoß der Natur umgedeutet wird, welche sich zudem als intellektuelle Leistung des Menschen entpuppt, findet eine Reallegorisierung der Bibel statt. Nicht die Bibel selbst bildet die Allegorie, sondern sie offeriert eine materialreich fundierte Erzählung, der eine (neue) allegorische Bedeutung beigelegt oder eingeschrieben werden kann. Daher ist der Interpretation Franz Gniffkes nicht zuzustimmen, wenn er resümiert: „So werden seine Mutmaßungen, wie bei einem Systematiker nicht anders zu erwarten,
61 Kant, Muthmaßlicher Anfang, a. O., S. 123, vgl. auch S. 115. 62 A. O., S. 120. 63 A. O., S. 122. 64 A. O., S. 118.
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zur Allegorese der Erzählung von Paradies und Sündenfall.“65 Der Bibelausschnitt enthält im Gegenteil den Klartext, eine simple anschlussfähige Erzählung, die Kant allegorisch umschreibt. Die Einsetzung einer unabhängigen „Regierung“66, einer Rechtsform, wird anhand einer Bibelstelle belegt, die sich mit der „Rächung“ von „Gewaltthätigkeiten“ befasst.67 Als unabhängige, nicht adressierbare Gesetzes-Macht, die ihrerseits niemandem unterworfen ist, kann allein die passivische Wendung (es) „soll“68 eingespannt werden. Von der Konstitution eines (patriarchalen) Rechtssystems mag allegorisch die Rede sein, insofern ein überlegener Mann zwei Untergebene auf etwas hinweist: Lamech spricht zu seinen Frauen und repetiert damit die göttliche Ordnung. Als Allegorie gestaltet sich ferner die Vermischung von Hirten mit „städtischen Weiber[n]“.69 Die zitierte Bibelstelle (eigentlich Gen 4, 6.2) greift die Ehen zwischen Gottessöhnen und Menschentöchtern auf. Aufschluss gewährt die Stelle unter Berücksichtigung der angezweifelten Bevorzugung der Hirten. Aus der Vermischung resultiert in der Bibel kein Verfallsszenario. Sondern die Ehen zwischen Gottes Gefolge und Menschentöchtern (nicht umstandslos mit Hirten und Städtern gleichzusetzen) bringen eine besondere Klasse von Wesen hervor, die sich positiv als „Riesen“ bzw. „Helden“ auszeichnen.70 Nur für diese Bibelepisode nimmt Kants Text eine Allegorese vor. Die der Bibel zugeschriebene Kritik an der „[...] Zusammenschmelzung der Völker in eine Gesellschaft [...]“71 als Ursache inneren und äußeren Verfalls findet sich dort gerade nicht. Vielmehr parallelisiert die Bibel die Episoden „Gottessöhne und Menschentöchter“ sowie Gottes Enttäuschung über seine Schöpfung, ohne beide in ein Ursache-Wirkungsverhältnis zu übersetzen. Sie erzählt kurze, allenfalls lose zusammenhängende Ausschnitte. Der liberalen Deutung des Sündenfalls als Befreiung steht ein konservatives bevölkerungspolitisches Modell gegenüber, das in der Bibel keine Entsprechung findet. Die aktualisierende „Schluß-Anmerkung“ nimmt vom Urtext
65 Gniffke, Gegenwärtigkeit des Mythos, a. O., S. 597. 66 Kant, Muthmaßlicher Anfang, a. O., S. 119. 67 Gen 4, 23.24, (4, 15). Kants Nomenklatur ist teilweise irreführend, er gibt hier V. 23, 24 an. 68 Gen 4, 23.24. 69 Kant, Muthmaßlicher Anfang, a. O., S. 120, angegeben ist Gen V. 2. 70 Eine Art Titanen: Gen 6, 2, 4. Noch schwieriger gestaltet sich das Verhältnis, wenn man versucht, anhand der angegebenen Bibelstelle 6, 4 zu bestimmen, ob diese Riesen (Nomaden) allein Gott oder einem weltlichen Oberhaupt unterworfen sind: besonders dann, wenn man die Fußnote, Kant, Muthmaßlicher Anfang, a. O., S. 120, mit einbezieht. 71 A. O., S. 121.
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Abstand, ruft die Sintflut als Verfallsszenario nochmals auf – und richtet den Fokus auf den törichten Wunsch einer Verlängerung des individuellen Lebens. Die Struktur des Textes „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ wird maßgeblich durch Anhängsel und Einfügungen geprägt. In welcher Beziehung stehen Anmerkung (Zwischenspiel) und Anmerkung zur Anmerkung (in der Fußnote) als Spiel im Spiel (im Spiel) und die Schluß-Anmerkung (als aktualisierendes Nachspiel), das die Beispiele der Fußnote rekapituliert, zueinander? Jene Ausflüge in Anmerkungen und Fußnoten als Zwischenspiele oder Nachspiele zu qualifizieren, rechtfertigt sich insofern, als der Text extensiv mit der attributiven Funktion spielt, sie über mehrere Ebenen hinweg weitertreibt und fast bis zum Absurden ausreizt. Der verschachtelte Text spielt sich zunehmend auf den Unterebenen ab, sodass sie die Strukturierung und Steuerung des Haupttextes übernehmen. Insofern trägt der Text selbst theatrale Züge, die Anmerkungen vollziehen performativ dessen Leitung. Der Topos frühzeitiger illegitimer Vermischung sowie das Argument stabilisierender Rüstung werden durchgängig auf mehreren Ebenen aufgerufen, mit heterogenen Belegen versehen, da sie dem Text, der als Urkunde, als Karte, dient, nicht ohne Weiteres zu entnehmen sind. Am Ende mündet das attributive Spiel in die Parodie, insofern die ausgesuchten Beispiele das zu Illustrierende durch weitere Bild-Varianten, kurze Fabeln, mehr zuspitzen als veranschaulichen. Wofür sie als Beispiele eintreten, lässt sich immer schlechter angeben, wenn sie nicht selbst zum Performativ fabulierenden Schreibens geraten. Über die Karte der (kulturell vertrauten) Bibel hinaus reizt dieses Schreiben das Exotische, Außereuropäische als Gegenstand, an dem sich, zumindest exemplarisch, noch etwas Unbekanntes entdecken lässt – ein Wunsch, den das Textexperiment (verstärkt im folgenden Aufsatz) in eine sich alles aneignende Philologie überführt. Das zeitlich unzugängliche Ende verschiebt sich dann an extratellurische sowie räumliche Grenzen Europäern noch Obdach gewährender Gasthäuser. Die Reallegorisierung des Anfangs durch Bibel und Karte erkundet in der Parodie anekdotisch die Enden der Welt. Der kontrollierte vernünftige Kommentar des Geschehens verliert sich (wie gleich zu verfolgen) in die Anmerkungsstruktur der Einfälle eines Hanswurst.
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2. AUSBLICK : WIE MAN ETWAS BEENDET . K ANTS D AS E NDE ALLER D INGE Als Denkfigur betrifft „Das Ende aller Dinge“ (1794) ein zeitlogisches Problem. In Kants gleichnamigen Text geht es um die Frage, wie ein bzw. das Ende überhaupt zu denken ist. Ohne Bezugnahme auf die Theodizee scheint diese Frage einerseits kaum diskutierbar, andererseits kristallisieren sich ihre vielfältigen Aspekte und konstitutiven Elemente angesichts signifikanter Präsentationstaktiken heraus. Was dies im Einzelnen bedeutet, stelle ich nachfolgend exemplarisch dar. Zunächst arbeitet Kants Text die paradoxale Struktur einer Rede über das Ende heraus, welche es müßig erscheinen lässt, über das Ende zu reflektieren oder zu kommunizieren. Dennoch nimmt er das Projekt dieser Rede in Angriff, indem er sich an den Darstellungen eines Endes abarbeitet. Als „Zeitwesen“1 ist dem Menschen das Ende konstitutiv unzugänglich, da Zeit als reine Form der Anschauung seinen (wahrnehmenden) Weltzugang überhaupt erst generiert. Daher ist eine zeitlose Welt für den Menschen undenkbar. Selbst als mögliche Welt bliebe sie eine inhaltsleere Vorstellung, über die rein gar nichts zu wissen ist. Seinem zeitlichen Weltverhältnis entkommt der Mensch nie, wenngleich die These, „das Ende aller Dinge“ bedeute das Ende der Zeit nachvollziehbar ist – und dies nicht allein epistemisch, sondern spirituell.2 „Dieser Ausdruck würde in der That nichts sagen, wenn hier unter der Ewigkeit eine ins Unendliche fortgehende Zeit verstanden werden sollte; denn da käme ja der Mensch nie aus der Zeit heraus, sondern ginge nur immer aus einer in die andre fort. […] Indem wir nun den Übergang aus der Zeit in die Ewigkeit […], verfolgen, stoßen wir auf das Ende aller Dinge als Zeitwesen und als Gegenstände möglicher Erfahrung: […].“3
1
Immanuel Kant, Das Ende aller Dinge [nachfolgend: Das Ende], in: KAA VIII, S. 325-
2
Das Ende der Zeit stellt keine reflektierte Vorstellung dar, derzufolge der Mensch von
339, S. 327. seiner temporalen Konditionierung Kenntnis hätte und bescheiden anerkennt, dass Zeit und Welt für ihn voneinander abhängen, das Ende des einen oder anderen Moments somit das epistemologische Ende für ihn bedeutet. Es geht nicht allein um die Selbstreflexion über eine epistemische Beschränkung, sondern um die Vorstellung, dass dieses Ende (der Dinge) das Tor zu einer anderen Dimension öffnet. Dem Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögen bleibt diese Dimension aufgrund seiner Konditionierung freilich verschlossen. 3
Ebd.
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Ereignis oder Geschehen bedeuten „Zeitfortsetzung“. Das undurchführbare Gedankenexperiment besteht darin, sich für die Ewigkeit nichts vorzustellen.4 Nun nimmt der Text verschiedene Figuren des Endes auf, denen ihre Vorläufigkeit und der Hang zur Dramatik gemein sind. Bevor die Ewigkeit beginnen5 kann, müssen abschließend noch mehrere Ereignisse erfolgen, die das endgültige Ende vorbereiten. In diesem Zusammenhang zitiert der Text die eschatologische Vorstellung vom „jüngste[n] Gericht“. Jene letzte Instanz kontaminieren jedoch weitaus dramatischere Vorstellungen vom Weltenende („Abfallen der Sterne vom Himmel“, „Einsturz dieses Himmels selbst“), schreckliche Ereignisse, die das Elend eines ohnehin beschlossenen Endes nur noch verlängern. Obgleich Kant festhält, dass all jene Figuren nur der (physikalischen) „Versinnlichung“6 moralischer Folgen des jüngsten Tages dienen, welche theoretisch nicht greifbar sind, entfaltet er den Katalog dieser Figuren7 exzessiv. Nicht allein symbolisch, sondern auch auf Ereignisebene erweist sich der jüngste Tag als überladen. Die Ereignisse nach dem jüngsten Tag gehören (als seine Folgen) eigentlich diesem Tag selbst an, da die zeitliche Klammer mit ihm geschlossen wird. Während ein Teil des Aufsatzes bei seiner Präsentation des Endes durch apokalyptische Figuren deskriptiv verfährt, bezieht der andere mit der Entgegensetzung von Dualisten 4
Nebenbei bemerkt, zielt Kants Zeitbegriff hier auf kein Kontinuum ab. Wenn es heißt, „Tage sind gleichsam Kinder der Zeit, weil der folgende Tag mit dem, was er enthält, das Erzeugniß des vorigen ist.“ (Zitate, a. O., S. 328), so ist das nicht kausal oder handlungstheoretisch zu verstehen, sondern generativ gemeint. Vgl. Herders Reflexionen zur Zeit in der „Metakritik“. Johann Gottfried Herder, Verstand und Erfahrung. Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft [nachfolgend: Metakritik], in: FHA 8: Schriften zu Literatur und Philosophie 1792-1800, hg. v. Hans Dietrich Irmscher u. Martin Bollacher, Frankfurt am Main, 1998, S. 303-640, S. 357-366, S. 362: „Veränderungen subsumiere ich unter den Begriff der Zeit, sofern ich ihre Folge bemerke“. Herder versteht seine Analyse des Zeitbegriffs als „genetische[ ] Herleitung“ (S. 361), die eine individualistische Zeitauffassung vertritt (vgl. S. 360f.). Damit ist nicht etwa gesichert, dass der eine auf den anderen Tag folgt (dass überhaupt etwas folgt). Vor allem liegt nicht vorher fest, was passieren wird. Dass die Zeit weiter fortschreitet, muss sich an jedem Tag neu beweisen. Eine solch realistische präsentistische Zeitvorstellung steht – da sie nichts prophezeit – dem modernen Umgang mit Zeit, der kalendarischen Verfügungsgewalt und fetischistischen Planbarkeit, diametral entgegen.
5
Ein zeitlicher Begriff, der für die Ewigkeit nichts taugt.
6
Zitate: Kant, Das Ende, a. O., S. 328.
7
Diese drei Figuren bezeichnet Kant selbst als das „natürliche“, „mystische (übernatürliche)“, „widernatürliche (verkehrte) Ende“ (a. O., S. 333). Alle drei Enden enthalten ein minimales Narrativ, dem eine theoretische Position und (oder) ein kultureller Kontext entspricht (eine bestimmte Religion, ein bestimmtes Land).
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und Unitariern Stellung zur Theodizee.8 Das dualistische System wird indirekt diskreditiert, insofern selbst die Schöpfung eines einzigen Menschen bei ewiger Verdammnis als sinnlos ausgewiesen wird, die Schöpfung demnach irrational verführe. Am Ende des Aufsatzes setzt die implizite Kritik am religiösen (dogmatischen) System die Liebenswürdigkeit9 des Christentums spiegelbildlich entgegen. Aufgrund seines intrinsischen Wertes und seiner welthistorischen Tragweite ist das Christentum dazu angehalten, Irrationalität zu vermeiden. Speziell adressiert jene Kritik die Instrumente der Belohnung und Strafe, die zugunsten „liberale[r] Denkungsart“10 zwischen Menschen getilgt werden sollen. 2.1 Kulturaustausch? – und wieder eine Fußnote Der Text „Das Ende aller Dinge“ weist zwei Fußnoten auf, welche der Fußnote zu den „Beduinen“11 im Aufsatz „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ formal und funktional ähneln. Thematisch dominieren Herkunftsgeschichten diese Fußnoten. Sie beziehen sich auf Ursprung oder Herkunft einer Bevölkerungsgruppe bzw. auf deren kollektiven Mythos. Im Rahmen der Fußnoten betätigt Kant sich als Philologe, Sprach- und Altertumsforscher sowie Etymologe.12 Die empirische sowie historische Aufspaltung der Perspektiven steht im Dienste anthropologischer Verallgemeinerung. In der ersten Fußnote verknüpft der Text die etymologische Annäherung mit dem erinnerten Beleg aus einer Reisebeschreibung. Der Klang zweier Wörter (im Text freilich nur schriftlich präsent), welche die Namen des guten und des bösen Prinzips der „altpersischen Religion“ repräsentieren, bewegt zu folgenden Assoziationen: „Ein solches System war in der altpersischen Religion (des Zoroaster) auf der Voraussetzung zweier im ewigen Kampf mit einander begriffenen Urwesen, dem guten Princip, Ormuzd, und dem bösen, Ahriman, gegründet. – Sonderbar ist es: daß die Sprache zweier weit von einander, noch weiter aber von dem jetzigen Sitz der deutschen Sprache entfernten Länder in der Benennung dieser beiden Urwesen deutsch ist. Ich erinnere mich bei Sonnerat gelesen zu haben, daß in Ava (dem Lande der Burachmanen) das gute Princip Godeman (welches Wort in dem Namen Darius Codomannus auch zu liegen scheint) genannt werde; und da das Wort
8
A. O., S. 328f.
9
A. O., S. 337.
10 A. O., S. 338. 11 Kant, Muthmaßlicher Anfang, a. O., S. 120. 12 Während er sich in der Teleologie-Schrift auch als Ethnologe betätigt. Innerhalb der Fußnoten geht der Text zum plaudernden Erzählton über.
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Ahriman mit dem arge Mann sehr gleich lautet, das jetzige Persische auch eine Menge ursprünglich deutscher Wörter enthält: […].“13
Getarnt als unschuldige Anmerkung zum dualistischen Prinzip, entwirft die Fußnote eine Analogie des Gleichklangs, die sie durch den Hinweis auf eine Quelle wissenschaftlich (ethnologisch) zu befestigen sucht. Die Wesenszüge zoroastrischer Religion werden schlichtweg gesetzt. Lediglich die brahmanische Religion betreffend weist Kant bekräftigend auf die Reisebeschreibung des französischen Naturforschers Sonnerat hin. Jener entnimmt er einzig die Namen: Die Deutung des Gleichklangs ist Ergebnis eigener Interpretation.14 Selbst wenn man sich der entfalteten Etymologie anschließt, bleibt die zu heuristischen Zwecken angelegte Schlussfolgerung fragwürdig: Der „Leitfaden der Sprachverwandtschaft“ solle nun dazu dienen, „[…] dem Ursprunge der jetzigen Religionsbegriffe mancher Völker nachzugehn“.15 Die szientifische Fiktion besteht darin, man könne nach diesem Modell vergleichender, vom Gleichklang abgeleiteter Sprachwissenschaft vergleichende Religionswissenschaft betreiben. Die Sprachwissenschaft nimmt hilfswissenschaftliche Funktion ein, wenn es um tiefgründige Fragestellungen geht. Dennoch hat der Text die Ursprungsfrage hier ohne weitergehende Altertumsforschung bereits geklärt.16 Im Kontrast dazu präsentiert die dann folgende Fußnote „widrige[ ], zum Theil ekelhafte[ ] Gleichnisse[ ]“, das irdische Dasein des Menschen „recht verächtlich 13 Kant, Das Ende, a. O., S. 328f. Ich erinnere daran, wie skrupellos Kant zuweilen Reisebeschreibungen zitiert. Mitunter streut er den Hinweis ein, dass er aus dem Gedächtnis, daher eventuell unrichtig, zitiere. Kant, Über den Gebrauch, a. O., S. 177. 14 Welche durch ein Semikolon abgetrennt wird. Man überliest die Unzusammengehörigkeit beider Satzteile recht schnell. Jene Deutung findet sich nicht bei Sonnerat, der Indien als Wiege aller Religionen ansah. Ihm würde die Etymologie allenfalls erläutern, woher die Begriffe im Deutschen kämen (sofern ihn diese Frage als Franzosen interessierte). Vgl. Kant, KAA, Anm. Bde. XI-IX, Bd. VIII, S. 505. Für Kants Argument scheint die Orientierung am Gleichklang schon auszureichen. Vgl. Pierre Sonnerat, Reise nach Ostindien, und China, in den Jahren 1774-1781 nebst dessen Beobachtungen über Pegu, Madagascar, das Cap, die Inseln France und Bourbon, die Maldiven, Ceylon, Malacca, die Philippinen und Molucken, Aus dem Französischen. Leipzig, bey Wilhelm Gottlob Sommer, 1783, S. 300. http://digital.bibliothek.uni-halle.de/hd/content/pageview/1312698; im franz. Original „Godéman“, vgl. https://fedora.phaidra.univie.ac.at/fedora/get/o:100364/ bdef:Asset/view# (Sonnerat, Voyage aux Indes Orientales et la Chine, [...], Paris, 1782, S. 46); 5.2.18. 15 Kant, Das Ende, a. O., S. 329. 16 „[…] in der Benennung dieser beiden Urwesen deutsch ist.“ A. O., S. 328f. Zu vermuten stünde, dass die einlinige Herkunftsgeschichte mit der emphatisch vertretenen Rolle des Christentums zusammenhängt.
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vorzustellen“17, insofern dessen moralische Anlage negativ bewertet wird.18 Metaphorisch entfalten jene Gleichnisse die Atmosphäre bestimmter Orte auf Erden: „Wirthshaus“, „Zuchthaus“, „Tollhaus“ und „Kloak“. Innerhalb der Aufzählung lassen sich Brüche auf diversen Ebenen ausmachen. Die drei ersten Orte zählt Kant zu den Einfällen (selbsternannter) Philosophen und bindet sie kulturgeschichtlich zurück. Das „Wirthshaus“, durch sein Personal als „Karavanserai“ identifiziert, gerät zum konkreten sowie metaphorischen Aufenthalt des „Derwisch[s]“: dem Anhänger einer muslimisch-asketischen Ordensgemeinschaft (Sufi), der aufgrund seiner Bescheidenheit und Demut dem eigenen Dasein (Kants Darstellung zufolge) wenig Bedeutung beimisst und das Leben als Durchgangsstadium ansieht. Als „Zuchthaus“ interpretieren „[…] die brahmanischen, tibetanischen und andre Weisen des Orients“, zu denen Kant überraschend „sogar Plato“ zählt, den Aufenthalt auf Erden, sofern himmlische Geister dorthin verbannt werden, um ihre Strafe als Tier- oder Menschenseele zu verbüßen und von ihren Verfehlungen gereinigt zu werden. Über die Gedanken von unsterblicher Seele, Palingenese (Seelenwanderung) und Reinkarnation verknüpft der Text diverse Kulturkreise sowie Religionen, aber auch historische Epochen miteinander. Er arbeitet anthropologische Grundbestände von Religiosität heraus, schafft die Bedingungen, um der Bibel seine allegorisierende Lektüre angedeihen zu lassen. Im Gleichnis steht der Mensch nicht mehr im Mittelpunkt. Er bildet ein Durchgangsstadium für die Rehabilitierung höherer Geister, verliert seine Funktion, sobald deren Wiedereingliederung geglückt ist. Das dritte Gleichnis konzentriert sich auf das „Tollhaus“, in dem jeder sich selbst und anderen schadet („Herzeleid zufügt“), und dies als ehrenvolle Aufgabe missversteht. Obwohl er den betroffenen Kulturkreis ausspart, stiftet der Text einen kulturgeschichtlichen Kontext. Über die Kritik an der Diskrepanz zwischen (projektierter) Funktion des Tollhauses und der Wirklichkeit der Anstalt wird die zeitgenössische Gegenwart aufgerufen, die unter dem Vorwand zu helfen, anderen Menschen Schaden zufügt. Wo der Insasse „[...] seine eignen Absichten vernichtet“, verstärkt die externe Kontrolle sein lediglich emotional zu adressierendes Leiden („Herzeleid“) noch.19 Allenfalls ironisch ruft das vierte Beispiel die behausende Funktion auf. Dient der Abschluss dieser Reihe also der durchgängigen Ironisierung der Gleichnisse? Weshalb nimmt die Fußnote dann über zwei Drittel des Seitenspiegels ein? Das Gleichnis vom „Kloak“ erfährt eine kulturgeschichtliche Zuschreibung, welche die genaue Situierung des dort zitierten Mythos nicht erlaubt. Dabei billigt der Text 17 A. O., S. 331. 18 Diese Gleichnisse gehören zur Darstellung des „(verkehrte[n]) Ende[s]“ der Welt. A. O., S. 333. 19 Ein Kritiker der Psychiatrie um 1800, der ihren Begriff selbst prägte, Johann Christian Reil, pflegte seit 1782 intensiven Austausch mit Kants Freund Marcus Herz.
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dem Gleichnis Originalität zu, die der Mythos aufweise, insofern er die Erzählung vom Sündenfall umschreibt. Wie verschiebt sich dessen Intervention jedoch dadurch, dass der „originell[e]“ „Einfall“ einem „persischen Witzling“ zukommt? Die Verbannung aus dem Paradies hängt auch hier vom Speiseverbot ab. Anders als in der biblischen Erzählung fördert der verbotene Genuss nicht Weisheit oder Erkenntnis, sondern verursacht Verdauungsstörungen. Die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies, das im himmlischen Raum situiert wird, ist eine Angelegenheit jenseitiger Hygiene. Himmlische Wesen können „reizende“ Früchte „ausschwitzen“ und benötigen keinen Abort. Sobald der Genuss jedoch leibliche Folgen zeitigt, werden „unsre ersten Eltern“ an den „‚[...] Abtritt für das ganze Universum,‘“ verwiesen, woraus „[…] nun das menschliche Geschlecht auf Erden entsprungen [sei].“20 Dem zweiten Gleichnis entsprechend wohnen moralisch ernstzunehmende Wesen nicht auf Erden, die Erde stellt die Deponie des Weltraums zur Verfügung. Inwieweit ist die Kette von Gleichnissen ernst zu nehmen – wenngleich ihr Erzähler, der vorgibt, nicht deren Autor zu sein, sie indirekt ablehnt? Bei den ersten beiden Varianten sowie dem letzten Beispiel handelt es sich um orientalisierende Ausflüge. Auch hier verstricken sich Beispiele, die dazu dienen, kulturelle Perspektiven geographisch sowie historisch zu erweitern, mit universalistischer Anthropologie, welche elementare Momente der Menschheit festzusetzen sucht. Jene reduzierten Typologien präsentiert der Text in Form kurzer referierter Erzählungen. Die „originell[e]“ Erzählung korrespondiert auffallend mit dem biblischen Sündenfall. Die didaktische Funktion des Gleichnisses pervertierend, wird kaum mehr angegeben, wofür die Gleichnisse gleichnishaft eintreten. Selbst als Negativbeispiele stiften sie keinen didaktischen Bezug, sondern dienen als Fundus desorganisierten, zufälligen und vielleicht überflüssigen Wissens. Dieses Wissen interessiert sich für Orte des Durchgangs, des Verschlusses (der Verbannung): Orte, die der aufzuklärende Mensch eher meiden sollte. Dennoch führen die Fußnoten zu diesen Orten, wagen Ausflüge über rationales Argument und abendländisch vertrautes Narrativ (Terrain) hinaus. Zwar ließe auch minutiöse Altertumsforschung an dieser Stelle kein fragloses Narrativ der Abkunft generieren – eine Gewissheit, die das etymologische Beispiel einfordert. Originalität wird auf ein Original verwiesen, da die originäre Quelle unbenannt bleibt. Die Ironie der Geschichte liegt nicht in der Banalisierung oder Entwürdigung der Sündenfall-Erzählung, sondern in deren kulturgeschichtlicher Funktionalisierung. Als wäre die Fußnote als Kommentar zur Auslegungspraxis des „Muthmaßliche[n] Anfang[s]“ lesbar, formuliert sie folgende intertextuelle Regel: Aus einer Erzählung lassen sich je nach Kontext oder kulturellem Bedürfnis alle anderen Geschichten generieren (selbst wenn diese sich dem Verdikt philosophi20 Zitate: a. O., S. 331.
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scher Vernunft unterordnen). Die der Bibelerzählung entlockte Vernünftigkeit ist unter der Maßgabe, dass sie immer schon vernünftigen Grundbestand enthielte, auf alle anderen Geschichten übertragbar. Aus dieser Perspektive bleibt die Frage nach dem Ursprung Makulatur. „Der interessante Fall ist der Grenzfall: daß Fall und Norm dabei sozusagen ihre Stellen wechseln, daß bei der Applikation der Fall zur Norm und die Norm zum Fall wird.“ Jene von Odo Marquard beschriebene „hermeneutische Inversion“21 scheint in Bezug auf Kants Reallegorisierung der biblischen Geschichte zutreffend. Wie der Blick auf die kulturgeschichtliche Fußnote offenbart, verschieben sich auch hier die Plätze von Norm und Fall, von philosophischem Modell und Exempel. Diese Struktur reproduziert die Funktionsweise anthropologischer Beispiele. Die Reallegorisierung der Bibel sucht das Geschehen auf die Bühne zu holen, klare (parataktische) Zeitstrukturen in Schritten (Akten) ablaufen zu lassen. Wo epochale Brüche eintreten, verschiebt sich der Text vom Ablauf in die Anmerkungen (Zwischenspiele), die Brückenschläge (bis in die Gegenwart) anbieten. Sobald das Zeitmodell unnahbar wird, verlieren auch die Anmerkungen und Fußnoten ihr allegorisches Potential, Vorgänge in simplen Gesten auszuagieren. Obwohl am Rande, am Ende von „Gleichnisse[n]“22 die Rede ist, lösen sie ihr Vermittlungsversprechen immer unzuverlässiger ein, da sie das Tertium Comparationis, den Aspekt, unter dem verglichen wird, nicht mehr angeben.
21 Odo Marquard, „Schwacher Trost“, in: Poetik und Hermeneutik IX, a. O., S. 117-123, S. 122. Diese Inversion findet jedoch nicht zwischen interpretierendem Subjekt und Interpretament (Objekt, Text) statt, sondern zwischen den Texten. 22 Kant, Das Ende, a. O., S. 331.
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3. C HRISTOPH M ARTIN W IELANDS B EYTRÄGE GEHEIMEN G ESCHICHTE DER M ENSCHHEIT . D ESTRUIERTE ANFANGSUTOPIE ? K OXKOX UND K IKEQUETZEL
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ZUR
3.1 Die Metapher des Sehens: Sehen und philosophische Erkenntnis Innerhalb der Philosophiegeschichte wurde die Metapher des Sehens umfassend strapaziert. Seit Platons Höhlengleichnis avancierte sie zur gebräuchlichsten Metaphern philosophischer Erkenntnis1 – wenn sie deren epistemisches Ideal nicht über den visuellen Zugriff auf den Brenn-Punkt bringen half.2 In Gegenüberstellung zum Schein bezieht sich das Sehen auf eine Erkenntnis, welche höheren Wahrheitsgehalt beansprucht und einen Gegenpol zur alltäglichen (augenscheinlichen) Lebenswelt ausbilden soll. Dabei irritiert, dass das körperliche Sehen gerade der Sphäre des Alltäglichen entstammt, als edlerer Sinn jedoch alle unteren animalischen Sinne diskreditiert. Insofern der Sehsinn im Verbund mit dem aufrechten Gang einen distanzierenden Überblick und die freie Sicht gen Himmel erlaubt, erhebe er den Menschen Evolutionstheorie und philosophischer Anthropologie zufolge über das Tier. Am Schnittpunkt zwischen Sehen und kaum mehr Sichtbarem, das den Raum zum Erahnten öffnet, bricht die mythisch-religiöse Dimension auf.3 Trotz Hochkonjunk-
1
Vgl. Ralf Konersmann, Lebendige Spiegel. Die Metapher des Subjekts, Frankfurt am Main, 1991, S. 75-78.
2
Richard Rorty, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt am Main, 1987, S. 22. Die optische Präferenz projiziert sich umgehend auf die Spiegelmetapher.
3
In Ablösung von ihrer eschatologischen Dimension treten Erfahrungsraum und Erwartungshorizont seit der Neuzeit, besonders in der Geschichtsphilosophie der Aufklärung, zunehmend auseinander. Unter Bezug auf Kant konstatiert Reinhart Koselleck, dass Geschichte zum einmaligen Phänomen wird, ihren primär exemplarischen Charakter verliert, und damit eine offene (fortschrittsaffine) Zukunft erschließt (S. 364-366). Als metahistorische, anthropologisch gültige Kategorien reflektieren auch die mit Anfang und Ende befassten Texte Kants und Wielands (die Interferenz von) Erfahrung und Erwartung, wenn es um die Vorhersagbarkeit der Zukunft geht. Nicht selten inszenieren sie – wie auch Herders Frühschrift – den rhetorischen Dialog zwischen beiden Zeitstufen als Reaktion darauf, „daß die Präsenz der Vergangenheit eine andere ist als die Präsenz der Zukunft.“ (S. 356) Die Ironisierung und der Verschleiß der optischen Metaphorik ließe sich (an Koselleck anknüpfend) im Falle Wielands auf die Erkenntnis der Mehrschichtigkeit (S. 367) und Ungleichzeitigkeit (S. 362) historischer Zeiten projizieren, die die Unmittelbarkeit optischer Erkenntnis aufhebt. Reinhart Koselleck, ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwar-
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tur der Sichtmetapher im (späten) 18. Jahrhundert sind Verschleißerscheinungen (an) der Metapher zu beobachten. Nicht allein ihre Verwendung innerhalb diverser Theorien und Schulen mag Zweifel an ihrer philosophischen Nobilität wecken. Die Variabilität und Austauschbarkeit der Metapher wird von zeitgenössischen Gelehrten zunehmend ironisch auf die Spitze getrieben. Christoph Martin Wielands spielerische, experimentelle und hochironische, daher dem Rokkoko zugerechnete Schriften, welche sich mit dem Thema Menschheitsgeschichte befassen, bestehen aus vielschichtigen, in ihrer Gattung differierenden Einzeltexten. Unter dem Titel „Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit“ zusammengeführt, nutzen sie die Metapher des Sehens ausnehmend häufig in ihren historiographischen Überlegungen. Dabei rückt die Forderung, nur richtig hinzusehen, um die natürlichen Vorgänge der Welt angemessen wahrzunehmen und zu deuten, in den Vordergrund. Damit spielt die Metapher keineswegs auf ihre transzendentale Dimension an. Obgleich es um keine höhere Erkenntnis geht, so doch um wahrhaftes Erkennen.4 Einerseits rührt diese Auffassung vom konkreten Erkenntnisgegenstand her, da es sich vorrangig um Begebenheiten der Geschichte handelt. Andererseits wäre zu berücksichtigen, dass Geschichte als Disziplin innerhalb der Philosophie zum Kernbestand transzendental entfremdeter „Sophisterey“5 gehört, da der Gegenstand seiner individuellen Eigentümlichkeit beraubt und der abstrahierenden Philosophie assimiliert wird. Für die Geschichtsphilosophie erweist sich dieser Umgang mit Geschichte mitunter als paradigmatisch. Indem die Reichweite der Sichtmetapher sich auf den lebensweltlichen Bereich einschränkt, zieht Wielands historiographisches Unternehmen eine Trennlinie zum Paradigma Geschichtsphilosophie ein: Es steht im Spannungsverhältnis transdisziplinärer Theorie und literarisch-didaktischer Praxis.6 Wie die (vermeintliche) Wende „vom Idealistungshorizont‘. Zwei historische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main, ²1992, S. 349-375 (Seitenangaben in Klammern). 4
Ressentiments gegenüber der Philosophie gestalten sich in Wielands „Beyträge[n]“ äußerst polemisch. Wieland, Beyträge, Über J. J. Rousseaus vorgeschlagene Versuche usw., in: WWA, Abt. 1, Werke V (Bd. 7,8/2), S. 392-416, S. 393.
5
Christoph Martin Wieland, Lucians von Samosata Sämtliche Werke. Aus dem Griechischen übersetzt und mit Anmerkungen und Erläuterungen versehen von C. M. Wieland, Erster Theil, Weidmannische Buchhandlung, Leipzig, 1788, S. XXVIII (biobibliographische Einleitung zu Lucian).
6
Dennoch ist es wünschenswert und zulässig, die „Beyträge“ unter dem Aspekt Geschichtsphilosophie in Wielands Schriften zu integrieren – da sie dem Thema eine kritische individuelle Form verleihen –, wie dies etwa Susanne Wipperfürth unternommen hat. Susanne Wipperfürth, Christoph Martin Wielands geschichtsphilosophische Reflexionen, Frankfurt am Main, 1995. Siehe ferner: Walter Erhart, Entzweiung und Selbstauf-
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mus zum Empirismus“7 in ein metahistoriograhisches Modell umschlägt, demonstriert das abschließende Kapitel zu Wieland. Der „Vorbericht“ der „Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit“ schließt Didaktik als vom Leser unerwünscht aus. Dennoch dient er diesem Zweck und sucht das Verhältnis zwischen Leser und Erzähler auszutarieren. Gleich anfangs wird das Telos der Unternehmung einer geheimen Geschichte der Menschheit bestimmt. Es geht um den recht spröde und verschlungen eingelösten Auftrag delectare et prodesse des Horaz. Jene direkte, offen bekundete Funktionsbestimmung ist indes nur dem ersten Anschein nach so kurzerhand ad acta zu legen. „Meine geringste Absicht ist, daß es euch amüsieren, meine vornehmste, daß es euch besser machen möchte. Ich bin offenherzig über diesen Punct; denn ich sehe nicht, wozu es dienen könnte, ein Geheimniß daraus machen zu wollen.“8 Wenn der Vorbericht sich einerseits durchaus „offenherzig“ über das antizipierte Publikum und dessen Erwartungen auslässt, die Einlösung von Lektüregewohnheiten und Leservorlieben zugesteht, dann mag andererseits verwundern, wie wenig Selbstbestimmtheit Wielands Erzähler seinen Rezipienten tatsächlich zutraut: „Indessen ist zu meiner Rechtfertigung genug, daß ich mich deutlich erklärt zu haben glaube, für was für eine Art von Lesern ich diese Beyträge zur geheimen Geschichte des Menschen aus den Archiven der Natur gezogen habe. […]. Ein Talisman, oben auf der ersten Seite, wodurch das ganze Buch für alle, die es nicht lesen sollten, zu weissem Papier würde, wäre freilich noch besser. Aber, leider! – Es geht mir, wie euern Philosophen. Auf die Magie verstehe ich mich so ziemlich; aber – zaubern kann ich nicht.“9
Obgleich der Erzähler seine Rezipienten „[…] so gut zu kennen glaub[t], dass [er] bis zur Evidenz überzeugt [ist], […]“10, den „Zweck“ der Belehrung nur durch das Mittel der Unterhaltung zu erreichen, kommt er nicht umhin, einige Rezipienten auszunehmen: Rezipienten, die sein Buch zwar lesen könnten, aber versäumen, den klärung, a. O., Kapitel IV. 2. ‚Vorsehung‘“ und ‚Spiegel‘: Wielands Kritik der Geschichtsphilosophie, S. 207-225. Erhart kontextualisiert Wielands geschichtsphilosophische Versuche resp. Stellungnahmen vor allem im Kontext zeitgenössischer Romantheorie (S. 212f., S. 218), resümierend: S. 222. 7
Baudach folgend ab Ende 1756. Frank Baudach, Planeten der Unschuld – Kinder der Natur. Die Naturstandsutopie in der deutschen und westeuropäischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, Tübingen, 1993, S. 496.
8
Wieland, Beyträge, Vorbericht, in: WWA, Abt. 1, Werke V (Bd. 7,8/2), S. 315-316, S. 315.
9
A. O., S. 316.
10 A. O., S. 315.
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literarischen Pakt einzulösen, als Leser die Vorbedingungen mitzubringen, die sie zum rechten Verständnis des Gelesenen befähigen. Insbesondere sanftmütige Leserinnen bedürfen fortwährender Ermahnung, sich das Weiterlesen zu ersparen, um sich nicht gegen die Absicht des Autors beleidigt zu fühlen. Das Mittel, eine solch fehlgeleitete Rezeption abzuwenden, wäre einer magischen Operation vergleichbar. Trotz aller Offenheit hinsichtlich der Zielvorgaben der Texte und der Erwartungen an die Leser bleibt die Frage nach der möglichen Erfüllung des literarischen Auftrags letztlich im Dunkeln. Dieses Wechselverhältnis zwischen Offensichtlichkeit und Verborgenem stellt ein maßgebliches Kompositionsprinzip von Wielands Schriften selbst dar. Sie postulieren, bestimmte Tatsachen unumwunden feststellen oder beobachten zu können, wobei übergreifenden Wissensbeständen gleichzeitig der Status von Geheimwissen zugewiesen wird. Erkenntnis lässt sich auf unmittelbarem Wege gewinnen, ist über den gemeinen Menschenverstand adressierbar. Was dabei im Rahmen des Natürlichen und Selbstverständlichen liegt, bleibt in einer Kontrastbewegung bis zu einem gewissen Grade geheimnisvoll. Um das Verhältnis von Offensichtlichkeit und Verborgenem auszubuchstabieren, dient die Analyse der Metapher des Sehens in Wielands „Beyträge[n]“ als Bezugsrahmen. Prominent taucht sie innerhalb des epistemologischen Diskurses auf, der vom Ideal des Empirismus geprägt scheint. Relativ konventionell wird das Sehen innerhalb des Liebesdiskurses der ersten Erzählung funktionalisiert, und rekurriert dort sowohl auf das Entstehen von Liebe als auch auf schnöde sexuelle Begierde. Die unmittelbare Kommunikation zweier Seelen über die Augen- bzw. Gebärdensprache erweitert das Thema hingegen um eine soziokulturelle Regel. Der sympathetische Trieb des Menschen entspringt in dem Augenblick, in dem zwei Wesen einander anblicken – ein Argument, das in der polemischen Abwehrung von Rousseaus These menschlicher Ungeselligkeit eine Rolle spielt. 3.2 Sehen und Idealität Literarischen Konventionen folgend funktionalisiert der Liebesdiskurs gegenseitiges Erkennen über das Sehen. Die legitime Beziehung der beiden Naturkinder „Koxkox und Kikequetzel“ beginnt mit dem An-Blick des ab diesem Augen-Blick geliebten Objekts. In diesem Kontext wird der Begriff Anschauung11 verwendet, welcher zweifach interpretierbar wäre. Zunächst einmal gehört die Anschauung dem Vokabular sinnlicher Erkenntnis an. Der optische Eindruck führt (indirekt vermittelt) zur sinnlichen Wahrnehmung des Gegenstandes (zu äußerer Anschau11 Wieland, Beyträge, Koxkox und Kikequetzel, in: WWA, Abt. 1, Werke V (Bd. 7,8/2), S. 317-367, S. 331.
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ung). Diese Wahrnehmung stellt die Basis weiteren Erkennens und der Reaktion darauf dar, kondensiert zur inneren Anschauung, welche die Objektivierung des Gegenstandes leistet. Wielands Text hebt den Vorgang (vermeintlich) unmittelbarer sinnlicher Erkenntnis hervor, obgleich eine zweite Lesart offen bleibt. Anschauung meint (etwa bei Platon) zudem höhere Anschauung: das Anschauen einer Idee.12 Für die Eröffnungserzählung der „Beyträge“, „Koxkox und Kikequetzel“, lässt sich jener metaphysische Aspekt nicht von der Hand weisen, insofern Kikequetzel das einzige weibliche Wesen in Koxkox’ Lebensraum darstellt. Sie ist die erste Frau, die er – von mütterlicher Liebe, die er erfahren hat, ist nirgends im Text die Rede – in seinem Leben überhaupt zu Gesicht bekommt. Bei ihrem ersten Anblick hat er zudem guten Grund anzunehmen, sie sei das einzige Wesen ihrer Art. Als singulärer Fall ihrer Art böte Kikequetzel die einzige Lieferantin von Merkmalen, welche der Idee Kikequetzel als Frau schlechthin zurechenbar wären. „Die Wahrheit zu sagen, bey einem Dinge, welches das einzige in seiner Art ist, hat weder Vergleichung noch Übertreibung Statt. Koxkox konnte keine Idee von etwas besserm haben als er vor sich sah.“13 Mehrere Exkurse, die abweichende Blickwinkel zum Geschehen einnehmen, unterbrechen die Schilderung des Erstkontakts des zukünftigen Paares. Die mehrfach gebrochene Überlieferungsfiktion begünstigt eine Pluri-Positionalität, die vom dominierenden Erzähler zur Profilierung seiner eigenen Position ausgebaut wird. Gewährleistet der Philosoph Tlantlaquakapatli – einen anthropologisch-epistemischen sowie kosmopolitischen Kommentar bietend – die Überlieferung in erster Instanz, so diskreditiert der Übersetzer zweiter Ordnung dessen subtile Feststellungen als philosophisch überhöhte Spekulation. Losgelöst vom situativen Kontext mögen sie durchaus schlüssig und nachvollziehbar sein, in Bezug auf das Erzählte halten sie hingegen keine überraschenden Wendungen bereit. Zugunsten der Nachvollziehbarkeit sei kurz auf die konstruierte Erzählsituation, auf Überlieferungs- sowie Übersetzungsverhältnisse verwiesen. Wielands HerausgeberErzähler fungiert als maßgebliche Erzählinstanz, welche Akte der Überlieferung und Übersetzung behauptet. Jene autoritative Instanz konstruiert (sich) einen überlieferungshistorischen Vorgänger, um die Erzählung als kulturgeschichtliches Faktum bzw. als Sage – spatial sowie temporal von weit her – auszuweisen, welche zudem kulturelle Identität fundiert.14 Erzähllogisch verstellt sich diese Überlieferung, insofern „die besondern Umstände“, die letztlich den Untergang des Lebensraums von Koxkox und Kikequetzel herbeiführen, „[…], aus Mangel beglaubter Zeugnis12 Eine dritte Lesart besteht im biblischen Erkennen. 13 A. O., S. 329. 14 Beide Funktionen stehen keineswegs im Widerspruch bzw. im epistemischen Konkurrenz- oder Ausschlussverhältnis.
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se, unbekannt [sind].“15 Dennoch könne (bzw. konnte) man angeblich exakt berechnen, wie viele Tonnen Wasser der Schweif des sintflutbringenden Kometen enthalten haben müsse. Dieser Widerspruch beruht auf der postulierten Allgemeingültigkeit von Mathematik, welche sich an der temporalen Reichweite astronomischer Berechnungen orientiert. Beide konterkarierenden Behauptungen erzeugen eine Asymmetrie des Wißbaren, welche sich in der Erzählung niederschlägt. Mit der Überlieferung selbst liegt eine Paradoxie vor, insofern zu Beginn der Erzählung die Abwesenheit gemeinsamer Sprach- sowie literaler Kultur postuliert wird, sich die Absenz jeglicher Kultur (auch: Agrikultur) zu ihrem Ende hin sogar noch verschärft. Die Nachkommen von Koxkox und Kikequetzel fallen in den animalischen Zustand zurück, in dem selbst orale Tradition aufgrund mangelnden gesellschaftlichen Zusammenhangs ausfällt. Wer oder was überhaupt als Träger von Überlieferung hätte eintreten können, bleibt im Dunkeln. Zwar erlaubt der – allerdings zurückgewiesene – Vergleich mit der Traditionsform der Bibel16 Rückschlüsse auf die Art der Überlieferung, die zur kollektiven, hybriden (die Zeiten durchmessenden und daher veränderbaren) literarhistorischen Gattung gerinnt. Selbst Wieland bietet sich unter Maßgabe des Vergleichs ein unorthodoxer Zugriff auf das Buch der Bücher an. Kants „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ erprobt einen entsprechenden Zugriff, insofern er den Bibeltext allegorisiert und die Sintflut rationalisiert. Allegorie und vernünftige Umdeutung gehen hier noch Hand in Hand, während Herders „Ideen“ das Historische unter rationaler Maßgabe in den biblischen Mythos zurücküberführen. Der Anblick von Kikequetzel versetzt Koxkox in Entzücken17, das ihm kaum noch gewährt, Traum und Wirklichkeit voneinander zu scheiden. Dies wäre vorerst unabhängig von der Geschlechterdisposition zu lesen – träumt Koxkox des Nachts von der Gesellschaft anderer Menschen (Kinder)18 überhaupt, mit denen er interagiert (spielt). Partielle Erinnerung ermöglicht ihm also ein subsidäres gesellschaftliches Leben im Traum. Wie könnte er demnach sicher sein, dass er nicht träumt? Erinnerte Wirklichkeit wird zur aktualisierten Möglichkeit – doch der Status von Realität und Imagination ist in einer Welt, in der man sich als Einziger wähnt, kaum unterscheidbar. Niemand ist in der Lage, den Realitätsgrad intersubjektiv (kommunikativ) auszuhandeln. Dafür, dass die Gesellschaft des einzigen (anderen) Wesens der Einöde es zum emotional einzigartigen Wesen erhebt, spräche zudem die Substituierbarkeit von Namen: So rührt es aus Koxkox’ Sentimentalität, dass Kikequetzel den Namen des geliebten, nunmehr verstorbenen Papageien tragen darf, zu dem 15 Wieland, Beyträge, Vorbericht, a. O., S. 317. 16 Wieland, Koxkox und Kikequetzel, a. O., S. 317f. 17 A. O., S. 322. 18 A. O., S. 320f.
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er seinen ersten sozialen Kontakt hegte. Die Entzückung wirkt auf Koxkox zugleich als Verzückung, welche ihn elektrisiert. Die Singularität des Gegenstandes lädt ihn tatsächlich zum Einzigen auf. „Die Entzückung des armen Koxkox endigte sich mit einem Schauer, der alle seine Glieder durchfuhr, und auf welchen eben so schnell ein Strom von geistigem Feuer folgte, der aus seinem Herzen sich in einem Augenblick durch sein ganzes Wesen ergoß, und jedes unsichtbare Fäserchen davon elektrisch machte. Das Mädchen däuchte ihm das lieblichste unter allen Dingen, die jemals bei Tageslicht oder Mondschein [sic!] vor seine Augen gekommen waren.“19
Kikequetzel bietet in ihrer natürlichen Einzigartigkeit für Koxkox zugleich das Ideal göttlicher Schönheit für „Mexikanische[ ] Tiziane“.20 Ihre Idealität prägt kulturhistorischen Charakter aus; später wird sie dann als „Stammmutter“21 bezeichnet. Die Schilderung der Elektrisierung durch den sinnlich-optischen Eindruck folgt dem Paradigma physiologischer Umwandlung von Sinnesdaten in Erkenntnis.22 Die Elektrisierung beschreibt einen Vorgang sensuell (über die Wahrnehmung) erfahrener Gewalt, die sogleich in körperliche Gewalt (Energie) umschlägt – und deutet somit auf die sexuelle Entladung des animalisch gearteten Mannes Tlaquatzin hin, die auf den Anblick Kikequetzels erfolgt. Die Metapher der Elektrisierung (bei Anblick) kann im Geschlechter- bzw. Liebesdiskurs sowohl als spontanes Entstehen von Liebe als auch als Anstauung und Entladung sexuellen Verlangens gelesen werden. Der Text arbeitet jedoch darauf zu, diese doppelte Kodierung in eins fallen zu lassen. 3.3 Repräsentation: Philosophischer und kultureller Relationismus im Rahmen des Gemäldes Zwei Diskurse unterbrechen nun die weitere Auswicklung der Erzählung. Beide vertreten historistische Positionen, indem sie diese einschleusen. Der erste Diskurs stellt die idealische Schönheit Kikequetzels kulturrelationistisch in Frage, indem er die landestypische Erscheinung von Frauen mit der aus ihren Merkmalen entspringenden Idealität kurzschließt. Kikequetzels Idealität legt nahe, dass Ideale sich nur aus dem konkreten Exemplar generieren. Daraus begründet sich die Wandelbarkeit 19 A. O., S. 323. 20 Ebd. 21 A. O., S. 357. 22 Zur epistemologischen Bandbreite der Elektrizitätsmetapher bzw. des Elektrizitätskonzepts im 18. Jahrhundert vgl. Benjamin Specht, Physik als Kunst: Die Poetisierung der Elektrizität um 1800, Berlin/New York, 2010, bes. dessen Resümee, S. 411-422.
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dieser Ideale vor dem Hintergrund wechselnder Kulturräume.23 Eine Prosopopoiia szenisch vorbeiziehender Passanten setzt die Multiperspektivität um. Ihre Stimmen werden als Chor und Wechselrede eingespielt und formieren ethnische Standpunkte. An relationistische Überlegungen schließt die nähere Diskussion an, indem sie sich der theoretisch sowie praktisch gelenkten Interpretation sowohl der Darstellung von Schönheit als auch des Umgangs mit ihr widmet.24 Dabei fingiert der Text ironisch jene Haltungen, die etwa Philosophen mehrerer Schulen gegenüber dem schlafenden schönen Mädchen einnehmen könnten. Was den mitverhandelten historiographischen Diskurs anbelangt, bezieht der Text ferner die Blickpunkte von Künstlern diverser Profession („Mahler“, „Poet“) oder des Historikers („Alterthumsforscher“) sowie des Reisebeschreibers als potentielle Beobachter ein, wobei deren Stellungnahmen ein Feld zwischen Theorie und Praxis aufspannen. Weitere Bezüge richten sich pragmatisch aus („Faun“, „Sklavenhändler“). Nicht allein generalisierbare Positionen, die auf den entsprechenden Beruf zurückführen, sondern sogar historische Personen bezieht das ironische Spiel der Taxierung ein. Der ethnographische Zugang richtet sich zwischen professioneller Exemplarität („Ein Mahler“, „Ein Alterthumsforscher“, Ein „Pythagoräer“ etc.) und individueller Konkretion des Vorbeireisenden (der Wandereremit „Robert von Arbrissel“, der legendäre „Sankt Hilarion“, d. i. Hilarion von Gaza) aus. Mit „Mahler“ und „Poet“ ruft der Text zudem zwei Kunstgattungen auf, deren Übertragbarkeit (ineinander) im 18. Jahrhundert ausgiebig verhandelt wurde. Sowohl der ethnologisch aufgeladene Schönheitsdiskurs als auch die Frage des theoretischen bzw. praktischen Umgangs mit dem kürzlich wahrgenommenen Gegenstand richten sich nach dem individuellen bzw. professionellen Standpunkt des Betrachters. Im Falle der fiktiven Positionierungen lässt die ironische Zuspitzung auf eine Hierarchie an- bzw. unangemessener Umgangsformen schließen. Die lächerlichsten Züge tragen philosophische Positionen (Platoniker, Stoiker, Skeptiker), während die kreativen Umgangsformen von Maler und Poet, deren Annäherung eine Brücke zwischen Theorie und Praxis schlägt, am mildesten beurteilt werden. Je nach persönlicher Begabung bewegt sich ein „inquisitiver Reisender“25 zwischen den Darstellungsmitteln von „Mahler“ und „Poet“, sobald er sich der vorgefundenen Szenerie annähert: Er „[…] hätte die ganze Scene in sein Tagebuch abgezeichnet, […]; wo nicht, so hätte er wenigstens eine so genaue Beschreibung davon gemacht, als ihm seine Eilfertigkeit verstattet hätte.“26 Als künstlerischer Laie unterscheidet sich der Reisende maßgeblich von Männern des Fachs, weil er sich rasch
23 Wieland, Koxkox und Kikequetzel, a. O., S. 323f., Kap. 6. 24 A. O., S. 325f., Kap. 7. 25 Zitate: a. O., S. 325. 26 Ebd.
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weiterbegeben muss.27 Die ethnographische Aufzeichnung hängt weniger von künstlerischer Qualifikation als von Verweildauer und Sorgfalt ab. Die Verteilung der Sympathien gibt eine grobe Tendenz vor, wie sich der historiographische Diskurs ausrichtet, wobei diesbezüglich keine durchgängige Einheit der Textaussagen vertreten wird. Dennoch trifft Wielands Text programmatische Unterscheidungen, die in den Kontext einer – sich über den gesamten Text erstreckenden – Diskussion der Einfühlung als lebensweltlicher sowie künstlerischer Praxis gehören, deren Funktion im Rahmen des repräsentationalen (ästhetischen) Ausdrucks entfaltet wird. „Es ist noch lange nicht damit ausgerichtet, daß man sich etwa frage: Wie würde mir an einem solchen Platze gewesen seyn? – Nichts betrügt mehr als diese Operazion; ob wir gleich gestehen müssen, daß sie, mit gehöriger Vorsichtigkeit und zu rechter Zeit gemacht, allen Arten von Dichtern und Schauspielern – auf allen Arten von Schaubühnen gute Dienste thun kann.“28
Der Text weist auf die Gefahren einer Einfühlungsästhetik hin, sein vorläufiges Misstrauen gilt der Einfühlung als gängiger menschlicher Praxis, sich in andere hineinzuversetzen: „wie würde mir an einem solchen Platze […]?“ Dann räumt er hingegen deren Dienstbarkeit in manchen Kontexten ein, da sie „[…] auf allen Arten von Schaubühnen gute Dienste thun kann.“ Die „Schaubühne“ erstreckt sich auf mannigfache gesellschaftliche Orte („alle[ ] Arten von Schaubühnen“). Sie bietet eine Plattform für Dichter und Schauspieler an, wird generalisierend als theatraler Ort adressiert. Auch das lebensweltliche Schauspiel des Theatrum Mundi bedient sich der einfühlenden „Operazion“. Als Orte, an denen Dichter und Schauspieler ihre Leistungen darbieten, formieren „alle[ ] Arten von Schaubühnen“ die Metapher der Hervorbringung sowie Vermittlung von Kunst schlechthin. Ein gradueller sowie temporaler Indikator schränkt die Einfühlung ein. Ihr korrespondiert ein angemessener Zeitpunkt („zu rechter Zeit gemacht“). Wodurch sich dieser Zeitpunkt auszeichnet, konkretisiert die kompositorische Anlage von Wielands Text selbst: Wo Einfühlung ansetzt, verlangt die poetologische Sensibilität eingehende Rücksicht auf den Rezipienten. Daher sei kurz erwähnt, dass Einfühlung weniger dem sentimentalen Vokabular entspringt, sondern als Terminus der Orientierung in poetologischen Fragestellungen dient. Als Begriff kommt Einfühlung zwar nicht vor, verbirgt sich aber hinter der Formulierung: „wie würde mir an einem solchen Platze […]?“ Diese Wendung formuliert die korrespondierende Frage zur Definition der 27 Den in Mode gekommenen Reisebeschreibungen steht der Text skeptisch gegenüber. Ihren Aussagen schenkt er ungern Glauben und ironisiert sie ausgiebig, da sie den guten Ruf einer epistemischen Praxis schädigen, die er sehr schätzt: die Augenzeugenschaft. 28 Ebd.
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liberalen Denkungsart Kants: „Sich (in der Mittheilung mit Menschen) in die Stelle jedes Anderen zu denken.“ Erläuternd fügt Kant hinzu, dass die „liberale[ ]“ „Denkungsart“ eine „sich den Begriffen Anderer bequemende[ ]“ „Denkungsart“ sei.29 Wie die bei Wieland eingeforderte „Vorsichtigkeit“30 zu gewährleisten ist, bleibt offen. Auf die liberale Denkungsart gemünzt, wäre „Vorsichtigkeit“ als kommunikative Zurückhaltung zu verstehen, da Einfühlung sich hauptsächlich „in der Mitteilung mit Menschen“ vollzöge. Ein rein imaginatives Versetzen in andere Personen verlangt ähnliches Taktgefühl, wie es die körperlich-geistige Präsenz situativer Kommunikation einfordert, damit der einfühlende Akt sich nicht gewaltsam vollzieht. „Vorsichtigkeit“ meint, den Menschen gegenüber nicht zu vergewaltigen, indem man sich seiner Begriffe und Empfindungen bemächtigt und sie willkürlich miteinander verkoppelt. „Vorsichtigkeit“ und ‚Zeitgemäßheit‘ stellen nicht nur Imperative der Vermittlung und Rezeption dar, sondern formieren poetologische Präskriptionen für „alle[ ] Arten von Schaubühnen“. Deren Konzeptualisierung schließt die oben skizzierte Vorsicht ethischer Imagination ein. Um jene Zeitgemäßheit einzulösen, entfaltet das folgende achte Kapitel die genaueren historischen „Umstände“ der Situation, in der Koxkox sich befindet. Es berücksichtigt seine leibliche und psychische Verfassung, Jahreszeit und Wetterlage (als Locus amoenus typisiert) sowie Kikequetzels ätherische Erscheinung während ihrer Auffindung. Dieses Kapitel liefert die philosophischen sowie psychologischen Dimensionen der Beschaffenheit seiner Erkenntnis nach.
29 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: KAA VII: Der Streit der Facultäten. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Berlin, 1968 [unveränderter photomechanischer Abdruck von: Kants gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VII, Berlin, 1907/17], S. 117-333, S. 228-229. Dabei geht es nicht darum, ob Wieland diesen Begriff im Hinterkopf hatte, angesichts des Veröffentlichungszeitpunkts der „Anthropologie“ wäre das abwegig. Berücksichtigt man jedoch die Dauer von Kants akademischen Anthropologievorlesungen insgesamt (17721796), lässt es sich zumindest nicht völlig ausschließen. Vielmehr liegt der Analyse daran, die Autoren durch ihren gegenseitigen Bezug besser zu verstehen: ein Anliegen, das der gemeinsamen Thematik Geschichtsphilosophie geschuldet ist. 30 Vielfach verweist man auf Wielands Forderung nach Bescheidenheit und Zurückhaltung, die in der literarischen Praxis des „Gesprächs“ eingelöst würde. Vgl. Steven R. Miller, Die Figur des Erzählers in Wielands Romanen, Göppingen, 1970 [Göppinger Arbeiten zur Germanistik 19], Kapitel IV. A.: Der Wielandische Erzähler, S. 63-69, S. 65f. Bernhard Budde, Aufklärung als Dialog. Wielands antithetische Prosa, Tübingen, 2000, erklärt Polyphonie zur Analysekategorie sowie zum ethischen Programm von Wielands Erzähltexten.
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„Alle seine Sinne und sinnlichen Werkzeuge befanden sich in derjenigen Verfassung, welche – in allen Handbüchern der Wolfischen Metafysik – zum Empfinden erfordert wird. Die Kanäle seiner Lebensgeister waren nirgends verstopft, und die Fortpflanzung der äußern Eindrücke in den Sitz der Seele, (welcher, im Vorbeygehen zu sagen, ihm so bekannt war als irgend einem Psychologen unserer Zeit) nebst der Absendung der Volizionen und Nolizionen aus dem Kabinet der Seele in die äußersten Fäserchen derjenigen Werkzeuge, welche bey Ausführung derselben unmittelbar interessiert waren, ging mit der größten Leichtigkeit und Behendigkeit von Statten.“31
Jene Differenzierung ergänzt die Beschreibung des physiologischen Vorgangs der Elektrisierung, wobei sowohl die „Wolfische[ ] Metafysik“ als auch die zeitgenössische Psychologie ironisch überzeichnet werden. Damit hebt das Zitat nicht allein auf den zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurs ab, sondern führt das poetologische Prinzip der Zeitgemäßheit in den ergänzenden Überlegungen des Philosophen Tlantlaquakapatli als überzogen vor. „Unser Filosoph – welcher glaubt, daß alle diese Umstände bey Berechnung der Ursachen und Wirkungen der menschlichen Leidenschaften mit in die Rechnung gebracht werden müssen – ist eben so genau in Angebung aller der kleinen Bestimmungen, unter welchen die schöne Kikequetzel dem jungen Mexikaner in die Augen stach.“32
Über das Zitat verweist der Erzähler auf die philosophische Manie(r), alles bis auf seinen letzten Grund deduzieren zu wollen. Ursachenforschung bezieht sich einerseits auf „menschliche[ ] Leidenschaften“, andererseits verlagert sie sich durch das Mittel der „Berechnung“ von der philosophischen in die mathematisch-ökonomische Sphäre (vgl. dazu die Ablösung der Erklärungsmuster für die Geschichte Roms in Herders „Ideen“). An dieser Stelle tritt das Sehen wieder in den Fokus, und der Erkennungsdiskurs der Liebe betont das Gewaltpotential („in die Augen stach“), das optische Wahrnehmung begleitet. Was geläufiger epistemischer Metaphorik folgend als optischer Eindruck beschreibbar wäre, potenziert sich zur schmerzhaften Einprägsamkeit, die bis zur Erblindung führen kann. Zwar schildert der Text die Lage oder Draperie Kikequetzels topisch als Locus amoenus. Obgleich jene Darbietung, ihr Arrangement, auf optische Merkmale abhebt, betont der Text die Differenz zwischen auf Anwesenheit beruhender persönlicher Anteilnahme (Augenzeugenschaft) und se31 Wieland, Koxkox und Kikequetzel, a. O., S. 327; voran geht der Beschreibung die kurze Erwähnung seines ausgeglichenen Säftehaushalts nach Hippokrates. Somit bezieht der Text die Geschichte der (an Physiologie und Charakterlehre angelehnten) Psychologie selbst ein. 32 A. O., S. 327f.
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kundärer Aufbereitung, welche die Wahrnehmungsqualität der Anmut schmälert: „[…], ein[ ] Reitz, der – wie alle Grazien – sich besser fühlen als zeichnen, und besser zeichnen als beschreiben läßt.“33 Die Frage der „Grazie[ ]“ verknüpft sich nicht nur hier umgehend mit der ut pictura poiesis-Debatte. Schon in der „Theorie und Geschichte der Red-Kunst und Dicht-Kunst“ von 1757 klingt es ganz ähnlich, und dort stiftet sich über die Wendung „stille Größe“ zudem der Bezug zu Winckelmanns „Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst“ (1755).34 „Unter der Grace, welche besser empfunden als beschrieben wird, verstehen wir die kunstlose Anmuth und Leichtigkeit, die ungezwungene und bescheidne Zierlichkeit und das, was man in der Mahlerey die stille Größe nennt in Absicht der Expression, die naïveté in Absicht der Empfindungen und die ächte sittliche Schönheit in Absicht der Charakter und Handlungen.“35
Reiz und Grazie (vgl. das Kapitel zur Anmut bei Kant) sind einer Hierarchie von Darstellungs- und Wahrnehmungsmodi unterworfen, die sich ihrer Erfassung graduell annähern. Auf Seiten rezeptiver Empfindung leistet „fühlen“ die direkte (unkomplizierte) Annäherung oder Aufnahme an (von) Grazie. Demgegenüber kommt den Medien Zeichnung und Beschreibung die künstlerische (repräsentationale) Modifikation (Wiedergabe) des Phänomens Grazie zu – dabei werden sie zu Gegenständen erneuter Rezeption. Insofern nehmen sie einen Umweg über Repräsentation: Sie bieten lediglich unvollkommene Nachahmungen des ursprünglichen Eindrucks dar. Dabei verbucht die Zeichnung Vorzüge gegenüber sprachlicher Deskription, da sie dem wahrgenommenen Gegenstand eher („besser“) entspricht. Liegt dieser Annahme die Priorität des Bildes zugrunde, welche den repräsentationalen Diskurs strukturiert? Kommen die zweidimensionalen gezeichneten Linien im Bild dem dreidimensionalen Gegenstand der Wirklichkeit näher als die Lineamente, welche das Schriftbild der Beschreibung bilden? Vor dem Hintergrund der im Vorfeld der „Beyträge“ erfolgten Rezeption von Lessings „Laokoon“ (1766) wäre zudem das Verhältnis von Beschreibung (als Repräsentationsform), die sich (ggf.) durch die lautliche Dimension in der Zeit entfaltet, zur imaginären Folge, welche vor dem inneren Auge des Lesers entsteht, zu bestimmen. Sowohl der zweite Teil der „Theorie und Geschichte der Red-Kunst 33 A. O., S. 328. 34 Johann Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst. Zweyte vermehrte Auflage, Dresden u. Leipzig, 1756, S. 21, S. 24. 35 Christoph Martin Wieland, Theorie und Geschichte der Red-Kunst und Dicht-Kunst, in: WWA, Abt. 1, Werke III (Bd. 4): Prosaische Jugendwerke, hg. v. Fritz Homeyer u. Hugo Bieber, Hildesheim, 1986, S. 303-420, S. 419.
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und Dicht-Kunst“36 als auch die kurzen Bemerkungen „Von der Mahlerkunst überhaupt, ihre Verhältnisse mit der Bildhauerey, ihre Vorzüge vor der Poesie und von der Sphäre derselben“ (zwischen 1757-1759) stellen die Dichtkunst in Bezug zur „Mahlerey“. Die Priorität der Poesie einräumend, kehrt die „Geschichte der DichtKunst“ dennoch stärker ihre „Verwandtschaft“ heraus, „um derentwillen eine Poesie ein redendes Gemähld und ein Gemähld eine stumme Poesie genennt wird.“37 Der Vorzug der „Poesie“ misst sich an der „Würkung“ „auf das menschliche Herz“, wenngleich sich der mimetische Grad der „Mahlerey“ („in Absicht auf die Kunst an sich selbst“38) stärker ausprägt, sie „einen höhern Grad der Analogie mit der Natur“ ausprägt.39 Beide Kunstformen sind darauf angewiesen, voneinander zu lernen, sich aneinander zu schulen: „daß ein epischer oder dramatischer Poet ohne den Genie eines Mahlers ebenso wenig vortrefflich seyn könnte, als ein Historien-Mahler ohne den Genie eines Poeten.“40 Der Gegenstandsbereich der Poesie, des „Seelenmahlers“, erstreckt sich indes weiter als derjenige der „Mahlerey“, da „die materielle und intellectualische Welt, der Kunst des Poeten gleich weit offen steht.“41 Als Gegenstände des Intellektuellen reihen sich „die sublimen Affecten, so wie sie sich bey Engeln oder heroischen Personen befinden, oder die gemischten Empfindungen, z. Ex. den Contrast von Liebe und Abscheu, von Freude und Furcht, von Strenge und Leutseligkeit, von Majestät und Sanftmuth“42 in den Diskurs der Allegorie, die Diskussion der griechischen Götter- und Demosdarstellungen bei Herder ein, welche das Verhältnis von bildender und literarischer Allegorie auszutarieren suchen bzw. ekphrastisch umsetzen. 36 A. O., ab S. 334. 37 A. O., S. 335. 38 Zitate: a. O., S. 337. 39 Siehe: Christoph Martin Wieland, Von der Mahlerkunst überhaupt, ihre Verhälnisse mit der Bildhauerey, ihre Vorzüge vor der Poesie und von der Sphäre derselben, in: WWA, Abt. 1, Werke III (Bd. 4), S. 640-644, S. 642: „Der zweyte Vortheil der Mahlerey vor der Poesie besteht darin, daß die Gemählde der erstern einen höhern Grad der Analogie mit der Natur und weit mehr Lebhaftigkeit haben können, als die Schildereyen der andern.“ Die Frage der „Lebhaftigkeit“ greift freilich auf die Laokoon-Debatte vor. 40 Wieland, Theorie und Geschichte der Red-Kunst und Dicht-Kunst, a. O., S. 336. 41 Ganz im Einklang mit dem späteren Laokoon-Diskurs liegt der „Vortheil“ der „Poesie“ darin, „das Gemüth des Lesers [...] präparieren zu können“, dem somit über die mitreißende „Scene“ hinaus die Genese einer inneren Geschichte erschlossen wird. Zitate: a. O., S. 338. Freilich fällt auf, dass die Poesie auf ihre epische sowie dramatische Ausgestaltung, die Malerei auf die Historienmalerei eingeschränkt wird, was auf eine intern verteilte Nobilitierung der Gattungen hinweist. Gattungen, die dezidiert historischen Charakter tragen, werden bevorzugt. 42 Wieland, Von der Mahlerkunst, a. O., S. 644.
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Ähnlich wie Herders „Adrastea“ nimmt auch Wielands „Von der Mahlerkunst“ eine allegorische Verfassung des Menschlichen an, welche im Äußeren alles Innere wiederzugeben vermag. „Ja, wer die Menschen aufmerksam studiert, wird finden, daß selbst die Sitten und die Character der Menschen sich in ihrem Äußerlichen auf eine merkliche Art abbilden; der ganze Cörper des Menschen ist gewissermaßen ein Spiegel der Seele, insbesondere aber ist es das Gesicht, worin sich beynahe alles ausdruckt, was im Gemüth vorgeht.“43
Zum Vergleich heißt es demgegenüber bei Herder: „Die Ausdruckvolleste Allegorie, die wir kennen, ist der Mensch. Kräfte, Neigungen, Gedanken und Leidenschaften der Seele deutet sein Äußeres, der Körper, nicht etwa nur an, sondern stellet sie dem Verständigen dar.“44 Über die indexikalische Funktion hinausweisend, vermittelt sich das Innere auratisch – so wie die gelungene Anmut allegorischer Darstellung. Insofern die innere Repräsentation in der Erzählung „Koxkox und Kikequetzel“ dem Ideal der Simultaneität nachkommend als Bild fokussiert wird, verhandelt der Text die Übersetzbarkeit von Bild und Sprache ineinander. Was in diesem Fall zur Darstellung gerinnt, wäre kaum als Zeichnung repräsentierbar, da kein Gegenstand, sondern ein immaterieller Zusatz vorliegt. Obwohl es sich um kein Gefühl handelt, lässt Grazie sich am besten sensuell erfassen. Als auratisches Erlebnis übertrifft die volle Erscheinung der Grazie jegliche Repräsentationsformen, sowohl sprachliche Beschreibung als auch Zeichnung. Daher erweist sich die Umschreibung der Gesamtsituation, so wie sie sich in den Augen des Jünglings darstellt, als aufschlussreich. Denn Kikequetzel wirkt in ihrer situativen Einbettung auf Koxkox wie ein „Gemählde[ ]“. „Das leichte Gesträuch, welches eine Art von Sonnenschirm um sie zog, warf kleine bewegliche Schatten auf sie hin, welche die pittoreske Schönheit des Gemähldes – denn noch war es nichts mehr für unsern Mann – erheben half.“45 Die über die poetologische Reflexion eingespeiste Prämisse wird literarisch adaptiert, insofern die Narration das Vorliegende als „Gemählde[ ]“ einführt. Teile seiner Beschreibung sind zuvor bereits wie in ein Puzzle eingesetzt und partiell zusammengefügt worden, bis das Gemälde Kikequetzels schließlich gänzlich ausgebreitet vorliegt und als solches etikettiert wird.
43 Ebd. 44 Vgl. Johann Gottfried Herder, Adrastea, in: FHA 10, hg. v. Martin Bollacher, Frankfurt am Main, 2000, Zweiter Band, Viertes Stück (1802), S. 285-374, S. 306; vgl. das Kapitel zur Allegorie, zum Parrhasischen Demos in dieser Arbeit. 45 Wieland, Koxkox und Kikequetzel, a. O., S. 328.
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Bei diesem „Gemählde[ ]“ handelt es sich zwar um die reine Metapher eines Gemäldes, dessen partielle Einlösung wiederum in der sprachlichen Beschreibung besteht. Wir haben es also – und das kann man als symptomatisch für die malende Literatur ansehen – mit einer nie einzuholenden Nachträglichkeit des Malens oder Zeichnens zu tun: Malen und Zeichnen dienen nur als Metaphern besonders gelungener Beschreibung. Dennoch eignet sich die Umschreibung, welche von Außen auf ein Zentrum zuläuft, es umzingelt, schrittweise in einzelnen Pinselstrichen die Konturen des Gemäldes nachzeichnet, in diesem Verfahren den Modus der Malerei an (wenn auch unter umgekehrter Abfolge von Peripherie und Zentrum). Die Beschreibung imitiert ein kalligraphisches Verfahren, indem sie den Schauplatz einkreist, vorgibt, das Gemälde zu rahmen. Daher adaptiert die Beschreibung das Gemälde nicht kurzerhand und setzt es in formale Vorgaben der Sprache um, sondern sucht, dessen produktiven Prozess nachzuverfolgen. Somit kommentiert die Beschreibung das Verfahren der Malerei als Umschreibung, die sich in konzentrischen Kreisen seinem dreidimensionalen Zentrum nähert. Koxkox’ Annäherungsversuch könnte innerhalb der Diskussion variabler Umgangsformen als der eines Malers gelesen werden – selbst wenn die Schilderung rezeptiver sowie produktiver Gewalt den Prozess des Sehens und Malens begleitet (unterläuft). Der Prozess des Sehens neigt letztlich zum (physiologischen) Exzess. Als implizite Selbstreflexion von Literatur stellt Wieland die Grenzen der im Text aufgerufenen poetologischen Prämissen durch ihre Narrativierung selbst auf die Probe. Dabei unterwirft sich der anvisierte Widerspruch zwischen Theorie und Praxis insofern dem theoretischen Postulat, als er problematisiert, dass ein Text nicht malen kann. Angesichts der den poetologischen Texten zuwiderlaufenden, jedoch in der Erzählung reflexiv erhobenen Darstellungshierarchie böte es sich überspitzt formuliert an, die Geschichte um Koxkox und Kikequetzel nicht mehr zu erzählen, sondern von der malerischen zur Praxis malender Darstellung überzuwechseln, um eine Abfolge oder ein Nebeneinander von Gemälden zu präsentieren. An den Übergängen beider Darstellungsmedien bringt sich die Ekphrasis ins Spiel. Kikequetzels Rahmung im Naturgemälde bietet das narrative Tableau des topischen Locus amoenus auf, an dem wechselnde mögliche Szenerien vorüberziehen. Als Selbstreflexion narrativer Bedingungen gehören Paradoxien zum Repertoire der ut pictura poiesis-Debatte und fechten den poetologischen Diskurs kaum an. Irritierend bleibt dagegen, weshalb ausgerechnet Koxkox die Szene anfangs nur als „Gemählde[ ]“ wahrnehmen kann, obgleich sein Weltverhältnis dem Stand unschuldiger Natur entspricht. Wie wenig seine Gefühle der Vermittlung bedürfen, betont die Erzählung fortwährend. Für seine Wahrnehmung dürfte analoge Unmittelbarkeit gelten. Innerhalb der situativen Rahmung der Figuren über die Vermittlungsinstanz zweier Erzähler fühlt die Figur (erzähllogisch) erster Ordnung die beschriebene Grazie nicht unmittelbar, sondern vermag sie lediglich als „Gemählde[ ]“ wahrzunehmen. Als Figur erster Ordnung steht sie im Zentrum das Situative
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sprengender Rahmungen. Ihre Erzählung gilt es auszufalten, bevor der Paradoxien provozierende Rahmen durch seine Reflexionen in die Narration einbricht. Möglicherweise weist die Gemäldemetapher auf die Entfremdung des Protagonisten von seiner eigenen Wahrnehmung hin. Lancierte der Text sinnliche Wahrnehmung zunächst als Schlüssel verlässlicher Erkenntnis, verkehrt sich die unmittelbare Empfindung nun in einen hochkomplexen Prozess künstlerischer Aufbereitung, der dennoch nicht am Ende aller Vermittlung steht („denn noch war es nichts mehr für unseren Mann“). Kikequetzels Einbettung in das „Gemählde[ ]“ formiert zudem einen Kommentar zum narrativen Verfahren der Rahmung selbst, das als sekundäre Fassung den Zugang zur Ur(sprungs)erzählung genussvoll verstellt. Das nächste Kapitel (9) führt den Schönheitsdiskurs fort. Tlantlaquakapatli zufolge lasse sich Schönheit nur schwer definieren. Um jene Komplexität vorzuführen, nimmt er je einen historischen, philosophischen sowie kulturrelationistischen (historistischen) Blickwinkel ein. Zunächst weist er auf den Mangel an Zeugnissen hin, die dazu dienen könnten, sich überhaupt ein Bild von Kikequetzel zu machen: „Erstlich, […] fehlen mir dazu die nöthigen Originalgemählde, Zeichnungen, Abdrücke u.s.w.“46 Es fehlt generell an (künstlerischen) Repräsentationen der jungen Mexikanerin. Diese Zeugnisse besäßen eine besondere Beweiskraft gegenüber der Beschreibung, die von Kikequetzel gegeben wird. Der Text fächert bildgebende Verfahren auf, die in mediale Konkurrenz zum ekphrastisch rahmenden „Gemählde[ ]“ treten. Den ethnographischen Mangel, den die Erzählung kurz anreißt, demzufolge ein Text nicht malen kann, ergänzen Herders „Ideen“ über anzitierte, (meist) konkret existierende Gemälde, die wiederum nicht innerhalb des Schriftmediums reproduziert werden können. Ohne den externen Blick auf das Gemälde entgeht dem Leser allerdings ein maßgebendes Argument des Textes. Auf beiden Erzählebenen setzt diese Gegenüberstellung ein kontradiktorisches Spiel in Gang. Während der Binnenerzähler und Philosoph Tlantlaquakapatli – der Überlieferer, der die Sage überhaupt zu Papier brachte – auf der Faktizität der Erzählung beharrt, betont der Erzähler erster Ordnung (der Herausgeber-Erzähler) die Irrelevanz der Frage nach Fiktionalität bzw. Faktualität, indem er einen philosophischen Standpunkt vertritt. Insofern plädiert er für die Möglichkeit des Erzählten, das epistemischen sowie didaktischen Nutzen erfüllen könne. In der Verhandlung beider Positionen vollzieht sich ein doppelt verschränkter Rollentausch. Der Philosoph nimmt die Aufgabe des Historikers wahr, und der Philosophiekritiker beruft sich, den Charakter historischer Erzählungen betreffend, auf philosophisch-scholastische Spitzfindigkeiten und flicht den Standpunkt moderner Ontologie- und Metaphysik-
46 Ebd.
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kritik mit ein.47 Die anschließende Stellungnahme projiziert sich auf die philosophische Ästhetik, welche bereits lebenspraktisch (Stimmen einspielend) diskutiert und relativiert wurde. „Zweytens, haben wir kein allgemein angenommenes Maß der Schönheit, […]“48. Darauf folgt die historisch fundierte Erläuterung dieses Sachverhalts: „Drittens, ist auch keines möglich, – bis alle Menschen, an allen Orten und zu allen Zeiten, aus einerley Augen sehen, und den Eindruck mit einerley Gehirn auffassen werden; – und das, spricht er, hoffe ich nicht zu erleben.“49 Unversehens hebt die historistische Position die philosophische Fragestellung auf. Sie erklärt, dass ein allgemeines Maß nicht „möglich“ und als Idealfall kaum zu wünschen sei, da die empirische Situation dagegen spreche; und nicht einmal zukünftig universale anthropologische Geltungen zu vertreten erlaube. Aus der Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies allein lassen sich keine Gesetzmäßigkeiten ableiten, solange nicht die raumzeitliche Situierung der Menschen berücksichtigt wird. So plakativ die Einlassungen des Textes klingen, so deutlich erteilt er apriorischem Idealismus seine Absage. Mit Blick auf die Metaphorik des Sehens fällt auf, dass „aus einerley Augen sehen“ als Sammelmetapher für den gesamten Vorgang sinnlicher Erkenntnis funktionalisiert wird. Demgegenüber verfolgt der Text eine erkenntnistheoretische Disposition weiter, die eben nicht allen gemeinsam ist. Wie wird visuelle Erkenntnis näher umschrieben? Optische mündet in taktile Wahrnehmung, generiert einen Eindruck, der näherer Verarbeitung durch das Gehirn zur Verfügung steht. Mit optischem Eindruck liegt eine gebräuchliche Metapher visueller Erkenntnis vor. Dennoch schlägt die optische lediglich eine Brücke zur fühlenden Wahrnehmung: Sie geht ihr im Prozess des Sehens physiologisch voran, erreicht den authentischen Zugang des Fühlens dagegen nicht. Dem reflexiven Einschub folgt der detaillierte Ablauf von Koxkox’ Empfindungen. Insofern wird die Vorstellung des simplen Eindrucks aufgebrochen, in Einzelschritte zerlegt. Im Zeitfenster zwischen Wahrnehmung des „Gemähldes“ und Elektrisierung findet eine ganze Kette von Reiz-Reaktionsmechanismen, Affekten und Reflexionen statt, die Tlantlaquakapatli hinzufügt. In paradoxer Konstruktion zeigt der Erzähler erster Ordnung die Ermöglichung des Unmöglichen (in doppelter Verschränkung) auf. Tlantlaquakapatli beschreibt einen Vorgang, von dem er nichts wissen kann, und den er sich – trotz aller Vorbehalte gegen die Mechanismen der 47 A. O., S. 319. „Denn war er da, so ist die Möglichkeit seines Daseyns außer allem Zweifel; wie jedermann zugeben wird, der seinen Aristoteles oder Baumeister nicht ganz vergessen hat.“ Friedrich Christian Baumeister (1709-1785), der sich um die Vermittlung der Philosophie Christian Wolffs verdient gemacht hat, übernimmt als „Baumeister“ generalisierend die Rolle des trockenen, systematisch argumentierenden Schulphilosophen. 48 A. O., S. 328. 49 Ebd.; „hoffe“ ist freilich ambivalent zu verstehen.
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Einfühlung – deshalb imaginieren muss. Daher irritiert die (narrativ) zunehmend konstruierte Unzugänglichkeit des Imaginären, da alles andere als Überlieferung aus erster Hand vorliegt. „Unser Autor – dessen verloren gegangene Schriften der geneigte Leser um so mehr mit mir bedauern wird, als uns diese Probe von seinem Beobachtungsgeiste [im Übrigen handelt es sich beim Vorangehenden um Reflexionen Tlanlaquakapatlis; K.K.] keine schlechte Meinung giebt – geht noch weiter, indem er sich sogar getraut, die eigensten Empfindungen von Augenblick zu Augenblick zu bestimmen, welche Koxkox, einem so unverhofften Gegenstand gegen über, habe erfahren müssen.“50
Woher stammt aber diese „Probe“, wenn die Schriften „verloren gegangen[ ]“ sind? Zwar ist innerhalb der rahmenden Fiktion denkbar, dass nur ein Teil der Schriften (etwa Tlantlaquakapatlis Philosophie, welche solch eine „Probe“ enthält) fehlt. Weshalb würde innerhalb philosophischer Schriften dann etwas hochgradig Literarisches (Imaginiertes) ausgeführt? Anzunehmen, die philosophischen Schriften gingen verloren und die Geschichte von Koxkox und Kikequetzel bliebe erhalten, könnte den Überlieferungszusammenhang plausibilisieren. Die Ausführungen des Textes halten in der Schwebe, ob Tlantlaquakapatli die Geschichte wirklich überlieferte oder sie bloß kannte und kommentierte. Dann könnte der Kommentar nebst einer Quelle anderer Provenienz (die Erzählung selbst?) als Materialbasis für den Herausgeber-Erzähler erster Ordnung herhalten. 3.4 Reiz-Reaktionsmechanismen Im Verlauf des Einfühlungsdiskurses werden die „eigensten Empfindungen“ doppeldeutig, da es Tlantlaquakapatlis eigenste Empfindungen sind, die Koxkox’ eigenste Empfindungen imaginativ zu beleben (verdoppeln) suchen. In den geschilderten Augenblicken wird ausgeführt, wie die innere Verkettung von Anblick und Reaktion vor sich geht. Die Schilderung von Augenblick zu Augenblick kommt dem Wechsel vom Anblick zu Momenten gleich. Aus der Beschreibung des Moments optischer Wahrnehmung selbst geriert sich die Metapher der Dauer konkreter Wahrnehmungsprozesse. Allgemein tritt die Sichtmetapher als Ausdruck sinnlicher Wahrnehmung und ihrer Dauer ein. Die Metapher der Wahrnehmung wird zu einem Maß für Zeiterfassung, das es erlaubt, Prozesse der Wahrnehmung und Reaktion in Stationen zu beschreiben. Etwas, das im beständigen Fluss, und dabei so unbeschreibbar kurz gedacht werden muss, dass es auf sinnlicher Ebene nicht mehr wahrzunehmen ist – zumal Wahrnehmung und Beobachtung von Wahrnehmungsprozessen nicht zugleich stattfinden können –, wird in Zeiteinheiten zerlegt, die ein 50 A. O., S. 329.
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natürliches biologisches Maß zu haben scheinen: den Augen-Blick. Für den Menschen kann damit die denkbar kürzeste wahrnehmbare (nicht: messbare) Dauer angegeben werden, indem ein Narrativ entfaltet wird, das vorgibt, Reiz und Reaktion erfolgten tatsächlich innerhalb von Sekundenbruchteilen (den Augenblicken), während die Erzählzeit eine viel längere Spanne beansprucht als die erzählte Zeit. „Beym ersten Anblick, [...], schauerte der Jüngling, in einer Art von angenehmem Schrecken, zwey und einen halben Schritt zurück. Im Zweyten Momente guckte er, mit aller Begierde eines Menschen der sich betrogen zu haben fürchtet, wieder nach ihr hin. Der Durchmesser seines Augapfels wurde um eine halbe Linie größer; […], um sie desto besser betrachten zu können. Im Dritten Momente glaubte er einen kleinen Unterschied zwischen ihrer Figur und der seinigen wahrzunehmen, und eine Bestürzung von der angenehmsten Art, […], nahm Im Vierten, und Fünften dergestalt zu, daß er im Sechsten […]“51
Durch (im Zitat nicht übernommene) Zeilenumbrüche werden die Momente auch optisch voneinander geschieden wiedergegeben. Ausgelassen werden die Augenblicke zwischen Sechstem und „Neunten oder [sic!] Zehenten“. Wie dem Zitat zu entnehmen ist, setzt ab dem „Vierten“ Moment ein (aufzählbarer) Automatismus der weiteren Abläufe ein, das Tempo zieht an. Nicht jeder Augenblick wird semantisch weiter ausdifferenziert, und nicht jeder Moment durch ein Satzschlusszeichen abgeschlossen. Andere Momente werden aufgrund ihrer Kurzweiligkeit gar nicht mehr erwähnt, sondern fügen sich in den Empfindungs-Automatismus ein. Über die semantische, graphematische oder diagrammatische Ebene findet der Fluss der ReizReaktionsmechanismen wieder Eingang in die abteilbaren Augenblicke. Koxkox erstarrt in der emotionalen Disposition eines „angenehme[n] Schrecken[s]“. Dieser hält sich über mehrere Zwischenstufen durch und wird im entscheidenden Moment der Erkenntnis der schönen Mexikanerin erneut aufgegriffen. Seine „Bestürzung von der angenehmsten Art“ entspringt der elementaren körperlichen Differenz zwischen ihm und dem wahrgenommenen Gegenstand. In jenem Augenblick setzt nun der erwähnte Automatismus ein, der syntaktisch durch die Einheit des Satzes sinnfällig gemacht wird, wobei der Zeilenumbruch die künstlich zerlegten Wahrnehmungsaugenblicke (optisch) kontrastiert. Durch die sowohl auf optischer, diagrammatischer als auch auf syntaktischer sowie semantischer Ebene eingelöste Textpraxis wird der Widerspruch zwischen künstlicher Sichtbarmachung – der Zerlegung des Vorgangs in differenzierte Augen-Blicke – und Unsichtbarkeit des physiologischen Automatismus (AugenBlicke, die in ihrem Wirkungszusammenhang nicht mehr deutlich voneinander differenzierbar sind) im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen geführt. Am Ende des 51 Ebd. Ich zitiere ohne die im Text gesetzten Umbrüche, obgleich sie für meine Interpretation von Bedeutung sind.
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Wahrnehmungsvorgangs und der parallel verlaufenden physiologisch-emotionalen Reaktion, die in elektrische Entladung mündet, bleibt die Differenzierung der Augenblicke schließlich aus („im Neunten oder Zehenten“). Zwischen dem Sechsten und letzten Augenblick bricht die Opposition zweier (wie wir schon wissen) zusammengehöriger Gefühlszustände wieder auf. Die „Beklemmung ums Herz“ führt zur „Ergießung des subtilen elektrischen Feuers“ – ob es sich um eine rein temporale Folge oder einen kausalen Vorgang handelt, bleibt vage. In diesem Ablauf äußert sich (so suggeriert der Text) jedoch das Entstehen zwischenmenschlicher Liebe. „[…], daß er im Sechsten eine Art von Beklemmung ums Herz fühlte, welche sich ungefähr im Neunten oder Zehenten mit der oben besagten Ergießung des subtilen elektrischen Feuers aus seinem Herzen durch alle Adern, Kanäle und Fasern seines ganzen Wesens endigte. Dieser letzte Augenblick ist, nach der Meinung unsers Autors, der angenehmste in dem ganzen Leben eines Menschen; […].“
Koxkox’ Gefühle bewegen sich in einem Kontinuum zwischen angenehm und unangenehm, zwischen Schrecken, Beklemmung und Euphorie. Das folgende Kapitel (10) erläutert nun diesen „angenehmste[n]“ Augenblick. Dabei dient die Erläuterung offensichtlich der Verstellung. Was dank Erzählkonvention aus dem Ablauf der Gefühlsregungen zu schließen wäre, äußert der Text an keiner Stelle explizit. Stattdessen wird eingeführt, „[…], was er [unser Autor Tlantlaquakapatli, K.K.] darüber filosofiert, […].“52 Um den Gegenstand, der über die Metaphorik der Elektrisierung aufgerufen wird, redet die Diskussion wie um den heißen Brei herum. Nicht nur das Ereignis des Verliebens bleibt unerwähnt, sondern es unterliegt über die Gattungskonvention hinaus der Persiflage, insofern der Text zunächst auf der puren Elektrisierung beharrt. Aus dem rein physiologischen Affekt resultiert keine zwangsläufig emotionale Reaktion. Somit entpuppt sich die gängige Erzählung der Liebe auf den ersten Blick als literarische Konvention. Die Erzählung verhandelt dieses Klischee, insofern der zweite Mann auf den Anblick der jungen Frau zwar ähnlich elektrisiert, aber keineswegs emotional, sondern animalisch reagiert. Aus textimmanenten oder -externen Gründen mag nachvollziehbar sein, weshalb die Elektrisierung sexuelle Erregung aufruft, jedoch nicht explizit benennt. Warum kein emphatisches Liebeskonzept vertreten wird, erhellt die reflektierte Gattungskonvention der Romanze, aber vor allem der Ursprungserzählung, welche eine signifikante Figurenkonstellation, ein Inventar des gesellschaftlichen Anfangs benötigt. In beidseitiger Umschiffung von Liebe und Sexualität entert „[…] die Wollust eine gute That zu thun […]“53 dann die Erzählung. Über den Gedanken der sinnrei52 Zitate: ebd. 53 A. O., S. 331.
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chen Einrichtung der Natur führt der (philosophisch ausgerichtete) Diskurs ein metaphysisches Prinzip ein, dessen anthropologische Wendung zur lebenspraktischen Regel Konsequenzen zeitigt: „den höchsten Grad des Vergnügens, dessen der Mensch fähig ist, mit denjenigen Empfindungen unauflöslich zu verbinden, welche den großen Endzweck seines Daseyns unmittelbar befördern.“54 Ein unaufgelöstes Rätsel bleibt, worin der „höchste[ ] Grad des Vergnügens“ besteht, und was den „großen Endzweck“ menschlichen Daseins ausmacht. Gattungserhalt umfasst mehr als biologische Reproduktion, da das Individuum selbst auf die Art und Weise des Fortbestands der Gattung einzuwirken vermag, indem es „[…] dem süßen Zug der Menschlichkeit gefolget, […].“ „In allen diesen, und in allen ähnlichen Fällen, fühle ich, in dem entscheidenden Augenblicke, diese göttliche Flamme sich mit einer unaussprechlichen geistigen Wollust durch mein ganzes Wesen ergießen, und den sittlichen Menschen mit dem animalischen wie in Eins zusammen schmelzen; – und ich sag’ und schwöre, daß keine andre Wollust so süß, so befriedigend, und – wenn ihr mir diesen Ausdruck gestatten wollt – so vergötternd ist als diese.“55
Ohne dass der Terminus ‚elektrisch‘ eigens auftaucht, nähert sich der geschilderte Ablauf der Elektrisierung an. Der Vorgang göttlicher Beseelung ist mit entflammbaren Entladungen verbunden und führt chemisch zur Verschmelzung zweier Elemente, die zuvor disparat voneinander existierten: Sie bilden eine neuartige Legierung. Erstmals kommt das Wort vor, das im Kontext elektrischer Auf- und Entladung infolge der verstörenden zwischenmenschlichen Begegnung zu erwarten wäre: die Wollust. Durch ihre Auslegung wird sie hingegen geistig überformt. Der ausweichende Einschub zieht den Hals des Erzählers aus der Schlinge des Pikanten. Als anthropologischer Gemeinplatz tritt die Stellung des Menschen zwischen Gott und Tier ein. Damit liegt allerdings keine basale menschliche Disposition vor, sondern sie muss erst erarbeitet werden, um als Merkmal eines „tugendhaften Karakters“56 hervorzutreten. Nun bauen die folgenden Einlassungen mehr den Kontrastpol zu ausgewogener Tugendhaftigkeit auf. Lebenslust und ungeistige Genüsse debütieren zwar als „Freude“, stehen der Wollust des tugendhaften Charakters indes bei weitem nach. „Aber, ich behaupte dir und schwöre, daß die Wollust eine gute That zu thun – die größte aller Wollüste ist!“57 Der Kreis von moralischer Handlung und unerlässlicher geschlechtlicher Fortpflanzung schließt sich über das Tertium Comparationis einer je eigentümlich aufgefassten Wollust.
54 A. O., S. 330. 55 Zitate: ebd. 56 Ebd. 57 A. O., S. 331.
80 │S UBTEXTE DER M ENSCHHEITSGESCHICHTE „Wenn der Urheber des Menschen, […] den Trieben, von welchen die Vermehrung unsrer Gattung die Folge ist, einen Theil dieser göttlichen Wollust, von welcher ich rede, eingesenkt hat: so kann ich nichts anders vermuthen, als daß es darum geschehen sey, weil dieses Geschäft, wiewohl an sich selbst bloß animalisch, für das menschliche Geschlecht von solcher Wichtigkeit ist, daß er es in dieser Betrachtung würdig fand, die Menschen durch dieselbe Belohnung, die er mit den edelsten Handlungen verbunden hat, dazu einzuladen.“58
An den Zitaten lässt sich die Verkehrung der Wollust ablesen. Obgleich der Begriff für höhere geistige Genüsse trägt, entstammt er dem sinnlichen Bereich, und die bis heute geltende sexuelle Konnotation gibt dessen Hauptbedeutung an. Mit der Verkehrung ironisiert der Text nicht allein die romantischen Tugendideale der Empfindsamkeit (vgl. dazu den Eintrag im Adelung und die dort verzeichnete, in Wielands Text nahezu zitierte Wendung Gellerts).59 Aus welcher höheren oder niederen Empfindung die Wollust herrühren mag: Ihr sinnlich-eruptives Potential bleibt in beiden Fällen ungebrochen. Ob nun Glückseligkeit das Band zwischen moralischer Handlung und (sinnlicher) Wollust knüpft oder sich erst in der Verschmelzung beider Wollüste erfüllt – dem affektiven Charakter der Wollust wäre in jedem Fall Rechnung zu tragen. Moralphilosophisch besteht ein Unterschied darin, aus Lust und Neigung oder aus höhergestellten Prinzipien zu handeln. Für die Textpraxis ist bezeichnend, dass sie einen narrativen und interpretierenden (beinahe allegorisierenden) Umweg nimmt, und insofern über das Verfahren von Wielands Beiträgen insgesamt Aufschluss gibt. 3.5 Antagonismen: Sehen und Tasten – Korrelationen: Sehen und Gewalt Bevor sich die Schilderung von Koxkox’ emotionaler Reaktion fortsetzt, erschließt der Text die moralisch-metaphysische Dimension der Elektrisierung, die ihre unfehlbar irdische Wirkung zeitigt. Die Wucht der umschriebenen sinnlichen Affizierung setzt den Protagonisten fast außer Gefecht. „Die Empfindungen des jungen 58 Ebd. 59 Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Wien, 1811, Vierter Theil, Seb-Z, Sp. 1610-1611: „[...]. 1. Von der Empfindung, da es einen hohen Grad des sinnlichen Vergnügens bedeutet, und von mehrern Arten desselben auch den Plural verstattet. (1) Im engern Verstande bezeichnet es hier die höchsten Grade jedes ungeordneten sinnlichen Vergnügens, besonders dasjenige, welches mit der Vermischung beyder Geschlechter verbunden ist. […]. (2) In weiterer Bedeutung, der höchste Grad eines jeden, selbst erlaubten und mehr geistigen Vergnügens. Sein ganzes Herz zerfloß in Wolluft. O was ist ein Umgang mit großen Herzen für eine Wollust! Gell. Seine süßeste Wollust ist, andern Gutes zu thun.“
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Mexikaners waren so heftig, daß er sich an einen Baum, […], lehnen mußte, um nicht unter ihrer Gewalt einzusinken.“ Zwar empfindet der Jüngling seine Gefühle nach wie vor als schaurig-schön. Zunehmend weicht das Gefühl des Schreckens indes Erstaunen und Unverständnis. Zwischen Befremden und Vertrautheit entspannt sich ein merkwürdiger Gegensatz, der den Zusammenhang von gegebener Situation und anthropologischer Disposition stiftet. „Die Freude, eine Gesellschaft zu finden, von welcher er sich mehr Vergnügen und Vortheil versprach als von seinen Papagayen, Die Anmuthung, welche ihm ihre Ähnlichkeit mit ihm einflößte, Eine andere unbekannte Regung, die gerade aus dem Gegentheil entsprang, Das Vergnügen an ihrem bloßen Anschauen, und die dunkle Ahnung, welche seine Brust mit noch süßern Erwartungen schwellte – Alle diese Regungen, welche ihm so fremd und doch so natürlich, so angenehm und doch so unverständlich waren, […].“60
Weitere Reaktionen Koxkox’ resultieren aus der Erkenntnis seiner Ähnlichkeit mit bzw. Differenz zu Kikequetzel. Wie jedes andere Wesen seines Lebensraums wäre Kikequetzel eine potentielle Gesellschafterin. Zum Gegenstand ausgesuchter Gesellschaft kürt sie hingegen ihre Ähnlichkeit bei gleichzeitiger Differenz. Natürlichkeit birgt keinen unmittelbaren Zugang oder Evidenz, sondern besteht parallel zum Befremden. Für den Liebesdiskurs bietet das Verhältnis von Differenz und Anziehungskraft kein originelles Bild an. Epistemologisch errichtet die simultane Präsenz zweier sich widersprechender Sachverhalte eine bemerkenswerte Konstellation. Fremdheit und Natürlichkeit stehen im dialektischen Spannungsverhältnis oder Antagonismus zueinander. Im Liebesdiskurs werden sie synthetisiert, epistemologisch findet diese Synthesis indes keinerlei Entsprechung. Überträgt man beide Korrelationen reziproker Wahrnehmung auf das Fremde oder Vertraute der Erkenntnis generell – z. B. als Verhältnis von innen und außen –, so ließe dies auf einen prinzipiellen Antagonismus der Erkenntnis schließen, der zwar nicht aufzulösen ist, aber hervorhebt, dass beide Elemente Bestand haben. Ferner träfe der Antagonismus auf das Verhältnis Kultur versus Natur zu, schlösse damit implizite Kritik am konventionalisierten Geschlechterverhältnis ein. Dabei zieht der Text das Natürliche keinesfalls dem Befremden vor, sofern just das Befremden Koxkox’ Interesse weckt und ihn zur Actio antreibt. An dieser Stelle knüpft die mitlaufende Reflexion an die Diskussion über die Verlässlichkeit des 60 Wieland, Koxkox und Kikequetzel, Zitate: a. O., S. 331. Auch hier wird der Fluss von Koxkox’ Empfindungen und Gedanken umgesetzt, indem die Teile der Aufzählung jeweils mit Großbuchstaben beginnen, jedoch mittels Kommata verbunden werden (im Sinne der Konjunktion). Die Art der Reihung mag formal an ein Gedicht erinnern. Tatsächlich eignet sich für die Antithetik widersprechender Gefühle eher die poetische als die prosaische Form.
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Augenscheins an. Der Anblick Kikequetzels, der die oben geschilderten elektrischphysiologischen Verkettungen in Gang setzt, deren Abspulen Durchmischung und Verwirrung provoziert, hat weitreichende Konsequenzen, die in der Durchführung eines Realitätstests kulminieren. „Es ist in der menschlichen Natur, daß wir uns das wirkliche Vorhandenseyn eines Gegenstandes, den uns die Augen bekannt gemacht haben, durch einen andern Sinn zu beweisen suchen, welcher […] der erste ist, durch den wir unser eigenes Daseyn fühlen, und der eben dadurch zum Werkzeug wird, womit wir, von der Natur selbst dazu angewiesen, die Wirklichkeit der Fänomene, die uns umgeben, auf die Probe setzen. Nichts war demnach natürlicher als der Zweifel, der nach einer kleinen Weile in Koxkoxen aufstieg, ‚ob das, was er sah, auch wirklich sey?‘“61
Obgleich der Sehsinn in erster Instanz wahrnimmt, legt der Text dar, dass er als ontogenetisch sekundär einzustufen und zudem wenig verlässlich ist: Er erzeugt vorerst nur Augen-Schein. Seine Beweiskraft allein ist zu dürftig, ohne Unterstützung des Tastsinns verbleibt der Erkennende im Bereich der „Fänomene“ und gelangt nicht zur Bestätigung ihrer Wirklichkeit. Insofern steht die philosophische Nobilität des Sehsinns zur Disposition. Als Sinn zeichnet er den Menschen nicht primär aus. Vielmehr versetzt die taktile Wahrnehmung den Menschen erst in die Lage, sich in der Welt als (von ihr) differenziert wahrzunehmen, d. h. also zu fühlen. Der Tastsinn wirkt identitätsbildend und hilft dem Individuum dabei, sich von anderen Gegenständen abzugrenzen, indem es seine eigenen Grenzen abtastet. Solange es seine Welt nur optisch wahrnimmt, bleibt es außer Gefahr. Als Beobachter und nicht als Teilhaber seiner Welt bleibt es philosophisch außen vor. „Er streckte schon seine rechte Hand aus, – als ein abermahliger Schauder sein Blut aus allen Adern gegen die Brust zurück drückte; und – wie ein Pfeil, der unmittelbar am Ziele alle seine Kraft verloren hat – sank der nervenlose Arm zurück. Er betrachtete das Mädchen von neuem: und da sich mit jedem Augenblicke seine Furcht verlor, und die Begierde, sich ihrer Körperlichkeit zu versichern, zunahm; so streckte er noch einmahl seine rechte Hand aus, […].“62
„Schauder“ und „Furcht“ begleiten die Ertastung der Wirklichkeit, und die physiologische Reaktion des Schauderns wirkt einer Repulsion vergleichbar, die erfolgt, bevor Koxkox auf den Gegenstand trifft, der sie erst verursachen würde. Abermals geht der innere körperliche Vollzug gewaltsam vor sich. Wie in der vorangehenden Analyse übernimmt der Augen-Blick nicht allein die Funktion eines zeitlichen Indi61 A. O., S. 332. 62 Ebd.
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kators, sondern dient als Hilfsmittel, um den proof of reality schließlich durchführen zu können. Dieser Test verläuft erfolgreich und zieht eine ganze Reihe natürlicher Reaktionen nach sich – bestärkt den Impuls, das „Experiment“ mit „forschende[r] Hand“ fortzusetzen. Das tastende „Experiment“ ver(un)sichert als verlängerter Arm des Augenscheins die Verlässlichkeit visueller Erkenntnis, bietet eine epistemische Alternative an. Damit vollzieht sich ein mechanischer Vorgang, der Koxkox ganz und gar in der Erfassung der Außenwelt aufgehen lässt, denn, „[w]as in diesen Augenblicken in ihm vorging, läßt sich nicht beschreiben. Die Wahrheit ist, daß er selbst unfähig gewesen wäre Rechenschaft davon zu geben.“63 Koxkox reagiert mit Verdunklung seiner optischen Wahrnehmung. Er sieht nicht mehr, sondern verliert sich im Diffusen: „[…] seine Augen fingen an trüb zu werden, und vor lauter Empfindung sank er ohne Empfindung neben die schöne Kikequetzel hin, […].“64 Das Äußerliche überwältigt ihn emotional, wenngleich über den genauen Verlauf der emotionalen Reaktion nichts mitteilbar ist. Die eratische Formulierung „vor lauter Empfindung [...] ohne Empfindung“ bringt das paradoxe Verhältnis der unsagbaren Überwältigung einerseits sowie die angerissene Gewalt und Unkontrollierbarkeit physiologischer Reaktionen andererseits auf den Punkt. Am Ende mündet die höchste Steigerung von Empfindung in Empfindungslosigkeit – ähnlich dem Schmerz, der nicht mehr wahrnehmbar ist, sobald er seinen höchsten Grad erreicht hat und mit Ohnmacht oder Bewusstseinsverlust aussetzt.65 Das Kapitel (11) schließt mit Koxkox’ pikanter Lage als Folge seiner Erkundungen und Ohnmacht, welche zum Erwachen des Mädchens führen. Wie in den vorigen Episoden unterbricht die nähere Erzählung der situativen Begebenheiten, in denen sich das mexikanische Paar befindet, um zusätzlich sowohl eine retrospektive Erzählung als auch eine Kommentarpassage einzufügen. Ausschweifende Digressionen kappen die Ereignisse der histoire an ihren fesselndsten Stellen. Dieses Verfahren dient nicht der Spannungssteigerung. Fortwährend moniert der Erzähler erster Ordnung Tlantlaquakapatlis diskursive Unterbrechung der Abläufe, um deren Tiefenstruktur zu erläutern. Nun fügt die Digression die Vorgeschichte Kikequetzels ein, um zu erläutern, weshalb sie „[…], eine stärkere Anlage zu zärtlichen Empfin63 Zitate: ebd. 64 Ebd. Zum Empfindungs-Diskurs des 18. Jahrhunderts s. Davide Giuriato, „Zärtliche Liebe und Affektpolitik im Zeitalter der Empfindsamkeit“, in: Handbuch Literatur & Emotionen, hg. v. Martin von Koppenfels u. Cornelia Zumbusch, Berlin/New York, 2016, S. 329-342. Lothar van Laak, Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit. Historisch-systematische Studien zur Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, Tübingen, 2003. 65 Wobei es sich um einen Zustand höchster Erregung handelt, plausibler Weise sexueller Natur. Der Text kann dies analog zu seinem Protagonisten nicht zum Ausdruck bringen, welchem für diese affektive Dimension zwar nicht die Empfindungsfähigkeit, jedoch die Begriffe fehlen.
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dungen bekommen, als die bloße Natur [sic!] den meisten ihres Geschlechts zu geben pflegt.“66 Die Beziehung Koxkox gegenüber spiegelt die Beziehung zur Mutter, mit der sie der großen Überflutung entkam. „Sie waren also eines dem andern die ganze Welt. Alle ihre Empfindungen koncentrierten sich in ihre gegenseitige Liebe.“67 Es steht zu vermuten, dass die maßlos übersteigerte Beziehung zwischen Mutter und Tochter, deren wechselseitige Einzigkeit sowie die rein matriarchale Ordnung der kleinen Zweier-Gesellschaft entscheidend zur emotionalen Disposition Kikequetzels beigetragen haben. Der Mutter Kikequetzels ist daran gelegen, das Mädchen für den Fall durchzubringen, dass man weitere Menschen finden sollte. Trotz geringer Hoffnung ihnen zu begegnen, bilden Männer nach wie vor die Kontrastfolie dieser künstlichen Gesellschaftsform. Innerhalb ihrer Beziehung bereitet die Mutter ihre Tochter unbeabsichtigt auf eine künftige Lebensweise vor, die mit ihrem Ausgangszustand nichts mehr gemein hat. Das System, in dem Koxkox und Kikequetzel zusammenleben, rührt dezidiert von der Herrschaft des Mannes über die Frau her. So treiben Vielweiberei und die Gemeinschaft der Frauen die Nachkommen von Koxkox und Kikequetzel zuletzt in den allmählichen gesellschaftlichen Verfall. Sobald Kikequetzel geschlechtsreif ist, stirbt die (nunmehr entbehrliche) Mutter bei einem Unfall. Nachdem das Mädchen seine Trauerphase überwunden und sich im Urwaldleben zurechtgefunden hat, macht sich eine neugierige Unzufriedenheit breit, die dem Wissen entspringt, „[…], daß es eine Art von Menschen gegeben habe, welche nicht völlig so gewesen wie sie selbst. […] Indessen wusste das Mädchen schon genug, um ein sehr lebhaftes Verlangen in sich zu fühlen, einen von diesen Menschen zu finden; […].“68 Kommentierend schließt eine Ermahnung der Leserinnen an, deren Delikatesse der Erzähler mit weiteren Ausführungen nicht zu beleidigen hofft. Er ruft zugleich zur ernsthaften Selbstbefragung auf und rechtfertigt das Verhalten Kikequetzels durch ihre Wildheit und die Suggestion, dass sie „[…] Ursache hatte, sich für das einzige Mädchen in der Welt zu halten.“69 Einzigkeit (Einzigartigkeit) spielt in vielen Zusammenhängen eine maßgebende Rolle. Die arkadische Utopie beginnt zu verfallen, sobald die Protagonisten bemerken, dass sie nicht nur nicht (mehr) numerisch einzig, sondern auch substituierbar sind. Dann funktioniert auch deren sprachlose Verständigung nicht mehr, Sprache tritt als Substitutionssystem ein. Die Gesellschaft mehrerer Menschen, so suggeriert der Fortgang der Erzählung, mündet in einen Zustand, in dem deren Mitglieder sich gegenseitig als Mittel begreifen, andere aus geteilten Zusammenhängen auszuschließen. Die Unschuld fällt mit dem 66 A. O., S. 334. 67 A. O., S. 333. 68 Ebd. 69 A. O., S. 335.
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Stand der Gesellschaft. Der Stand der Unschuld und Zweisamkeit birgt signifikante kommunikative Empfindungswege. 3.6. Augensprache Kapitel 14 schließt an die Erzählung an, um die zunehmend bewusste gegenseitige Erkenntnis der beiden mexikanischen Naturkinder zu schildern. Koxkox bleibt vorerst Beobachter, Voyeur einer Szene, die seinen Empfindungsapparat und seinen Tastsinn in Gang setzt, bis er schließlich überwältigt hinsinkt. An dieser Stelle vollzieht sich ein Rollentausch. Das junge Mädchen erwacht, und erblickt ihrerseits einen kulturell überformten Schlafenden: den „jungen Herkules“, „[…] in einem dem Tod ähnlichen Zustande […].“ Der Erzähler kommt auf Koxkox’ pikante Lage (in ihrem Schoß) zurück, die er zwar nicht zu lokalisieren vermag, jedoch zum zweiten Mal identisch umkreist, und hält dafür, dass „Damen […] sichs leichter vorstellen [können], […], wie sehr sie über diesen Anblick erschrak.“ Wie im vorigen Kapitel gilt dieser Hinweis der Ermahnung der Leserinnen, wobei dort nachdrücklich versichert wurde, dass Kikequetzel keine Dame, sondern eine „Wilde“ sei. Davon, worüber „Damen“ erschrecken, dürfte sie keinen Begriff haben. Nun wiederholt sich die ausweichende Beschreibung von Koxkox’ veränderter Lage. Der Text knüpft an den Komplex unzuverlässiger Repräsentation infolge mangelnder adäquater Zeugnisse an – weniger, um nachzureichen, was auf erster Stufe der Überlieferung fehlt(e), sondern um vorzuenthalten, was auf zweiter Stufe (in der Erzählung) nicht verbalisiert werden darf. Indem Tlantlaquakapatlis Erzählung als deren Prätext eingesetzt wird, stellt sich ein intertextueller Bezug zu prominenten Verfassern von (Natur-)Geschichten her. „[…] wie sich genauer bestimmen ließe, wenn der Filosof Tlantlaquakapatli seiner zwar sehr umständlichen aber etwas undeutlichen Beschreibung eine genaue Zeichnung beyzufügen nicht vergessen hätte; – eine Unterlassung, um derentwillen eine Menge gelehrter und mühsamer Beschreibungen des Aristoteles, Theofrast, Plinius, Avicenna und andrer Naturforscher der Welt unbrauchbar geworden sind“70
Der erste Lapsus des Naturbeschreibers – die Aussparung des adäquaten Darstellungsmediums – lässt alle nachfolgenden Naturbeschreibungen defizitär erscheinen. Dabei handelt es sich im Grunde um das bukolische Thema, das ausgespart werden muss. Die „Zeichnung“ tritt als Metapher dafür ein, etwas mit deutlichen Worten zu 70 Zitate: a. O., S. 336. Hier fehlt tatsächlich ein Satzschlusszeichen. Nach dem Gedankenstrich steht dem Leser der Raum weiterer Überlegung frei: ein geschickter Schachzug, denn er wird in einem Bereich auf sich selbst verwiesen, der im Text nicht angeregt werden darf. „Wilde“, S. 335.
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skizzieren. Denn die Wiedergabe der Szene – ob gezeichnet oder beschreibend (nicht umschreibend!) – stellt sich dem Betrachter des 18. Jahrhunderts mehr oder minder offenherzig dar. Während Wielands narrativer Beitrag die „Zeichnung“ als ironische Reflexionsfigur nutzt, weist Kants „Kritik der Urtheilskraft“ sie als Grundgerüst (metaphorische Umrisslinie) künstlerischer Darstellung aus. In seiner früheren Schrift „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ nimmt er explizit auf den Mangel bildender Darstellung Bezug und schlägt ein Substitutionsverfahren vor, das den „wunderlichen Abriß“, wenn nicht durch „Zeichnung“, so doch über „Beschreibung“, letztlich „durch Beispiele“ ergänzt bzw. „ersetz[t]“: „Ich will diesen wunderlichen Abriß der menschlichen Schwachheiten durch Beispiele etwas verständlicher machen; denn der, welchem Hogarths Grabstichel fehlt, muß, was der Zeichnung am Ausdrucke mangelt, durch Beschreibung ersetzen.“71 Herders „Ideen“ ziehen in letzter Konsequenz bildgebende Darstellungen heran (Gemälde, Tableaus), die vom Leser über den Text hinaus eingesehen werden müssen, um dessen Argument nachverfolgen zu können (vgl. das Kapitel „Gemälde-Metaphorik?“). Die Naturbeschreiber müssen gewisse Themen der Naturbetrachtung umgehen: eine Schieflage, die Wielands Text nicht ohne Ironie, jedoch mithilfe der gleichen Beschreibungskonvention, der Um-Schreibung (oder Umschiffung), kommentiert. Für Kikequetzels Reaktion gilt ein leicht abgewandelter Schematismus der Augenblicke. Wie Koxkox reagiert sie zunächst mit „Schrecken“. Ihr EmpfindungsReiz resultiert aus dem Erkennen zeitgleicher Differenz bei Konformität. Reiz, Empfindung und Erkenntnis fallen aufgrund vorhergehender sozialer Prägung zusammen, Erkenntnis lässt sich nicht in konstitutive Schritte rückübertragen. Auf die Begegnung zubereitet72, erschließt sich Kikequetzel intuitiv, mit welch einem Wesen sie es zu tun hat. Des „Herz[en]“ „eigene Logik“ lässt ihren Wunsch zur Wahrheit gerinnen, wobei der Zweifel am Augenschein auch diesmal einen Realitätstest notwendig werden lässt.73 71 Vgl. das Kapitel „Von der Eintheilung der schönen Künste“ („Kritik der Urtheilskraft“, § 51); Zum Zitat vgl. Kant, Beobachtungen, in: KAA II, S. 214. Bei unberechenbaren anthropologischen Themen, die aus der Reihe fallen, ist das Beispiel als Darstellungs- und Erkenntnismedium unverzichtbar. 72 Ich fasse die Vorbereitung durch die Aufklärung ihrer Mutter angesichts des Folgenden dezidiert als eine solche Zubereitung auf. Sie lässt sich nämlich erbeuten und aufessen (s. Wieland, Koxkox und Kikequetzel, a. O., S. 338). 73 Die Ausführungen über die Logik des Herzens sind inkonsistent. Als Geschenk der Natur lässt sie Wünsche entgegen sinnlicher Wahrnehmung wahr werden. Damit würde Natur sich durch das „Herz“ gegen sich selbst richten. Es trifft zwar zu, dass Kikequetzel die Begegnung mit einem Mann wünscht: Was sie sinnlich wahrnimmt, ist jedoch auch einer. Sie muss ihre Sinne nicht betrügen. Der Einschub würde nur dann Sinn ergeben, wenn
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Das Mädchen führt einen inneren Dialog (bzw. sind mehrere Stimmen im Zwiespalt), in dem es sich über die genauen Umstände von Koxkox’ Existenz, aber auch ihre etwaige gemeinsame Zukunft zu versichern sucht. Bei dieser Gelegenheit betont der Text abermals die Unübersetzbarkeit innerer Gedanken in äußere Begebenheiten, wobei das im Text realisierte Zwiegespräch das Entstehen ihres Zweifels detailliert wiedergibt. „Sie konnte diesen Zweifel [dass er tot sei, K.K.] nicht ertagen [sic]. Sie legte zitternd ihre blasse Hand auf sein Herz – […] Sie fuhr zusammen, und zog mit einem Schrey des Schreckens und der Freude ihre Hand zurück.“74 Das junge Paar belebt sich gegenseitig wieder: er eine Schlafende, sie einen Ohnmächtigen bzw. vermeintlich Toten – und stets bewirkt ein taktiles Element Tötung und Belebung bzw. Selbstbelebung. Diese kurze Szene lässt demnach bereits den Diskurs um den „Laokoon“ (durch die Rahmung des pittoresken Gemäldes) und Elemente des Pygmalion-Stoffes zusammenlaufen, blendet im Vollzug der Tastwahrnehmung zunehmend visuelle Selbstvergewisserung aus. Dennoch übernimmt visuelles Erkennen für das wechselseitige Erwecken eine nicht zu vernachlässigende Funktion. Durch das Ertasten des Gegenstandes scheint seine tatsächliche Existenz gesichert, der Zweifel, es handle sich nur um ein Traumbild oder einen Toten, ist ausgeräumt.75 „Er hob seine Augen auf, und sah sie – mit einem so freudigen Erstaunen, mit einem so lebhaften Ausdruck von Liebe und Verlangen an, und seine Augen baten so brünstig um Gegenliebe; – daß sie – die keinen Begriff davon hatte daß man anders aussehen könne als es einem ums Herz ist – sich nicht anders zu helfen wußte, als ihn – wieder so freundlich anzusehen als sie nur immer konnte. Die Wahrheit ist, daß sie ihn so zärtlich ansah, als die feurigste Liebhaberin einen Geliebten ansehen könnte, der nach sieben langen Jahren Abwesenheit, […], wohlbehalten und getreu in ihre Umarmungen zurück geflogen wäre. – Aber was das sonderbarste dabey war, ist, daß sie weder wußte noch wissen konnte, warum sie ihn so zärtlich ansah. In der That wußte sie gar nicht wie ihr geschah; genug, es war ihr so wohl bey diesen Blicken und Gegenblicken, daß ihr däuchte, sie fange eben jetzt zu leben an.“76
Koxkox z. B. nicht heterosexuell wäre – diese Geschichte wird im Folgenden jedoch nicht erzählt. 74 Zitate: a. O., S. 337. 75 Wobei interessant ist, dass nur Koxkox fürchtet, er könne träumen. Kikequetzel muss aufgrund ihrer Zu-Bereitung fürchten, ihre gesellschaftliche Funktion nicht erfüllen zu können. Dass sie sich einsam fühlen könnte, steht nicht zur Debatte. Koxkox steht zunächst ein anderer Weg offen – die Gesellschaft des Papageien, die freilich auf das Echo des Selbstbezugs verweist. 76 Ebd.
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Im „Erstaunen“ äußert sich die angemessene Reaktion des Mexikaners, da er keinerlei diskursives Wissen von der Existenz weiblicher Wesen erlangt hat; im Gegensatz zu seiner jungen Freundin, die über den Unterschied zwischen Mann und Frau zumindest in Kenntnis gesetzt wurde. Jene kulturelle Überbrückung benötigt er nicht, sondern reagiert als Männchen naturgemäß (mit „Verlangen“), übersetzt es indes umgehend in (der Erzählkonvention des 18. Jahrhunderts) adäquate Gefühle: in „Liebe“. Offen bleibt, ob dieses Gefühl natürlich entsteht oder ob es kultureller Zubereitung bedarf. Für diese letzte Annahme sprächen die mangelnde Sozialisation des jungen Mannes sowie die Tatsache, dass er den Blickwechsel initiiert, wohingegen seine Partnerin dezidiert auf die Begegnung zubereitet wurde. Durch den zärtlich-wissenden Blick einer Frau wird er demnach nicht unterrichtet – eine Variable, welche die Koordinaten der Geschichte ebenfalls einziehen ließen. Eine eingehende Differenzierung von „Verlangen“ und „Liebe“ findet im Text nicht statt. Beide Reaktionen auf ein Gegenüber gehören dem gleichen affektiven Paradigma an. So bitten die Augen des jungen Mannes „brünstig um Gegenliebe“: nicht nur recht inbrünstig, sondern vor allem in Brunst. Einerseits wird der Topos unmittelbarer Kommunikation zweier Herzen über deren Augen-Blicke und BlickWechsel aufgerufen. Jedoch hebt der Text andererseits deutlich die animalische Prägung dieser Liebe auf den ersten Blick hervor. Demgemäß ist es nur konsequent, wenn Kikequetzel den inbrünstigen Blick erwidert, „die keinen Begriff davon hatte daß man anders aussehen könne als es einem ums Herz ist“. Weil das junge Mädchen die Bräuche gesellschaftlicher Verstellung und deren Nutzen nicht kennt, kann sie den Blick des Jünglings nicht nur adäquat interpretieren, sondern auch ohne daran Anstoß zu nehmen. Sie nimmt den brünstigen Blick wahr, muss sich davor aber nicht in Acht nehmen, so als würde sie ihn nur hinter einer äußeren Fassade vermuten. Sie fürchtet nichts, da sie keine Heuchelei aufzuspüren hat, sich keiner Gesellschaft ausgesetzt sieht, die Verstellung einforderte, bzw. vor der sie nötig würde – und da ihr zudem (dies hängt mit dem Mangel jeglicher Gesellschaft zusammen) eine Alternative fehlt. Sie kann entweder im defizitären Zustand uneingelöster Weiblichkeit weitervegetieren oder sich in ihre Rolle fügen. Da sie solitär ist, kann dies umstandslos geschehen. Koxkox bietet sich ebenfalls keine Alternative dazu, sie zu nehmen. Sobald mehrere Männer und Frauen ins Spiel kommen, ändert sich die Konstellation. Auf die nächste Begegnung mit einem Mann, der sie brünstig ansieht, reagiert Kikequetzel mit Furcht und Flucht. Von der Warte einer noch nicht integrierten Gesellschaft aus – einer Gesellschaft, mit der man noch nichts oder eigentlich gar nichts zu tun haben will77 – wird es moralisch fragwürdig, andere Männer „mit Aufmerksamkeit“ zu betrachten.78 77 Nämlich aus der Warte Tlaquatzins und der Tante mit ihren beiden Nichten, von denen uns keine Namen bekannt sind. 78 Vgl. a. O., S. 358.
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Zu unterscheiden sind der Stand von Natur und Freiheit insofern, als nur der letzte die Möglichkeit zu wählen einräumt. Solange diese Wahl ausgeschlossen bleibt, ist der unmittelbare sexuelle Kontakt keinesfalls moralisch sanktionierbar. Insoweit rechtfertigt die Unwissenheit das weitere Betragen, da die „feurigste Liebhaberin“ sich keine Rechenschaft darüber ablegen kann, obwohl sie dunkle Begriffe von der Geschlechterdifferenz besitzt. Somit baut sich eine Semantik von Unschuld und natürlichem Verhalten auf, Natur und Instinkt avancieren zu Garanten der Moralität. Über die „Augensprache“ kommuniziert der Stand der Unschuld direkt und unvermittelt. Der Sehsinn manifestiert sich als Sinn der Zweisamkeit und Reziprozität, und tritt vor alle Zeichensysteme und Sprachen. Weil Kikequetzel „keinen Begriff davon hatte daß man anders aussehen könne als es einem ums Herz ist“, kann sie darauf verzichten, die Interpretation potentieller Zeichensysteme zu leisten. Zwischen Ausdruck des Gefühls und Gefühl selbst braucht (und vermag) sie nicht zu unterscheiden.79 Die Magie jener Kommunikation begründet sich daraus, dass sie nichts weniger als vermittelt, also unmöglich ist. Somit liegt die Utopie einer Vermittlung vor, die keiner Vermittlung mehr bedarf, weil die Dinge für sich selbst sprechen. Dieser Utopie entspricht die unproblematisierte alltägliche Wahrnehmung. Im Nachtrag der philosophisch fundierten Abweisung des bösen Blicks wird der ungestüme, voreilige Blick des sich ereifernden Liebhabers kommentiert – ein Blick freilich, der zuweilen auch zum „Gecken“ macht. „Die Weisen haben längst bemerkt, daß etwas Magisches in dem menschlichen Auge sey; […]. Koxkox sah die schöne Kikequetzel immer feuriger an; Sie Koxkoxen immer zärtlicher. ‚O! wie lieb hab’ ich dich!‘ – sagten ihr seine Augen. ‚O! wie angenehm ist mir das!‘ – antworteten die ihrigen. ‚Ich möchte dich auf einen Blick aufessen‘, sagten jene. ‚Ich sterbe vor Vergnügen wenn du mich länger so ansiehst,‘ sagten diese. Diese Augensprache [Hervorhebung K. K.] dauerte, nach unserm Autor, ungefähr eine Minute, weniger etliche Sekunden, als Koxkox, […] – nicht als ob er einen bestimmten Vorsatz dabey gehabt hätte, sondern in der That aus bloßem Instinkt, – seine beiden Arme um ihren Leib schlug.“80
Die utopische lautlose, nicht zu vernehmende Kommunikation tritt als stichische Rede in Szene, wobei die Verteilung der Affekte konventionell ausfällt. Koxkox bringt unverhohlen seine Begierde zum Ausdruck, und die Schöne antwortet mit der ihr eigenen Zärtlichkeit.81 Der junge Mann verbreitet seine Emotionen, seine Part79 Der Tastsinn bleibt der ursprünglichere, dient der eigenen Abgrenzung nach außen und dem Realitätstest. 80 A. O., S. 338. 81 Obgleich sie zuvor als feurige Liebhaberin tituliert wurde.
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nerin kann nur darauf respondieren und sein Angebot ablehnen bzw. annehmen. Ihre persönlichen Bedürfnisse darf sie in der natürlichen Augensprache nicht formulieren. Ähnlich verhält es sich mit dem zweiten Wechselblick, der ein kannibalisches Element oder ein Jäger-Beute-Schema in das Verhältnis des jungen Paares einbringt. Der Mexikaner möchte seine zukünftige Partnerin „aufessen“, und Kikequetzel scheint diese Art ihrer Anverwandlung oder Einverleibung masochistischlustvoll anzunehmen (sie stirbt „vor Vergnügen“). Koxkox ergreift seine Beute gewaltsam (er schlägt instinktiv seinen Arm um sie), während das junge Mädchen sich ihrem Jäger gegenüber zärtlich, scheu und zurückhaltend gebärdet. Trotz aller gesellschaftlichen Unterdeterminierung lässt sie erkennen, was der Zuschauer als Scham deuten müsste, der Leser aufgrund der zuvor geltend gemachten Prämissen jedoch nicht als solche deuten darf: Denn im Stand der Natur braucht sie sich nicht zu schämen. „Kikequetzel, die sich einbildete, dass sie ihm keine Antwort schuldig bleiben dürfe, legte ganz langsam und leise ihre rechte Hand auf seine linke Schulter, – und erröthete bis an die Fingerspitzen, indem sie es that.“82 Äußerst umständlich gerät die Erzählung Tlantlaquakapatlis an der Stelle, wo „[…] nicht mehr Umstände als dieß […]“83 gemacht werden. Dabei windet sich der „Abkürzer“84 der Geschichte aus der pikanten Situation heraus, indem ein Mangel sprachlicher Adäquatheit (Sensibilität) vorgeschoben wird. Damit vermeidet er den Fehler der Naturbeschreiber (Plinius, Aristoteles usf.), die sich als schlechte Kopisten erwiesen haben. „Tlantlaquakapatli, dessen Fehler überhaupt zu wenig Umständlichkeit nicht ist, fährt hier fort, uns von Umstand zu Umstand zu berichten, wie die Natur mit diesen ihren Kindern gespielt habe. […] bloß unser Unvermögen, die Zartheit der Sprache des Mexikanischen Filosofen in die unsrige übertragen zu können, verbietet uns, ihm weiter zu folgen.“85
Was hier verbietet, die Erzählung des mexikanischen Philosophen aufzunehmen, hängt nicht von formalsprachlichen, sondern handfesten Kriterien ab. Unter dem Vorwand missglückter translatio wird das für Wieland charakteristische Merkmal poetologischer Selbstreflexion ironisiert, wenn nicht gar pervertiert. Der poetologische Mangel resultiert nicht daraus, das Thema nicht darstellen zu können, sondern dies aus Prävention vor möglicher Zensur zu unterlassen. Das Hemmnis entstammt nicht dem Universum künstlerischer Darstellung, sondern unterliegt äußeren Be-
82 Ebd. 83 Ebd. 84 A. O., S. 334. 85 A. O., S. 338. Ironischer Verweis auf die „Naturforscher“: S. 336.
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weggründen.86 Damit entpuppt Poetologie sich als Programm und Mittel politischer Verstellung (vgl. dazu das Schlusskapitel zu Wielands „Idee zu einem allegorischen Gemälde“). Einerseits wäre dieser Zug als versch(r)obene Kritik an Zensurmechanismen aufzufassen. Andererseits stellt sich die Frage nach dem Konnex von Politik und Poetologie, da der Text ihr Zusammenspiel aufnimmt, indem er im Modus der Verstellung operiert. Zugespitzt formuliert, lässt sich der Stand der Natur, in dem das mexikanische Paar keine Scham empfindet, nicht aussprechen. Das Natürliche ist zugleich das Anstößige oder Unsagbare, da es vor aller symbolischen Ordnung steht. Innerhalb dieses Diskurses bleibt das (zärtliche, nicht höchst erregte) Erröten als Geschlechtermerkmal weiblicher Zurückhaltung und Grazie unverzichtbar, und wird daher aus dem Bereich kultureller Kodierung in die Natur eingeholt. „Wenn uns nicht alles betrügt, so ist das, was wir unsern Lesern in den beiden vorher gehenden Kapiteln zu lesen gegeben haben, pure Natur. So viel ist gewiß, die Kunst[ ] hatte keinen Antheil weder an den Gefühlen dieser Alt-Mexikanischen Liebenden, noch an der Art, wie sie sich ausdrückten.“87
Was die über Jagd, Gewalt und Scham konstituierte Männer- und Frauenrolle betrifft, nutzt die Begegnung zwischen Koxkox und Kikequetzel konventionelle Erzählmuster. Insofern „pure Natur“ keinen moralisierbaren Unterschied zwischen „Verlangen“ und „Liebe“ ausmacht und die Utopie einer Kommunikation ohne Kommunikation („Augensprache“) einlöst, wäre der erzählten Konstruktion zuzustimmen. Jedoch weist die Opposition von Kultivierung und Natürlichkeit Brüche auf und changiert an sensiblen Punkten. Zudem hängt das Konstrukt am seidenen Faden der Zweisamkeit. Diese Vagheit führt zu einer ästhetischen – mithin poetologischen – Kernfrage des 18. Jahrhunderts, die Rousseaus kulturkritische Schriften in abweichender Formulierung aufwerfen: „‚Verliert oder gewinnt die Natur dadurch, wenn sie des Beystands und der Auszierung der Kunst entbehrt?‘“88 3.7 Kunst ist Natur, Natur ist Kunst Kunst wird in diesem Kapitel (16) als verlängerter Arm der Natur aufgefasst, sie dient letztlich der Erfüllung des anthropologischen Perfektibilitätsideals. Über die obige Fragestellung wird der Rousseau-Bezug klar markiert, selbst wenn sich die „Beyträge“ andernorts ausführlicher mit ihm auseinandersetzen. Sie zählen Rousseau zum „[…] Beyspiele der raschen Leute […]“, die „Gordische[ ] Knoten“ lieber 86 Und das nicht, weil zwischen Kunst und Wirklichkeit grundsätzlich das Problem der Übersetzung bestünde. Der Konflikt ist eine Stufe niedriger angelegt. 87 A. O., S. 339. 88 Ebd.
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„zerschneiden“, statt sie „[…] mit Hülfe einer leichten Hand und mit ein wenig Flegma aufzulösen […].“89 Ihrem Wesen nach unterscheiden sich Kunst und Natur kaum, vielmehr bietet Kunst, welche keinen Bezug zur Natur herstellt, keine richtige Kunst, sondern nur Zierrat, eine „Bastardschwester“, dar. „[B]eide aber [scheinen, K.K.] sich zu irren, wenn sie von Natur und Kunst als wesentlich verschiedenen und ganz ungleichartigen Dingen reden: […].“90 „Beide“ bezieht sich auf Kunsttheoretiker oder Kunstrichter, die Kunst einmal als „gekämmt[e]“ und „gesalbt[e]“ „Homerische[ ] Venus“, das andere Mal als „Alcina“, die einen „Unhold“ zur „vollkommenen Schönheit umschafft“, mythologisieren.91 Jedoch liegt die Wahrheit nicht einfach dazwischen, sondern der Kunstdiskurs artet literarisch in einen Disput oder eine gelehrte Verhandlung aus, der philosophische Positionen entsprechen. Graphisch werden diese Positionen eingespielt, indem sie Merkmale stichischer Rede erhalten, sie werden anzitiert. Es liegen keine nachweisbaren Zitate vor, die zum statischen intertextuellen Bestandteil des Textes würden, denn sie bleiben auf Ebene der histoire (wahrscheinlich auch im discours) quellenlos und anschlussfähig, da sie eine graphische Denk- und Redepause einlegen, die Widerrede erlaubt. So beginnt die folgende Einspielung stets mit einem signifikanten Oder, welches das diskursiv Erarbeitete um einen zusätzlichen Aspekt erweitert. Die gelehrten Stimmen der Zeit versammeln sich zu einem Gespräch, das vom Erzähler moderiert wird. Ohne dass es ausschließlich polemisiert, scheint sein Verfahren zeitgenössischer Polemik entlehnt. Eine Fachposition wird wie ein Zitat eingeführt, bildet strenggenommen eine Paraphrase. Das fingierte Zitat erzeugt einen charakteristischen Ton, der beim Leser die Frage nach seinem Urheber aufwirft. Im Unterschied zur Polemik verweist das Verfahren jedoch nicht auf den Vertreter der theoretischen Position, indem Phrasen nach dem Muster ‚wie Herr XY‘, ‚wie der Autor der Schrift über ...‘ oder ‚wie ein bekannter Gelehrter meint‘ den Bezug zum Aussagesubjekt herstellen (wobei in den seltensten Fällen Namen genannt werden), sondern die Aussage steht für sich, grenzt sich nur durch Anführungszeichen vom übrigen Text ab. Ausgiebig nutzen Wieland und Herder jenes Verfahren, es stellt ein autorbildendes Stilmittel in Texten des 18. Jahrhunderts dar. Nun wäre es kurzschlüssig, das Phänomen nachlässiger oder unzureichend normierter Zitierpraxis zuzuschreiben. Ich vertrete die These, dass die ‚zitierten‘ Passagen annähernd wörtlich bei anderen Autoren wiederzufinden wären – allerdings nur annähernd. Ob nun die Gewohnheit, aus anderen Schriften (aus Büchern, die man sich auslieh) zu exzerpieren, zum Eingang des fremden Wortes in den eigenen Text geführt haben mag, 89 Ebd. 90 Zitate: a. O., S. 339f. 91 Zitate: a. O., S. 339.
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kann offen bleiben: Zwar begünstigt jene Praxis das unvermittelte Auftauchen der ‚Zitate‘. Jedoch halten vermeintliche Zitate vielmehr als (bewusstes) Kompositionsprinzip in die Texte Einzug. Das Prinzip markiert keinen unredlichen Umgang mit dem Geistesgut anderer Gelehrter, rechtfertigt keinen Plagiatsvorwurf. Dass ein ‚Zitat‘ vorliegt, kennzeichnet der Text (meist) durch Satzzeichen, Leerstelle bleibt hingegen, wen man ‚zitiert‘. Im Gegenzug werden Zitate oder Hinweise, die in den Fußnoten mit Quellenangabe auftauchen, selten mit Anführungszeichen versehen, so als ob diese Maßnahme entbehrlich wäre. Wo die Quelle benannt wird, beruft man sich auf ihren objektiven Status. Durch die Quellenangabe wird das Zitat objektiviert. Was man anführt, transportiert oder konstruiert eine intersubjektive Dimension. Sie erweckt den Eindruck, man referiere auf Allgemeingut, das man ausbeuten darf, solange literarische (weniger streng wissenschaftliche) Konventionen befolgt werden. Um das Themenspektrum vollständig zu umreißen, wird die Gelehrtengemeinschaft in den Text eingeführt. Dieses Verfahren birgt nicht allein ideologische Implikationen, sondern strukturiert den Text so, dass er dynamischer, vielstimmiger wirkt. Auf Ebene der Interpunktion, die als Gedankenstrich, Zeilenwechsel, Anführungszeichen etc. beinahe diagrammatische Funktion ausprägt, aber auch rezeptiver Ebene (eines Lesers, der laut liest) nähert sich die Inszenierung dramatischer Interaktion an, selbst wenn sich die beteiligten Figuren bereits geeinigt haben. In der Disputationsgesellschaft werden nicht allein Positionen gesammelt, um als wechselseitige Ergänzungen aufzutreten, sondern auch Fragen aufgeworfen. Insofern spannt sich die intersubjektive Dimension über den Gelehrtenkreis hinaus bis in die Zuschauerreihen: „Fragen wir: Wer giebt uns die Fähigkeit zur Kunst?“ usf.92 „[…], die Kunst [ist] in allen diesen Fällen im Grunde nichts anders […], als die Natur selbst; in so ferne sie den Menschen – entweder durch die Noth, oder den Reitz des Vergnügens, oder die Liebe zum Schönen – veranlaßt und antreibt, ‚entweder ihre Werke nach seinen besondern Absichten umzuschaffen, oder sie durch Versetzung in einen andern Boden, durch besondere Wartung und befördernde Mittel, zu einer Vollkommenheit zu bringen, wovon zwar die Anlage in ihnen schlummert, die Entwicklung aber dem Witz und Fleiß des Menschen überlassen ist.‘“93
Das „entweder […] oder“ greift das o. g. Variationsprinzip auf. Offensichtlich trägt ein gemeinsamer Wahrheitskern oder Konsensus, der detaillierte Erweiterungen der 92 A. O., S. 340. Dabei stellt die schulmeisterliche Einbeziehung des Lesers einen simplen Fall wissenschaftlichen Schreibens dar. Interessant scheint der Gebrauch der ersten Person Plural dort, wo er die erwähnte Zitierpraxis ergänzt, um deutlicher zu markieren, mit wem der Text zusammenarbeitet: mit dem Diskussionsstand seiner Zeit. 93 Ebd.
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Umstände zulässt. Der Mensch betätigt sich als Veredler der Natur (wie jemand, der eine Frucht veredelt). Er nutzt sie nicht allein zu seinen praktischen Zwecken und ihren Ungunsten, sondern vermag sie durch einen höheren Grad an Funktionalisierung zu sich selbst zu führen: eine Sichtweise, die das biblische Diktum gottgewollter menschlicher Herrschaft über die Natur weit übersteigt. Mehrere Positionen werden als Grundstock anthropologischer Fakta miteinander vereinbart, die sich im zeitgenössischen Diskurs über das Verhältnis von Natur und Kultur widersprechen. Zunächst gibt der Text drei variierende Ausprägungen künstlerischer Tätigkeit an, die ein aktives Moment umfassen. Kunst hat die Dimension der techné noch nicht eingebüßt. Fern liegt den Definitionsversuchen, Kunst als intellektuelles Spiel oder theoretisches Unterfangen – das primär vom Geist des Künstlers ausgeht – zu begreifen. Innerhalb des Prozesses, Natur zu sich selbst zu führen, betätigt sich der Mensch als Enzyklopädist, musealer Kurator, Erfinder: als Künstler, der sie modifiziert, aber auch als Züchter, der sie veredelt. Im musischen Areal kann er nicht allein schöpferisch tätig werden, sondern praktische und wissenschaftliche Einstellungen erproben, die einem Kunstbegriff vor der Trennung von ars und techné entsprechen. Neben diesen Funktionen oder Formen von Autorschaft, die der Mensch gegenüber der Natur einnehmen kann, verhandelt der Text Motivationen, die zur kreativen Betätigung reizen. So offenbart sich die Differenz von Positionen, die zuvor bruchlos parallelisiert wurden. Einmal wird Kunst als aus der „Noth“ heraus geboren definiert, dann als Zeitvertreib zum „Reitz des Vergnügens“ bestimmt, um schließlich in die ästhetische Funktion einer „Liebe zum Schönen“ zu münden. Alle drei Quellen von Kunst werden durch „entweder […] oder“ miteinander verknüpft, ohne Rangfolge parallelisiert, obgleich eine Teleologie oder Genese der Kunst erzählbar wäre, sofern sie in ein kausales oder temporales Verhältnis gerückt würden. Die Entstehung des menschlichen Vermögens zur Kunst ließe sich dann in Kategorien zeitgenössischer Kunstreflexion integrieren. Jedoch liegt die Leistung des Textes darin, die syntaktisch umstandslos konstruierbaren Bezüge aufgrund relationaler Überlegungen nicht zu stiften. Selbst die Bandbreite der artistischen Verfahren, die zu heterogenen Definitionen von (schöpferischer, optimierender, vervollkommnender) Künstlerschaft führen müssen, ordnet der Text innerhalb des Spektrums schlicht bei, ohne Hoheitskonflikte auszutragen. Auf allen drei Ebenen von Ursache, Funktion (Künstler gegenüber Natur) und kaum von der Funktion zu trennendem Verfahren besteht Gleichrangigkeit (erzählte Gleichzeitigkeit), die den ästhetischen Diskurs als Plattform vorstellt. Dort werden Meinungen und Positionen versammelt, abweichende Aspekte beleuchtet, jedoch keine hintergründige Wahrheit hierarchisch organisierter Kunsthistorie kolportiert. Scheinbar assoziativ, letztlich innerhalb der Grenzen eines vorgezeichneten philosophischen Diskurses führt die Zusammenschau anthropologischer Auslöser zur natürlichen Ordnung der Dinge. Zu diesem Zweck bemüht der Text erneut unübliche Reihenfolgen. Denn die Kunstfähigkeit soll in der Deduktion vom Allgemei-
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nen zum Besonderen als menschliches Merkmal abgeleitet werden. Die Frage, weshalb einzig der Mensch zur Kunst fähig ist, lenkt über die Naturgeschichte zum Mängelwesentheorem und zur vernünftig gesteuerten Kompensation – Themen, die in der Verhandlung der Menschheitsgeschichte etwa auch bei J. G. Herder auftauchen. Analog zu Herders Texten entwerfen Wielands Reflexionen eine Aisthesis, welche über die sinnliche Anlage des Menschen Auskunft erteilt und sich nicht im Optimum vernunftgesteuerter Herrschaft erschöpft. In dieser Beziehung fällt die Bestimmung der sieben Sinne des Menschen ins Gewicht: „Die natürlichen Dinge in dieser sublunarischen Welt […], von der wir mit Hülfe unsrer sieben Sinne (das Selbstbewußtseyn und den Gemeinsinn mit eingerechnet) eine erträgliche Kenntniß haben – […]“.94 Zu den fünf sinnlichen Sinnen treten zwei weitere hinzu, welche nicht zwingend jedem Sinnlichkeitskatalog angehören. Im Gemeinsinn – Sensus communis oder gesunder Menschenverstand – liegt das basale intellektuelle Schema bereit, welches die körperlichen Sinne ergänzt. Dessen Nähe zur Sinnlichkeit entspringt seiner intuitiven Erscheinungs- respektive Entscheidungsform. Ohne bewusste Reflexion nimmt er die Signifikanz einer Situation wahr und ermöglicht so angemessenes Handeln. Das Selbstbewusstsein tritt diesem Kontext hinzu. Zwar begleitet es jede Wahrnehmung oder Handlung, gilt dabei aber nicht als wahrnehmungskonstitutiv. Ohne ihn in einen Akt der Selbstreflexion aufzulösen, kann es den Schritt der Vergegenwärtigung im Handlungs-Vollzug nicht leisten. Um sich über sich selbst zu vergewissern, ist es auf die retrospektive Konstitution der eigenen Vorzeitigkeit angewiesen. Diese Fassung von Selbstbewusstsein weist Parallelen zum cartesianischen cogito auf. Durch Bewusstseinseindrücke, die im Nachhinein begreifen lassen, dass es Anteil an der Erkenntnis der Außenwelt nimmt, erfährt das Subjekt sich selbst. Sofern es sich auf Evidenzerfahrungen berufen kann, spürt es sich als sinnlich. Erst retrospektiv kommt die Frage auf, welche Voraussetzungen es im Zuge dieses Akts in die Welt mit- oder einbringen musste. Insofern lassen sich Selbstbewusstsein und Gemeinsinn der Sinnlichkeit zurechnen. Die Vernunft steht noch außen vor und eine klare Differenzierung von Res cogitans und Res extensa bleibt unproblematisch. Als Abgrenzungskriterium anderen Naturvorkommnissen gegenüber (als Glied in der Kette der Wesen, vom Anorganischen über Pflanzen und Tiere zu den Menschen) kommt die Vernunft in Betracht, welche die menschliche Herrschaft über die Natur rechtfertigt. Das biblische Motiv wird gleichzeitig eingeführt und dementiert. Um „‚die vorbesagte sublunarische Welt nach seinem besten Vermögen zu verwalten[ ]‘“95, darf der Mensch sich der Natur bedienen, von Gott anbefohlen ist sie ihm im Grunde nicht. Die Vernunft befähigt nicht zur Herrschaft über die Natur, sondern vertreibt den Menschen aus dem Paradies. In der Paläontologie (einer alterna94 A. O., S. 341. 95 Ebd.
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tiven Erzählung zur Schöpfungsgeschichte) erschließt die Vernunft die Benutzung von Werkzeugen, zweckgerichtetes Denken. Das an die Bibel angelehnte Zitat wird mit fiktiven Anführungszeichen versehen. Ohne dass tatsächlich ein Bibelzitat vorliegt, fühlt man sich an die Bibel erinnert. Etwas Bekanntes, das dem kulturellen Wissen der Epoche entspricht, wird aufgelesen, bedarf keines Original-Zitats mehr. Dennoch fingiert der Text, es handle sich um ein Zitat: eine auffällige, überschüssige Geste, welche die Frage nach den Beweggründen des Verfahrens aufdrängt. Vernunft gehört der komplexen natürlichen Ausstattung des Menschen an, und kompensiert nicht nur bei Wieland dessen Instinktarmut (s. a. Herder). „Vergleichen wir die verschiedenen Klassen der natürlichen Dinge unter einander, so zeigt sich, – daß unter allen der Mensch am wenigsten das geboren wird was er seyn kann; […]; daß sie [die Natur, K. K.] ihn übel bekleidet, unverwahrt gegen Frost, Hitze und schlimmes Wetter, und unfähig ohne langwierigen fremden Beystand sich selbst fortzubringen, auf die Welt ausstößt; – daß der Instinkt, der angeborne Lehrmeister der Thiere, bey ihm allein schwach, ungewiß und unzulänglich ist: – und warum alles das, als ‚weil sie ihn durch die Vernunft, die er jenem voraus hat, fähig gemacht, diesen Abgang zu ersetzen?‘ Der Mensch, so wie er der plastischen Hand der Natur entschlüpft, ist beynahe nichts als Fähigkeit. Er muß sich selbst entwickeln, sich selbst ausbilden, sich selbst diese letzte Feile geben, welche Glanz und Grazie über ihn ausgießt, – kurz, der Mensch muß gewisser Maßen sein eigener zweyter Schöpfer seyn.“96
Die Natur tritt mit dem Menschen in dasselbe Verhältnis, wie es sich in Bezug auf die Natur angeben lässt: Der Mensch formt die Natur durch die Kunst und wird durch sie geformt (plastische Hand). Dabei obliegt es dem Menschen selbst, sich im Modus der Kunst zu vervollkommnen. „Wenn es die Natur ist, die […], im Krystall sechseckig anschießt, in der Pflanze vegetieret, im Wurme sich einspinnt, in der Biene Wachs und Honig in geometrisch gebaute Zellen sammelt, […], und in diesen sowohl als vielen andern Thierarten mit einer so zweckmäßigen und abgezirkelten Geschicklichkeit wirkt, daß sie den Instinkt zu Kunst in ihnen zu erhöhen scheint: warum sollte es nicht auch die Natur seyn, welche im Menschen, […], diese Entwicklung und Ausbildung seiner Fähigkeiten veranstaltet?“97
Wie in Herders Texten wird der Mensch als Kunstwesen charakterisiert, dessen Umgang mit und in der Welt kreativen Charakter trägt, und dem nicht allein Vernunftfähigkeit zukommt. In Herders Abhandlung „Über Bild, Dichtung und Fabel“ verdankt sich jener Weltbezug der sinnlichen Organisation des Menschen, die Er96 A. O., S. 341f. 97 A. O., S. 342.
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kenntnis als schöpferischen Prozess ausweist. Bei Wieland stehen Mensch und Natur im sich wechselweise begründenden Verhältnis, das durch das Verbindungsglied der Kunst gestiftet wird. Kunst umfasst einen weitgesteckten Bedeutungsrahmen, der sich auf grundlegende Wahrnehmungsmodi und dazugehörige „Kultivierungen“ des Menschen zurückbeziehen lässt. „[…] Erfahrung, Witz, Unterricht, Beyspiel, Überredung und Zwang […]“ sind Mittel der Kunst, die sich „[...] nach den Umständen […] richten“, um die „Auswicklung und Verschönerung des Menschen“ zu befördern.98 Mit welchen Mitteln wird der geschichtsphilosophische Diskurs in Wielands Erzählung integriert? Tatsächlich übernimmt er die Plausibilisierung einer Voraussetzung, welche die Grundlage jeglicher Ursprungserzählungen berührt. Die Erzählung benötigt einen Zustand, in dem der Mensch nahezu unkultiviert ist, um die Entwicklung seiner natürlichen Sittlichkeit beobachten zu können. Hinter einige anthropologische Grundannahmen vermag auch diese Erzählung nicht zurückzutreten. Damit die Geschichte seiner Kultivierung erzählt werden kann, muss der Mensch Anlagen zu Sprache, Denken und Kunstfertigkeit besitzen. Andernfalls dürfte der Anfang des Menschen seinen Ausgang erst von göttlicher Beseelung nehmen – eine (logische) Strenge, die nicht einmal die Bibel selbst einfordert. Denn der Mensch der biblischen Schöpfungsgeschichte wird mit diesen Fähigkeiten geschaffen (vgl. 1. Mose 2). Das Paradox, ihn etwas lernen zu lassen, dessen Grundlagen er nicht teilt, umgehen alljene Narrative. Aus diesem Grund berücksichtigt auch Kants „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ das biblische Inventar, weil es unzweckmäßig sei, weiter zurückgehen zu wollen. Anders gesagt, spielt die metaphysische Erforschung des Urgrunds allen Seins keine Rolle mehr. Sowohl Wieland, Kant als auch Herder99 haben ihre transzendentalphilosophische Wende bereits hinter sich gelassen, wenn sie den Ursprung menschlicher Gesellschaft erkunden. Die Frage nach den Voraussetzungen und Perspektiven menschlicher Gesellschaft löst die metaphysische Begründung ab. Stehen Kunst und Natur in einem Entsprechungsverhältnis und vervollkommnen einander, dann wirft die oft umstrittene Kultivierung des Menschen keine Probleme mehr auf. Daher hat die „[…] Abschweifung über Natur und Kunst […] nicht weit von unserem Wege abgeführt […].“100
98 99
Zitate s. a. O.: S. 343. Z. B. in seiner „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“, wo er sich gegen zwei Extrempositionen der Sprachursprungstheorie ausspricht.
100 Wieland, Koxkox und Kikequetzel, a. O., S. 344.
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Das folgende Kapitel (18) wiederholt beharrlich, dass das junge Paar sich kulturell fremd101 sei, dennoch auf Basis natürlicher direkter Verständigung interagieren könne. Körpersprache gerät zum unmittelbaren Gefühlsausdruck in sexueller Interaktion. Im Grunde handelt es sich somit um keine Sprache. Ähnlich wie die „Augensprache“ entwirft die Körpersprache die Utopie spontaner Übertragung von Gefühlen. Als moralisch unantastbar gilt die utopische Körpersprache dennoch nicht, da „[…] sogar ein Teufel, der ihnen zugesehen hätte, sich nicht hätte erwehren können Vergnügen darüber zu haben.“102 Zweierlei Deutungen lässt diese Wendung zu. Zunächst klingt es so, als sei die vollkommene Natürlichkeit (und damit Unschuld) des (sexuellen) Verhältnisses dazu geeignet, einen Teufel zu bekehren, das Menschliche in ihm zu rühren. Oder er akzeptiert jene Interaktion ohne Zögern, da sie seinen teuflischen Vorstellungen entspricht. Wozu er die Menschen im Stand des Verderbens verführen möchte, vollziehen sie ohne jegliches Zutun von selbst. Gerade darin könnte indes ein Ärgernis für ihn liegen. Was er beobachtet, müsste sein Vergnügen steigern, wenn er annehmen dürfte, es stürze das junge Paar ins Verderben – was in diesem Stadium der Erzählung völlig fern liegt. Nur ihr sündhaftes Verhalten könnte Quelle seines Vergnügens sein. Jedoch wiederholt der Text das Credo der Natürlichkeit, die Unschuld und Unzweideutigkeit der Vorgänge. Wenn selbst ein Teufel beim Anblick Vergnügen empfände, wie stünde es dann um den menschlichen Beobachter? Die ambivalente Haltung des Teufels – etwas für Sünde zu erachten, das keine Sünde ist, bzw. eine Sünde für keine Sünde zu erklären, indem er von seinem teuflischen Amt zurücktritt – spiegelt die gespaltene Haltung des Textes gegenüber der Naturszene wider. Niemand solle behaupten, der Text würde die Ausübung freier Liebe propagieren. Wer das allerdings anstößig fände, ist ein armer Teufel. Der Teufel steckt dialektisch im Detail, das erlaubt, sich Zensurmaßnahmen zu entziehen.103 Auf nächster Stufe beginnt das Paar, sich häuslich einzurichten und aneinander zu gewöhnen: ein Vorgang, der als parallele Verinnerlichung, Identifikation und Mechanisierung beschrieben wird. Unmittelbare Sinnlichkeit ist aufgehoben und wird in den künstlich hergestellten ersten Augenblick überführt. Obgleich der Text auf dessen Risiken verweist, verkommt dieser Zustand zum Ideal. 101 Keine gemeinsame Herkunft, keine gemeinsame Sprache, keine Kenntnis des Geschlechterverhältnisses (hier wird eine vorangehende Behauptung durchbrochen!); und trotzdem genügt ein Blick, um sie aneinander zu binden. 102 Ebd. 103 Dennoch versucht Wieland, seine Naturgeschichte progressiv zu denken, indem er die Eingebung des Common Sense, derzufolge die Ehe keineswegs am Anfang der Vergesellschaftung stehe, ernst nimmt. Die Beziehung muss aber von jeglicher Illegitimität freigesprochen werden, weshalb der Text vehement an der Einforderung von Monogamie festhält.
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3.8 Zeichen und Zeigen: Sprachphilosophie Das folgende Kapitel (19) vertieft das Sujet mittelbarer bzw. unmittelbarer Verständigung. Der Erzähler legt fest, dass die Themenwahl nunmehr nach Relevanz erfolge, während er Tlantlaquakapatlis Einlassungen kritisch aufgreift. Er übernimmt das Ruder der Erzählung, da sie ihn zu näherem Nachdenken angeregt hat. Indem er an ihn anknüpft, hebt er den Exkurs auf eine diskursive Ebene. „Allein bey mehrerem Nachdenken glaube ich nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Wahrscheinlichkeit derselben [Thatsache, K. K.] ganz deutlich einzusehen.“104 Mögliche Vorzüge eines vorsprachlichen Weltzugangs sowie entsprechender Kommunikationsformen stehen zur Diskussion. Sie knüpft an das kommunikative Verhältnis von Koxkox und Kikequetzel an und entwickelt am narrativen Beispiel die phylogenetische Dimension des Spracherwerbs. „Sie [die Menschen, K.K.] hatten, däucht mir, keine künstliche Sprache vonnöten, weder um einander ihre Begriffe, noch ihre Empfindungen mitzutheilen. […] Wenn wir von unsern ausgebildeten Sprachen alles dasjenige abzögen, was Dinge oder Begriffe bezeichnet, wovon sich Koxkox und Kikequetzel, […], nichts träumen lassen konnten, – alle Wörter und Redensarten, welche sich auf unsre häusliche und bürgerliche Einrichtung, auf unsere Gesetze, Polizey, Gebräuche und Sitten, auf unsre Künste und Wissenschaften […], beziehen: so würde der Überrest eine so arme Sprache ausmachen, als irgend ein wildes Völkchen […] haben kann. […]. Sie würde schwerlich andre Wörter haben, als für Gegenstände, welche man einander eben so gut zeigen, und für Empfindungen, welche man in der Sprache der Natur eben so gut oder noch besser ausdrücken kann. […] Was sollten sie mit Zeichen anfangen, ehe sie Begriffe hatten?“105
In nuce entfaltet der Abschnitt eine vollständige Sprachphilosophie. Sie nimmt Anliegen der Sprachursprungstheorie auf, entwirft ein semiotisches Modell und verhandelt (implizit) den Zusammenhang von Sprache und Denken. Von der derzeitigen Kondition polizierter Gesellschaften abstrahiert der Erzähler, und gibt damit das der Gesamterzählung zugrundeliegende intellektuelle Verfahren an: Er „beywegvernunfte[t]“, um den Haushalt der Dinge, welche sprachlich zu erfassen sind, einzukreisen. „Wörter“ und „Begriffe“ treten zurück, da sie die Tendenz aufweisen, künstliche Verhältnisse anzugeben, denen das erste Paar noch nicht unterworfen ist. Die „Dinge“, welche sie umgeben, lassen sich allein durch zeigende Gesten einrahmen. Diese Interaktion setzt, der Übertragung von Empfindungen analog, nur unmittelbare Gegenwart beider Kommunikationspartner voraus. Was man zeigen kann, benötigt keine Zeichen. Deren indexikalische Funktion hängt von der An104 A. O., S. 347. 105 Ebd.
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nahme ab, sie würden anstelle des Zeigens eintreten. Die Komplexität der Zeichenbenutzung beleuchtet der Text von mehreren Seiten. Die Semiotik organisiert sich dreiteilig, selbst wenn sie simplifizierend vorgibt, ein Zeichen verweise direkt auf den Gegenstand der Wirklichkeit. Dort, wo ein geistiges Konzept (ein Begriff) fehlt, ist sichtlich kein Zeichen vonnöten. Damit sichern intellektuelle Konzeptualisierungen keine Bedingung der Weltwahrnehmung oder der Verständigung über sie ab – der Zugang zur Welt gestaltet sich unmittelbar. Mit dem Zustand einer zeichenfreien Welt verknüpft sich deren Zeitlosigkeit. Der Zeichenbenutzung entspricht das Abteilen und Differenzieren ganzheitlicher Wahrnehmungen in isolierte und diskrete Einheiten: ein Verfahren, das die Zeitwahrnehmung strukturiert, insofern Zeitabschnitte abgeteilt werden, die qualitative Merkmale erhalten, denen konkrete Dauer zugeschrieben wird. „Ihre Tage flossen ungezählt und ungemessen in dieser seligen Indolenz dahin, […].“106 Neugierde und Wissenstrieb widerstreben von der Natur versorgten Menschen, sodass sie spät, vereinzelt und nur unter bestimmten Umständen in die menschliche Geschichte eintreten. Diese These unterfüttert die Behauptung, dass Sprache im Naturzustand überflüssig sei. Die Argumentation nimmt einen Umweg, der die natürliche Trägheit (Muße) des Menschen bestätigen soll. Die Argumentation verläuft zirkulär: Durch das Trägheitspostulat lässt mangelnde Sprache sich zwar erklären, dennoch führt es eine Bedingung ein, deren Begründung erst der spätere (wissenschaftliche) Stand der Gesellschaft nachliefert. Damit liegt ein anachronistisches Verfahren vor. Hinsichtlich Begriffsbildungsprozessen bleibt die Rolle der Philosophie in der Schwebe. Tritt der Hang zur Spekulation erst mit der Philosophie in die Welt oder bleibt Spekulation Teil der Welt, bis jene sich erfolgreich durchgesetzt hat? Als Verfahren überschneidet sich philosophische mit mythischer Spekulation. Ihre spekulative Bequemlichkeit überwindend soll die eigentliche Philosophie in Zukunft empirisch verfahren (eine Beobachtung, die das Verhältnis von Offensichtlichkeit und Verborgenem aushandelt): „[…] weil es bequemer war, schimärische Welten in seinem Kabinette nach selbsterfundenen Gesetzen zu bauen, als mühsame und langwierige Beobachtungen anzustellen, um heraus zu bringen, nach welchen Gesetzen die wirkliche Welt gebauet sey.“107 Obgleich das evolutionäre Stadium, in dem Koxkox und Kikequetzel sich befinden, unvermittelte Erfahrung postuliert, gestaltet sich der Zugriff auf die Welt unter wissenschaftlichen Prämissen desto komplexer. Apriori und Aposteriori gehen eine sonderbare Verschränkung ein, die 106 Zitate: ebd. In diesem Zusammenhang weist Wieland auf zwei Utopien hin, die ein zeitloses Leben einschließen. Dabei entspricht die Vorstellung, nicht unter Zeitdruck zu stehen (das sorglose Leben der ‚Wilden‘ zu führen), der vollständigen Auflösung von Zeit im jenseitigen Leben: ein möglicher Grund dafür, Jenseitsszenarien arkadisch in Gärten zu verlegen. 107 A. O., S. 348.
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deren epistemischen Vorrang changieren lässt. Der Text adressiert beinahe zwei abweichende Erkenntniswege. Das Simpelste stellt sich als hochkomplex heraus (Fremdreferenz), und Solipsismus avanciert in Zeiten mangelnder Beobachtungsgabe zum bevorzugten Mittel des Weltbezugs. Was die Mitteilung von Empfindungen anbetrifft, verweist der Text erneut auf den Überfluss der Begriffssprache. „[D]iese allgemeine Sprache – diesen beynahe unmittelbaren Ausdruck der Gemüthsbewegungen in den Augen, in den Gesichtszügen und Geberden – […] Durch sie, und durch sie allein, können Seelen sich, wie unmittelbar, mit Seelen besprechen, einander berühren, durchdringen, begeistern, und mit stürmischer Gewalt dahin reißen. […]. Kurz, diese Sprache der Natur ist die wahre Sprache des Herzens; […].“108
Durch die „wahre Sprache des Herzens“ dagegen werden die „geheimsten Verwandtschaften sichtbar“, ohne sie auszusprechen.109 Sichtbarkeit und Sprache geraten scheinbar in ein Konkurrenzverhältnis. Die kommunikative Reichweite des Blicks, der „Gesichtszüge[ ] und Geberden“ unterliegen von vornherein der Beschränkung, denn „die wahre Sprache des Herzens“ teilt sich einzig „beynahe unmittelbar[ ]“, „wie unmittelbar“ mit. Allein durch ihren dreigeteilten Kommunikationsweg büßt die „Sprache der Natur“ an Unmittelbarkeit ein. Die mediale Aufteilung oder Teilbarkeit der Mitteilung erfordert es, alle drei Quellen als Zeichen zu lesen, die sich womöglich gegeneinander richten. Trotz eingeräumter Arbitrarität provoziert künstliche Sprache seltener Missverständnisse als die „natürlichen Pantomimen“, deren Verständigung Formalisierungen benötigt. Diese Annahme erfährt zwar keine Begründung („scheint doch nichts gewisser zu seyn“), wird jedoch lebenspraktisch plausibilisiert: „Auch bey der einfältigsten Lebensart lassen sich hundert Fälle denken, wo es nicht darauf ankommt mit dem Herzen des andern zu reden, sondern mit seinem Kopfe […].“110 Somit dient Sprache der Bequemlichkeit und Vereindeutigung. Selbst im umsichtig rekonstruierten Naturzustand kommen Lebensumstände vor, die rationale Aushandlung verlangen. Nach dem zuvor betriebenen Aufwand, um Unmittelbarkeit herzustellen, irritiert diese plötzliche Wendung. Unvermutet zweifelt auch der Erzähler nicht mehr daran, „[…], daß Koxkox und Kikequetzel, wenn sie nicht bereits eine Art von Sprache durch ihre Erziehung gelehrt worden wären, sich selbst eine erfunden haben würden.“111 Der Schluss re108 A. O., S. 350. 109 Der wissende Blick kann somit dazu beitragen, andere aus der Gemeinschaft auszuschließen. Geheim bleiben jene „Verwandtschaften“ nur, sofern sie nicht ausgesprochen (öffentlich) werden. Sprache bietet einen Faktor von Vergesellschaftung, der die Bildung eines Volkes zwar nicht voraussetzt, aber parallel zu ihr gedacht wird. 110 Zitate: a. O., S. 350f. 111 A. O., S. 351.
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kurriert auf die sprachliche Grundlegung, welche die Entsprechung von Kunst und Natur reibungslos einlöst. Dennoch werden die Argumentationslinien bewusst durchbrochen. Beide Thesen lassen sich gleichberechtigt vertreten, weshalb der Text einmal erläutert, weshalb Spracherfindung etwas völlig Abwegiges sei, um im nächsten Kapitel von der gegenläufigen These auszugehen, ohne dass er diesen Bruch explizit ausstellt. Dieses Verfahren ähnelt der Beiordnung der gelehrten Scheinzitate. Mit dem Meinungswechsel werden weitere sprachtheoretische Aspekte aufgenommen. Der Text verhandelt die Materialbasis einer ersten Sprache, und geht dabei von einer phonetischen Sprachgrundlage aus. Da vorausgesetzt wurde, dass jemand, der keine Begriffe besitzt, keine Zeichen benötigt, ist diese Annahme plausibel. Ihren Ausgang nimmt die Sprache von der Vehemenz und Eingängigkeit des Klangmaterials und folgt mimetischen Prinzipien. Trotzdem beruht die Mimesis nicht auf reiner Onomatopoesie. Nicht die Übereinstimmung von Tieren und durch sie hervorgebrachten Tönen, sondern „[d]as natürliche Verhältniß zwischen gewissen Tönen und gewissen Empfindungen […]“ knüpft Beziehungen mit Verweischarakter.112 Mit diesen knappen Äußerungen liegt eine sensualistische Sprachursprungstheorie vor, die von anderen kontemporären Entwürfen abweicht. Nicht die Tatsache, dass es blökt, qualifiziert das Schaf als das „Blöckende“.113 Vielmehr entsprechen den Empfindungen, die Menschen betreffen (Wut, Trauer, Freude, Erregung, Furcht etc.), konkrete Töne, die sie in der Umwelt wahrnehmen und gegebenenfalls auf sich als Verursacher zurückbeziehen können. „[U]nd dieses hätte sie eben so natürlich auf den Gedanken gebracht, daß Töne geschickt seyen Zeichen abzugeben.“114 Somit entzaubert der Text eine geläufige Annahme aufgeklärter Sprachphilosophie: die Vorstellung, dass Laute in einem analogen oder wesenhaften Bezug zu den Tieren (Dingen) stünden, die sie hervorbringen. Der Angstschrei des Schafes wirkt daher nur auf den sympathetischen (animalischen) Trieb des Menschen, prägt weder semiotische noch indexikalische Funktion aus. Auch für Empfindungen gilt das Analogieverhältnis nur bedingt. Bloße Folge oder loser Zusammenhang münden in kein Kausalverhältnis (weil X war, folgt Y). Sondern als Filter, Töne auszuwählen, tritt deren Häufigkeit ein, um dann die geläu112 Ebd. 113 Vgl. dazu Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache [nachfolgend: Ursprung der Sprache], in: FHA 1, Frühe Schriften 1764-1772, hg. v. Ulrich Gaier, Frankfurt am Main, 1985, S. 695-810, S. 723. Im Gegenteil projiziert der Mensch das Blöken auf eine nicht hörbare taktile Eigenschaft des Schafes, „wollicht“ daherzukommen, was er im direkten Umgang mit dem Tier erfährt (erfühlt). Insofern wäre es folgerichtig, von einer sensualistischen (taktilen) Sprachphilosophie zu sprechen. Vgl. das Kapitel „Sprache“ im Herder-Teil der Arbeit. 114 Wieland, Koxkox und Kikequetzel, a. O., S. 351.
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figsten Dinge zu bezeichnen. „Sie hätten sich angewöhnt, die geläufigsten dieser Töne zu Bezeichnung derjenigen Dinge, womit sie am meisten zu thun hätten, zu gebrauchen.“ Beharrlicher als in anderen zeitgemäßen Sprachphilosophien wird Arbitrarität thematisiert. Sie steht am Anfang des Spracherwerbs. Selbst wenn der Konnex zwischen Empfindungen und lautlichem Ausdruck auf Natürlichkeit beruht, trifft dies nicht entsprechend auf die Verknüpfung von Empfindungen und für sie eingesetzte Zeichen zu. Denn die unterbreitete Semantik der Häufigkeit wird erst in einem zweiten Schritt auf die Onomatopoetik der Naturgegenstände angewendet, bis schließlich eine (kreative) Rückübertragung jener „natürlichen Gegenstände des Gehörs“ (ihres Schalls) auf „ähnliche Beschaffenheiten an den Gegenständen anderer Sinne […]“115 erfolgt. Sinnlichkeit ist somit phonozentrisch angelegt. Für den sinnlich erfassten (empfundenen) Gegenstand speichert die Sprache zunächst einen Laut ab – kein Bild oder eine Idee, welche als Repräsentanten eines Begriffs eintreten. Ursprünglich organisiert Sprache sich phonetisch, nicht begrifflich. Für das Verhältnis von Sprache und Denken besitzt dieser Befund Relevanz. Sprache knüpft nicht ans Denken, sondern ans Hören an – ein Ausgangspunkt, der intuitiv einleuchtet und kontraintuitiv bleibt. 3.9 Der Sündenfall Kurz nachdem der Text die (phylogenetisch codierten) Grundfesten des arkadischen Umfelds des ersten Paares sorgsam eingerichtet hat, erfolgt (in Kap. 23) die vielfach beschworene Zerstörung des naiven Glücks durch die Ausweitung der Zweiergemeinschaft zur Gesellschaft. Sowohl die „Sprache des Herzens“ als auch ihr auf Zweisamkeit beschränkter Erfahrungshorizont verleiten Kikequetzel zu der Annahme, ein von ihr erblicktes menschliches Wesen sei Koxkox. Jedoch trifft Kikequetzel auf einen Mann, der bereits lange Jahre ohne weibliche Begleitung durch die Wälder streift. Sie flieht, ist gezwungen zurückzukehren und wird Opfer einer Vergewaltigung. Physiologisch reagiert der Mann bei Gelegenheit ihrer ersten Begegnung Koxkox vergleichbar. Gegenüber der Mexikanerin verhält er sich aber „bloß mechanisch und animalisch“ (in einem „Paroxysmus“).116 Was das suggerierte Frauenbild anbetrifft, zeichnen sich die Schilderungen des Kapitels durch Ambivalenz aus. Im Anschluss an die Vergewaltigung stellt der Text lapidar fest, „daß es nicht in der Natur gewesen wäre, den Unwillen lange zu behalten, von welchem sie in den ersten Augenblicken ihrer Niederlage gegen den Mann entbrannt war.“117 Zwar schreibt er diese Aussage Tlantlaquakapatli zu, legt sie ihm 115 Zitate: ebd. 116 A. O., S. 358. 117 A. O., S. 357.
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jedoch positiv aus, da sie Kikequetzels Verhalten zu entschuldigen suche. An diesen Passus schließt die Ermahnung der Leserinnen zur Selbstkritik an. Was für gewisse „Damen“ besser sei (nämlich nicht weiterzulesen), bestimmt der Erzähler, seine Instanz legt fest, was dem weiblichen Publikum geziemt oder gefällt. Zwar behauptet Tlantlaquakapatli, der Erzähler zweiter Ordnung, Kikequetzels Fehler bestünde darin, dass sie „[…] den Mann zum ersten Mahl mit Aufmerksamkeit [betrachtete]“. Auf welcher sinnlichen Ebene sich ihr Sündenfall ansiedelt, klärt der weitere Verlauf nicht eindeutig auf. Denn ihr Fehlverhalten, dem Fremden Aufmerksamkeit zu schenken, rührt eigentlich vom „[…] Erstaunen, ihre Muttersprache reden zu hören […]“ her. Die semiotisch vorausliegende Augensprache tritt in Konkurrenz zum Gedächtnis der Muttersprache. Das Mädchen blickt den anderen Mann nicht direkt an, kommuniziert nicht über Augensprache mit ihm, was das exklusive Verhältnis gegenüber Koxkox in Zweifel zöge.118 Sondern sie reagiert auf die Reminiszenz ihrer früheren Sozialisation, welche durch die Überschwemmung um eine Stufe zurückgefallen ist. Bevor der Text diesen Sachverhalt darlegt, und bevor die fremd-vertraute Kommunikation erfolgt, nimmt die Erzählung ein emotionales Detail vorweg, das die folgenden Ereignisse bedingt. „Kikequetzel – voll Unmuth und Galle, daß sie den Mann nicht so sehr hassen konnte, als sie gern gewollt hätte […].“119 Die Schöne ist bereits besänftigt, bevor die Kommunikation einsetzt, in deren Verlauf der Mann sie um Vergebung bittet. Für die „policierten Theile[ ] von Europa“ schließt die Ermahnung der Leserinnen eine entsprechende Reaktion aus: „[D]aß es ganz unfehlbar eure eigene Schuld wäre, wenn er sich jemahls in einer solchen Positur zu euern Füßen befände.“120 Im Rahmen der zeitgenössischen Gesellschaft läge im selben Fall ein – der unschuldigen Kikequetzel nicht zurechenbarer – Verhaltensfehler vor. Am gewaltsamen Übergriff eines „Herkules“121 trägt die sittlich erzogene Frau selbst Schuld. Zwar nehmen Männer (Erzähler) der Damenwelt die Entscheidung ab, besser nicht weiter zu lesen. Für männliche Übergriffe zeichnet sie allerdings selbst verantwortlich; eine auffallende Asymmetrie, die bei der jungen Wilden wiederkehrt. Zwar begeht sie einen Fehler – allerdings erst, nachdem sie in das System männlicher Begierde eingegliedert wurde. Es entspricht der Natur einer Wilden, nach ihrer Vergewaltigung den Unwillen zu verlieren, da sie ihren Zweck als Weibchen in je118 Gerade bei fehlender gemeinsamer Kultursprache vermag die Augensprache ein besonders exklusives Verhältnis zweier Personen zu begründen. Die Gemeinschaft der beiden Liebenden speist sich keinesfalls intellektuell. Diese Dimension muss sich durch Unterricht – Koxkox unterweist seine junge Freundin in seiner Sprache – erst allmählich und auf basaler Stufe herausbilden. 119 Zitate: a. O., S. 357f. 120 A. O., S. 358f. 121 A. O., S. 358.
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dem Fall erfüllt. Sowohl Wilde als auch polizierte Damen haben sich die Fehler der Männerwelt anzueignen, wobei die wilde Frau ihre Unschuld behält, solange sie ihrer naturalen Funktion entspricht. Dieser Asymmetrie korreliert, dass das Öffnen und nicht etwa das Verschließen der Augen als Zeitpunkt der Unumkehrbarkeit registriert wird. Nicht die Hingabe, das Schließen der Augen, entlarvt der Text als Sündenfall, sondern der Kommentar sanktioniert das bewusste Aufmerken nach dem gewaltsamen Übergriff (das Gegenteil von Hingabe) des Mannes. Einerseits entschuldigt Tlantlaquakapatli Kikequetzel durch die Natürlichkeitsbehauptung, andererseits schreibt der Text ihm einen Diskurs über „‚die Unvollkommenheit des Standes der rohen Natur, […]‘“ zu, dessen Abhandlung der Abkürzer ausspart, damit er den Strang überlieferter Erzählung zügig wiederaufnehmen kann. Was die Abhandlung erläutert, „‚[…] die Nothwendigkeit, das moralische Gefühl zu deutlichen Begriffen und Grundsätzen zu erheben, um den Schwachheiten und Blößen der menschlichen Natur durch die Filosophie zu Hilfe zu kommen, deren höchstes Meisterstück eine weise Gesetzgebung ist.‘“122, widerspricht dem Fortgang des Narrativs, das im Verfall der sich ausbildenden mexikanischen Gesellschaft kulminiert. Philosophie und Erzählung treten als Konkurrenzverfahren auf. So wie sich die Relation von Reflexion und Erzählung gestaltet, spricht die Erzählung für das (defätistische) Fortschreiten der Ereignisse, und vertritt damit das vom Text forcierte empirische Paradigma. Der ambivalente Weiblichkeitsdiskurs weitet sich auf einen Liebesdiskurs aus, der erneut die numerische Einzigkeit123 aufgreift und Stellung zum Verbund von Sinnlichkeit und Liebe bezieht. Er legt dar, dass Kikequetzel aus Naivität „einen gedoppelten theoretischen Fehler“124 begeht. Sie spricht der Sinnlichkeit zu sehr zu, um dann „Trieb“ mit „Liebe“ zu verwechseln. Die Verwechslung von Behauptungen, das Verdrehen von Positionen, gibt das Verfahren der „Beyträge“ an, mühsam hergestellte epistemische Sicherheiten nachhaltig zu erschüttern. Damit steuert die Narration besonders über die Erzählinstanzen ihren Beitrag zur Epistemologie des Anfangs bei. Selbst dort, wo sich intertextuelle Bezüge aufdrängen, der alte mexikanische Philosoph Tlantlaquakapatli die Worte Rousseaus paraphrasiert (vorwegnimmt), trägt dieses Zitat primär zur Bandbreite der im Text dargelegten Positionen bei, ohne als ausdrückliche Parodie Rousseaus gelesen werden zu müssen.
122 A. O., S. 359. 123 „Warum hatte sie Koxkoxen geliebt, als – weil er ein Mann war“. Ebd. Die Einforderung von Monogamie wird zur Farce, wenn man ernst nimmt, dass eine Frau den Mann schon um seiner Männlichkeit willen lieben muss. Dennoch wird dadurch unmissverständlich deutlich, weshalb der Text im arkadischen Zustand auf dem Prinzip der Zweisamkeit beharrt. 124 Ebd.
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3.10 Gemeinschaft der Frauen Kikequetzel und der in die Idylle einfallende Tlaquatzin einigen sich rasch auf die Fortsetzung ihrer kurzweiligen Gemeinschaft. Ein Gespräch stellt das durch körperliche Gewalt zerrüttete Verhältnis wieder (oder erstmals) her.125 Dass Tlaquatzin anfangs nicht als Störfaktor wahrgenommen werden kann, resultiert aus dem unvorbelasteten gesellschaftslosen Zustand, in dem das junge mexikanische Paar lebt. Kikequetzel quält weder ein schlechtes Gewissen, weil sie ihren Unmut gegen Tlaquatzin fallen lässt, noch hegt Koxkox Bedenken, alles mit dem Neuankömmling zu teilen. Und zwar heißt es dezidiert: „ohne Ausnahme“.126 Die Thesen, welche Tlantlaquakapatli im folgenden (26.) Kapitel zum Thema Eifersucht verbreitet, erlauben den Schluss, dass selbst die gerechte Aufteilung Kikequetzels keinen Anlass zum Unfrieden stiften würde. Abermals begeht die Frau den kardinalen Fehler, ihre Zuneigung nicht ausgewogen auf beide Männer zu verteilen, und hegt dafür sogar niedere Beweggründe.127 Den „ersten Krieg“128 entfacht die Farbe ihres Kopfputzes, die eine Asymmetrie ihrer Zugehörigkeit erhellt (aufgeregtes Gelb statt gemäßigtem Blau). Nicht Kikequetzels Promiskuität als solche steht in der Kritik, sondern die Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes, die Koxkox’ eifersüchtige Reaktion rechtfertigt. „Der Mexikanische Filosoph behauptet, daß die Eifersucht, in der engern Bedeutung dieses Wortes, nur unter gewissen besondern Umständen eine natürliche Leidenschaft sey: nehmlich – In einer Gesellschaft, wo das Eigenthum der Weiber entweder durch Gesetze oder Gewohnheit eingeführt ist; und außerdem nur alsdann, wenn[ ] Die Gleichheit bey der Gemeinschaft aufgehoben wird, und entweder der Mitbesitzer sich besondere Vorrechte anmaßt, oder die Dame dem einen einen Vorzug giebt, der mit einer Geringschätzung des andern verbunden ist, […].“129
Im Kampf um Kikequetzel erweist Koxkox sich als unterlegener Gegner, was nicht bedeutet, dass er das Feld räumen müsste. Er verlässt Kikequetzel und seinen Ne125 Wie bei der Begegnung mit Koxkox prägt Sexualität das Verhältnis ganz zu Beginn (einmal als positive, einmal als negative Folie), wobei das Resultat einer durch den ersten unmittelbaren sexuellen Kontakt hergestellten Beziehung analog ausfällt. 126 A. O., S. 360. 127 Der gesamte Abschnitt ist von Ungesagtem durchsetzt. Kikequetzels „eigennützige[ ] Neigung“, a. O., S. 361, wäre bestenfalls als Eitelkeit zu bestimmen, die durch den Nebenbuhler befriedigt wird, oder wäre im anzüglichen Fall der besseren Befriedigung ihrer körperlichen Bedürfnisse zuzuschreiben. 128 Ebd. 129 A. O., S. 360.
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benbuhler freiwillig. Kikequetzels Untreue scheint anrechenbar, sofern sie sich „gegen einen Freund“ richtet, „[…], der das erste Recht an ihr Herz hatte.“130 Die veränderte Situation läutet einen neuen Stand – um Kants Begriff zu nutzen, eine neue Epoche – der Gesellschaft ein. Zum ersten Mal stören Streit und Kriegszustand die arkadische Idylle. Untreue, Eifersucht, Unbesonnenheit und Unfreundlichkeit treten zwischen die Menschen, sie verbringen schlaflose Nächte, sinnen auf Rache. Aus der schönen Mexikanerin wird unbemerkt und über Nacht eine „Dame“: „[…] als Tlaquatzin und die Dame des folgenden Morgens auffstanden, war kein Koxkox in der ganzen Gegend mehr zu finden.“131 In der Erzählung tauchte dieser Terminus zur Bezeichnung Kikequetzels bisher nicht auf. Verwandelt die Wahlmöglichkeit zwischen zwei Männern die Frau zur „Dame“, da sie ab diesem Zeitpunkt gesellschaftliche Konventionen befolgt, die ihre Entscheidung steuern oder verschleiern? Kikequetzels Verhalten beurteilt der Text alles andere als damenhaft. Die ironische Zuspitzung verträgt sich mit der vorigen Ermahnung der Damen der Gesellschaft. Ihr (gesellschaftlich) antrainiertes Verhalten erweckt den Anschein von Sittlichkeit, die nur der Wilden zukommen kann, solange sie über keine Auswahl verfügt. Der Text kolportiert die biblische Typologie beider Männer. Ackersmann und Jäger (bzw. der seine Tiere pflegende Nomade, vgl. 1. Mose 4) werden gegeneinander ausgespielt, wobei die Sympathien zugunsten des tüchtigen, das Land kultivierenden Koxkox ausschlagen132 (anders als in der Bibel und in Kants „Muthmaßliche[m] Anfang“ [vgl. meinen Text, S. 45f.], der Verständnis für die Fassungslosigkeit des Hirten aufbringt, sobald der Pflanzer sich anschickt, Land in Besitz zu nehmen). Koxkox zieht aus, um Rache zu nehmen. Um Tlaquatzin von seinem Terrain zu vertreiben, benötigt er „Gehülfen“. Sein Streben nach menschlicher Gesellschaft verdankt sich dem ersehnten Schutz seines Eigentums: ein Motiv, das schon in Theorien der Gesellschaftsgründung vor Hobbes große Relevanz besitzt.133 Die Aussicht auf Rache löst keineswegs der Krieg zweier konkurrierender Männergruppen ein. Da Koxkox seinen Helfern außer dem, was er im Krieg zurückzuerlangen 130 A. O., S. 362. 131 A. O., S. 361f. 132 A. O., S. 363. 133 Die Bibel erzählt in Hinblick auf den Konflikt zwischen Hirte und Ackersmann Kant zufolge exakt diese Geschichte. Die Ackerbau Betreibenden müssen, indem sie ihren Boden abzäunen und damit zu ihrem Eigentum erklären, die nomadischen Hirten als Rechtlose ansehen, was ihre Pflanzstätten anbelangt. Darin liegt kein einfacher symbolischer Akt. In der mexikanischen Geschichte findet sich kein Hinweis auf Eigentum des Bodens (und der Weiber), zudem keine Bemerkung, dass der Boden knapp bemessen sei. Die einzig überstrapazierte Ressource stellt der Mensch (in persona der Kikequetzel) selbst dar. „Gehülfen“, s. a. O., S. 362.
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erhofft, nichts bieten kann, wären die Konsequenzen jenes Feldzugs kaum friedlich denkbar. Gelegenheit zur Rache gibt ihm die Entdeckung dreier Frauen, die Koxkox um des Tauschhandels willen zu seiner ehemaligen Pflanzstätte begleiten.134 Aus dem gescheiterten ‚Kommunismus‘ resultieren demnach Tauschhandel (ungleich bewerteter Güter) und die Festsetzung eines Gesellschaftsvertrags. Denn Koxkox liegt an der Zurückeroberung seiner früheren Partnerin. An diesem Punkt taucht erstmals das Konzept sehnsüchtiger Liebe auf, ohne dass sie in den ambivalenten Kontext körperlicher Sinnlichkeit gestellt oder als theoretisches Problem exemplifiziert würde.135 Kikequetzel teilt ähnliche Gründe, sich über seine Rückkehr zu freuen. Dennoch verspürt sie – ob aus jüngst erworbener Erfahrung, bleibt ungewiss – vorerst Unbehagen ob der weiblichen Begleitung, das sich zügig in die Antizipation der Vorteile weiblicher Gesellschaft auflöst. Der Gesellschaftsvertrag, der auf Koxkox’ Anregung hin zwischen beiden Männern geschlossen wird, beruht auf den Prinzipien Rache und Berechnung. Beiderseitige Berechnung dient ihm zur Grundlage, und die „Gelegenheit zur Rache“ wird als perpetuierendes Moment (als stehendes Heer) installiert. „Auch der Herkulische Tlaquatzin hatte eine gedoppelte Ursache, sich die Wiederkunft seines alten Freundes wohl gefallen zu lassen: denn erstlich sah er ihn für einen Menschen an, der für ihn arbeiten würde; und zweytens war es ihm ganz angenehm, einen kleinen Harem zu seiner Disposizion zu haben. Er machte nicht die geringste Schwierigkeit, den Vertrag einzugehen, den ihm Koxkox anbot; denn er verließ sich darauf, daß er den Schlüssel zu Kikequetzels Herzen habe, […]. Aber Koxkox (welcher so einfältig nicht war, als er aussah) beruhigte sich damit, daß Kikequetzel wieder einen himmelblauen Kopfputz trug, und daß ihm die beiden Schwestern und die Tante selbst so viele Gelegenheit zur Rache gaben als er nur wollte.“136
Tlaquatzins Kalkül ist kapitalistisch – Koxkox soll für ihn arbeiten und er tauscht eine einzige gegen mehrere Frauen ein – sowie despotisch, weil er über die kleine Gesellschaft zu verfügen glaubt. Allerdings zieht der klügere Koxkox die Fäden im Hintergrund, und handelt sowohl aus Liebe als auch aus Berechnung. Physisch schwächer, aber intellektuell überlegen, initiiert er einen Gesellschaftsvertrag, dessen Grundlage auf Frauentausch und nicht auf der Verteilung von Gütern oder Land beruht. Als benachteiligtes Mitglied der Gesellschaft regt er zu seinem Schutz und Vorteil einen Gesellschaftsvertrag an – ein topisches Narrativ. Von Interesse ist eher das Gut, das zwischen den konkurrierenden Parteien aufgeteilt wird. Koxkox vermag an seine lädierte emotionale Bindung zu Kikequetzel anzuknüpfen, wäh134 Diese sprechen signifikanter Weise nun seine Sprache. 135 A. O., S. 363. 136 A. O., S. 364.
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rend Tlaquatzin und die drei Frauen in ein physisches Verhältnis (einen „Harem“) eintreten. Während der herkulische Mann, der den Frieden der Idylle stört, einen Namen trägt, spielt einzig die schiere Existenz der drei Frauen eine Rolle (sie folgen Koxkox in der Hoffnung auf „mehr Männer“).137 Jedoch mündet die Verteilung nach Maßgabe der Bedürfnisse nicht in einen friedlichen Gesellschaftszustand. Aus der erweiterten Gemeinschaft mit einem Überschuss an Frauen geht ein Matriarchat hervor, das als Ursache der verfallenden mexikanischen Gesellschaft (Kap. 29) namhaft gemacht wird. Diesbezüglich rekurriert der Text auf Platons „Staat“, in dem die „Gemeinschaft der Weiber“ das Geschlechterverhältnis einrichtet und den Staatserhalt garantiert. Nur hebt die Paraphrase „schlimmer Folgen“ das Ideal diesmal auf. „Die Gemeinschaft der Weiber“, ihr kollektiver Besitz durch ein Volk, aber auch ihre gemeinsame Organisation der Haushaltung und Kinderbetreuung, tritt an den Anfang einer Kausalkette, in der „Vielmännerey und Vielweiberey“138, animalischer Fortpflanzungstrieb, Verlust von Liebesfähigkeit sowie (emotional begründeter) Elternschaft, schwindender Respekt vor dem Alter und die generelle Auflösung von (positiv besetzten) zwischenmenschlichen Affekten unvermeidlich auseinander folgen. Menschlicher Verkehr hat nunmehr in Herden oder Horden statt, wodurch sein exklusiver Charakter aufgehoben wird und die Menschen in Animalität zurückfallen. Egoismus gerät zur Triebfeder allen Handelns und die Erzwingung seiner Interessen setzt den Zustand eines „ewigen“ Krieges aller gegen alle in Gang (oder wieder ein), der zur Vernichtung ganzer „Völkerschaft[en]“ führt. Ihre Zusammenrottung betreibt keinen Ackerbau mehr: Kultivierung und Kunst „wurden im Keim erstickt.“139 Als Kontrastfolie spannt der Text das Klischee der den Keim intakter Vergesellschaftung bewahrenden Familie auf, da ihre emotionale (liebende) Verfassung erst den Anreiz stifte, vom Zustand der Passivität in produktive Tätigkeit überzugehen. „Alles dieß hörte auf, so bald die zärtlichen Familienbande aufgelöst waren.“140 Obwohl die Erzählung unermüdlich betont, dass die Aufhebung der Zweisamkeit eine Kettenreaktion auslöst, die arkadisches Glück und sogar Nachfolgegenerationen zerstört, zieht der philosophische Seitenblick zum Ende hin den gegenläufigen Schluss: „[…], daß, wenn auch Tlaquatzin mit der Tante und ihren zwey Nichten nicht gewesen wäre, hundert andere zufällige Begebenheiten, früher oder später, vermuthlich die nehmliche Wirkung hervorgebracht haben würden; […].“141 In der Gleichsetzung von Onto- und Phylogenese entwirft der Text eine Theodizee, welche die Utopie ewiger unschuldiger Kindheit ablehnt („[a]ber wer 137 A. O., S. 363. 138 Zitate: a. O., S. 364. 139 Zitate: a. O., S. 366. 140 Ebd. 141 A. O., S. 367.
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wollte darum ewig Kind seyn?“). Sie beruft sich auf das (etwas abgewandelte) Mängelwesentheorem: Irrtum und Täuschung entsprechen der Natur des Menschen. Das Telos der „Entwicklung und Anwendung ihrer höhern Fähigkeiten“142, das menschliche Perfektibilitätsideal, steht dennoch nicht zur Disposition. Um zu diesem Schluss zu gelangen, muss der Text seine Grundannahmen, vor allem die präsentierte Erzählung von Arkadiens Verfall143, revidieren. Plausibilität und kausallogische Stringenz verleiht der Früh-Geschichte das narrative Fundament einer friedfertigen Gesellschaft, die einzig als Gemeinschaft zweier andersgeschlechtlicher menschlicher Wesen bestehen (bleiben) kann. Daher fällt es doch nicht ganz so leicht, sich „hundert andere zufällige Begebenheiten“ auszudenken, welche die Verfallsgeschichte ebenso zwingend einleiten. Es bedarf eines sozialen Elements, um die Zerstörung ins Werk zu setzen. Eine mögliche Unfruchtbarkeit Kikequetzels etwa wäre (welche Gründe144 dafür auch herangezogen würden) nicht ohne Weiteres plausibel, da die Natur sich, wie die Erzählung postuliert, nicht selbst zerstört. Zwar würde die Familie des jungen Paares gar nicht erst gegründet werden und der Stamm der älteren Mexikaner aussterben. Jedoch müssten die Protagonisten die Entwicklung nicht verantworten, da sie nicht bewusst handeln. Ohne dass das individuelle Schicksal der Kinder weiterverfolgt würde, stellen auch diese keine notwendigen Elemente der Erzählung dar, weil der Verfall schon in ihrem Kindesalter einsetzt. Vorzuführen, wie unvermutet natürliche Unschuld in gesellschaftliche Ungleichheit und Fehde kippen kann, könnte ein Anliegen (oder Experiment) der Erzählung bilden. Dass gesellschaftliche Entwicklung und Zivilisierung nicht emphatisch abgelehnt werden, hebt der Text mehrfach hervor, um ihre Diskussion in einem weiteren Beitrag, der sich explizit mit Rousseau auseinandersetzt, wiederaufzunehmen. Dennoch kann man über die hochgradig künstlichen Voraussetzungen der Erzählung nicht hinwegsehen. Es liegt ihr nicht daran, mit einem möglichst kargen Inventar auszukommen: ein Experiment, das Kants „Muthmaßlicher Anfang“ einleitet. Im Gegenteil entfaltet sie – von den unzähligen Exkursen und Wortmeldungen einmal abgesehen – minutiös Nebenschauplätze, scheinbar zufällige Randerscheinungen, spielerische Details, die ihr narratives Potential voll ausschöpfen.
142 Zitate: ebd. 143 Zur Utopie (nicht nur) bei Wieland vgl. Baudach, Planeten der Unschuld, bes. S. 496595: Die Naturvölkerutopien Christoph Martin Wielands, zu den die Naturstandsutopie unter geschichtsphilosophischen Prämissen kritisch reformierenden „Beyträge[n]“ vgl. S. 536-542, S. 540-542. 144 Entweder ihr eigener oder Koxkox’ Tod; ein Unfall, infolge dessen sie keine Kinder mehr austragen kann; das verfrühte Versterben ihres Nachwuchses etc.
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Die erweiterte Gesellschaft kann nicht bruchlos als Verfallsursache identifiziert werden, da sie phylogenetischer Notwendigkeit folgt. Die Nachkommen ethnisch differenzierter Eltern bedürften des äußeren Austauschs, um ihren Bestand auf Dauer zu sichern. Das Erzählexperiment ist von vornherein auf den Verfall angelegt, es arbeitet auf ihn hin, und verhehlt auch seinen de-zivilisierten Ausgangspunkt nicht. Arkadische Zweisamkeit bietet keine Alternative. Stimmen werden nicht nur als Reflexionsmomente eingespielt, sondern verbergen sich in den inserierten Erzählbausteinen selbst. Die Erzählung wartet als Beitrag auf Reaktionen weiterer Beiträge, gibt selbst jedoch keine definitive Antwort. 3.11 Traum Der dritte Beitrag enthält zusätzliche Elemente der Abarbeitung an Rousseau, die Paradoxa aufgreift, die z. B. auch Herder an Rousseaus Schriften monierte.145 „[D]ie ironische Zuspitzung von Argumenten und das Ausmalen von Hinweisen, die bei Rousseau eher beiläufig erwähnt, von Wieland aber bis zum Absurden getrieben werden, […]“146, münden in ein Kinderfabrikprojekt, dessen Ziel darin besteht, die Frage nach den natürlichen bzw. notwendig erlernten Anlagen und Fähigkeiten des Menschen zu beantworten, um schließlich den empirischen Beweis der menschlichen oder tierischen Ausrichtung seiner Gattung zu erbringen. Dabei gerät das (ethnographisch) kontrovers diskutierte Verwandtschaftsverhältnis von Affe und Mensch in den Blick. Als Beweis der autonomen Entwicklungslinie des Menschengeschlechts stuft der Text dessen Ansporn, kulturelle Praktiken auszubilden, ein, die über animale Verhaltensweisen hinausgehen, und somit als kulturell codiert zu werten sind (Trauer, Ehrung der Toten, Mono- resp. Polygamie – alles streitbare Kriterien). Dabei steht weniger die Denunziation des Menschen als berechnendes Tier im Hintergrund. Sondern der Text sucht Merkmale kultureller Zugehörigkeit innerhalb eines Kontinuums auszumachen, das sich über den Faktor Kultur nicht eindeutig differenzieren lässt. Woher kann der Mensch wissen, dass er Mensch ist, wenn er (partiell) die Kultur des Affen teilt? Das Gedankenexperiment, das die menschliche Geselligkeit bzw. Ungeselligkeit ermitteln soll, wird wiederum durch die Einlösung seiner historiographischen Prämissen durchbrochen.
145 Vgl. Helmut Zedelmaier, Der Anfang der Geschichte. Studien zur Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert, Hamburg, 2003, S. 270 [Studien zum achtzehnten Jahrhundert 27]. 146 A. O., S. 274. Vgl. Roland Borgards, „Affenmenschen/Menschenaffen. Kreuzungsversuche bei Rousseau und Bretonne“, in: ‚Es ist nun einmal zum Versuch gekommen‘. Experiment und Literatur I, 1580—1790, hg. v. Michael Gamper, Martina Wernli u. Jörg Zimmer, Göttingen, 2009, S. 293-308.
112 │S UBTEXTE DER M ENSCHHEITSGESCHICHTE „Ohne Zweifel ist die Erfahrung das kürzeste und sicherste Mittel, hinter das Geheimniß unsrer Natur zu kommen. Versuche sind der gerade Weg; das heißt die Natur selbst fragen; und dieses Orakel pflegt gemeiniglich eine deutlichere Antwort zu geben als alle andre, wenn wir nur die Kunst verstehen, es recht zu fragen. ‚Und welches sind denn die Mittel, diese Erfahrungen im Schooße der Gesellschaft anzustellen?‘, fragt Rousseau. […] Denn wenn diese Mittel so gewählt werden müssen, daß wir gewiß seyn können, der Natur die Antwort, welche sie uns geben soll, nicht selbst untergeschoben zu haben, so – müssen wir die menschliche Natur schon sehr genau kennen, und eben weil wir sie gern kennen möchten, sollen diese Versuche angestellt werden. Mir däucht, es ist nur Ein Weg aus diesem Zirkel zu kommen; […]: ‚Weil es unmöglich ist, Versuche anzustellen, von denen man sich gar keinen Begriff machen kann; so müssen wir solche in Vorschlag bringen, deren Möglichkeit sich wenigstens träumen lässt.‘“147
Der Passus legt dar, dass sich die eingenommene Perspektive nicht allein auf den Komplex des Historischen projiziert, da sie den Anfang menschlicher Gemeinschaften einbezieht, sondern er widmet sich epistemologischen Grundkonflikten. Wielands epistemischer „Pyrrhonismus“148 formuliert nicht nur den subjektphilosophischen (oder hermeneutischen) Einwand, dass der Erkennende seine Kategorien bereits mitbringe. Im Gegenteil lanciert dieser Beitrag das Ideal empirisch basierter Erkenntnis, die von der These ausgeht, dass der Mensch als Naturphänomen beobachtbar sei. Voraussetzungen und Vorurteile, welche die Natur des Menschen nach jahrtausendelanger Geschichte überlagern oder sie unterfüttern, sowie der epistemische Zirkel verstellen die unvoreingenommene Erkenntnis. Der (Rousseau untergeschobene) Skrupel beharrt auf dem Kernproblem der Ausgangsfrage. Dabei greift der Text ironisch den methodologischen Einwand eines Autors auf, den er für sich schon beantwortet hat. Die rhetorische Öffnung der Fragestellung, die der kanoni147 Wieland, Beyträge, Über die von J. J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche den wahren Stand der Natur des Menschen zu entdecken nebst einem Traumgespräch mit Prometheus, a. O., S. 395. 148 Vgl. Matthias Löwe, Idealstaat und Anthropologie. Problemgeschichte der literarischen Utopie im späten 18. Jahrhundert, Berlin/Boston, 2012 [Communicatio 44], vgl. S. 93, die Fußnote. Die „Beyträge“ diskutiert Löwe auf S. 145-152, u. a. im Vergleich mit Herder. Trotz subtiler Einzelbeobachtungen vermag ich dem Verfahren umgehender kulturgeschichtlicher Einordnung nur bedingt zuzustimmen. Zum Konnex von Pyrrhonismus und Geschichtsphilosophie vgl. Andreas Urs Sommer, „Historischer Pyrrhonismus und die Entstehung der spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie“, in: Unsicheres Wissen. Skeptizismus und Wahrscheinlichkeit 1550-1850, hg. v. Carlos Spoerhase, Dirk Werle u. Markus Wild, Berlin, 2009, S. 201-214 [Historia Hermeneutica. Series Studia 7].
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sche Autor in lebhafter Auseinandersetzung mit der literarischen Öffentlichkeit diskutierte, suggeriert ironisch überspitzt die Insuffizienz bis dato gewonnener Methoden und Ergebnisse. Vor der Folie der Kulturkritik Rousseaus gerät besonders die resolutiv-kompositorische Methode der Naturrechtslehre unter Generalverdacht. Als alternative epistemische Praxis rückt das Träumen149 in den Fokus. Im Ergebnis lehnen die vertretenen epistemologischen Einwände rationale Abstraktion und Reduktion als dürftige, da zirkulär strukturierte Geistesoperationen ab. Eröffnet träumen im Überschreiten des Bewusstseins ein extrapolierendes, transzendierendes Moment? Im Spannungsfeld disziplinärer bzw. fachhistorischer Divergenzen zwischen Philosophie und Psychologie lässt sich kaum eine einheitliche Definition des Bewusstseins erlangen. Ein gemeinsamer Grundbestand liegt im tendenziell bewusstlosen Agieren des Bewusstseins im Traum, das nicht rational kontrollierbar oder nachvollziehbar (dennoch: analysierbar) ist. Zwar schalten dessen Kategorien während des Schlafs der Vernunft nicht völlig ab. Jedoch verdichten sich Bewusstseinsinhalte in einem Grade, der sich im wachen Zustand kaum einstellt. Wielands Text stellt der Begrifflichkeit die Sphäre des Möglichen entgegen: eine Dimension, die literarischer Fiktion (laut einschlägigen Romandefinitionen oder bei Aristoteles) zugebilligt wird. Der Traum eröffnet nicht einfach denkbare Alternativen, für die Gesetze kausaler Logik unumschränkt weiter gelten, sondern sucht einen Möglichkeitsraum auf, der von den Regeln der Korrespondenz, Kausalität und Kohärenz entbunden ist. Dennoch plädiert der Text nicht für ausufernde Irrationalität. Gegen diese Annahme sprechen dessen Warnungen vor Entgleisungen der Einbildungskraft. Dennoch gibt er zu erkennen, dass die Hypothesen des rationalen Verfahrens noch lange nicht wirklich sind. Insofern nehmen die „Beyträge“ eine irrationale (historische) Welt an, die aufgrund der Struktur menschlicher Erkenntnis nicht zu entschlüsseln ist. Die Hauptaufgabe der Historiographie erschöpft sich nicht darin, Begebenheiten in rationale, niemals vollständige Ordnungen zu überführen, sondern sie vermag der unterstellten (unerkennbaren) Irrationalität eine Plattform zu bieten. Allerdings kann der Möglichkeitstraum nur als Chiffre eines ersehnten irrationalen Wissens einstehen. Historiographie soll über das Wissbare des rationalen Nachvollzugs hinausgehen (das betrifft insbesondere Ursprungserzählungen), um sich der Struktur des Wirklichen anzunähern, das der Mensch entweder als höchst rational oder völlig irrational deuten kann. Dabei handelt es sich um Zugänge, die in der epistemischen Struktur des Textexperiments beschlossen liegen. Die rational-irrationale Zerrüttung des Textes, der stete Widerspruch zwischen narratio und Reflexion, ge149 Vgl. Benjamin Specht, „Der Traum als Laboratorium. Traumerzählungen der Aufklärung zwischen Literatur und Experiment“, in: ‚Es ist nun einmal zum Versuch gekommen‘. Experiment und Literatur I, 1580-1790, hg. v. Michael Gamper, Martina Wernli u. Jörg Zimmer, Göttingen, 2009, S. 393-414, S. 401, S. 407f.
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staltet sich als Versuch, der abweichenden Welt beizukommen, streng konstruiert (was nichts über bewusstlose Schreibprozesse aussagt). Daher erzwingen Wielands „Beyträge“ einen höheren Grad narrativer Rationalität als die historiographischen Entwürfe Kants und Herders, indem sie sich an der (vergeblichen) Inszenierung des Irrationalen abarbeiten. Während sich die vorangehenden Überlegungen der Inszenierung des artifiziell wiedereingeholten Anfangs in Wielands „Beyträge[n]“ widmeten, richtet sich das folgende Kapitel auf das vorläufige Ende der Geschichte und konzentriert sich auf die epistemischen Praktiken von (fiktiver) Historiographie. Aus deren Warte rechtfertigt sich zudem, wie ich hoffe, die kleinteilige, an die spielerische ‚Behäbigkeit‘ der „Beiträge“ anknüpfende, Analyse, die dieses Textkonvolut in seiner Breite vorstellen wollte, da ihm in der Forschung bisher wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde.
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4. D AS AUGENFÄLLIG G EHEIME . Z UR VERMITTELTEN U NMITTELBARKEIT SPÄTAUFKLÄRERISCHER H ISTORIOGRAPHIE IN DEN B EYTRÄGE [ N ] 1 4.1 Augen-Schein Wenn der Erzähler der „Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit“ seinen (impliziten) Leser darauf hinweist, dass ein Tatbestand ganz unmittelbar und evident vor Augen läge, dann bleibt hinsichtlich allzu emphatischer Begeisterung für Empirie und Evidenz zunächst einmal Vorsicht geboten. Jener Hinweis findet sich als Element textimmanenter Kommunikation2 vor allem dann, wenn der Leser als Figur des Textes Skepsis oder Unverständnis zum Ausdruck bringt3, oder eine solche Nachfrage angesichts vorangegangener, komplizierter Erläuterungen nahe läge. Polemisch gefasst: Je komplizierter das Argument ist, desto mehr betont der Erzähler in kompensatorischer Geste dessen Zugänglichkeit. In der Auseinandersetzung mit Rousseaus Thesen inszeniert sich der Erzähler etwa in argumentativer Einheit mit dem Leser als intellektuellem Partner und nimmt „natürliche“ Erklärungen für sich in Anspruch, die wechselseitig den gesunden Menschenverstand der Kommunikationspartner bestätigen.4 Wielands Texte verkehren jedoch in eigentümlicher Weise die epistemologischen Positionen von Empirie, apriorischem Rationalismus, metaphysischer Erkenntnis sowie der Psychologie und der Theorie der Einbildungskraft. Dabei ‚offenbart‘ sich der jeweils verborgene Charakter des Augenscheinlichen, sowie im Gegenzug die Tiefendimension einer Erkenntnis als Banalität entlarvt wird. Anhand
1
Der (leicht veränderte) Text wurde vorab veröffentlicht unter: Kristina Kuhn, „Das augenfällig Geheime – Zur vermittelten Unmittelbarkeit spätaufklärerischer Historiographie. Wielands ‚Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit‘“, in: Wieland/ Übersetzen. Sprachen, Gattungen, Räume, hg. v. Bettine Menke u. Wolfgang Struck, Berlin/New York, 2010, S. 297-317.
2
Der Vorbericht zu den Beiträgen inszeniert sich als Antwort des fiktiven Autors auf ein Gespräch mit potentiellen Lesern, die sich mit didaktischen, gesellschaftlichen und poetologischen Forderungen an Literatur auskennen. Er beginnt wie folgt: „Ueberhaupt, meine wehrtesten Leser, ist es wie Ihr saget: […].“ Wieland, Beyträge, Vorbericht, a. O., S. 315.
3
Vgl. dazu folgenden Dialog zwischen Erzähler und implizitem Leser: „‚Das ist wunderlich.‘ – Es ist nicht anders, mein Herr.“ Wieland, Koxkox und Kikequetzel, a. O., S. 329.
4
Wieland, Beyträge, Betrachtungen über J. J. Rousseaus ursprünglichen Zustand des Menschen, in: WWA, Abt. 1, Werke V (Bd. 7,8/2), S. 367-392, S. 377: „Doch, wir wollen ihm nicht Unrecht thun“.
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einiger Beispiele aus den Texten „Reise des Priesters Abulfauaris ins innere Afrika“ und „Die Bekenntnisse des Abulfauaris […]“ sowie „Über die von J. J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche […] nebst einem Traumgespräch mit Prometheus“ möchte ich dieses merkwürdig verschränkte Verhältnis illustrieren, um abschließend zu zeigen, welchen Stellenwert jene Art der Übersetzung auf Ebene der metahistoriographischen Reflexion bei Wieland einnimmt. Das Geheimnis des Priesters Abulfauaris offenbart sich in der Wiederholung sowie Konfrontation zweier (textueller) Varianten desselben ‚historischen‘ Sachverhaltes. In diesem Zusammenhang spielen die Fähigkeit bzw. Möglichkeit des Zitierens eine besondere Rolle. Denn gerade das Zitat funktioniert im Modus des gleichzeitigen Ver- und Entbergens und gibt damit Auskunft über die Leistungsfähigkeit und die Grenzen einer historiographisch basalen Operation. Das synthetisierende ethnologische bzw. historische Ideal einer Annäherung bei gleichzeitiger wissenschaftlich-objektiver Distanz erweist sich als Traumbild – ob mit prometheischem Potential oder nicht, bleibt offen. Auch konzeptuell stehen die „Beyträge“ dem Verfahren des Zitats näher als einem umfassenden Gesamtentwurf. Verschiedene Themen, aber auch variante Textgattungen werden durch sie zitiert und miteinander verschränkt. Obgleich die „Beyträge“ sich grundlegend mit Fragen der Geschichtsphilosophie auseinandersetzen, organisieren und arrangieren sie diese in einer Form, welche die Grenzen literarischer Gattungen überschreitet. Das lockere Zusammenspiel der Einzelbeiträge und deren dennoch auf mehreren Ebenen durchkomponierter intertextueller Dialog tragen nicht allein dazu bei, thematisch differenzierte Perspektiven zu gewinnen, sondern diese metahistoriographisch zu variieren und zu reformulieren. 4.2 Eine Schrift aus lauter Beyträge[n] Die hybride poetische Anlage der Texte „Koxkox und Kikequetzel“ (1769/70), „Betrachtungen über J. J. Rousseaus ursprünglichen Zustand des Menschen“ (1770), „Über die von J. J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche […] nebst einem Traumgespräch mit Prometheus“ (1770), „Über die Behauptung, daß ungehemmte Ausbildung der menschlichen Gattung nachtheilig sey“ (1770), „Über die vorgebliche Abnahme des menschlichen Geschlechts“ (1777), die „Reise des Priesters Abulfauaris ins innere Afrika“ und „Die Bekenntnisse des Abulfauaris […]“ (beides o. J.)5 als „Beyträge“ steht im effektiven Zusammenhang mit der Frage nach dem Geheimnis, das die „Geschichte der Menschheit“ geschichtsphilosophisch sowie historiographisch stellt. Auf beide Aspekte – den Beytragscharakter und das Geheime – weist der Titel nicht nur dezidiert hin, vielmehr fungieren sie als zentrale Kompositionsprinzipien der poetischen Gestaltung und historiographischen Umset5
Vgl. mein Kapitel „Erzählungs-Experimente“, FN 1.
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zung.6 Die sieben „Beyträge“ zu variierenden Themen sind locker mit dem gemeinsamen Grundthema des ursprünglichen Standes der Menschheit und der Frage nach dem (notwendigen) Austritt aus diesem Stand verknüpft. Dabei wirkt der Gestus der Texte recht unterschiedlich. Gerahmt werden die „Beyträge“ durch zwei Erzählungen am Anfang und am Ende, wobei letztere eine wichtige Spaltung in eine vermeintlich objektive Erzählung und dem sie relativierenden autobiographischen Bekenntnis aufweist.7 Die vier mittleren „Beyträge“ setzen sich in der Form von Abhandlungen kritisch mit dem arkadischen Ursprung des Menschengeschlechts auseinander. Die Ergründung der Entwicklung sozialer Regeln innerhalb entstehender Natur-Gesellschaften sowie die Diskussion von Verfalls- bzw. Abfallsszenarien bieten den kritisch-polemischen Angelpunkt einer Auseinandersetzung mit J. J. Rousseau dar. Für die Anlage der „Beyträge“ ist dabei von Belang, dass Reaktionen der Auseinandersetzung oder Thesen zur Widerlegung Rousseaus nicht allein innerhalb dieser Abhandlungen diskutiert werden. Einerseits tauchen sie in den Erzählungen als Erzählerkommentar, Exkurs oder ungekennzeichnetes Zitat wieder auf, andererseits bilden sie Teile der erzählten Welt selbst. Eine Mitteilung als Beitrag zu betiteln bzw. zu inszenieren, stellt auf mehreren Ebenen ihren partikularen Charakter heraus, beispielsweise thematisch, diskursiv oder diskursgeschichtlich. In besonderem Maße gilt dies aber auf der poetologischen Metaebene von Komposition und Kommunikation. Dabei ist speziell daran zu denken, dass ein Beitrag zunächst keiner literarischen Gattung, ja nicht einmal der Schriftform selbst verpflichtet ist. Welchen Bezug stellt dieser Gestus – und ich würde sagen, dass es sich mit Blick auf geschichtsphilosophische Problemstellungen um einen Bescheidenheitsgestus handelt – zum Gegenstand der Texte her, und was kann es hinsichtlich dieses Gegenstandes bedeuten, verschiedene „Beyträge“ miteinander zu verknüpfen oder zu verklammern? Löst die Klammer historiographische Problemstellungen betreffend wiederum den Versuch einer akkumulativen Annäherung an ganzheitliche Repräsentation des nicht-repräsentierbaren Gegenstandes ein? Oder geht es vielmehr 6
Zur „Poetik der ‚geheimen Geschichte‘“ siehe Walter Erhart, Entzweiung und Selbstaufklärung, Kapitel IV. 3., S. 226-242. Zur Bedeutung der „‚geheimen Geschichte‘“ für Wielands (frühe) Poetologie generell und die des Romans im Besonderen s. S. 229f., zum Verfahren der „‚geheime[n] Geschichten‘“, vgl. S. 239-241.
7
Es handelt sich jeweils um abgeschlossene Elemente: eben um „Beyträge“. Ich nehme das Gesamtarrangement betreffend keine Rücksicht auf Editionssituation und Varianten der Zusammenstellung der „Beyträge“. Auch der mancherorts abweichende Titel „Geheime Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens“ spricht nicht gegen meine Interpretation, sondern betont die Möglichkeit beständiger Variation im Dienste didaktischer Bedeutungsverschiebung und -erweiterung.
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darum, eine Art dynamisches Gleichgewicht zwischen metahistoriographischer Reflexion und literarischer Annäherung respektive literarischem Experiment einzustellen? 4.3 Offensichtliches und Verborgenes In der folgenden Untersuchung möchte ich zeigen, dass sich in der relationalen Struktur von Offensichtlichem und Verborgenem die poetologische Organisation der „Beyträge“ insgesamt widerspiegelt. Offensichtliches und Verborgenes sind strukturell aufeinander angewiesen. Die Annahme des einen Moments schließt das andere stets mit ein. Indes wäre es kurzschlüssig, anzunehmen, ein Moment bilde das logische Pendant oder die Quelle des jeweils anderen. Die Korrelation von Offensichtlichem und Verborgenem ist nicht eindimensional angelegt, sondern ergibt sich jeweils über eine komplizierte Verweisstruktur innerhalb der Texte. Insofern geht es nicht darum, die Art ihres Bezuges eindeutig aufzuklären, sondern die Beobachtung zu würdigen, dass ihr reziprokes Verhältnis beständig in der Schwebe bleibt. Somit stellt ein Moment die ihm jeweils verborgenen Dimensionen mit dar, ohne sie vollständig zu offenbaren. Jene Wechselbeziehung ist für die poetologische Organisation des Textes bedeutsam und transportiert damit eine metahistoriographische Antwort auf die Frage der Erzählbarkeit von Geschichte. 4.4 Epistemologie In meiner Analyse der Relation von Offensichtlichem und Verborgenem gehe ich von der Annahme einer epistemologischen Funktion beider Elemente aus. Erfahrung und Wissen können als Bereiche des Bekannten – des Gewussten und Bewussten – und Unbekannten – des Unbewussten und Unentdeckten – aufgefasst werden. Ein epistemisches Feld wie die Historiographie hat seinerseits ein spezifisches epistemologisches Verständnis von den Bedingungen und Möglichkeiten sowie den Grenzen seines Gegenstandes und seines Erkenntnisvermögens selbst. Wenn hier von Offensichtlichem und Verborgenem die Rede ist, geht es mir jedoch weniger um die tatsächlichen Bereiche des Wissbaren und (noch) Unbekannten. Vielmehr werfe ich die Frage nach der Koexistenz oder Interaktion der Dinge und Verhältnisse, die vor Augen liegen, mit ihren Pendants, die verborgenen – (noch) unbekannt oder geheim – bleiben, auf. Jenes konträre Verhältnis wird literarisch in Szene gesetzt und als poetisches Prinzip in den Text eingeführt. Dabei liefern nicht allein die Einzelbeiträge diverse Grade und Medien von Verborgenheit und Offensichtlichkeit in den Geschichten, die sie erzählen. Sondern der Zusammenhang der „Beyträge“ insgesamt wird auf mehreren Ebenen wie Erzählerkommentar (Exkurse), Figurenrede, Interaktion mit den Lesern und den ‚Stimmen
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der Zeit‘8 vom Streit zwischen Empirismus, Rationalismus und Skeptizismus durchzogen. Insofern man etwa die Emphase der Offensichtlichkeit einer positivistischempirischen Position oder die Persistenz des Verborgenen dem philosophischen Idealismus zuschlägt, bzw. das Changieren beider Behauptungen als Hinweis auf endlose Spekulation und philosophischen Skeptizismus liest, deutet sich bereits eine Wissenschafts- (und damit Philosophiegeschichte) en miniature an. In dieser Hinsicht gibt der Einsatz der Metapher des Sehens Aufschluss, welche als Seismograph feinster wissenschafts- und disziplingeschichtlicher Erschütterungen gelten kann.9 In metaphorischer Übertragung fungieren die Augen als Organe des natürlichen unmittelbaren Erfassens und Begreifens. Bereits der Vorbericht fordert mittels dieser Metaphorik die Rezeptionshaltung ein, die der fiktive Herausgeber10 vom Leser erwartet. In diesem Sinne kennzeichnet die optische Metaphorik sogar eine besondere hermeneutische Fähigkeit, die weitestgehend auf diskursive Erkenntnisgewinnung verzichten kann. „Mich deutlicher und näher über das Wesen und die Form dieses Werkes […] vernehmen zu lassen, däucht mir, […], wo nicht überflüßig, doch entbehrlich; und diejenige unter euch müßten blöde Augen haben, welche dies alles nicht eben so gut als ich selbst wissen sollten, wenn sie bis zum letzten Blatt des letzten Theils gekommen seyn werden.“11
In den Vordergrund tritt die nuancierte ambivalente Positionierung des Erzählerkommentars, der auf Offensichtlichkeit insistiert, während er angesichts der Frage nach dem menschlichen Ursprung und seiner Ausdifferenzierung sowohl fortschrittsgläubigen Optimismus als auch romantische Verfallsmelancholie zurückweist. Am stärksten polemisiert er allerdings gegen abstrahierende philosophische 8
Mit Blick auf Moralphilosophie und Positionen der Tugendlehre etwa in: Wieland, Beyträge, Reise des Priesters Abulfauaris ins innere Afrika, in: WWA, Abt. 1, Werke V (Bd. 7,8/2), S. 458-468, S. 465. Hier werden die Positionen natürlicher Moral einer strengen Tugendlehre – welche an populär-polemische Deutungen des kantischen PflichtGrundsatzes erinnert – konfrontiert. Kennzeichen dieser Einschübe der ‚Stimmen der Zeit‘ sind häufig unmotivierte Anführungszeichen, die einen Dialog kennzeichnen, der nicht von bereits etablierten Figuren im Text getragen wird. Nach einem kurzen Schlagabtausch ‚verschwinden‘ diese stichischen Einschübe wieder aus dem Text.
9
Vgl. dazu grundlegend Ralf Konersmann (Hg.), Kritik des Sehens, Leipzig, 1997, die Einleitung.
10 Dem für Wielands Texte einschlägigen Element der Herausgeberfiktion hat sich Uwe Wirth gewidmet. Uwe Wirth, „Erzählen im Rahmen der Herausgeberfiktion“, in: Wissen – Erzählen – Tradition. Wielands Spätwerk, hg. v. Walter Erhart u. Lothar van Laak, Berlin/New York, 2010, S. 121-138. 11 Wieland, Vorbericht, a. O., S. 316.
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Spekulation sowie Deduktion, indem er die Leistungen der Erfahrung und des gesunden Menschenverstandes ausstellt. Der Apell, lediglich „die Augen aufzuthun“12, folgt dem Paradigma unmittelbarer sinnlicher Evidenz, man solle aus dem lernen, „[…] was uns die allgemeine Erfahrung, mit der unwidersprechlichsten Evidenz, […] zuruft.“13 Sieht man im Zuge der Analyse jedoch genauer hin, dann scheint das Plädoyer für die Unmittelbarkeit eines empiristischen Weltverständnisses nicht mehr ganz so eindeutig auszufallen. Das Medium, dem der Text verpflichtet ist, organisiert sich aufgrund der Zurückweisung reflexiver Techniken der Wirklichkeitserkenntnis primär literarisch. Dabei wird die narrative Form nicht allein in den Erzählungen über „Koxkox und Kikequetzel“ sowie den Priester Abulfauaris instituiert. In gleicher Weise wie die Narrationen keine reinen Erzählformen ausbilden, da sie etwa Exkurse zu philosophischen oder ästhetischen Fragestellungen einschalten14, stellen auch die Abhandlungen nicht ausschließlich Traktate dar, sondern werden durch erzählende und tropologisch-rhetorische Elemente unterbrochen.15 Mittels dieser Praxis gelingt es den Texten einerseits, ihre Themen und Thesen durchweg präsent zu halten. Bestimmte Kernthemen tauchen, leicht modifiziert, fortwährend an unterschiedlicher Stelle auf. Andererseits garantieren diese Brüche die Lebhaftigkeit der Texte; die theoretischen Exkurse des Erzählers behalten als Metaebene eines Beitrags kaum das letzte Wort. Als programmatisch unumgänglich kündigt sich dieses Mischungsverhältnis bereits im Vorbericht an, der sich implizit auf den horazischen Grundsatz delectare et prodesse stützt.16 Formal richten sich die „Beyträge“ nicht allein als thematisches Konvolut an den interessierten Leser – wie etwa eine Zeitschrift –, sondern der Eindruck des Konvoluts bestätigt sich zudem auf der Binnenebene der einzelnen „Beyträge“. Im folgenden Teil widme ich mich den Erscheinungsformen des Verborgenen, deren paradoxer Charakter anhand einiger Beispiele expliziert wird. Dabei gilt zwei Elementen der „Beyträge“, in denen das Verhältnis von Offensichtlichem und Ver12 Wieland, Über die von J. J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche, a. O., S. 392-416, S. 402. 13 A. O., S. 403. Ich nehme keine Rücksicht auf das Wandern der Metaphorik vom Bereich des Gesichts in den des Hörsinns. 14 Zum Verhältnis Kunst/Natur (ästhetische Theorie), Sprachentstehung (Semiotik), zu Fragestellungen der Anthropologie, Repräsentation usf. 15 Als letztere verstehe ich z. B. die ‚Stimmen der Zeit‘: Das sind zwar gekennzeichnete, aber nicht auf einen Äußerungs-Ursprung zurückführbare Zitate. Man könnte diese Praxis als eine Art Prosopopoiia auffassen. 16 Wieland, Vorbericht, a. O., S. 315: „Meine geringste Absicht ist, daß es euch amüsieren, meine vornehmste, daß es euch besser machen möchte.“
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borgenem in Szene gesetzt wird, besondere Beachtung. Es handelt sich zum einen um das Geheimnis, das schon prominent im Titel auftaucht. Zum anderen geht es um den Einsatz von gekennzeichneten, dabei allerdings unkenntlich gemachten Zitaten, welche auf diese Weise wiederum einen geheimen Status erhalten.17 4.5 Geheimnis Die „Reise des Priesters Abulfauaris ins innere Afrika“18 erzählt von den Kolonisationsbestrebungen eines ägyptischen Priesters, der „eine kleine Völkerschaft von fingernackten Leuten“19 im inneren Afrika „policiert“. Er ‚schenkt‘ – tatsächlich handelt es sich um Tauschhandel – ihnen Kleidung und trägt somit zum moralischen Verfall der „Völkerschaft“ bei. Als Regulativ des Verfalls führt er die ägyptische Religion ein. Wie sich dann in den nachfolgenden autobiographischen Bekenntnissen offenbart, verdankt sich seine Missionstätigkeit eigentlich der Leidenschaft für „die schöne Mazulipa“20 und dient ihrer Verführung mittels der fingierten Einführung in die Mysterien der Isis. In der Gegenüberstellung beider Erzählungen, denen zwei abweichende Erzählgattungen und drei Erzählerstimmen zuzuordnen sind21, wird deutlich, dass die 17 Das genannte Verhältnis spiegelt sich auch in der Sprachursprungsthematik – im Verhältnis von Augen- und Lautsprache – wider, die in der Erzählung von „Koxkox und Kikequetzel“ aufgenommen wird. 18 Wieland, Beyträge, Reise des Priesters Abulfauaris, a. O., S. 458-468; Bekenntnisse des Abulfauaris gewesenen Priesters der Isis in ihrem Tempel zu Memfis in Nieder-Ägypten. Auf fünf Palmblättern von ihm selbst geschrieben und aus des berühmten Evemerus Beschreibung seiner Reise in die Insel Panchäa gezogen., in: WWA, Abt. 1, Werke V (Bd. 7,8/2), S.468-483. In Bezug auf die „Bekenntnisse“ sei nur angedeutet, dass allein durch den Titel eine komplexe, metahistorisch sowie metahistoriographisch ‚reiche‘ Überlieferungsfiktion eingesetzt wird, die über Evemerus (Euhemerus) sogar auf semantischer Ebene in Tiefenschichten hinabführen könnte. Mit Blick auf die diskutierte Frage der Überlieferung ist bedeutsam, dass das autobiographische subjektive Bekenntnis nur zufällig in einer anderen Schrift aufgehoben ist – und zwar rein materiell (hier fiktiv in der „Reise zur Insel Panchäa“. Jene Schrift ist real wiederum nur bruchstückhaft in späteren Konvoluten als Sammlung erhalten. Etwa in: Petrus Wesseling, Diodori Siculi Bibliothecae Historicae [...], Amsterdam, 1746, Bd. 2 [Diodoros von Sizilien, Historische Bibliothek, Teil II, 5.41-46]. 19 Wieland, Reise des Priesters Abulfauaris, a. O., S. 458. 20 Vgl. Wieland, Bekenntnisse des Abulfauaris, a. O., S. 479; „policiert“ (ebd.). 21 Die erste Erzählung (der „Reise“) beginnt im ersten Kapitel mit einem allwissenden Erzähler, um dann bis zum zweiten Kapitel in eine Ich-Erzählung überzugehen, deren Erzähler der Priester Abulfauaris selbst ist (im dritten Kapitel setzt dann erneut die allwis-
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vermeintlich objektiven Versionen der Geschichte stets mit ihren subjektiven Varianten zu konfrontieren sind. Das Subjekt, das als Verantwortlicher für die sozialen Vorgänge einsteht, wird nicht in erster Linie durch äußere Umstände in der Durchsetzung seiner Ziele korrumpiert, sondern – bei aller Reflexivität und Selbsterforschung – durch „alle die geheimen Winkel des Herzens“. „Die geheimen Umstände dieser Hauptepoche [des] Lebens […]“22 werden nicht einfach durch das geständige Subjekt offenbart, sondern eröffnen eine weitere Dimension, die vorab verborgen bleiben muss und erst der Retrospektive zugänglich ist. Abulfauaris steht in mehrfacher Hinsicht in Bezug zum Geheimen. Als Priester der Isis beherrscht er „[…] die Kunst, [s]eine Leidenschaften zu verbergen“23 und ist zudem mit der ‚Aufbewahrung‘ der Gesetze und „Mysterien“24 betraut. In der Konstellation der Kolonialgeschichte hat er sowohl Geheimnisse vor dem ägyptischen Kolonialherren, seinem König, als auch vor den „armen Negern“ sowie gegenüber seinen Ordensbrüdern.25 Allerdings kann er sich damit nicht als einziger über sich selbst aufklären. Das Geheimnis des Abulfauaris verdoppelt sich insofern, als die Ursachen seines Handels zum Teil auch vor ihm selbst verborgen sind. Dabei wird es undurchsichtig, ob das Spiel der Verstellung, das er inszeniert, Ursache oder Wirkung dieses Selbst- sowie Fremdbetrugs darstellt. Über die Bekleidung der „Weiber und Mädchen“26 führt er dieses Spiel in die „Völkerschaft“ ein, er hilft verbergen, was im Wortsinn nackte Wahrheit war, und insinuiert damit den Reiz des Verborgenen27 innerhalb einer Gesellschaft, deren Einbildungskraft und „Geschlechtstrieb“ zuvor noch schlummerten.28 Die Kleidung befördert im Modus der Verstellung den moralischen Verfall, den sie eigentlich verhindern
sende Erzählung ein). Beide Erzählformen werden von Einschüben in wörtlicher Rede durchsetzt, was im (zweiten) Fall der „Bekenntnisse“ den Eindruck erweckt, dass Abulfauaris sich tatsächlich einem Gegenüber offenbart. Am Ende der ersten Erzählung meldet sich dann ein Herausgeber-Erzähler zu Wort, der die Veröffentlichung der „Bekenntnisse des Abulfauaris […]“ rechtfertigt. Das dann folgende autobiographische Bekenntnis ist wiederum als Ich-Erzählung, als eine Art Zwiegespräch, gehalten – irritierend ist dabei, dass jene erste Erzählung der „Reise […]“ dieses Element bereits enthält. 22 Wieland, Bekenntnisse des Abulfauaris, a. O., S. 480 u. S. 477. 23 A. O., S. 468. 24 A. O.: Gesetze des Hermes Tresmegistos, s. S. 473; Mysterien des Osiris und der Isis, s. S. 469. 25 Vgl. a. O., S. 478 u. S. 469. 26 Wieland, Reise des Priesters Abulfauaris, a. O., S. 459. 27 Vgl. a. O., S. 464. 28 „schlafen gelegt“ heißt es im Text (a. O., S. 463).
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(hemmen) sollte, ebenso wie die Mysterien helfen, die Sublimierung von Abulfauaris’ Leidenschaften schließlich doch ihrer sinnlichen Erfüllung zuzuführen.29 Wie „geheim“ ist das „Geheime“ nun aber tatsächlich, und was bedeutet es, ein Geheimnis zu offenbaren? Im jugendlichen Skeptizismus des Priesters drückt sich „eine gewisse Aufrichtigkeit des Herzens“ aus, die über das Moment der „exoterischen“ Religion30 der Ägypter Aufschluss gibt. „‚Du bist überzeugt, sagte ich zu mir selbst, daß alle diese Götter, […], weder mehr noch weniger gewesen sind, als Menschen wie du31; […]. Die Aufschlüsse sind unwidersprechlich, welche du durch die Iniziazion von dieser Wahrheit bekommen hast, von der dich schon die bloße Vernunft hätte überzeugen sollen.“32
Der „Freydenker“ sähe die Aufgabe seines Priesteramtes darin, „[…] diesem Pöbel bessere Begriffe beyzubringen“, ihn aus dem Aberglauben herauszuführen und aufzuklären.33 Gegen diese „Aufklärung“34 spricht die eigentlich politische Funktion der Religion, die staatserhaltende Moralisierung absichert. Die „geheime Lehre“ des Hermes Tresmegistos „[müsse] aus einem politischen Gesichtspunkte betrachtet werden […]“, und ist aus diesem Grund auch nicht für alle Zeiten gültig, sondern modifizierbar und historisierbar.35 Insofern ihnen alltägliche Naturerscheinungen zu Zeichen werden, weisen die Ägypter Züge eines abergläubischen Volkes auf. Ihre spezifische Lektürefähigkeit scheint sich gerade dem zivilisatorischen Stand als Hochkultur zu verdanken: Sie 29 An zwei Stellen wird davon gesprochen, dass Abulfauaris beabsichtigt, sich zu einem „neuen Hermes“ aufzuschwingen, vgl. Wieland, Bekenntnisse des Abulfauaris, a. O., S. 478. 30 A. O., S. 469. 31 Vgl. die Überlegungen zum heroischen Zeitalter, s. Wieland, Beyträge, Über die vorgebliche Abnahme des menschlichen Geschlechts, in: WWA, Abt. 1, Werke V (Bd. 7,8/2), S. 438-457. 32 Wieland, Bekenntnisse des Abulfauaris, a. O., S. 469f. 33 Dass die gesamte Kolonialgeschichte als Spiegel europäischer Selbstverständigung und Expansion zu lesen ist, ist besonders reizvoll, da das Setting Ägypten diese Geschichte in eine Vorzeit verlegt, die zugleich als europäische Vorzeit verstanden werden muss, insofern Griechenland hier als Adept und Vermittler ägyptischer Hochkultur fungiert. „Freydenker“, s. Reise des Priesters Abulfauaris, a. O., S. 462, allerdings in Bezug auf „Diagoras“. 34 Wieland, Bekenntnisse des Abulfauaris, a. O., S. 470. 35 A. O., S. 473: „Er fügte hinzu: Alles was er an den Ägyptern hätte thun können, sey nur ein roher Entwurf, der von uns, seinen Nachfolgern, ausgearbeitet und poliert werden müsse; welches nicht anders als nach und nach geschehen könne.“
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leben in einem „Land der Wunder“, inmitten lauter „Seltenheiten der Natur und der Kunst“ sowie „[…] geheimnißvoller Denkmähler eines die Geburt aller andern Völker übersteigenden Alterthums“.36 Kein mystisches Element inhäriert der Offenbarung der hermetischen Schriften. Vielmehr säkularisiert sich das Priesteramt sogar als Regulativ der exekutiven Gewalt des Königs.37 Einerseits gibt sich die Religion etwa in ihrer exoterischen Götterverehrung aus vernünftigen Gründen mystisch, da das abergläubische Volk und sein abergläubischer König noch nicht zur Aufklärung fähig sind. Andererseits ist gerade die rationale politische Funktion aus Gründen politischer Stabilität zu verheimlichen. Wenig vorbildlich verhält sich der missionierende „Freydenker“ in seiner Situation korrupt, selbstherrlich und ‚leidenschaftlich‘.38 Dennoch agiert er nicht skrupellos. Ihm ist tatsächlich jederzeit bewusst, welche Gefahr von seinem ‚Geschenk‘ der Bekleidung ausgeht. Diese skeptische Position wird in der ersten Erzählung deutlich markiert, nicht zuletzt durch die zivilisationskritischen Einwände des griechischen Philosophen „Diagoras“, der das schlechte Gewissen des Priesters figuriert. Die Irritation, dass Einsicht nicht zwangsläufig entsprechendes Handeln nach sich zieht, wird dann in den „Bekenntnisse[n]“ ihrer Auflösung zugeführt. Abulfauaris befindet sich in ständigem Widerstreit mit sich selbst und seinen Motiven, was ihn dazu zwingt, sie nicht nur vor anderen Menschen, sondern auch vor sich selbst zu verbergen. Er kämpft gegen seine ihm durchaus bewusste Leidenschaft für „die schöne Mazulipa“ an, deren sinnlicher Ursprung kein Geheimnis für ihn darstellt. Indes setzt sich der Plan ihrer Verführung unbeirrt im Innern fort, sodass jegliche Maßnahme, um das Begehren zu verdrängen, desto stärker an seiner Verwirklichung mitarbeitet.39 Die Initiation der schönen Mazulipa in die Mysterien erfüllt ebenso wenig mystische (kultische) Funktion wie die Verkleidung des Abulfauaris als Anubis. Tatsächlich offenbaren sich die geheimen Absichten des Abulfauaris in der Zelebrierung der Mysterien als profan, bleiben aber weiterhin verborgen für die schöne Mazulipa. Was Abulfauaris an Mazulipa reizt, ist ihre topische Naivität, die sie als „fanatische“ und „bethörte Unschuld“ „der Willkühr der Götter“40 überlässt. „Ich würde mir selbst Unrecht thun, meine Brüder, wenn ich sagte, daß ich mir der Absicht, welche mich so reden machte [dass man sich der Willkür der Götter überlassen solle, K.K.], 36 A. O., S. 474. 37 A. O., S. 471. 38 A. O., S. 477: „[…] der Geitz, der Stolz und die Üppigkeit des Priesters Abulfauaris die wahren Ursachen […]“. 39 Und wirkt auf diese Weise ähnlich durchschlagend wie die Religion auf die politische Verfassung der Ägypter. 40 A. O., S. 482-483.
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deutlich bewußt gewesen sey; aber ich mußte doch fühlen, daß ich eine Absicht hatte, und ich getrauete mir nicht sie aus meinem Busen hervor zu ziehen.“ „Aber, ach! wer kennt, eh’ ihn seine eigene Erfahrung belehrt hat, alle die geheimen Winkel des Herzens, in deren sicherm Hinterhalte die versteckte Leidenschaft, indessen wir von Triumfen träumen, auf Gelegenheiten lauert, uns ungewarnt und unbewaffnet mit verdoppelter Wuth zu überfallen?“41
Die Frage nach subjektiven Triebfedern als Ursache gesellschaftlichen Handelns besitzt hier insofern Relevanz, als deutlich wird, dass der reflektierte Aktant eine Dimension seines Handelns zu berücksichtigen hat, die sich nicht reflexiv auf den Begriff bringen lässt. Zugang zur verborgenen Dimension ermöglicht in der gegebenen Situation allein das Gefühl, dessen Tragweite diffus bleiben muss. Die Furcht vor seinen unbewussten Motiven hemmt den Handelnden in seiner konsequenten Selbstaufklärung.42 Qua Reflexion lässt sich der Weg zur Wahrheit nicht antizipieren, sondern er führt über die historische Erfahrung der fehlgeleiteten Handlung, die – in diesem Fall – durch den Akt des autobiographischen Schreibens eingeholt werden muss. Erst als es zu spät ist, stellt sich die Einsicht ein. Als Symptom historischer Nachträglichkeit zieht Verspätung die Einforderung der Offenbarung gegenüber der Nachwelt nach sich (im Sinne der historia magistra vitae). Dabei ist das moralische Exemplum, das Abulfauaris mit seiner geheimen Biographie gibt, nur als Warnung für seine Ordensbrüder gedacht. Insofern sie – wie die Mysterien – nur für einen begrenzten Kreis Eingeweihter bestimmt ist, bliebe sie weiterhin geheim. Interessant ist nun, wie der Erzähler in Anknüpfung an (oder gegen) den letzten Willen des Abulfauaris die Veröffentlichung der „Bekenntnisse“ rechtfertigt. „Diese Hochachtung, – […] scheint uns die fromme Pflicht aufzulegen, diese Bekenntnisse in der Dunkelheit, […] – ungestört ruhen zu lassen. Und doch – wenn wir auf der andern Seite bedenken, daß der Priester Abulfauaris kein Recht hatte, uns, die wir über zwey tausend Jahre später in die Welt kamen als er, eine Verbindlichkeit aufzulegen, wodurch wir einer höhern Pflicht genug zu thun verhindert werden; […] Daß der Nutzen, welchen wir der Nachwelt durch die Bekanntmachung seiner Bekenntnisse, so viel an uns ist, verschaffen, vermuthlich das einzige Mittel ist, den Schaden, den seine Fehler und Verirrungen der Menschheit zugefügt haben, einiger Maßen zu vergüten: so verschwinden alle unsere Bedenklichkeiten wieder; […].“43
41 A. O., erstes Zitat: S. 482, zweites Zitat: S. 480. 42 Wie Erhart es treffend unter Fokussierung auf Kolonisationsmechanismen feststellt, führt die Auseinandersetzung mit dem Fremden zur Konfrontation mit der unbekannten Dimension des eigenen Selbst (ins innere Afrika). Vgl. Erhart, ‚Was nützen schielende Wahrheiten?‘, a. O., S. 64. 43 Wieland, Reise des Priesters Abulfauaris, a. O., S. 467f.
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Die Textpassage fordert eine reziproke Verbindlichkeit ein, welche die drei Zeitebenen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verklammert. Von Abulfauaris begangene Fehler wirken sich nicht nur auf sein unmittelbares Handlungsumfeld aus, sondern zeitigen eine Tiefendimension, die historische sowie regionale Grenzen transzendiert. Für die historische Langzeitperspektive bedeutet das im Umkehrschluss, dass vergangenes Handeln ebenso positive überzeitliche Effekte erzeugen kann. Als Konsequenz dieses Arguments löst sich dann die „Verbindlichkeit“, welche die Gegenwart gegenüber der Vergangenheit eingeht, angesichts der „höhern Pflicht“, die sie mit Blick auf zukünftige Generationen erfüllt, auf („so viel an uns ist“). Die Argumentation verläuft weitgehend utilitaristisch44 und fügt die historischpragmatische Konstruktion in den Rahmen einer Universalgeschichte, die im integrativen Begriff der Menschheit kondensiert. Man kann dieses topische Argument geschichtsphilosophisch wenden: Das ist hier meines Erachtens jedoch sekundär. Nachhaltiger wirkt sich einerseits die rhetorische Einlösung dieser Prämisse aus, die darin besteht, den Einspruch des Lesers dem Text selbst einzuschreiben. Andererseits hebt die geschichtsphilosophische Argumentation den Bereich des Esoterischen und Arkanen auf, insofern nicht mehr nur die – in die Mysterien der Isis – Eingeweihten Zugang zu dieser ‚Geheimschrift‘ erlangen können und dürfen. Mysteriöses sakrales Leben wird säkularisiert und zum Zeugnis humanistischen Wissens stilisiert (damit zugleich zum Common Sense abgeschwächt). Die Offenbarung des Geheimnisses – und das ist hier, was unmittelbar vor Augen liegt45 –, die plausible sinnliche Affektion des Priesters, löst den Status des Geheimen auf. Weil es mit den Instrumenten individueller Selbsterkenntnis – in Form der Autobiographie – bzw. durch die Reflexion historischer Erfahrung aufgeklärt werden kann, büßt das Geheimnis seinen arkanen Charakter ein. Insofern gilt: Das Geheime ist das Offenbare. Und im Umkehrschluss zeigt sich: das Offenbar(t)e ist das Geheime. 4.6 Zitierpraktiken Anhand eines zweiten Beispiels, welches das Thema Zitierpraktiken aufgreift, gilt es diese These zu erläutern. Abgesehen von der notorischen Vielstimmigkeit der „Beyträge“, die sich unter anderem in Überlieferungsfiktionen und der damit verbundenen Vervielfältigung von Erzählerpositionen sowie in der Einbeziehung des Lesers spiegelt, lassen sich unbestimmte Reste bemerken, die offenbar als Zitate 44 Und steht damit im Kontrast zum vorangehenden Diskurs über mögliche Handlungsmotivationen, etwa aus Pflicht oder Neigung; vgl. a. O., S. 466. Man ist geneigt, eine Auseinandersetzung mit Kant im Hintergrund anzunehmen. 45 Dem gesunden Menschenverstand (vgl. das Zitat zu den Mysterien) und Sentiment (dem moralischen Gefühl) zugänglich.
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präsentiert werden, insofern sie nämlich in Anführungszeichen gesetzt sind, deren Ursprung hingegen im Dunkeln bleibt. Ihnen wird kein Aussagesubjekt (kein Autor) zugeschrieben, ihnen fehlt die Quellenangabe in Form einer Fußnote. Tatsächlich irritieren diese ‚Zitate‘ auf den ersten Blick kaum: analog zur Einbeziehung des Lesers wären sie als ‚Stimmen der Zeit‘ lesbar. Diesen Stimmen eignet der Ton philosophischer Paraphrasen, die häufig in einer Art Diskussion, die sich zum Streitgespräch entwickeln kann, im Text gegeneinander geführt werden. Größtenteils ‚versäumt‘ es die Erzählinstanz, eindeutig festzulegen, was denn nun die richtige Meinung sei. Formal wäre also davon zu sprechen, dass der ‚Diskurs der Zeit‘ einbezogen wird. Inhaltlich, auf Ebene der Aussagen, scheint diese Deutung ebenfalls zulässig. Man könnte nun fragen, ob dem ein philologisches Problem zugrunde liegt. Sind es das nachlässig angefertigte Exzerpt zirkulierender Schriften oder der elaborierte Duktus des gelehrten Diskurses selbst, welche die Frage nach der Autorschaft ex post aufwerfen? Gehört es also zu den Aufgaben sorgfältiger philologischer Forschung und gewissenhafter Edierung, Aufschluss zu geben, wer hier eigentlich spricht? Ich denke nicht. Das gekennzeichnete, dabei jedoch unkenntliche Zitat, ist speziell dann, wenn Grade beabsichtigter oder unbeabsichtigter Verschleierung bzw. überdeutlicher Markierung von Quellen im Text vorkommen, als literarische Technik zu qualifizieren, die sich mit der Einbeziehung der Stimmen der Leser vergleichen lässt. Zur näheren Erläuterung dienen zwei Textstellen, die ein der Indistinktion (Verunklärung) ähnliches Vorgehen anwenden, indem sie das konträre Verfahren – sozusagen den ‚Klartext‘ – behaupten. Sie greifen die Frage des Umgangs mit den Quellen auf: Es wird verhandelt, auf wen man sich als Schriftsteller und Herausgeber eigentlich bezieht, bzw. wen man zitiert. Beide Stellen fingieren, dass sie exakt kennzeichnen, auf wen sie sich beziehen, sie sagen „es gerade heraus“. Tatsächlich spiegelt sich in der undifferenzierten Sprechinstanz wir oder man die Komplexität von Quellenbezügen wider. Hier ‚spricht‘ lediglich der Erzähler, der jedoch über sich und seine Funktion hinausweist, und damit die Bedingungen des Erzählens generell fokussiert. Die Konstitution des Wissens liegt im Dunkeln, selbst wenn es so scheint, als würde man alle Quellen offen legen: „[…] – doch, was hindert uns, gewissen spitzfindigen Forschern eine Mühe zu ersparen, und es gerade heraus zu sagen, daß es ein alter Ägyptischer Priester, aus den Zeiten des Königs Psammuthis des Dritten, war?“46
46 A. O., S. 458. Nämlich derjenige, dessen offizielle und geheime Version seiner Lebensgeschichte wir in den Händen halten: was abermals einen offensichtlichen Widerspruch darstellt; es ist nämlich unklar, wer eigentlich für die Verfassung der offiziellen Version zuständig ist, sie wechselt zwischen drei Erzählern hin und her.
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Sieht man davon ab, sich als „spitzfindige[r] Forscher[ ]“ die „Mühe zu ersparen“, dann eröffnen sich nicht allein die Tiefendimensionen ägyptischer Geschichte, sondern vor allem die Abgründe von Wielands kompositorischen Verfahren. Psammuthis – der ‚Wievielte‘ ist unklar, soweit ich das überblicken kann, gab es nur einen – war König der 29. Dynastie, ein Gegenkönig, der nur ein Jahr regierte, nämlich von 393-392 v. Chr. Zeitlich deckt sich diese Angabe tatsächlich ungefähr mit den Lebensdaten des Hof- und Unterhaltungsphilosophen Diagoras (von Melos, der Atheist, ca. um 410 v. Chr.). In der Liste der Pharaonen ist Psammetichos, der III. (26. Dynastie, 526 v. Chr.) verzeichnet, welcher ebenfalls sehr kurz – nur ein halbes Jahr – regiert hat; interessanter Weise zu einer Zeit, in der man den Beginn des Transsaharahandels vermutet. Von Herodot wird jedoch überliefert, dass er ein Experiment mit Kindern durchgeführt haben soll, um herauszufinden, welches Volk das ältere sei: die Ägypter oder die Phryger. Recht bezeichnend dient die Sprache hier als ‚Beweis‘ der Ursprünglichkeit. Beide Themen werden in den „Beyträge[n]“ an exponierter Stelle aufgegriffen: das Kinderexperiment in einer der Abhandlungen zu Rousseau und die Sprachursprungsthematik in der Erzählung von „Koxkox und Kikequetzel“. Ferner wäre genauer zu bestimmen, was für eine Art Kolonialhandel Abulfauaris unabsichtlich initiiert. Inwiefern hängen nun diese Fragmente historischer Übermittlung mit den Themen und Erzähltechniken der „Beyträge zur geheimen Geschichte“ zusammen, und inwieweit sind die Offenbarungen des Erzählers tatsächlich als solche zu qualifizieren? Das Offenbare oder Offenbarte tritt meines Erachtens als Hinweis auf eine tieferliegende Schicht des Geheimen ein: als Hinweis auf das Geheimnis historischer Diskurse selbst. Denn nur, wenn man beide Könige als Sedimente eines historischen Untergrundes zusammenführt, konstituiert sich Sinn, der zwar nicht historisch korrekt (schlüssig) ist, jedoch metahistoriographisch Aufschluss über die ‚Wahrheit‘ der Verfahren historischer Diskurse gibt. Nur implizit wird der Akt der Synthetisierung der Quellen angesprochen. Wer sie durchführt, handelt gegen die Anweisung (Lektüreempfehlung) des Textes, der vorgibt, bereits präzise Informationen zu vermitteln, die keiner philologischen Nachforschung mehr bedürfen. Der ungehorsame, forschende Leser begibt sich auf unsicheres Terrain, beschäftigt sich mit Dingen, zu denen es nur subsidäre Quellen gibt, und die, vorsichtig formuliert, epistemologisch keinen exakten Registern folgen.47 Da er die geheimen Dimensionen des Diskurses ausfindig machen muss, wird das Problem historischer Synthetisierung dem Leser zugespielt. Wenn ihn das in Verwirrung setzt, dann hat er sich das selbst zuzuschreiben. 47 Die Überlieferung des Kinderexperiments findet sich bei Herodot: Historien, 2. Buch, 2. Kapitel. Als Quelle bestehen die „Historien“ aus narrativen, historiographischen und mythischen Elementen. Herodot, Historien, 2. Buch, a. O., S. 10-13.
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Weiter spitzt sich das Zusammenspiel des Ver- und Entbergens in der zweiten Textpassage zur „Büchse der Pandora“ zu. Das Traumgespräch mit Prometheus48, das als Antwort zum Kinderexperiment konzipiert ist, expliziert die Frage nach der Ursache des Verfalls des glücklichen Zustands der Menschen. Mythologisch greifbar wird diese mit der „Büchse der Pandora“49 identifiziert. Nun versucht der Erzähler zu erläutern, was es mit der Büchse der Pandora auf sich habe. Er verwirft einige Hypothesen der „Gelehrten“ Hagedorn, Porphyrius und Horaz – auffallend werden sie mit Namen und Quellenangabe angeführt –, um dann „[…] aus einem alten Buche ohne Titel, welches wir vor uns liegen haben“ zu zitieren und mitzuteilen, dass „[d]er unbekannte Verfasser […] alle allegorische Erklärungen [verwirft].“50 Hier formieren die bekannten Quellen wiederum einen Gegensatz zu dem, was direkt vor Augen liegt, jedoch sowohl dem Erzähler als auch den Lesern vorenthalten bleiben muss: Das sind hier Titel und Autor des Buches. Beide gelangen lediglich zur Kenntnis seines Inhalts in Form einer Aussage oder These. Was beinhaltet nun aber die „Büchse der Pandora“? Selbst diese Information bleibt verborgen. Gesichert sei allein, dass es sich um eine Büchse „im eigentlichen Wortverstande“, nämlich eine „Schminkbüchse“51 handle. Anstelle der Explikation des Inhalts setzt ein Vorgang der – zuvor vehement zurückgewiesenen – ReAllegorisierung ein: Das Schminken des Gesichts wird zum Zeichen des geschönten Charakters und dient der „großen Maskerade“52 der Rollenspiele menschlicher Gesellschaft: „Scheinen und Seyn, […], wurden zweyerley.“ Jene Hypothese beurteilt der Erzähler als die „natürlichste“53, und sie deckt sich mit der Interpretation des Motivs von Putz und Verkleidung in den beiden Rahmenerzählungen. Die Zurückweisung der Allegorese zieht unverzügliche Reallegorisierung nach sich. Die Allegorie wird nicht aus dem Repräsentationsdiskurs der „Beyträge“ getilgt, sondern tritt als poetologisches Modell des Verfahrens, Offensichtliches und Verborgenes ineinander zu übersetzen, sich einander zu offenbaren und gleichzeitig zu verstellen, ein. Etwas zu verbergen, indem man es verkleidet, schminkt oder verdeckt und damit verheimlicht, scheint also den Verfall des natürlichen und glücklichen Umgangs der ersten menschlichen Gesellschaft zu befördern. Im Kontrast zu dieser im Text wiederkehrenden Deutung steht die ebenfalls wiederholte Behauptung, „[…], daß die Geschöpfe des Prometheus nach und nach um ihre ursprüngliche Einfalt und Unschuld gekommen seyn würden, wenn gleich Pandora und ihre Büchse nie ge48 Wieland, Über die von J. J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche, a. O., S. 403-415 unten. 49 A. O., S. 411. 50 Vgl. a. O., S. 413f. 51 A. O., S. 414. 52 A. O., S. 415. 53 Zitate: a. O., S. 414.
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wesen wären; […].“54 Analog zum kulturkritischen Widerspruch angesichts der Verstellung, die auf der Aussageebene des Textes als Sündenfall der Menschheit verteufelt wird, verfährt die Konversion und damit Konfusion der Kategorien des Geheimen und Offenbaren auf der metahistoriographischen Ebene des Textes. Meines Erachtens resultiert die Konfusion aus dem Misstrauen gegenüber dem ‚Zitat‘ aus dem erwähnten autor- und titellosen großen anonymen Buch der Natur. Viel zu selten erfolgt die Unmittelbarkeit empirischer Erkenntnis unmittelbar, sie vermittelt sich vielmehr über die Lektüre von Texten. „Es würde Undankbarkeit seyn, wenn ich mir die Miene geben wollte, als ob ich die Gabe, mit den Augen zu sehen, nicht (nächst der guten Mutter Natur) den besagten Weisheitsliebhabern oder weisen Meistern größten Theils zu danken hätte.“55 „[D]ie Gabe, mit den Augen zu sehen“, verdankt sich also der Lektüre, und insofern verfährt der Text mit Blick auf seine erkenntnistheoretischen und historiographischen Prämissen mimetisch – nämlich in seiner Anlage als „Beyträge“. Das instrumentierte poetische Verfahren kann man als Hybridisierung bezeichnen, die auf mehreren Ebenen durchgeführt wird. Die erste Ebene lässt sich als Variation von Textgattungen beschreiben. Das Traumgespräch mit Prometheus im dritten Beitrag stellt eine Alternative zum Gedankenexperiment der Versuchsanordnung von Kinderpopulationen dar, das dazu dienen soll, die Frage nach der geselligen bzw. ungeselligen Natur der Menschen empirisch zu beantworten. Dabei modifiziert sich der „Scherz“ des Erzählers zum „angenehmen Traum“.56 „Ich erinnerte mich nicht etwa bloß der Fabel vom Ursprung der Menschen, wie ich sie in den alten Dichtern gelesen hatte; sie wurde in dem nehmlichen Augenblicke zur Wahrheit für mich. […]. Kurz, ich fühlte mich gänzlich in die Fabelzeit versetzt, ohne darum weniger nach den Begriffen eines Menschen aus meinem Zeitalter zu sprechen.“57
Damit vollzieht der Traum selbst ein erzählerisches Experiment. Da die empirisch konstruierte Versuchsanordnung einen Zeitindex erhält, der es eigentlich als historisch ausweisen müsste, tritt der Traum als Alternative ein. Insofern ist der Anspruch der Empirie gezwungen, sich entweder zugunsten der Spekulation (eines hypothetischen Experiments) oder der historischen Erfahrung aufzulösen. In seiner literarischen Organisation nimmt der Traum einen epistemologischen Standpunkt zwischen Empirie, apriorischer Systematik und dichtend-mythischer Fiktion ein. Er ist keinen Gattungsbeschränkungen unterworfen und behauptet in einer Art ästheti54 A. O., S. 415. 55 Dieses Zugeständnis gilt – trotz aller philosophiekritischen Polemik – den Philosophen; a. O., S. 392. 56 A. O., S. 403. 57 A. O., S. 405.
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schem Spiel die parallele Existenz zweier historiographischer Heuristiken, die logisch unvereinbar bleiben: die Möglichkeit der Einfühlung bei gleichzeitig präsenter Standortgebundenheit.58 Insgesamt steht dieses epistemische Ideal dem Verfahren der „Beyträge“ isomorph gegenüber. Man könnte auch sagen: Der Traum stellt ein Symbol für das Verfahren der „Beyträge“ dar. Einerseits dient er der Erzeugung von Illusion (Evidenz), ohne den Leser andererseits über den Charakter dieser Illusion täuschen zu wollen. „So aufrichtig sind nicht alle Schriftsteller – und dann werden Sie sehen, daß es nur an mir lag, aus meinem Traum ein so gutes, ernsthaftes und kunstmäßig zugeschnittenes System zu machen, als irgend eines […]. Was für ein Ansehen hätte ich mir damit geben können! […]. Andere geben ihre Träume für wirkliche Erscheinungen, oder träumen wohl bey hellem Tageslichte mit offnen Augen, […]: ich hingegen gebe meinen Traum für – einen Traum […]; und das heißt doch, denke ich, Ehrerbietung für seine Leser tragen, und den Leuten zutrauen, daß sie – Augen haben.“59
Dieses Verhältnis kann man als poetologisches Ideal der „Beyträge“ selbst identifizieren, da der Text ‚illusionistisch‘ verfährt, aber dennoch – etwa in der betrügerischen Offenheit, die Psammuthis anbelangt – bestimmte Praktiken anwendet, die dem Leser eigenes Denken nicht nur ermöglichen, sondern geradezu aufzwängen. Auf einer zweiten Ebene tritt die Hybridität der „Beyträge“ in Bezug auf Darstellungen von Positionalität hervor. Der Text versucht, textintern vielfältige textexterne Positionen in Form vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Wirklichkeitsebenen einzubeziehen, die ihm letztlich bis zu einem gewissen Grad unzugänglich (verborgen) bleiben müssten. Dabei handelt es sich auf der einen Seite um das Material, das für die Textproduktion selbst Relevanz besitzt. Jenes Material offerieren die Quellen des Textes, denen jeweils abweichende epistemische Gattungen (Disziplinen) zuzuordnen sind, die in sich wiederum gattungsabhängige Spaltungen aufweisen. Die ‚Gattungen‘ finden sich einerseits in den Disziplinen wieder, insofern jene diverse Regeln ihrer jeweiligen Wirklichkeitskonstruktion kennen; so wie es bei Philosophie, Historiographie und Literatur der Fall ist. Eine Disziplin ‚spricht‘ jedoch in der Regel durch mehrere Gattungen – mögen jene Gattungen auch sehr reduziert literarische Kleinformen oder Textgesten ausprägen. Aber auch der zeitgenössische Diskurs als Gespräch, Dialog oder sophistische Gardinenpredigt läuft als unbestimmte Folie seiner Reflexionen mit. 58 Vgl. Erhart, ‚Was nützen schielende Wahrheiten?‘, a. O., S. 62. 59 Wieland, Über die von J. J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche, a. O., S. 404f., vgl. Erhart, ‚Was nützen schielende Wahrheiten?‘, a. O., S. 72; vgl. die „[…] ‚Gabe, mit den Augen zu sehen‘ […].“
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Auf der anderen Seite wendet der Text sich der Frage der Rezeption zu, indem er die Notwendigkeit der Offenbarung, wie sie etwa der Herausgeber der Bekenntnisse des Abulfauaris behauptet, in die Organisation des Textes selbst einführt. Das Pathos der Offenbarung exponiert ein geschichtsphilosophisches Prinzip, das metahistoriographisch dann in der Einbeziehung der (zukünftigen) Leser rhetorisch eingelöst wird. Die oberste poetologische Prämisse, den Lesern ihre eigenen Augen zuzutrauen, umfasst eine epistemologische sowie ethische Dimension, die sich auf drei Ebenen ausdifferenzieren: erstens in der literarischen Evidenz, die der Gestus, etwas zu sehen zu geben, erzeugen soll; zweitens in der rhetorischen Einbeziehung sowohl der Leser als auch des zeitgenössischen Diskurses, welche Einwände beider Seiten zu ermöglichen scheint; und drittens in der Verlagerung des synthetisierenden historischen Aktes auf die Seite des Rezipienten. Tatsächlich bietet sich die Einbeziehung variabler Textgattungen mit Blick auf Geheimes und Verborgenes (Ursprüngliches) als adäquates Verfahren an. Speziell die literarische Inszenierung muss angesichts des Verborgenen als einzige Form verstanden werden, die das Geheime geheim bleiben lässt, seinen Status also perpetuiert – und sei es auch als Offenbarung in ständigem Schwanken zwischen diesen Polen. Die Forderung, das Geheime zu offenbaren, mündet in die Erkenntnis, dass das Offenbarte Züge des Banalen trägt, so wie im Gegenzug die komplizierte Struktur des Offenbarten und Offensichtlichen bei sorgfältigem Hinsehen aufgedeckt wird. Nachweisen lässt sich jenes Verhältnis für das „Geheimnis“ und die Zitierpraxis. Durch seine Multimedialität oder Hybridität steht das poetologische Konstrukt der „Beyträge“ in kompositioneller Nähe zur Oper, so wie Linda Simonis’ Interpretation der „Zauberflöte“ im Kontext masonischer Geheimbünde nahe legt.60 Die Didaktisierung des Arkanums tritt im „Zitatcharakter“ des Librettos zutage, rein formal in Darstellungsformen des „Common sense“. Das Geheimnis ist zugleich Offenbarung, für die Eingeweihten hat es den Charakter der Evidenz, der Epiphanie. Als solches Erlebnis ist es nicht vermittelbar oder mitteilbar. Das Texterlebnis konstituiert sich innerhalb der hybriden literarischen Form, insofern der Leser sich darauf einlässt, in den Text hineingezogen wird. Dass dabei tatsächlich Evidenzen erzeugt werden, deren konstruktiver Charakter parallel präsent und absent gehalten werden könnte, offenbart sich rhetorisch als Traum der Historiographie. In den Beiträgen werden Sachverhalte beständig in ihr Gegenteil übersetzt, man könnte sagen, widerrufen. Ein Geheimnis gehört zum Alltagswissen, empirische Erkenntnis entpuppt sich als Ergebnis aufwendiger Lektüreoperationen, das Profane tarnt sich als kulturelle Zivilisationsleistung oder Mystik. Die Oppositionen lösen sich jedoch nicht in eine Richtung auf, werden nicht dialektisch überformt, sondern 60 Vgl. Linda Simonis, Die Kunst des Geheimen. Esoterische Kommunikation und ästhetische Darstellung im 18. Jahrhundert, Heidelberg, 2002, S. 273-276.
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punktuell als Kippfiguren eingefroren. Dabei formuliert dieses Moment kaum mehr als eine Warnung, die auf die allfällige Veränderung eindimensionaler Auflösungen und sogar auf die instabile Festlegung solch binärer Konstrukte selbst hinweist. Nicht allein historische Skepsis speist diesen Hinweis. Vielmehr beruht jene Unentschlossenheit auf dem konstitutiven Widerspruch in den Dingen selbst. Das Geheime lässt sich in das Offensichtliche übersetzen. Ohne das Offensichtliche gäbe es indes keine Vorstellung vom Geheimen, ebenso wie es keine Offensichtlichkeit ohne Verborgenes gäbe. Dennoch scheint die Hürde der Wirklichkeit nicht unüberwindbar: Wir haben es nicht mit bloß beliebigen Interpretationen zu tun. Eher scheint es, als führten die Texte vor, dass stets beide Teile der Übersetzung bestehen bleiben und Gültigkeit für sich beanspruchen können, zu irgendeinem Zeitpunkt jedoch unüberschaubar wird, ob nun Original oder Übersetzung vorliegt. Selbst darin besteht aber kein ernsthaftes Problem. Weiterzuverfolgen wäre, inwieweit das Ineinanderfallen literarischer Gattungen, das entscheidend durch ihre Vermischung und interne Brechung initiiert wird, auf diese Unentschlossenheit respondiert. Geschichtsphilosophie wird als Gattung aus Beiträgen zunächst einmal in heterogene Textformen geschieden, die in sich selbst jene Hybridität reproduzieren und wiederaufrufen. Als strenge Grundform wird sie spielerisch unentwegt aufgebrochen und variiert. Dass die Gattung in diesem Fall zu erkennen gibt, dass sie innerlich gespalten ist, scheint mir ihre permanente Übersetzbarkeit in viele andere Diskurs- und Repräsentationsformen zu bedingen. Am Titel der „Beyträge“ offenbart sich bereits ihr fundamentales Paradox. Zum „Geheimen“ kann strenggenommen gar nichts beigetragen werden. Dennoch ist immerhin denkbar, dass Geheimnisse sich über die späte Entdeckung historischer Zeugnisse offenbaren. Werden diese entdeckt, dann decken sie nicht nur auf, sondern entdecken unverzüglich neue Geheimnisse. Vermutlich liegt das Geheimnis der Geschichte weniger in noch unentdeckten Zeugnissen beschlossen, sondern entspinnt sich in der Verknüpfung der Zeugnisse und Quellen. Die Eigendynamik des Zitierens verweist darauf, dass der „Traum“ der Historiographie in der Verschränkung von Zitat und Zitieren bereits in Erfüllung gegangen ist – allerdings ohne dass es möglich wäre, jene Verschränkung wieder eindeutig aufzulösen.
II. Kants geschichtsphilosophische ‚Essays‘ „Wer besinnt sich aber auf alle Veranlassungen zum Mißverstande?“1
Wenn sich die folgenden Kapitel mit Immanuel Kants geschichtsphilosophischen ‚Essays‘ auseinandersetzen, so kann diese Überschrift in Hinblick auf ein geschichtsphilosophisches Textkorpus keineswegs aus- oder abschließende Funktionen erfüllen. Zum einen ist dieser Titel aus Perspektive der Forschung lediglich heuristisch aufzufassen. Denn es ist offensichtlich, dass Kant sich in diesen Schriften zwar mit Aspekten beschäftigt, die thematisch in den Bereich Geschichtsphilosophie fallen, sie aber nie mit diesem Titel versieht. Zum anderen wäre zuzugestehen, dass sich das Korpus dieser Schriften fast beliebig erweitern oder auch einschränken ließe, sofern man das Feld über die Thematik abzugrenzen suchte. Entweder kursieren geschichtsphilosophische Themen überall innerhalb der kantischen Schriften oder die Schriften zur Geschichtsphilosophie adaptieren Teile aus Kants größeren Entwürfen und rufen sie wiederum auf. Obwohl diese gegenseitige Abhängigkeit zu konstatieren ist, plädiert die vorliegende Lesart für eine relative Autonomie der Schriften – und das vor allem vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Anlässe. Bis auf den „Streit der Facultäten“ (1798), dessen mittlerer Teil behandelt wird („Erneuerte Frage: Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei“), erschienen alle Schriften im Publikationsorgan Zeitschrift und wurden erst später in Werkausgaben erfasst. Das Moment der Gelegenheit ist nicht allein als äußerer Anlass der Schriften zu begreifen, sondern prägt ihre interne Struktur. Nicht selten formieren sich Kants ‚Essays‘ als Reaktionen bei Gelegenheit eines Verweises (und seine Auseinandersetzung mit Herders „Ideen“ treibt dieses Prinzip in der Gattung Rezension auf die Spitze). Fortwährend tauchen Verweise auf, mit denen Kant Anlass findet, einer Reaktion aufgrund in seinen Schriften getroffener Aussagen erneut etwas entgegenzusetzen (vgl. das Kapitel „Kant und die Reisebeschreibung“, das die Kant-Forster-Kontroverse aufnimmt).
1
Kant, Über den Gebrauch, in: KAA VIII, S. 157-184, S. 184.
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1. S YSTEMATIK UND B EITRAG Dabei reflektieren die ‚Essays‘ gewöhnlich die Strukturen der Vermittlung, die in den Verständigungsprozess hineinspielen, mit – es handelt sich um ausgeprägt interpretierende Entgegnungen auf Interpretationen, die nicht selten polemisch reagiert haben. Gelegentlich gehen diesen Gegenschlägen sogar Kommunikationsprozesse, die mehrere Diskussionspartner einbeziehen, voraus, welche die Verhältnisse nicht allein philologisch verkomplizieren. In diesem Verlauf findet Kant zudem Gelegenheit zu assoziieren, anzumerken und zu belegen, wodurch er nicht allein anreichert oder anfügt, sondern häufig irritierend abweicht. In Frage steht jene Kant landläufig zugeschriebene Systematik auf zwei Ebenen. Einerseits wäre der in der Forschung überwiegend konstatierten systematischen Anlage bzw. Zusammenfassung der geschichtsphilosophischen Schriften insgesamt zu widersprechen, die etwa in Ansehung des Anspruchs der „Kritik der reinen Vernunft“ lediglich eine Behelfsvorstellung darstellt. Dass sich Passagen finden, in denen die vielfältigen Schriften gelegentlich aufeinander anspielen, schuldet sich eher der einschlägigen Thematik, die verwandte Themen assoziieren lässt. Durch das erneute Aufrufen formieren sich lediglich Wiederholungen, die keineswegs der additiven Steigerung der Argumentation dienen oder den Zusammenhang eines Werks stiften, sondern die als Strukturmerkmal eintreten. Innerhalb der Schriften tritt die Wiederholung bestimmter Argumentationsstränge oder Themen als prägnante Markierung auf, die als poetologisch motiviertes Kompositionsprinzip zu werten ist. Ihre Persistenz hilft keineswegs dabei, Systematik zu erzeugen, sondern durchbricht die stringente Argumentation durchgängig. Dies impliziert nicht, dass die Schriften zur Geschichtsphilosophie vollkommen unsystematisch dissoziieren, vielmehr sind sie wohl komponiert angelegt. Da sie vornehmlich als literarische Organisation existieren, tritt ihr systematisches Moment in den Hintergrund. Die einzelnen Schriften variieren stark in ihrem Aufbau. Daher geht es darum, ein eingehendes Bild der betreffenden Organisation in den dazugehörigen Analysen zu vermitteln. Für die ‚Essays‘ gilt zum Teil, was in Bezug auf Christoph Martin Wielands „Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit“ (1769-1777) herausgestellt wurde. Sie haben den Charakter von Beiträgen, der hier noch stärker durch ihre realhistorische Publikationssituation hervortritt. Wielands bewusst komponierte Verzahnung von Beiträgen, welche deren Partikularität und Zusammengehörigkeit zugleich betont, liegt bei Kant in Aufsätze vereinzelt vor.2 Innerhalb der Schriften selbst finden sich wie bei Wieland fortwährend Brüche in der (auf den ersten Blick) intendierten Argumentation: durch Assoziationen, vermeintliche Beweisführungen, (häufig vorwegnehmende) Fußnoten und Wiederholungen. 2
Was ihre systematische Interpretation in der Forschung noch fragwürdiger erscheinen lässt.
K ANTS G ESCHICHTSPHILOSOPHISCHE ‚E SSAYS‘
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Im folgenden Abschnitt kann es nicht darum gehen, den zur vergleichenden Analyse herangezogenen Schriften eine völlig neue Lesart zuzuschreiben. Das Ziel der Arbeit besteht nicht darin, anhand ihrer Analysen und Interpretationen verallgemeinernde Rückschlüsse auf Kants Werk insgesamt zu ziehen, die den Charakter einer instauratio magna hätten. Dennoch greift die Analyse, wo es nötig und sinnvoll erscheint, auf weitere Texte Kants aus. Zu betonen ist dabei, dass es sich bei den thematisierten Schriften um interessante autonome, wenn auch nicht vom übrigen Werk abgeschnittene Texte handelt, die als solche zunächst einmal zu analysieren wären. Ihre Eingliederung in den Kontext eines kantischen Werks zu leisten, nützt der hier aufgeworfenen Fragestellung wenig. Ausgangsthese der Arbeit ist es vielmehr, dass die thematische Ausrichtung der Schriften dieser Kontextualisierung entgegensteht, da Kant mit Blick auf die Geschichte der Menschheit die Form verstreuter Beiträge aufgrund poetologisch motivierter Adäquation dem philosophischen System vorzieht. Dabei stellt es etwa vom moralphilosophischen Standpunkt als zugrundeliegender Fragestellung ausgehend keinen Widerspruch dar, eine Systematik von Handlungen zu verlangen, während die Darstellung der Abhandlung selbst keinen systematischen Ansprüchen genügen kann. Es ist ein Trugschluss, dass Inhalt und Form hier miteinander korrespondieren sollten. Gerade weil die erwartete Korrelation nicht anzutreffen ist, könnte es die semantische Analyse anregen, die formale literarische Gestaltung einzubeziehen, da Inhalt und Form sowohl Hinweise zu ihrem jeweils adäquaten Verständnis geben als auch sich gegenseitig durchbrechen – und damit eine Metaebene eröffnen.3 Daher zeichnet sich die vom solitären Textphänomen faszinierte Relektüre als sinnvoll und notwendig ab. Diejenigen Texte, um die es vorwiegend geht, werden gemeinhin unter der Überschrift Geschichtsphilosophie zusammengefasst. Einzuräumen ist, dass die Arbeit sich heuristisch zunächst an dieser Titelgebung orientiert. Vielmehr interessieren sie jedoch die Begründungsversuche dieser Gemeinsamkeit. Zu klären ist, inwieweit jene Kategorisierung auf die folgenden Texte zutrifft, wodurch sie gerechtfertigt werden kann, aber auch, wo ihrer Berechtigung Grenzen gesetzt sind. Immanuel Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ (1784), sein „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ (1786), die Abhandlungen „Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie“ (1788) und „Über den Gemeinspruch: das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“ (1793) sowie „Das Ende aller Dinge“ (1794) und die „Erneuerte Frage: ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei“ (1798) werden auf ihre Struktur, ihre Themen und ihre poetologische 3
Dies ist ein Phänomen, das ich am Text beobachte; ob es intendiert oder strukturell bedingt ist, scheint mir zweitrangig.
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Gestaltung hin untersucht, miteinander verglichen und letztlich mit der Anlage der geschichtsphilosophischen Schriften von J. G. Herder und Ch. M. Wieland in Beziehung gesetzt. Auf diese Weise möchte die Arbeit das Verfahren einer Geschichtsphilosophie herausarbeiten, die ihr eigenes Muster und damit ihre Gattung im Grunde schon unterläuft. Dabei ist offenkundig, dass weder Kant und Herder noch Wieland die betreffenden Texte als Geschichtsphilosophie betitelt haben, obwohl dieser Terminus seit Voltaires „La Philosophie de l’ Histoire“ (1765) potentiell zur Verfügung stand. Diese Tatsache könnte nun dazu verleiten, die Einwände gegen jene Klassifizierung als unproblematisch zu entkräften: Sie sind es aber keineswegs. Die Rezeptionsgeschichte verrät, dass man seit Hegel unmöglich über den Begriff der Geschichtsphilosophie hinwegsehen kann. Diese sehende Blindheit führt jedoch zu Lektüren, die viele interessante Aspekte dieser Texte ausblenden müssen. Deren unschematische Züge erhellen, inwiefern das Konzept hegelianischer Geschichtsphilosophie bereits in statu nascendi in Frage zu stellen ist.
2. G ATTUNGSFRAGEN Die Auseinandersetzung mit Kants ‚Essays‘ fokussiert einige Themenbereiche genauer, die es erlauben, Querverweise zwischen den Schriften herzustellen, welche für Fragen nach einer Poetologie der Geschichte von Interesse sind – selbst wenn sie innerhalb der vielfältigen ‚Essays‘ zunächst randständig und relativ unmotiviert anmuten. Überhaupt nimmt Randständiges – dazu gehören Zitat und Fußnote bzw. Anmerkung – für die tiefere Durchdringung des Charakters dieser Schriften signifikante Funktion ein. Die Texte werden jeweils mehr oder minder intensiv fokussiert, unter abweichenden Aspekten verglichen und zusammengefasst, nötigenfalls auf der Mikroebene analysiert. Dabei wird sich zeigen, dass inhaltliche, aber auch formale (strukturelle) Elemente als variable Textbausteine zum Einsatz gelangen, die häufig durch ihre eigentümliche textuelle (oder paratextuelle) Umgebung destruiert, aber auch in anderen Kontexten wiederaufgerufen und umgedeutet werden. Um welche Art Texte es sich gattungspoetisch handelt, ist schwer zu bestimmen. Denn ein Beitrag untersteht als kleine Form vorläufig kaum Gattungsbeschränkungen. Dabei bleibt unentschieden, ob selbst eine subsidär aufgerufene Gattungsbezeichnung wie die Rezension den Ansprüchen literarischer Formgebung genügen kann – wenn ihre Zielsetzung denn überhaupt darin besteht, sie einzulösen. Anhand der sechs genannten Titel lassen sich vorerst zwei kontrastiv angelegte Textgruppen unterscheiden, die morphologisch auf abweichenden Reflexionsstufen stehen. Es gibt Titel mit Zusätzen, die bereits Hinweise auf die in den Schriften vorherrschende Gattung enthalten: dazu gehören die Idee, die (erneuerte) Frage (als Teil des Streits der Fakultäten), die Rezension sowie die präpositionalen Titel.
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Letztere erinnern – wie auch die Frage – formal an Titel von Preisschriften, wodurch der Eindruck eines je externen Anlasses, der Reaktion und Diskussion zusätzlich forciert wird. Die Einbindung in kommunikative (publizistische) Akte durch die Titelgebung, deren Einlösung offen bleibt, betont indirekt, dass die Schriften nonfiktionale Gattungen ausbilden. Demgegenüber entbehren die Texte „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ und „Das Ende aller Dinge“ des paratextuellen Hinweises auf ihre Gattung, wobei der erstgenannte Text die Gattung Mutmaßung erst zu konturieren sucht. Im Gegenteil evozieren die Titel stärker den Eindruck einer Erzählung, ja der Erzählbarkeit von Geschichten vom Anfang und vom Ende überhaupt. Wie sich jedoch herausstellt, handelt es sich bei diesen Geschichten um die einzigen, die nicht erzählbar sind. Im „Muthmaßliche[n] Anfang“ formuliert sich deren Unmöglichkeit gar als doppelte Negation, insofern Kant festlegt, dass die Mutmaßung nicht in den Bereich der Fiktion falle. Dennoch entwirft sein Text ein Modell, das es leisten soll, mittels an der Natur orientierten Regeln dieser Mutmaßungen eine kohärente Argumentation zu bilden, die sich zudem an der Meistererzählung schlechthin, dem paradiesischen Abschnitt biblischer Schöpfungsgeschichte, orientiert. Welche Art Geschichten Kant zu erzählen sucht, ist mitunter schwer zu bestimmen. Dass er Fiktionalität in seinen theoretischen Überlegungen zur Erzählbarkeit von Geschichte (als Kollektivsingular) zurückweist, bedeutet keineswegs, dass seine Abhandlungen und Erzählungen auf literarische Elemente verzichten.
3. D AS B EISPIELHAFTE Dieses Missverhältnis führt zu Ausweichmanövern, die negieren, was zuvor behauptet oder erläutert wurde und vice versa. Verdacht erregt vor allem der Transfer von der theoretischen Definition zur didaktischen Erläuterung, die ihre Plausibilität über lebensweltliche Beispiele zu stiften sucht. Kants Verhältnis zum Beispiel erweist sich als gespalten und widersprüchlich. Einerseits lässt sich aus dem empirischen Einzelfall keine allgemeingültige Regel ableiten – eine Feststellung, die diverse Kontexte wiederaufnehmen –, andererseits überzeugt die theoretische Argumentation ohne das Beispiel kaum. Obgleich unablässig beteuert wird, dass das Beispiel nicht zum Beweis dienen könne, wird es als Beweis eingespannt. Ob in den betreffenden Kontexten keine andere Form des Beweises möglich ist, mag als Frage dahingestellt bleiben. Wenn die Funktion der Beispiele im Aufsatz zur Teleologie untersucht wird, dann handelt es sich zum Teil um eine Analyse der rhetorischen Anlage des Textes: Es geht um dessen Überzeugungsstrategien. Die weiter analysierten Schriften nutzen das Beispiel analog. Dass Kant sich in der „Kritik der Urtheilskraft“ (1790)
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selbst mit der Funktion und dem epistemischen Status von Beispielen auseinandergesetzt hat, darf eine Analyse der Aufsätze zwar nicht vollkommen ausklammern.4 Dennoch bleibt zu betonen, dass hier eine Differenz zwischen philosophischer Analyse und praktischer (literarischer) Anwendung vorliegt. Beides muss sich nicht notwendig aufeinander beziehen lassen. Vielmehr markiert der je eigene Fokus auf das Beispiel bzw. die Unterschlagung der Funktion von Reisebeschreibungen für das begriffliche Argument die Differenz abweichender Textgattungen. Nicht selten wird der Beweis in die Fußnoten verschoben, was verstärkt den Eindruck erweckt, es handle sich um einen Zusatz, um etwas Randständiges, das man im Rahmen der Argumentation erwähnen könne, aber nicht müsse. Auffallend häufig enthalten diese Fußnoten Hinweise auf Reisebeschreibungen, die als Quellen genutzt werden, deren Status nebulös bleibt. Wenig überzeugt jedoch die Einschätzung, es handle sich bei der Funktionalisierung dieser Schriften (denn genau diese findet statt) um einen Spleen des Autors, der Freude an Kuriositäten habe. Ein Ziel der folgenden Kapitel besteht darin, die gattungspoetische Orientierung der einzelnen Aufsätze herauszuarbeiten, sofern das möglich ist. Auf diesem Wege entsteht im Idealfall ein panoramatischer Überblick der instrumentierten Erzählund Darstellungsweisen, welcher über die Bedingungen und Möglichkeiten repräsentativer Formierungen von Geschichtsphilosophie Auskunft erteilt, indem er ausbreitet, welche epistemischen Felder sowie diskursiven und literarischen Praktiken die (retrospektiv als Geschichtsphilosophie festgelegte) Gattung in Kants Texten funktionalisiert. Letztlich initiiert dieses Unternehmen eine Suche nach dem Unbekannten und weist sich als beinahe paradoxal aus. Denn die Verschiebungen, die es aufzuspüren gilt, bilden Nuancen innerhalb einer Gattung, deren Geltungsbereich mit der Untersuchung gerade zur Disposition steht. Keine innovative Gattungsbezeichnung, welche der Geschichtsphilosophie entgegengesetzt werden könnte5, löst dieses Dilemma auf. Vielmehr steht der Versuch im Zentrum, anhand der beteiligten Gattungsoptionen herauszuarbeiten, ob sich Mischungsverhältnisse im Feld Geschichtsphilosophie abzeichnen, die darauf hindeuten, dass Gattung hier weder etwas rein Literarisches meint noch literarische Momente programmatisch ausgrenzen kann. Im Dargestellten bildet sich das andere Moment des Diskurses mit ab, und diese Struktur multipliziert sich im Zentrum vielfach. Die folgenden Kapitel fassen die oben genannten Schriften unter verschiedenen Aspekten zu thematischen Einheiten zusammen. 4
Kant, Kritik der Urtheilskraft, in: KAA V, S. 165-485, § 59, S. 351 [255], § 76, S. 404 [344].
5
Wenn ich die Texte Wielands und Kants unter dem Begriff mehrerer Beiträge zusammenfasse, dann handelt es sich um eine heuristische Kategorie, die ich der Geschichtsphilosophie gegenüberstelle.
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4. Z UR B EDENKLICHKEIT DES M ARGINALEN : K ANT UND DIE R EISEBESCHREIBUNG . K OMPLEXE M ETHODEN : P HILOSOPHIEGESCHICHTE – D ETAILLIERUNG 1 Wenn Kants Philosophie an einem geistesgeschichtlichen Wendepunkt wissenschaftliche Methoden geltend macht und sie (etwa) im Aufsatz „Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie“ (1788) von intuitiven Verfahren abzugrenzen sucht, unterläuft sie diesen eigens gesetzten Anspruch bis zu dem Grade, in dem jener Aufsatz der Detaildeutung des empirischen Materials verfällt. Somit widme ich mich hier den Spaltungen: genauer der Frage, in welchem Zusammenhang die o. g. Trennungslinie Bedeutung entfaltet. Für den heutigen Leser leistet die strenge Trennung zwischen wissenschaftlichem Anspruch und historischer Kuriosität die Überwindung eines anstößigen Widerspruchs, der sich aus dem Befund ergibt, dass selbst ein systematischer und vorurteilsfreier Denker wie Kant offensichtlich nicht vor rassistischen Entgleisungen gefeit ist. Insofern die historische von der (geschichtsphilosophisch relevanten) systemischen Dimension getrennt gehalten werden kann, ist es erlaubt, sie wiederum für die Klärung dieses Widerspruchs einzusetzen: Kants Interesse sei – so Lektüren, welche die „Kritik der reinen Vernunft“ vor ihren internen Inkonsistenzen und den popularisierenden Aufsätzen zu retten versuchen – rein wissenschaftstheoretisch. Was an marginaler Stelle zum Ausdruck kommt, sei irrelevant, ein Entgleiten in die Empirie, ein Spleen, der historisch begründet werden müsse. Unterschlagen wird dabei schnell, dass gerade innerhalb dieser irritierenden Ausflüge in die Reisebeschreibungen etwas unternommen wird, das Kant sich selbst zum Programm erhoben hat, und wo seine Kritik an Forster ansetzt: die prinzipiengeleitete Inaugenscheinnahme empirischen Materials. Schließlich verdeutlicht Kant, dass eine prinzipienlose – also im Sinne empiristischer Programmatik vorurteilsfreie – Annäherung an das Material eine naive Forderung darstelle. Doch wo beginnt die Trennungslinie zwischen naturgeschichtlichen – was die Komplexität noch steigert, teleologisch orientierten – Prinzipien und aus teleologischen Annahmen motivierten rassischen Vorurteilen, bezüglich derer die Monogenesiethese sowohl als entlastendes als auch als verschärfendes Argument gelesen werden kann? Versucht man, das Verhältnis von Philosophie und Geschichtsschreibung kulturtheoretisch zu fassen, ergibt sich ein Befund, der auf die Interpretation einiger sperriger Elemente des Teleologie-Aufsatzes übertragen werden kann: Als ihr
1
Das Kapitel wurde leicht verändert als Aufsatz im Band: Klopffechtereien – Missverständnisse – Widersprüche? Methodische und methodologische Perspektiven auf die Kant-Forster-Kontroverse, hg. v. Rainer Godel u. Gideon Stiening, München, 2012 [Laboratorium Aufklärung 10], S. 245-270, veröffentlicht.
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Stiefkind übernimmt die historische Kontextualisierung häufig eine für das Selbstverständnis der Philosophie eminent schwerwiegende Aufgabe: Sie tilgt die Peinlichkeiten und die der Philosophie unwürdigen Digressionen – und zwar dank der Differenzierung, die sie zum untergeordneten Part einer Unterscheidung degradiert. Somit entfaltet die Hilfswissenschaft subversiv ihre Macht, indem sie die Stabilität des philosophischen Diskurses absichert. Dabei gibt es auch andere Möglichkeiten, das Auseinandertreten von Kants Umgang mit empirischen Materialien und der Strenge seiner eigenen theoretischen Vorgaben zu deuten, während sein Text nach einer Methode sucht, den Bezug von theoretischem Denken auf empirische Sachverhalte zu steuern. Denn dass die o. g. methodische Bezugnahme unvermeidbar sei, stellt ja gerade Kants Kritik an Forster aus, welche dessen differenzierte Auseinandersetzung mit diesem Thema übersieht. Philosophisch liegt das Scheitern dieser Kooperation in der Beziehung von Metaphysik und teleologischem Denken begründet. Teleologie bezeichnet in meinem Text eine Denkfigur, die das architektonische oder poetische Prinzip beschreibt, bestimmte Einzelelemente nach kausalen Vorstellungen miteinander zu verknüpfen. Kant steigert diese (auch durch ihn selbst zugrunde gelegte Bedeutung) durch die Suggestion, dass eine andere Art, die Stiftung von Zusammenhängen zu denken, kaum möglich sei. Nicht zuletzt diskutiert er in seinen (populären) Aufsätzen verschiedene Formen der Zusammenhangsstiftung unter poetologischen Vorzeichen und weist sie als mehr oder minder angemessen für die Erzählung der Geschichte der Menschheit aus. Teleologische Prinzipien überschreiten die Grenzen des theoretisch Wissbaren, insofern sie als „Leitfaden“ aus anderen Bereichen in die zu verwissenschaftlichende Naturgeschichte übertragen werden. Als solcher Leitfaden entstammt die teleologische Denkfigur entweder der Ästhetik – denn die Zweckmäßigkeit von Kunstwerken ist subjektiv einsehbar – oder aus der Moralphilosophie, für welche die Annahme teleologisch organisierter Weltverhältnisse regulativen Charakter einnimmt. Wenn der Geltungsbereich der Teleologie in der „Kritik der Urtheilskraft“ mit der strengen Definition als der eines Begriffs, „über sie [d. i. die Natur, K. K.] in Ansehung der Verknüpfung der Erscheinungen in ihr, die nach empirischen Gesetzen gegeben ist, zu reflectiren“, von der „praktischen Zweckmäßigkeit (der menschlichen Kunst oder auch der Sitten)“ abgegrenzt wird, so erweitert der TeleologieAufsatz gerade den Gebrauch dieses Prinzips und weicht die (auch für diese frühere Schrift) eingeforderte strenge Definition auf. Insofern die Geltung des Zweckmäßigkeitsbegriffs mit Blick auf die reflektierende Urteilskraft und hinsichtlich praktischer Zweckmäßigkeit nicht eindeutig angegeben werden kann – er in einer ambivalenten Wendung trotz eingeschränkter Geltung als Reflexionsprinzip dennoch wissenschaftliche Bedeutung entfaltet –, taucht ein anderer Gebrauch der Teleologie in Kants Texten auf.
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Liest man die für meine Interpretation zentrale Fußnote mit Bezug auf den Gesamttext, dann schiebt sie – geschichtsphilosophisch betrachtet – ein bestimmtes Erzählmuster für den Fortschritt der Menschheit unter, das gegen Vermischungen argumentiert. Wenn Kant dem teleologischen Denken in allen drei Erkenntnisbereichen strenggenommen allein heuristische Funktion (so zu denken, als ob) zugesteht, und ihm der dritten Kritik zufolge im Bereich der „Naturproducte[ ]“ keine ungebrochene wissenschaftliche Funktion zuweisen mag, dann drängt sich die folgende klar formulierte Passage umso stärker in den Vordergrund. Zur Veranschaulichung der Funktion teleologischer Prinzipien beruft Kant sich hier geradezu auf die ästhetische Erfahrung, eben weil sie in den anderen Bereichen nicht eindeutig auseinandergesetzt werden können bzw. dürfen. In der Ästhetik stellt die Figur der Teleologie ein Ordnungs- oder Organisationsprinzip zur Verfügung, das sich durch besondere Geltung auszeichnet. Als das Prinzip subjektiver (innerer) Zweckmäßigkeit findet es in Kants Aufsatz zur Teleologie selbst Erwähnung und wird anhand des Beispiels eines Portraits erläutert: „Eine Grundkraft, durch die eine Organisation gewirkt würde, muß also als eine nach Zwecken wirkende Ursache gedacht werden und zwar so, daß diese Zwecke der Möglichkeit der Wirkung zum Grunde gelegt werden müssen. Wir kennen aber dergleichen Kräfte ihrem Bestimmungsgrunde nach durch Erfahrung nur in uns selbst, nämlich an unserem Verstande und Willen, als einer Ursache der Möglichkeit gewisser ganz nach Zwecken eingerichteter Producte, nämlich der Kunstwerke.“2
Dabei spielt teleologisches Denken – das in der Kunst auch den Nachvollzug von Proportionen bedeutet – sowohl für die Kunstproduktion als auch ihre Rezeption eine konstitutive Rolle. Wie also die am Zitat abzulesende Zurückhaltung impliziert, nimmt Kant Teleologie nicht als wissenschaftliches Prinzip wahr, sondern räumt dem mit ihrer Hilfe generierten konjunktiven Denken übertragende Funktion ein. In ihrer Übertragungsleistung wirkt sie ordnend auf das empirische Material. Philosophisch formuliert stellt sie eine Reflexionsregel zur Verfügung, die TeilGanzes-Verhältnisse expliziert. Literatur- oder repräsentationstheoretisch gesprochen bietet sie ein narratives Schema an, das es erlaubt, Einzelbeobachtungen mit
2
Kant, Über den Gebrauch, in: KAA VIII, S. 181. Hervorhebungen im Original der Akademie-Ausgabe gesperrt. Falls nicht anders gekennzeichnet, werden Sperrungen des Originals im Zitat hier und anderswo kursiv dargestellt. Zum Portrait s. a. O., S. 166, wo Kant erläutert, dass die „Wahrheit“ des Portraits in seiner Proportionalität liege; von „Was schon Lord Shaftsbury anmerkte“ bis „welches von beiden die lautere Natur und welches Erdichtung enthalte.“ Vorangehende Zitate im Haupttext aus: Kant, Kritik der Urtheilskraft, a. O., S. 181 [XXVIII-XXIX], S. 185 [XXXVI], „Leitfaden“.
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einer übergreifenden Erklärung unter Integration eines Zeitfaktors zusammenzudenken. Die in Rede stehende Fußnote und die Hervorhebung jener ästhetischen Funktion erweitern attributiv die Geltung des theoretisch zuvor eingeschränkten teleologischen Prinzips, was nicht ausschließt, dass Kants Philosophie auf der Geltung ihrer strengen theoretischen Definitionen beharrte. Aber der Text operiert letztlich anders: durch die Subtexte. Ob dies der didaktischen Funktion des Aufsatzes geschuldet ist, sei dahingestellt (scheint mir aber sekundär). In der „Kritik der Urtheilskraft“ stellt es offenbar lediglich eine Behelfsvorstellung dar, den Bezug zwischen der „Zweckmäßigkeit der Natur“ und der „praktischen Zweckmäßigkeit“ analogisch zu denken, im Teleologie-Aufsatz wird auf diesen behelfsmäßigen Charakter gar nicht so ausdrücklich hingewiesen. Damit stellt sich die Frage, ob eine heuristische Übertragung teleologischer Prinzipien tatsächlich analogisch verfährt – und dieses Kapitel widmet sich Kants konfliktärem Umgang mit der Analogie – oder nicht eher metonymisch. An dieser Stelle ist diese Frage jedoch nicht weiter zu vertiefen, sondern bleibt lediglich zu bedenken, dass das Prinzip einer ästhetischen Analogie für die Gestaltung der Naturgeschichte sowohl auf der figuralen als auch der narrativen Ebene funktionale Bedeutung besitzt – und zwar dort, wo das empirische Material in den theoretisch argumentierenden Text eingebaut wird. Hier liegt der epistemologische Clou, der von der Übertragungsleistung der Analogie abhängt. Es ist wahrscheinlich, dass die Analogie nicht unabhängig von einem ihr inhärenten teleologischen Vor-Urteil gebildet und appliziert werden kann. In ihrer Übertragung vergleicht sie jedoch nie, sondern löst sich in deskriptive Zusammenhänge auf, die nur narrativ eingeholt werden können. Wenn Kant selbst zu bedenken gibt, dass der empirische Einschub keineswegs als Beweis zu verstehen sei, „[…] nicht als beweisend angeführt [wird]“3, ihn aber 3
Siehe den Titel des nachfolgenden Abschnitts. Die (historische) Vielschichtigkeit des Analogiebegriffs arbeitet Andre Rudolph in seinem Buch „Figuren der Ähnlichkeit. Johann Georg Hamanns Analogiedenken im Kontext des 18. Jahrhunderts“ auf. Sein Verhältnis zum Problemfeld der Ähnlichkeit in der rhetorischen Tradition stellt ebenso eine definitorische Herausforderung dar wie die Frage nach der Proportion seiner Verhältnisstiftung. Als vierstellige Relation bezeichnet die Analogie etwa eine Verhältnisähnlichkeit, welche die Ähnlichkeit der Verhältnisse zwischen Dingen, jedoch nicht die Dinge selbst betrifft. Ein typisches Beispiel für solch ein Analogon bieten Gesetzmäßigkeiten (Naturgesetze). Insoweit kann die Analogie ganz unähnliche Dinge oder Sachverhalte erfassen und erfüllt so insbesondere mnemorative Funktion. Damit betrifft die Analogie ein ganz ähnliches epistemisches Muster wie das (ihr rhetorisch nahe liegende) Exempel. Gerade die Frage nach der Verhältnisbestimmung berührt in beiden Fällen jedoch den gordischen Knoten des Analogischen (oder Exemplarischen) selbst. Nicht selten bleibt die Stelle des Analogons mehrfach besetzbar; so scheint mir Rudolph zu umstandslos hinzu-
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dennoch in der Fußnote narrativ als einen solchen Beweis aufbaut, dann trägt dieser Beweis die zu entwerfende Naturgeschichte vielleicht nicht als solche, jedoch ihre teleologische Wendung. Das Modell eines Verfahrens, das seinen Geltungsbereich sich selbst bescheidend einschränkt, dabei jedoch wissenschaftlichen Wert für sich beansprucht, spiegelt sich in der Wendung, „wird hier nicht als beweisend angeführt, ist aber doch nicht unerheblich“, wider. Was aus Gründen wissenschaftlicher Strenge weder bewiesen werden kann noch darf, überschreitet in der Fußnote (oder Anmerkung) die zuvor geltend gemachte – theoretisch notwendige – Selbstbeschränkung. Erst die teleologische Wendung lässt die Naturgeschichte erzählbar werden, welche eben nicht von ihrem vermeintlich wissenschaftlicheren Konterpart – der Naturbeschreibung – zu trennen ist. Jene unverzichtbare, da strukturierende teleologische Wendung ist hingegen bedenklich im doppelten Wortsinn. Sie operiert im Bereich des Marginalen und stützt so die philosophische These; sei sie auch nur analogisch und versuchsweise unternommen, um die Naturwissenschaft von anderen Bereichen des Wissens zu emanzipieren. Der Umgang mit der Empirie gleicht in seiner Funktionsweise somit demjenigen, der mitunter der Historie zuteil wird. Als close reading richtet das folgende Kapitel sein Augenmerk auf das (scheinbar) Marginale. Dieses Verfahren dient dazu, die argumentative Strategie von Kants Text nachzuvollziehen und sie damit auch aufzudecken. Dabei geht es nicht darum, dem Philosophen Kant argumentative Fehler oder Inkonsequenzen nachzuweisen. Jedoch gilt es, die literarische Qualität von Kants Aufsatz zur Teleologie nicht nur in ihrem (zeitgenössischen) intertextuellen Kontext zu würdigen, sondern auch interpretatorisch ernst zu nehmen. Dabei gehört der philosophische Gehalt des Textes wesentlich zur Analyse seiner internen – nicht ausschließlich literarisch erzeugten – Widersprüche. Am Text ist zunächst einmal zu beobachten, dass seine Verfahren programmatische Bekundungen unterlaufen. Hier – mit der Irritation – setzt die Analyse ein, ohne zu beanspruchen, sie restlos in den Klartext überführen zu können oder zu wollen. So betreibt die Analyse Empirie am Text, nicht prinzipienlos, aber mit Blick auf das Detail. Digressionen scheinen mir für die Machart und die Funktionsweise kantischer Texte allgemein wesentlich. Etwas in Anmerkungen oder Fußnoten auszugliedern, bedeutet aber auch immer, es auszustellen. Verfahren der Beiordnung versuchen – nehmen, dass Kants analogische Bestimmung der Analogie in den „Prolegomena“ sich selbstverständlich auf naturgegebene Gesetze beziehe, ohne zu erwägen, dass bereits zwischen Kraft (als Naturgesetz) und Gesetz ein erstes Analogon gebildet wird, bevor das Sittengesetz als gleichsam verpflichtend wie das Naturgesetz analogisiert wird. Andre Rudolph, Figuren der Ähnlichkeit. Johann Georg Hamanns Analogiedenken im Kontext des 18. Jahrhunderts, Tübingen, 2006, S. 26-30 [Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 29].
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z. B. in Reisebeschreibungen – etwas dem Text Externes (das etwa auch einem anderen Darstellungsmedium verbunden ist) für den Text einzuholen. Dieser Versuch zieht zwangsläufig weitere textuelle Ebenen ein und erzeugt nicht selten performative Widersprüche. Der folgenden Analyse ist daran gelegen, einige Schichten des vielschichtigen Textes „Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie“ freizulegen, um sich im Doppelsinn der – auch im Schriftbild manifesten – Bedenklichkeit des Marginalen bei Kant zu widmen. 4.1 „Die letztere Bemerkung wird hier nicht als beweisend angeführt, ist aber doch nicht unerheblich.“ 4 Nicht unerheblich sind das Themenspektrum, das diese kurze Schrift Kants umfasst, sowie die Brisanz ihrer Thesen. Nicht unerheblich ist aber auch die Anzahl direkter und indirekter Zitate, die dem Text eine eigentümliche Fundierung verleihen. Als fundamental für die Argumentation des Textes erweisen sich etwa die Fußnoten. Ohne ihren empirischen Gehalt scheint einerseits kaum eine Aussage möglich. Andererseits verdankt sich jene Überzeugungskraft der Ambivalenz der Geltung, die Kant den Reisebeschreibungen – aber auch anderen Medien ethnologischempirischer Aufzeichnung – mithilfe der Fußnoten verschafft. Für die Selbstreflexion der Reisebeschreibung als Gattung besitzt die Frage nach dem Verhältnis von Unmittelbarkeit des Geschehens, Beobachtung und Aufzeichnung bzw. Darstellung ganz grundlegend Brisanz, wie sich auch im Falle Forsters zeigen lässt. Aufschlussreich hinsichtlich der Einschätzung des Verhältnisses von Geschehen und historischer Darstellung ist Kants Auseinandersetzung mit dem „Historia“Begriff. Ihr geht eine Diskussion über die Differenz von Erzählung und Beschreibung voran, welche das epistemische Feld der Naturgeschichte mit der „Historia“ als Welt- und Menschheitsgeschichte kurzschließt. In einigen Passagen zu dieser Fragestellung im Aufsatz „Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie“ verbindet sich die historiographische Diskussion mit der sowohl in den Bereich der Literatur als auch der Naturforschung fallenden epistemologischen Konkurrenz zwischen Erzählung und Beschreibung. Über eine sprachphilosophische Andeutung führt der Exkurs – genauer handelt es sich um mehrere ineinander verschachtelte Exkurse – in doppelter Hinsicht zur Frage der Empirie. Einerseits wird ganz am Rande expliziert, dass selbst Empiriker sich von Prinzipien leiten ließen, seien sie ihrem eigenen Anspruch gemäß auch noch so unvoreingenommene Beobachter. Andererseits wird kurzerhand deutlich, mit welcher Art von Empirikern wir es hier zu tun haben; Kant stattet den bloß empirisch Reisenden seinen Dank ab. Seine Vorliebe für die Reisebeschreibung5 hat ihren theoretischen Rah4
Kant, Über den Gebrauch, a. O., S. 174.
5
Vgl. a. O., S. 161.
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men gefunden, in dem nun mithilfe vieler verschiedener Quellen eine theoretische Untersuchung geführt wird, deren Unzugänglichkeit für die Theorie besonders den modernen Leser anstößt. Die Untersuchung ist als Konvolut rassebegriffstheoretischer – und damit aus heutiger Perspektive rassistisch anmutender – Überlegungen jedoch eminent empirisch: nämlich insofern sie sich auf Reisebeschreibungen und anatomische Untersuchungen als „Augenzeugen“ beruft. Was diese – mehr aufgrund einer assoziierten Gelegenheit in Gang gesetzte – schriftliche Auseinandersetzung mit Forster mit dem wissenschaftstheoretischen Rahmen der „Naturgeschichte“ und letztlich mit dem „Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie“ verbindet, bleibt zunächst vage und dunkel. Nach Abschluss der Bestimmung des Begriffs der Rasse nimmt der Rahmen die naturgeschichtliche Fragestellung wieder auf. Jenem exkursiven Einschub zum Rassebegriff wohnt eine eigentümliche Zwischenstellung zwischen Theorie und Empirie inne, und eigentlich sprengt er den Umfang eines Exkurses. Dieses Prinzip von Rahmungen und Wiederaufnahmen ist für die Struktur des Textes bezeichnend.6 Wie ich im Folgenden zeigen möchte, zweifelt Kant nicht an der Potentialität einer authentischen Reisebeschreibung. Im Gegenteil setzt er unter vorgeblich methodischem Vorbehalt deren scheinbare sinnliche sowie narrative Evidenz als Baustein einer verschiebenden Beweisstruktur ein, die sich ganz harmlos um die Ränder des Textes drapiert. 4.2 Erzählen oder Beschreiben? – Der Begriff der „Historia“ und die Reisebeschreibung Nach einigen einleitenden Hinweisen zum Thema Teleologie folgt in Kants Text eine kurze Erläuterung der Anlässe, die den Autor dazu bewogen haben, sich nochmals mit diesem oder jenem Thema auseinanderzusetzen. Dabei fällt auf, dass die beiden Anlässe wenig mit der im Titel projektierten Teleologie zu tun haben. Einer der Zeitgenossen, mit denen Kant sich an dieser Stelle auseinandersetzt, ist Georg Forster als Rezipient der Schriften „Bestimmung des Begriffs einer Men6
Ferner findet sich im Rahmen eine innerhalb des Rassendiskurses (Kant, Über den Gebrauch, a. O., S. 166) geführte Diskussion über die (Wahrhaftigkeit der) Kunst wieder (a. O., S. 181). Die vorliegende Schrift über die Teleologie weist eine starke Verschachtelung mittels Rahmungen und Exkursen auf. So wird der Rassendiskurs grob durch die Textabschnitte ab S. 159-163 unten und S. 183 oben bis Schluss gerahmt. Der äußere Rahmen beherbergt drei Themen, die fast spiegelbildlich zueinander aufgebaut sind. Unter diesem Aspekt erscheint ihre Argumentation zunächst als sprunghaft, assoziativ und inkohärent. Bei stärkerer Fokussierung stellt sich jedoch heraus, dass der Text stark durchstrukturiert ist.
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schenrace“ (1785) und „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ (1786). Dabei beschäftigt Forster insbesondere der erste Aufsatz, und er antwortet Kant als weitgereister Empiriker.7 Auffällig ist, dass Kant mit Blick auf die Reisebeschreibung einerseits den Anspruch reiner Empirie zurückweist. Wenn deren Verfasser meinen, sie könnten unvoreingenommene und unbeteiligte Beobachter sein, um ein möglichst objektives Bild der unbekannten Welt zu vermitteln, müssen sie diesen Anspruch notwendig verfehlen, „denn Erfahrung methodisch anstellen, heißt allein beobachten.“8 Unabhängig von zuvor festgelegten Prinzipien ist Beobachtung – ja selbst Erfahrung – gar nicht möglich, man muss zunächst wissen, wonach man überhaupt sucht.9 Obwohl das empirische Prinzip der Prinzipienlosigkeit ins Lächerliche gezogen wird, bedankt Kant sich andererseits bei den Empirikern: „Ich danke für den blos empirischen Reisenden und seine Erzählung, vornehmlich wenn es um eine zusammenhängende Erkenntniß zu thun ist, daraus die Vernunft etwas zum Behuf einer Theorie machen soll.“10 Aufgrund dieser Dankesbekundung wäre zu fragen, ob nicht ein Widerspruch in der den Empirikern zugeschriebenen11, nicht einzulösenden Prinzipienlosigkeit läge. Denn offensichtlich hinterlässt der eine Reise Beschreibende etwas Geordnetes – sei das Prinzip dieser Ordnung auch willkürlich oder narrativ. Obgleich die Notwendigkeit des Ordnens von Kant eingeräumt wird, wäre anzunehmen, dass jene Prästrukturierung, die der vernünftige Leser vorfindet, seine theoretische Erkenntnis bereits steuern bzw. gar verfälschen könnte. Das Material, das der Reisende für die weitere (theoretische) Verarbeitung liefert, ist bereits in bestimmter Weise aufberei7
Als Teilnehmer an Cooks Weltreise 1772-1775. Die vorliegende Schrift reagiert also auf eine Interpretation Forsters. Diesen Eindruck verstärkt Kants Taktik, Forsters Kritik nicht als solche gelten zu lassen, indem er ihm leicht aus der Welt zu räumende Missverständnisse zuschreibt. So markiert der Text, dass Forsters Kritik nicht substantiell sein kann, da die ursprüngliche Darstellung von Anfang an die richtige Deutung enthielt, die so allgemeinverständlich – auf dem vernünftigen Prinzip größtmöglicher Simplizität beruhend – ist, dass selbst Forster sie mit einiger Erläuterung besser hätte verstehen können (obgleich Kant kleinere Missverständnisse einräumt).
8
Kant, Über den Gebrauch, a. O., S. 161.
9
Vgl. ebd.
10 Ebd. 11 Es handelt sich um eine polemische Zuschreibung, die Kants Argumentationsaufwand überhaupt erst in Gang setzen kann. Freilich vertritt Forster dieses empirische Paradigma in seiner „Reise um die Welt“ nicht so vorbehaltlos. Vgl. Manfred Rösner, „Die Übersetzbarkeit der Reise. Eine Skizze der provisorischen Anthropologie Georg Forsters“, in: Augenschein – ein Manöver reiner Vernunft. Zur Reise J. G. Forsters um die Welt, hg. v. Manfred Rösner u. Alexander Schuh, Wien/Berlin, 1990, S. 11-27, bes. S. 18-21.
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tet – eine Steuerung der Aufmerksamkeit, die etwa Herder und Wieland Reisebeschreibungen generell misstrauisch gegenübertreten lässt.12 Als Anknüpfungspunkt einer Diskussion über die potentielle Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen tendiert das Zitat der Reisebeschreibung häufig zum unterschwelligen Argument, das über die Einschätzung einer groben Richtung in der Menschheitsgeschichte entscheiden soll – eine Tendenz, die für Herder und Wie12 „Übrigens können wir nicht unbemerkt lassen, daß, ungeachtet Moore unsers Wissens ein sehr ehrlicher Mann, ein Mann von sehr gesunder Vernunft, und (was hier allerdings in Betrachtung kommt) weder Filosof noch Dichter, und also von allen diesen Seiten ein sehr glaubwürdiger Mann ist, – dennoch seine Nachrichten von den Foleys noch lange nicht so vollständig und befriedigend sind, als sie seyn sollten, um ein richtiges Urtheil von diesem Völkchen festsetzen zu können. Eine ungeschmückte Einfalt empfiehlt und beglaubigt seine Erzählung beym ersten Lesen; aber beym zweyten hat man so viele Fragen zu thun, und erhält so wenig Antworten auf diese Fragen, daß man am Ende nicht halb so zufrieden mit ihm bleibt, als man es Anfangs war. Dieß ist der Fall der allermeisten von diesen großen Wandersmännern. Man sieht es ihren Nachrichten und Erzählungen nur gar zu sehr an, daß sie an nichts weniger gedacht haben, als daß sie zu einem andern Gebrauch, als zur Zeitkürzung ihrer Leser, oder höchstens zu handelschaftlichen Aussichten, würden angewendet werden. Hier wäre gleich der Fall, wo es sehr gut seyn würde, wenn man mit seinen eigenen Augen sehen könnte.“ Wieland, Beyträge, Über die Behauptung daß ungehemmte Ausbildung der menschlichen Gattung nachtheilig sey, in: WWA, Abt. 1, Werke V (7,8/2), S. 315-483 (Beyträge), S. 417-438, S. 432. Sperrungen kursiviert. Vgl. Herders „Journal“: „Mit welcher Andacht lassen sich auf dem Schiff Geschichte hören und erzählen? und ein Seemann wie sehr wird der zum Abenteuerlichen derselben disponiert? Er selbst, der gleichsam ein halber Abenteurer andre fremde Welten sucht, was sieht er nicht für Abenteuerlichkeiten bei einem ersten stutzigen Anblick? Habe ich dasselbe nicht selbst bei jedem neuen Eintritt in Land, Zeit, Ufer u.s.w. erfahren? wie oft habe ich mir gesagt: ist das das, was du zuerst da sahest? Und so macht schon der erste staunende Anblick Gigantische Erzählungen, Argonautika, Odyßeen, Lucianische Reisebeschreibungen u.s.w. […] Mit welcher Neuerungssucht geht man gegen Land?“ Johann Gottfried Herder, Journal meiner Reise im Jahr 1769, in: FHA 9/2, Journal meiner Reise, Pädagogische Schriften, hg. v. Rainer Wisbert, Frankfurt am Main, 1997, S. 9-126, S. 24. „Niemand in der Welt fühlt die Schwäche des allgemeinen Charakterisierens mehr als ich. Man malet ein ganzes Volk, Zeitalter, Erdstrich – wen hat man gemalt? Man fasset auf einander folgende Völker und Zeitläufte, […] – wen hat man gemalt? wen hat das schillernde Wort getroffen? – Endlich man faßt sie doch in Nichts, als ein allgemeines Wort zusammen, […] – unvollkommenes Mittel der Schilderung!“ Johann Gottfried Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, in: FHA 4, Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774-1787, hg. v. Jürgen Brummack u. Martin Bollacher, Frankfurt am Main, 1994, S. 9-107, S. 32.
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land aus humanistischer Perspektive heikel bleibt. Für Kant erweisen sich Prästrukturierung und jene implizite (historiographische) Lenkung als weniger problematisch. Die subjektiv-narrative Form bewirkt nicht, dass das Material der theoretischen Erkenntnis generell unzugänglich würde. Selbst wenn Forster trotz deskriptiven Anspruchs seine eigenen Beobachtungen aufgrund ihm unbewusster Ordnungsprinzipien nicht allein vorstrukturieren, sondern bereits in einem (narrativen) Plot organisieren sollte, bedeutet das nicht, dass seine Überlieferung damit für den theoretisierenden Philosophen unbrauchbar würde. Kant nutzt die Reisebeschreibungen – nicht zuletzt Forsters – als Korrektiv zu deren Beobachtungen selbst. Der Anspruch Forsters, eine „philosophische Reisebeschreibung“ zu verfassen, die sich aus unterschiedlichen Beweggründen als geplant erweist, deckt sich freilich nicht mit der nahezu polemischen Zuschreibung Kants, der sich über die programmatische deskriptive Blindheit der Reisebeschreibungen brüskiert. „Selbst wenn Forster demgegenüber ein mehr oder weniger blindes Suchen billigen wollte, insofern er den ‚empirischen Kopf‛ dem Systematiker vorzog, war die Reise um die Welt gerade ‚nach einem vollkommnern Plan unternommen‛. Dieser Plan der Großbrittanischen Regierung und die Absicht Forsters, eine ‚philosophische Geschichte der Reise‛ zu verfassen, realisieren gewissermaßen das Umkippen der voraussetzungslosen Erfahrung in bezug auf generelle Erkenntnis.“13
Forster selbst beschreibt sein eigenes Unternehmen als schwieriges Unterfangen. Er schildert in der Vorrede zur „Reise um die Welt“ etwa die Missverständnisse, die sich aus der Diskrepanz der Intentionen seines Vaters, eine Beschreibung zu liefern, und der Erwartungen an deren (wohldosierten) philosophischen Gehalt von Seiten des „Admiralitäts-Collegii“14 ergeben. Bezeichnenderweise sind es hier die Kupfer, an denen Forsters Vater primär gelegen ist – philosophische und ethnologische Erkenntnis treten angesichts materieller Sachzwänge (vorerst) in den Hintergrund.15 13 Rösner, Die Übersetzbarkeit der Reise, a. O., S. 18f. 14 Georg Forster, Reise um die Welt (1. Teil), bearb. v. Gerhard Steiner [nachfolgend: Reise], in: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hg. v. der Akademie der Wissenschaften in Berlin [nachfolgend: FAA], Berlin, 1958ff., Bd. II (1965), S. 8f. 15 Die Vorrede zu Johann Reinhold Forsters „Beobachtungen während der Cookschen Weltumsegelung 1772-1775. Gedanken eines deutschen Teilnehmers“ [Unveränderter Neudruck der 1783 erschienenen „Bemerkungen über Gegenstände der physischen Erdbeschreibung, Naturgeschichte und sittlichen Philosophie auf seiner Reise um die Welt gesammlet“, mit einer Einführung v. Hanno Beck, Stuttgart, 1981, S. II-VI] gibt darüber Auskunft, dass Reinhold Forster „Folgerungen“ „aus Erfahrungssätzen“ „Methode“ und
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Georg Forster erläutert die Vorzüge der Kompilation16 aus Gründen der Variabilität der (z. B.) berufsbedingten Standpunkte. Dabei bringt er jedoch zum Ausdruck, dass diese Operation die Gefahr mit sich bringe, lediglich zusammenzustoppeln und die Arbeit seines Vaters durch die sekundäre Aufbereitung zu „verstümmeln“.17 Historische Wahrheit ist für ihn etwas, das erstrebenswert und erreichbar ist; die Tagebücher des Vaters stellen für den Sohn (G. Forster) eine wichtige Quelle dar, die in Bezug auf das sonstige gesammelte Material eine korrektive Funktion besitzt – sie werden zumindest dann zu Rate gezogen, wenn es um wichtige Vorfälle geht. Trotz jener zugebilligten Multiperspektivität hält er fest, dass es bereits Beschreibungen gibt, deren Glaubwürdigkeit nicht nur durch ihn selbst, sondern sogar durch das an Reisebeschreibungen geschulte aufgeklärte Publikum angezweifelt wird: dessen Rezeptionshaltung nimmt von romantisierenden Lesarten Abstand.18 „Zween Ungenannte haben schon etwas von unsrer Reise geschrieben; allein in diesem erleuchteten Jahrhundert glaubt man keine Mährchen mehr, die nach der romantischen Einbildungskraft unsrer Vorfahren schmecken. Die Begebenheiten unsrer Reise sind so mannigfaltig und wichtig, daß sie keines erdichteten Zusatzes bedürfen.“19
Damit reflektiert Forster ein weit verbreitetes Klischee seiner Zeit bereits mit. Detailliert fasst er einerseits die generalisierte philosophische Kritik an der Reisebeschreibung zusammen, um andererseits zu verdeutlichen, dass die Gründe für diese Kritik in der Erwartungs- und Rezeptionshaltung der Philosophen selbst zu suchen sind. Aus der scheinbaren Widersprüchlichkeit unterschiedlicher Reisebeschreibungen, die deren systematische Aufarbeitung erschwert, resultiert laut Forster eine „Systemen“ vorzieht. Sein Korrektiv sei nach eigenem Bekunden der Intertext „verschiedener Weltweisen und Naturforscher“, sein Ziel, die „physische Geschichte“ des Menschen „im Ganzen“ zu betrachten. Dabei möchte er sich nach der „[…] Schrift des Herrn Ritter Bergmann […]“ richten (Torbern Olof Bergmans „Physicalische Beschreibung der Erdkugel“ von 1766; dt. 1780). Es geht R. Forster also darum, eine Naturgeschichte des Menschengeschlechts zu verfassen, es dezidiert unter physischen Gesichtspunkten zu untersuchen. Jene Schrift wird im Folgenden nur noch mit dem Originaltitel erwähnt, die angeblich „bewusste“ Umbenennung des Herausgebers scheint eher unglücklich gewählt. 16 Vgl. dazu G. Forster, Reise, in: FAA II, S. 10f.: Konsultation der Tagebücher des Vaters, Vorzüge der Vielfalt der Standpunkte; Einbeziehung Cooks, vgl. a. O., S. 14. 17 Vgl. a. O., S. 10. 18 Die rhetorische Figur des ‚Hysteron-Proteron‘ (das Frühere ist das Spätere) erfasst das Phänomen einer prospektiven Negierung. Romantik wird hier als voraufklärerisch zurückgewiesen. 19 Ebd.
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Faktenbesessenheit auf Seiten der Philosophen. Erstaunlicherweise spricht ausgerechnet Forster den Philosophen in Ansehung des Faktenüberflusses jegliche Kompetenz der synthetisierenden Interpretation ab: Vor lauter „Factis“ sind diese nicht mehr in der Lage, „auch nur einen einzigen Satz zu bestimmen und zu abstrahiren.“20 Eindeutig formuliert Forster neben der Forderung nach erhellender Beobachtung den Anspruch einer Abstraktionsleistung, die auch für zukünftige Erkenntnisse als Heuristik dienen können soll.21 Der „Authenticität“ einer Reisebeschreibung schaden lediglich widrige Umstände wie fehlende Augenzeugenschaft des Verfassers, die Notwendigkeit der Übersetzung sowie – an erster Stelle – die „Censur“. Dass Forster seine Arbeit an des Vaters Tagebüchern als Übersetzung jedoch der Gefahr der Verfälschung ausgesetzt sieht, verdeutlicht die Metapher der „Verstümmlung“22, die auch in diesem Zusammenhang funktionalisiert wird. Während Kant in seinem Aufsatz versucht, über die Definition der Differenz von Naturbeschreibung und Naturgeschichte eine Verbindung zwischen Wissenschaftstheorie, Teleologie und Rassebegriff herzustellen, besteht Forsters Anspruch laut Rösner darin, Beobachtung und Beschreibung methodisch zur Übereinstimmung zu bringen.23 In Anbetracht dieser in mehrfacher Hinsicht divergierenden Intentionen greift die von Rösner zitierte binäre Entgegensetzung von Empirismus und Rationalismus, über die Lepenies das Verhältnis von Kant und Forster zu definieren sucht24, zu kurz. Gerade der zwischen Augenzeugenschaft25, Experiment26 20 Vgl. a. O., S. 13. 21 Ebd. 22 A. O., S. 12. 23 Vgl. Rösner, Die Übersetzbarkeit der Reise, a. O., S. 25. 24 A. O., S. 17, FN 24. Vgl. auch Hans-Jürgen Engfer, Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophiegeschichtlichen Schemas, Paderborn, 1996. Engfer nimmt die philosophiegeschichtliche Deutung in Anspruch, dass Kants Erkenntnistheorie gerade den Dualismus zwischen Verstand und Erfahrung überwinde, und knüpft so auch an Kants Selbstverständnis an. A. O., S. 395, S. 411. Dass die Formen der reinen Anschauung und die Kategorien in der Erfahrung (als Erfahrung) immer schon enthalten sind, scheint mir jedoch nicht G. Forsters Intuition zu widersprechen, dass es neben dieser grundlegenden notwendigen Vorstrukturierung auch kulturelle Apriori gibt, die als solche nicht von den übrigen zu unterscheiden sind (eine ‚grobe‘ Version wäre so etwas wie das Vorurteil). Hier ist es dann tatsächlich die räumliche oder zeitliche Distanz, die derartige Notwendigkeiten auflösen kann. 25 Rösner, Die Übersetzbarkeit der Reise, a. O., S. 19, S. 22. 26 Richard Bacher interpretiert die „Reise um die Welt“ nicht nur als Feld der empirischen Fremd-Beobachtung, sondern auch als eine Art Selbstexperiment. Diese These plausibilisiert er anhand der Vorkehrungen, die auf dem Schiff zum Zweck der Behandlung von Skorbut und Scharbock vorgenommen wurden. Richard Bacher, „‚Resolution‛. Zwischen
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(wie R. Bacher herausarbeitet) und Philosophie angelegte empirische Anspruch Forsters ist es, der Kants Kritik umso harscher ausfallen lässt, da er es mit einem ernstzunehmenden Gegenspieler zu tun hat. Forster reflektiert das Grundsatzproblem einer empirisch-ethnologischen Wissenschaft (ihre divergierenden Beobachterstandpunkte) bereits als Ausgangspunkt seiner eigenen Methodik mit.27 Seine methodischen Reflexionen lassen Kants Kritik am prinzipienlosen Empirismus im Aufsatz zur Teleologie als unangemessen erscheinen. Wenn Forster Naivität zuzurechnen wäre, dann lediglich im Zusammenhang mit seiner Authentizitätsgläubigkeit, die wahrhafte Erkenntnis nicht grundsätzlich epistemisch anzweifelt, sondern sie lediglich der Gefahr der Verunreinigung und der faktualen Überforderung ausgesetzt sieht. Aber auch Kant glaubt an die potentielle Authentizität der Reisebeschreibung. Lediglich die Entscheidung über die Legitimität einer spezifischen Reisebeschreibung findet in einer Grauzone statt. Auf welche Weise Kants Text Empirie zitiert, und wie er über die Fußnoten die Beweisführungen im Haupttext verschiebt, lege ich im Zuge meiner Argumentation anhand eines Fall-Beispiels genauer dar. Bei der Korrektur von Forsters Kantlektüre handelt es sich genau genommen um eine kantische Korrektur Forsters, der Kant als Leser und Interpreten von Reisebeschreibungen zuvor in Frage gestellt hatte.28 Diese Korrektur leistet er mithilfe eines ganzen Fundus von Reisebeschreibungen und anatomisch-physiologischen Abhandlungen selbst. Zwar bezieht Kant sich weder in der Teleologie-Schrift noch im Aufsatz von 1785 auf Forsters Reisebeschreibung, doch zitiert er einen sachkunSouveränität und Ätiologie“, in: Augenschein – ein Manöver reiner Vernunft. Zur Reise J. G. Forsters um die Welt, hg. v. Manfred Rösner u. Alexander Schuh, Wien/Berlin, 1990, S. 63-79, vgl. S. 73f. 27 Rösner, Die Übersetzbarkeit der Reise, a. O., S. 25f. Die Multiperspektivität beansprucht ihre Gültigkeit natürlich auch für nicht-menschliche Phänomene. Forster selbst „[sollte] blos nach allgemeinen menschenfreundlichen Grundsätzen darstellen [...]“. Vgl. G. Forster, Reise, a. O., S. 8. Inwiefern der Sohn diesen Anspruch teilte oder eingelöst hat, und ob es sich dabei um die ethnologisch angemessene Methode handelt, möchte ich dahingestellt lassen. Vgl. ferner Rainer Godel, Vorurteil – Anthropologie – Literatur. Der Vorurteilsdiskurs als Modus der Selbstaufklärung im 18. Jahrhundert, Tübingen, 2007, S. 266269 [Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 33]. 28 Kant berichtigt in der Schrift „Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie“ (1788) Forsters Lektüre der Aufsätze „Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace“ (1785) und „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ (1786) – auf die Forster mit seiner Replik „Noch etwas über die Menschenraßen“ (1786) reagierte. Diese doppelten Verschränkungen von Interpretation und Korrektur haben in Kants Texten auch für Bezugnahmen auf weitere Autoren Gültigkeit: Sie stellen ein bedeutsames Merkmal ihrer Zitierpraktik dar.
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digen Anonymus29 sowie aus „Von den Rejangs auf Sumatra nach Marsdens Geschichte dieser Insel“ (1786), Don Ulloas „Relacion Historica del Viage […] a la America Meridional.“30 und erwähnt „Capt. Forrester“31 sowie „Carterets Nachricht“, die er „[…] aus dem Gedächtnisse (vielleicht unrichtig) anführt[ ]“.32 Neben diesen Reisebeschreibungen bezieht er sich auf folgende Naturforscher: Linné, Buffon und Bonnet sowie auf die Anatomen und Physiologen Sömmering, Blumenbach, Schotte und Lind.33 Dennoch ist davon auszugehen, dass ihm auch Forsters „Reise um die Welt“ bekannt war.34 29 Bezeichnenderweise bleibt hier uneindeutig, ob diese arbeitsanthropologischen Äußerungen tatsächlich einem Reisebeschreiber zuzurechnen sind. Tatsächlich erschienen die „Anmerkungen über Ramsays Schrift von der Behandlung der Negersklaven in den Westindischen Zuckerinseln.“ zunächst anonym, was meiner Interpretation jedoch nicht grundsätzlich Abbruch tut. Die „Anmerkungen“ wurden im „5. Theil“ der „Beiträge zur Völker- und Länderkunde“, hg. v. Matthias Christian Sprengel, Leipzig, 1786, S. 267292, veröffentlicht. 30 Die Reisebeschreibung von Antonio de Ulloa wurde in Madrid 1748 erstveröffentlicht. Im Kommentar der Akademie-Ausgabe findet sich ein abweichender – vermutlich inkorrekter – Titel: Redacion del viage a la America meridional, übers. Amsterdam, 1752. KAA, Anm. Bde. VI-IX, Bd. VIII, S. 489 verweist auf Anm. Bde. I-V, Bd. II, S. 507 (recte 509). Eine deutsche Übersetzung erschien unter dem Titel „Physikalische und historische Nachrichten vom südlichen und nordöstlichen America“, Erster/Zweyter Theil, Leipzig, 1781. 31 Kapitän Thomas Forrests Reise nach Neuguinea und den molukkischen Inseln […]. Ein Auszug aus dem Englischen, in: Neue Sammlung von Reisebeschreibungen, Dritter Theil, hg. v. Christoph Daniel Ebeling, Hamburg, 1782. 32 Kant, Über den Gebrauch, a. O., S. 177. Philip Carteret, Voyage round the World, 17661769. 33 Buffon, Allgemeine Historie der Natur III, 1, 1756; Bonnet, Contemplation de la nature, 2 vol., Amsterdam, 1764-65; Sömmering, Über die körperliche Verschiedenheit des Negers vom Europäer, Frankfurt u. Mainz, 1785; Blumenbach, Handbuch der Naturgeschichte, Göttingen, 1779; Schott [eig. Schotte, K.K.], Treatise on the Synochus atrabiliosa which raged at Senegal, London, 1782; Lind, An essay on Diseases incidental to Europeans in hot climates, London, 1763; alle Angaben nach: KAA, Anm. Bde. VI-IX, Bd. VIII, S. 487-491. Für genauere, tlw. korrigierte oder ergänzte bibliographische Angaben zu Kants Quellen s. mein Literaturverzeichnis. 34 Vom Sommersemester 1757 bis zum Sommersemester 1796 hat Kant regelmäßig Vorlesungen zur physischen Geographie abgehalten. Da er sich im Zuge dieser Aufgabe um den neuesten Stand der Forschung bemühte, ist anzunehmen, dass er auch Georg Forsters „Reise um die Welt“ (Berlin, 1778-1780, engl. Erstveröffentlichung 1777) gelesen hat. Der vollständige Titel der deutschen Ausgabe lautet: Johann Reinhold Forster’s […] Rei-
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Kants Verhältnis der Reisebeschreibung gegenüber stellt sich als ambivalent dar, da er ihren Beobachtungen und Beschreibungen in Teilen keinen Glauben schenken mag, sie aber (als standortgebundene Person) meint korrigieren zu können. Im Zuge seiner Vorlesungen zur Physischen Geographie eignete Kant sich einen enormen Fundus an geographisch-landeskundlichem Sekundärwissen an, indem er exzessiv Reisebeschreibungen rezipierte. Dieses Wissen formiert sich unter dem Blickwinkel einer teleologisch angelegten Naturgeschichte als konkurrierendes Korrektiv etwa zur Augenzeugenschaft, um vorurteilsbehaftetes oder irrtümliches Wissen zu revidieren. Somit behauptet es wiederum den Status eines primären Wissens für sich. Kants Schlüsse sollen sich als den fortlaufenden Beobachtungen angemessen erweisen, obgleich und gerade weil er sein Ausgangsmaterial teilweise bereits als verfälscht ansieht. Andererseits dienen ihm die Reisebeschreibungen durchgängig als Beleg bzw. Beweis der Theorie – und das nicht allein, wenn es scheinbar so offensichtliche Fragen wie den Rassebegriff betrifft. Ihr Zitat, das innerhalb des Textes, aber wesentlich häufiger als ein Anhang in der Fußnote auftaucht, gleicht einem Ausweichmanöver des theoretisch argumentierenden Textes, der seine empirische Anwendbarkeit bzw. Rückführbarkeit im Haupttext vehement negiert. Die Reisebeschreibung stellt einen Subtext der auf dem Paradigma der Wissenschaftlichkeit bestehenden theoretischen Abhandlung dar, deren epistemischer Status häufig undeutlich oder zweideutig bleibt. se um die Welt während den Jahren 1772 bis 1775 in dem von Seiner itztregierenden Großbrittanischen Majestät auf Entdeckungen ausgeschickten und durch den Capitain Cook geführten Schiffe the Resolution unternommen. Beschrieben und herausgegeben von dessen Sohn und Reisegefährten George Forster […]. Vom Verfasser selbst aus dem Englischen übersetzt, mit dem Wesentlichsten aus des Capitain Cooks Tagebüchern und andern Zusätzen für den deutschen Leser vermehrt und durch Kupfer erläutert. Vgl. die Einleitung zum Kommentar von „Entwurf und Ankündigung eines Collegii der physischen Geographie“ v. Paul Gedan, in: KAA, Anm. Bde. I-V, Bd. II, S. 455ff. sowie FAA IV: Streitschriften und Fragmente zur Weltreise, Erl. und Reg. zu Bd. I-IV, bearb. v. Robert L. Kahn u. a., Berlin, 1972, S. 194ff. Für seine „physische Geographie“ hat Kant nachweislich Reinhold Forsters „Bemerkungen […]“ konsultiert, vgl. KAA, Anm. Bde. VI-IX, Bd. IX, S. 526 u. 530f., welche wiederum Bemerkungen des Übersetzers Georg Forster enthalten. In seinem „Entwurf eines Collegii der physischen Geographie“ äußert sich Kant (recht allgemein) zu seinen Quellen, vgl. KAA II, Vorkritische Schriften II, S. 1-12, S. 4. Laut Elke Königs Datenbank zu „Kants Lektüre“ befanden sich die Bände 1773ff. des von Chr. M. Wieland herausgegebenen „Teutsche[n] Merkur“ in Kants Besitz. https://www.online.uni-marburg.de/kant_old/webseitn/ka_lek02.htm, 3.5.18. In den Vierteljahres-Bänden 2-4 des „Teutsche[n] Merkur“ von 1778 befinden sich Auszüge und (Wielands) „Rezension“ von Forsters „Reise um die Welt“: 1778/2, S. 294f., 1778/3, S. 59-75, S. 144-164, 1778/4, S. 137-155 (s. Lit.-Verz.).
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4.2.1 Differenzierungsversuche: Naturgeschichte – Naturbeschreibung Die Verbindung des Themas der Rassenbestimmung mit der Teleologie erfolgt über die Unterscheidung der Konzepte von Naturgeschichte und Naturbeschreibung – welche Forster, wie Kant behauptet, als „unstatthaft“35 ansehe. Im Grunde erweist sich die Forster zugeschriebene Fixierung auf die Empirie mit dieser Deutung bereits als reflexiv gebrochen. „[U]nstatthaft“ wäre jene Differenzierung etwa angesichts der modern anmutenden Erkenntnis einer narrativen Organisation von Beschreibungen. Deskription wäre als kulturelle Technik damit nicht allein dem naturwissenschaftlich-objektiven, sondern vielmehr dem narrativen Paradigma zuzurechnen. Dieser mögliche Einwand betrifft für Kant jedoch nicht den Kern der Problematik: Er hält die Unterscheidung von Naturbeschreibung und Naturgeschichte für nötig und sinnvoll. „Wissenschaft für Götter“36 ist Naturgeschichte lediglich, insofern sie nach den frühesten Ursprüngen fragt. „Allein nur den Zusammenhang gewisser jetziger Beschaffenheiten der Naturdinge mit ihren Ursachen in der ältern Zeit nach Wirkungsgesetzen, die wir nicht erdichten, sondern aus den Kräften der Natur, wie sie sich uns jetzt darbietet, ableiten, nur blos so weit zurück verfolgen, als es die Analogie erlaubt, das wäre Naturgeschichte […].“37
Heuristisches Prinzip der Naturgeschichte wäre demnach die analogische Ableitung.38 Wie also wird in diesem Zusammenhang der Begriff der „Geschichte“ definiert? Als „Historia“ mag sie literarisch organisiert sein, eine Narration bilden – fiktive Elemente darf sie hingegen nicht enthalten. Ein Beispiel einer solchen Naturgeschichte stelle laut Kant Linnés „Erdtheorie[ ]“ dar.39 Als Miniatur der Ausdifferenzierung und Besiedlung eines insularen Naturraums durch sukzessive Landgewinnung steht sie in merkwürdiger Asymmetrie zu Linnés Systematisierung der Pflanzen, deren Verdienst eigentlich eine von den Beschreibungsmodi des barocken Analogiedenkens entbundene Ordnung darstellte. Linnés „Erdtheorie“ fängt (zwar) nicht vom unerreichbaren Ursprung an, orientiert sich jedoch an der Vorstellung eines Schöpfers, dessen Werk nicht von Anfang an perfekt ist.40 Damit würde Linnés 35 Kant, Über den Gebrauch, a. O., S. 161. 36 Ebd.; diese Wendung übernimmt Kant von Forster. 37 Zitate: a. O., S. 161f. 38 Die jedoch, was den Menschen anbelangt, nicht bis an den Ursprung der Welt zurückreichen kann. Ein ähnliches Argument eröffnet Kants Schrift „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“. 39 A. O., S. 162; s. a. KAA, Anm. Bde. I-V, Bd. II, S. 456. 40 So erinnert diese Schöpfung eher an die Reorganisation der Welt nach der Sintflut. Ein Zeitpunkt, an dem auch Wieland mit seiner paradiesischen Erzählung „Koxkox und Ki-
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„Erdtheorie“ allenfalls eine analoge Erzählung zum biblischen Thema formulieren. Inwiefern sie mit Blick auf ein analogisches Ordnungsprinzip Vorbildfunktion einnehmen könnte, bleibt offen. In Ansehung dieser „Erdtheorie“ verwundert umso mehr, dass im vorherigen Absatz gerade in Bezug auf die Errungenschaften des „Linneischen Princips“41 – d. i. „des […] Princips der Beharrlichkeit des Charakters der Befruchtungstheile an Gewächsen“ – vor der Gefahr unzulässiger Analogisierung gewarnt wird. Die Analogie wird als Heuristik der Naturgeschichte eingeführt und im gleichen Atemzug wieder zurückgenommen. Ich halte es nicht für wahrscheinlich, dass diese Asymmetrie mit dem Hinweis aufzulösen ist, dass man es bei Linné einmal – um mit Kants Begriffen zu operieren – mit Physiogonie und einmal mit Physiographie zu tun habe. Kants Warnung lautet folgendermaßen: „Daß manche so unvorsichtig sind, ihre Ideen in die Beobachtung selbst hineinzutragen, (und, wie es auch wohl dem großen Naturkenner selbst widerfuhr, die Ähnlichkeit jener Charaktere gewissen Beispielen zufolge für eine Anzeige der Ähnlichkeit der Kräfte der Pflanzen zu halten), ist leider sehr wahr […].“42
Auf spezifische Funktionen oder innere Wesensmerkmale überträgt Linné diese äußerlich feststellbare Analogie eigentlich nicht. „Das ist von großer Wichtigkeit für die Definition der Naturgeschichte in ihrem Bezug. Dieser wird durch Oberflächen und Linien gegeben, nicht durch Funktionieren oder unsichtbares Gewebe.“43 Für Foucault stellt die Taxonomie Linnés noch die typisch „klassische“ freiwillige Ein-
kequetzel“ einsetzt, um sich nicht in die Paradoxien eines Ursprungsmythos zu verstricken. Wieland, Beyträge, Koxkox und Kikequetzel, in: WWA, Abt. 1, Werke V (7,8/2), S. 315-483 (Beyträge), S. 317-367. Linnés „Erdtheorie“ lautet: „Gott habe, da die ganze Erde anfänglich mit Meer bedeckt war, eine einzige Insel, die sich in ein Gebirge erhob, unter den Äquator gesetzt, darauf aber alle verschiedene Arten von Thieren und Pflanzen nach der Verschiedenheit der Wärme und Kälte, die den verschiedenen Höhen gemäß war, hinaufgesetzt. Diese Insel habe jährlich durch das Anspülen der See neues Land gewonnen, und so sei alles feste Land in der Folge vieler Jahrhunderte durch den Anwachs des Meeres entstanden.“ Zitat nach KAA, Anm. Bde. I-V, Bd. II, S. 456. 41 Zitate: Kant, Über den Gebrauch, a. O., S. 161. 42 A. O., S. 161. Es bleibt die Frage offen, ob die Anmerkung „wie es auch wohl dem großen Naturkenner selbst widerfuhr“ auf Linné selbst oder auf Forster zu beziehen wäre, s. ebd. 43 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main, 1974, S. 179.
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schränkung auf das Erfahrungsfeld der Sinnlichkeit – genauer des Sichtbaren – dar.44 Die Annahme, Kants Kritik am Analogiedenken beziehe bereits das Unsichtbare der animalischen Organisation mit in die Paradigmen der Naturgeschichte ein und ermögliche damit den Gedanken einer verborgenen Evolution, welche eine Art darwinistischen Paradigmenwechsel einläuten könnte, weist Tanja van Hoorn zurück. Obgleich sie konstatiert, dass Kant neben der Beschreibung eine abstammungsgeschichtliche Dimension berücksichtigt, und damit Buffon näher stehe als Linné, ist er in seinem Denken noch sehr an die Vorstellung der Konstanz gebunden.45 44 A. O., S. 173f. Vesa Oitinnen bestimmt Kants und Linnés Vorbehalte gegen Klassifikationssysteme genauer. Kants Einführung der reflektierenden Urteilskraft in der zweiten Auflage der dritten Kritik als Antwort auf die Unvereinbarkeit von Empirie und systematischem Anspruch des Verstandes sieht Oitinnen als ähnliche Argumentationsstrategie wie Linnés doppelt begründetes Klassifikationssystem an. „Der Gedanke Linnés ist dabei freilich der, daß sich die Kennzeichen, nach denen die Pflanzen nach Klassen und Ordnungen gruppiert werden, auch objektiv in der Natur antreffen lassen, obwohl ihre Identifizierung als wesentliche Merkmale die besondere Leistung des geübten Blicks des Botanikers, eben seine ars, ist.“ Wenngleich diese Parallelisierung nicht unmittelbar überzeugt, so offenbart das Zitat eine Dimension des Streits über die Vorgängigkeit von Prinzipien, die auch Forster im Blick gehabt haben mag: dass etwas a priori gültig, jedoch nicht a priori erkennbar sein mag, sondern dass erst die Deskription des Beobachteten die Momente hervorbringt, an denen die Analyse ansetzen kann. Nach Oitinnens Beschreibung erscheint Linné nahezu als klassischer Strukturalist, die Zulässigkeit einer intuitiven, am Habitus orientierten Methode eher als Zugeständnis an lebensweltliche Pragmatik. Implizit teleologisch verfährt Linnés Klassifikation (so suggeriert Oitinnen), insofern sie die Befruchtungsteile als für das Telos der Pflanze (zu wachsen) repräsentativ auswählt. Vesa Oitinnen, „Linné zwischen Wolff und Kant. Zu einigen Kantischen Motiven in Linnés biologischer Klassifikation“, in: Kants Philosophie der Natur. Ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, hg. v. Ernst-Otto Onnasch, Berlin/New York, 2009, S. 51-77, S. 61, S. 70-73, S. 75f., Zitat: S. 73. 45 „Hier sei darauf hingewiesen, daß Kant selbstverständlich nicht wie neunzig Jahre später Darwin die Auffassung vertritt, daß Arten im Prozeß einer nach den Prinzipien der Mutation und Selektion funktionierenden Evolution entstanden seien. Vielmehr geht er, wie zeitgenössisch üblich, von einer Konstanz der Arten aus: ‚Denn in die Zeugungskraft muß nichts dem Tiere Fremdes hinein kommen können, was vermögend wäre, das Geschöpf nach und nach von seiner ursprünglichen und wesentlichen Bestimmung zu entfernen, und wahre Ausartungen hervorzubringen, die sich perpetuierten.‘“ Tanja van Hoorn, Dem Leibe abgelesen. Georg Forster im Kontext der physischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts, Tübingen, 2004 [Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung
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Dennoch bleibt widersprüchlich, wie Kant die Analogie zum Ordnungsprinzip seiner Naturgeschichte erheben kann, wenn er erkennt, dass ihr Bezug auf das rein Äußerliche zu kurz greift, ja zu Fehldeutungen führen kann.46 Selbst dann gilt dies noch, wenn man davon ausgeht, das Analogieprinzip beziehe sich auf Wirkungsgesetze innerhalb der Natur. In der Teleologie-Schrift findet sich ein ganzer Passus, der sich mit sog. „Grundkräften“ auseinandersetzt. Dabei wird das schwierige Verhältnis deutlich, in dem jene Grundkräfte nur als Wirkung sichtbar werden.47 Während Kant wiederum diese Naturbeschreibung als besonders wissenschaftlich ausweist, bestimmt er die Naturgeschichte als ihr gegenüber defizitär: „[…], wenn die eine (die Naturbeschreibung) als Wissenschaft in der ganzen Pracht eines großen Systems erscheint, die andere (die Naturgeschichte) nur Bruchstücke, oder wankende Hypothesen aufzeigen kann.“48 Die Naturbeschreibung stellt sich demnach als das anspruchsvollere Unterfangen heraus. Dabei wäre es jedoch irreführend zu glauben, die Naturbeschreibung unterscheide sich von der Naturgeschichte aufgrund ihrer Systematik. Beiden kommt eine systematische Forderung zu. Während die Definition der Naturgeschichte die Frage ihrer spezifisch historischen Qualität49 zunächst nur unzureichend beantwortet, bleiben die Prinzipien der Naturbeschreibung in ihrer Wissenschaftlichkeit (recht) vage. Im früheren Aufsatz „Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace“ ist die Differenz eindeutiger formuliert:
23], S. 103, Zitat s. FN; van Hoorn zitiert Kants „Von den verschiedenen Racen der Menschen“ (s. Lit.-Verz.). Vgl. ferner dazu van Hoorn, a. O., S. 119 sowie S. 116f., wo die Autorin feststellt, dass es Kant in seiner „Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace“ darum gehe, „[…] den Begriff einer Menschenrasse [zu] deduzieren.“ 46 Der Vermutung von „inneren Kräften“ steht Kant nicht nur hier skeptisch gegenüber; vgl. Kant, Über den Gebrauch, a. O., S. 180f., FN. Der einzige innere Vorgang, der in seiner Auseinandersetzung mit den Menschenrassen thematisiert wird, bezieht sich auf die rassisch differente Verwertung des Phlogistons, die für Kant für die spezifischen Hautfarben ursächlich ist. Vgl. a. O., S. 169f.; s. a. Immanuel Kant, Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace, in: KAA VIII, S. 89-106, S. 102-104 (Anm.). Die Phlogiston-Theorie war aber bei Erscheinen der Teleologie-Schrift (1788) bereits seit drei Jahren von Lavoisier widerlegt. 47 Vgl. dazu Kant, Über den Gebrauch, a. O., die FN zur Einbildungskraft auf S. 180f. Was mit Linné als Naturgeschichte exemplarisch wird, führt im Verlauf der Geschichte der Naturgeschichte über die von Linné entworfene Systematik zu dem, was man heute eher Naturbeschreibung nennen würde. 48 A. O., S. 162. 49 Vgl. Foucault, Die Ordnung der Dinge, a. O., S. 169f.
160 │S UBTEXTE DER M ENSCHHEITSGESCHICHTE „Art und Gattung sind in der Naturgeschichte (in der es nur um die Erzeugung und den Abstamm zu thun ist) an sich nicht unterschieden. In der Naturbeschreibung, da es bloß auf die Vergleichung der Merkmale ankommt, findet dieser Unterschied allein statt. Was hier Art heißt, muß dort öfter nur Race genannt werden.“50
Anhand des Zitats wird deutlich, worin der Unterschied zwischen Geschichte und Beschreibung – seinem heutigen Verständnis vergleichbar – besteht. Tatsächlich geht es hier um die Differenz einer Erzählung, die diachron entfaltet, wie etwas im Verlauf der Zeit zustande kam, und einer Beschreibung, die Merkmale in der Gegenwart benennt, auf welche man (zum Zweck der Klassifikation) zurückgreifen können muss, ohne eine Geschichte erzählen zu dürfen.51 In diesen Überlegungen zur Differenz dieser beiden Fächer findet sich jedoch kein explizites Plädoyer, das eine dem anderen vorzuziehen. Während die Naturbeschreibung wissenschaftlicher zu sein scheint, stellt sich das naturgeschichtliche Verfahren als praktikabler heraus und kann bereits einige Erkenntnisse verbuchen. Die Wissenschaft der Naturbeschreibung ist schwer zu verwirklichen, wohingegen die Naturgeschichte kritisch zu untersuchen wäre: Es geht um die Bedingungen ihrer Möglichkeit und um ihre Grenzen. Als Erweiterung des Erkenntnispotentials stellt der Text bereits die sorgsame Scheidung beider Felder in Aussicht, ihre Überschneidung wird dementsprechend als Quelle von Irrtum und Unheil gewertet. 4.3 Sprachphilosophisches Problem – „Historia“ Obgleich die sorgsame Differenzierung der Felder und dazugehöriger epistemischer Praktiken gefordert wird, stellt sich letztlich heraus, dass es sich in Bezug auf das Problem der Differenzierung um ein sprachliches, eigentlich sogar um ein sprachphilosophisches, Problem handelt. Recht weitsichtig äußert sich der Text mit Blick auf die definitorischen Grundlagen eines historiographischen Diskurses. „Die größte Schwierigkeit bei dieser vermeintlichen Neuerung liegt blos im Namen. Das Wort Geschichte in der Bedeutung, da es einerlei mit dem griechischen Historia (Erzählung, Beschreibung) ausdrückt, ist schon zu sehr und zu lange im Gebrauche, als daß man sich leicht gefallen lassen sollte, ihm eine andere Bedeutung, welche die Naturforschung des Ursprungs bezeichnen kann, zuzugestehen; […].“52
50 Kant, Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace, a. O., S. 100, in der FN. Hervorhebungen von mir einheitlich kursiviert. 51 Ich verstehe Kant jedoch nicht so, dass er die diachrone Ebene für die Naturbeschreibung prinzipiell ausschließt. 52 Kant, Über den Gebrauch, a. O., S. 162f.
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Das traditionalistische Argument überzeugt an dieser Stelle wenig und wird im Text folgerichtig durch eine kontrastierende Fußnote aufgehoben, die adäquatere Begrifflichkeiten in Vorschlag bringt. Die abzusichernde Differenz wird über einen „anpassenden technischen Ausdruck“ gekennzeichnet: Kant schlägt „[…] für die Naturbeschreibung das Wort Physiographie, für Naturgeschichte aber Physiogonie […]“53 vor. Merkwürdig ist, dass die Kategorien von Beschreiben und Erzählen wiederholt vertauscht erscheinen. Die Naturbeschreibung erhält das zweideutige Suffix –graphie, das zwar eine Übersetzung in einen vermeintlich eindeutigen Fachterminus darstellt, die Differenz von Erzählen und Beschreiben jedoch ähnlich wie die Historiographie wiederum in sich einschließt.54 Die neuartige Begrifflichkeit eignet sich jedoch immer noch nicht dazu, die Naturgeschichte (von der Naturbeschreibung) abzulösen. „Zunächst einmal ist die Naturgeschichte eine Technik der Beschreibung, später vor allem Systematik und Logik – […]. Die Darstellung der Naturdinge soll weniger deren inneren Zusammenhang widerspiegeln als uns deren Rekapitulation erleichtern. Daher ist die Sprachtheorie für die Naturgeschichte so bedeutsam – der Gebrauch von Worten, die es uns gestatten, unsere Gedanken abgekürzt darzustellen […].“55
Aus sprachkritischer Perspektive führt Kants Einwand bezüglich der Ambivalenz des „Historia“-Begriffs jedoch nicht zur Indifferenz oder zum Zweifel an der Möglichkeit sprachlicher Repräsentation überhaupt. Im Gegenteil sind Wortschöpfungen offenbar geeignet, zur topologischen Reorganisation von Wissensfeldern, damit quasi intuitiv zu neuen Erkenntnissen zu führen. Die sprachliche Indifferenz lässt sich nicht auf die Dinge übertragen, ebenso wie sie durch vernünftige begriffliche Differenzierungsarbeit aus der Welt zu schaffen ist. „Doch die Sprachschwierigkeit im Unterscheiden kann den Unterschied der Sachen nicht aufheben.“56 Dass die Doppeldeutigkeit des „Historia“-Begriffs konstatiert wird, führt nicht dazu, den potentiell authentischen Charakter von Geschichtlichkeit überhaupt zu hinterfragen. So liegt weder im Blickfeld, dass die narrative Verfasstheit der Geschichte als Kollektivsingular den Anspruch ihrer Wahrhaftigkeit – als Übereinstimmung mit etwas, das längst vergangen ist – beständig ver-
53 Zitate: a. O., S. 163. 54 Tatsächlich orientiert Kant sich hier stärker an der Bedeutung von –gonie, sodass Physiogonie als parallele Wortschöpfung zu Kosmogonie anzusehen wäre, während der Begriff der Physiographie stärker an die Bedeutung von Geographie gebunden scheint. 55 Wolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main, 1978, S. 36. 56 Kant, Über den Gebrauch, a. O., S. 163.
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schiebt57, noch wird fruchtbar gemacht, dass die Übergänge zwischen Beschreiben und Erzählen lediglich gradueller Natur sind, und vielmehr eine ideologische Differenz poetologischer sowie epistemischer Art markieren.58 Ein sprachlicher Irrtum wird auch als ursächlich für die Uneinigkeit in puncto Rassebegriff angeführt.59 Begriffliche Differenzierung leistet hier jedoch meines Erachtens keiner Aufklärung des Verhältnisses, sondern vielmehr dem Wiedereintritt des metahistoriographischen Grundkonflikts Vorschub. 4.4 Paradoxie des Simplizitätsprinzips und Fall-Beispiel Ähnlich kompliziert verhält es sich mit Kants Einführung des Simplizitätsprinzips als epistemischer Heuristik. In der Auseinandersetzung mit Forsters Interpretation der rassischen – genauer farblichen – Differenzen der Menschen stellt Kant sich seinem Selbstverständnis entsprechend als jemand dar, der einfache Erklärungen sucht. Wie etwa Tanja van Hoorn gezeigt hat, bezieht er sich mit diesem Anspruch auf Newton.60 Dementsprechend beharrt Kant auf der These eines einheitlichen Ur57 Vgl. den Artikel: Geschichte, Historie, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. v. Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck, Bd. 2, Stuttgart, 1992, S. 593-717; bes. Reinhart Koselleck, Die Herausbildung des modernen Geschichtsbegriffs, a. O., S. 647-691, S. 647-658. Es wäre zu klären, ob Forster diese Verschmelzung von Erzählung und Beschreibung trotz des prinzipiellen Vorzugs der Beschreibung konstatiert. 58 Es könnte sich als fruchtbar erweisen, mit Lukács nach der Funktionalisierung von Erzählung und Beschreibung zu fragen. „Es kommt darauf an, wie und warum aus dem Beschreiben, das ursprünglich eines der vielen Mittel der epischen Gestaltung und zweifellos ein untergeordnetes Mittel war, das entscheidende Prinzip der Komposition wurde.“ Georg Lukács, „Erzählen oder Beschreiben? Zur Diskussion über Naturalismus und Formalismus [1948]“, in: Begriffsbestimmung des literarischen Realismus, hg. v. Richard Brinkmann, Darmstadt, 1969, S. 33-85, S. 40. 59 Im Grunde geht es um die durchgängige Unterschiedenheit zweier Wissensfelder, die offensichtlich divergente Gegenstände betreffen, von denen einige definitorisch im einen Feld existieren, im anderen aber nicht. Aufgrund der fundamentalen Differenz der Felder ist es sogar möglich, dass die Sprache eine Bedeutungsverschiebung erfährt. Derselbe Begriff kann in den jeweils unterschiedenen Bereichen mehrere Bedeutungen einnehmen. Vgl. dazu Kant, Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace, a. O., S. 100, wo es heißt, dass die Differenz von Art und Gattung nicht auf die Naturgeschichte zutrifft, aber für die Naturbeschreibung Relevanz besitzt. 60 „Implizit beruft Kant sich an dieser Stelle seiner Argumentation auf die von Newton aufgestellte und für die Entwicklung des neuzeitlichen Wissenschaftsverständnisses zentrale Regel, ‚daß man bey Ereignissen der Natur nicht mehrere Ursachen anführen müsse, als
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sprungs des Menschengeschlechts, in dem alle Anlagen zu späteren Rassen angelegt sein müssen. An dieser Stelle weise ich jedoch darauf hin, dass das Prinzip dieser nahezu physikalischen Simplizität nicht mehr als eine Fiktion darstellt. Während die Gültigkeit dieses Prinzips in Bezug auf Kants Annahme eines monogenetischen Ursprungs zuzubilligen wäre, wird es unter (temporaler) gegenwärtiger sowie zukünftiger Perspektive durchbrochen. Der Argumentation des Textes folgend, offenbart sich der paradoxe Charakter des Simplizitätsprinzips für die Theorie. Die Ansiedlung in unterschiedlichen Klimaten realisiert gerade diejenigen Anlagen, die besonders für das jeweilige Klima taugen: Diese Anlagen arten an. Obwohl die vernachlässigten Anlagen im Zuge dieser Anartung nicht verschwinden, stellt sich eine Revision der ersten Anlagen etwa infolge einer weiteren Verpflanzung als fast schon unnatürlicher Vorgang dar: Sie ist Degenerationsmerkmal und ergibt sich oft nur über widrige Umstände wie gewaltsame Vertreibung. Was also zu Beginn menschlicher Ansiedlung als ganz natürliches Phänomen erscheint, stellt sich in der fortlaufenden Geschichte der Menschheit als Un-Fall heraus (das ist ja auch einer der Punkte, den Forster kritisiert).61 Die Erwägung einer (zweiten) Verpflanzung fördert zudem einen nach heutigem Verständnis rassistischen Ton zutage. 4.4.1 Der Fall – Belegstrategien In diesem Zusammenhang wird augenfällig, inwiefern die „[…] Idee, die ganz natürlich aus der Theorie folgt“, und welche dezidiert nicht über ‚Facti‘ erklärt oder bewiesen werden soll62, über Reisebeschreibung, ethnologischen Bericht oder anatomische Betrachtung letztlich doch belegt wird. Die verschleiernde argumentative Bewegung ist eine der mehrfachen Distanzierung. Aus epistemischer Perspektive distanziert der Text sich von empirischen Fakten generell, d. h., er stellt in Frage, ob ein Beweis überhaupt aus der Erfahrung heraus zu führen ist. Ferner zweifelt er deren Beweiskraft an, insofern sie selbst unter der Annahme grundsätzlicher epistemischer Geltung immer noch verfälscht sein können. Diese Distanzierung wird kompositionell über das mehrfach gebrochene Zitat geleistet, das nicht im Haupttext expositioniert, sondern durch seine Verschiebung in die Fußnote scheinbar marginalisiert wird. Innerhalb der Fußnote selbst wird der Eindruck der Nachvollziehbarkeit über die exakte Quellenangabe erzeugt. Sogar die politische bzw. zur Erklärung ihrer Erscheinungen hinlänglich sind‘.“ Van Hoorn, Dem Leibe abgelesen, a. O., S. 101. Die Autorin bezieht sich hier auf Blumenbach, der sich diesen kantischen Anspruch zum Leitfaden nehmen wollte. 61 Georg Forster, Noch etwas über die Menschenraßen, in: FAA VIII: Kleine Schriften zu Philosophie und Zeitgeschichte, bearb. v. Siegfried Scheibe, Berlin, ²1991, S. 130-157, S. 150. 62 Kant, Über den Gebrauch, a. O., S. 178, in der FN.
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gesellschaftspragmatische Kontextualisierung der Quelle wird eingelöst. Vom Autor der zitierten Äußerungen erfahren wir jedoch nicht einmal den Namen. Er bleibt vollkommen anonym, während seine Sachkundigkeit und seine Kompetenz, sich zum Thema äußern zu dürfen, nicht zur Debatte stehen. „Die letztere Bemerkung wird hier nicht als beweisend angeführt, ist aber doch nicht unerheblich. In Hrn. Sprengels Beiträgen, 5tem Theile, S. 287-292, führt ein sachkundiger Mann gegen Ramsays Wunsch, alle Negersklaven als freie Arbeiter zu brauchen, an: daß unter den vielen tausend freigelassenen Negern, die man in Amerika und in England antrifft, er kein Beispiel kenne, daß irgend einer ein Geschäfte treibe, was man eigentlich Arbeit nennen kann, vielmehr daß sie ein leichtes Handwerk, welches sie vormals als Sklaven zu treiben gezwungen waren, alsbald aufgeben, wenn sie in Freiheit kommen, um dafür Höker, elende Gastwirthe, Livereibediente, auf den Fischzug oder Jagd Ausgehende, mit einem Worte Umtreiber zu werden. Eben das findet man auch an den Zigeunern unter uns. Derselbe Verfasser bemerkt hiebei: daß nicht etwa das nordliche Klima sie zur Arbeit ungeneigt mache; denn sie halten, wenn sie hinter dem Wagen ihrer Herrschaften, oder in den ärgsten Winternächten in den kalten Eingängen der Theater (in England) warten müssen, doch lieber aus, als Dreschen, Graben, Lasten tragen u. s. w. Sollte man hieraus nicht schließen: daß es außer dem Vermögen zu arbeiten noch einen unmittelbaren, von aller Anlockung unabhängigen Trieb zur Thätigkeit (vornehmlich der anhaltenden, die man Emsigkeit nennt) gebe, der mit gewissen Naturanlagen besonders verwebt ist, und daß Indier sowohl als Neger nicht mehr von diesem Antriebe in andere Klimaten mitbringen und vererben, als sie für ihre Erhaltung in ihrem alten Mutterlande bedurften und von der Natur empfangen hatten, und daß diese innere Anlage eben so wenig erlösche, als die äußerlich sichtbare. Die weit mindern Bedürfnisse aber in jenen Ländern und die wenige Mühe, die es erfordert, sich auch nur diese zu verschaffen, erfordern keine größern Anlagen zur Thätigkeit.“63
In dieser Fußnote wird eine klimatisch bedingte Arbeitsanthropologie expliziert, deren klimatische Rechtfertigung sich jedoch über die Einführung einer arbeitsethischen Komponente, den „von aller Anlockung unabhängigen Trieb zur Thätigkeit“64, selbst widerspricht und damit auflöst. Diese These der Untauglichkeit einiger Menschenrassen zu ernsthafter Arbeit wird wiederum durch das argumentative Farbenspiel im zweiten Teil der Fußnote gebrochen. Dem Themenwechsel korrespondiert der Wechsel der Quelle, deren Autor in diesem Fall mit Namen benannt wird. Das Tertium Comparationis dieser beiden Zitate gibt anscheinend das Klima ab: als Faktor, der die Arbeitsmoral und die Hautfarbe der Menschen beeinflusst – und dies wiederum eigentlich nicht bewirkt.
63 A. O., S. 174f., in der FN. 64 Ebd.
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Warum Kant diese prekären Äußerungen zur Arbeitsethik – nicht allein aus faktischen Gründen – einem Anonymus in den Mund legen muss, während die Äußerungen über das Farbenspiel einem Autor zurechenbar sind, bleibt an dieser Stelle lediglich zu vermuten. In verborgener Sensibilität gegenüber humanistisch fragwürdigen Äußerungen ist die Begründung keinesfalls zu suchen, sondern sie liegt meines Erachtens in der eingangs in Verbindung mit Linné zitierten Gefahr der Übertragung äußerlicher Merkmale auf innere unsichtbare Kräfte. Die Hautfarbe der Menschen ist äußerlich sichtbar, weshalb nach ihrer Ursache, ihrem Zustandekommen, gefragt werden darf. Vom äußerlich sichtbaren Merkmal jedoch auf den in jedem Menschen angelegten Trieb zur „Emsigkeit“ zu schließen, scheint unzulässig, weshalb in diesem Fall allgemeingültige empirische Beobachtbarkeit postuliert wird. So wie der Anonymus könnte jeder noch so laienhafte Ethnologe die fehlende Arbeitsmoral beobachten. Kant versucht, die durch ihn eingeführte, auf dem Simplizitätsprinzip beruhende These der monogenetischen Abstammung über die Beobachtungen der Reisebeschreiber zu belegen, obgleich er betont, dass er mit deren Hilfe nichts zu beweisen suche.65 Die Fähigkeit zu spezifischer Arbeit artet also sozusagen auch nur einmal an. In einem Gedankenexperiment formuliert Kant die Geschichte der farblichen Besiedlung Amerikas als Beleg seiner These der ersten als angemessener und der zweiten als degenerierender klimatischer Anartung. Dabei dient „Don Ulloa“ ihm als „ein vorzüglich wichtiger Zeuge, der die Einwohner von Amerika in beiden Hemisphären kannte“66, um seine Herkunftsgeschichte von Seiten der Empirie plastisch werden zu lassen. Diese Herkunftsgeschichte formuliert sich hingegen als eine der verhinderten oder verschobenen Herkunft: die Herkunft selbst wird durch die revolutionäre Natur verhindert. Es kommt gar nicht bis zur ersten Anartung an ein Klima, damit auch eigentlich nicht zur rassischen bzw. völkischen Bestimmung des Menschenschlags. Bei näherer Betrachtung dieses Entwurfs einer unfreiwilligen Völkerwanderung wird deutlich, dass die Verschiebungsmechanismen als blinder Fleck oder Schattenseite eines nicht geführten Kolonialisierungsdiskurses lesbar sind.67 65 Tatsächlich kann Forster ihm keine Autoritätsgläubigkeit in Bezug auf den biblischen Ursprung unterstellen, da jener sich auf fremde Beobachtungen komplexer „Naturrevolutionen“ bezieht. A. O., S. 174f., vgl. S. 178. 66 A. O., S. 175. 67 Vgl. a. O., S. 175-178. Tatsächlich bleibt recht dunkel, zu welcher Zeit Kant die Besiedlung Amerikas ansetzt, und über welche Wege eine revolutionär begründete Völkerwanderung erfolgt sein könnte. Völlig unbestimmt bleibt ferner, ob die von der Natur Vertriebenen bereits amerikanische Bewohner antreffen, und von wo sie eigentlich kommen. Die „alte[ ] Welt“ erweist sich als recht umfassende Herkunftsangabe, ebenso wie die Richtung ihrer Vertreibung in nordöstliche Richtung („nordostwärts“). Auffällig ist, dass
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4.5 Nachträgliche Diskurs-Begründung? Kants Text schreibt sich in den Diskurs der Reisebeschreibung ein. Er ahmt bestimmte Argumentationsmuster nach und nimmt ganz selbstverständlich an bereits bestehenden Diskussionen der Reisebeschreibungen teil.68 Nicht allein über das gelehrte Zitat kennzeichnet Kant seine Fähigkeiten in Bezug auf die Gepflogenheiten des Diskurses. Im Zuge des Differenzierungsversuchs von Naturbeschreibung und Naturgeschichte schlägt er sogar neuartige Begrifflichkeiten vor, denen er definitorische Klarheit zuschreibt. Durch die Übertragung der Begriffe in die Fremd- bzw. Fachsprache erzeugt er den Anschein einer disziplinären – naturwissenschaftlichen – Sprechweise. Genauer gesagt, geschieht dies über eine Art lexikographisches Verfahren, das die Grundsteine einer zu initiierenden Wissenschaftlichkeit erst legen soll.69 Am meisten Energie verwendet der Text tatsächlich auf die Klärung farblicher Verhältnisse, auf die Frage der Vermischung bzw. der sonstigen Ausdifferenzierung der Rassen.70 Kant positioniert sich hier als Schiedsrichter zwischen Forster und seinen vermeintlichen Gegnern, indem er versucht, Forster anhand anderer Quellen zu widerlegen. Anzunehmen, Kants Text beziehe hier nur innerhalb eines Fordie Frage nach den Besiedlungswegen der Vorzeit offensichtlich gar nicht mit den zeitgenössischen, empirisch möglichen Beobachtungen zur Kolonialgeschichte in Verbindung gebracht wird. Wie die „alte[ ] Welt“ in Amerika kolonialisiert bzw. kolonialisiert wird, bleibt hier vollkommen außer Acht. Berücksichtigte man diesen zeitgenössischen Bezugspunkt, würde recht schnell deutlich, dass die als Naturrevolutionen begriffenen Wanderungsbewegungen einen Euphemismus der kolonialen Praxis der Moderne darstellen. 68 Auch Forster zitiert im Zuge seiner Abgrenzung und Positionierung andere Reisen und Reisebeschreibungen; nicht zuletzt, um den Verlauf seiner eigenen Reise anhand der durch seine Vorgänger initiierten Namensgebungen überhaupt erst bezeichnen zu können. Die geographische Positionierung und die Möglichkeit neuer Entdeckungen sind auf diese Vorgänger angewiesen. 69 In seinen Ausführungen zum Rassebegriff nutzt der Text Spezialbegriffe, die zwar auf Deutsch benannt werden, in Klammern jedoch ein lateinisches Pendant erhalten. Dieses lexikographische Verfahren der doppelten Nennung dient dem Anschein der Wissenschaftlichkeit – genau genommen eigentlich erst der Einführung der Begriffe als wissenschaftlichem Vokabular. Die klassifikatorische Einteilung wird in Form eines Lehrtextes protosystematisch zusammengefasst, so als wolle man den definitorischen Ausgangspunkt einer zu führenden Diskussion überhaupt erst setzen. A. O., S. 163f. 70 Jene Diskussion wird bei Forster bereits ausgeführt – er sieht sich einigen Gegenstimmen ausgesetzt. Zur „Farbenleiter der Haut“, a. O., S. 170.
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schungsfeldes Stellung, indem er dessen Sprache spricht, scheint mir zu kurz zu greifen. Lediglich die Sprechweise, der sprachliche Gestus sind reproduzierbar, denn die Gemeinsamkeit der anderen Diskussionspartner fehlt ihm: die Augenzeugenschaft (handle es sich um die des Reisenden oder um die des Anatomen). Kant bedarf der empirisch orientierten Beschreibung, um deren Deutung selbst anhand eines theoretischen Leitfadens zu widerlegen. Nach Häuser ist die Frage danach, wer in dieser Kontroverse über Mono- oder Polygenese letztlich Recht behalten habe, zweitrangig. „War für die damalige Zeit das Problem der Rasseneinteilung von großer Bedeutung, so finden wir heute in der wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzung den für uns wesentlichen Anhaltspunkt.“71 Anknüpfend an Häuser möchte ich betonen, dass die methodische Diskussion weniger durch den Gegensatz von Empirie und Theorie bestimmt wird, sondern dass beide Autoren sich mit beiden Seiten des Erkenntnisprozesses auseinandersetzen. Während Forster die gegenseitige Abhängigkeit von Theorie und Erfahrung sowie das darin beschlossene Konfliktpotential deutlich ausspricht72, unterläuft Kant in weiten Teilen das explosive Potential dieser Grundsatzfrage. Rhetorisch wenig einfallsreich nutzt dieses Ausweichmanöver die Taktik, Forster fälschlicherweise eine gewisse Naivität zu unterstellen. Raffinierter ist jedoch der Schachzug, seine Theorie aus diesem der Gattung Reisebeschreibung inhärenten Konfliktpotential empirisch zu belegen.73 Warum findet die Diskussion über den „Begriff der Menschenrace“ in der Schrift zur Teleologie wiederum ihren Anlass? Sie kommt dabei nicht marginal zur Sprache, sondern erfährt trotz aller Exkurse und Rahmungen die ausführlichste Darstellung im gesamten Text.74 Obgleich sich über die philologische Kontextuali71 Richard G. Häuser, „Georg Forsters Auseinandersetzung mit Immanuel Kant. Eine Kontroverse des 18. Jahrhunderts“, in: Mainzer Zeitschrift, 83 (1988), S. 145-153, S. 146. 72 Vgl. dazu vor allem seine Abrechnung mit den Philosophen. Forster, Reise, in: FAA II, S. 12-14. Dazu gehören auch Überlegungen zu „Styl“ und „Sprache“. Vgl. dazu ferner van Hoorn, Dem Leibe abgelesen, a. O., S. 111 (FN). 73 Dabei knüpft er sowohl an zeitgenössische naturgeschichtliche Diskussionen an als auch an eine bereits einige Zeit schwelende Auseinandersetzung mit Forster selbst. Laut van Hoorn schwächt sich Kants theoretische Hartnäckigkeit in der Folge verschiedener Aufsätze zum Thema des Rassebegriffs ab: So wagt er es in der Schrift von 1785 nicht mehr, die „Stammgattung“ des Menschengeschlechts anzugeben. Siehe van Hoorn, a. O., S. 110 (FN 102): „So geht Kant beispielsweise nur in dem 1775 erschienenen Aufsatz davon aus, daß die ‚Stammgattung‘ der Menschen weiß gewesen sei, 1785 vertritt er demgegenüber explizit die Auffassung, daß man über die Farbe der ursprünglichen Menschen nichts wissen könne.“ Dass die Auseinandersetzung mit Forster Kant zum Einlenken bewogen hat, wie Hoorn mit Häuser festhält, bezweifle ich. 74 Siehe Kant, Über den Gebrauch, a. O., S. 163-178; 18 zu 30 Seiten.
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sierung besser nachvollziehen lässt, weshalb das Thema als solches wieder auftaucht, ist nicht ohne Weiteres nachvollziehbar, dass es innerhalb der Teleologie abgehandelt wird (es könnte auch um andere Naturphänomene gehen).75 Ob Kant eine entwicklungsgeschichtliche Perspektive entfaltet, wenn er nach dem monogenetischen Ursprung der Rassen fragt, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Als entwicklungsgeschichtlich relevant beurteilt Tanja van Hoorn Kants Bezug auf Buffons Speziesdefinition76, Häuser liest die Annahme der Monogenese als Zeichen impliziter rassischer Toleranz.77 4.6 Metaphorische Differenzierungen Wenn im Text von den Mischungsverhältnissen der Hautfarben die Rede ist – z. B. „Eisenrost, mit Öl vermischt“78 –, von den Ergebnissen von „Vermischung“79 und „Zusammenschmelzung“80 der Rassen, von den physiologischen und wesenhaften Ergebnissen von Kreuzungen also, von „Einpfropfungen“81 sowie „Verpflanzung“, und mit der Diskussion der angemessenen klimatischen und geographischen Lebensumstände gewissermaßen auch von artgerechtem Anbau82, dann wird sehr offensichtlich, wie Strukturmerkmale und Redeweisen des naturgeschichtlichen (beschreibenden) Diskurses imitiert werden. In seinem Text ruft Kant eher die Metaphorik von Gartenbau und Pflanzenkunde als der Zoologie auf. „Ich meinerseits leite alle Organisation von organischen Wesen (durch Zeugung) ab und spätere Formen (dieser Art Naturdinge) nach Gesetzen der allmähligen Entwickelung von ur-
75 Wenn es im Rahmen einer Naturgeschichte um die Aufdeckung teleologischer Verhältnisse innerhalb der Natur geht, dann könnte Kant ebenso gut Vererbungsverhältnisse in der Pflanzen- und Tierwelt fokussieren, denn beim Menschen als moralischem Wesen liegt hier dezidiert weniger das Interesse. 76 „Kant baut in seiner Skizze zum Problem der Menschenrassen auf die Überlegungen Buffons auf. Wie Buffon vertritt Kant die Monogenese, versucht im Unterschied zu diesem aber, Vielfalt und Einheit des Menschengeschlechts nicht unter Rekurs auf die Klimatheorie zusammenzuführen, sondern sie entwicklungsgeschichtlich aus Buffons Speziesdefinition abzuleiten.“ Van Hoorn, Dem Leibe abgelesen, a. O., S. 100f. 77 Häuser, Forsters Auseinandersetzung mit Kant, a. O., S. 148. 78 Kant, Über den Gebrauch, a. O., S. 175. 79 A. O., S. 171. 80 A. O., S. 166. 81 A. O., S. 176. 82 Verpflanzung: a. O., S. 172f., Anbau: S. 173f.
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sprünglichen Anlagen (dergleichen sich bei den Verpflanzungen der Gewächse häufig antreffen lassen), die in der Organisation ihres Stammes anzutreffen waren.“83
Offenbar stellen die Vorgänge in der Pflanzenwelt das Paradigma der menschlichen Entwicklung zur Verfügung. Mit den Beschreibungen von „Anartung“, „halbschlächtige[r] Zeugung“ und „Mittelschlag“ wird zwar auch das zoologische Fach begrifflich bedient.84 Dieses Vokabular funktioniert hier hingegen mehr im Sinne technischer Termini. Werden jedoch die Metaphern aus der Pflanzenwelt funktionalisiert, scheint es einerseits eher um „Revolutionen“ in der Natur zu gehen: um die Kreation von Neuem, nie Dagewesenem sowie um die Verpflanzung in andere (Muttererde) Weltteile. Andererseits bleibt im Zusammenhang mit der behaupteten Beharrlichkeit der einmal angearteten Rassen die Beschreibung ihrer Merkmale nahezu statisch. Im menschlichen Bereich stellt die Verpflanzung eine Katastrophe dar, der Mensch als Pflanze hat offensichtlich stärkere Wurzeln als die vegetabile Welt. Bezogen auf die Klassifizierung der Menschenrassen bedeutet das, dass sie dem Beschreibungsmodell Linnés näher steht, als von der Programmatik des Textes selbst erwünscht – und wie in Bezug auf die Arbeitsmoral zu sehen war, schiebt Kant den Schluss auf die innere Anlage zur „Emsigkeit“ einem anderen Zeugen zu. Die Perspektive der Entwicklung führt nur in eine Richtung, in die Vergangenheit. Die Monogenese ist keine Frage der Genese, sondern des Ursprungs. Im Umgang mit den Beobachtungen und Erkenntnissen der Reisebeschreibung äußert sich ein implizites Mobilitätsverdikt. Stillstand gehört jedoch eigentlich nicht den Merkmalen teleologischen Denkens an. Die Frage nach zukünftigen Forschungsreisen und Wanderungsbewegungen wird kaum gestellt – als Chiffre dieser Leerstelle steht die Metapher der menschlichen Pflanze ein. Wie könnte diese Frage unter teleologischer Perspektive überhaupt fruchtbar gemacht werden?
83 A. O., S. 179. 84 A. O., S. 167, S. 170, S. 171. Insofern die animalische Seite des Menschen fokussiert wird, vgl. a. O., S. 163. Dass Linné hier in der Fußnote in definitorischer Absicht Erwähnung findet, könnte man als Verdrängung auffassen, da seine Beschreibungen der Pflanzenwelt vor der Folie der „Physiographie“ offensichtlich nicht ohne Weiteres aus der genetischen Betrachtung des Menschengeschlechts ausgegrenzt werden können. Sein Klassifikationssystem hat Linné später auch auf Tiere übertragen, das sei hier am Rande erwähnt. Es versteht sich von selbst, dass man dieses Klassifikationssystem nur recht allgemein auf Kants Modi der Beschreibung übertragen kann. Vgl. die Fußnote zu Linné, bezügl. Klassifikationsbestrebungen: a. O., S. 163f.
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5. K UNSTORDNUNG UND G ESCHMACKSANTHROPOLOGIE . ATTRIBUTIVE V ERFAHREN Unter Berücksichtigung einiger Passagen aus der „Kritik der Urtheilskraft“ (erste Auflage 1790) und Kants früher Schrift „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ (1764) gilt es ein Panorama zu entfalten, das sowohl Kants umfassender Geschmacksästhetik als auch seinen näheren Betrachtungen zur Ordnung der Kunst gerecht wird. Während es mit Blick auf die dritte Kritik um die Herausarbeitung einiger theoretischer, präziser, poetischer Grundlagen geht, führen die „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ das doppelt rekursive Verfahren einer Er- und Beschreibung des Gegenstandes selbst vor – die Poetik von Reihung und Übertragung tritt hier (noch) ganz ungebrochen auf.1 Unstrittig ist, dass Inhalt, Intentionen und Perspektive beider Schriften – nicht allein aufgrund ihrer erheblichen zeitlichen Distanz – auseinandertreten. Mit der Abweichung kündigt sich eine grundlegende Wandlung in Kants Anthropologie an, die sich etwa in der „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ niederschlägt. Stärker drückt sich diese Wandlung jedoch implizit in den Beweisverfahren der späteren Schriften aus. Die Anthropologie wird über Exkurse, Aperçus und Exempel in den Fußnoten gebannt, wo sie ambivalentes Überzeugungspotential entfaltet. Erkenntnistheoretische Fragestellungen gründen in anthropologischen Konstellationen, selbst wenn sie ihren fundierenden Rückbezug bei der Transzendentalphilosophie suchen. Insofern wäre auch im Falle von Kants kritischem Projekt von impliziter Anthropologie zu sprechen. Die Reflexion über das Verhältnis von intellektueller und ästhetischer Erkenntnis wird in der „Kritik der ästhetischen Urtheilskraft“ in Gang gesetzt, wobei das Ästhetische eigentlich aus dem Bereich theoretischer Erkenntnis ausgeschlossen wird. Durch Kants attributives Verfahren in der Erläuterung der Funktionsweise ästhetischer Attribute offenbart sich performativ deren rhetorische Kraft: Kompositorisch firmiert das Attributive als zentrales Element der Argumentation. Performativ setzen sich alternative zulässige Überzeugungsstrategien durch als auf der dargestellten sachlichen Ebene geduldet werden. Damit führt diese Abweichung auf die Frage der Funktion des Exempels zurück. 1
Eine Beobachtung, die ich mit David E. Wellbery teile. „Kants Schrift hat ein Feld zum Thema, das von solchen differentiellen Zügen durchzogen ist, ja das sich durch die Einzeichnung dieser Differenzen allererst herausbildet; und deren methodologisches Verfahren besteht darin, die innere Organisation dieses Feldes durch Klassifikation, durch ein Netzwerk von Abgrenzungen, ans Licht zu bringen.“ David E. Wellbery, „Der Zug der Sinnlichkeit. Kants ‚Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen‘“, in: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften, 43. Jg., Nr. 1 (1997), S. 36-48, S. 36. Zur Nutzung der Unterscheidung von Schönem und Erhabenem als „Selektionsstile“ vgl. a. O., S. 40-42.
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„Man nennt diejenigen Formen, welche nicht die Darstellung eines gegebenen Begriffs selber ausmachen, sondern nur als Nebenvorstellungen der Einbildungskraft die damit verknüpften Folgen und die Verwandtschaft desselben mit andern ausdrücken, Attribute (ästhetische) eines Gegenstandes, dessen Begriff als Vernunftidee nicht adäquat dargestellt werden kann. So ist der Adler Jupiters mit dem Blitze in den Klauen ein Attribut des mächtigen Himmelskönigs und der Pfau der prächtigen Himmelskönigin. Sie stellen nicht wie die logischen Attribute das, was in unsern Begriffen von der Erhabenheit und Majestät der Schöpfung liegt, sondern etwas anderes vor, was der Einbildungskraft Anlaß giebt, sich über eine Menge von verwandten Vorstellungen zu verbreiten, die mehr denken lassen, als man in einem durch Worte bestimmten Begriff ausdrücken kann; und geben eine ästhetische Idee, die jener Vernunftidee statt logischer Darstellung dient, eigentlich aber um das Gemüth zu beleben, indem sie ihm die Aussicht in ein unabsehliches Feld verwandter Vorstellungen eröffnet. Die schöne Kunst aber thut dieses nicht allein in der Malerei oder Bildhauerkunst (wo der Namen der Attribute gewöhnlich gebraucht wird); sondern die Dichtkunst und Beredsamkeit nehmen den Geist, der ihre Werke belebt, auch lediglich von den ästhetischen Attributen der Gegenstände her, welche den logischen zu Seite gehen und der Einbildungskraft einen Schwung geben, mehr dabei, obzwar auf unentwickelte Art, zu denken, als sich in einem Begriffe, mithin in einem bestimmten Sprachausdrucke zusammenfassen läßt.“2
In diesem Passus zur Funktionserläuterung ästhetischer Attribute liegt schon eine erste Attribuierung mit dem Blitze greifenden Adler bzw. dem – ohne nähere Merkmale ausgestatteten – Pfau vor. Von den verbildlichenden Elementen unabhängig gestaltet sich eine Einführung in das Thema recht mühselig. Die begriffliche Definition des nicht-begrifflichen, dabei in Begriffszusammenhängen dennoch enorm funktionalen Konstrukts reproduziert bereits die paradoxe Operationsstruktur des Attributiven. Einerseits verrät das Attribut mehr als der Begriff, welcher den Gegenstand „als Vernunftidee nicht adäquat“ wiedergibt, da es „Nebenvorstellungen“, eventuelle „Folgen“, „verwandte[ ] Vorstellungen […], die mehr denken lassen, als man in einem durch Worte bestimmten Begriff ausdrücken kann“, aufnimmt. Andererseits scheint diese quantitativ veranschlagte Steigerung qualitative Einbußen mit sich zu führen: „mehr dabei, obzwar auf unentwickelte Art, zu denken, als sich in einem Begriffe, mithin in einem bestimmten Sprachausdrucke zusammenfassen läßt.“ Bei allem Ungenügen dieses Plurals, der einen Mangel anzeigt, überschreitet die attributive Funktion die begriffliche Sphäre auch sprachethisch: Dass es besser sei, unzulänglich als gar nicht mehr zu sprechen, legt der Text performativ in epischer Breite offen.
2
Immanuel Kant, Kritik der Urtheilskraft, in: KAA V, S. 165-485, S. 315 [196].
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Gleich mehrfach ist das Attribut dem Zitat eingeschrieben: Die (für die Selbstreferenzialität der Malerei einstehenden) Vögel3 nehmen vorweg, welchem Darstellungsbereich Kant den Begriff des Attributiven überhaupt entlehnt („Malerei oder Bildhauerkunst“) – die etwas unvermittelten Beispiele mögen sich diesem Konnex schulden –, und markieren einen medialen Transfer, der diesmal nicht vom Begriff ausgehend zur Anschauung, sondern von der Anschauung zum gesprochenen oder geschriebenen Wort führt: An der Wendung ut pictura poiesis kristallisiert sich eine Frage heraus, die Kants Umgang mit den Anschauungen eigentümlich verkehrt. Der „Geist“ formulierter Sprache verdankt sich wiederum den Anschauungen (Intellektualisierung korreliert hier nicht mit Verbalisierung). Geistiger Reichtum mediatisiert sich als Assoziationsprinzip, das zwar diverse, durchaus begriffliche, Aspekte des Gegenstandes entfaltet, sie jedoch nicht in eine fest umrissene sprachliche Ordnung überführt (so kann sich die Einbildungskraft etwas bei den Anschauungen denken). Von dieser assoziativen Struktur rührt auch die Asymmetrie der Beispiele her. Während der Adler ein doppelt attributives Verhältnis anstößt, bleibt der Pfau eigentümlich funktionslos. Der phonetische Kontrast „mächtig[ ]“/ „prächtig[ ]“ kennzeichnet in der Paar-Beziehung der Geschlechter alles andere als minimale Differenzen. Mithin bleibt das Verfahren des Attributiven rhetorisch unentschieden. Ob die Attribute Symbole darstellen, metaphorisch über gemeinsame Schnittmengen einzuholen, wenngleich nicht auflösbar sind, oder ob die iterative Neigung des Attributiven metonymische Züge trägt, lässt der Text – gerade mit dem Zitat des ungleichen Paares von Adler und Pfau – offen. Obwohl Definition, Beispiele und Funktionsstruktur des Attributiven in einem Zuge vorgeführt wurden, schließt der Text weitere, als solche ausgestellte Beispiele für das Attributive an. Obgleich schon erläutert wurde, worin die Merkmale des Attributiven bestehen, bildet die Einforderung von Textökonomie (brevitas) keine Kontraindikation des folgenden Textverfahrens. „Ich muß mich der Kürze wegen nur auf wenige Beispiele einschränken. Wenn der große König sich in einem seiner Gedichte so ausdrückt: ‚Laßt uns aus dem Leben ohne Murren weichen und ohne etwas zu bedauern, indem wir die Welt noch alsdann mit Wohlthaten überhäuft zurücklassen.‘“4
Als ob nähere Erläuterung erfordert würde, fließt in dieses Fremdzitat ein attributives Bild ein, das eindeutig weder als bildspendende Quelle noch als Projektion lesbar ist: 3
Welche im Malerwettstreit um Zeuxis getäuscht werden, vgl. das entsprechende Kapitel zu Herders „Gemälde-Metaphorik?“. Bei Horaz besetzen die Vögel die Stelle einer zu vermeidenden Komposition, vgl. das Kapitel „disiecti membra poëtae“.
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Kant, Kritik der Urtheilskraft, a. O., S. 315 [196].
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„‚So verbreitet die Sonne, nachdem sie ihren Tagesverlauf vollendet hat, noch ein mildes Licht am Himmel; und die letzten Strahlen, die sie in die Lüfte schickt, sind ihre letzten Seufzer für das Wohl der Welt‘: so belebt er seine Vernunftidee von weltbürgerlicher Gesinnung noch am Ende des Lebens durch ein Attribut, welches die Einbildungskraft (in der Erinnerung an alle Annehmlichkeiten eines vollbrachten schönen Sommertages, die uns ein heiterer Abend ins Gemüth ruft) jener Vorstellung beigesellt, und welches eine Menge von Empfindungen und Nebenvorstellungen rege macht, für die sich kein Ausdruck findet. Andererseits kann sogar ein intellectueller Begriff umgekehrt zum Attribut einer Vorstellung der Sinne dienen und so diese letztere durch die Idee des Übersinnlichen beleben; aber nur indem das Ästhetische, was dem Bewusstsein des letztern subjektiv anhänglich ist, hiezu gebraucht wird. So sagt z. B. ein gewisser Dichter in der Beschreibung eines schönen Morgens: ‚Die Sonne quoll hervor, wie Ruh aus Tugend quillt‘.“5
Fast unbemerkt tritt Kants Interpretation dieses ersten, Friedrich II. zugeschriebenen, Gedichts über den Doppelpunkt in den Text ein, und führt die Deutung der attributiven Funktion an diesem Beispiel selbst vor. Dabei birgt die von Kant exponierte „Vernunftidee von weltbürgerlicher Gesinnung“ eine hochgradig intervenierende Lektüre, welche eine rein privatistische Lesart des Gedichts ausschließt. Während die Lichtmetaphorik vorrangig auf ein aufgeklärtes Selbstverständnis hinweist, wirft das angerissene Autorschaftskonzept die Frage nach dem Sonnenuntergang auf. Wie also inszeniert die Aufklärung ihr eigenes Ende? Die heitere Gelassenheit des Aufgeklärten an seinem Lebensabend lässt die künftige Welt in der Gewissheit des zyklischen Wechselspiels von Tag und Nacht ausharren – die milde Abendluft ist insofern doch von der herannahenden Nacht bedroht. Wie privat bleibt das Projekt der Aufklärung tatsächlich und wem gereicht es zur Gemütsgelassenheit? Wenn das Bild des Sonnenuntergangs als Schleier der bevorstehenden Nacht bemüht wird, so ist Kants Identifikation einer Gemütsstimmung mit weltbürgerlicher Gesinnung unglücklich gewählt – und ebenso traumwandlerisch verfährt dann auch die Verkehrung des Attributiven ins Intellektuelle. Dass sich das Verhältnis von intellektuellem Begriff und sinnlicher Vorstellung umkehren ließe – ein sinnliches Bild also weniger plastisch als eine auf den Begriff gebrachte Idee sein könne –, gehört zu den dialektischen Überformungen dieses Gedankenganges. Aber auch hier wird das übersinnliche Moment nur symbolisch (ästhetisch) gefasst oder – in Bildlichkeit – übersetzt: „‚Die Sonne quoll hervor, wie Ruh aus Tugend quillt.‘“ Die Passage des Sonnenaufgangs wird ihrerseits zur Gemütsverfassung hypostasiert. Kants begleitende Deutung dieses zweiten Gedichts von Withof erschöpft sich keineswegs in reiner Interpretation, sondern dichtet den Passus paradigmatisch um. So müsste es eigentlich heißen: „wie Ruhe aus Güte quillt“. Beinahe als Rettung der zuvor für die Aufklärung bemühten und fehlgehen5
A. O., S. 315f. [196-197].
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den doppelten Lichtmetaphorik von Sonnenuntergang und Tagesanbruch tritt diese Umschrift ein. Würde die gütige Gemütsverfassung adressiert, hingen die den Einbruch der Nacht Erduldenden immer noch von einem Gnadenakt ab, der sich ihnen mitteilt – Güte wäre rein passiv vom Herrscher zu empfangen. Stellt sich aber die Aufgabe einer Reorganisation oder Perpetuierung der von der Abenddämmerung erhellten Ordnung, verschiebt sich der Quell der Ruhe in den Kreis der Überlebenden selbst. Dieser Kreis übernimmt den Auftrag, die Aufklärung in sich aufzunehmen, ohne sie weiter gütig zu empfangen. Ein die Allgemeinheit verpflichtendes aufgeklärtes Ideal setzt sich jedoch seinerseits nur in der privaten Moralität des Einzelnen um. So fordert der Text erneut Tugend ein. Die Umschrift sichert also gleichermaßen den Status quo ab wie sie ihn überwindet.6 Um die Attraktivität der Tugend zu verkünden, verwandelt der Text die ruhige Gemütsverfassung in ein allen zugängliches Allgemeingut: „Das Bewußtsein der Tugend, wenn man sich auch nur in Gedanken in die Stelle eines Tugendhaften versetzt, verbreitet im Gemüthe eine Menge erhabener und beruhigender Gefühle und eine gränzenlose Aussicht in eine frohe Zukunft, die kein Ausdruck, welcher einem bestimmten Begriffe angemessen ist, völlig erreicht.“7
Damit schlägt der Text eine Variante der Zukunftgestaltung vor. Weniger greift dieser Passus die Undarstellbarkeit eines utopischen Gefühls auf, als er subtil suggeriert, man könne sich in den Tugendhaften hineinversetzen, wenn man – den ans Herz gelegten mentalen Wandel befolgend – noch keinen Zugang zur Tugend besitzt. Jene „Menge erhabener und beruhigender Gefühle“ und die „gränzenlose Aussicht“, welche der Haupttext nicht näher darstellt und am diskursiven Begriff (wie zuvor erläutert) auch gar nicht zu entfalten vermag, nimmt die Fußnote auf, indem sie ein literarisch-mythisches Beispiel für das Erhabene gibt. „Vielleicht ist nie etwas Erhabneres gesagt, oder ein Gedanke erhabener ausgedrückt worden, als in jener Aufschrift über dem Tempel der Isis (der Mutter Natur): ‚Ich bin alles, was da ist, was da war, und was da sein wird, und meinen Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt.‘ Segner benutzte diese Idee durch eine sinnreiche seiner Naturlehre vorgesetzte Vignette, um 6
Dabei spielt es keine Rolle, ob Kant das für 1762 nachgewiesene Gedicht Friedrich II. absichtlich nach dessen Tod 1786 der „Kritik der Urtheilskraft“ (1790) inserierte, und ob eine parallele Lesart mit dem Withof-Gedicht von 1782 seiner Intention entsprach. Meine Deutung legt das freilich nahe. Mir geht es mehr um die Strategien des Textes, Argumente in eine bestimmte Richtung zu lenken bzw. um diejenigen Elemente, die Absichtsbekundungen und Argumentationslinien unterlaufen – aus welchem Grund auch immer. Vgl. a. O., S. 315f. [196f.]; s. a. KAA, Anm. Bde. I-V, Bd. V, S. 529.
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Kant, Kritik der Urtheilskraft, a. O., S. 316 [197].
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seinen Lehrling, den er in diesen Tempel zu führen bereit war, vorher mit dem heiligen Schauer zu erfüllen, der das Gemüth zu feierlicher Aufmerksamkeit stimmen soll.“8
Mit der antiquarisch-gelehrten Sentenz schleust die Fußnote nicht nur einen verrätselten Ausdruck des Erhabenen ein (der freilich dem kulturellen Wissen der Zeit angehört), sondern verweist auf die medial abgewandelte Variante der „Aufschrift“ oder des Spruchs als Bild – genauer als „Vignette“, welche die „Idee“ einfängt. Sprachlich lagert sie den Begriff des Erhabenen in den Mythos aus, und erst im zweiten Schritt vollzieht sich die mediale Verbildlichung: Das Bild ist in Kants Text jedoch nicht zu sehen. Nur die parallele Inaugenscheinnahme der Vignette9 zeigt tatsächlich ein Bild, das wie ein Emblem aufgebaut ist, und aus pictura und subscriptio bzw. inscriptio (je nach Anordnung oder Funktion bestimmt) besteht. Entgegen aller Erwartung ruft der monovalente schriftliche Part der Vignette keineswegs die im Text zitierte „Aufschrift“ auf. Von der Sentenz findet sich keine Spur. Hier heißt es schlicht: „qua licet“ (wo es gestattet; erlaubt ist). Damit liegt abermals eine Umschrift vor – selbst wenn der Hinweis nur durchblicken lässt, dass die Vignette eine mögliche Variante der „Idee“ darstellt. Was die Vignette zeigt, gibt die Sentenz nur unvollkommen wieder. Zu sehen ist rücklings zwar die bekrönte, in einen langen Mantel gehüllte, nahezu verschleierte Mutter Natur, deren Fußspuren drei Putten mithilfe eines Zirkels vermessen. In Händen hält sie ein Sistrum, ein kultisches Instrument, das sie als Isis ausweist. Im Hintergrund befindet sich ein Gebäude, das der besagte Tempel sein könnte. Dessen vordere seitliche, zur Mutter Natur hin ausgerichtete, Außenmauer scheint mit dem Schema oder Symbol eines Zirkels versehen, zum oberen Ende hin schließt ihn eine nicht mehr ganz intakte Schale ab. Auf der vorderen Mauer, an der eine ihren Finger an den Mund legende Putte lehnt, ist tatsächlich eine Inschrift eingelassen, die sich allerdings nicht entziffern lässt. Das dem kulturellen Wissen der Zeit entnommene – und im Zuge der Ägyptomanie – aktualisierte Bild steht für Kant als Attribuierung des Erhabenen ein. Gewähltes Bild und mythischer Ausspruch lassen sich nicht direkt aufeinander beziehen, die Inschrift am Tempel ist nicht lesbar. Die Fußnote in Kants Text referiert die angebliche Inschrift und rundet damit die Dreiteiligkeit der emblematischen Darstellung ab. Nun nimmt die Inschrift die Aufgabe der subscriptio wahr, die im Verbund mit dem überschreibenden Motto „qua licet“ die (tatsächlichen) Grenzen des Wissbaren ausmisst. Somit vermittelt die Vignette den Schülern der Natur nicht nur die ihr gegenüber zu erweisende Ehrfurcht, den „heiligen Schauer“, sondern übt gleich die angemessene Rezeptionshaltung ein, indem sie „zu feierlicher Aufmerk8
Ebd., FN.
9
http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10131984_00005.html, 5.2.18. Siehe die Umschlagabbildung des vorliegenden Bandes.
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samkeit“ stimmt. „‚[M]einen Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt‘“ – allein dieses Bekenntnis könnte den Eleven jegliche Bemühungen in ihrem Fache vergebens erscheinen lassen. Jedoch enthält das Zitat den Schülern ein entmutigendes je vor, und die mythische Vignette verwandelt sich zum Mittel naturwissenschaftlicher Propädeutik. Sie heiligt die empirische Einstellung der Aufmerksamkeit, indem sie zur Zurückhaltung anmahnt. Als „dunkler Ausdruck“10 legt das Interesse an der Isis-Inschrift Ivonne Wübben zufolge einerseits Zeugnis über die Ägyptomanie der (bündischen) Aufklärung ab, andererseits diskutieren die bei Wübben erwähnten Autoren anhand der Inschrift zudem Operationalisierbarkeit und Reichweite der zeitgenössischen Hermeneutik. Während Reinhold in seiner Auslegung der Inschrift deren Unentschlüsselbarkeit betont, die nicht allein einen rhetorischen Kunstgriff darstelle, um eine Mysterienreligion zu installieren11, sondern vielmehr das epistemische Modell eines Widerspruchs formiere12, funktionalisiert Schiller die Inschrift im Zeichen der an Perfektibilität orientierten Vernunftreligion, deren fabelhafte Elemente der „Akkomodation“ (Anpassung) an die Rezipienten dienen.13 Der Konflikt sprachlicher Begriffsbildung, an dem Kant mit der Inschrift zu Sais ansetzt, spiele für Reinhold und Schiller noch eine untergeordnete Rolle (so Wübben). Mit diesem zentralen Passus verweist Kant nicht allein auf den Standort künstlerischer Darstellung innerhalb umfassend konzeptualisierter Erkenntnis – bringt die Ästhetik in das Gefüge begrifflicher Erkenntnis ein –, sondern er führt die mediale Umsetzung ästhetischer Attribute zugleich vor. Im Vollzug dieser Demonstration offenbart sich die mediale Drift, die dem Verfahren der Attribuierung eigentümlich scheint. Begriffe erfordern Attribute sowie Attribute Wechsel in andere Darstellungsmedien provozieren. Begriffliche wechselt in den Modus poetischer Sprache und geht schließlich ins Bildliche über, wobei die stillgestellte Variante einer Mischung von Bild und Schrift entspricht: Die Vignette birgt emblematischen Charakter. Auf Präsentationsebene nimmt ihr Changieren die Unsichtbarkeit des Attributiven auf – supplementär bleibt der Modus seines Bezeichnens, und jedes neue Supplement verlangt nähere Spezifizierung. Was die Vignette zeigt, verrät sie allein im vollzogenen Medienwechsel. Ohne ein von außen herangezogenes Bild aus Segners Buch offenbart sie nichts. Philosophisch situiert Kants Text die Rolle ästhetischer Attribute im (ihnen fremden) Erkenntnissystem. Im selben Moment gebraucht er sie 10 Yvonne Wübben, „‚Ich bin alles, was da ist‘. Zur Auslegung der Isis-Inschrift bei Schiller und Reinhold“, in: Krisen des Verstehens um 1800, hg. v. Sandra Heinen u. Harald Nehr, Würzburg, 2004, S. 135-152, S. 137. 11 Wübben, ‚Ich bin alles, was da ist‘, a. O., S. 143. 12 A. O., S. 145. 13 A. O., S. 147, zusammenfassend s. a. S. 151.
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jedoch literarisch, um ihre Anwendung – die einzige Herangehensweise, sich ihnen (mimetisch) anzunähern – vorzuführen. Die theoretisch aufgebotene Unendlichkeit, ihr „unabsehliches Feld verwandter Vorstellungen“, das die Attribute eröffnen, erhält literarische Plastizität. Anknüpfen, weiterführen erweisen sich als Gesten des Textes, mit denen Kant sich seltener explizit, aber jedes Mal im Vollzug seines Schreibens auseinandersetzt. Im Attributiven überschreitet das Schreiben die epistemologische Grenzen auslotende „Vernunftidee“: ein Vorgang, dessen eingehende Lektüre und Interpretation (u. a.) das Kapitel „Kant und die Reisebeschreibung“ leistet. Somit verwandeln Kants Texte durchgehend Schreibweisen, verhandeln die Frage angemessenen Schreibens, das poetologische Rückbezüge knüpft, setzen die Unumgänglichkeit von Anknüpfungen jedoch auch performativ um, wie sie etwa die Fußnoten und Anmerkungen ausstellen. 5.1. „Von der Eintheilung der schönen Künste“, ihrer „Verbindung [...] in einem und demselben Producte“ und der „Vergleichung“ ihres „ästhetischen Werths“. Kritik der ästhetischen Urtheilskraft, § 51-53 Inwiefern jene wohlgesetzten Abweichungen die Rezeption oder den Nachvollzug eines Arguments steuern, hat Kants Auseinandersetzung mit der Reisebeschreibung bereits an einem ausführlichen Beispiel gezeigt. Am nicht-unerheblichen Beispiel ließ sich entwickeln, wie die Frage nach rassischer Zugehörigkeit in implizites anthropologisches Wissen mündet, dessen menschheitsgeschichtlicher Prospekt eher statisch bleibt. Unverzüglich provoziert die Frage nach dem Urteil einen Einwand. Denn die Gegenstände, welche die Rassenfrage einschließt, sind dem teleologischen Urteil nicht zugänglich. Gleichwohl vermittelt das ästhetische Verfahren der Attribute die divergenten Themenstellungen des Aufsatzes „Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie“ miteinander. Ohne die klammernde Funktion der „Kritik der Urtheilskraft“ überzustrapazieren, scheint die Rolle des Ästhetischen im oben zitierten Passus doppelt codiert. Während die ästhetischen Attribute (nun doch) Aussicht auf ein recht instabiles unbegriffliches Wissen geben, das zwischen Begriff und seiner auf den Gegenstand hin erweiterten Bedeutungsspanne in der Schwebe bleibt, treten ästhetisch (letztlich literarisch) erzeugte Schreibweisen auf der Ebene textueller Gestaltung ein. Die Frage nach der Qualität des Urteils räumt auf der Gegenstandsebene (es geht um die Möglichkeit, Urteile zu generieren) eine Valenz des Ästhetischen ein, die den Sitz ästhetischer Urteile in Kants systematischer Philosophie zwar nicht restlos einhegt, jedoch auf die anthropologische Dimension jener Urteile verweist. Als Schreibweise reproduziert die Verweisstruktur didaktisch ihre anthropologische Relevanz.
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Daher spielt einerseits die Bestimmung der Lage der Ästhetik innerhalb des humanen Welt- und Selbstverhältnisses (ihre anthropologisch-reflexive Funktion) eine – wenn auch untergeordnete – Rolle. Jene Perspektive beherrscht die kantische Ästhetik nicht primär, sondern eröffnet bloß den Fokus, der für die folgende Untersuchung maßgeblich ist. Andererseits evoziert die Frage nach der Organisation und Wirksamkeit der schönen Künste eine Stellungnahme zum System der Kunst allgemein. Da eine Aufgabe der Untersuchungen zu den kantischen Aufsätzen darin besteht, gesonderte Literatur- und Kunstformen den Darstellungsoptionen einer geschichtsphilosophischen Metaerzählung zuzuordnen, erfüllt die „Eintheilung der schönen Künste“ Orientierungsfunktion. Etwas einzuteilen, bedeutet in diesem Fall zwar weniger, eine konsequente Systematisierung zu entwickeln. Wie die Kunstformen arrangiert werden, ist hingegen mit Blick auf Hierarchisierungen sowie mögliche Leerstellen aufschlussreich. In den philosophischen oder ästhetischen Untersuchungen zur „Kritik der Urtheilskraft“ erfährt dieser nicht völlig systematische, dennoch hierarchisierende Ordnungsversuch selten eine die dritte Kritik betreffende synthetisierende Deutung. Nicht einmal als Fremdkörper erlangt die „Eintheilung“ in der Regel Beachtung. Dabei wäre präzise danach zu fragen, woher dieses Interesse an der Poietik (als Regelwissen) rührt und wodurch es ausgelöst wird. Seinen Rahmen stecken Geniediskurs sowie die abschließende „Anmerkung“ (§ 54) über den Witz (als Schwundstufe spielerischer geselliger Unterhaltung?) ab. Diese letzte Klammer beschließt zudem die „Analytik der ästhetischen Urtheilskraft“. Am Ende des Geniediskurses geht es um notwendige Einhegungen des Genius zugunsten des Geschmacks, um die Festlegung artistischer anthropologischer Vermögen: „Zur schönen Kunst würden also Einbildungskraft, Verstand, Geist und Geschmack erforderlich sein.“14 Selbst dort, wo die Schulung des Genies (als Selbstkontrollmechanismus) behandelt wird, führt die Fußnote erneut tiefer in das anthropologische bzw. ethnologische Feld hinein, indem (topische) Nationalcharaktere Erwähnung finden. Als Beschneidung erweckt die Schulung des Genies wiederholt die Aufmerksamkeit für Grenzziehungen und Festlegungen legitimer Mischungen: Die „Eintheilung der schönen Künste“ breitet nicht nur Gattungsdifferenzen aus – wäre für das lernwillige Genie als explizite Regelpoetik lesbar –, sondern führt das Verfahren des Auffindens und der Kombination von Unterscheidungen und somit poietische Techniken selbst vor. „Liest man die Kritik der Urteilskraft lediglich als eine Theorie des ästhetischen Urteils, dann müssen die Überlegungen Kants zur Theorie der Künste in den §§ 51-53 als ein bloßer Annex oder als ein erratischer Block gelten. Aber es gibt auch eine andere Leseart [sic]; denn 14 Vgl. Kant, Kritik der Urtheilskraft, a. O., S. 319f. [203]. „Anmerkung.“ ab S. 330-336 [223-230], Geniediskurs ab § 46, S. 307 [181].
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man kann weite Partien der Kritik der Urteilskraft verstehen als phänomenologische Deskription der ästhetischen Erfahrung.“15
Ob das Eingehen auf die Materie nun der Auseinandersetzung mit Fragen der Poetik oder ästhetischer Erfahrung selbst gilt, bleibt nebensächlich, sofern man dem Registerwechsel beistimmt, der über die Funktion eines Anhangs ausgreift. Zunächst gestaltet sich der Zugriff auf Kants Ästhetik als Kunsttheorie deskriptiv, da Vermutungen über Standort oder Status jenes „Block[s]“, seine Gelenkstelle, sich als vorläufige Annäherung verstehen. Die diversen Kunstgattungen werden kontraintuitiv zueinander in Beziehung gesetzt. Mitunter liegen die gesondert kontrastierten Elemente nicht auf derselben Ebene. Nach einer Analogie mit der Sprache entwirft Kant das Prinzip seiner „Eintheilung“, nach „Art des Ausdrucks, dessen sich Menschen im Sprechen bedienen, um sich, so vollkommen, als möglich ist, einander, d. i. nicht bloß ihren Begriffen, sondern auch Empfindungen nach, mitzutheilen.“16 Das Auswahlkriterium dafür, ein geeignetes Prinzip zu finden, gibt die Bequemlichkeit ab („kein bequemeres Princip“). Zudem erfolgt diese Wahl vorläufig. Sowohl der Sprache als auch der Kunst liegt daran, die Vollständigkeit einer Mitteilung zu sichern. Beide Medien erzeugen also mehr oder minder umfassende Ausdrücke oder Botschaften. Durch seine Berücksichtigung der sprachlichen Mehrdimensionalität erinnert der präsentierte Ansatz an Fragestellungen linguistischer Pragmatik, wobei die Möglichkeit sprachlichen Handelns kaum ins Interesse rückt. Sprachliche Ausdrücke setzen sich auch bei Kant aus mehr als schlichten Worten zusammen. Zur sprachlichen Äußerung gehören Worte, Gebärdung und Ton. Ton klingt hier im übertragenen Sinne an. Wie man etwas sagt, vermittelt der Tonfall, und übermittelt damit die der Äußerung verknüpfte Empfindung. Die lautliche (phonetische) Seite berücksichtigt das Konzept Wort bereits mit. Dem Wort wohnt somit ein ideeller (semantischer) und lautlicher Aspekt inne.17 Zeichenbegriff und pragmatische Seite der Kommunikation werden nicht eindeutig voneinander differenziert, da die zum Zweck der Kunsteinteilung gewonnene Heuristik darauf abzielt, das Wort dem Gedanken, die Gebärdung der Anschauung und den Ton der Empfindung zuzuordnen. Im Modell des Ausdrucks ruht somit ein holistischer (kommunikativer) Ansatz, der drei grundlegende anthropologische Fähigkeiten parallel adressiert. Dabei ist die gewählte Differenzierung keinesfalls ohne Alternative – irritiert vor dem Hin15 Heinz Paetzold, „Rhetorik-Kritik und Theorie der Künste in der philosophischen Ästhetik von Baumgarten bis Kant“, in: Von der Rhetorik zur Ästhetik. Studien zur Entstehung der modernen Ästhetik im 18. Jahrhundert, hg. v. Gérard Raulet, Rennes, 1995, S. 9-40, S. 35. 16 Kant, Kritik der Urtheilskraft, a. O., S. 320f. [205]. 17 Ebd., zur Metaphorisierung des Tons vgl. auch a. O., S. 324f. [212].
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tergrund moderner Sprachwissenschaft –, und Kant selbst reflektiert den Gegenentwurf einer „dichotomisch[en]“ Einteilung nach Gedanken und Anschauung (Intellekt und Sinnlichkeit), weist ihn jedoch als „zu abstract“18 zurück. Dem gemeinen Verstand entspricht eher die triadische Einteilung, während das Verfahren der binären Opposition sich an ein (typisch kantisches) Systematisierungsvorhaben anlehnt. Mit entschieden theoretischen Absichten verbindet Kant diesen „Entwurf“19 nicht. Über das entwickelte Ausdrucksmodell, das den Ausdruck bereits semiotisch nobilitiert, stellt sich die Analogie zur Sprache her. Aus jener Sprachanalogie resultiert die Festlegung dreier Kunstformen, demnach dreier künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten: Kant unterscheidet „redende[ ]“ und „bildende[ ] Künste“20 sowie „Die Kunst des schönen Spiels der Empfindungen“.21 Letztere wird als Spiel und nicht als Kunstform adressiert, obgleich der 51. Paragraph der „Kritik der Urtheilskraft“ explizit eine „Eintheilung der schönen Künste“22 vornimmt. Was unter diesem „Spiel“ firmieren soll, leuchtet nicht spontan ein. Die „redenden“ Künste23 differenzieren sich ihrerseits in „Beredsamkeit“ und „Dichtkunst“24, die bildenden in „Plastik“25 und „Malerei“.26 Hierbei handelt es sich noch um Modi künstlerischer Formgebung, um Kompositionsprinzipien, die wiederum den betreffenden Kunstgattungen zugeteilt werden. Auf unterster (empirischer) Ebene der Differenzierung ordnen sich schließlich „Baukunst“, „Bildhauerkunst“, „Lustgärtnerei“ und „eigentliche Malerei“27 an. Malerei stellt damit ein mehrere Kunstformen übergreifendes Prinzip mit universellem Bezug dar, das semantisch jedoch nicht im Malen als literarischer Schilderung aufgeht. Innerhalb der Untersuchung nimmt die Malerei einen Sonderstatus ein. Jene zweite Unterebene wird für Beredsamkeit und Dichtkunst nicht eingezogen, obgleich eine Binnendifferenzierung (zumindest) für die Dichtkunst denkbar wäre, welche sich auf mehrere Ebenen erstreckt. Auch das „Spiel[ ] der Empfindungen“ wird nur auf einer Unterebene entfaltet, es teilt sich in „Farbenkunst“ und „Musik“28 auf. Während die Musik ihren systematischen Ort verspätet erhält, was
18 A. O., S. 320f. [205]. 19 A. O., S. 320 [205, FN]. 20 A. O., S. 328f. [218, 221]. 21 A. O., S. 321, 324 [206, 207, 212]. 22 A. O., S. 320-325 [204-213]. 23 A. O., S. 328 [218]. 24 A. O., S. 327 [216]. 25 A. O., S. 322 [207]. 26 A. O., S. 330 [222]. 27 A. O., S. 322f. [208-209]. 28 A. O., S. 324 [211].
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als hierarchische Abwertung lesbar wäre29, irritiert die Nennung der Farbenkunst als autonomer Kunstgattung überhaupt. Lediglich die Analogie des „Ton[s]“ respektive der „Licht-“ und „Luftbebungen“30 stellt die Gemeinsamkeit mit der Musik her. Nähere Erläuterung gilt einzig der Musik, wohingegen die Rolle des Farbenspiels nicht reflektiert wird. Das Arrangement eines Farbenspiel-Kunstwerks ist kaum vorstellbar – es sei denn, das Farbenspiel übernähme seine Funktion in Kooperation mit der „eigentliche[n] Malerei“.31 Da die Malerei als pure Formkunst generalisiert wird, liegt es nahe, die Farbenkunst in genetischen Zusammenhang mit der Musik zu stellen. Die Ebenendifferenzierungen berühren genetische Konstellationen, insofern die Frage nach den Quellen der Kunstformen im menschlichen Vermögenshaushalt aufgenommen wird. Obgleich verschiedene Kunstformen auseinander abgeleitet werden – wie Baukunst und Bildhauerei aus den plastischen, „Sinnenwahrheit“32 vermittelnden Künsten –, tritt die Einteilung nicht mit historisch-genetischem Anspruch auf. So liegt die vorrangig durch ihren Kunstcharakter hervortretende Form auf gleicher Ebene mit Baukunst, Bildhauerei und Lustgärtnerei, um anzuzeigen, dass auch die „eigentliche Malerei“ pragmatische oder rituelle Funktionen übernehmen kann. Die Organisation besitzt zweifellos hierarchisierende Elemente. So nehmen die Empfindungskünste den niedrigsten Status ein. Sie werden kaum als Künste, sondern als bloßes Spiel adressiert, womit auf ihren Unterhaltungswert, ihre Gefälligkeit33, verwiesen wird. Demnach bekleidet die intellektuellste Kunstform die ranghöchste Stellung. „Unter allen behauptet die Dichtkunst […] den obersten Rang.“34 Dass jene Wertschätzung sich nicht an „Reiz und Bewegung des Gemüths“35 misst, erhellt die Reflexion über die Musik. Eher fragt der Text nach der kulturstiftenden Leistung der Kunstformen, wozu die Ausbildung der Urteilskraft gehört.36 Auf29 Ebenso die Frage, ob sie „gänzlich als schöne“ oder bloß „als angenehme Kunst“ einzuschätzen ist, vgl. a. O., S. 325 [213]. 30 A. O., S. 324f. [212]. 31 A. O., S. 323 [209]. Man könnte behaupten wollen, dass die singuläre Hervorhebung des Farbenspiels gewisse Möglichkeiten der Kunst (weit) nach 1800 vorwegnimmt, ohne dies freilich selbst beabsichtigen zu können. Dennoch ist auch sehr farbintensive, gegenstandslose Darstellung immer noch an die Plastizität der Malerei gebunden; an ihr Material (die Leinwand, die Fläche), jedoch auch auf das Auftragen von Formen angewiesen, so abstrakt jene sein mögen. 32 A. O., S. 322 [207]. 33 „Wohlgefallen“; a. O., S. 324 [212]. 34 § 53, „Vergleichung des ästhetischen Werths der schönen Künste untereinander“, a. O., S. 326-330 [215-222], S. 326 [215]. 35 A. O., S. 328 [218]. 36 Vgl. a. O., S. 329 [220-221].
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schluss über mögliche Leerstellen auf Seiten der redenden Künste gibt die Binnendifferenzierung zwischen Beredsamkeit und Dichtkunst. Der konstitutive künstlerische Wert der Dichtkunst speist sich aus ihrer grundlegenden Ehrlichkeit, da sie den fiktionalen Status ihrer Produkte nicht verhehle. „In der Dichtkunst geht alles ehrlich und aufrichtig zu. Sie erklärt sich, ein bloßes unterhaltendes Spiel mit der Einbildungskraft und zwar der Form nach einstimmig mit Verstandesgesetzen treiben zu wollen; und verlangt nicht den Verstand durch sinnliche Darstellung zu überschleichen und zu verstricken.“37
Infolge dieses Vorzugs kritisiert Kant die Kunstform der „Rhetorik“38, weil sie pragmatisch dazu neigt, ihre Fähigkeiten zu missbrauchen, indem sie affektiv überredet und den Zuhörer somit der auf Freiheit basierenden Überzeugung beraubt. Mit jener moralischen Differenzierung von Beredsamkeit und Dichtkunst zielt Kant kaum auf die Festlegung oder Wertung der Relation von Poesie und Prosa ab. Generell besitzt diese herkömmliche Binneneinteilung für die redende Kunst zunächst wenig Relevanz. Trotz aller Rhetorikkritik39 darf die Kunst der Beredsamkeit fiktive Momente enthalten, was mehr indirekt zu erschließen ist. Daneben gehören Auszüge kanonischer Literatur zu ihren probaten Gestaltungsmitteln, welche Kant zudem punktuell in die Aufsätze integriert. Ob die Beredsamkeit eher prosaische (da pragmatische) Rede ausbildet oder sie aufgrund ihrer rhetorischen Sättigung poetisches Potential entfaltet, ist schwer zu entscheiden. Gesteigerte Rhetorizität zieht Kant zufolge eher einen Verlust an poetischer Qualität nach sich. An die Metapherntheorie anknüpfend ließe sich ebenfalls ein Kippmechanismus der Rhetorik annehmen, wie etwa die Poetologisierung rhetorischer Exempla (vgl. dazu das Synthesekapitel). Demgegenüber wäre vertretbar, „Dichtkunst“ in der (für das achtzehnte Jahrhundert einschränkenden) Bedeutung poetischer lyrischer Rede zu fassen. Dieser Auffassung korrespondiert die Kategorisierung des Schauspiels als Mischform aus Malerei und Beredsamkeit. Dass es mit gleichem Recht als Kopplung von Plastik und Dichtkunst einzustufen wäre, somit in Reimform verfasst sein könnte, zieht Kant nicht in Betracht. Denkbar wäre ferner, die Differenz von Prosa und Poetik der Dichtkunst selbst unterzuordnen. Die Kunst der Dichtung bestünde darin, die richtige Sprechweise für ein literarisches 37 A. O., S. 327 [217]. Kants Fiktionstheorie konzediert die Möglichkeit („einstimmig mit Verstandesgesetzen“) des Erdichteten, ohne dass es wahrscheinlich oder notwendig sein müsste bzw. zwischen Fiktion und Wahrhaftigkeitsanspruch changieren würde. 38 A. O., S. 328 [219], FN. 39 Gerade die gewählte triadische Einteilung, die der Kunst überhaupt erst zur (hierarchisierenden) Ordnung verhilft, deutet Heinz Paetzold als „Nachhall der Rhetorik“. Paetzold, Rhetorik-Kritik und Theorie der Künste, a. O., S. 35f.
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Kunstwerk auszuwählen. Allerdings deutet sich diese Binnendifferenzierung der Dichtkunst bei Kant noch nicht an. Das Schauspiel untersteht der Dichtkunst deshalb nicht, weil es moralischer Distinktion zufolge in Richtung Überredung ausschlägt, wodurch es sanktionierbar wird. Umgekehrt garantiert die poetische Form keine moralische Lauterkeit. Nähme die Ordnung das Werturteil über die dramatische Gattung nicht auf, wäre denkbar, dass die Dichtkunst – eindeutig weder auf Poesie noch auf Prosa festgelegt – weitere literarische Gattungen umfasste: etwa die Gattungstrias Lyrik, Dramatik, Epik oder (Unter-)Formen wie Ballade und Roman. Demzufolge würde die Beredsamkeit allein als Rhetorik adressiert. Der Ausbau dessen, was unter Dichtkunst (als Literatur) fällt, bleibt hingegen aus. Bezeichnend ist einerseits, dass die Dichtung im Gegensatz zur bildenden Kunst keine weitere Ausdifferenzierung erfährt. Andererseits tauchen literarische Formen bzw. Gattungen in der Diskussion künstlerischer Mischformen auf. Mischungsverhältnisse sind indes nicht als rein äußerliche Verbindungen mehrerer Gattungen zu denken. Sondern einige Gattungen bilden Mischformen in sich selbst, sie tauchen „in einem und demselben Producte“ auf.40 „Die Beredsamkeit kann mit einer malerischen Darstellung ihrer Subjecte sowohl als Gegenstände in einem Schauspiele, die Poesie mit Musik im Gesange, dieser aber zugleich mit malerischer (theatralischer) Darstellung in einer Oper, das Spiel der Empfindungen in einer Musik mit dem Spiele der Gestalten im Tanz u. s. w. verbunden werden. Auch kann die Darstellung des Erhabenen, sofern sie zur schönen Kunst gehört, in einem gereimten Trauerspiele, einem Lehrgedichte, einem Oratorium sich mit der Schönheit vereinigen; und in diesen Verbindungen ist die schöne Kunst noch künstlicher: ob aber auch schöner (da sich so mannigfaltige verschiedene Arten des Wohlgefallens einander durchkreuzen), kann in einigen dieser Fälle bezweifelt werden.“41
„Schauspiel[ ]“, „Gesang[ ]“, „Oper“, „Tanz“, „Trauerspiel[ ]“, „Lehrgedicht[ ]“ und „Oratorium“ werden zwar nicht als weitere Unterkategorien, jedoch als erwähnenswerte Mischformen aufgerufen. Eine Binnendifferenzierung, die hier zum Tragen kommt, liegt in der Unterscheidung von (lediglich) schöner Kunst und (schöner) Kunst, die Elemente des Erhabenen einschließt. Das wesenhafte Moment des Schauspiels zeichnet sich weder an seiner gedichteten (metrischen) Form noch an seiner Aufführung ab. Stattdessen werden ihm rhetorische Gestalt („Beredsamkeit“) sowie „malerische[ ] Darstellung“ zugeschrieben. Bühnenbild und szenisches Arrangement auf der den Kunst-Raum rahmenden Bühne qualifiziert der Text als „malerische[ ] Darstellung“, die den Hintergrund des rhetorischen Spiels bildet. 40 Kant, Kritik der Urtheilskraft, a. O., S. 325 [213], s. Titel des Abschnitts, § 52. 41 § 52, „Von der Verbindung der schönen Künste in einem und demselben Producte“, a. O., S. 325f. [214-215], S. 325 [214].
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Fasst man diesen Hintergrund als Komposition von Formen und Farben auf, übermittelt sich der Eindruck einer starren, passiven Zusammenstellung, die hintergründig bleibt. Wie jedoch der Zusatz in der Klammer suggeriert, erweist sich gerade der malerische Part der Darstellung als theatralisch. Nicht die theatrale Wirksamkeit ausprägende rhetorische Sprachfunktion wertet der Text als dramatischdynamisierenden Faktor des Schauspiels. Im Gegenteil identifiziert die Argumentation die statische Metapher der Malerei mit Theatralität, insofern die dynamische Komponente der „Oper“ im nächsten Schritt nicht an den Gesang – als Mischform von Poesie und Musik – rückgebunden wird. Selbst die Oper entfaltet ihre Dynamik nicht im Gesang, sondern durch das malerische Darstellungsmoment, welches als integraler theatraler Bestandteil vorgesehen ist. Die attributive Erläuterung für malerisch ist theatralisch – ganz nebenbei führt die Klammer jene Deutung ein. Weder Beredsamkeit noch Gesang leisten – als poetische Komponenten verstanden – der Dynamisierung der Darstellung Vorschub. Demgegenüber erstarrt das theatrale Moment im Zuge der Metaphorisierung der Malerei zum Bild. Wie es in Anbetracht jener Kategorisierungen um den ästhetischen Wert des „Schauspiel[s]“ bestellt ist, lässt sich indirekt an den Reflexionen über das „Trauerspiel[ ]“ ablesen. „Schauspiel[ ]“ bleibt als Gattungsbezeichnung zunächst sowohl für die komische als auch für die tragische Gattung offen. Somit integriert diese Bezeichnung eine Ausprägung der tragischen Gattung, die nicht tragisch – mithin erhaben –, sondern unterhaltend und mitreißend ist. Damit liegt nun eine unscharfe paratextuelle Etikettierung vor, welche die Differenzierung von theatralischem Schauspiel und Trauerspiel einfordert. Im „Trauerspiele“ verlangt die „Darstellung des Erhabenen“ nämlich die Reimform.42 Obgleich Poesie und Prosa nicht eigens in die vorangehenden Klassifizierungen einbezogen wurden, versieht Kant das „Trauerspiel[ ]“ mit dem Partizip „gereimt[ ]“: als Hinweis auf die für das Trauerspiel konstitutive Notwendigkeit formaler Gestaltung. Gegenüber der Darstellung wird die textuelle Verfassung aufgewertet, sie verharrt nicht als reine Rhetorik, sondern avanciert durch ihre Reimform zur Dichtung. Ist das theatrale Moment somit in der Reimform aufgehoben? Im „Oratorium“ tritt das darstellende Moment hinter den gesungenen Text zurück, in dem Theatralität in die stichische Struktur, den Dialog etlicher Reflexionsebenen, eingelassen ist. Hier findet Verdichtung statt, die das Augenmerk auf eine künstlerische Form konzentriert. Unter dem Aspekt der Verdichtung ließe sich nachvollziehen, weshalb das erwähnte „Lehrgedicht[ ]“ seinen Platz in der Reihe des Erhabenen einnimmt. Zu begreifen wäre es als absolute Einheit von Form und Inhalt, sofern es trotz künstlerischer Gestaltung einen einzigen Zweck verfolgt. Das Lehrgedicht vermittelt lediglich eine sachhaltige Botschaft, es entfaltet keine Nebenschauplätze, sondern ordnet seinen Gegenstand mit systematischem Anspruch. 42 Vgl. a. O., S. 325 [214].
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Obwohl Kants Text dessen Zugehörigkeit zur schönen Kunst goutiert, hält das Lehrgedicht seinen Schüler auf (erhabener) Distanz.43 Obgleich der Text die Mischung vielfältiger Kunstformen und Medienqualitäten (als möglich) zulässt, äußert er hinsichtlich der ästhetischen Qualität solcher Kunstprodukte Skepsis. Die Mischung der Gattungen steigere die Künstlichkeit des Kunstwerks, jedoch nicht seinen ästhetischen Wert. Festzuhalten bleibt, dass damit auf keine (naturalisierende) Nivellierung der Kunst-Natur-Differenz abgezielt wird, wenngleich die Natur das Vorbild der Kunst abgibt: „wobei denn die Sinnenwahrheit nicht so weit gehen darf, daß es aufhöre als Kunst und Product der Willkür zu erscheinen.“44 Künstlichkeit ist charakteristisches Merkmal der Kunst. Sofern sie zur schönen Kunst gehören will, darf sie einen gewissen Grad an Künstlichkeit nicht überschreiten. Gelungene Kunst setzt sich demzufolge aus einem beschränkten Ensemble von Gattungen bzw. Medienqualitäten zusammen. Dabei kann ein künstlerisches Element (wie poetisches Sprechen) sowohl eine geschätzte Kunstform nobilitieren – die Schauspielerei im Trauerspiel – als auch eine (zu) empfindsame Kunstform aufwerten – etwa die Musik im Gesang. In Anbetracht des „ästhetischen Werths“ der Künste, der mit ihrem kulturellen Potential einhergeht, folgt die Malerei der Dichtkunst an zweiter Stelle. Insofern das erklärte Ziel der schönen Künste darin besteht, „[d]ie Verbindung und Harmonie beider Erkenntnißvermögen, der Sinnlichkeit und des Verstandes“45 zu leisten – ohne dieses Programm als romantisierendes Universalitätsphantasma zu verkennen –, obliegt es speziell der „Malerkunst“, „den Sinnenschein künstlich mit Ideen verbunden“ darzustellen.46 „Die bildenden Künste [versetzen] […] die Einbildungskraft in ein freies und doch zugleich dem Verstande angemessenes Spiel […].“47 Das Kunstprodukt, das die bildenden Künste hervorbringen, übernimmt mnemorative Funktion für die Verstandesbegriffe, ihre eigene Vereinigung mit der 43 Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste. In einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt, Zweyte verbesserte Auflage, Dritter Theil, Leipzig, 1779, ab S. 137f.: „Lehrgedicht. […] Dieser Name wird einer besondern Gattung gegeben, die sich von allen andern Gattungen dadurch unterscheidet, daß ein ganzes System von Lehren und Wahrheiten, nicht beyläufig, sondern als die Hauptmaterie im Zusammenhang vorgetragen, und mit Gründen unterstützt und ausgeführt wird.“ Obwohl das Lehrgedicht dem epischen Gedicht nahekommt, „so wird er [der Dichter, K. K.] davon nicht so ganz hingerissen, wie der lyrische Dichter. Nur hier und da fällt er ganz in das Leidenschaftliche, [...], von dem er aber bald wieder auf seinen Inhalt kommt.“ (S. 139). 44 Kant, Kritik der Urtheilskraft, a. O., S. 322 [208]. 45 A. O., S. 321 [206]. 46 A. O., S. 322f. [209]. 47 A. O., S. 329 [221].
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Sinnlichkeit voranzutreiben. Jener fortgesetzte Versuch besteht in der Einübung der „obern Erkenntnißkräfte“ in Ansehung der Kunstprodukte als Reinkarnation der menschlichen Erkenntniskräften eigenen Spannung zwischen Intellekt und Sinnlichkeit. Ein solches Training verfolgt die Beförderung der „Urbanität der obern Erkenntnißkräfte“.48 Was unter „Urbanität“ zu verstehen ist, erschließt sich nur indirekt aus der Umschreibung ihres Mangels, welcher der Musik anhafte. Im Störungspotential, das bei der Ausübung oder Rezeption von Kunst entsteht, drückt sich jener Mangel aus. Dadurch, dass Kunstformen bestimmte Sinne jeweils primär ansprechen, hier Geruch und Gehör, zwingen sie zur Wahrnehmung – meist, wenn jemand eine andere (geistige) Tätigkeit vorantreibt. Anders gesagt, stuft der Text die sinnlichen Künste (nur) deshalb als minderwertig ein, soweit sie den Intellekt stören. Hinter der Hierarchisierung steht die Absicht sukzessiver Intellektualisierung der Kunst. „Unter den bildenden Künsten würde ich der Malerei den Vorzug geben: theils weil sie als Zeichnungskunst allen übrigen bildenden zum Grunde liegt; theils weil sie weit mehr in die Region der Ideen eindringen und auch das Feld der Anschauung diesen gemäß mehr erweitern kann, als es den übrigen verstattet ist.“49
Der Vorzug sichtbarer Künste besteht u. a. darin, Wahrnehmung in geringerem Grade (als Hörbares) zu erzwingen. Ob die bildende Kunstform neben der (eigentlichen) Malerei, die Plastik, ihre Rezipienten vergleichbar unangetastet belässt, ist fraglich, da sich die beiden involvierten Sinne räumlich ausrichten. Ambivalentes Potential entfaltet wiederholt die Malerei. Einerseits firmiert die malerische Darstellung unter theatralischem Label, wird somit dynamisiert und über den Kreis der bildenden Künste hinaus erweitert. Andererseits bietet sie im Rahmen bildender Künste das Moment der Zeichnung an, das als Formprinzip50 die Grundlage künstlerischer Kreativität bildet. Die Erweiterung um Formen – ihre eidetische Variation – verläuft schließlich über den Intellekt. Weniger stark als die ihr zugehörige Plastik hängt die Zeichnung in ihrer Formgestaltung vom räumlich Vorhandenen ab. Begrifflich differieren Zeichnung und Malerei voneinander. Beide Begriffe tauchen gesondert auf, ohne eigens in ihrer Korrelation bestimmt zu werden. Ob ihr Kontrast sich aus der Einbeziehung bzw. Ausklammerung der Farbenkunst herleitet, ist zweifelhaft. Dennoch scheint es plausibel, die Malerei als vollere Darstellung einzustufen, deren Grundgerüst die Zeichnung gewährt. 48 Ebd. 49 A. O., S. 330 [222]. 50 A. O., S. 321f. [207]. Zeichnung fasst demnach Zweidimensionalität ein, während Malerei sich dreidimensional ausprägt.
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Metaphorisch tritt die Zeichnung hier aus der Empirie künstlerischer Praxis heraus, und es eröffnet sich ein konnotatives Feld, zu dem die Grundzüge ebenso gehören wie die Charakterzeichnung oder das Be-Zeichnen. Richtet man sich an dieser aus ihrem gegenseitigen Abgleich generierten Wertung der Gattungen aus, weisen die Überlegungen zur Kunsteinteilung eine entsinnlichende Tendenz auf. An die der rangniederen Musik verglichenen holzschnittartigen Bemerkungen zur Zeichnungskunst schließt lediglich eine Anmerkung an, die den ganzen ersten Abschnitt zur „Analytik der ästhetischen Urtheilskraft“51 beendet. Standort, Status und Bedeutung dieser abschließenden Anmerkung wirken unvermittelt. Um die spielerischen Aspekte der Kunst näher zu beleuchten, werden Lachen und Naivität aufgegriffen. Dies geschieht unter Einbeziehung zeitgenössischen Humors. Ein wesentliches Element dieser Anmerkung besteht im Referieren von Witzen (Scherzen). Somit übernimmt die exemplarische Funktion selbst das Ruder der begrifflichen Auslegung. Weshalb die Anmerkung zum Lachen und zur Naivität in § 54 die „Analytik der ästhetischen Urtheilskraft“ abschließt, untersuche ich hier nicht. Ohne mich in die philosophische Architektonik und Bedeutung der „Kritik der Urtheilskraft“ zu verstricken, vermute ich, dass das Lachen ein kunstloses Schwellenphänomen im angenehm-geselligen Verkehr bildet. In den Ausführungen zu Kants Einteilung, Inbezugsetzung und Bewertung der Kunstformen geht es nicht darum, systematische Inkonsequenzen aufzuzeigen. Zu bemerken ist vielmehr, dass die vorgeschlagene Ordnung Originalität besitzt, insofern sie von klassischen Einteilungen der Kunstgattungen abweicht.52 In ihrer Unentschiedenheit spiegelt sich der in der poetologischen Diskussion der Aufklärung virulente Deutungskonflikt des Verhältnisses von Literatur und bildenden Künsten wider – nimmt jedoch einen ungewohnten Ausgangspunkt. Von Anfang an kalkuliert jene Einteilung die grundsätzliche Mischbarkeit der Kunstformen ein. Dabei geht es einerseits kaum um die Übersetzbarkeit der Gattungen ineinander, wie sie im Zuge der ut pictura poesis-Debatte bei Bodmer und Breitiger oder in Lessings „Laokoon“ diskutiert wird.53 Andererseits fordert Kant damit keine strikte generi51 A. O., S. 203-336 [1-230], „Anmerkung.“: a. O., S. 330-336 [223-230]. 52 Dazu ist anzumerken, dass sich die Klassizität einer solchen Einteilung an dieser Diskussion gerade herausbildet – geschult an wiederum zur klassischen Norm erhobenen Vorgängern, als deren Agent man sich begreift, und die man im Umschreiben vereinnahmt. 53 Johann Jacob Breitinger, Critische Dichtkunst Worinnen die Poetische Mahlerey in Absicht auf die Erfindung Im Grunde untersuchet und mit Beyspielen aus den berühmtesten Alten und Neuern erläutert wird. Mit einer Vorrede eingeführet von Johann Jacob Bodemer., Zürich/Leipzig, 1740, bes. S. 3-28, S. 77-91 [Reprint: Stuttgart 1966]. Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon Oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. Mit beiläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte, mit einem Nachwort
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sche Trennung, z. B. von bildender Kunst und Literatur, wenngleich er die ästhetische Wirksamkeit solcher Mischformen zur Disposition stellt. Vielmehr geht dessen Ordnung von Mischungsverhältnissen als (empirisch) vorliegenden Grundformen aus, die er analytisch zu konturieren sucht. Dadurch entsteht der Eindruck der asymmetrischen Zuordnung diverser Elemente: als lägen einzelne Kunstformen innerhalb der Schematisierung auf falscher Ebene. Anlass zur Irritation stiftet mithin die doppelte Lesbarkeit des – einmal emotional und einmal kulturell perspektivierten – Werts der Musik, welche strenggenommen nicht als Kunst eingestuft wird. Tritt ein malerisches Element in der Dichtkunst auf, tendiert die Dichtung zum Trauerspiel, da somit – der vorangehenden Analyse der Einteilung zufolge – Theatralität einbezogen wird. Um es verständlicher zu formulieren: Die Dichtkunst wird gleichsam (zweidimensional) räumlich sichtbar gemacht, obgleich das Bühnengeschehen eher Plastizität assoziieren ließe. Appliziert man den Akt der Theatralisierung zunächst nur auf den literarischen Text, so knüpft man an die Behelfsvorstellung an, dass Dichtkunst malen würde. Zu dieser Illustrierung gehörten dann paratextuelle Hinweise zu den Hauptcharakteren (Protagonisten, Figuren) sowie Bühnen-Bilder, die aus den Regieanweisungen vergleichbar hervorgehen wie die affektiven Dispositionen des personalen Ensembles. Nicht allein das Kompositionsprinzip bildender Künste steuert die Malerei bei. In dieser Funktion tritt sie für die plastischen Gattungen Architektur und Bildhauerei sowie die (optischen) malenden Künste „Lustgärtnerei“ und „eigentliche Malerei“ ein. Zusätzlich greift die Malerei über die bildenden Künste aus, insofern sie ein theatrales Moment entfaltet. Was sie vorzeichnet, die grobe Form, die sie verleiht, kann – zudem in ihrer Dynamik – durch diverse Medien ausgefüllt werden: durch Poesie und Musik (Gesang) oder Beredsamkeit. Mithilfe dieser unkonventionellen Organisation (und Terminologie) schließt Kant Paradoxien aus, da einige Komplikationen kunsttheoretischer Abgrenzung sich gar nicht erst anbahnen. Anders formuliert verstellen die Dichotomie von Beredsamkeit und Dichtkunst sowie der Ausgang von der elementaren Mischbarkeit der Gattungen den Zugang zur zeitgenössisch drängenden Frage nach der (klassifizierenden sowie klassischen) Gattungstrias von Lyrik, Epik und Dramatik. Während das Trauerspiel nur bedingt unter die Dichtkunst fällt – nicht unter Rückführung auf dessen dramatische Form, sondern aufgrund seiner Versifizierung –, ist das Schauspiel als solches rhetorisch verfasst. Somit gestaltet das Schauspiel die Dichtkunst nicht aus, sondern ordnet sich ihr im Gegensatz zu Lyrik und Epik unter. Auf diese Weise gelingt es, sowohl raum- und zeitgebundene als auch intellektuelle sowie sinnliche Künste voneinander abzuscheiden. Literatur und bildende Künste treten über das Prinzip der Malerei in Beziehung, insofern es jederzeit als Addendum der redenden Künste eintreten von Ingrid Kreuzer, Stuttgart, 2003, bes. Vorrede (S. 3-6), Kap. X-XVIII (S. 86-137), XXII-XXV (S. 159-187).
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kann und somit neue Gattungen generiert, die nicht die Rangfolge der Dichtkunst teilen. Dabei lässt der Text offen, ob Lyrik und Epik auf einer Ebene mit der Dichtkunst liegen. Dass die „Poesie“ von ihrem musikalischen Anspruch entbunden wird – erst in Vereinigung mit der Musik formiert sie Gesang –, spricht dafür, sie anachronistisch54 als Reinform der Dichtkunst aufzufassen. Innerhalb der Hierarchie der Künste nimmt das Schauspiel keine vorzugswürdige Position ein. Obgleich es in der „Kritik der Urtheilskraft“ als künstlerische Form abgewertet wird, bleiben gelungene Trauerspiele weiterhin möglich. Hierarchisch besetzt die Malerei eine verborgene Vormachtstellung. 5.2 Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen Als universales anthropologisches Konzept präsentiert sich der Geschmack in Kants Schrift „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ von 1764. Im Vergleich zu einigen programmatischen Äußerungen aus der „Kritik der Urtheilskraft“ – neben der dargelegten Organisation der Kunstformen handelt es sich um weitere ästhetische Aspekte, die ich gegebenenfalls ergänze – werden auffällige Re- und Dekonzeptualisierungen sichtbar, die sich sowohl auf Kants Anthropologie allgemein als auch auf mehrere strukturelle sowie kompositionelle Aspekte seiner Aufsätze beziehen lassen. Zunächst ist die Programmatik des Textes bemerkenswert, der sich über den Beobachterstandpunkt paratextuell bereits als empirischhistorisches Projekt ausweist. Aber nicht allein im Paratext verhält der Text sich zu seiner eigenen Gattung, sondern er stellt sich sein eigenes epistemisches Motto voran – nicht ohne anzudeuten, dass abweichende Perspektiven zukünftig offen stünden: „Ich werfe für jetzt meinen Blick nur auf einige Stellen, die sich in diesem Bezirke besonders auszunehmen scheinen, und auch auf diese mehr das Auge eines Beobachters als des Philosophen.“55 Eine entscheidende Rolle spielt dabei ein Merkmal oder Verfahren, das in der Teleologie-Schrift und der Kunsteinteilung der dritten Kritik wieder auf54 Im Adelung findet sich etwa unter dem Eintrag „Dichtkunst“: „In der weitesten Bedeutung, die Kunst zu dichten, d. i. die Kunst, die Theile eines vorher in Gedanken zergliederten Dinges willkürlich wieder zusammen zu setzen; in welchem Verstande die Dichtkunst alle schönen und bildenden Künste unter sich begreift.“ Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Wien, 1811, Erster Theil, A-E, Sp. 1478. In diesem Sinne begreift Kant die Dichtkunst jedoch keineswegs. Lessing deutete das Drama gerade aufgrund seiner hybriden Form als besonders ranghohe Kunst. Vgl. Armand Nivelle, Kunst- und Dichtungstheorien zwischen Aufklärung und Klassik, Berlin, 1960, S. 121. 55 Immanuel Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen [nachfolgend: Beobachtungen], in: KAA II, S. 205-256, S. 207.
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taucht: Kants Bestandsaufnahme widmet sich vor allem der Verzeichnung gradueller Unterschiede, der Beobachtung minimaler Verschiebungen sowie Übergangsphänomenen. In diesem Zusammenhang ist der Terminus Ausartung einschlägig. Er beschreibt einen Kippmechanismus von neutral oder positiv zu wertenden Merkmalen oder Eigenschaften ins Negative: Sie fallen ins ästhetisch Minderwertige ab oder unterstehen gar moralischer Sanktionierung. Somit gelten für Kunstformen ähnliche Kompositionsregeln wie für Nationalcharaktere, für persönliche literarische Vorlieben korrespondierende intellektuelle sowie affektive Dispositionen. Ästhetik und ethische Fragestellungen stehen sich hier noch wesentlich näher als es in der „Kritik der Urtheilskraft“ der Fall sein wird – ein wenig überraschender Befund, der jedoch mit Blick auf die literarische Struktur der Aufsätze Relevanz besitzt. Einige argumentative Bestandteile, die sich im Aufsatz zur Teleologie wiederfinden, charakterisieren bereits das Ensemble dieser frühen Schrift, deren Programmatik und Textgestus enge Verwandtschaft mit der Handhabung der Reisebeschreibungen aufweisen. Konzeptuell sind die „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ holistisch angelegt, wenngleich jene eröffnende Programmatik des Paratextes dem Anschein eines großen Entwurfs eigentlich widerspricht. Virtuos verbindet die Schrift die Suche nach dem Geschmack mit der Frage nach Temperament und charakterlicher Anlage, verknüpft das vorherrschende moralische Gefühl mit der Humoralpathologie und dem Verhältnis der Geschlechter. Ihrerseits wird diese verdichtete Relation zur Beschreibung von Nationalcharakteren in Beziehung gesetzt, welche dann als Indikatoren der gesamten kulturellen sowie politischen Gestaltung ihrer Herkunftsländer gelesen werden. Dass das Ästhetische an Gegenständen begegnen kann, die moralisch zwielichtig – oder sogar lasterhaft – sind, bekunden erhabene Momente des Epischen sowie schöne weibliche Koketterie.56 „Selbst die Laster und moralische Gebrechen führen öfters gleichwohl einige Züge des Erhabenen oder Schönen bei sich; wenigstens so wie sie unserem sinnlichen Gefühl erscheinen, ohne durch Vernunft geprüft zu sein. Der Zorn eines Furchtbaren ist erhaben, wie Achilles’ Zorn in der Iliade.“57 56 Vgl. Kant, Beobachtungen, a. O., S. 212f. 57 Achill ist gleichfalls der Stichwortgeber für Lars Friedrich, der den Konnex zwischen Gattungstheorie und Charakteranlage herstellt. Lars Friedrich, Der Achill-Komplex. Versuch einer dekonstruktiven Gattungspoetik, München, 2009, vgl. S. 34f., S. 59 (FN 140). Auch Kant hat die gattungstheoretischen Implikationen der Achill-Figur im Sinn, wenn er ihr Momente des Erhabenen zuschreibt. Kant, Beobachtungen, a. O., S. 212. Auf den Status literarischer Beispiele komme ich noch zurück. Manchmal übersieht Kant den fiktionalen Charakter seiner Beispiele aus dem künstlerischen Feld. Besonders Charakterzeichnungen tendieren dazu, von der sie umgebenden Handlung entkleidet zu werden.
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Zwischen jenen Eigenschaften sind die Übergänge fließend, ein Merkmal geht unversehens ins andere über. Was hier in Bezug auf die Charaktereigenschaften, die affektive anthropologische Disposition formuliert wird, korreliert Kants Reflexionen zum Rassebegriff. „In der menschlichen Natur finden sich niemals rühmliche Eigenschaften, ohne daß zugleich Abartungen derselben [sic!] durch unendliche Schattierungen bis zur äußersten Unvollkommenheit übergehen sollten.“58 Weniger geht es dabei um den Gedanken menschlicher Perfektibilität oder Unvollkommenheit. Vielmehr interessiert mich das Denken in Übergängen und Grenzziehungen, für das „Schattierungen“ als Verlaufsgestalt einstehen. Obgleich jene Grenzen nicht als natürlich gesetzt werden – da die „Abartungen“ immer „Abartungen“ einer Normierung darstellen, und als solche zur Norm gehören, ihr anhängig sind –, zieht der Text strenge Grenzen ein: Grenzen des guten Geschmacks. Es handelt sich um Beschränkungen des erhabenen Charakters, aber auch um Grenzen guter Literatur oder Kunst. Graduelle Verschiebungen werden als gerade noch oder nicht mehr geschmackvoll markiert, Kunstformen als darstellerisch oder medial begrenzt vorgestellt. „Abartungen“ generieren dagegen neue Begrifflichkeiten: ein Ensemble von beschreibenden Begriffen, die exaktere, minimale Grenzen einziehen.59 Gattungsgrenzen gelten für Kunst und Natur gleichermaßen, gehören der Natur jedoch nicht an. Im Gegenteil zieht sie eine künstliche, begrifflich pluralisierende Differenzierungsoperation überhaupt erst ein – vorausgesetzt, dass Unterschiede auszumachen sind. Hier liegt Kants grundsätzliches Problem mit der Empirie. Im Zuge der Moralisierung von Kunst drückt sich die begriffliche bzw. metaphorische Nähe zum Rassediskurs über Verwandtschaftsverhältnisse aus. Mitleid und Gefälligkeit werden als mit der Tugend verwandt qualifiziert, sind „durch die Verwandtschaft mit ihr geadelt“. Abweichend spricht der Text dagegen von „adoptirte[n] Tugenden“.60 Jene „Verwandtschaft“ überschreitet natürliche Grenzen und ermöglicht eine Art (gesellschaftlichen) Aufstieg.61 Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Die Kritik an der mangelnden reflexiven Einstellung des Rezipienten wird weniger mit Literaturkritik verbunden als mit einer Literaturanalyse, die ihren Fokus auf die Frage richtet, wie der Rezipient den Helden inmitten der Handlung des Stückes wahrnimmt. Diese Fragestellung sieht jedoch von einer Charakteranalyse ab. 58 A. O., S. 213. 59 Vgl.: „Die Eigenschaft des Schrecklich-Erhabenen [selbst schon eine Mischform, K.K.], wenn sie ganz unnatürlich wird, ist abenteuerlich.“ A. O., S. 213f. Eine Abartung des Schönen etwa ist „romanisch“, S. 214. 60 A. O., S. 217. 61 Tatsächlich handelt es sich bei Adoptionen vor allem um die Änderung von Rechtsverhältnissen; ein Aspekt, auf den sich die betreffenden Artikel im Zedler vornehmlich konzentrieren. Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wis-
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Die Metaphorik umreißt Grenzüberschreitung sowie Grenzerweiterung. Obwohl etwas nicht aus ihm entstanden ist, wird es einem bestimmten Kreis von Merkmalen (hier den Tugenden) zugerechnet.62 Ein gesteigerter Grad der Ähnlichkeit lässt es letztlich kaum noch zu, „ächte“ (wahre) und „adoptirte Tugenden“ voneinander zu unterscheiden63, sofern gerade „adoptirte[n] Tugenden“ ihr moralisches Gewicht nicht abzusprechen sei. Wenn Kant in Aufsätzen, die sich mit dem Rassebegriff auseinandersetzen, den Schattierungen der Hautfarben höhere Aufmerksamkeit schenkt als den Mischungen des (phlogiszierten) Blutes, dann offenbart sich auch hier eine fundamentale Unsicherheit in der Qualifizierung von Unterscheidungen. Auf welcher Ebene die Unterscheidungen liegen, bleibt unscharf. Das Auffinden neuer Mischungsverhältnisse hängt unmittelbar von der Formulierung neuer begrifflicher Mischungen ab. Ob eine Gemütsanlage von einer anderen adoptiert und ihr damit zugesprochen wird oder sie als Hybridform übersteigt – für die Kant dann die passende Umschreibung zu finden sucht – hängt von feinen graduellen Varianzen ab. Selbst wenn die Unterscheidung als solche noch sichtbar sein sollte, lässt sie sich mitunter kaum darstellen. Das empirisch begründete Projekt droht angesichts repräsentationaler Komplikationen zu scheitern.64 Als Reformulierung dieser Problemkonstellation tritt der folgende Aperçu ein, der das Verhältnis zwischen Zeichnung und Beschreibung auszuloten sucht: „Ich will diesen wunderlichen Abriß der menschlichen Schwachheiten durch Beispiele etwas verständlicher machen; denn der, welchem Hogarths Grabstichel fehlt, muß, was der Zeichnung am Ausdrucke mangelt, durch Beschreibung ersetzen.“65 Inwieweit die folgende Darstellung der Charakteranlagen zur Karikatur gerät, möchte ich nicht diskutieren. Insofern er auf repräsentationale Verhältnisse abzielt, übernimmt der Hinweis auf Hogarth eine tragende Rolle. Zeichnung, als Terminus senschafften und Künste, Halle u. Leipzig, 1732, Bd. 1, A-Am, Sp. 557-558.: „Adoptare“; Sp. 559: „ Adoption“ et al. 62 Ein Blick in den Adelung oder den Zedler informiert darüber, dass Blutsverwandtschaft lediglich eine (recht) eingeschränkte Bedeutung von „Verwandtschaft“ darstellt. Selbst Künste können demgemäß verwandt sein. Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch, Vierter Theil, Seb-Z, Sp. 1171-1172, „Die Verwandtschaft“. Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, Halle u. Leipzig, 1746, Bd. 48, Vert-Vis, Sp. 141-146, mehrfache Aufführung. 63 Kant, Beobachtungen, a. O., S. 217f. 64 Eine Frage, die Kant im Aufsatz zur Teleologie noch mithilfe der Phlogiston-Theorie zu beantworten sucht, ist, ob die Mischungsverhältnisse des Blutes in den Schattierungen der Hautfarben sichtbar (auszumachen) seien. Vgl. Kant, Über den Gebrauch, a. O., S. 169f.; s. a. Kant, Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace, a. O., S. 89-106, S. 102-104 (Anm.). 65 Kant, Beobachtungen, a. O., S. 214.
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technicus der bildenden Kunst, erfüllt – wie zuvor erläutert – die basale Funktion der Formgewinnung im Raum. Der Aperçu greift den Mangel an Zeichnung auf, der auf dem fehlenden Instrument beruht. Das Instrument verweist auf die plastische Dimension der Radierung: auf Einkerbungen, Rillen und Reliefs. Nur im übertragenen Sinne kann es daher um die Farbigkeit der Darstellung gehen.66 Beschreibung zielt auf einen Zusatz ab, der nicht direkt mit der Darstellung und ihrer technischen Hervorbringung zusammenhängt. Dabei schließt „Zeichnung“ die künstlerische Dimension der Darstellung ein, Technik und Kunstform fallen zusammen. Sofern der Künstler das (richtige) Darstellungsinstrument beherrscht, läge auch ohne Beschreibung ein Kunstwerk vor. Als Behelfsfunktion leistet die Beschreibung dessen Ergänzung, da mangelndes technisches Geschick (mit mangelnder Begabung identifiziert) die Ausdrucksqualität nicht absichern kann. Beschreibung leistet Detaillierung, welche die Zeichnung (noch) nicht aufweist. Seine Herangehensweise (Beschreibungstechnik) unterscheidet den Empiriker vom Künstler (vgl. Wielands narrative Inszenierung dieses Diskurses in seiner Erzählung von „Koxkox und Kikequetzel“). Damit wird die Beschreibung als sekundäre Aufbereitung angeführt, da sie nur im Falle eines Mangels eintritt. Dennoch ist sie in der Lage, die Vollständigkeit des Ausdrucks abzusichern. Weniger distanziert sich das künstlerische Metier hier von empirischen Zugängen. Beschreibung meint nicht allein die Verschriftlichung sprachlicher Darstellung. Als Kompositionsprinzip beschränkt sich auch die Zeichnung nicht auf die bildende Kunst. Vielmehr drängt sich die Frage auf, wo die metaphorische Sprachfunktion – wie Kants eigener Kunstordnung zu entnehmen – Abgrenzungen der Kunstgattungen überschreitet (überschreibt), welche als variable Einfassungen beständig Vermischungen provozieren67, oder inwieweit die Metaphorik es noch leisten kann, die genuine Darstellungsqualität einer Präsentation aufzufächern. Repräsentationsformen oder Kompositionsprinzipien werden somit nicht von Gattungen hervorgebracht, sondern übergreifen sie und tauchen in ihnen wieder auf. Wenn Kant die Gattungen also von sinnlichen Dispositionen, den Wahrnehmungsmodi menschlicher Erkenntnis, ableitet, birgt dies keinen Naturalismus. Vielmehr vertrete ich die Annahme, dass die genetische Heuristik einerseits dazu 66 Als Pars pro Toto von Talent wäre das Instrument ebenfalls lesbar. 67 Freilich könnte man die Neigung zur Vermischung erklären, indem man Gattungen als nachträgliche künstliche Zuschreibungen betrachtet. Man findet also ein sehr heterogenes Feld vor und versucht, es durch Gattungszuschreibungen zu homogenisieren. Natürlich erweckt diese Strategie den Anschein, als würden Gattungen dazu tendieren, sich beständig zu vermischen. Mir geht es jedoch darum, zu zeigen, dass Kant einen Weg durch starre Grenzziehungen zu bahnen sucht, der weitestgehend von Natürlichkeitsphantasmen absieht. Das hindert ihn keineswegs daran, die Grenzen zugunsten seiner Geschmackslehre umso stärker zu befestigen.
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dienen soll, Rezeptions- und Produktionsästhetik miteinander abzustimmen und zu verschalten. Andererseits liegt diesem Abstammungsverhältnis das Potential umfassender Geschmackstheorie zugrunde, wie sie die „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ entfalten. In seinen ethnologischen Betrachtungen, welche sich etwa mit dem Geschlechterverhältnis oder Nationalcharakteren auseinandersetzen, greift Kant das Konzept der substituierenden „Beschreibung“ wieder auf, da seine Darstellung einen hohen Grad an Genauigkeit erfordert. Das dem Darstellungskonzept korrespondierende Verfahren der Materialgewinnung oder Datensicherung gewährleistet die Beobachtung, wobei sich in der Auseinandersetzung mit Forster gezeigt hat, dass sowohl Kant als auch Forster ausgeprägte Sensibilität für das Verhältnis von Beschreibung und Beobachtung ausbilden. Referenz (Evidenz) stellt sich vermöge der Beschreibungen lediglich bei (vermeintlichen) Alltagsbeobachtungen ein. Wo jene hingegen über den Kreis des alltäglich Beobachtbaren hinausgehen, drängt sich die Reisebeschreibung als Hintergrund auf. Insofern es an „Hogarths Grabstichel“ fehlt, es dem Notierten an Ausdruck mangelt, erfüllt die Beschreibung ergänzende Funktion: Sie nimmt auf, was die Zeichnung nicht zeigen kann, was für das Argumentationsziel jedoch von Belang ist. An dieses epistemologische Exposé anschließend verfolge ich die tragenden Argumentationsschritte Kants, um ihre ausgeprägte Verstrickung und relationale Dichte aufzuzeigen. Begrifflich an die Humoralpathologie anknüpfend verbindet Kants Argumentation die affektive Disposition mit dem Charakter und der moralischen Anlage des Individuums. Ihren Ausgangspunkt nehmen jene Zuordnungen beim Melancholiker, dessen charakterliche Disposition zum „moralischen Gefühl[ ]“ neigt. „Die ächte Tugend also aus Grundsätzen hat etwas an sich, was am meisten mit der melancholischen Gemüthsverfassung im gemilderten Verstande zusammenzustimmen scheint.“68 Damit wäre ein melancholischer Mensch nicht prinzipiell als unglücklich oder depressiv zu charakterisieren. Zur Verstimmung neigt er nur, insofern seine Gemütsart ausartet.69 „Er hat vorzüglich ein Gefühl für das Erhabene. […]. Ich fahre in meinen Anmerkungen fort. Der Mensch von melancholischer Gemüthsverfassung bekümmert sich wenig darum, was andere urtheilen, was sie für gut oder für wahr halten, er stützt sich desfalls blos auf seine eigene Einsicht.“70
68 A. O., S. 219; „im gemilderten Verstande“ bedeutet hier, dass das Melancholische weit davon entfernt ist, auszuarten. Die Melancholie wäre damit gleichsam eine Überspannung der melancholischen Gemütsart. 69 Vgl. auch a. O., S. 220. 70 A. O., S. 220f.
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Beinahe zirkulär oder statisch ist das Programm der melancholischen Gemütsart angelegt. Dem Melancholiker wird zugebilligt, dass er in sich selbst ruhe und auf sein eigenes Urteil vertraue, da er feste Grundsätze besitze. Weil er auf diese Grundsätze vertraue, bleibe er gelassen. Die Beharrlichkeit seiner Grundsätze erschließe ihm seine ruhige Gemütsart, da es ihn nicht bekümmere, was andere von ihm denken. Dem sanguinischen Temperament ordnet der Text ein ausgeprägtes Gefühl für das Schöne zu, dem cholerischen unterstellt er die Charakterzüge Ehrgefühl und Ehrbegierde. Aus der Untersuchung auszuschließen sei Kant zufolge der phlegmatische Charakter. Aufgrund seiner Merkmale falle er gleichsam von selbst aus der Materialbreite heraus. Für eine detaillierte Analyse sei sein Charakter zu statisch, da ihm die agonistische Heterogenität der anderen fehle. Nicht singulär und nacheinander in Folge handelt der Text die Temperamente ab, sondern er setzt sie umgehend mit den übrigen Temperamenten in Beziehung. Aus diesem Verfahren resultiert eine chiastische Textstruktur. Antithetisch werden die Schattierungen von Schönem und Erhabenem gegeneinander abgesetzt, aus einer Gegenposition illustriert oder um eine weitere Bestimmung ergänzt. Das Projekt der Ausdifferenzierung entsteht in beständigem Wechsel zwischen den Elementen der Bestimmung und ihrer Analyse. Aus der Ehrbegierde – so die Charakteristik – gehe das moralische Gefühl des Cholerikers hervor. Da sein Charakter extrovertiert ausgerichtet sei, interessiere ihn hochgradig, wie andere ihn wahrnehmen und was sie über ihn denken. Er lebt lediglich im Außen. Seine Moralität hängt vom (durch Kant später so bezeichneten) erlaubten moralischen Schein ab. Anders formuliert übt sich der Choleriker ständig im Gebrauch der liberalen Denkungsart, da er das Urteil anderer vorwegzunehmen suche. In der Menschenfreundlichkeit des Sanguinikers spiegele sich der Sinn für das Schöne, das heißt genauer: Sie äußert sich in seinem Willen zur Kommunikation. Gefälligkeit und Mitleid entsprechen seiner Lebenseinstellung und helfen ihm, sich der Tugend weiter anzunähern. Allen drei Gemütsarten und damit moralischen Einstellungen inhärieren Momente des Erhabenen sowie Schönen in variierenden Relationen. So kann die Ehrbegierde des Cholerikers durchaus erhabene Züge tragen. Zu vergleichen wäre diese heterogene Mischung dem von Kant vorgebrachten Beispiel des tragischen Helden Achill, dessen Gemütsart edel oder erhaben sei, jedoch selten in sich ruhe wie die melancholische. Die Gemütsdisposition markiert eine Haltung gegenüber der Außenwelt, den mehr oder minder ausgeprägten Willen zu Austausch und Kommunikation. Die Einbeziehung der Temperamente könnte als zusätzliche Beschreibung (Merkmalsebene) erachtet werden, welche die Korrelation zwischen dem Sinn für Erhabenes und der Anlage zur Tugend näher skizziert – auf die ihnen zugrundeliegende Konstellation der Säfte beruft sich jene nämlich nicht. Ebenso wie die moralische Disposition variiert der Geschmack nun nach Gemütsart und Charakter. Aufgrund jener Individuierung gestaltet sich die Verständi-
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gung über Kunst schwierig: „[…], so haben sie [feinere Empfindungen, K. K.] doch das Schicksal gemein, daß sie in dem Urtheil desjenigen, der kein darauf gestimmtes Gefühl hat, jederzeit verkehrt und ungereimt scheinen.“71 Obgleich das subjektivierende Argument eine Bandbreite zulässiger Geschmacksvorlieben einräumt, dringt sozial- und geschmackspolitisch motivierte Intoleranz über die Kunsthierarchie in das Gedankenspiel vor – so weitgehend, dass der Geschmacks-Sinn letztlich auf die epistemische Anlage und Fähigkeit des Charakters zurückfällt. „Ein Mensch von einer ruhigen und eigennützigen Emsigkeit hat so zu reden gar nicht die Organen [sic!], um den edlen Zug in einem Gedichte oder in einer Heldentugend zu empfinden, er liest lieber einen Robinson als einen Grandison und hält den Cato für einen eigensinnigen Narren. […]. Auch selbst wenn das Gemüth nicht gänzlich ohne ein einstimmiges feineres Gefühl ist, sind doch die Grade der Reizbarkeit desselben sehr verschieden, und man sieht, daß der eine etwas edel und anständig findet, was dem andern zwar groß, aber abenteuerlich vorkommt.“72
Ob sich über Geschmack streiten ließe, bleibt demnach offen. Festzuhalten wäre, dass gerade der zuletzt erwähnte subjektive Übergang vom Anständig-Edlen zum Großen, aber abenteuerlichen, eine gravierende Differenz in der Hierarchisierung der Künste markiert. Mitunter disqualifiziert ein abenteuerlicher Zug erhabene Kunst. Obgleich das geschmackliche Panorama unter literarischer Rückbindung an das Empirische entwickelt wird, trägt es generalisierende Züge. Die Neigung, verbindliche Kunstgattungen vorzuziehen, suggeriert das Zitat, sei auf distinkte Gemütsstrukturen zurückzuführen. Demnach bevorzugen markante Gemüter entsprechende Kunst- oder Literaturgattungen. Obwohl das Kunstverständnis ins affektive Terrain fällt und unabhängig vom Verstand operiert73 – sein Mangel kein intellektuelles Defizit verrät –, folgt der Text der einmal gelegten Fährte. „Gleichwohl haben die Fähigkeiten der Seele einen so großen Zusammenhang; daß man mehrentheils von der Erscheinung der Empfindung auf die Talente der Einsicht schließen kann.“74 Selbst wenn eine quasi natürliche Veranlagung festlegt, welche Art Literatur oder Kunst jemand bevorzugt, da diese Vorliebe aus seiner Gemütsstruktur entspringt, sanktioniert Literaturkritik seine Neigung indirekt. Zwar ist es dem Rezipienten nicht vorzuwerfen, wenn er ein Kunstwerk nicht adä-
71 A. O., S. 224. 72 Ebd. 73 A. O., S. 225. 74 Ebd.
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quat zu durchdringen, d. h. zu empfinden vermag.75 Dennoch scheint es zulässig, das Objekt seines Amüsements zu diskreditieren. Kunstkritik verläuft über Miniaturen, die Aufschlüsse über die im vorliegenden Text implementierte Hierarchie der Künste geben, aber auch Rückschlüsse auf dessen verborgene Anthropologie zulassen. Implizit führt der Text mangelnden Geschmack auf mangelnden Intellekt zurück, obwohl Kunstrezeption zur Gefühlsangelegenheit deklariert wird. Indessen sind die „Talente der Einsicht“ generell in die Vermögensstruktur76 eingelassen – ein Konzept, das den menschlichen Erkenntnisapparat holistisch begreift. Zentraler Bestandteil des Konzepts ist eine Form emotionaler Intelligenz, die sich am guten Kunstgeschmack offenbart. Diese Verknüpfung könnte allerdings ein Indiz dafür bieten, das Vermögen theoretischer Erkenntnis der ästhetischen Urteilskraft analog als Talent aufzufassen.
75 Eine Spur, die es in diesem Zusammenhang zu verfolgen gilt, erschließt sich über Kants Anmerkungen zum Portrait in der Teleologie-Schrift, die Proportionalität des Portraits als Merkmal zu begreifen, das unmittelbar (fast intuitiv) in die Wahrnehmung fällt. Disproportion bemerkt auch der künstlerische Laie unmittelbar, weil er in der Lage ist, die formale Zweckmäßigkeit der Form von ästhetischen Ideen unabhängig zu sehen. 76 Gemüts- und Vermögensstruktur bilden zwei Seiten einer Medaille. Dabei wäre das Gemüt als passive, leidende Seite zu betrachten, die Vermögensstruktur als aktive, hervorbringende Kompetenz. Das Gemüt verweist auf die charakterliche Disposition, darauf, welcher Typus Mensch jemand ist, das Vermögen darauf, welche Fähigkeiten diese Person ausprägen könnte. Diese Deutung gilt allerdings nur unter Vorbehalt. Es ist zu berücksichtigen, dass Kant Rezeption und Produktion von Kunst in der „Kritik der Urtheilskraft“ nicht als zwei voneinander getrennte Fähigkeiten beschreibt, sondern verdeutlicht, dass beide Fähigkeiten beim jeweiligen Akt gemeinsam auftreten müssen (wenn auch in abweichender proportionaler Verteilung). In den „Beobachtungen“ tritt dieses Wechselverhältnis anthropologisch realisiert zutage, insofern der Geschmack am Kunstwerk unmittelbar aus der Gemütsstruktur entspringt. Zwar ist diese Figur zirkulär angelegt, sie umfasst jedoch einen breiteren Rahmen als es dann in der dritten Kritik der Fall ist.
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Allerdings bliebe die Chance, ästhetische Urteilskraft zu schulen77 – was die dritte Kritik als zwecklosen Zweck der Kunstrezeption ausweist – ausgenommen, insofern die Gemütsstruktur als Charakter einer Person relativ statisch umrissen wird. Charakterliche Konsistenz kommt demzufolge mehr oder minder kollektiv zu adressierenden Gruppen zu: Ihre Stratifikation erfolgt sozial, geschlechtlich, national (völkisch) oder rassisch. Über eine eingebettete invisible hand-Theorie des Eigennutzes und die Zuordnung des Theatralen zum cholerischen Charakter wechselt die Argumentation dann zur Vorstellung eines gesellschaftlichen Gesamtkunstwerkes, in dem die „[…] Eigenschaften des Erhabenen und Schönen am Menschen überhaupt.“78 kontrastiert und zusammengeführt werden. Die Mischung der Charaktere – und damit analog der moralischen Anlagen sowie des ästhetischen Geschmacks – mündet in ein harmonisches Welt-Bild, das die hierarchisch implementierten Unterschiede egalisiert. Ein Metaphernwechsel geht dieser Harmonisierung voraus. Er zeigt die Modifikation des mimetischen Genres an. Indem die Protagonisten die große Weltbühne in Richtung Zuschauerraum verlassen und ihr eigenes Publikum stellen, wird die Darstellung ihrer Dynamik enthoben und zum Bild eingefroren. „Denn indem ein jeder auf der großen Bühne seinen herrschenden Neigungen gemäß die Handlungen verfolgt, so wird er zugleich durch einen geheimen Antrieb bewogen, in Gedanken außer sich selbst einen Standpunkt zu nehmen, um den Anstand zu beurtheilen, den sein Betragen hat, wie es aussehe und dem Zuschauer in die Augen falle. Dadurch vereinbaren sich die verschiedene Gruppen in ein Gemälde von prächtigem Ausdruck, wo mitten unter großer Mannigfaltigkeit Einheit hervorleuchtet, [...].“79
Hinter der Metaphorik von „Zuschauer“ und „Gemälde“ steht das Programm selbstreflexiver Distanzhaltung bei gleichzeitigem Überblick. Was als moralische Vielfalt vor Augen tritt, bezeugt auch in anderen Bezugssystemen Mannigfaltigkeit. Wenn 77 Zammito verortet die „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ eher in der Genese von Kants praktischer Philosophie (Ethik, vgl. S. 107f.) als in dessen Ästhetik (S. 110) und kontextualisiert dessen vorkritischen Schriften neben Herder und weiteren Zeitgenossen innerhalb der Entstehungsgeschichte der europäischen Anthropologie (221), die sich durch literarische Formenvielfalt auszeichne (314). Interessant scheint mir vor allem, dass die literarische Beobachtung, die auch für anthropologische Untersuchungen zentral ist, sich stilistisch und epistemologisch mit dem Versuch/dem Experiment überschneidet (S. 105f.). Das Erschreiben generiert neue Beobachtungskategorien und somit Erkenntnisgewinn. John H. Zammito, Kant, Herder, and the Birth of Anthropology, Chicago/London, 2002. 78 Kant, Beobachtungen, a. O., S. 211. 79 A. O., S. 227.
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sich künstlerische Vorlieben aus charakterlichen Dispositionen speisen, dann involviert die mögliche Integration abweichender Charaktere als Kunstwerk im Umkehrschluss Aufgeschlossenheit gegenüber der Mischung von Kunstgattungen generell. Eigentlich müssten auch sie harmonisierbar sein, allerdings nur – dies zeigt der Metaphernwechsel an – durch eine Darstellung, welche Distanznahme im Modus paralleler Selbst- und Fremdbeobachtung gestattet. Daraus resultiert ein Widerspruch, da die Harmonisierung der Standpunkte und Gattungs-Vorlieben innerhalb einer Kunstgattung erfolgt: in der Malerei. Als intellektuelle Kunst nimmt sie ebenfalls eine prominente Rolle in der „Kritik der Urtheilskraft“ ein. „Dadurch vereinbaren sich die verschiedene Gruppen in ein Gemälde von prächtigem Ausdruck, wo mitten unter großer Mannigfaltigkeit Einheit hervorleuchtet, und das Ganze der moralischen Natur Schönheit und Würde an sich zeigt.“80 Einheitsstiftende Metapher der moralischen Gesellschaft bildet demgemäß das Gemälde. Künstlerische Metaphern treten für das moralische Feld ein (und vice versa). Tatsächlich erlaubt es die zugrunde gelegte Reziprozität zwischen Gemütsstruktur und Kunstvorliebe81 kaum, arglos metaphorischen Gebrauch zu unterstellen. Aufgrund des erhobenen inneren Zusammenhanges beider Felder können deren Begrifflichkeit und Beschreibungen füreinander eintreten. Moralität und Ästhetik stehen sich in dieser frühen ästhetischen Schrift näher, als es künftig der Fall sein wird.82 Miteinander verbünden sie sich zum übergreifenden anthropologischen Entwurf, der durch eine umfassende Harmonielehre stabilisiert wird. Figürlich, sprachlich und rhetorisch erinnert die Konzeption dieses „Gemälde[s]“ an die Emphase von Herders früher Geschichtsschrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“. Jene Korrelation betrifft sogar die Etablierung modellhafter Entwicklungsfiguren. In diesem Zusammenhang besitzt der Aspekt geographischer Bildung Relevanz. Bildung wird hier im dreifachen Wortsinn gebraucht. Es geht um die Entstehung der Nationen, um die Bildung (der Frau) anhand geographischen Materials sowie um die Bildung eines metahistorischen Narrativs, welches das Verhältnis der Nationen und Völker kulturgeschichtlich deutet. Ob man die sich abzeichnende Emphase wie im Falle von Herders Frühschrift (literaturhistorisch) jugendlichem Sturm 80 Ebd. 81 Hierbei kommt es gar nicht darauf an, ob sich diese Vorliebe auf Produzenten oder Rezipienten von Kunst bezieht. 82 Birgit Recki bezeichnet die dritte Kritik als „Buch der Erweiterungen“ (8). In Bezug auf die eben zitierte Passage stellt sie Korrespondenzen zwischen der Frühschrift „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ und der „Kritik der Urtheilskraft“ (11f.) heraus. Schönes und Erhabenes entstammen als ästhetisch-moralische Gefühle einer gleichursprünglichen Disposition (15f.). Birgit Recki, Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant, Frankfurt am Main, 2001, Seitenangaben in Klammern.
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und Drang zuschreibt oder als konservatives Omnipräsenzphantasma deutet, scheint mir zweitrangig. Von Interesse ist vielmehr Kants Hang zur dichten Beschreibung, welche ihre Wirksamkeit in Geographie und Ethnographie entfaltet. Ästhetische Erziehung wäre somit eine Aufgabe des Kartographen, mithin das einzige Vehikel der Bildung, das auch der jungen Frau zugemutet werden darf, solange sie noch schön ist. „Es ist schön, daß einem Frauenzimmer der Anblick einer Karte, die entweder den ganzen Erdkreis oder die vornehmste Theile der Welt vorstellt, angenehm gemacht werde. Dieses geschieht dadurch, daß man sie nur in der Absicht vorlegt, um die unterschiedliche Charaktere der Völker, die sie bewohnen, die Verschiedenheiten ihres Geschmacks und sittlichen Gefühls, vornehmlich in Ansehung der Wirkung, die diese auf Geschlechterverhältnisse haben, dabei zu schildern, mit einigen leichten Erläuterungen aus der Verschiedenheit der Himmelsstriche, ihrer Freiheit oder Sklaverei.“83
Auffällig ist, dass die Form der Belehrung selbst als schön charakterisiert wird. Weitergehender Unterricht hingegen ist Sache des Alters, er tritt als Kompensation des körperlichen Verfalls der Frau ein. So reizvoll eine Untersuchung des dritten Abschnitts „Von dem Unterschiede des Erhabenen und Schönen in dem Gegenverhältniß beider Geschlechter“84 unter dem Gender-Aspekt wirken mag, so greife ich lediglich die für meine Argumentation wesentlichen Punkte heraus. Vorwegzunehmen ist, dass das zuvor lancierte harmonische Phantasma nicht in der Vereinigung des Paares zu ein und derselben moralischen Person aufgeht, selbst wenn dieses Register gezogen wird. Was im vierten Abschnitt folgt, könnte als performative Einlösung der Abschnitt drei vorschwebenden pädagogischen Aufgabe gelten. Nachdem der unmittelbare europäische Umkreis in den kartographierenden Blick geriet, werden „mit einem flüchtigen Blicke noch die andere Welttheile“85 durchmustert. Was im eingeschränkten Kreis herauspräpariert wurde, wird nun auf ein neues Untersuchungsobjekt transferiert. Der kartographierende Blick vollzieht dabei zwei unterschiedene Bewegungen. Einerseits setzt der flüchtige Blick auf die Karte die Beschreibung in Gang, sodass die aufmerksame Schülerin ihren Weg gleichsam mitverfolgen kann. Andererseits entsteht die Karte erst aus den dichten Beschreibungen von etwas, dessen Herkunft nebulös bleibt, und das nirgendwo ver-zeichnet ist. Durch die Karte erfolgt soziographische Bildung, die sich praktisch anwenden lassen soll. Zwar
83 Kant, Beobachtungen, a. O., S. 231. 84 A. O., S. 228-243. 85 A. O., S. 252.
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speist sie sich aus der Differenzierung, ist aber dazu gedacht, im eigenen, sehr beschränkten Kreis zum Einsatz zu gelangen.86 Indessen deutet die beiläufige Erwähnung von Freiheit und Sklaverei auf ein breit angelegtes Erzählprinzip hin, das gesellschaftspolitische Relevanz besitzt. Geographie, Wirtschaftsform und politisches System werden als Elemente kartographischer Betrachtung nicht allein genannt, sondern ferner in konstitutiven Zusammenhang zueinander gesetzt. Diese Miniatur schließt somit die geschichtsphilosophische Frage nach der Durchsetzung der Freiheit ein. Diese Frage betrifft Frauen nicht nur, sofern sie ihr Verhältnis zum männlichen Geschlecht bestimmt, sondern jene „leichten Erläuterungen“ eröffnen zugleich eine männliche (politische) Perspektive. Wenn Kant nachfolgend Charakterzeichnungen von Ländern und Völkern an der Karte entlang entwirft, dann geschieht das nicht allein vor Augen der Damenwelt. Der performative Akt der Kartographierung der Welt stellt auch ein Bildungsprogramm für Männer zur Verfügung: Sie werden nicht allein über die ästhetische Bildung der Frau informiert87, sondern ihre Perspektive erweitert sich potentiell auf die ganze Welt.88 „Meine Absicht ist gar nicht, die Charaktere der Völkerschaften ausführlich zu schildern, sondern ich entwerfe nur einige Züge, die das Gefühl des Erhabenen oder des Schönen an ihnen ausdrücken. Man kann leicht erachten, daß an dergleichen Zeichnung nur eine leidliche Richtigkeit könne verlangt werden, daß die Urbilder davon nur in dem großen Haufe derjenigen, die auf ein feineres Gefühl Anspruch machen, hervorstechen, und daß es keiner Nation an Gemüthsarten fehle, welche die vortrefflichste Eigenschaften von dieser Art vereinbaren. […]. Ob diese Nationalunterschiede zufällig seien und von den Zeitläuften und der Regierungsart abhängen, oder mit einer gewissen Nothwendigkeit an das Klima gebunden seien, das untersuche ich hier nicht.“89
86 Vgl. a. O., S. 230f. 87 Beide Kursive geben der jeweiligen semantischen Doppelbödigkeit ihren Ausdruck. 88 Zusammenfassend zur Gender-Thematik: Tatsächlich erstrecken sich die fokussierten Merkmale auch hier auf mehrere Ebenen der Beschreibung. Die Frauen werden in erster Linie als schönes, die Männer als erhabenes Geschlecht bestimmt. Dennoch gibt es auch unter den Frauen primär erhabene Charaktere, die nur einige Momente des Schönen (Reizvollen) in sich begreifen. Charakterliche Mischformen werden mit Blick auf die Männer nicht eigens thematisiert, sondern global betrachtet. Der Geschmack der Männer wird über den Geschmack der Völker bestimmt, sowohl Geschmack als auch nationale Zugehörigkeit sind männlich codiert. Damit geben Frauen in erster Linie Objekte des ästhetischen Urteils ab und profitieren von pragmatisch ausgerichteter ästhetischer Erziehung durch das männliche Geschlecht. 89 A. O., S. 243. Diese Vorgabe unterläuft Kants Text wie bei den Reisebeschreibungen.
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So lautet die in der Fußnote vorgebrachte heuristische Eingrenzung des Gegenstandes, die sich dagegen verwahrt, ein einzelnes Volk durch Tadel zu beleidigen. Damit handelt es sich um ein Toleranzverdikt, das alle Eigenschaften immer schon auf allen Untersuchungsebenen einräumt. Mischformen gehören Einzelcharakteren, aber auch der Kultur einer ganzen Nation gleichermaßen an. Lediglich die soziale Stratifikation erzeugt Ausschlüsse. Innerhalb einer Nation unterstehen kulturstiftende Leistungen bereits der sozialen Selektion von Charakteren. Zunächst entsteht der Eindruck, als richte sich diese Selektion nach dem Prinzip des Geschmacks selbst. Menschen, die „auf ein feineres Gefühl Anspruch machen“, entwickeln demnach einen besser ausdifferenzierten Geschmack. Im vorangehenden Abschnitt, der sich auf den Geschmack an Frauen bezieht, argumentiert der Text jedoch, gerade der grobe Geschmack übernähme den Erhalt der Gesellschaft. Ökonomisch sichert der Träger des „derbe[n] Geschmack[s]“90 die basalen gesellschaftlichen Bedürfnisse ab, da seine persönlichen Ziele sich auf vitale anthropologische Funktionen reduzieren. Ästhetik stellt ein Luxusphänomen dar, den feineren Geschmack muss man sich leisten können. Obgleich der Text vorgibt, er klammere den Nexus zwischen Nationalcharakteren, politischem System, historischer Verortung sowie Entwicklung und Klima aus, verzichtet er dennoch nicht auf „leichte[ ] Erläuterungen“91, die jene ausgeschlossenen Faktoren wieder einbeziehen. Hinweise auf Nationalcharaktere zeichnen sich an der Analyse des ästhetischen Geschmacks und an sozialen Umgangsformen ab. Bestimmte nationale Ereignisse oder Eigenheiten erfüllen konstitutive Funktion für den Charakter. So ist der „abenteuerliche“ Sinn des „Spanier[s]“ kaum ohne das brutale Wirken der Inquisition denkbar. Seine ihm attestierte Ehrlichkeit und Ernsthaftigkeit hängen nicht zuletzt von ökonomischen Tugenden ab, die den Spaniern als „redlichere[n] Kaufleute[n]“ zukommen. Vergleichbar kontextgebunden berücksichtigt die Untersuchung der Franzosen deren Errungenschaften auf dem Gebiet mathematischer (trockener) Wissenschaften.92 Lediglich paradigmatisch nehme ich die am Leitfaden der Kunstgattungen modellierten Ausführungen der Nationalcharaktere auf, da das Netz von Beschreibungen, das sich anknüpfend an die Nationalcharaktere entspinnt, dem holistischen Paradigma des vorliegenden Textes entspricht. „Das italiänische Genie hat sich vornehmlich in der Tonkunst, der Malerei, Bildhauerkunst und der Architektur hervorgethan. […]. Der Geschmack in Ansehung der dichterischen oder rednerischen Vollkommenheit fällt in Frankreich mehr in das Schöne, in England mehr in das Erhabene. Die feinen Scherze, das Lustspiel, die lachende Satire, das verliebte Tändeln und 90 A. O., S. 235. 91 A. O., S. 231. 92 A. O., S. 245f.
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die leicht und natürlich fließende Schreibart sind dort original. In England dagegen Gedanken von tiefsinnigem Inhalt, das Trauerspiel, das epische Gedicht und überhaupt schweres Gold von Witze, […]. Die Gemüthscharaktere der Völkerschaften sind am kenntlichsten bei demjenigen, was an ihnen moralisch ist; um deswillen wollen wir noch das verschiedene Gefühl derselben in Ansehung des Erhabenen und Schönen aus diesem Gesichtspunkte in Erwägung ziehen.“93
Das Gespann aus Kunstgattung, Geschmack, Charakter und moralischem Gefühl wird in unmittelbaren Konnex versetzt. Aus der Geschmacksanalytik fällt der Spanier heraus, dessen Charakter ohne Umschweife, ohne Einbeziehung kultureller Faktoren, bestimmt wird, da „die spanische Nation“ „wenig Gefühl für die schönen Künste und Wissenschaften an sich gezeigt“ habe. Sein Geschmack ist bereits verdorben, ohne dass die Quelle ästhetischer Pervertierung offengelegt wird. Zur Erklärung dient dagegen ein gesellschaftliches Ereignis, das Autodafé. Der „abenteuerliche[ ] Geschmack“94 resultiert nicht aus dem Kunstgenuss, sondern verdankt sich der brutalen Realität, verhindert damit aber die künstlerische und sogar wissenschaftliche Betätigung generell. Obgleich die spanische Inquisition als negativ prägendes, Kultur regelrecht negierendes, Ereignis einbezogen wird, findet ihr historischer und kulturgeschichtlicher Kontext keine Erwähnung. Als blinder Fleck der Inquisitionskritik erweist sich die kulturhistorische Bedeutung des Siglo de Oro.95 Insofern der Text sich dem Charakter Spaniens beschreibend anzunähern sucht, stellt sich die Frage nach den Quellen von Kants Spanienbild. Der abenteuerliche Sinn für große Taten kippt ins Lächerliche: „Den Pflug stehen lassen und mit einem langen Degen und Mantel so lange auf dem Ackerfelde spazieren, bis der vorüber reisende Fremde vorbei ist, oder in einem Stiergefechte, wo die Schönen des Landes einmal unverschleiert gesehen werden, seine Beherrscherin durch einen besonderen Gruß ankündigen und dann ihr zu Ehren sich in einen gefährlichen Kampf mit einem wilden Thiere wagen, sind ungewöhnliche und seltsame Handlungen, die von dem Natürlichen weit abweichen.“96 93
A. O., S. 244f.
94
Zitate: a. O., S. 245.
95
Geprägt war der Epochenbegriff Siglo de oro durchaus schon im 18. Jh. Siehe hierzu: Frank Baasner, „Die umstrittene Klassik. Das ‚Siglo de oro‘ in der spanischen Literaturgeschichtsschreibung des 18. und 19. Jahrhunderts“, in: Klassik im Vergleich, hg. v. Wilhelm Voßkamp, Stuttgart, 1993, S. 212-231.
96
Kant, Beobachtungen, a. O., S. 245. Eine Folie könnte Don Quixote, „Zweyter Theil“ (2. Band), Fünftes Buch, Kap. XVII bilden: der Kampf mit dem Löwen. Seiner Herrin Dulcinea widmet Don Quixote seinen Kampf jedoch nur; Erkennungszeichen und Erkennungsgesten gehören aber zum Repertoire des (ernsthaften sowie parodistischen)
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Das Wissen über die Landeskultur verdankt sich wiederum einem Kulturprodukt. Das generierte Spanienbild orientiert sich an dem eines Ritters von der Mancha. Als Parodie steht der Ritterroman im Hintergrund. Er büßt seine literarische Herkunft ein, indem er zum historischen Faktum hypostasiert wird. Im Gegensatz zu den anderen Nationen wird Spanien einzig als reale Vergangenheit adressiert, seine angeblich kunstlose Geschichte kondensiert in literarischer Vergangenheit. Wie Kunstformen weisen Volkscharaktere Vermischungen auf, die sich aus Eigenschaften anderer Völker generieren. Obwohl die Kategorisierung einzelner Nationalcharaktere punktuell wenig schmeichelhaft ausfällt, gestaltet sich die kulturell fundierte Hierarchisierung mühsam. „Der Italiäner scheint ein gemischtes Gefühl zu haben von dem eines Spaniers und dem eines Franzosen; mehr Gefühl für das Schöne als der erstere und mehr für das Erhabene als der letztere.97 […]. Der Deutsche hat ein gemischtes Gefühl aus dem eines Engländers und dem eines Franzosen, scheint aber dem ersteren am nächsten zu kommen, […].“98
Auf der Metaebene verstricken sich nicht allein Nationalgefühle, sondern empirisch wahrnehmbare Mischungsverhältnisse mit ihrer kartographierenden Beschreibung. Mag die Suche nach geschmacklichen Grundtypen dubios anmuten, so lassen sie sich systematisch relativ problemlos deduzieren. Charakterliche Grundtypen richten sich auf das Abenteuerliche, das Schöne sowie das Erhabene und werden somit den Spaniern, Franzosen und Engländern zugeordnet.99 Mitunter nehmen Mischungsverhältnisse mäßigende Funktion ein. Anzupeilen wäre die goldene Mitte zwischen den Gefühlen des Schönen und Erhabenen, Elemente des Abenteuerlichen wären hingegen restlos aus der Anlage zu tilgen. Als gemischte Charaktere nehmen die Deutschen eine Sonderstellung ein – ihre Charakterschwäche bekundet sich gleichwohl in ausgeprägter Affinität dem Ehrgefühl gegenüber.100 Als Transferleistung holistischer Entwürfe legt der Text die politischen Auswirkungen französischer Bonmot-Kultur dar, nicht ohne sich bei ihren Landsmännern selbst abzusichern. Sie
Ritterromans. Zeitgenössische deutschsprachige Ausgabe: Des berühmten Ritters Dox Quixote von Mancha Lustige und sinnreiche Geschichte abgefasset von Miguel Cervantes Saavedra., Zweyter Theil, Zweyte Auflage, Leipzig, 1753, S. 181. 97
Kant, Beobachtungen, a. O., S. 245.
98
A. O., S. 248. Allerdings treibt der Text diese vermischte Bestimmung noch weiter.
99
Etwas abweichend perspektiviert Kant binär nach den Gefühlen für das Schöne und das Erhabene, s. a. O., S. 243. Vgl. hierzu die Ordnung der Künste nach der Sprachanalogie in der dritten Kritik, welche sich auch nicht ohne Weiteres zwischen binärer und triadischer Einteilung entscheiden kann.
100 A. O., S. 248f.
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steigen zu Zeugen des Allgemeinen auf, das sie negieren, indem sie genau diesem Allgemeinen eingegliedert werden, es repräsentieren.101 Ästhetische Vorlieben und Differenzkriterien der Nationen referiere ich nicht im Einzelnen. Aus der Frage nach den Umgangsformen leitet sich eine essentielle Unterscheidung ab, die speziell den Umgang mit dem schönen weiblichen Geschlecht betrifft. Einen eigenen Absatz widmet der Text dem Zusammenhang von Nationalcharakteren und Religion – unter dem Vorbehalt, dass diese Untersuchung nicht allein den Geschmack, sondern Ursprungsfragen beträfe. Ursprungsforschung ist allein ex negativo über die Sondierung von Ausartungen zu betreiben: ein Modell, das auch Kants frühe Schrift zum Rassebegriff verfolgt. Die Anwendbarkeit seiner Beobachtungen erprobt der Text erst verzögert. Dabei handelt es sich bei den Beschreibungen bereits um Applikationen, nämlich um die Anwendung des Verfahrens dichter Beschreibung, der doppelten Kartographierung selbst. Präziser erfolgt im vorliegenden Text eine dreifache Kartographierung. Die Karte dient als Anhaltspunkt, und wird erst durch den Akt der Kartographierung semantisch aufgeladen. In der Durchsicht der Karte werden Nationalgefühle des europäischen Raumes einzelnen Nationen zugeordnet und in Relation zueinander gesetzt, sofern sie Mischungsverhältnisse entfalten. In einem dritten Schritt werden die Bereiche des Bekannten auf das (außereuropäisch) Unbekannte übertragen, sodass „die Araber gleichsam [zu] Spanier[n] des Orients“ und „die Perser die Franzosen von Asien“ werden.102 Als Anwendungsfall widmet sich der Text der Aufgabe, „das Gefühl der Ehre zu erwägen“.103 „Nationalunterschiede“104 hängen demnach von der speziell für die cholerischen Deutschen maßgebenden Charaktereigenschaft ab, die ihr ausgewogenes Charakterbild, die „glückliche Mischung“105, freilich stört. Obgleich Kant heterogene Facetten des Ehrbegehrens an den Nationalcharakteren aufzeigt, bildet die Sucht nach „Beifall“106 ein elementares Moment dieser Umgangsform. „Daher schimmert er gerne durch Titel, Ahnenregister und Gepränge. Der Deutsche ist vornehmlich von dieser Schwachheit angesteckt. Die Wörter: Gnädig, Hochgeneigt, Hoch- und Wohlgeb. und dergleichen Bombast mehr, machen seine Sprache steif und ungewandt und
101 A. O., S. 246f. 102 A. O., S. 252. 103 Beides: a. O., S. 249. 104 A. O., S. 243. 105 A. O., S. 248. 106 A. O., S. 249.
206 │S UBTEXTE DER M ENSCHHEITSGESCHICHTE verhindern gar sehr die schöne Einfalt, welche andere Völker ihrer Schreibart geben können.“107
Im Zitat klingt eine Pathologie der Repräsentation an. Lediglich über „Ceremonie“ und „Titel“108 kann die Person angemessen – um nicht zu sagen überhaupt – repräsentiert werden, da jene deren Wahrnehmbarkeit und Hochachtung absichern. Die Person wirkt nicht durch sich selbst (ein Thema, das das Kapitel zur Anmut resümiert), sondern bedarf sprachlicher Etikette. Jedoch plädiert der Text nicht emphatisch für Individualismus, sondern kennzeichnet diese „Schwachheit“ als geistiges Defizit. Den jener Anhängigkeit an das bloße Wort entspringenden Schwach-Sinn wertet er nicht pathologisch, als Geisteskrankheit, sondern er münzt ihn auf die intellektuelle Sprachfähigkeit. Sprachliche Sinnkonstitution schränkt sich durch stabile, festgelegte Semantiken ein, wird „steif und ungewandt“. Semantisch hoch aufgeladene Begriffe wie „Titel“, „Anstand[ ]“, „Rang“109, „Ehre“ oder „Stolz“110, die nicht nur komprimierte Herkunftsnarrative einschließen, sondern dabei über die ständisch codierte Charakteranlage der edlen Person Auskunft geben, bremsen den Neuerungssinn, aber auch die Naivität einer Sprache aus, der es (immer noch) darum geht, den geeigneten Ausdruck für einen Sachverhalt zu suchen. „[S]chöne Einfalt“ benennt die Fähigkeit, die der Welt angemessenen Worte zu finden, und sie vertritt – ohne es freilich zu wissen – die Überzeugung, Sprache sei den Weltzugang zu sichern in der Lage. Dennoch handelt es sich bei einfältiger keinesfalls um ursprüngliche Sprache. Definitiv konzentriert sie sich auf das Medium Schrift, auf die „Schreibart“. Schrift spielt bereits auf etwas Institutionalisiertes an, das über reine Notation hinausgeht. Sie hat sich bereits zu einer Art, zum Vorläufer eines Stils, herausgebildet. Dieser involviert jedoch nicht die Formelhaftigkeit der Kanzleien, die von den zuvor kritisierten Titeln abhängt. Dieser Mangel an sprachlicher Naivität steht „dem Reichthum unserer deutschen Sprache“111 gegenüber, der sich etwa in der Erwägung des Ehrgefühls äußert. Am Begriff der Ehre entwickelt der Text national variierende Konnotationen, die ganz eigene Merkmalskataloge aufrufen. „Reichthum“ vereint neue, hoch ausdifferenzierte Begrifflichkeiten, die sich in Bezugssysteme von Wortfeldern und Bedeutungen einbetten. „Schreibart“ umfasst etwas entschieden Kulturalisiertes, das sich mit „schöner Einfalt“ altbekannten sedimentierten Bedeutungen nähert und sie ästhetisch zu reformulieren sucht. Jenes Zutrauen erhebt Kunst keineswegs zum einzigen Wahrnehmungsmedium der Welt, signalisiert jedoch, die (deutsche) Sprache könne ihre 107 A. O., S. 249, s. a. S. 248. 108 A. O., S. 249, S. 248. 109 A. O., S. 248. 110 A. O., S. 249. 111 Ebd.
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(doppelten) Probleme mit der Repräsentation künstlerisch aufbereiten, indem sie sich den Dingen fortgesetzt mikrologisch annähert. Durch die Einübung der Beschreibung arbeitet Kants Text selbst an der Flexibilität der Sprache und sucht sie zur „schöne[n] Einfalt“ zurückzuführen. Mitunter erfordert diese Operation erheblichen Aufwand und schreckt auch vor der Mobilisierung von Vorurteilen oder Klischees nicht zurück. Ob jene Simplifizierung, die den Perser zum Franzosen (im Umkehrschluss den Franzosen zum Perser) oder den Deutschen zum Engländer erklärt, nicht erneut dazu diene, überkommene Plots zu binden, ist ein berechtigter Einwand. Dennoch prägt sie die Kultur nachhaltig. Die Charakterbilder fallen wesentlich differenzierter aus als die zu Beginn profilierten Charaktere, insofern sie allein in Relation zu anderen Charakteren und just entstandenen oder entstehenden Begriffen entworfen werden. In Zuge dieses Sprachbildungsprozesses greift der Text zwar auf altbekannte Konnotate zurück, versucht jedoch im erneuten Ausloten ihrer Bandbreiten und Bezugssysteme treffende Bildlichkeiten zu erzeugen, die gegen den ersten Anschein einerseits verflachen und andererseits zu definitorischer „Einfalt“ zurückführen.112 Der Bonmot-Kultur der Franzosen – sie lieben „Anekdoten“ in der „Geschich113 te“ – oder der behäbigen ernsthaften Tiefsinnigkeit der Engländer114 steht auf deutscher Seite ein ausnehmender Bedarf an ästhetischen Alltagsformen gegenüber. Das Gefühl, das die Eigentümlichkeit des gemischten deutschen Charakters angibt, wird begrifflich über das „Prächtige“ eingehegt. Damit versucht Kant etwas ohnehin Komplexes zu leisten, das an philosophische Kernprobleme rührt. Die Operation, Gefühle in Begriffe zu übersetzen, nimmt ein ‚Feintuning‘ vor, das sich mit begrifflichen Mitteln nicht bewältigen lässt. Daraus resultiert das eigenwillige Verfahren der Applikation und Ausdifferenzierung, das divergierende Merkmale gleichzeitig in der Schwebe belässt, indem es konnotative Vernetzungen entspinnt. „Das Gefühl fürs Prächtige ist seiner Natur nach nicht original, so wie die übrigen Arten des Geschmacks, und obgleich ein Nachahmungsgeist mit jedem andern Gefühl kann verbunden sein, so ist er doch dem für das Schimmernd-Erhabene mehr eigen, denn es ist dieses eigentlich ein gemischtes Gefühl aus dem des Schönen und des Edlen, wo jedes, für sich betrachtet,
112 Vgl. dazu: „Der Hoffärtige ist ein Stolzer, der zugleich eitel ist.“ Ebd. Dazu ist freilich zu berücksichtigen, wie Eitelkeit und Stolz im Vorfeld definiert wurden. Eitelkeit wird über vier Merkmale positiv (damit meine ich: definitorisch) bestimmt, der Stolz mit drei positiven Merkmalen belegt, vom „Hochmuth“ abgegrenzt usf. Nachfolgend wäre dann näher auf die Fußnote zur Hoffart einzugehen usw. Die Definitionsversuche bilden Ketten oder Reihen, die Eindeutigkeit nur zum Preis weiterer Verstrickungen produzieren. 113 A. O., S. 246, „Bon Mot“, „Anekdote[ ]“ s. FN. 114 „überhaupt schweres Gold von Witze“, a. O., S. 244.
208 │S UBTEXTE DER M ENSCHHEITSGESCHICHTE kälter ist, und daher das Gemüth frei genug ist, bei der Verknüpfung desselben auf Beispiele zu merken, und auch deren Antrieb vonnöthen hat.“115
Wille oder Hang zur Nachahmung, „Nachahmungsgeist“, kommt vorwiegend Charakteren zu, die eine Vorliebe für das „Prächtige“ hegen. Um selbst (etwas Prächtiges) zu repräsentieren, ahmt dieser Charakter vorzugsweise nach und steht bereitwillig im Rampenlicht. Das „Prächtige“ zählt nicht nur zu den favorisierten Gegenständen seiner ästhetischen Wahrnehmung, sondern birgt darstellerischen Eigenwert, der dem (typisch deutschen) Bedürfnis nach Repräsentation entspricht. Moralisch gefasst, sucht der cholerische Charakter die Bühne als Austragungsort seines unverkennbaren Selbstbildes auf116, das es durch die Wahrnehmung eines Publikums zu bekräftigen gilt. Jenes Verhältnis konstituiert sich allein, sofern überhaupt nachgeahmt wird. Die Vorstellung einer Bühne ohne Nachahmung kommt nicht vor. Auf der Bühne bekundet sich keine Authentizität, das Dargestellte liegt immer schon als Re-Produziertes vor – sei es moralisch oder künstlerisch gefärbt. Differenzierung und damit Konkretion erfährt das „Prächtige“ über einen weiteren Begriff, das „Schimmernd-Erhabene“, wobei strittig bleibt, ob beide Begriffe synonym zu verwenden sind. Erläuterung kommt dann der letzten begrifflichen Variante zu, insofern ihre individuelle Zusammensetzung beleuchtet wird. Die rigide Bestimmung des Willens zur Nachahmung mündet in eine Analyse des prächtigen Gefühls, in die Erläuterung seiner einzigartigen Mischung. Als „gemischtes Gefühl aus dem des Schönen und des Edlen“ schwächt sich die Wirkungskraft seiner beiden Einzelkomponenten ab. Die Affekte bleiben kälter, werden daher nicht so stark durch das Schöne und Edle gereizt und damit gebunden. Nicht der Rezeption geben sie sich hin, sondern sie halten intellektuellen Abstand gegenüber ästhetischen Gegenständen, sodass das „Gemüth frei“ bleibt. Somit gestaltet sich die Verbindung ästhetischer Eindrücke, Gefühle und Begriffe zwangloser, freier, betont kreativ. Bei der Verknüpfung, die das Gemüt vollzieht, vermischen sich beide GefühlsKomponenten des Schönen und des Edlen miteinander. Die Synthesis dieser Verknüpfungsleistung trüge das Gefühl des „Prächtige[n]“ oder – abweichend formuliert – das „Schimmernd-Erhabene“ ein. Damit leistet das Gemüt die Synthesis eines vielgestalten Gefühls. Da dieses Gefühl „nicht original“ ist, muss es permanent (sprachlich) erzeugt werden. Die Freiheit des Gemüts äußert sich darin, bei der Verknüpfung „auf Beispiele [ ] merken“ zu dürfen. Im Zuge der Kombination beider Gefühlskomponenten leisten Beispiele nicht allein Beihilfe, sondern vielmehr ist „deren Antrieb vonnöthen“.117 Dabei lässt sich die typische Mischung sowohl schwierig erfassen als 115 Ebd. 116 Vgl. auch a. O., S. 223f. 117 Beides: a. O., S. 244.
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nur mit Mühe repräsentieren bzw. reproduzieren. Nicht nur deshalb, weil das „Prächtige“ einen Bühnen-Charakter vorstellt, bedarf es eines Beispiels. Als Nachahmung orientiert es sich am Vorbild. Um Figuren des „Prächtige[n]“ zu erkennen oder auszubilden, die Präfigurationen der Harmonie zwischen Schönem und Erhabenem ausgestalten, bedarf es exemplarischer Plastizität, der empirischen Existenz individueller Mischungen. Der Durchgang durch eine Reihe von Beispielen dient dazu, den geeigneten Beschreibungsmodi des „Schimmernd-Erhabene[n]“ nachzuspüren – im Prinzip bietet das „Schimmernd-Erhabene“ selbst ein Beispiel für das „Prächtige“. Plastizität könnten variierende Affektdispositionen über imaginär unterlegte Theatercharaktere gewinnen, wobei der Text abstrakt vom „Nachahmungsgeist“ handelt, der sich variablen Gefühlen zuwendet und sie graduell immer schon in sich einschließt. Die Begriffsbestimmungen sind ahierarchisch und chiastisch angelegt: Als Variation des „Prächtige[n]“ steht das „Schimmernd-Erhabene“ der Mischung von „Schöne[m]“ und „Edle[m]“118 gegenüber. Eigentlich gehören Schönes und Erhabenes als ästhetische Grundformen derselben Hierarchieebene an. Somit würden Schimmerndes sowie Edles jeweils Derivate dieser Bestimmungen abgeben; das Edle böte eine Erscheinungsform des Erhabenen. In den Definitionen kreuzen sich jeweils Derivat und Oberbegriff, die Vermischungen transzendieren – ähnlich wie in Kants Kunstsystem der dritten Kritik – die Ebenendifferenzierungen. Begriffliche Bestimmung und Beispiel selbst beginnen, ineinander übertragbar zu werden. Jene näher festzulegende Mischung aus Schönem und Edlem wird einerseits über die begriffliche Neuschöpfung, das „Prächtige“, adressiert. Andererseits setzt das obige Zitat die Bedeutung von „Prächtige[m]“ und „SchimmerndErhabene[m]“ gleich, bildet damit eine Analogie, die nicht sogleich einleuchtet. Um das „Prächtige“ zu begreifen, muss man sich Erhabenes vorstellen, das schimmert. Unter Zuhilfenahme visueller (schimmernder) Illusion werden Nuancen des soeben generierten Begriffs nachträglich illuminiert. So vermittelt das „SchimmerndErhabene“ eine bildlich-begriffliche Mischung, deren Plastizität sich primär aus der Vorstellung des Schimmerns speist. Weder Begriff noch auf den Begriff gebrachte Anschauung liegen mit dem „Schimmernd-Erhabene[n]“ vor, sofern das Schimmernde den Grenzbereich zwischen gegenständlich Sichtbarem und diffuser Visualität ausleuchtet. Entbindet man das Schimmernde vom Erhabenen oder versucht, beides zugleich aufzurufen, liegt es nahe, die Erscheinung des entsprechenden Gegenstandes (Charakters) zu imaginieren. Eine Rückübertragung dieser Vorstellung besteht in der eingangs gestellten Aufgabe, das Edle mit dem Schönen zusammenzudenken. Ohne Zweifel weckt die begriffliche Feinziselierung intuitive und relativ vage Vorstellungen.
118 Zitate: ebd.
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Gegenüber den Bonmot und Anekdote favorisierenden Franzosen hängen die Deutschen am Beispiel. Ihr durch cholerischen Charakter geprägtes Selbstverständnis sowie ihr kulturelles Interesse – Gegenstände, die ihre Aufmerksamkeit erregen – sind überdies auf das Beispiel angewiesen. Ihr Nachholbedarf an Geschmacksbildung reguliert sich vermöge des Beispiels. Damit fungiert es als geschmackliches Korrektiv und Movens kultureller Ausdifferenzierung. „In Deutschland schimmert der Witz noch sehr durch die Folie. Ehedem war er schreiend, durch Beispiele aber und den Verstand der Nation ist er zwar reizender und edler geworden, aber jenes mit weniger Naivetät, dieses mit einem minder kühnen Schwunge, als in den erwähnten Völkerschaften.“119
Unscharf bleibt, welcher Begriff von „Witz“ gemeint ist. Da der Verstand seinerseits als Vermögen identifiziert wird, halte ich es für zulässig, „Witz“ als kreatives intellektuelles (intelligentes) Vermögen anzusehen („Scharfsinn“, Analogievermögen).120 Mit „Beispiele[n]“ können vielfältige Kontexte gemeint sein. Im vorliegenden Zusammenhang bietet es sich an, Beispiele der Kunst oder beispielhafte Künstler einzubeziehen. Persönlichkeiten oder paradigmatische Ereignisse können zudem die Stelle des Beispielhaften einnehmen. Ohne sogleich näher auf die Funktionen des Exemplarischen in Kants Texten einzugehen, möchte ich dennoch die Tendenz der begrifflichen Feinziselierung festhalten, ins Bildliche oder Exemplarische überzugehen. Als weiteren Hang des Erhabenen nimmt der Text in Abschnitt eins bereits die Konkretion des „Schreckhaft-Erhabene[n]“ vor. Zunächst gibt er ein simples (überraschendes) Beispiel für das „Schreckhaft-Erhabene“: „Tiefe Einsamkeit ist erhaben, aber auf eine schreckhafte Art.“121 Als ob parallel reflektiert würde, inwiefern das Beispiel kontraintuitiv oder unzureichend bleibt, nehmen sowohl der folgende Haupttext als auch eine eingeschobene Fußnote die Erweiterung auf und führen sie tiefer in Bildlichkeit und Narration hinein. Im Haupttext wird „die ungeheure Wüste Schamo in der Tartarei“ als Ort solcher Einsamkeit eingestuft. Mit dem „Anlaß […] fürchterliche Schatten, Kobolde und Gespensterlarven dahin zu versetzen“ unterstreicht der Text den Hang des Ortes, mystische Gruselgeschichten aufzurufen. Tiefer in das konkrete Narrativ führt die Fußnote hinein. Eine als „Beispiel“ qualifizierte Quelle löst den von der Einsamkeit zur gespenstischen „Einöde[ ]“122 erweiterten Minimalplot ein, obgleich vorab sowie direkt anschließend zwei zusätzliche Beispiele eingeflochten werden. 119 Ebd. 120 Vgl. Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch, Vierter Theil, Seb-Z, Sp. 15861587. 121 Kant, Beobachtungen, a. O., S. 209. 122 Zitate: a. O., S. 209f.
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Mit diesem dritten und buchstäblichen Beispiel zitiert die Fußnote „einige Stellen aus Carazans Traum im Brem. Magazin, Band IV, Seite 539“. Kants Vorliebe für „morgenländische Erzählung[en]“123 verpflichtet sich auch hier unweigerlicher Detaillierung, obgleich der Kommentar wie so oft vermerkt, dass Kant „übrigens nicht genau“ zitiere.124 Als würde sich das Erzählmuster von Wielands Geschichte über den Priester Abulfauaris en miniature widerspiegeln, entfaltet die Anführung der Stellen panoramatisch eine objektive und schließlich eine resümierendenthüllende, auszugsweise abschreckend-belehrende, subjektive Perspektive: den Traum. Jedoch geht es um mehr als die „Beschreibung einer gänzlichen Einsamkeit“. Denn diese Variante konzentriert sich auf die Frage nach dem Ende aller Dinge, das mit den Worten „[…] zu allem Guten, das ich verübt, nichts konnte hinzugethan und von allem Bösen, das ich gethan, nichts konnte hinweggenommen werden“ als moralisches Ende der Welt umrissen wird. Ferner übt der Hinweis auf „Rechnungen“ und „Handlungsvortheil“ elementare moralphilosophische Kritik. Die „gänzliche[ ] Einsamkeit“ nimmt vorwiegend auf die das Weltenende auszeichnende Undarstellbarkeit125 Bezug. Wie am Ende aller Dinge verweist die Vorstellung des (bevorstehenden) Nichts einzig auf die Apokalypse. Die Infiltration des Beispiels geht jedoch sowohl über das (formelhafte) moralische Exempel als auch die Beschreibung der Einsamkeit hinaus, insofern es – der Text umkreist charakterliche, moralische und schöpferische Dispositionen – performativ gedacht wird. Nicht auf die „Beschreibung der gänzlichen Einsamkeit“ zielt die Darstellung ab. Das „Schreckhaft-Erhabene“ fächert keine Eigenschaften des Objektes auf, die zu veranschaulichen wären, sondern das „Beispiel von dem edlen Grausen […], welches die Beschreibung einer gänzlichen Einsamkeit einflößen kann“ hängt von der Empfindungskraft des Lesers ab. Tatsächlich setzt sich das Beispiel nur über (s)ein Nachempfinden um, welches die Beschreibung auslösen kann. Das „SchreckhaftErhabene“ in der „Beschreibung einer gänzlichen Einsamkeit“ kann nur als Gefühl rezipiert werden, das „edle[s] Grausen“ genannt wird und eigentlich unaussprechlich bleibt. An diesem Punkt läuft die narrative Vertiefung ins Leere, rekurriert auf das (unzugängliche) subjektive Gefühl und greift „nach Gegenständen der Wirklichkeit“.126 Die Verkettung der Definitionsbemühungen endet im literarischen Beispiel: allerdings um den Preis vorgeblicher Exemplifizierung, die den unausweichlichen Schritt in die Wirklichkeit fingiert.
123 Vgl. KAA, Anm. Bde. I-V, Bd. II, S. 483. 124 Ebd. 125 „Unaussprechliches“, Kant, Beobachtungen, Zitate: a. O., S. 209f. 126 Ebd.
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5.3 Bühnentauglich? – Die Fußnote als Ort ästhetischer Übermittlung Das literarische Spiel verschiebt sich in die Fußnoten, die Verweissysteme entspinnen, welche als verborgenes Wissen den Haupttext überwuchern. Welche Funktionen nehmen Kants Reflexionen zu Kunstformen ein, und wie sind sie dem Projekt einer Menschheitsgeschichte in Beiträgen zu konfrontieren? Sowohl die innerhalb der Arbeit untersuchten Texte Herders als auch Wielands durchsetzen ästhetische Exkurse zu diversen künstlerischen Disziplinen. In Bezug auf Kants Aufsätze gilt dieser Befund ebenfalls. Von Seiten der Forschung ist er zugunsten der Auseinandersetzung mit Kants ambitionierter Ästhetik dagegen vernachlässigt worden. An einer Fußnote, die sich mit der Billigkeit bzw. Unmöglichkeit gesellschaftspolitischer Utopien auseinandersetzt, lässt sich darlegen, inwiefern künstlerische Gestaltungsformen für Kant (auch moralisch) relevante Unterscheidungen einziehen. Im Repräsentationssystem haften den nachfolgend aufgerufenen Künsten bereits markante Verschiebungen an, die auf die schwebende Ebenendifferenzierung von Malerei und Theatralität innerhalb der Kunstordnung der „Kritik der Urtheilskraft“ verweisen. Mit der Frage nach der Utopie öffnet sich die Perspektive auf eine Variante der Menschheitserzählung. Zwar nimmt die Aneignung menschheitsgeschichtlicher Zukunft für Kant häufig den Charakter der politischen Fortschrittserzählung an. Dennoch postieren die Abweichungen Wegmarken der Erzählbarkeit. Im zweiten Teil des „Streit[s] der Facultäten“ zeichnet sich als Antwort auf die Frage „Welchen Ertrag wird der Fortschritt zum Besseren dem Menschengeschlechte abwerfen?“ folgende abschließende Fußnote ab: „Es ist doch süß, sich Staatsverfassungen auszudenken, die den Forderungen der Vernunft (vornehmlich in rechtlicher Absicht) entsprechen: aber vermessen, sie vorzuschlagen, und strafbar, das Volk zur Abschaffung der jetzt bestehenden aufzuwiegeln.127 Platos Atlantica, Morus’ Utopia, Harringtons Oceana und Allais’ Severambia sind nach und nach auf die Bühne gebracht, aber nie (Cromwells verunglückte Mißgeburt einer despotischen Republik ausgenommen) auch nur versucht worden. – Es ist mit diesen Staatsschöpfungen wie mit der Weltschöpfung zugegangen: kein Mensch war dabei zugegen, noch konnte er bei einer solchen gegenwärtig sein, weil er sonst sein eigener Schöpfer hätte sein müssen. Ein Staatsprodukt, wie man es hier denkt, als dereinst, so spät es auch sei, vollendet zu hoffen, ist ein süßer Traum; aber sich ihm immer zu näheren, nicht allein denkbar, sondern, so weit es mit dem moralischen Gesetze zusammen bestehen kann, Pflicht, nicht der Staatsbürger, sondern des Staatsoberhaupts.“128 127 In Kants Text folgt an dieser Stelle ein Absatz. 128 Immanuel Kant, Der Streit der Facultäten in drei Abschnitten; Zweiter Abschnitt. Der Streit der philosophischen Facultät mit der juristischen. Erneuerte Frage: Ob das
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Davon abgesehen, dass es sich bei der Frage „Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei“ – der (thematische) Zusatz zum Titel „Streit der Facultäten“ – um eines von Kants Lieblingsthemen129 handelt, fällt vor allem auf, dass Kant – um exemplarische Antworten auf diese Frage zu geben – fünf verschiedene Utopien aufgreift. Präzise handelt es sich um vier Utopien und eine Dystopie. Bei genauerer Prüfung ergibt sich, dass lediglich die Dystopie – alternativ: Karikatur einer Utopie – auf die Bühne gebracht worden ist. Alle anderen Texte bleiben der Schriftform verpflichtet. Als Utopien sind sie allenfalls im übertragenen Sinne „auf die Bühne gebracht“ worden. Harringtons „The Commonwealth of Oceana“ hat konkrete positive Auswirkungen auf der großen Weltbühne gezeitigt, und steht somit im Kontrast zum negativen Auftritt Cromwells. Jener unterbreitet sich dann in etwa so: „A True and Faithful Narrative Of Oliver Cromwell’s Compact With the Devil for Seven Years, […]“ (London 1720), „Der verschmitzte Welt-Mann und Scheinheilige Tyranne in Engelland […]“ (1702), „The Restauration Of King Charles II. Or, The Life and Death Of Oliver Cromwell. An Histori-Tragi-Comi Ballad Opera. As it was forbid to be Acted at the New Theatre in the Hay-Market.“ (London 1732).130 Die Begebenheiten um Cromwell waren nicht allein schon zu dessen Lebzeiten Auslöser ausführlicher Lebensbeschreibungen, sondern seine Politik provozierte zeitnah dramatische Antworten. Die vier weiteren erwähnten Schriften stellen überwiegend literarische Utopien dar131, die medial zunächst nicht auf der Bühne umgesetzt, d. h. aufgeführt, wurden. Als Reaktion auf die Begebenheiten der Weltbühne bestätigt die dramatische oder satirische Präsenz auf der Schaubühne die gesellschaftspolitische Relevanz der Ereignisse. Daher weisen kein negatives Weltbild oder pure Ironie auf die „verunglückte Mißgeburt einer despotischen Republik“ hin. Gesteht der Text seine Vorliebe für theatrale Mimesis ein, da er ihr – sei es als Negativfolie – größere Wirklichkeitsnähe zutraut? Was „versucht“ wurde, wurde tatsächlich „auf die Bühne gebracht“, wohingegen, was nie versucht wurde, auch nicht den Weg auf die Bühne fand. Bleibt die Utopie somit der Schriftlichkeit verpflichtet? Oder findet die kritische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit einzig auf der Bühne statt? Was diese Verschiebung für die Gattung der literarischen Utomenschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei., in: KAA VII, S. 1-116, S. 77-94, S. 92 (FN). Hervorhebungen einheitlich kursiviert. 129 Es verbindet drei seiner Hauptinteressen: Ursprungsproblematik, Staatsverfassung und damit die moralphilosophische Fragestellung. 130 Im Katalog des GBV findet man bei Eingabe dieser Kurztitel umgehend ausführliche Treffer, weshalb ich sie nicht eigens aufführe. 131 James Harringtons „The Common-Wealth of Oceana“ (London, 1656) stärker noch einen politischen Appell. Auch die folgenden bei Kant genannten Werke lassen sich über die bei mir verkürzten Titel und Jahresangaben problemlos im Katalog finden.
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pie bedeutet, stelle ich als Frage zurück. Indem Kant deren Funktion und Repräsentanz jedoch von vornherein verkennt, artikuliert er eigentümliche Erwartungen an Literatur. Utopische Literatur wird mit der Realisation darstellender Kunst verwechselt. Sie nimmt theatrale Form an. Im Medium verkörperter aufgeführter Darstellung steht sie der sinnlichen Wirklichkeit scheinbar näher als die literarische Imagination. Dieses implizite Argument unterschlägt allerdings, dass Harringtons zu Cromwells Lebzeiten entstandene Utopie „The Commonwealth of Oceana“ als philosophischer Entwurf in einigen Punkten als Vorbild der nordamerikanischen Verfassung diente. Auf Ebene theatraler Inszenierung besteht der Anspruch plastischer Darstellung uneingelöst fort. Zu realisierendes Ideal gibt weiterhin der Versuch ab. In Korrespondenz zum im Haupttext des Aufsatzes entfalteten Revolutionsverdikt132 erhellt sich, weshalb die vollzogene Utopie allein als Fauxpas der Schöpfung oder katastrophisches Szenario umgesetzt werden kann. Was als reales historisches Element geschildert werden könnte – keine Utopie um Cromwell entwirft, sondern bestenfalls politische Umstände darlegt – gewährt als Versuch die Folie theatraler Auseinandersetzung. Als solche ist er so real, dass er den öffentlichen Diskurs über das Geschehen sowohl aus zeitgenössischer als auch rückblickender Perspektive aufnimmt, kategorisiert, interpretiert, reflektiert und überdies ironisiert. Theatralität tritt in Kants Sprach- und Metapherngebrauch sowohl als Merkmal literarischer Texte als auch als Merkmal ereignisgesättigter Wirklichkeit auf. Im Zuge der vermehrten Funktionalisierung theatraler Metaphern im Kreis von Literatur und Wirklichkeit fällt es schwer, diese epistemischen Felder überhaupt zu unterscheiden. Worin das Verdienst oder auch das Defizit künstlerischer Fiktion bestehen könnte, bleibt vage; mit Nachdruck manifestiert sich indes die Zurückweisung alternativer Wirklichkeiten. Generell schließt dies mögliche Alternativen jedoch nicht aus, lediglich der Ort oder die Instanz ihrer Durchsetzung werden als utopisch ausgewiesen. So verschiedenartige Texte wie die platonischen Dialoge „Kritias“ und „Timaios“ (in denen Platon „Atlantica“ schildert), der philosophisch-politische Entwurf in Verfassungsgesetzen (Harringtons „The Common-Wealth of Oceana“ von 1656), die utopische Reisebeschreibung (Denis Vairasse d’ Allais’ „L’Histoire des Sevarambes, […]“ von 1672), welche im Falle von Morus’ „Utopia“ (1516) den Teil eines philosophischen Dialogs bildet, werden als utopische Schauspiele zusammengefasst. Grundlage dieser Verwechslung bzw. Vermischung von Literatur und Aufführung könnte deren gemeinsame mimetische Funktionsweise stiften. Zudem ließen sich mimetische Fähigkeiten und deren Ausagieren als anthropologische Merkmale fassen, die somit in Wirklichkeit und Kunst gleichermaßen statthaben. Eine Schnittstelle zwi132 Vgl. dazu die ambivalenten Einschätzungen der Revolution; Kant, Streit der Facultäten, a. O., S. 85-87, s. a. FN S. 86f.: „[…] Revolution, die jederzeit ungerecht ist“.
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schen alltäglicher und reflektierter Mimesis könnte das Ritual bilden, da es nicht um der Darstellung willen nachahmt, sondern vielmehr in der Absicht ausgeübt wird, Effekte in der Wirklichkeit hervorzurufen, deren Begründung nicht primär in zwischenmenschlicher Verständigung zu suchen ist. Nicht in der Übereinkunft von prodesse und delectare als gesellschaftlicher Funktion liegt der rituelle pragmatische Mehrwert. Sondern das Ritual leistet einen Dienst an unsichtbaren Mächten, von denen man sich Ausgleich erwartet oder erhofft. Bereits bei Aristoteles entfaltet der Begriff der „Mimesis“ weitläufige Bedeutungsfacetten: „Der aristotelische Mimesis-Begriff ist deshalb kaum geeignet, die landläufigen Oppositionsbildungen – imitatio versus creatio, Abbildung versus Performanz, Text versus lebendiges Theater, Repräsentation versus Präsenz – legitimatorisch abzustützen. Er legt vielmehr ein Verständnis von Theatralität nahe, das nicht im Gegensatz oder Widerspruch zum Text und zur Sprache steht, sondern das Theatralität umgekehrt als fundamentalen Bestandteil von Sprachlichkeit zu begreifen erlaubt. Anders gesagt, der Begriff der Mimesis macht einen strukturalen Begriff von ‚Theatralität‘ denkbar, der Wirklichkeit und Darstellung nicht auf eine einfache Abbildungsrelation reduziert, sondern der beide im Moment des ‚Szenischen‘ dialektisch aufeinander bezieht.“133
In Anbetracht dieser erweiterten Mimesis-Definition lassen sich etliche Elemente der Texte Kants nicht allein als literarisch, sondern als theatral ausweisen. Einerseits haftet den Texten eine Vorliebe für theatrale Metaphern an, die sich im regen Gebrauch des Lexems Bühne- sowie dramatischer Formationen manifestiert.134 Andererseits häufen sich Theater-Zitate, meist als Hinweise auf Figurenensembles, Urheber oder ein komprimiertes Sujet. Schließlich vollzieht sich intertextueller Austausch teils als theatrales Zitat: etwa wenn Kants paraphrasierende Des- oder Reinterpretationen von Zitaten selbst zur Angriffsfläche seiner Kritik werden. Es handelt sich somit um die korrumpierende Inszenierung eines Gegners, der zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt oder in höchst ungünstiger Konstellation auf die Bühne zitiert wird, um dekonstruiert zu werden. In Kongruenz zu Kants Misslingen, die Ebenen von literarischer Utopie, philosophischem bzw. politischem Entwurf (Argument) und theatraler Inszenierung durch die Qualifikation der Versuche voneinander abzuscheiden, unterbreiten sich seine Essays strukturell selbst als heterogene Simultaneität dieser Gattungen. Als Elemente der Fußnoten theatralisieren die Beispiele die Haupttexte. Die Fußnote in133 Ethel Matala de Mazza, Clemens Pornschlegel (Hg.), Inszenierte Welt. Theatralität als Argument literarischer Texte, Freiburg im Breisgau, 2003; die Einleitung der Herausgeber, S. 9-23, S. 12. 134 Vgl. das Kapitel „Die große Weltbühne“, z. B. die tragische Zuspitzung der Konstellationen am Weltenende, ferner das daran anschließende Kapitel zum „Possenspiel“.
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szeniert eine Szene, deren explikatives plastisches Potential weder argumentativ überzeugt noch rhetorisch überredet, sondern den Leser zunächst irritiert. Bestimmt man den Exempelcharakter der Fußnoten wie folgt, löst sich jene Irritation keineswegs auf: „Das Beispiel übersetzt abstrakte Theorie in die Realität von Geschichte und behandelt sie als ‚Anwendungsfall eines Lehrsatzes‘.“135 Nur unzureichend gibt jene Definition die Funktion der Fußnoten in Kants Texten an, was schon die Überlegungen zu „Kant und die Reisebeschreibung“ veranschaulichten, indem sie offenlegten, dass es sich bei den rassistischen Zitaten der Fußnoten um die Wiederkehr verdrängter anthropologischer Ungleichheit bzw. der im Haupttext in ihre Schranken gewiesenen Empirie handelt. Allenfalls über multiple Zugänge ist die Funktionalisierung der Fußnoten zu deuten. Daher möchte ich die untersuchten Texte „als Szenen ernst“ nehmen, die gleichermaßen als Rahmen eines theoretischen Textabschnitts dienen, wie sie wiederum durch ihn gerahmt werden können. Programmatisch schließe ich an die Aufdeckung der unverkennbaren „mise en scène“ an: „Der Schwerpunkt der Analyse liegt dabei auf Texten, die nicht von vornherein auf eine szenische Umsetzung ausgerichtet sind und die Aufmerksamkeit stärker auf stilistische, diegetische und redaktionelle Verfahren der ‚mise en scène‘ lenken: auf ein ‚Theater‘ spezifisch literarischer Bedeutungsproduktion, das in den nicht-dramatischen Genres ebenso aufgeführt wird wie in Bühnenstücken, in Novellen, Erzählungen und Romanen ebenso wie in Dialogen, Essays und Gedichten.“136
Kants Texte verfahren nicht allein inszenatorisch. Sondern dem strukturellen (unbewussten) Einsatz theatraler Mittel korrespondiert die reflexive Aneignung weiterer artistischer Darstellungsformen bzw. läuft sie ihm zuwider. Die Fußnoten räumen dem literarischen Wissen der Texte seine Bühne ein. 5.4 Reflexion über die Wahrhaftigkeit der Kunst. Implizite ästhetische Theorie Wenn ich mich mit Kants Ästhetik beschäftige, dann geht es weniger um seine Theorie der Kunst oder den fundamentalen Standort der Aisthesis in Kants Erkenntnistheorie. Beide Themen sind umfassend erschlossen, und der Stand ihrer Forschung spielt nur insofern eine Rolle, als sie mit Blick auf die hier entwickelte Fragestellung Aufschluss gibt.
135 Christoph Daxelmüller, „Narratio, Illustratio, Argumentatio. Exemplum und Bildungstechnik in der frühen Neuzeit“, in: Exempel und Exempelsammlungen, hg. v. Walter Haug u. Burghart Wachinger, Tübingen, 1991, S. 77-94, S. 84. 136 De Mazza, Pornschlegel, Inszenierte Welt, a. O., Einleitung, S. 15.
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Das Kapitel zur Reisebeschreibung erwies in Bezug auf die thematisierte Ambivalenz des „Historia“-Begriffs einerseits Kants Weitsichtigkeit, insofern er reflektiert, dass die sprachliche mit konzeptueller Indifferenz korreliert und daher definitorische Sorgfalt geboten ist. Andererseits entpuppt sich diese scharfe Differenzierung als naive Annahme, da die Unschärfe eher in der epistemischen Ambivalenz eines Wissensfeldes wurzelt, das auf die narrative Organisation seiner Belege als Fakten angewiesen ist, um sie überhaupt vermitteln zu können. Ob die konzeptionelle aus der sprachlichen Ambivalenz entspringt oder vice versa, ist zweitrangig. Ohne sie grundlegend an fiktionale Prinzipien zu binden, billigt Kant die dezidiert narrative Organisation (etwa im „Muthmaßliche[n] Anfang der Menschengeschichte“) zu. Dennoch artikuliert die Frage nach der distinkten Gestaltung der Menschheitsgeschichte sich im ästhetischen Diskurs. Dabei bemühen Kants Texte die betreffende Darstellung nicht rein metaphorisch. Eine solche Deutung ignoriert, dass der Umgang mit künstlerischen Darstellungsformen häufig strukturelle Aspekte anbelangt: den Verlauf von Spannungskurven, Fragen der Rezeption, vorwiegend die Angemessenheit der Darstellung in Anbetracht vielschichtiger Aspekte einschlägiger Realität. Insofern begreifen die Aufsätze Leben in Kunstformen, suchen den Grad ihrer Lebhaftigkeit zu bestimmen, ohne Übertreibungen gelten zu lassen. Dabei erweist sich die theatrale Metapher als angemessen, insofern ein Stück poetologischen Ansprüchen genügen kann: ein gutes Stück vorliegt. Was dieses Qualitätsurteil impliziert, lässt sich über die Annahme schlichter adaequatio erläutern. Der Gegenstand wird so präpariert, dass er der unterstellten Wirklichkeit möglichst nahe kommt. Je geringer der Grad künstlicher Aufbereitung, desto leichter ist der Gegenstand auf die Wirklichkeit applizierbar, bis der Umschlagspunkt einsetzt, dass Natur und Kunst sich kaum mehr voneinander unterscheiden. Bei Kant bildet dieser realistische Umgang mit Kunst und Literatur weitere Facetten aus – und gerade sein Realismus zeichnet sich durch die ihn erzeugenden Zusätze aus. Es geht ihm nicht um das Dargestellte selbst, das dem Prinzip der Bescheidung zu gehorchen hat, sondern Bescheidenheit tritt als Organisationsregel ein, die sich über das Verfahren der Proportionalität konkretisieren ließe. Davon abgesehen, kann das Qualitätsurteil ‚gut‘ auf vorgeführte moralische Sachverhalte angewendet werden. Diametral entgegengesetzt verfahren kantische Moralbeispiele selbst, deren Darbietung in der Herausarbeitung und Nuancierung des Fundamentalkonflikts Verschärfungen und Übertreibungen provoziert. Verfährt diese Übertragung von literarischen und theatralen Darstellungsformen oder künstlerischen Gattungen wie Malerei, Roman, Drama, Komödie oder Posse auf die je übermittelte Menschheitsgeschichte widerspiegelnd? Fortwährende Modifikationen von ästhetischen Wertungen sowie Kants Versuche, Kunstformen in Miniaturen zu sammeln und zu systematisieren, welche sowohl die „Kritik der Urtheilskraft“, die Schrift über das Schöne und Erhabene als auch die Aufsätze zur Geschichtsphilosophie anfertigen, berechtigen dazu, die etablierten Konstellationen
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strukturisomorph zu deuten, insofern sie die Frage der Adäquation von Kunstformen aufwerfen. Zu beobachten ist, dass in den Überlegungen zur Organisation der Menschengeschichte generell poetologische Reflexionen erfolgen, und sogar neuartige Erzählgattungen entworfen werden. Der Text „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ betreibt erheblichen definitorischen Aufwand, um herauszustellen, inwieweit die „Muthmaßung“ zwar narrativ organisiert sei, ohne dem Experimentierfeld der Einbildungskraft anzugehören. Die Anknüpfung an einzelne Szenen der Bibel weist nicht sowohl den epistemischen Status der „Muthmaßung“ als auch der traditionellen Gründungserzählung als fragwürdig aus, sondern reflektiert vielmehr den Charakter von Gründungserzählungen überhaupt. Beide Gattungen hängen nämlich von korrespondierenden narrativen Grundelementen und strukturellen Vorgaben ab, um das Ingangsetzen und Fortbestehen der Erzählung zu sichern. In seiner Orientierung an der Bibel nimmt der Text Relektüren vor, die den ursprünglichen Text mehrfach modifizieren. Der Vergleich mit Wielands Erzählung einer nur vorübergehend beständigen paradiesischen Idylle in „Koxkox und Kikequetzel“ gibt in diesem Punkt Aufschluss. 5.4.1 Portrait − Intrinsische Regelpoetik der Abbildung Im Aufsatz zur Teleologie stellt sich die Frage der Angemessenheit künstlerischer Darstellung anläßlich der Malerei. Dabei geht es genauer um den Anschein der Originalität des Individuums im Portrait. Im Gesamtgefüge des Textes nimmt der Exkurs eine strukturell zentrale Position ein, wenngleich seine Tragweite für die übergreifende Argumentation eher begrenzt scheint. Zunächst einmal dient er der Plausibilisierung von Überlegungen zur Varietät, welche nicht als zufälliges Spiel der Natur, sondern für zweckmäßig erachtet werden soll. Neben der für die Schrift maßgeblichen Bestimmung des Rassebegriffs wirken jene Überlegungen sekundär. Beide Themen verknüpft die Einforderung von Individualität. Analog zur rassischen Differenz sei diese von der Natur als zweckmäßig und abgemessen vorgesehen.137 Individualität erfülle eine allein ihr zugehörige Funktion, deren Spezifik man ihr ansehen könne. Als künstlerischer Begriff meint Individualität „Dessein“, das laut Shaftesbury etwa im „Menschengesichte“ anzutreffen sei. Nicht der Verweis auf die alltägliche lebensweltliche Erfahrung suggeriert diese These, sondern der Leser wird dazu angeregt, sich in die Perspektive eines Experten zu versetzen. 137 Kant, Über den Gebrauch, a. O., S. 165f. Das Portraitzitat schiebt sich in diese Argumentation ein, lenkt die Fährte in diese Richtung. „Von dem, was in der Menschengattung Varietät genannt werden kann, merke ich hier nur an, daß man auch in Ansehung dieser die Natur nicht als in voller Freiheit bildend, [...] eben sowohl, als bei den RacenCharakteren, [...] anzusehen habe: weil auch in dieser Zweckmäßigkeit und derselben gemäße Abgemessenheit angetroffen wird, die kein Werk des Zufalls sein kann.“ Es folgt die Anmerkung zum Portrait.
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„Was schon Lord Shaftsbury anmerkte, nämlich, daß in jedem Menschengesichte eine gewisse Originalität (gleichsam ein wirkliches Dessein) angetroffen werde, welche das Individuum als zu besonderen Zwecken, die es nicht mit anderen gemein hat, bestimmt auszeichnet, obzwar diese Zeichen zu entziffern über unser Vermögen geht, das kann ein jeder Portraitmaler, der über seine Kunst denkt, bestätigen. Man sieht einem nach dem Leben gemalten und wohlausgedrückten Bilde die Wahrheit an, d.i. daß es nicht aus der Einbildung genommen ist. Worin besteht aber diese Wahrheit? Ohne Zweifel in einer bestimmten Proportion eines der vielen Theile des Gesichts zu allen anderen, um einen individuellen Charakter, der einen dunkel vorgestellten Zweck enthält, auszudrücken. Kein Theil des Gesichts, wenn er uns auch unproportionirt scheint, kann in der Schilderei mit Beibehaltung der übrigen abgeändert werden, ohne dem Kennerauge, ob er gleich das Original nicht gesehen hat, in Vergleichung mit dem von der Natur copirten Porträt, sofort merklich zu machen, welches von beiden die lautere Natur und welches Erdichtung enthalte.“138
Dieser Passus legt nicht allein kunsttheoretische Ausführungen zur Portraitmalerei dar, sondern versteht sich als weitreichende ästhetische Vorschrift. Dem Zitat zufolge sind zwei mögliche Arten von Kunstwerken vorstellbar. Sie können direkt aus der Einbildungskraft entspringen oder sich nach einem Original innerhalb der Natur richten. Beide Arten von Kunstwerken tragen potentiell individuellen Charakter. Damit ist gemeint, dass sie die Einzigartigkeit eines sinnlichen oder geistigen Ori-
138 A. O., S. 166. Siehe genauer bei den im Kommentar, KAA, Anm. Bde. VI-IX, Bd. VIII, S. 488, angegebenen Shaftesbury-Passagen aus „An Inquiry concerning Virtue, or Merit, Book I, Part II, Sect. I“ (vgl. Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury, Standard Edition. Sämtliche Werke, ausgewählte Briefe und nachgelassene Schriften. In englischer Sprache mit deutscher Übersetzung, hg., übers. u. komm. v. Gerd Hemmerich, Wolfram Benda u. Ulrich Schödlbauer, Bd. II, 2, Moral and Political Philosophy, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1984, S. 44), „Miscellaneous Reflections, V, 1“ (s. a. O., Bd. I, 2, Ästhetik [1989], S. 308-309), „Soliloquy: Or, Advice to an Autor, I, 3“ (a. O., Bd. I, 1, Ästhetik [1981], S. 102-103, S. 106/107, bes. S. 108-109, S. 110-111), vor allem „Sensus Communis: An Essay on the Freedom of Wit and Humour, IV, 3“ (a. O., Bd. I, 3, Ästhetik [1992], S. 121-125). Zur Shaftesbury-Rezeption im 18. Jahrhundert s. MarkGeorg Dehrmann, Das Orakel der Deisten. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, Göttingen, 2008. Zur Prometheus-Figur (Shaftesbury, „Soliloquy“, I, 3, a. O., S. 110111) und Herders Shaftesbury-Rezeption vgl. bei Dehrmann S. 341-387, ausführlich auch zu Wieland und Shaftesbury: S. 271-340. Zur Diskussion der „Grazien“ in puncto Stilistik vgl. S. 290-295: Anlass, auf Kant Bezug zu nehmen, stiftet sie in Dehrmanns hervorragender Arbeit leider nicht, da Kant für die Vermittlung Shaftesburys eine geringe Rolle gespielt habe, vgl. S. 130, S. 364.
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ginals wiederholen und auf diese Weise bestätigen.139 Nicht allein ein „nach dem Leben“ abgefasstes Portrait ist als individuell und damit einem Original zugehörig identifizierbar, sondern es lässt sich auch dasjenige enttarnen, das purer Einbildungskraft entspringt. Seinen individuellen Charakter büßt das lebensnahe Portrait ein, insofern es allein handwerklich geschickt kopiert und oberflächliche Korrespondenz herstellt. Als bloßer Kopie der Natur käme ihm jedoch wiederum der Status naturgemäßer Kunstwerke zu.140 Die Analyse von Shaftesburys Anmerkung hat die schwebende Korrespondenz der Merkmale „von der Natur copirt[ ]“ und „nach dem Leben gemalt[ ]“ zu berücksichtigen. Beide Kriterien lassen sich nicht zwingend in eins setzen. Neben ihrer Gleichschaltung wäre zudem ihre Kontrastierung möglich – abhängig davon, welcher Status dem Kopieren oder Malen zukommt. Liest man kopieren pejorativ, so geben „Natur“ und „Leben“ im Nu Gegensätze ab. Neben „Erdichtung“ und „von der Natur copirte[m] Porträt“ – das als Erdichtung fassbar wird – tritt das „nach dem Leben gemalte[ ]“ Bild, das sich nach dem „Original“ richtet. So gestaltet die Praktik des Malens (im erweiterten Sinne der dritten Kritik) „Wahrheit“ und schlägt in die Wahrheit der Malerei um. Dennoch taucht der Ausdruck Wirklichkeit in diesem Passus nicht auf. Als dessen provisorische Synonyme treten „Natur“ und „Leben“ ein. Ontologisch entschärft implizieren diese Begriffe, dass die Frage nach der Wirklichkeit die Kunst weniger belastet. „Wahrheit“ ist unabhängig von (ihr) korrespondierender Wirklichkeit aufzuweisen, wenngleich sie Bezug zur Lebenswelt aufbaut. Als Aspekte des Kunstwerks verknüpfen sich Individualität und „Wahrheit“ nicht notwendig miteinander oder bedingen einander gegenseitig. Aus beiden Quellen („Natur“ und „Leben“) rührenden Kunstformen kann Individualität zukommen, ohne dass sie jeweils Wahrhaftigkeit bergen. Wenngleich der oben zitierte Passus rein aus der Einbildungskraft geschöpfte Kunstwerke aufgrund (ihnen) mangelnder Wahrhaftigkeit diskreditiert, hängt diese Zurückweisung weniger mit ihrer defizienten Quelle zusammen. Unabhängig von der Verfügbarkeit eines Originals erschließt sich die Originalität des Portraits „dem Kennerauge“ aus sich selbst heraus, „ob er gleich das Original nicht gesehen hat“. Das Original fällt als Vorlage aus. Dennoch belässt der Text im Unklaren, was als Vergleichsmedium herangezogen werden könnte; das „nach dem Leben gemalte[ ] und wohlausgedrückte[ ] Bild“, die „Schilderei“, das „von der Natur copirte[ ] Porträt“ oder das „Kennerauge“. Zwar 139 Diese Ausführungen rekurrieren auf ein lebensweltliches naives Kunstverständnis. Dass Wiederholung immer Bestätigung und Abweichung zugleich bedeutet, da das Wiederholte aufgrund seiner logischen – wiederholenden, nicht hervorbringenden – Struktur nie das Original sein kann, klammert der Text aus. 140 Wie es mit der Kopie einer Schöpfung aus der Einbildungskraft stünde, mit dem Missbrauch geistigen Eigentums, bleibt außen vor.
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heißt es: „in Vergleichung mit dem von der Natur copirten Porträt“. Da das Original jedoch nicht zur Verfügung steht, lässt sich nicht mehr angeben, ob das „von der Natur copirte[ ] Porträt“ als Ausgangspunkt der Prüfung dient oder etwa mit dem „nach dem Leben gemalten und wohlausgedrückten Bilde“ korrespondiert. Positiv formuliert arbeitet sich die Gattungsregel vielmehr an der unmittelbar einsehbaren Proportionalität des „nach dem Leben“ abgefassten („gemalten“) Portraits ab. Insofern Individualität und „Wahrheit“ heuristisch getrennt bleiben, strapaziert die angebotene Deutung den vorliegenden Passus. Diese Trennung ließe sich unter der Prämisse rechtfertigen, dass Individualität Spuren diffuser Zwecke aufweisen kann, während die „Wahrheit“ individueller Darstellung sich dennoch an deren Proportionalität ablesen lässt. Um ein wahrhaftes Portrait zu identifizieren, erfordert es Expertise, da das Kunstwerk aus heterogenen Einzelmomenten zusammengefügt ist, die ihrerseits in komplexen proportionalen Relationen zueinander stehen. Es bedarf ausgewogener Verhältnisse, eines Zusammenspiels der Teile, um das Ganze als solches zu ermitteln.141 Um diese Verstrickungen zu entwirren, sind Zeichenoperationen erforderlich. Selbst wenn das Kunstwerk als nach der Wirklichkeit modelliert gilt, stehen seine Einzelteile in repräsentationalen Verhältnissen, die semiotisch aufeinander verweisen, ohne die Wirklichkeit selbst zu involvieren. Für die vorliegende funktional-epistemologische Ausprägung der Kunsttheorie ist der Begriff bzw. das Konzept der Proportion richtungsweisend. Proportionale Verhältnisse verraten auf einen Blick, ob ein „Bild[ ]“ des Originals oder bloße Erdichtung vorliegt. Ästhetisch wahrt der Text Distanz zur Annahme, dass die Rekombination der Wirklichkeit entnommener differenter Teile durch die Einbildungskraft autonome Kunst hervorbringt.142 Wahre Kunst definiert sich im Rahmen des Abbildens oder Malens über die Proportion, von der Autonomie genialischer Schöpfung ist an dieser Stelle keine Rede. Das vertrackte Verhältnis von Natur und Kunst, von Vorlage und Abbild, das sich nicht als solches zu erkennen geben darf, formuliert die „Kritik der ästhetischen Urtheilskraft“ folgendermaßen:
141 Einen solchen Ansatz könnte man als gestalttheoretisch verstehen. Als Vorreiter der modernen Gestalttheorie setzte sich Goethe mit der Frage nach der holistischen Evidenz der Gestalt auseinander. Auch er geht davon aus, dass selbst der Laie die Gestalt bei entsprechender Geschmacksbildung zu identifizieren vermag. Dennoch knüpft er sie eher an epiphanische Wahrnehmung und genialische Schöpfung. Vgl. Annette Simonis, Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin. Diskursgeschichte einer deutschen Denkfigur, Köln, 2001, S. 24-26, S. 29-33. 142 Z. B. bei Karl Philipp Moritz, Über die bildende Nachahmung des Schönen, in: ders., Schriften zur Ästhetik und Poetik, hg. v. Hans Joachim Schrimpf, Tübingen, 1962, S. 63-93.
222 │S UBTEXTE DER M ENSCHHEITSGESCHICHTE „Also muß die Zweckmäßigkeit im Producte der schönen Kunst, ob sie zwar absichtlich ist, doch nicht absichtlich scheinen; d. i. schöne Kunst muß als Natur anzusehen sein, ob man sich ihrer zwar als Kunst bewusst ist. Als Natur aber erscheint ein Product der Kunst dadurch, daß zwar alle Pünktlichkeit in der Übereinkunft mit Regeln, nach denen allein das Product das werden kann, was es sein soll, angetroffen wird; aber ohne Peinlichkeit, ohne daß die Schulform durchblickt, d. i. ohne eine Spur zu zeigen, daß die Regel dem Künstler vor Augen geschwebt und seinen Gemüthskräften Fesseln angelegt habe.“143
Die zu vermeidende „Peinlichkeit“ könnte sich, positiv formuliert, anmutig ausdrücken. Proportionalität reicht in der „Kritik der Urtheilskraft“ nicht zur Gewährleistung des schönen Scheins aus. Die „Normalidee“ verrät Mittelmäßigkeit, das „Genie“ bedarf einer wohlgesetzten Abweichung. Das „Ideal“ hängt, da „es in dem Ausdrucke des Sittlichen“ besteht, von der „menschlichen Gestalt“ ab, an der dieser ungezwungene „Ausdruck[ ]“ sichtbar werden soll.144 In den Anmerkungen des Teleologie-Aufsatzes zum Portrait geht es zwar dezidiert um wahrhafte, nicht um schöne „Kunst“. Dennoch wird die Portraitmalerei als „Kunst“ identifiziert, das Eingeständnis der „Wahrheit“ zieht zwangsläufig die Frage der ästhetischen Qualität des Gegenstandes nach sich. Besonders das Portrait, das in der Gesichtsbildung einen „dunkel vorgestellten Zweck“ wiedergibt, muss sich die Frage nach dem sittlichen Charakter des Dargestellten gefallen lassen. In der „Kritik der ästhetischen Urtheilskraft“ kommt das Konzept der „Proportion“ freilich nur als subjektive Harmonie der „Erkenntnißvermögen“ im Geschmacksurteil zum Tragen und wird nicht im Gegenstand aufgesucht.145 Die Vorstellung einer Harmonie von sinnlichem und intellektuellem Erkenntnisvermögen bedingt jedoch möglicherweise das Urteil eines als schön und stimmig empfundenen Portraits. Ohne die kantische Ästhetik hinreichend wiedergeben oder sie im zeitgenössischen Umfeld positionieren zu können, möchte ich betonen, dass die schlagwortartig oder exkursiv angelegte ästhetische Theorie mit dem Thema „Geschichte der Menschheit“ gekoppelt wird, und dass es beiderseits um Angemessenheit (ein Mehr, das sich an der Proportionalität abnehmen lässt) der Darstellung geht. Wie dem Zitat zu entnehmen ist, formiert sich die Annahme einer wahrhaften Kunstform, die trotz fundamentaler Trennung von Kunst und Wirklichkeit deren Korrelation und Korrespondenz annimmt. Die spezifische Kompetenz zur Formgebung begründet den Sonderstatus der Kunst. Allein künstlerische Gestaltung vermag ein teleologisch ausgerichtetes Ganzes absichtsvoll umzusetzen. Lediglich die Anlehnung an die ästhetische Organisation des Kunstwerks vermittelt einen analogen Begriff 143 Kant, Kritik der Urtheilskraft, § 45. „Schöne Kunst ist eine Kunst, sofern sie zugleich Natur zu sein scheint.“, S. 306f. [180-181]. 144 A. O., § 17. „Vom Ideale der Schönheit.“, S. 234f. [58-60], s. a. FN. 145 A. O., § 39. „Von der Mittheilbarkeit einer Empfindung.“, S. 292f. [155-156].
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teleologischer Verhältnisse – unter Rücksichtnahme auf Ursachenforschung. Kausalität setzt sich für Kant uneingeschränkt als reine Wirkung um. Die Ursache beläuft sich auf die Angabe der Wirkung. Was über den obsoleten Kraftbegriff bestimmt wird, betitelt bloß eine Wirkung, der eine analoge Ursache zuzuordnen ist. Die Korrespondenz von Ursache und Wirkung stellt sich zuletzt sprachlich her. „Von einer Grundkraft aber (da wir sie nicht anders als durch die Beziehung einer Ursache auf eine Wirkung kennen) können wir keinen andern Begriff geben und keine Benennung dafür ausfinden, als der von der Wirkung hergenommen ist und gerade nur diese Beziehung ausdrückt.“146
An zwei Beispielen erläutert der Text dieses begriffliche Verhältnis. So birgt der Begriff Organismus das Prädikat der Organisation147, ähnlich wie die der Einbildung zugrundeliegende Kraft als Einbildungskraft registriert wird.148 Obgleich die Diskussion über den Kraftbegriff primär darlegt, dass bestimmte Begriffe nicht (mehr) voneinander abgeleitet werden können – besonders logische Aspekte einbezieht – signalisieren die Bemerkungen in der Fußnote, dass auch sprachliche Grenzen Geltung besitzen – sowohl was die interne Beschränkung der Sprache als auch die Limitation ihres Zusammenhalts mit der Wirklichkeit betrifft. Das Nachdenken über die ersten zugrundeliegenden Ursachen stagniert in sprachlichen Tautologien als sicherem Indiz dafür, dass eine Ableitung ihr Ende erreicht hat, ihre Reduktion auf eine letzte Grundkraft nicht zu gewährleisten ist. Die logische Sprache propositionaler Sätze stößt bei Überschreitung naturwissenschaftlicher Geltungen an ihre Grenzen. Die getroffene Aussage driftet von Formelhaftigkeit in zirkuläre Wendungen ab und operiert am Rand der Unsagbarkeit. „Denn man ist zu ihrer äußersten Grenze gelangt, wenn man den letzten unter allen Erklärungsgründen braucht, der noch durch Erfahrung bewährt werden kann. Wo diese aufhören, und man mit selbst erdachten Kräften der Materie nach unerhörten und keiner Belege fähigen Gesetzen es anfangen muß, da ist man schon über die Naturwissenschaft hinaus, [...]. Weil der Begriff eines organisirten Wesens es schon bei sich führt, daß es eine Materie sei, in der Alles wechselseitig als Zweck und Mittel auf einander in Beziehung steht, und dies sogar nur als System von Endursachen gedacht werden kann, [...]: so kann in der Physik nicht nachgefragt werden, woher denn alle Organisirung ursprünglich herkomme. [...]. Ich meinerseits leite alle Organisation von organischen Wesen [...] ab [...].“149 146 Kant, Über den Gebrauch, a. O., S. 180. 147 A. O., S. 179. 148 Vgl. a. O., S. 180f., FN. 149 A. O., S. 179.
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Analytisch ist der Begriff der „Organisation“ im „organischen Wesen“ enthalten (und vice versa) und stiftet einen etymologischen Zusammenhang150, der die hergestellte Beziehung über die Naturwissenschaft hinaus absichert. Als weiteres Beispiel nennt Kant die Substanz, der man keine Grundkraft zuordnen könne, da deren Verhältnis zu den vielfältigen Akzidenzien durch die Kraft angezeigt werde, insofern diese einzig aufgrund (kraft) der Substanz Wirklichkeit gewinnen. Für die Argumentation des Abschnitts besitzen weniger die logischen sowie ontologischen Überlegungen oder Definitionen Relevanz. Erhellend ist, dass sie einerseits um die Misere der „gemeinschaftlichen Titel“151 – also um sprachliche Konflikte – und andererseits um den Angelpunkt empirischer Orientierung kreist, welche auf die sprachliche Durchsetzung teleologischer Verhältnisse angewiesen ist. Als Heuristik oder praktische Idee, welche die Organisation der Welt aus moralischen Anliegen zu untermauern sucht, lässt sich Teleologie (als Meta-Prinzip) tatsächlich nicht beweisen. Aus einem anderen Zusammenhang ist ihr Ordnungspotential jedoch empirisch bekannt. Für die Darstellung der Welt im Fokus geschichtsphilosophischer Fragestellungen hält diese Bekanntschaft Aufschlüsse bereit. „Wir kennen aber dergleichen Kräfte ihrem Bestimmungsgrunde nach durch Erfahrung nur in uns selbst, nämlich an unserem Verstande und Willen, als einer Ursache der Möglichkeit gewisser ganz nach Zwecken eingerichteter Produkte, nämlich der Kunstwerke.“152
Kunstwerke werden mit diesem Zitat als teleologisch arrangierte Produkte bzw. Darstellungen klassifiziert, deren Ursache bekannt ist, da sie im Verstand und Willen eines Individuums wurzelt. Mit dieser Annahme ruft Kant intersubjektiv als innersubjektiv Erfahrbares auf. Zwar geht es um Erfahrungen des (schöpferischen) Subjekts, die als subjektive potentiell allen Individuen offenstehen. Allerdings weist der Text damit eine professionelle Erfahrung als alltäglich aus. Ohne Umstände vermag sich der Laie in die Perspektive des Künstlers zu versetzen, weil er gleichfalls über Subjektivität verfügt. Entweder ergründet der Laie über das Wissen seiner Subjektivität (sein Selbstbewusstsein) analog die Produktionsbedingungen der Kunst oder die spürbare Existenz von Kunstwerken lässt ihn auf ihre mögliche Ursache schließen – sogar wenn er selbst keine Einsicht in die Entstehung eines Kunstwerks erlangen kann. Nicht jeder, der Geschmack besitzt – nach der Vorga150 Eine Herleitung, die sich etwa im Grimm findet. Vgl. Jacob u. Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Leipzig, 1854-1961, Bd. 13, Sp. 1340, „Organisation“. 151 Kant, Über den Gebrauch, a. O., S. 180f. (FN). Die Suche nach einer einheitlichen „Grundkraft“ verfährt also häufig reduktiv, indem mehrere „Grundkräfte“ zu einer „einzige[n]“ zusammengefasst werden. Dabei hängt die Auswahl dieser „Grundkraft“ von ihrem vornehmen Klang ab, der Erhabenheit zum Ausdruck bringen soll. 152 A. O., S. 181.
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ben der dritten Kritik demnach wirklich jede(r) –, kann Kunstprodukte hervorbringen. Die basale Unterstellung, die der Ermöglichung ästhetischer Urteile dient, trifft auf den Künstler seinerseits nur bedingt zu, dessen subjektives Vermögen partiell von allen anderen abweichen muss.153 Der Rezipient tritt letztlich in den Zirkel der verstellten Ursache ein, da er künstlerische Produkte lediglich als Wirkungen wahrnimmt. Nur Künstlern oder etwa Verfassern von Texten wäre das teleologische Prinzip als subjektive Erfahrung zugänglich. Die Differenz des Kunstwerks zur planbaren abgeschlossenen Handlung, die man ebenfalls als auf Zwecke ausgerichtet begreifen kann, schuldet sich dem Werkcharakter des Kunstwerks, der Annahme zeitlicher Persistenz, sobald es – zumindest temporär – komplett vorliegt. Bietet Handlung ein gegensätzliches Modell an, dessen Merkmal darin bestünde, schlicht vorüberzugehen, ohne manifeste Spuren zu hinterlassen? Um die Komplexität handlungstheoretischer Aspekte auszuklammern, mag es sich als sinnvoll erweisen, den Fokus auf die Kernfrage einzuengen, inwiefern Spuren einer Handlung von Spuren des Kunstwerks differieren oder ihnen ähneln – soweit in beiden Fällen von Spuren die Rede sein kann. Im Anmutsdiskurs des 18. Jahrhunderts taucht die Metapher der Spur auf, um die Wirkung der Anmut als Widersprüche integrierende Essenz schöner Kunst zu beschreiben – allerdings wird sie nur als Hinterlassung des Gegenstandes im Subjekt begriffen, nicht als materielles Überbleibsel (in) der Welt.154 153 Kant, Kritik der Urtheilskraft, a. O., § 39, S. 292f. [155-156], § 46-48 (zum „Genie“), vgl. S. 308 [182]; es muss etwas können, ohne (über ein mögliches Geschmacksurteil hinaus) in der Lage zu sein, sich oder anderen darüber Rechenschaft abzulegen. Anhand der Frage nach dem Genie werden die Grenzen von Kunst und Wissenschaft verhandelt (§ 47, S. 309 [185]). § 48 schaltet sich in die „Laokoon“-Debatte ein (S. 312 [190]). Interessant ist, dass hier allzu naturalistische Darstellungen in der „Bildhauerkunst“, die „Ekel“ erregen könnten, durch den Einsatz von „Allegorie oder Attribut[ ]“ abgeschwächt, laut der Interpretation Kants damit neutralisiert sowie intellektualisiert werden. 154 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch VI, Kap. 5, 1140b, 6-7, unterscheidet zwei Arten von Handlungen: poiesis und praxis. Der erste Handlungstyp orientiert sich am Ergebnis der Handlung, ihrem Werk. Der zweite bezieht sich auf den Vollzug der Handlung selbst. Aristoteles, Nikomachische Ethik VI, hg. u. übers. v. Hans-Georg Gadamer, Frankfurt am Main, 1998, S. 34-35. Damit schließt dieser Handlungstyp ein, was ich oben als Handlung bezeichne. Ebenso wie man poiesis unter den Oberbegriff der Handlungen subsumieren kann, wäre es gleichfalls möglich, Handlungen allgemein unter poietischem Standpunkt zu betrachten. Der Begriff der „Spur“ (S. 83) bei Derrida lässt sich der Ästhetik des 18. Jahrhunderts am ehesten über die Funktion des Supplements verbinden. Scheint im Kunstwerk die Unterstellung der gedachten Übereinstimmung von innen und außen, der Hauch ursprünglicher Wahrheit in der Erfahrung einer Evi-
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Gemäß der oben zitierten Minimaldefinition Kants geziemt dem Kunstwerk kein irrationales oder überflüssiges Moment. Daher genügt Proportionalität, um die ästhetische Botschaft zu übermitteln, beinhaltet in dieser Selbstgenügsamkeit jedoch immer einen Zusatz, der Originalität oder Genialität absichert – als Zusatz jedoch nicht identifizierbar sein darf. Ästhetisch Unbewusstes sieht diese Kunstteleologie nicht vor. Kunst kann Totalität erzeugen, aber nur bedingt über sich hinausweisen. Wenn Kant (in diesem Kontext) von allgemeinmenschlicher Erfahrung handelt, die in der Planung des Kunstwerks nach Zwecken liegen soll, dann irritiert, wen das „Wir“ generalisierend einschließt. Nach den bisherigen Ausführungen wäre davon auszugehen, dass allein Künstler sich über die Zweckmäßigkeit ihrer Kunstwerke verständigen und Rechenschaft darüber ablegen können. Nimmt der Text hier die Warte kunstinteressierter Laien und Experten, von Rezipienten ein, die in der Lage sind, Zweckmäßigkeit an der Organisation des Kunstwerks selbst abzulesen? Für diese Annahme sprächen die parallelen Überlegungen zur Wahrhaftigkeit des Portraits, welche sogar Laien einsehen können. Oder schweben ihm mit diesem „wir“ kunstinteressierte Theoretiker vor, eine intellektuelle Elite, die eigene Erfahrungen mit „ganz nach Zwecken eingerichtete[n] Produkte[n]“ vorweisen kann? Unter die Klasse dieser Produkte wären damit schriftlich verfasste Werke zu subsumieren. Die sowohl rezeptions- als auch produktionsästhetisch ausgerichteten Reflexionen zur Teleologie innerhalb diverser Kunstformen ließen zu, auch die theoretisch ausgewogene Argumentation als zweckdienliches Produkt auszulegen, für das – wie für alle anderen Sorten von Kunstwerken – obligate Gattungsregeln gelten. Wenn Kunst als Bereich menschlicher Erfahrung skizziert wird, in dem Teleologie nicht allein als praktische (moralische) Orientierung vorauszusetzen ist, sondern das Kunstwerk sie sowohl rezeptiv als auch produktiv vermittelt, so streift dies nachdrücklich die Frage ihres Geltungsbereichs. Wo liegen die Grenzen eines denz, auf, dann vermag die Anmut dieses Verhältnis abzusichern. Sie wird tatsächlich als „Spur“ gelesen, insofern sie auf etwas Abwesendes verweist, das zugleich anwesend sein soll (S. 124, S. 537). Dieses spielerische Verhältnis schreibt Derrida freilich dem Supplement (der Schrift) als Repräsentant der „Spur“ zu (S. 285-287). Einerseits kommt der Ästhetik des 18. Jahrhunderts eine Supplementfunktion in Hinblick auf deren Epistemologie zu, andererseits scheint das Supplement sich über die Schrift hinaus (die das ursprüngliche gesprochene Wort vertritt) auf weitere Medien zu erstrecken: nicht nur, um die Schrift auf den Ursprung hin zu überwinden, sondern um die Supplementfunktion als solche zu erproben. Jacques Derrida, Grammatologie, übers. v. Hans-Jörg Rheinberger u. Hanns Zischler, Frankfurt am Main, 1983, Seitenzahlen in Klammern. Zum Konnex von Anmut und Spur s. Ulrike Zeuch, Umkehr der Sinneshierarchie. Herder und die Aufwertung des Tastsinns seit der frühen Neuzeit, Tübingen, 2000, S. 254 [Communicatio 22].
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künstlerischen Werks oder Akts? Wie kunstvoll kann eine Handlung sein (Eventkunst), und inwieweit erstreckt Sprache sich über ihren pragmatischen oder rhetorischen Gebrauch hinausgehend in die Literatur, berührt die Kunstform? Fließende Grenzen zwischen künstlerischen Bereichen und lebensweltlicher Intention einzuräumen – Handlungen beispielsweise als pragmatisch, handwerklich oder auch künstlerisch motiviert zu werten oder Texte zwischen den Kategorien nüchtern, rhetorisch oder literarisch changieren zu lassen – bedeutet nicht, das teleologische Prinzip auf alle lebensweltlichen Bereiche auszudehnen. Im Gegenteil, fällt die Bindung des Teleologischen an die Kunst ins Gewicht. Das Sprechen über teleologische Verhältnisse birgt die Inszenierung dieses Sprechakts in sich. Daher tritt seine Artikulation im Text sehr wahrscheinlich bereits unter Einsatz literarischer bzw. theatraler Praktiken auf. 5.4.2 Anmutige Darstellung (Schiller) Dass die Frage der Gestaltung philosophischer Problemstellungen und Argumentation im Teleologie-Aufsatz virulent wird, bekräftigt die Relevanz der Veranschlagung poetologischer Hintergründe in geschichtsphilosophischen Untersuchungen. Der Darstellungsaspekt ist nicht als Nebenprodukt der Argumentation zu vernachlässigen, sondern er erfüllt sowohl epistemische als auch didaktische Funktionen. Was die Darstellung leistet, bleibt keineswegs behelfsmäßig oder sekundär. Indirekt gesteht Kant die eigene Unfähigkeit zur (literarischen) Umsetzung luzider Darstellungen mit seiner Dankeserklärung an Reinhold zu. Einen vergleichbar systematischen Standpunkt wie der allgemein gehaltene Dank an die Reisebeschreiber nimmt die Wertschätzung von Reinholds „Talent“ ein. In beiden Fällen bekräftigt Kant seine Argumentation über das Zeugnis anderer, obgleich er damit vielseitige Intentionen verfolgt. Durch ihre Anmut stützt Reinholds Darstellung die „trockene[n] abgezogene[n] Lehren“ Kants. Ohne die Aufgaben eines rhetorischen Ornaments zu erfüllen, bildet sie eine Ergänzung. Als Agent der Rhetorik tritt der überzeugende Stil keineswegs auf: Er überredet nicht, sondern verbürgt als Stil die Transparenz theoretischer Aussagen.155 „Das Talent einer lichtvollen, sogar anmuthigen Darstellung trockener abgezogener Lehren ohne Verlust ihrer Gründlichkeit ist so selten (am wenigsten dem Alter beschieden) und gleichwohl so nützlich, ich will nicht sagen blos zur Empfehlung, sondern selbst zur Klarheit der Einsicht, der Verständlichkeit und damit verknüpften Überzeugung, – daß ich mich verbunden halte, demjenigen Manne, der meine Arbeiten, welchen ich diese Erleichterung nicht verschaffen konnte, auf solche Weise ergänzte, meinen Dank öffentlich abzustatten.“156 155 Nun ist es berechtigt einzuwenden, diese Behauptung stelle selbst einen rhetorischen Topos dar. 156 Kant, Über den Gebrauch, a. O., S. 183.
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Diesen an Reinhold adressierten Dank lediglich als höfliche Floskel oder als Zugeständnis157 an den Merkur-Herausgeber und Reinholds Schwiegervater Wieland anzusehen, halte ich für kaum überzeugend. Signifikant ist, dass das Thema der „anmuthigen Darstellung“ überhaupt aufgegriffen wird, indem der Aufsatz betont, welches Potential die Bewältigung der Aufgabe birgt, einen Text durch die literarischen und rhetorischen Mittel seiner „Darstellung“ „ohne Verlust [d]er Gründlichkeit“ zu vereindeutigen. Sofern die Darstellung nicht einen Verlust an Gründlichkeit begünstigt – eine Befürchtung, die man Kant primär zuschreiben würde –, besiegelt sie das Argument des Textes und gestaltet es überzeugender, als es die „trockene“ Darstellung je könnte. Dabei bietet sich die „anmuthige[ ] Darstellung“ gegenüber der strengen Theorie nicht deshalb an, weil sie leichter zu rezipieren wäre; dieser Vorzug entsteht lediglich als Nebeneffekt. Dass ihre Lektüre ästhetischen Maßstäben genügt, empfiehlt sie nicht direkt; sie wirkt nur en passant angenehmer auf das Gemüt. Ohne reduktiv zu verfahren, ist die „anmuthige[ ] Darstellung“ klarer. Obgleich anmutig, dient sie nicht als ornamentale Ergänzung, sondern gilt als „Erleichterung“. Als solche begünstigt sie „Klarheit“, ist einer „lichtvollen“ Darstellung „sogar“ überlegen. Nicht eindeutig ist hingegen, was die Begriffe „lichtvoll[ ]“ und „anmuthig[ ]“ exakt bedeuten. Ähnlich dem Adjektiv „lichtvoll“ fällt das Darstellungsziel „Klarheit“ in den Kernbereich aufklärerischer Metaphorik, während die Anmut einem abweichenden (moralästhetischen) Diskurs entstammt. Mit ihrer Darlegung bietet sie ein Gegenmodell zu „trockene[n] abgezogene[n] Lehren“ an – damit zu theoretischer, auf ein Wesentliches reduzierter Wissensrepräsentation – und kann so ein angemessenes Verständnis dieser „Lehren“ erst gewährleisten. Als epistemische Praxis leistet die „anmuthige[ ] Darstellung“ dreierlei: Sie führt zu „Klarheit der Einsicht“, „Verständlichkeit“ und „Überzeugung“. Von den ersten beiden Vorgängen hängt die abschließende „Überzeugung“ offenbar zwingend ab: „Verständlichkeit“ gehört zu ihren elementaren Voraussetzungen. Denkbar wäre, am Zitat eine Stufenfolge der Erkenntnis abzulesen. Am Anfang dieser Kette stünde die klare Einsicht als eine Art evidenzbasierter Erkenntnis: eine Erkenntnisform, die der Sukzession diskursiver verständlicher Darstellung eigentlich entgegensteht. Fasst man Evidenz als Basis von „Verständlichkeit“ auf, wäre zu klären, wie sie diese herstellt. Erzeugt sie ein epistemisches Schockmoment, das aufmerken lässt, und somit die Nachforschung über den Gegenstand in Gang setzt? Reizt sie dazu an, überhaupt verstehen zu wollen, sodass intuitiv Erfasstes diskursiv in den Blick gerät und somit (wiederholt oder vollständig) erkannt wird? Dreht es sich um die Vermittlung epistemischer Modi? Wären den Gegenständen selbst zweierlei epistemische Modi zuzuordnen? Oder richtet sich der Wechsel bzw. das Changieren divergenter Epistemen nach der Erkenntnistätigkeit des Subjekts? Zieht die Wahrnehmung und Erschließung des Gegenstandes aus 157 Vgl. ebd., vgl. KAA, Anm. Bde. VI-IX, Bd. VIII, S. 490.
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zwei varianten Perspektiven (intuitiv und diskursiv) nach sich, den Gegenstand – eventuell nur dessen individuelle Wahrnehmung – als überzeugend zu erachten? Veranlasst diese Überzeugung dazu, die jeweilige Wahrnehmung als wahrhaft einzustufen? Selbst wenn diese Punkte nicht im Einzelnen beantwortet werden, da epistemologische Fragestellungen hier (auch bei Kant) nicht primär ins Gewicht fallen, sticht hervor, dass zwei Dimensionen des Erkenntnisprozesses eng miteinander verknüpft werden. Epistemische und didaktische Funktionen der „anmuthigen Darstellung“ gehen ineinander über, wie die produktive und rezeptive Seite der Darstellung sich miteinander verschränken. Reinhold durchschaut Kants Philosophie (auf seine Art) besser als ihr Autor selbst und ist daher in der Lage, sie transparenter für andere zu gestalten. In einem Akt konzentrierender Rezeption produziert er zugleich neue, stilistisch abgewandelte Texte, die er wiederum einem Publikum vorlegt. Prozessual gedacht, lernt Reinhold Kants Texte über die Verfassung seiner eigenen „anmuthigen Darstellung“ – seiner Version – besser kennen, sodass Verstehen als work in progress skizzierbar wäre. Kants Text agiert auf beiden Seiten des textuellen Prozesses, insofern er als Autor und Rezipient – fremder und der Interpretamente eigener Schriften – zugleich auftritt. Reinholds Leistung wird primär nach ihrem Nutzen und nicht aufgrund ihres ästhetischen Potentials beurteilt. Liegt das Telos „anmuthige[r] Darstellung“ in ihrer Vermittlerrolle begründet? Ästhetisch bleibt die Form zwar zu goutieren: Anmut trägt stilistische Merkmale. Als überflüssiger Zusatz oder gar Mängel sind diese Eigenschaften keineswegs zu erachten. Sondern der Stil fundiert das epistemologische sowie didaktische Potential des Textes, dessen Telos in der Überzeugung besteht. Seit seiner Einführung in das deutschsprachige Vokabular durch Winckelmann wurde der Begriff der Grazie bis zur Jahrhundertwende in mehreren Kontexten fruchtbar gemacht.158 Winckelmann nimmt den Begriff auf, um zugleich seine Unübersetzbarkeit zu betonen. Englisch und französisch „grace“, italienisch „grazia“ (vom lat. „gratia“, griech. „charis“)159 kann im Deutschen dann so Vielfältiges wie Gnade, Anmut oder Reiz bedeuten. Eine fundamentale Begriffsfacette weist bereits die Verbindung zum zuvor erwähnten theatralen Weltverhältnis auf. Als Verhaltenscodex bzw. „Privileg“ des Adels bezieht Grazie sich auf eine äußere körperliche Erscheinung im Betragen und Benehmen, im Sinne der „persona“ der ständisch pri158 Gerd Kleiner behauptet in seiner projektiert materialreichen, wenn auch schwer lesbaren Studie „Die verschwundene Anmut“ „das Verschwinden der Anmut in der Moderne […].“ Gerd Kleiner, Die verschwundene Anmut, Frankfurt am Main, 1994, S. 12f. [Europäische Hochschulschriften, Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur 1470]. 159 Kurt Wölfel, Zur Geschichte der Grazie, Konstanz, 2001 [SFB 485], unpag. (Seitenangaben eigene Zählung), S. 2.
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vilegierten Person. Zu ihrer gesellschaftlichen Rolle zählen Repräsentation und Maskierung, nur sie darf als solche scheinen. Allein die adelige Person steht auf der Bühne, ohne dass das Stück „lächerlich und abgeschmackt“ erscheint. Ihre Rolle wird respektiert, weil sie der Konvention nach seit eh und je eine Rolle einlöst. Unter diesen Vorzeichen interpretiert Kurt Wölfel Wilhelm Meisters Passion für das Theater dann auch als eine (paradoxe) identitätsstiftende Kompensationsleistung, die dem Bürger das Scheinen zum Beruf macht. Dessen Bildungsprogramm bestünde indes darin, schlicht zu sein bzw. zu sich selbst zu kommen.160 Als diffizil entpuppt sich die Übertragung des Begriffs auf bürgerliche Verhältnisse, die labile begriffsgeschichtliche Grenze laviert stets zwischen „Sein“ und „Schein“. Einerseits ist eine „Naturalisierung“ der Anmut zu beobachten. Sie wird nicht mehr durch gesellschaftliche Verhältnisse generiert, sondern von der gütigen Natur (nicht göttlich) verliehen, wodurch sie andererseits erlernbar wird und kaum mehr vom personellen Träger abhängt, sondern sich im geselligen Umgang entfaltet. Parallel zur Entkörperlichung und Moralisierung der Grazie (z. B. bei Herder und Schiller), die zum Ausdruck der Herzenssprache aufrückt, findet gleichzeitig ihre Deintellektualisierung statt. Von eigener Anmut darf man nichts wissen und sie keinesfalls durch Selbstbeobachtung aufzuspüren suchen.161 Nur in groben Zügen kann ich die „Geschichte der Grazie“ an dieser Stelle nachzeichnen. Selbstverständlich finden sich bei mehreren Autoren diverse Schwerpunktsetzungen oder auch abweichende Deutungen einzelner Phänomene sowie Entwicklungen. Relevant ist, inwiefern es (bei Kant) programmatisch überzeugt, die Darstellung philosophischer Gehalte als anmutig auszugeben und sie damit ihrer Verständlichkeit halber zu privilegieren. So wie die Anmut (Reinholds) poetologisch einerseits ernste philosophische Lehre und zutreffende, verständliche Auffassung zu verbinden vermag, leistet sie andererseits die Vermittlung von Tugend und Lebenswelt, moralphilosophischem Anspruch und leichtfüßiger Glaubwürdigkeit. Obgleich Kant aphoristisch formuliert, dass die „[…] Grazien, […], wenn noch von Pflicht allein die Rede ist, sich in ehrerbietiger Entfernung halten.“162, relativiert der nähere Kontext dieses distanzierte Anmutskonzept. Das umfassend angelegte Programm der Anmut entschärft möglichen Tugendrigorismus. Moralphilosophische Erläuterungen verstatten Anmut indirekt. Durchaus positiv äußert Kant sich in einer Fußnote der Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Ver160 Vgl. vorangehenden Absatz mit Wölfel, Zur Geschichte der Grazie, a. O., S. 8-10. 161 Vgl. a. O., S. 10, S. 12, S. 16f. 162 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: KAA VI: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Die Metaphysik der Sitten, Berlin, 1968 [unveränderter photomechanischer Abdruck von: Kants gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VI, Berlin 1907/14], S. 1-202, S. 23.
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nunft“ über Friedrich Schillers Abhandlung „Über Anmut und Würde“, nachdem Schiller sich hier gegen eine landläufige „Mißdeutung“ der „Kantischen Moralphilosophie“ gewendet hatte.163 In Bezug auf die „[…] ästhetische Beschaffenheit, gleichsam das Temperament der Tugend,“164 tauchen bei Kant und Schiller ähnliche Beobachtungen und Formulierungen auf, die sich anlässlich der oben zitierten Distanz der Grazien nicht verlieren. „Aber die Tugend, d. i. die fest gegründete Gesinnung seine Pflicht genau zu erfüllen, ist in ihren Folgen auch wohlthätig, […]; und das herrliche Bild der Menschheit, in dieser ihrer Gestalt aufgestellt, verstattet gar wohl die Begleitung der Grazien, die aber, wenn noch von Pflicht allein die Rede ist, sich in ehrerbietiger Entfernung halten. Wird aber auf die anmuthigen Folgen gesehen, welche die Tugend, wenn sie überall Eingang fände, in der Welt verbreiten würde, so zieht alsdann die moralisch-gerichtete Vernunft die Sinnlichkeit (durch die Einbildungskraft) mit ins Spiel.“165
Distanziert gegenüber der Tugend betragen sich die Grazien nämlich nur, solange die Menschheit unvollkommen fortbesteht, d. h. soweit die Tugend noch nicht alle Lebensbereiche durchdrungen hat. Erforderlich bleibt die Distanz der Grazien, solange die Pflicht als moralisches Regulativ überdauert, diese „allein“ gewährleisten kann. Konzipiert wird damit eine utopisch-moralische Anlage der Menschheit, die zudem ästhetischen Ansprüchen genügt. Ruft man sich das Konzept antiker Kalokagathie ins Gedächtnis, mutet diese Idee kaum innovativ an. Dennoch ist zu beachten, dass das ganzheitliche Tugendkonzept jeglichen Tugendrigorismus Lügen straft: einen Rigorismus, den Schiller aus didaktischen Gründen gelten lassen will, den er jedoch nicht als Forderung Kants ansieht.166 Wie folgt paraphrasiert Schiller die Vollkommenheitsidee: „In einer schönen Seele ist es also, wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmonieren, und Grazie ist ihr Ausdruck in der Erscheinung.“167 Sobald die schöne Seele sich voll ausgeprägt hat, wird das Prinzip der Würde, das die Schranken der Sinnlichkeit absichert, verzichtbar. „Überhaupt ist es nicht eigentlich Würde, sondern Anmut, was man von der Tugend fordert. […]. Da aber das Ideal vollkommener Menschheit keinen Widerstreit, sondern Zusammen163 Kant, Die Religion, a. O., S. 23 (FN); Friedrich Schiller, Über Anmut und Würde, in: Kallias oder über die Schönheit. Über Anmut und Würde, hg. v. Klaus L. Berghahn, Stuttgart, 1994, S. 69-135, S. 107. 164 Kant, Die Religion, a. O., S. 23f. (FN). 165 A. O., S. 23 (FN). 166 Schiller, Über Anmut und Würde, a. O., S. 107f. 167 A. O., S. 111.
232 │S UBTEXTE DER M ENSCHHEITSGESCHICHTE stimmung zwischen dem Sittlichen und Sinnlichen fordert, so verträgt es sich nicht wohl mit der Würde, […], als ein Ausdruck jenes Widerstreits zwischen beiden, […].“168
Jene angestrebte Verschränkung von Sinnlichkeit und Sittlichkeit umschreibt Schiller einerseits als reine Affektwerdung, komplementär dazu andererseits als Prozess vollkommener Intelligibilisierung. „Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, daß es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben im Widerspruch zu stehen.“169
Nach dieser Definition wäre das Konzept „schöne Seele“ mit der Lehre des moral sentiment kompatibel, während es an anderer Stelle heißt: „Die schöne Seele muß sich also im Affekt in eine erhabene verwandeln, […]; die schöne Seele geht ins Heroische über und erhebt sich zur reinen Intelligenz.“ Ob sich die widersprechenden Definitionen über die Differenzierung zweier Typen von Affekten aufheben ließen, bleibt zweifelhaft. Eher leuchtet die Annahme ein, dass Intelligenz und Affekt im Charakter einer schönen Seele ununterscheidbar zusammenfallen. Eins beinhaltet zugleich das andere, sofern Menschen versuchen, sich mithilfe imperfekter Begriffe über dieses Verhältnis mitzuteilen. Ihr Ineinanderfallen bringt mit sich, dass ein Moment nicht durch den anderen (dialektisch) überformt werden kann. Grazie gedeiht nun zum „Zeichen“170, zum äußerlichen Anzeichen des Bezugs von Sinnlichkeit und Sittlichkeit. Obwohl sie das sinnliche, damit sicht- bzw. wahrnehmbare Zeichen dieses Leitbildes entfaltet, kann sie die Einlösung der Relation nicht absichern. Diesbezüglich stimmen Kant und Schiller überein.171 „Mit anderen Worten: seine sittliche Fertigkeit muß sich durch Grazie offenbaren.“172 Abschwächend heißt es bei Schiller allerdings: „Der sinnliche Ausdruck 168 A. O., S. 123. 169 A. O., S. 111. 170 Zitate: a. O., S. 119. 171 Wie Helmut Pfotenhauer betont, wandelt sich der hohe Grad der Korrespondenz, was Schiller somit von Kant emanzipiert. Vgl. Helmut Pfotenhauer, Würdige Anmut. Schillers ästhetische Verlegenheiten und philosophische Emphasen im Kontext bildender Kunst, in: ders., Um 1800. Konfigurationen der Literatur, Kunstliteratur und Ästhetik, Tübingen, 1991, S. 157-179, S. 171f. (S. 172 zu „Über Anmut und Würde“). Pfotenhauer wendet sich gegen sanktionierende Lesarten von Schillers ästhetischen Schriften, die er weder als naiv oder wirr, sondern zur dynamischen Theorie „der Konfigurationen und Verweisungszusammenhänge“ erklärt. A. O., S. 163, S. 169. 172 Schiller, Über Anmut und Würde, a. O., S. 99.
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dieses Beifalls in der Grazie wird also für die Sittlichkeit der Handlung, bei der er angetroffen wird, nie ein hinreichendes und gültiges Zeugnis ablegen, […].“173 Eckart Goebel betont den aporetischen Charakter von Schillers Text, aufgrund dessen er ihm eine literatur- und geistesgeschichtliche Umbruchstelle zuweist.174 Den indexikalischen Charakter der Grazie gilt es Goebel zufolge ernst zu nehmen. Sie zeigt etwas an, kann es jedoch nicht bestätigen – solange die Welt noch nicht perfekt ist. Jenes komplexe Argument etabliert Schiller wiederum zum Zweck der Absage an die Fehlschlüsse der moral sense-Philosophie und befindet sich damit direkt an einem Kampfschauplatz Kants.175 „Um ein Objekt der Neigung werden zu können, muß der Gehorsam gegen die Vernunft einen Grund des Vergnügens abgeben, denn nur durch Lust oder Schmerz wird der Trieb in Bewegung gesetzt. In der gewöhnlichen Erfahrung ist es zwar umgekehrt, und das Vergnügen ist der Grund, warum man vernünftig handelt. Daß die Moral selbst endlich aufgehört hat, diese Sprache zu reden, hat man dem unsterblichen Verfasser der Kritik zu verdanken, dem der Ruhm gebührt, die gesunde Vernunft aus der philosophischen wieder hergestellt zu haben.“176
Je nachdem, ob man philosophische Vernunft als zu überwindendes Übel oder als (unverzichtbaren) Seitenweg zur Tilgung eines anderen Übels – der Motivation aus Affekten – auslegt, würde mit der „philosophischen“ Vernunft oder der (abgegriffenen) moralischen „Sprache“ dasjenige adressiert, was Kant andernorts unter „Zusammenrechnung“177 fasst. Moralische Belange entscheidet die von Schiller begrüßte „gesunde Vernunft“ unmittelbar und spontan. Was richtig und falsch ist, besitzt Evidenz, und daher verstrickt sie sich nicht in endlose Reflexionen und spielt man-
173 A. O., S. 106. 174 Eckart Goebel, Charis und Charisma. Gewalt und Grazie von Winckelmann bis Heidegger, Berlin, 2006, S. 35-56, zum indexikalischen Charakter vgl. sinngemäß S. 48; vgl. ferner S. 49f., S. 52, S. 54. 175 Vgl. dazu Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. I. Von dem Verhältniß der Theorie zur Praxis in der Moral überhaupt. (Zur Beantwortung einiger Einwürfe des Hrn. Prof. Garve*)., in: KAA VIII, S. 273-313, S. 278-289, S. 278f.; zum moral sense s. a. O., S. 283f. Im Politischen führt die Berücksichtigung der Glückseligkeit der Bürger ebenfalls auf Abwege, wie Kant mit Bezug auf Achenwall festhält. Vgl. Kant, Über den Gemeinspruch, a. O., Abschnitt II. Vom Verhältniß der Theorie zur Praxis im Staatsrecht. (Gegen Hobbes.), S. 289-306, S. 301f. 176 Schiller, Über Anmut und Würde, a. O., S. 105. 177 Kant, Über den Gemeinspruch, I., a. O., S. 287.
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nigfache Triebfedern durch.178 Dennoch sei es heuristisch angebracht, zu unterstellen, „die Neigung“ sei „lieber im Krieg als im Einverständnis mit dem Vernunftgesetze“179 – ein Argument, das bei Kant in ähnlicher Formulierung auftaucht180 –, da andernfalls die Gefahr unlauterer Motivierung bestehe. Jedoch sei jene negative oder reservierte Grundannahme, die der konsequenten Selbstbeobachtung dient, nicht als Selbstkasteiung oder Askese mißzuverstehen. Unter der Tugend leide man nicht. Für die eigene Moralität ist es gleichwohl hilfreich, so zu tun als ob. Der Rigorismus der Moral gilt prinzipiell, begegnet jedoch seltener empirisch oder pragmatisch. „Wie sehr also auch Handlungen aus Neigung und Handlungen aus Pflicht in objektivem Sinne einander entgegenstehen, so ist dies doch in subjektivem Sinne nicht also, und der Mensch darf nicht nur, sondern soll Lust und Pflicht in Verbindung bringen; er soll seiner Vernunft mit Freuden gehorchen. […]. In der Kantischen Moralphilosophie ist die Idee der Pflicht mit einer Härte vorgetragen, die alle Grazien davon zurückschreckt und einen schwachen Verstand leicht versuchen könnte, auf dem Wege einer finstern und mönchischen Asketik die moralische Vollkommenheit zu suchen. Wie sehr sich auch der große Weltweise gegen diese Missdeutung zu verwahren suchte [sic!], […].“181
In einer Fußnote zu Schillers „Über Anmut und Würde“ wirft Kant die „ästhetische Beschaffenheit“ bzw. „das Temperament der Tugend“ betreffend die Frage auf, ob jene „[…] muthig, mithin fröhlich, oder ängstlich-gebeugt und niedergeschlagen“ sei. Da es sich um eine rhetorische Frage handelt, „[…] ist kaum eine Antwort nöthig.“ Kants Formulierungen kommen denen Schillers recht nahe: „[…] das fröhliche Herz in Befolgung seiner Pflicht (nicht die Behaglichkeit in Anerkennung desselben) ist ein Zeichen der Ächtheit tugendhafter Gesinnung, […].“182 Sowohl Kant als auch Schiller rekurrieren auf eine fröhliche Grundstimmung, die tugendhaftes Verhalten im besten Falle begleitet, mithin zum Zeichen der Authentizität tugendhaften Verhaltens avancieren kann. Zwar handelt es sich hier um eine Gemütslage, die nun doch verbürgt, was eigentlich nur der „inneren Erfahrung“183 offensteht. Freude gehört indessen nicht allein zur affektiven Disposition des Menschen, ist Angelegenheit von Temperament und Stimmung, sondern birgt ästhetische Implikationen als „ästhetische Beschaffenheit“ der Tugend. Selbst wenn die Anmut, welche 178 A. O., S. 286f. 179 Schiller, Über Anmut und Würde, a. O., S. 105. 180 Kant, Über den Gemeinspruch, a. O., S. 279: „daß man die Pflicht lieber mit Aufopferungen verbunden vorstellt“. 181 Schiller, Über Anmut und Würde, a. O., S. 106, S. 107. 182 Zitate: vgl. Kant, Die Religion, a. O., S. 23f. (FN). 183 Kant, Über den Gemeinspruch, a. O., S. 284.
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die moralische Handlung begleitet, in diesem Zusammenhang als Terminus zurücktritt, liegt in der Suche nach Begleitumständen der Tugend immer noch eine ästhetische Aufgabe. Somit rückt die Umsetzung der Darstellung der Tugend in den Vordergrund. Implizit greift Schiller diese Frage auf, wenn er zu rechtfertigen sucht, weshalb die rigorose Fehllektüre Kants in der Tat eine Grundlage in ihrer Darstellung besitze, daher dergestalt rezipiert werden konnte. In der „strenge[n] und grelle[n] Entgegensetzung dieser beiden Prinzipien [Pflicht und Grazie, K.K.]“184 liege jene ästhetische Grundlage bereit, deren Schärfe sich als Reaktion auf historische Umstände begründe: Kant nehme die zeitgenössische Position (und die) potentieller Rezipienten vorweg und kalkuliere sie mit ein. „Aber so rein er bei Untersuchung der Wahrheit zu Werke ging, und sosehr sich hier alles aus bloß objektiven Gründen erklärt, so scheint ihn doch in Darstellung der gefundenen Wahrheit eine mehr subjektive Maxime geleitet zu haben, die, wie ich glaube, aus den Zeitumständen nicht schwer zu erklären ist.“185
Zulässig wäre damit die darstellende Modifizierung der „Wahrheit“ zugunsten abweichender auf das Publikum gerichteter Zwecke. Unter Umständen scheint sie gar historisch geboten. Jene (relativierende) Beobachtung, die Schiller mittels Textexegese auf die kantische Moralphilosophie appliziert, greift Kant in den Reflexionen seines eigenen Darstellungstalents auf, die ihm Reinholds Modifikationen seiner Texte eröffnen. Konfliktpotential birgt der fremde Eingriff in seine Texte nicht. Selbstredend erfolgt Reinholds Deutung in seinem Sinne, widerspricht ihm nach eigenem Empfinden demnach nicht. Indem der Eingriff einen Zusatz angedeihen lässt, der ihren Gehalt partiell abwandelt, bereichert er Kants Darstellung. Der neue Sinn liegt in der präziseren Ausrichtung auf das rezeptive Verständnis; eine Leistung, die Kant nach eigenem Bekunden nicht hätte erbringen können. Damit entbanalisiert der Eingriff die gängige Annahme, das Ergebnis oder Ziel der Darstellung bestehe in der Rezeption, um sie auf mehreren Textebenen umzusetzen, wodurch er das Reglement des Veröffentlichungsorgans und des intertextuellen Austauschs spiegelt. Anlässlich der öffentlichen Gattung befremdet es nicht, dass Kants Aufsätze sich für Thesen und Einwände anderer Autoren öffnen, Gespräche zwischen mehreren Gelehrten in (mitunter rhetorischer) Frage und Respondenz aufnehmen und fortführen, sowie sie vielfältige Gelegenheiten zur Äußerung, aber auch zur sozialen Interaktion stiften. Als Charakteristikum des Schreibstils geriet die intertextuelle und kreative Anlage kantischer Texte indes selten in den Blick, um jene Merkmale als Marginalien an die Ränder der Theorie abzuschieben.
184 Schiller, Über Anmut und Würde, a. O., S. 107. 185 A. O., S. 108.
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Analog dazu, wie die anmutige Darstellung erst mit der Rezeption und dem daran anschließenden Austausch ihre wahre Bestimmung findet, verrät sich auch das „moralische Gefühl“ als Ziel einer Handlung. Jenes findet sich nicht, wie die moral sense-Philosophie behauptet, zu Handlungsbeginn ein und leistet deren Motivation, sondern äußert sich stets als etwas, das zuletzt nur rezipiert, nur wahrgenommen werden kann. Die Fehlleistung der moral sense-Philosophie folgere daraus, Kausalität dort einzufordern, wo es unmöglich ist: „[…] das moralische Gefühl […]; welches also nicht Ursache, sondern Wirkung der Willensbestimmung ist, von welchem wir nicht die mindeste Wahrnehmung in uns haben würden, wenn jene Nötigung in uns nicht vorherginge. […]. Kann man nämlich bei Anführung einer Ursache zu einer gewissen Wirkung nicht aufhören zu fragen, so macht man endlich die Wirkung zur Ursache von sich selbst.“186
Demgegenüber danach zu fragen, inwieweit die Konzentration auf die Darstellung, das Präsentieren, in den Produktionsprozess von Texten einfließt, hat wenig Sinn. Die Annahme, dass Darstellungen variieren und sich diese Nuancierungen auf Themenstellungen auswirken, eröffnet hingegen anschlussfähige Perspektiven. Wie der Exkurs zu Reinhold darlegt, kalkuliert Kant diese Option bewusst ein. Gerade das Thema, dem man (was Kant anbelangt) äußerste Starrheit zuschreibt (die Moralphilosophie), bleibt in hohem Grade elastisch. Damit büßt die an der Rezeption orientierte darstellerische Modifikation nicht an Gewissheit ein. Im Forschungskontext gewährleistet der Blick nach Außen die bessere Anpassung von Wahrheit, insofern Kant „Zeitumstände[ ]“ auf Darstellungsebene187 einbezieht. Nicht allein rhetorisch, sondern vor allem ästhetisch variieren seine Darstellungen. In der (polemischen) Komposition zeitgenössischer Stimmen und der gekränkten bzw. pathetischen Respondenz entfalten sie theatralen Charakter. Bisweilen enthüllen sie, dass das Sujet Tugend auch außerhalb von Schillers Abhandlung oder theatraler Inszenierung Anmut verraten kann.188
186 Kant, Über den Gemeinspruch, a. O., S. 283f. Die dritte Auslassung ruft noch einmal „das alte Lied“ in Erinnerung: eine Metapher, die Kant für die moral sense-Philosophie einsetzt. Das Argument der Vertauschung der Wirkung als Ursache findet sich in einem anderen Kontext in der Teleologie-Schrift. Vgl. Kant, Über den Gebrauch, a. O., S. 180f., FN zur „Grundkraft“. 187 Schiller, Über Anmut und Würde, a. O., S. 108. Also keineswegs nur auf der Ebene der Reflexion und des Zitats. 188 Winckelmann suchte die Begriffe der Grazie und des Erhabenen im Konzept einer „‚hohe[n] Grazie‘“ zusammenzuführen. Deren Synthesis setzt im zeitgenössischen Anmutsdiskurs jedoch abweichende Akzente. Vgl. Mareen van Marwyck, Gewalt und
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Das Telos der tugendhaften Handlung verrät oder offenbart sich in der Anmut, die ein auratisches Indiz, jedoch niemals den Erweis der Moralität abgeben kann. Ihre Quellen oder Motive bleiben unsichtbar. Sofern die „anmutige[ ] Darstellung“ ihr Telos einlöst, die Botschaft verständlich mitteilt, braucht auch sie nicht mehr auf den Kern oder das Skelett der zugrundeliegenden philosophischen Lehre zurückzuführen. In beiden Fällen – der Moralphilosophie und des philosophischen Arguments – leistet die Anmut die Vermittlung des schwer Vermittelbaren, von Intellekt und Sinnlichkeit, ohne dass dieser Entlastungsprozess mit dargestellt werden könnte. Die Anmut spricht, so das Ideal der Vereindeutigung, für sich. Teleologische Einrichtungen gelten als globale Darstellungsvorschrift: Die Darstellung bedarf intern teleologischer Strukturen, so wie sie als Darstellung auf Vermittlung ausgerichtet ist. Auf ästhetische Theorien übertragen korrespondiert diese Bindung an intentionale Strukturen der zunehmenden Ausblendung von Kunstauffassungen der Autonomieästhetik. Dies trifft zumindest für literarische Texte und für theatrale Mimesis zu, während das Portrait repräsentational synchrone Proportionalität einfordert. Wie nachfolgend zu bemerken ist, weist Kant vor allem künstlerische Darstellungen ohne teleologische Anlage zurück, deren sinntragende Elemente sich gegenseitig neutralisieren. Im Gegenzug zeigt sich jedoch, dass zu ausgeprägte formale Durchstrukturierung ebenfalls abzulehnen ist. 5.4.3 Roman (Blanckenburg) In der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ tauchen Überlegungen zur Organisation der Weltgeschichte auf, die einerseits auf die Metapher des Theatrum Mundi Bezug nehmen. Andererseits formieren sich diesbezüglich poetologische Reflexionen zum Charakter des Romans, die mit Blick auf Kants Auseinandersetzung des „Historia“-Begriffs an Bedeutung gewinnen und Hinweise auf die narrative Anlage disziplinärer Geschichte geben. Ob die Menschheitsgeschichte als Teilbereich oder Ziel der Historiographie gilt, bleibt zunächst offen. Das nachfolgende Zitat legt nahe, den auf ein Erzählziel zulaufenden Roman in seiner poetologischen Differenz zur die Anfänge ergänzenden Mutmaßung ins Auge zu fassen. „Ein philosophischer Versuch, die allgemeine Weltgeschichte nach einem Plane der Natur, der auf die vollkommene bürgerliche Vereinigung in der Menschengattung abziele, zu bearbeiten, muß als möglich und selbst für diese Naturabsicht beförderlich angesehen werden. Es ist zwar ein befremdlicher und dem Anscheine nach ungereimter Anschlag, nach einer Idee, wie der Weltlauf gehen müßte, wenn er gewissen vernünftigen Zwecken angemessen sein
Anmut. Weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800, Bielefeld, 2010, S. 96, bes. FN 82.
238 │S UBTEXTE DER M ENSCHHEITSGESCHICHTE sollte, eine Geschichte abfassen zu wollen; es scheint, in einer solchen Absicht könne nur ein Roman zu Stande kommen.“189
Auf welche Art „Roman“ rekurriert der Text? Die Zielvorgabe des so umrissenen Romans realisiert sich in der Errichtung der politischen Formation. In der bürgerlichen Vereinigung erreicht er seinen narrativen Endzustand. Nicht in den privaten Bereich zieht der Roman sich hier zurück, sondern er modifiziert Thema und Telos einer alternativen Erzählgattung: des Epos. Erst am Ende erfüllt sich der politisch verfolgte Zustand und verleiht dem gesellschaftlichen Gebilde Stabilität. Damit hält er die Grundlage allgemeinen Glücks und Wohlstands bereit. Jedoch mutet die Vorgeschichte der Republik wenig martialisch an, sondern unterbreitet sich als Naturgeschichte. Kein Herrschergeschlecht oder heldenhafte Identifikationsfiguren steuern den Verlauf politischer Entwicklung, sondern sie folgt dem Plan der Natur. Am Ende des Romans tritt die bürgerliche Verfassung hervor, ohne eine Kulturleistung anzuzeigen, sondern sie fügt sich organisch dem Willen der Natur. Dennoch kommt man dieser natürlichen Geschichte allenfalls über kulturelle Register bei. Leuchtet es ein, die so motivierte Geschichte (pejorativ) als Roman einzustufen? Der philosophische bürgerliche Roman unterliegt dem poetischen Prinzip der Vernunft, in seinem Verlauf ereignet sich nichts Überflüssiges oder Unmotiviertes. Trotzdem erzeugt jene Rationalität just das Moment, das die Erzählung romanhaft erscheinen lässt. Rationalität und Motivation sowohl der äußeren als auch der inneren Handlung sind Forderungen, die im 18. Jahrhundert zunehmend für den Roman erhoben werden, nicht zuletzt um diese – literaturtheoretisch erst zu fundierende – Gattung zu rehabilitieren. Für Kant rührt das irreale Moment des Romans weniger aus dessen fiktionalem Charakter, sondern beruht auf der Möglichkeit absoluter Rationalität selbst. Als Kompositionsprinzip legt sie es auf Unglaubwürdigkeit an. Die Kontrolle, die der Autor über seine Erzählung erlangen kann, stimmt, wie die Romantheorie Blanckenburgs festhält, nicht mit der komplexen Struktur der Vorgänge in der Menschengeschichte zusammen. „Wenn wir in der wirklichen Welt nicht jedes Mal alle die Ursachen, die eine Begebenheit vielmehr so, als anders hervorbringen, begreifen und beobachten können: so geschieht dies, weil die Summe der wirkenden Ursachen zu sehr groß und mannichfaltig; das Ganze zu sehr in einander geflochten ist, als daß wir sie darinn zu entdecken vermögen.“190 189 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: KAA VIII, S. 15-31, S. 29. 190 Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman (1774), Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774 mit einem Nachwort v. Eberhard Lämmert, Stuttgart, 1965, S. 263. Vgl. dazu parallel Kant, Idee, a. O., S. 29: „[…]; und ob wir gleich zu kurzsich-
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Hingegen bestehe der Vorteil des Romans gegenüber der wirklichen Welt darin, dass der Dichter „das Innre seiner Personen […] kenne. Er ist ihr Schöpfer.“191 Was für Vorgänge innerhalb der Figuren zutrifft, gilt auch für äußere Umstände. Dem Dichter steht es frei, welche Begebenheiten und inneren Beweggründe er zur Erzeugung einer Schilderung „der Wahrheit nach“192 auswählt. „Gefühle und Handlungen der Menschheit, der eigentliche Innhalt der Romane […]“193 sollen ein zusammengehöriges „Ganzes“ abgeben: „[…] so daß diese Schrift ein vollkommen dichterisches Ganzes, eine Kette von Ursach und Wirkung ausmacht.“194 Wo Blanckenburg von Verflechtung („ineinander geflochten“) spricht, führt Kant die Metapher „Aggregat“195 ein. Obgleich die Metaphern andere Facetten des Gesamtzusammenhangs beleuchten, ändert sich die kompositorische Ausgangsfrage nicht. Sowohl Kant als auch Blanckenburg schließen das Wunderbare aus dem Roman aus196, während fiktionale Momente beiderseits kaum problematisiert werden. Vielmehr richten beide sich gegen den Überfluss einer Erzählung, der ihre durchgängige Motivierung hemmt. Die Kette der Handlungen sollte nachvollziehbar und deren Motive ohne großen intellektuellen Aufwand zu ermessen sein. „[D]aß wir also weit ehe die Vernachläßigung dieser Wahrscheinlichkeit verzeihen werden, wenn wir nur diese Beobachtungen über das Entstehen der wichtigsten Begebenheiten, diesen Fortgang und Verbindung des innern und äußern Seyns der Personen erhalten, als wenn wir, bey größerer Wahrscheinlichkeit, Dinge finden, die uns nichts nützen, und die wir wieder vergessen.“197
tig sind, den geheimen Mechanism ihrer Veranstaltung durchzuschauen, so dürfte diese Idee uns doch zum Leitfaden dienen, ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen wenigstens im Großen als ein System darzustellen.“ 191 Blanckenburg, Versuch, a. O., S. 264. 192 A. O., S. 258. Vgl. auch a. O., S. 277 sowie Kants Ausführungen zur Wahrhaftigkeit des Portraits. Kant, Über den Gebrauch, a. O., S. 166. 193 Blanckenburg, Versuch, a. O., S. 19. 194 Vgl. a. O., S. 9f. 195 Kant, Idee, a. O., S. 29. 196 Blanckenburg, Versuch, a. O., S. 22f.; Kant, Idee, a. O., S. 29, S. 17f. Für Kant ergibt sich diese Deutung ex negativo. Er beruft sich auf eine vernünftige Geschichte, die nach den Gesetzen der Natur verläuft. Obgleich vernünftig ausgerichtet, erfolgt jene nie vollkommen vernunftgesteuert. Damit schließt Kant das Wunderbare implizit aus, während er auf das Thema Fiktionalität – ähnlich wie Blanckenburg – an dieser Stelle erstaunlicher Weise nicht zu sprechen kommt. 197 Blanckenburg, Versuch, a. O., S. 286. Vgl. Kant, Idee, a. O., S. 25, die Metaphorik der Verbindung und Ordnung: „so wie die kleinen Stäubchen der Materie durch ihren unge-
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So deutlich wie Blanckenburg äußert Kant sich nicht. Korreliert man das Modell der einzig aus einem Grundprinzip erwachsenden Geschichte hingegen mit dem Kompositionsprinzip des „Muthmaßliche[n] Anfang[s]“ und dem (die Naturgeschichte verankernden) Beharren auf dem einheitlichen Ursprung der Rassen, dann lässt sich diese narratologische Parallele vertreten. Dass das Ziel des Romans, die freiheitliche bürgerliche Staatsverfassung im kosmopolitischen Verhältnis der Staaten zueinander, als sich selbst erhaltender „Automat“198 eingeführt wird, fügt sich in das Gerüst der von allem Überfluss befreiten reinen Funktionalität. Während Blanckenburg dem Privatmenschen als Exempel anthropologisch anfallender Vorgänge Beachtung zollt, indem er dessen „innre Geschichte“199 fokussiert200, scheint Kant tatsächlich zu erwägen, inwieweit die allgemeine Weltgeschichte einem durchgängig strukturierten Roman anzunähern wäre. Wie verhält es sich mit der Glaubwürdigkeit einer stringent durchkomponierten Darstellung, wenn „ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen […]“ der Idee von „Plan und Endabsicht“201 entgegen steht? Der Begriff des „Aggregat[s]“ wird im Zedler als Sammlung („Aggregare“) oder Summe („Aggregatium“)202 verzeichnet, der Adelung gibt neben der mathematischen Facette die physikalische Bedeutung des „Haufen[s]“ oder „Haufwerk[s]“ an. „In der Physik ist das Aggregat, eine Verbindung mehrerer solcher Theile zu einem Ganzen, welche wieder aus merklich verschiedenen Theilen bestehen, und ein auf solche Art zusammen gesetztes Ding; die Zusammenhäufung, ein Haufwerk.“203 Wie beim Portrait rückt demnach die Aufgabe der Verknüpfung der Teile ins Zentrum. Während das Portrait deren Integration zum individuell und zusammengehörig wahrnehmbaren Ganzen leistet, wirkt die „Verbindung“ des „Aggregat[s]“ weniger zwingend oder Gemeinsamkeit stiftend. Das entstehende „Ganze[ ]“ setzt sich fernerhin „aus merklich verschiedenen Theilen“ zusammen, es sammelt, ballt oder häuft auf. Somit fokussiert Kants minimale Romandefinition eine andersartige Ganzheit oder Form der Zusammensetzung (Verbindungsweise) als Blanckenburg, der mit der „Verflechtung“ ein stärker integratives Modell bemüht, das in seiner textilen Konnotation die Verknüpfung einzelner Erzählfäden zu einem Strang oder fähren Zusammenstoß […]“; „[…] einen ingeheim an Weisheit geknüpften Leitfaden der Natur […]“. 198 Ebd. 199 Blanckenburg, Versuch, a. O., S. 384, S. 388. 200 A. O., vgl. S. 257f. 201 Zitate: vgl. Kant, Idee, a. O., S. 29. 202 Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal Lexicon, Bd. 1, A-Am, Sp. 779. 203 Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch, Erster Theil, A-E, Sp. 182-183. Weder im Adelung noch im Zedler taucht eine chemische Konnotation auf.
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gar Gewebe leistet. Zwar bildet diese Verbindungsweise einen sehr dichten Zusammenhang aus, impliziert jedoch die mögliche Entflechtung oder Entwirrung der einzelnen Fäden und lässt den Punkt erkennen, wo sie zusammengehen, sich ineinanderwinden. Demgegenüber erzeugt das „Aggregat“ die Assoziation des allenfalls lose geklebten, gepressten, das sich durch äußeren Anstoß umgehend in seine Einzelteile zerlegt. Zumal bleibt die „Verbindung“ der losen Zusammenhäufung willkürlich und entbehrt der Stringenz linearer Erzählung, der ihr „Leitfaden“ zum „System“ fehlt.204 Das sich im Hintergrund entfaltende narrative Ideal des „System[s]“ nimmt Abstand von dessen Formation als Bauwerk, welches als geordnetes, gestapeltes „Aggregat“ lesbar wäre, das sich durch das Eigengewicht der Teile stabilisiert. Die Geschichte der Staatenverbindung bedarf eines „Leitfaden[s]“, der die Häufung des „Aggregat[s]“ einreiht, steuert oder bindet. Der narratio steht das fertige Gebilde der „Staaten“ gegenüber, das zuvor „durch Zerstörung, wenigstens Zerstückelung“205 neu arrangiert wurde. Während deren Verbindung zunächst noch organisch gedacht wird („neue Körper zu bilden“), sichert sich die Selbsterhaltung des Gebildes letztlich nur als „Automat“ ab. Das mechanische Konstrukt erweist sich als stabiler als die organische, chemische oder physikalische206 Zusammensetzung. Als Roman schwankt die Staatenverbindung zwischen narrativer Systematisierung, „Aggregat“ und „Automat“.207 5.4.4 Episode und Hauptschauplatz Performativ auf die oben verhandelten Optionen, Menschheitsgeschichte unter poetologischen Vorzeichen zu modellieren, antwortend, schwenkt der Text in die Domäne historischer Disziplin um und beginnt, Grenzen der Erzählbarkeit zu ziehen. Als Ausweichmanöver wechselt der Text abrupt in ein neues Register. Dieser Registerwechsel vollzieht sich unvermittelt und grenzt kaum an das Niveau der metahistoriographischen Reflexionen zum Roman, reagiert aber scheinbar konsequent auf eine theoretisch nicht einlösbare Aporie der konturierten Erzählung. Der Fokus verlagert sich auf den Anfang und verliert das politische Ende des Romans aus dem Blickfeld. Den Beginn der Historie situiert Kant in der „griechischen Geschichte“ und entwirft damit ein Modell der Translatio Imperii, das Herder 204 Kant, Idee, a. O., S. 29. 205 A. O., S. 25. 206 Kant, Idee, a. O., S. 25: „[…] die Staaten, so wie die kleinen Stäubchen der Materie durch ihren ungefähren Zusammenstoß allerlei Bildungen versuchen, die durch neuen Anstoß wieder zerstört werden, bis endlich einmal von ungefähr eine solche Bildung gelingt, die sich in ihrer Form erhalten kann (ein Glückszufall, der sich wohl schwerlich jemals zutragen wird!)“. 207 Ebd.
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ganz analog in „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ bemüht. Im Unterschied zu Herder knüpft Kants temporale Rahmung erst bei den Griechen an, während Herder den Ursprung der Menschheit im Morgenland lokalisiert. Dieser verspätete Einsatz leitet sich aus der Lage der Zeugnisse her. Die griechische Historie bilde ein Archiv, das die Geschichte vorheriger Epochen konserviere. Was es zuvor an Zeugnissen gab, stempelt der Text mit einem Hume-Zitat als defizitär ab. Für die Bestätigung dieser These bürgen die Aussage eines anderen Autors und der Verweis auf eine weitere Quelle. In die Fußnote verdrängt wird der Beweis nun jemand anderem in den Mund gelegt. „Das erste Blatt im Thucydides (sagt Hume) ist der einzige Anfang aller wahren Geschichte.“208 Insofern viele Zeugnisse europäischer Geistesgeschichte erst mit Verzögerung zugänglich wurden, entspricht Humes Befund den Komplikationen der realen Quellenlage. Eine archäologische Erweiterung um Zeugnisse, die weiter in die Vergangenheit zurückreichen, interessiert Kants Text weniger. Vielmehr geht es um die Errichtung der kulturellen Basis des Abendlandes. Die kulturelle Errungenschaft, die es erlaubt, als Ausgangspunkt von Geschichte veranschlagt zu werden, beruht auf der Entdeckung der Geschichte selbst (eine Auffassung, die sich analog in Herders „Ideen“ findet). Dass die Griechen sich um die Aufbewahrung von Zeugnissen und das Verständnis vergangener Völker bemühten, rechtfertigt, ihre Kultur als Ausgangspunkt der historischen Erzählung selbst gelten zu lassen. Historizität anzuerkennen beinhaltet, einen intellektuellen und kulturellen Status einzunehmen, der das Aufbewahren von Zeugnissen und das Interesse an der Vergangenheit erst als erstrebenswert honoriert. „Nur ein gelehrtes Publikum, das von seinem Anfange an bis zu uns ununterbrochen fortgedauert hat, kann die alte Geschichte beglaubigen. Über dasselbe hinaus ist alles terra incognita; und die Geschichte der Völker, die außer demselben lebten, kann nur von der Zeit angefangen werden, da sie darin eintraten. Dies geschah mit dem jüdischen Volk zur Zeit der Ptolemäer durch die griechische Bibelübersetzung, […].“209
Mit diesem Argument gelingt es gleichzeitig, die griechische Kultur als Ursprung der Gelehrtheit einzuführen sowie eine eurozentrische Kontinuität anzulegen, die bis in Kants Gegenwart reicht. Nur diejenigen Völker, die durchweg an der Geschichte interessiert sind, die sie als „gelehrtes Publikum“ sichten, dürfen selbst überhaupt eine Geschichte empfangen. Erst sobald sie beginnen, intellektuell an der Historie teilzuhaben, reihen sie sich in diese ein. Tragende Funktion übernimmt dabei die Metapher des „Publikums“. Einerseits schließt das „gelehrte[ ] Publikum“ die aufgeklärte Teilhabe am öffentlichen Diskurs ein. Darüber hinaus verweist die 208 Vgl. a. O., S. 29 (FN). 209 Ebd.
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Metaphorik des Zuschauens andererseits auf die dramatische Darbietung der Weltgeschichte. Dieser Verdacht erhärtet sich, insofern Kant die angerissene Translatio Imperii gewaltsam erfolgen lässt. Die einzelnen Völker löschen sich gegenseitig aus, sie verschlingen sich. Nach Kants Modell vermag lediglich der potentielle Zuschauer als historischer Gegenstand in die Geschichte einzutreten. Damit resultiert die eigene Historizität aus der Entdeckung der Geschichte der Anderen, die eine Distanzierung sich selbst gegenüber erlaubt.210 Sofern Kant das Publikum seiner Zeit in die Kontinuität historischer Beobachtung einreiht, klassifiziert er seine eigene Epoche zugleich als Episode der Fortschrittsgeschichte. Die historische Kontinuität, welche der Text nachzeichnet, stiftet sich nicht allein über die allen gebildeten Völkern einhellige Fähigkeit, zuschauen zu können, sondern erwächst gleichermaßen aus Brüchen, die in der Zerstörung des Vorangehenden den Fortbestand der Historie progressiv absichern. Diese wiederholt strapazierte dialektische Figur der Kontinuität durch Brüche lässt sich mit dem „‚Gang Gottes über die Nationen! […]‘“ in Herders Frühschrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ vergleichen, und erinnert an Grundzüge der an biologischer Zerstörung und Neu-Schöpfung ausgerichteten Autonomie-Ästhetik Moritz’.211 Nach Stiftung dieser integrativen Kontinuität, welche dazu befähigt, einen ausgedehnten geographischen Raum durchdringende und temporal asymmetrische Begebenheiten als zusammengehöriges Ganzes zu deuten, wirft der folgende Textverlauf erneut die Frage ihrer narrativen Organisation auf. Damit gedeiht die Annahme, Geschichte nachholen – episodisch hinzutun – zu können, welche aus mangelnder Kulturalität vordem nicht unter Beobachtung fiel, um sie der aufgeklärten Historie anzureichern. „Denn wenn man von der griechischen Geschichte […] anhebt; wenn man derselben Einfluß auf die Bildung und Mißbildung des Staatskörpers des römischen Volks, das den griechischen Staat verschlang, und des letzteren Einfluß auf die Barbaren, die jenen wiederum zerstörten, bis auf unsere Zeit verfolgt; dabei aber die Staatengeschichte anderer Völker, so wie deren Kenntniß durch eben diese aufgeklärten Nationen allmählig zu uns gelangt ist, episodisch hinzuthut: so wird man einen regelmäßigen Gang der Verbesserung der Staatsverfassung in unserem Welttheile (der wahrscheinlicher Weise allen anderen dereinst Gesetze geben wird) entdecken.“212
210 Auffällig hinsichtlich der jüdischen Kultur ist die Voraussetzung einer Transferleistung, die durch andere zu erbringen ist, um die ihr zukommende kulturelle Errungenschaft überhaupt ins rechte Licht zu setzen. 211 Herder, Auch eine Philosophie, in: FHA 4, S. 88. Moritz, Über die bildende Nachahmung des Schönen, a. O., S. 63-93. 212 Kant, Idee, a. O., S. 29 (Haupttext).
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Die eurozentristische Erzählung, die sich sogar selbst als für die Zukunft geeignet vorschlägt, löscht die Grundpfeiler ihrer eigenen Argumentation aus, indem sie die Translatio Imperii schließlich ins Leere laufen lässt. Vom Standpunkt antikisierender Kulturgeschichte weist der Text den Übergang vom Römertum zur Folgeepoche konsequent als barbarisch aus (demgegenüber stufen Herders „Ideen“ bereits die Römer als barbarisch ein). Tatsächlich klassifiziert Kants Text das machtpolitisch anknüpfende Volk nicht national oder geographisch, sondern bloß als „Barbaren“.213 Von den Barbaren ausgehend lässt sich Kontinuität bis in die Gegenwart herstellen. Obgleich sich diese Gegenwart als der Historie fähig, daher als Kontinuität verbürgendes gebildetes Publikum begreift, gibt die historische Erzählung vielmehr deren griechische Abstammung vor als sie entschieden nachzuweisen – im Grunde gehört sie selbst den barbarischen Nachfahren an.214 Was bislang unbekannt blieb, soll „episodisch“ nachgetragen werden. Vage bleibt, um welche aufgeklärten „Völker“ oder „Nationen“ es sich letztlich handelt. Dabei bilden „Nationen“ als gelehrt-aufgeklärte Träger von Geschichte offenkundig eine höhere Entwicklungsstufe aus. Spricht der Text von Griechen und Römern, kann es sich bei den Episoden nur um deren Vorgeschichte handeln. Diese greift auf, was sie von der Beschaffenheit der Länder empfangen, die zeitgleich bestanden. Jedoch vermag das antike Publikum über die Nachwirkung seiner Geschichte nichts auszusagen. Retrospektiv legt Kants Text dessen Auslöschung bloß, hält jedoch in der Schwebe, ob ein Anknüpfen an ihre aufgeklärte Haltung und ihre Historie zu bewerkstelligen ist. Was sich seit den Römern bis zur aufgeklärten Gegenwart zugetragen haben mag, bleibt ein blinder Fleck auf der historischen Landkarte – kulminiert in der Projektion, dass sich eine zukünftige Nation der aufgeklärten Kontinuität anschließen könnte. Somit ließen sich Episoden historischer Modifikation retrospektiv einfügen. Als Lückenbüßer der Geschichte dient die Episode, die zwischen den imposanten Großerzählungen aufgeklärter Kulturnationen liegt, welche sich dank ihrer his213 Winckelmann betont dagegen die translatio antiker Kulturgüter in die „Colonie“ „Sachsen“. Johann Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst, a. O., S. 2: „Und man muß gestehen, daß die Regierung des großen Augusts der eigentliche glückliche Zeitpunct ist, in welchem die Künste, als eine fremde Colonie, in Sachsen eingeführet worden.“ Syntaktisch bleibt in der Schwebe, ob die „Künste“ wie „eine fremde Colonie“ nach „Sachsen“ „eingeführet“ wurden, also eine koloniale Übernahme durch die Kunst stattfindet, oder ob „Sachsen“ als „Colonie“ die translatio der Kulturgüter zuteil wird. Diese Doppeldeutigkeit korrespondiert Herders Gleichschaltung von Nationen mit Kunstgattungen in den „Ideen“. 214 Herder ist in seiner Schrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ hier viel deutlicher, indem er die Barbaren mit „Norden“ gleichsetzt. Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 42.
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torischen Gewichtung erstmalig um das Füllen dieser Lücken bemühen. Das skizzierte Modell registriert eine Form von Historizität, die weniger relevant ist. Diese Zweitrangigkeit betrifft Gegenstände historischer Forschung, die selbst keine Geschichte verfasst haben. Dadurch, sogar ausgelassen werden zu können, zeichnet sich die Episode aus – wenn keine aufgeklärte kulturelle Verpflichtung zum Zuschauen bestünde. Als Zeitbegriff reiht sich die lückenhafte „Episode“ zwischen Brüche markierende „Epoche[n]“, die unvermutet eintretende, Zwischenspiele erfordernde, „Periode“ und die Zwangsläufigkeit von „Schritte[n]“ ein.215 5.4.5 Die große Weltbühne Als Komplement des Gebots zuzuschauen taucht innerhalb mehrerer Essays gehäuft die Metapher der „Weltbühne“ auf und übermittelt die Vorstellung einer Menschheitsgeschichte als theatraler Aufführung mit szenischen Elementen und dramatischen Wendungen. Wird dieses Metaphernfeld aufgeboten, speist es sich nicht allein aus der barocken Konstruktion des Theatrum Mundi. Vielmehr widmen die Aufsätze sich der Qualität der entsprechenden Inszenierung, ihrem speziellen Thema oder Fokus oder ziehen die Perspektive des Publikums und die Einbindung der Zuschauer heran, um Fragen der Rezeptionsästhetik und der didaktischen Funktionalisierung zu klären. In der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ impliziert die Annahme weltgeschichtlicher Theatralität einen Zwischenzustand, der sich inmitten naturgeschichtlicher Rationalität der „Bienen“ oder „Bieber[ ]“ einerseits und künstlicher (menschengemachter) Ratio der kosmopolitischen Staatengeschichte andererseits entspannt. Beiden Geschichtswerken haftet kein literarisches oder fiktionales Moment an. Ihre Raison steht dem wankenden und irrationalen Bühnengeschehen als positive Folie gegenüber. „Da die Menschen in ihren Bestrebungen nicht bloß instictmäßig wie Thiere und doch auch nicht wie vernünftige Weltbürger nach einem verabredeten Plane im Ganzen verfahren: so scheint auch keine planmäßige Geschichte (wie etwa von den Bienen oder den Bibern) von ihnen möglich zu sein. Man kann sich eines gewissen Unwillens nicht erwehren, wenn man ihr Thun und Lassen auf der großen Weltbühne aufgestellt sieht und bei hin und wieder anscheinender Weisheit im Einzelnen doch endlich alles im Großen aus Thorheit, kindischer Eitelkeit, oft auch aus kindischer Bosheit und Zerstörungssucht zusammengewebt findet: […].“216
215 Vgl. die Kapitel zu den Erzählungsexperimenten: „Anfang und Ende erzählen“. 216 Kant, Idee, a. O., S. 17f. Hier findet sich mit „zusammengewebt“ das metaphorische Äquivalent zu Blanckenburgs „geflochten“. Blanckenburg, Versuch, a. O., S. 263.
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In der Naturgeschichte verbürgt der Tierinstinkt Rationalität, welche dem Bühnengeschehen infolge menschlicher Instinkte und Laster mangelt.217 Dennoch bleibt Distanzierung gegenüber dem Bühnengeschehen, das die Geschichte „aufgestellt“, und dem der Mensch zuschauend angehört, angezeigt. Im „Unwillen“ gegenüber der Aufstellung, welcher man sich als Zuschauer ausgesetzt fühlt, bekundet sich diese Option. Obgleich die sichtbare „Weltbühne“ die Zeitebene der Gegenwart einzieht, sofern von einer Aufstellung die Rede ist, die zeitgleich (zeitgenössisch) verfolgt werden kann, verdankt sich die Distanznahme eher dem Überblick bzw. der Retrospektive, die indes kein abschließendes Urteil zu fällen vermag.218 Obwohl die utopische Verschränkung beider Zeitebenen über die Konvention intellektueller Distanzierung eingelöst wird, büßt diese Perspektive an Erkenntnispotential ein: Zwar kann man alles sehen, es jedoch nur unzureichend deuten. Sinngehalt wird hier aus dem menschlichen Blickfeld ausgelagert. „Es ist hier keine Auskunft für den Philosophen, als daß, da er bei Menschen und ihrem Spiele im Großen gar keine vernünftige eigene Absicht voraussetzen kann, er versuche, ob er nicht eine Naturabsicht in diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge entdecken könne; […].“219
Selbst wenn einzelne Handlungen rationalen Anschein erwecken, verfahren die freiheitlich entscheidenden Menschen hinsichtlich übergreifender Zusammenhänge planlos. Demnach verbindet sich die Frage nach einem Naturplan direkt mit der Ergründung verborgener Organisationsmomente menschlicher Geschichte, die es freizulegen gelte. Der Ansporn aus „Thorheit“, „kindischer“ „Zerstörungssucht“, „Eitelkeit“ oder „Bosheit“ sucht die Bühne heim, deren zwischen Drama und Posse 217 Ob mit der „Geschichte“ der „Bienen“ auf Mandevilles „Bienenfabel“ angespielt wird, wäre angesichts ihres sprichwörtlich gewordenen Titels „Private Vices, Publick Benefits“ von Belang. Es handelt sich nämlich um die satirische – 1705 als Gedicht erschienene und zunehmend erweiterte – Erzählung eines Bienenstaates, dessen ökonomische Rationalität und Prosperität von der (nicht völlig gesetzlosen) Durchsetzung individueller Laster abhängt. Bernard Mandeville, The Fable of the Bees: or, Private Vices, Publick Benefits, London, 1714 u. ö. (zunächst anonym veröffentlicht). Insofern bietet die wohlorganisierte Tierwelt keine positive Folie gegenüber der menschlichen Ratio der Laster an, sondern liegt selbst schon als literarisch modifizierte Miniatur vor. 218 Kant, Idee, a. O., S. 18: „wobei man am Ende nicht weiß, was man sich von unserer […] Gattung für einen Begriff machen soll.“ Aufgrund der Hinführung der Darstellung zur durch Doppelpunkte eingeleiteten Conclusio halte ich es für legitim, dieses Ende nicht nur als Ende des Argumentationsschrittes, sondern auch unter zeitlicher Perspektive als – zumindest vorläufigen – Schluss zu lesen. 219 Ebd.
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ausgeführtes Schauspiel keinem Erzählziel folgt, sondern die losen Elemente und Motive zu einem fest gefügten unentwirrbaren Gewebe verstrickt.220 Gegenüber dem Aggregatzustand menschlicher Handlungen, dem sich das Ordnungsangebot des Romans konfrontiert sieht, drängt sich mit Blick auf die unüberschaubare Weltbühne die Prägung des (infantilen) Gewebes auf. Das Gewebe unterbreitet keinen alternativen Ordnungsversuch, wie der Vergleich mit der Metaphorik des Flechtens in Blanckenburgs Romandefinition suggeriert. Selbst wenn beide Male textil gewirkte Gefüge vorliegen, scheint die Praktik des Flechtens auf die lineare Struktur der narratio gemünzt, während das Gewebe sich plan-los auf der Ebene der Bühne entspinnt und ausbreitet. Gerade weil es sich nicht auflösen, entwirren lässt, formiert es ein Gegenmodell zum nachzuverfolgenden strukturbildenden Flechten. Der „Leitfaden“ flicht sich gleichsam in den Erzählstrang ein, während er am „Gewebe“ nicht mehr zu entdecken, nachzuvollziehen ist. Bloß als Vorarbeit veranschlagt Kant die Entdeckung des „Leitfaden[s]“ der zwar „vernünftigen Zwecken angemessen[en]“, aber keine romanhaften Züge annehmenden „Geschichte“, die dann durch Männer wie „Kepler“ und „Newton“221 als Gesamtzusammenhang „abzufassen“ wäre. Der „vernünftige[ ]“222 Roman bedarf fähiger Autoren, herausragender Persönlichkeiten, die seine inneren Strukturgesetze zu überblicken vermögen. Gleichzeitig wird die gelungene Abfassung des Romans der revolutionären naturwissenschaftlichen Entdeckung parallelisiert, insofern deren Gesetzgebung „auf eine unerwartete Weise“ erfolgt. Das Unerwartete, Abweichende begünstigt die Entdeckung des Neuen, bisher Unbekannten, das sich dennoch nach einer ein für allemal gültigen „Naturursache“ richtet. Das bisher utopische Konzept eines „vernünftigen“, seine narrativen Mittel „nach einem bestimmten Plane“223 kontrollierenden, Romans, dessen „Leitfaden“ die „Geschichte“224 durchwaltet, böte eine narratologische kopernikanische Wende an. Obgleich der Roman aufgrund seiner Überdeterminierung als Medium der Menschheitsgeschichte zurückgewiesen, zurückgestellt wird, bindet sich die „Geschichte“ über den „Leitfaden“225 stärker an dessen verflechtende Struktur, als das überbordende verwirrende Gewebe der „Weltbühne“226 gutzuheißen. Trotz aller Berufung auf „Natur“227
220 A. O., S. 17f. („zusammengewebt findet“). 221 A. O., S. 29, S. 18. 222 A. O., S. 29. 223 Zitate: a. O., S. 18. 224 A. O., S. 29. 225 A. O., S. 18, S. 29. 226 A. O., S. 17. 227 A. O., S. 18.
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streicht der staatenpolitische Roman am Ende die organische, körperliche Metapher aus und orientiert sich am Ideal des „Automat[en]“.228 In Vorleistung der zu formierenden „Geschichte“ geht der historische Fortgang selbst, der erst die Geister heraufbeschwören muss, die in der Lage sind, sie nachzuvollziehen. Durch ihre konkrete Abfassung werden jene einschneidenden Entwürfe eingelöst. Die Abfassung greift Erkenntnisprinzipien der Kosmologie und Physik auf. Jedoch werte ich die Hinwendung zu naturwissenschaftlichen Erklärungsmustern nicht als professionelle Abwendung vom theatralen Prinzip. Vielmehr dient der Rekurs auf die Kosmologie229 dazu, eine für innovativ befundene Version der Wahrheitsfindung als neues Ideal der Naturgeschichte zu initiieren. Naturgeschichte bürgt als alternatives Leitbild von Historizität. Das entworfene Textmodell strebt an, neue Wahrheiten aufzuspüren, die jahrhunderte-, wenn nicht jahrtausendelang aus ideologischer Verblendung oder aufgrund unangemessener Methoden verschüttet blieben. Die systematische Unterstellung verlangt, dass sich das Wissen nach seiner Aufdeckung nicht mehr verändert und für alle Zeiten zutrifft. Hier ist nicht der Ort, um sich mit Problemen des naturwissenschaftlichen Instrumentariums oder der denkbaren (historischen) Korrektur naturwissenschaftlicher Erkenntnisse auseinanderzusetzen. Dass auch Keplers und Newtons Resultate (Hypothesen) historisch revidierbar sein könnten, obwohl sie sich nach dem Simplizitätsprinzip230 richten, um die un-sichtbaren Himmelsphänomene exakt zu deuten, scheint Kant nicht zu erwägen. Dabei pocht er auf die naturwissenschaftlicher Beweisführung analoge Aufbereitung der Menschheitsgeschichte und setzt kosmologische Vorgänge als Metaphern für deren Verlauf ein. Wie bereits die romanhafte Gestaltung weltgeschichtlicher Fragestellungen verriet, konzentriert sich die poetologische Diskussion auf die Kohärenz und Motivierung der Darstellung. Die Schilderung richtet sich auf ein distinktes Erzählziel aus und verharrt nicht in der permanenten Affirmation des Darstellens als Selbstzweck. Das Ende kulminiert in der vereinigenden, alle Einzelkämpfer vermählenden, weltbürgerlichen Verfassung, in „Staatenverbindung[en]“231, und tritt damit quasi in politische Zeitlosigkeit ein: ein Stillstand, der positiv angesehen wird. Am „Ende aller Dinge“ kehrt die Schauspielmetaphorik wieder. Jener Text ruft das Auslaufen allen Geschehens betreffend diverse Vorstellungen vom Aufhören der Zeit auf, denen allesamt ein erzählendes bzw. dramatisches Moment innewohnt. In Frage steht die (Notwendigkeit der) Plastizität von Vorstellungen, die aufgrund der Tilgung der Zeitkategorie nicht mehr in Erscheinung treten können. Da es das 228 A. O., S. 25. 229 A. O., S. 25f. 230 A. O., S. 19: „Die Natur thut nämlich nichts überflüssig und ist im Gebrauche der Mittel zu ihren Zwecken nicht verschwenderisch.“ 231 A. O., S. 26.
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Aussetzen aller Ereignisse bedeutet, kondensiert das Ende der Welt in seinem Ereignischarakter. Das Ende ist auf vielfältige Arten erzählbar, da es der theoretischen Erkenntnis entzogen bleibt: „[S]o muß die Vorstellung jener letzten Dinge, die nach dem jüngsten Tage kommen sollen, nur als eine Versinnlichung des letztern sammt seinen moralischen, uns übrigens nicht theoretisch begreiflichen Folgen angesehen werden.“232 Nach diesem Ende besteht die Imagination des künftigen Zustands in der Perpetuierung des noch Gegenwärtigen, genauer, in der Verstetigung gegenwärtiger moralischer Selbsterkenntnis. „Denn wir sehen doch nichts vor uns, das uns von unserm Schicksal in einer künftigen Welt jetzt schon belehren könnte, als das Urtheil unsers eignen Gewissens, […].“233 Sowohl die Auslegung der Ereignisse des unmittelbar bevorstehenden Endes als auch der Vorgänge nach dem Ende nähern sich der Apokalypse an. „Warum erwarten aber die Menschen überhaupt ein Ende der Welt? und, wenn dieses ihnen auch eingeräumt wird, warum eben ein Ende mit Schrecken […]?“234 Allein das Ende sichert die sinnvolle Strukturierung des Zwischenzustands ab, erlaubt die sinnstiftende Erzählung. Dieses basale Erzählprinzip gilt sowohl für die Erzählung des individuellen moralischen Endes als auch für das umrissene Ende der Gattung. Wo kein Telos eingelöst wird, gerät die Darstellung zur selbstbezüglichen Inszenierung: „[…], wenn dieser [Endzweck, K. K.] aber nicht erreicht werden sollte, die Schöpfung selbst ihnen zwecklos zu sein scheint: wie ein Schauspiel, das gar keinen Ausgang hat und keine vernünftige Absicht zu erkennen giebt.“235 Ohne „vernünftige Absicht“ bedient die ziellosaufwendige Inszenierung ihr reines Spiel und findet kein Ende, das ihr Sinn verleiht. Allein aus der Zuschauerperspektive klärt sich die Frage, welche Bewandtnis es mit der Inszenierung hat. Ein endlos anmutendes Stück rührt an die Grenzen der Rezipierbarkeit. Mit der „vernünftigen Absicht“ rückt nicht allein das Anliegen ästhetischer Kohärenz ins Zentrum, sondern die Nutzbarmachung von Kunst selbst. Das entworfene vernünftige Schauspiel flicht die Lebensfäden seiner Protagonisten nicht mitten ins Geschehen (in medias res) ein, um sie ebenso unwillkürlich aus dem Leben scheiden und von der Bühne verschwinden zu lassen. Universalgeschichtlich gemünzt deckt sich jener dramatische lückenhafte Auszug mit der strukturellen Willkür des tatsächlich gelebten Lebens. Die hoffnungslose Weltsicht folgert aus negativer Anthropologie, die der Text apokalyptischer Anschauungen halber zurückweist. Apokalyptische Vorahnungen sind reich „an Zeichen und Wundern […] alle von der schrecklichen Art“236 und entstammen weitverbreiteten Er232 Immanuel Kant, Das Ende aller Dinge, in: KAA VIII, S. 325-339, S. 328. 233 Kant, Das Ende, a. O., S. 330. 234 Ebd. 235 A. O., S. 331. 236 Ebd.
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zähltraditionen. Unweigerlich zitiert der Text die biblische Apokalypse. Weitere biblische Zitate spielen jedoch darauf an, dass er sich das Weltenende weniger dramatisch ausmalt, insofern der jüngste Tag eher einer „Eliasfahrt“ als einer „Höllenfahrt“237 gleicht. Als Erzählmuster unter vielen entfaltet die Verfallserzählung das moralisch effektivere Modell. Wie dieses Ende auszuschmücken ist, spielt das Erkenntnisvermögen plastisch sowie begrifflich durch. Ein begriffliches Experimentierfeld erschließt sich der Vernunft, während die Einbildungskraft eher das Rätsel der Inszenierung des Endes erkundet. Ihre Szenerie korrespondiert dem „allgemeinen Begriff“ indirekt. Die begriffliche Rechtfertigung des „natürliche[n] Ende[s]“ sichert die moralische Relevanz der Begrenzung ab. Das Ende ist unabwendbar, damit der Mensch seine Welt als zusammenhängend ermessen kann. Moralisch unterliegt das Weltgefüge einem durchgängigen Plan. „[M]ystisch[ ]“ gestaltet sich das Ende, sofern der Mensch nach den Weltursachen forscht, die ihm versiegelt bleiben. Im Abschnitt, der das mystische Ende ausbreitet, diskutiert der Text erneut apokalyptische Phantasien, nimmt kaum auf das Sujet planvoller Weltgestaltung Rücksicht. Als kognitiver Lapsus schlägt sich das „widernatürliche […] Ende“238 vor, da die Menschen aufgrund der Verkennung ihrer Zwecke ein „verkehrte[s]“ Ende heraufbeschwören. Ab der Anmerkung239 wird die Argumentation undurchsichtig, sie franst aus, da sie die Abhandlung der einzelnen Begriffe ankündigt, jedoch strukturell 237 A. O., S. 332. 238 Vgl. die drei Definitionen, a. O., S. 333, „allgemeinen Begriff“ s. ebd. 239 A. O., S. 332. Die (gestaffelten) Anmerkungen übernehmen eine ähnliche Funktion wie die von Kant kolportierten Legenden, die Brodsky als Übergänge vom Nicht-Wissen zum Wissen analysiert. Narrative Strukturen, wie sie in den Anmerkungen auftauchen, beschreiben weniger einen Sprung, eine Revolution in der Denkungsart, als dass sie, wie Brodsky es für die Geometrie beschreibt, im gleichzeitigen mentalen wie materiellen Konstruieren (schriftlich auf Papier), unter Zuhilfenahme bereits bestehender Plots und Strukturen, entstehen und Erzählmöglichkeiten in ihrer Adaption und Transformation (performativ) umschreiben (umkonstruieren). In diesem Sinne einer gerahmten, dennoch offenen Versuchsanordnung spreche ich auch von Erzählexperimenten. Durch die Nutzung bereits vorliegender (traditioneller, alltäglicher), aber keineswegs festgelegter, Strukturen variieren die Anmerkungen und Fußnoten die diskursive Mastererzählung, die der Haupttext transportiert. Es handelt sich jedoch weniger um Antworten auf die Fragen, die im Haupttext offen oder ambivalent bleiben, eine neue Erzählung, als um parallele Plots, die – „theoretically incompatable“ – ergänzen, subvertieren oder in Frage stellen. Claudia Brodsky, „Doing without Knowing in Kant and Diderot: Experiments in Enlightenment“, in: Formen des Nichtwissens der Aufklärung, hg. v. Hans Adler u. Rainer Godel, München, 2010, S. 165-182, S. 172f. [Laboratorium Aufklärung 4].
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nicht aufschlüsselt, welche Überlegungen thematisch zusammengehören. Sie rekapituliert die Überschriften nicht im fortlaufenden Text, sondern markiert die Abschnitte nurmehr durch Sternchen.240 Nach dieser Kennzeichnung schlösse das „widernatürliche“ Ende Überlegungen zum Christentum als liebenswürdiger Religion ein. Dessen Grundstruktur gestalte sich als Auslegung der liberalen Denkungsart positiv und folgerichtig. Nur die konkrete historische Deutung und Ausübung bedürfe der Kritik. Der Bedingung seiner positiven Funktionalisierung komme die grundlegende Liebenswürdigkeit des Christentums nach. Andernfalls verkehre es seine eigenen Absichten auf dem Weg zur Weltreligion, indem es die Menschen zur Folgsamkeit zwinge. Mit der Vernunftreligion, die sich auf das Gleichheitsprinzip stütze und auch die Deutungshoheit über das „Ende aller Dinge“ demokratisiere, setzen sich jene „Entwürfe“ durch, „welche auf unverdächtige Art beweisen, daß ihnen um Wahrheit zu thun sei.“241 In den skizzierten Überlegungen konfrontiert Kant die Unerzählbarkeit des Endes mit seiner narratologischen Notwendigkeit und unterstreicht damit dessen paradoxe Struktur. Dramatische oder utopische Erzählmuster erwecken als Plotstrukturen, als reine Formprinzipien, den Anschein von Plastizität und Plausibilität, ohne dass sich die angeschnittenen sklerotischen Erzählungen an der repräsentationalen Fülle ausgeführter Pendants messen ließen. Woran sie sich als Erfüllungsgehilfen beteiligen, bleibt mehrschichtig. 5.4.6 Possenspiel Als weitere Darstellungsform erregt das Possenspiel Verdacht. Während das Spiel auf der Weltbühne an Zielstrebigkeit und Sinngehalt als allumfassender Annahme zweifeln lässt und niedere Motive der Handelnden in den Vordergrund rückt, bekundet das Possenhafte zwischenmenschlicher Beziehungen sich in gegenseitiger Neutralisation ihrer Anlagen und Handlungen als negativem Stillstand. Somit treibt das Possenspiel das defizitäre theatrale Geschehen kompositorisch auf die Spitze. Charakterliche Ambivalenz ist weniger moralisch zu veranschlagen, als vielmehr als automatisch ablaufender Prozess nachzuzeichnen. Die chemische Metaphorik impliziert, dass die Vorgänge weder dem Bezirk der Freiheit entspringen noch in den Kreis der Natur fallen. Chemische Abläufe zählen zwar zu den Naturphänomenen, scheinen aber vom strikten Telos entbunden, das bei Vorfällen in der Natur für Menschen und Tiere Geltung besitzt. „Das Princip des Bösen in der Naturanlage des menschlichen Geschlechts scheint also hier mit dem des Guten nicht sowohl amalgamirt (verschmolzen), als vielmehr Eines durchs Andere neutralisirt zu sein, welches Thatlosigkeit zu Folge haben würde (die hier der Stillstand 240 Kant, Das Ende, a. O., S. 332, S. 333, S. 336. 241 A. O., S. 336.
252 │S UBTEXTE DER M ENSCHHEITSGESCHICHTE heißt): eine leere Geschäftigkeit, das Gute mit dem Bösen durch Vorwärts und Rückwärts gehen so abwechseln zu lassen, daß das ganze Spiel des Verkehrs unserer Gattung mit sich selbst auf diesem Glob als ein bloßes Possenspiel angesehen werden müßte, was ihr keinen größeren Werth in den Augen der Vernunft verschaffen kann, als den die andere Thiergeschlechter haben, die dieses Spiel mit weniger Kosten und ohne Verstandesaufwand treiben.“242
Amalgamieren gehört dem chemischen Vokabular an, während „Neutralität“ ein staatenpolitisches Verhältnis beschreibt. „Amalgama“ bezeichnet laut Adelung „eine Mischung des Quecksilbers mit einem andern verbundenen Metalle. Daher amalgamiren, zwey Metalle auf eine solche Art verbinden; mit einem Deutschen Kunstworte sie verquicken.“ „Verquicken, [...] ein nur in der Chymie übliches Wort, vermittelst des Quecksilbers auflösen, und dadurch gleichsam quick, d. i. lebendig oder flüssig machen. Gold, Silber verquicken. Ein solches verquicktes, oder mit Quecksilber aufgelösetes, und mit demselben zu einer Masse vermischtes Metall wird mit einem fremden Wort auch Amalgama genannt, daher für verquicken auch amalgamiren üblich ist, woraus die gemeinen Handwerker vermuthlich ihr mahlen verderbt haben.“243
Nicht ganz eindeutig weist der Passus aus dem „Streit der Facultäten“ aus, ob es sich bei der Amalgamierung um einen erwünschten Effekt handelt. Das „Amalgama“ bildet jedoch keine neuartige Substanz, sondern löst sich eher in (zu) ihr auf, insofern dessen Reagenzien „neutralisirt“ werden. Im Amalgamieren liegt im Gegensatz zur Neutralisation die Potenz der Neubildung. Zudem verweist die Verwendung des Wortes für chemische Prozesse des Quecksilbers auf den Randbereich der Alchemie. Der Vermischung geht ein Verflüssigungsvorgang, Verlebendigung voran: „amalgamiren“ birgt laut Adelungs Definition eine dynamische Komponente. Nicht zuletzt schließt sich mit der (doppelt) fehlgehenden Etymologie des „mahlen[s]“ der Kreis von Darstellungs- und Mischformen. Dem Grimm zufolge „[wird] in der chemie [...] jede substanz neutral genannt, die weder basische noch sauere reaction besitzt.“244 Der Abschnitt zur Neutralisation gehört der „Hypothese des Abderitismus des Menschengeschlechts“ innerhalb des „Streit[s] der Facultäten“
242 Kant, Streit der Facultäten, a. O., S. 82. 243 Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Wien, 1811, Dritter Theil, M-Scr, Sp. 482 („Neutral“, „Neutralität“), Dass., Erster Theil, A-E, Sp. 243 („Amalgama“), Dass., Vierter Theil, Seb-Z, Sp. 1106 („Verquicken“). 244 Jacob u. Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 13, Sp. 689.
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an, die sich mit der Ermittlung des Fortschritts unter den Menschen auseinandersetzt. Ähnlich wie am „Ende aller Dinge“ geht es um Vorstellungsarten245, um Minimalplots einer Fabel. Dabei taugen Mikroerzählmuster nicht allein für Ausführungen über das Menschengeschlecht, sondern geben die simpelsten Erzählraster für beliebige Geschichten ab. Ihre Grundmodelle heißen Fortschritt, Rückschritt und Stillstand. Aufgrund von Kants Zeittheorie ist indes keine Vorstellung des Stillstands möglich.246 Daher behilft der Text sich mit der Metapher chemischer Neutralisation, um zu bekräftigen, dass keine symbiotische ganzheitliche Illusion im Hintergrund steht, sondern die Mischung des Differenten tatsächlich keinen Ausschlag mehr gibt. Eine Legierung, in der beide Prinzipien miteinander zu neuen ambivalenten Charakterformen verschmelzen, bildet der Widerstreit zwischen guter und böser Anlage nicht, sondern er hebt die Differenz von Gut und Böse selbst auf. Mit dem Hinweis auf die sprichwörtliche Einfalt der Bürger des antiken Abdera werden die philosophische Heimatstadt sowie die Chiffre für Schild- und Kleinbürgertum zugleich aufgerufen. Sehr wahrscheinlich bezieht Kant sich mit diesem Zitat auf eine literarische Vorlage, die ihm bekannt gewesen sein dürfte: Wielands „Geschichte der Abderiten“ von 1774, welche die „Posse“ in den Roman überführt. Poetisch lässt sich das Neutralisationsprinzip spielend umsetzen, es kommt jedoch ebenso für ausgedehnte Erzählungen in Betracht. Stillstand zielt auf „leere Geschäftigkeit“ ab: auf Handlungen, die nicht teleologisch eingerichtet sind, sondern die man im Modus der Antwort begreifen könnte. Auf eine vorhergehende Handlung zu respondieren, verlangt das Ziel jeder Handlung. Zwei Handlungen bilden ein selbstgenügsames reziprokes System, das in keinem übergreifenden Zusammenhang aufgeht, da es nicht mit ihm verbunden ist. Rein selbstbezüglich verfährt die Gattung, insofern sie nur spielt. Da sie Interaktion vortäuscht, fingiert die possenhafte Gattung eine Gemeinschaft menschlicher Handlungen. Der Begriff „Verkehr[ ]“ enthält die Facette des Umgangs, referiert auf den ökonomischen Tausch in der Verkehrung von Waren. Indem sie durch ihr Frage-Antwort-Schema zwei entgegengesetzte Welten aufeinander prallen lässt und in dieser Konfrontation den Eindruck des Lächerlichen erweckt, spielt die Gattung Posse „verkehrte Welt“. Am Prinzip des Umschwungs von zentrifugalen und zentripetalen Kräften müht sie sich ab. Auf Basis ihres lokalen Kolorits und der Milieustudie greift sie eine Vielfalt an Themen auf, ohne ihren Fokus eigens auf die dramatische Inszenierung zu richten.
245 Wobei hier nochmals genauer zu untersuchen wäre, worin die Differenz zwischen Hypothese und Vorstellungsart besteht. 246 Vgl. die Kapitel zu den Erzählungs-Experimenten: „Ausblick: Wie man etwas beendet. Kants Das Ende aller Dinge“.
254 │S UBTEXTE DER M ENSCHHEITSGESCHICHTE „Da sie die Handlung dem Milieu unterordnet, das obendrein noch, sich gegen die ungestümen Umwälzungen der Epoche sperrt, ist der dramatische Ablauf immer wieder von Stillstand bedroht. Im Extremfall müsste also mit einer selbstgenügsamen Regellosigkeit der Bühnenereignisse wie der inszenierten Kleinbürgerwelt zu rechnen sein.“247
Das Spiel, das Kants Text vorführt, gibt eine Posse ab, die der Stillstand ereilt, da sie ihr eigentümliches Prinzip bis zum Ende durchexerziert. Zum Lachen reizt diese Posse nicht mehr, sondern bleibt völlig eintönig, da ihre Dynamik fehlt. Nach Maßstab der Vernunft treibt das selbstreferentielle Spiel zu hohen Aufwand, da auch die Tierwelt dessen Mechanismen „mit weniger Kosten“ und „ohne Verstandesaufwand“ erfüllen könnte. Jedoch geht die Regsamkeit der Tiere nicht in KostenNutzenrechnungen auf, da die Tierwelt nicht über die Reflexion von Ursacheund Wirkungszusammenhängen zur Steuerung ihrer Betriebsamkeit verfügt. Da menschliche Handlungen im Possenspiel sich gegenseitig neutralisieren, nähern sie sich bloßer Geschäftigkeit an, während ihnen weiterhin ein reflexives und damit freiheitliches Gestaltungsprinzip offensteht. Dennoch lässt sich Kants Suche nach einem alternativen Paradigma der Beschreibung am Gebrauch chemischer Metaphorik ablesen. Trotz jenes Versuchs bewahren Modelle ihre Attraktivität, welche die Menschheitsgeschichte der Naturgeschichte als Addendum eingliedern (ein Unterfangen, das Herders „Ideen“ riskieren). 5.4.7 Disziplin Geschichte Kants Bemühungen, Erzählweisen historischer Sachverhalte auszumachen, arbeiten sich nicht zuletzt an bereits existierenden epistemischen und narrativen Registern ab, um die konkrete historische Erzählung Gattungen zuzuordnen, deren Konventionen von disziplinärer Selbstverortung abhängen. Wie zuvor erläutert, mündet das Bewusstsein der Doppeldeutigkeit des „Historia“-Begriffs weder in metahistoriographische Epoché noch in eine skeptische Haltung gegenüber der Zugänglichkeit von Realität als solcher. Skepsis gilt vorwiegend der Empirie, deren Verpflichtung der Realität gegenüber Kant theoretisch hinterfragt sowie kompositorisch bestätigt. Das beinahe arglose Zutrauen in die Reisebeschreibung korreliert mit seiner Einschätzung der Leistungsfähigkeit historischer Wissenschaften, denen er seine „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ kaum als Konkurrenzprojekt gegenüberstellt. Im Gegenteil äußert er philosophische Bescheidenheit und erklärt die historische Wissenschaft zur Grundlage aller philosophischen Geschichtsbetrachtung.
247 Volker Klotz, Bürgerliches Lachtheater. Komödie. Posse. Schwank. Operette, vierte Aufl., aktual. u. erw., Heidelberg, 2007, S. 141, vgl. S. 135-154.
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„Daß ich mit dieser Idee einer Weltgeschichte, die gewissermaßen einen Leitfaden a priori hat, die Bearbeitung der eigentlichen bloß empirisch abgefaßten Historie verdrängen wollte: wäre Mißdeutung meiner Absicht; es ist nur ein Gedanke von dem, was ein philosophischer Kopf (der übrigens sehr geschichtskundig sein müßte) noch aus einem anderen Standpunkte versuchen könnte.“248
Die „eigentliche[ ]“ Geschichte ist Angelegenheit der Empirie. Für die Disziplin übernimmt der empirische Anspruch konstitutive Funktion, und es findet sich kein Hinweis darauf, dass er heuristisch verfehlt oder nicht einlösbar wäre.249 Abweichende Mittel, die Weltgeschichte abzufassen, sind erlaubt. Als poetologisches Minimalprinzip der „Idee“ tritt das Apriori ein und konstituiert eine Geschichte, die vor aller Erfahrung möglich sein müsste. Ob jenes Prinzip tatsächlich poetologisch ausschlägt, bleibt streitbar. Das Apriori institutionalisiert einen exponierten Standpunkt, dem die disziplinäre Geschichte als Kontrastmodell gegenübersteht. Jedoch verläuft die Trennungslinie zwischen philosophischem Projekt und historischer Disziplin nicht – wie man zunächst annehmen könnte – zwischen a priori und a posteriori. Geschichte beschäftigt sich nicht ausschließlich mit Dingen, die von vorgängiger Erfahrung abhängen, während philosophische Ideen demgegenüber von aller Erfahrung absehen könnten. Ein Philosoph, der (wie Kant) ein erzählerisches Projekt unternimmt, ist kaum in der Lage, von der Empirie abzusehen und sollte dies nicht anstreben. Ihm muss ein Fundus historischer Erkenntnis zur Verfügung stehen, der die Grundlage des Versuchs abgibt. Kant hält propädeutische Überlegungen, die „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, als Gerüst bereit, das sowohl durch historische Kenntnis als auch philosophische Disziplin zu füllen wäre. Dass die Fachhistorie selbst gesteigerte Komplexität zu bewältigen hat, da sie sich stetig akkumulativ vermehrt, erfordert ihre umständliche Aufbereitung für die Nachwelt. Insofern bedeutet sie eine Belastung für die Nachkommen.250 Als Reaktion auf die Komplexitätssteigerung verfährt Kants „Idee“ reduktiv. Zwar ist es der Vollständigkeit halber erlaubt, die Episoden der Weltgeschichte zusätzlich abzubilden. Was kulturhistorisch Ausschlag gibt, hängt vom zuvor abgesteckten Standpunkt ab, den Kant hier antizipiert und damit vorgibt. An ihren Selbstbeschreibungen ließe sich der Fortschritt zukünftiger Epochen ablesen, welche von ihrer Vergangenheit einzig das historischer Erzählung Werte aufbewahren – genauer das, was die Entstehung ihres Zustandes im Hier und Jetzt erklärt.
248 Kant, Idee, a. O., S. 30. 249 Mit der „empirisch abgefaßten Historie“ liegt eine kompositorischen Vorgaben unterstehende Gestaltung vor. 250 A. O., S. 30f.
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Wie sie zu Kosmopoliten geworden sind, beschäftigt die Weltbürger, während Kant sich des Standpunktes annimmt, der eine solche Rückfrage erstmalig erlaubt. „Ohne Zweifel werden sie die der ältesten Zeit, von der ihnen die Urkunden längst erloschen sein dürften, nur aus dem Gesichtspunkte dessen, was sie interessirt, nämlich desjenigen, was Völker und Regierungen in weltbürgerlicher Absicht geleistet oder geschadet haben, schätzen.“251
„[D]ie Last von Geschichte“252, deren Zeugnisse der Überlieferung zufallen, erleichtert die skrupellose Reduktion der Geschichten nach Relevanzkriterien. Die der Aufklärung zugeschriebene, häufig kritisierte aktualisierende Geschichtsbetrachtung253 unterbreitet sich als elaboriertes Programm, das diejenigen vorziehen, die einen (positiv gemünzten) hochzivilisierten Rang versehen. Damit empfiehlt sich die Aktualisierung als Geschichtserzählung der Zukunft. Ob Kant bei der Formulierung ihres Programms davon ausgehen darf, dass der zukünftige Zustand den verdichteten Rückblick erlaubt, bleibt dabei entscheidend. Der Clou der Argumentation besteht darin, beide Zeitebenen von Gegenwart (zukünftiger Vergangenheit) und Zukunft aufeinander zu projizieren. Ebenso wie die Antizipation der Zukunft utopisches Potential freisetzt, das nach der wirkmächtigen Einflussnahme der Gegenwart auf künftig zu erreichende Zwecke fragt, muss die Zukunft sich unter der Voraussetzung der unterstellten (antizipierenden) Anteilnahme als durch die Vergangenheit modifiziert betrachten. Insofern verhilft das reduktionistische Spiel zwischen Antizipation und zentralisierendem Rückblick, das auf seiner Suche nach Vorhersagbarkeit praktisch ahistorisch motiviert ist, zu einem positiven neuen Geschichtsbild. Es profiliert nicht nur kontinuierliche Zusammenhänge in der Geschichte, die nötigenfalls einige Nebenstränge vernachlässigen, sondern lotet das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis neu aus. Mitwirkung am Verlauf der Geschichte räumt das Modell somit ein. In Kants Partizipationsmodell unterscheiden sich Wirklichkeit und Möglichkeit indes nicht. Zugleich ermutigt der strukturell inserierte Möglichkeitsraum zu politischer Aktivität, welche „selbstsüchtige[r]“ Eitelkeit „eigenen Vortheil“ verspricht.254 Wodurch die Gegenwart zum bewahrenswerten Gegenstand aufrückt, was man der Nachwelt von sich erhalten oder übermitteln will, fällt in Kants Modell mit dem Willen progressiver Modifikation der eigenen Zeit zusammen.
251 A. O., S. 31. 252 A. O., S. 30. 253 Vgl. Ulrich Johannes Schneider, Die Vergangenheit des Geistes. Eine Archäologie der Philosophiegeschichte, Frankfurt am Main, 1990, S. 39-42 u. ö. 254 Kant, Idee, a. O., S. 28.
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6. E INSÄTZE
DES
E XEMPLARISCHEN „Ich will diesen wunderlichen Abriß der menschlichen Schwachheiten durch Beispiele etwas verständlicher machen; denn der, welchem Hogarths Grabstichel fehlt, muß, was der Zeichnung am Ausdrucke mangelt, durch Beschreibung ersetzen.“
6.1 Das Exempel zwischen Literatur, Logik und Rhetorik Der Ort, an dem das Exempel als Problem und Form von jeher verhandelt wurde, ist ein literarischer. Innerhalb literarischer Kleinformen gerät das paradoxe Unterfangen, das Besondere mit dem Allgemeinen als vereinbar zu denken, performativ zur Darstellung. Dabei formuliert das Exempel einen Überschuss der Sprache über das Denken: Es bringt immer mehr zum Ausdruck als in der theoretischen Argumentation gesagt werden kann, ohne dass seine Botschaft restlos in den Modus des Diskursiven zurückübersetzbar wäre. Unabhängig von seiner bereits vollzogenen literarischen Umsetzung, dem Geben eines Exempels, ist eine Reflexion über diese Form eigentlich gar nicht möglich.1 In seiner Funktionsbeschreibung scheint das Beispiel wiederum von der Einführung eines neuen Beispiels abhängig. Nicht allein die epistemologische Ebene weist diese iterative Struktur auf: Die Ablösung des einen durch ein weiteres Beispiel fungiert als kompositorisches Element innerhalb kantischer Texte selbst. Durch den Einsatz des Exemplarischen entsteht eine Art performativer Widerspruch, indem das digressive Moment die begrenzte theoretische Absicht unterläuft – eine Figur, die nicht allein Kants Aufsätze durchzieht, sondern auch in der Vorrede zur „Kritik der reinen Vernunft“ beobachtet werden kann.2 Um 1
So heißt es in Abhandlungen über das Exempel nicht selten zum Beispiel. Bereits bei Aristoteles lässt sich jedoch feststellen, dass die angeführten Exempel sich merkwürdig schief zum erläuterten theoretisch-begrifflichen Zusammenhang verhalten; s. dazu die Beispiele aus Aristoteles’ „Rhetorik“ im einführenden Aufsatz von Stefan Willer, Jens Ruchatz, Nicolas Pethes (Hg.), „Zur Systematik des Beispiels“, in: Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen, Berlin, 2007, S. 9-59, S. 11, S. 12f. Insofern das Beispiel eine narratio entfaltet, verfährt es natürlich auch diskursiv, ohne jedoch diskursiv zu überzeugen. Diskursivität bei Kant ist anders bestimmt als im heutigen Sprachgebrauch. Zum Motto vgl. Kant, Beobachtungen, in: KAA II, a. O., S. 214.
2
Nachfolgend beziehe ich mich auf: Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur ersten Auflage, A XVIII-XX; den Bonmot des Abtes Terrasson und das Persius-Zitat, in: KAA IV: Kritik der reinen Vernunft (1. Aufl. 1781). Prolegomena. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften, Berlin, 1968 [unveränderter photomechanischer Abdruck von: Kants gesammelte Schriften, hg.
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die Funktionsweise des Exemplarischen aufzuweisen, unterwirft sich auch der vorliegende Text seinen Zwängen und zitiert diesen berühmten Passus ausführlich: „Was endlich die Deutlichkeit betrifft, so hat der Leser ein Recht, zuerst die discursive (logische) Deutlichkeit durch Begriffe, dann aber auch die intuitive (ästhetische) Deutlichkeit durch Anschauungen, d. i. Beispiele oder andere Erläuterungen in concreto, zu fordern. Für die erste habe ich hinreichend gesorgt. Das betraf das Wesen meines Vorhabens, war aber auch die zufällige Ursache, daß ich der zweiten, obzwar nicht so strengen, aber doch billigen Forderung nicht habe Gnüge leisten können. Ich bin fast beständig im Fortgange meiner Arbeit unschlüssig gewesen, wie ich es hiemit halten sollte. Beispiele und Erläuterungen schienen mir immer nöthig und flossen daher auch wirklich im ersten Entwurfe an ihren Stellen gehörig ein. Ich sah aber die Größe meiner Aufgabe und die Menge der Gegenstände, womit ich es zu thun haben würde, gar bald ein; und da ich gewahr ward, daß diese ganz allein im trockenen, blos scholastischen Vortrage das Werk schon gnug ausdehnen würden, so fand ich es unrathsam, es durch Beispiele und Erläuterungen, die nur in populärer Absicht nothwendig sind, noch mehr anzuschwellen, zumal diese Arbeit keineswegs dem populären Gebrauche angemessen werden könnte und die eigentliche Kenner der Wissenschaft diese Erleichterung nicht so nöthig haben, ob sie zwar jederzeit angenehm ist, hier aber etwas Zweckwidriges nach sich ziehen konnte. Abt Terrasson sagt zwar: wenn man die Größe eines Buchs nicht nach der Zahl der Blätter, sondern nach der Zeit mißt, die man nöthig hat, es zu verstehen, so könnte man von manchem Buche sagen: daß es viel kürzer sein würde, wenn es nicht so kurz wäre. Andererseits aber, wenn man auf die Faßlichkeit eines weitläufigen, dennoch aber in einem Princip zusammenhängenden Ganzen speculativer Erkenntniß seine Absicht richtet, könnte man mit eben so gutem Rechte sagen: manches Buch wäre viel deutlicher geworden, wenn es nicht so gar deutlich hätte werden sollen.“
Nach diesem vorläufigen Abschluss der Paraphrase Terrassons erläutert Kant von neuem metaphernreich, worin die Gefahr der Veranschaulichung bestehe. „Denn die Hülfsmittel der Deutlichkeit helfen zwar in Theilen, zerstreuen aber öfters im Ganzen, indem sie den Leser nicht schnell gnug zu Überschauung des Ganzen gelangen lassen und durch alle ihre helle Farben gleichwohl die Articulation oder den Gliederbau des Systems verkleben und unkenntlich machen, auf den es doch, um über die Einheit und Tüchtigkeit desselben urtheilen zu können, am meisten ankommt.“
Als digressive Elemente der Argumentation lenken die „Hülfsmittel der Deutlichkeit“ also vom Ziel, einen (durchaus systematisch verstandenen) Überblick zu gewinnen, ab. Systematik wird hier in Variation kantischer architektonischer Metav. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. IV, Berlin, 1903/11], S. 1-252, S. 12f. Sperrungen werden kursiv wiedergegeben, Fettdruck hier ebenfalls fett.
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phern als „Gliederbau“ vorgestellt. Dass es eigentlich möglich sei, im geplanten Projekt (zunächst der Kritik) auf Beispiele zu verzichten, ergebe sich aus dem Charakter der behandelten Wissenschaft – der Metaphysik – selbst. Die doppelte Aufgabe der Vernunft, ihre Grenzen auszuloten und ihren Kompetenzbereich zugleich zu beschränken, hegt den Gegenstandsbereich auf „[…] das Inventarium aller unserer Besitze durch reine Vernunft, systematisch geordnet.“ ein. Angesichts der Metaphysik müsse sich die menschliche Vernunft ihre eigene Begrenztheit eingestehen, und so kann Kant diese Wissenschaft als „die einzige aller Wissenschaften“ einführen, „die sich eine solche Vollendung und zwar in kurzer Zeit […] versprechen darf“. Was nach ihrer „Vollendung“ zu tun übrig bliebe, sei nur noch reine Didaktisierung („in der didaktischen Manier“). „Es kann uns hier nichts entgehen, weil, was Vernunft gänzlich aus sich selbst hervorbringt, sich nicht verstecken kann, sondern selbst durch Vernunft ans Licht gebracht wird, sobald man nur das gemeinschaftliche Princip desselben entdeckt hat. Die vollkommene Einheit dieser Art Erkenntnisse und zwar aus lauter reinen Begriffen, ohne daß irgend etwas von Erfahrung, oder auch nur besondere Anschauung, die zur bestimmten Erfahrung leiten sollte, auf sie einigen Einfluß haben kann, sie zu erweitern und zu vermehren, machen diese unbedingte Vollständigkeit nicht allein thunlich, sondern auch nothwendig. Tecum habita et noris, quam sit tibi curta supellex. Persius.“
Mit dem Persius-Zitat „Kehre bei dir ein, und du wirst erkennen, wie dürftig dein Hausrat ist“3 schließt nun dieser Passus über die Begrenztheit und gleichzeitige Vollständigkeit des Gegenstandsbereichs. Obwohl der Konnex zwischen Selbstbesinnung, Hausrat und Vernunft sich relativ problemlos an den Komplex argumentativer Selbstbeschränkung anschließen lässt – es sich bezogen auf das Projekt der „Kritik der reinen Vernunft“ um ein passendes Bild handelt – bleibt natürlich die Frage nach der (diskursiven) Notwendigkeit des Zitats selbst bestehen. Somit weist die Vorrede zur ersten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ ein Auseinanderdriften von theoretischem Bekenntnis und literarischer Performanz auf. Trotz begründeten Ausschlusses der Verdeutlichung durch Beispiele – sie sind dem theoretisch zu entfaltenden Sachverhalt darstellerisch nicht angemessen (zweckwidrig) – resultiert gerade aus dieser Verweigerung eine durchsetzungsstarke Verweisungsfunktion. Obgleich es gegen die adaequatio der theoretischen Darstellung verstößt, zitiert Kant seinem theoretischen Bekenntnis ausweichend zwei Stellungnahmen zum Ökonomieprinzip, welche jedoch eigentlich als Gleichnisse zu lesen 3
Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, a. O., A XX (S. 13). Geprüfte Übersetzung des Persius-Zitats nach: Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe hg. v. Jens Timmermann. Mit einer Bibliographie v. Heiner Klemme, Hamburg, 2003, S. 13.
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sind. Das erste Gleichnis bezieht sich auf das synekdochische Verhältnis eines vollständigen Systems zu seiner Darstellung im Medium des Buchs (Buch als Pars pro Toto des Systems, seines Inhalts), das sich – erzähltheoretisch gewendet – dadurch auszeichnet, dass Erzählzeit und erzählte Zeit auseinanderfallen. Durch derartige Beispiele oder Gleichnisse schwillt die ‚Diegese‘ gerade unnötig an: Sie stellen Digressionen dar. Ebendiese Digressionen baut Kant jedoch an der Stelle in den Text ein, wo es um seine Ökonomie und Verständlichkeit („Deutlichkeit“) geht, welche Abweichungen vom theoretischen Gegenstand gerade ausschließen: Ein performativer Widerspruch im Literarischen entsteht. Ob jene Digressionen streng genommen Gleichnisse, synekdochische (metonymische) oder metaphorische Verhältnisse ausbilden, steht selbstredend zur Disposition. Dabei wird die Nähe des Exempels zur Metapher in einem späteren Abschnitt näher behandelt und ich komme dort auf diese Problemstellung zurück. Bereits in der griechischen Antike wird das philosophische Problem, wie das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem zu denken sei, literaturtheoretisch expliziert, und wie selbstverständlich mit der Frage nach Fiktionalität und Faktualität der (künstlerischen) Darstellung verknüpft. Dabei nimmt das Exempel eine prekäre Zwischenstellung zwischen Rhetorik und Logik ein: „Das unfeste Verhältnis des rhetorischen parádeigma zur logisch-dialektischen Beweisführung wird erst dadurch zum Problem, dass Aristoteles die Rhetorik insgesamt überaus eng auf die Dialektik bezieht.“4 Schlussverfahren nobilitieren sich so über ihre scheinbar strengere Anbindung an die Logik. Innerhalb dieses konfliktären Rahmens ließe sich der Unterschied zwischen „epagogé“ (Induktion) und „parádeigma“ wie folgt fassen: „Während die epagogé eben die Stimmigkeit der begrifflichen Struktur von Unterem, Mittlerem und Oberem dartun will, nimmt das parádeigma diese Struktur als gegeben an und funktionalisiert sie immer schon für das Einzelne, indem sie jede Schlussfolgerung unmittelbar darauf anwendet.“
5
Konsequent verfährt Aristoteles selbst jedoch weder in seinen begrifflichen Bestimmungen noch in den Anwendungen seiner Exempel.6 Ohne näher in die komplexe aristotelische Theorie einzusteigen, bliebe festzuhalten, dass sich das Exempel (für Aristoteles) gerade nicht aus einer Pars pro Toto-Logik speist, sondern ana4
Willer, Ruchatz, Pethes, Zur Systematik des Beispiels, a. O., S. 11. Auf das aristotelische Vokabular kann ich hier nicht im Einzelnen eingehen, sondern berufe mich auf die „[…] Gleichschaltung von Rhetorik und Dialektik […]“, welche die Autoren als aristotelische Intention erklären; a. O., S. 12.
5
A. O., S. 13.
6
Vgl. dazu das bei Willer, Ruchatz, Pethes zitierte aristotelische Beispiel von der Leibwache. A. O., S. 11.
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logische Teil-Teil-Verhältnisse expliziert: „wenn beides unter eine Gattung fällt, das eine aber bekannter ist als das andere, liegt ein Beispiel [parádeigma] vor.“7 6.2 Exemplarische Gattungen Unter genereller Goutierung der Differenzierbarkeit von historischer Faktizität und literarischer Fiktionalität entwickelt Aristoteles’ „Poetik“ den Gedanken einer höheren (philosophischen) Wahrheit des Wahrscheinlichen, welche der künstlerischen Darstellung einen ganz eigenen epistemologischen Wert einräumt. Im Zuge der Auseinandersetzung zweier Arten von Beispielen innerhalb der „Rhetorik“ findet sich diese Differenzierung wieder und markiert weitere gattungstheoretische Unterscheidungen: Entweder entnimmt man Exempel aus der historischen Fülle vergangener Ereignisse oder erdichtet sie selbst. Im letzten Fall hat das Erzählte entweder die Form eines „Gleichnis[ses] (parabolé)“ oder einer „Fabel (lógos)“.8 Das Exempel kann sich also in divergenten literarischen Gattungen entfalten. An dieser Gegenüberstellung lässt sich ferner ablesen, dass die Unterscheidung zwischen Fiktionalität und Faktualität für das Exempel hier kaum Relevanz besitzt. Mitunter folgt Glaubwürdigkeit nicht aus der faktischen Darstellung, sondern hängt von Kohärenzregeln ab. Bis in die Regelpoetiken und poetologischen Diskussionen der Aufklärung setzt sich diese Diskussion fort und wird unter den Schlüsselbegriffen Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit und Wirklichkeit verhandelt.9 Der zitierte einleitende Aufsatz erwähnt die zunehmende „Poetologisierung des Exemplarischen“10, die Folge bzw. Gegenmodell seiner Ent-Rhetorisierung darstelle. Fasst man die Rhetorik als ursprünglichen Ort des Exempels auf, so tritt es hier in doppelter, „‚ästhetische[r]‘“ wie „‚kognitive[r]‘“, „‚Funktion‘“ auf. Ent-Rhetorisierung bedeutet Poetologisierung, insofern die ästhetische Funktion des Exempels in der Rhetorik sich nicht im „ornatus“ erschöpft, sondern indem „‚kognitive‘“ und „‚ästhetische‘“ „‚Funktion‘“ im Exempel zusammenfallen. Insoweit das Exempel – auch in der Rhetorik – immer schon eine narratio, damit ein poetologisch relevantes Element zur Verfügung stellt, entrhetorisiert es die Rhetorik. Anders gesagt, verliert die jeweilige exemplarische Gattung mit ihrer Institutionalisierung ihre rhetorische Funktion sowie Funktionsweise nicht vollkommen. Das Exempel wandert innerhalb der Rhetorik durch die einleitende „inventio“, die das Argument zunächst aus dem Bereich des Topischen bestimmt, in die Argumentati7
Ebd., zit. nach Aristoteles; s. Aristoteles, Rhetorik, übers. u. hg. v. Gernot Krapinger, Stuttgart, 2007, 1, 2, 19 (1357b, dt. S. 17). Das Beispiel ist gerade nicht als Pars pro Toto für die allgemeine Regel zu lesen.
8
Vgl. Willer, Ruchatz, Pethes, Zur Systematik des Beispiels, a. O., S. 15.
9
Dies ist natürlich auch ein aristotelisches Erbe.
10 Vgl. a. O., S. 18, S. 15f.
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on selbst. Somit nimmt die „inventio“ zugleich eine logisch-dialektische Funktion ein, tritt jedoch auch als Sprachschmuck („ornatus“) auf. Daher begründe sich seine Nähe zur Metapher.11 Insofern Aristoteles „[…] die parabolé (neben der Fabel) als Form eines rhetorischen Beweisverfahrens, das er mit dem Namen paradeigma bezeichnet“, „Fabel“ und „parabolé“ als „[…] ‚erdichtete‘ Formen dieses Beweisverfahrens“12 bestimmt, kündige sich bei ihm bereits der Übergang von der Rhetorik (und Logik) zu gattungstheoretischen Überlegungen an. Beide Erzählgattungen stellen literarische Formen des Exemplarischen dar, die bereits als Beispiele für Exemplarität selbst einstehen. Wenn man also konzediert, dass sich das Exemplarische immer nur narrativ entfalten lässt, bezieht sich diese Erkenntnis entweder auf die recht allgemeine These der narrativen Organisation von Wissenszusammenhängen oder sie lässt sich epistemologisch fundieren durch die Frage nach den strukturellen Merkmalen jener Erscheinung. Meine These wäre, dass die narrative Verfasstheit des Exempels aus der bereits von Aristoteles geltend gemachten Teil-TeilRelation resultiert, die einen Vergleich zwischen zwei Dingen oder Sachverhalten anstellt: Etwas wird so betrachtet, als ob es etwas anderes wäre. Lediglich über strukturelle Äquivalenzen lässt sich jene Analogie herstellen – es sei denn, man folgt Aristoteles’ Vorstellung einer Gattungsidentität.13 Somit blendet die philosophische Begründung des Exempels aus Teil-Ganzem-Relationen, die auf paradigmatischer Ebene logische Zusammenhänge generieren sollen, diesen vergleichenden Aspekt aus, indem sie die deduktive Zwangsläufigkeit eines Schlussverfahrens fingiert. Dabei rührt die Frage, ob es sich bei den qua Exempel gestifteten Verhältnissen um zwei- oder dreigliedrige Bezugssysteme handelt, an den wunden Punkt einer „Epistemologie des Exemplarischen“ generell. Räumt man aus gattungstheoretischer Perspektive ein, dass das Exempel (welches in der Regel von seinem philosophisch nobilitierten Gegenüber – dem Beispiel – differenziert wird) kaum von anderen Formen exemplarischen Erzählens abgrenzbar ist bzw. frappante strukturelle sowie funktionale Ähnlichkeiten mit ihnen aufweist, so reiht es sich in recht divergente literarische Gattungen ein, welche selbst wiederum häufig repräsentationale Mischformen bilden. Für die innerhalb dieser Arbeit behandelten Texte lässt sich diese Mischung verschiedener literarischer und künstlerischer Formen sowie deren Verschränkung mit poetologischen Fragen zu ihrer eigenen Organisation durchgängig beobachten.
11 Vgl. a. O., S. 16f. Wobei ich nicht speziell auf Quintilian eingehe. 12 Rüdiger Zymner, Parabel, in: Kleine literarische Formen in Einzeldarstellungen, Stuttgart, 2002, S. 174-190, S. 178. 13 Wo man vielleicht allenfalls von Familienähnlichkeiten sprechen könnte; s. a. Willer, Ruchatz, Pethes, Zur Systematik des Beispiels, a. O., S. 11.
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Formale (literaturtheoretische) Einteilungen richten sich im Falle der dem Exempel verwandten Gattungen primär an der Justierung der zuvor genannten Schlüsselbegriffe Wirklichkeit, Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit aus. „Der einzelne Fall, aus welchem die Fabel bestehet, muß als wirklich vorgestellet werden. Begnüge ich mich an der Möglichkeit desselben, so ist es ein Beispiel, eine Parabel.“14 Während Aristoteles Fabel und Parabel in den Bereichen des Möglichen bzw. Wahrscheinlichen ansiedelt, scheint Lessing die Fabel der Wirklichkeit zuzuschlagen. Zymner sucht diese Verschiebung über den hypothetischen Charakter der Parabel aufzulösen: Sie kündige im Gegensatz zur Fabel ihre Gleichnishaftigkeit an und stelle ihre eigene Möglichkeit (damit auch Uneigentlichkeit) aus, indem sie sich vom Modus der ‚Tatsächlichkeit‘ abgrenze. Im Gegensatz dazu würde die Fabel eine „Fiktion des Faktischen“ ausbilden: als Narrativ, das seinen nicht-gleichnishaften Bezug auf das singuläre historische Ereignis betont.15 Worin unterscheidet sich das Exempel also von Formen wie Fabel, Parabel, Legende oder Epigramm und inwiefern weist es Gemeinsamkeiten mit ihnen auf? Oder wäre anzunehmen, das Exempel stelle das allen diesen Erzähl- bzw. Repräsentationsformen innewohnende gemeinsame Prinzip oder Denkmodell zur Verfügung – abgesehen davon, dass es literaturgeschichtlich eine eigene Gattung ausbildet? Nach den bisherigen Überlegungen gewinnt der Gedanke an Plausibilität, dass das Exempel als minimales Narrativ auftreten muss, dessen erzählerische Aufgabe darin besteht, Analogieverhältnisse herzustellen. Jedoch stiftet es als paradigmatisches Verfahren kaum Bezugssysteme, die etwaige Gesetzmäßigkeiten zwischen Allgemeinem und Besonderem bestätigen würden. Somit wäre es zulässig, die erwähnten Gattungen als Narrative des Exemplarischen zu qualifizieren. Eine solche Einschätzung widerspricht keineswegs dem Befund, dass Exempel wiederum innerhalb anderer Gattungen inseriert werden können. Setzen die Texte Kants, Herders und Wielands das Exempel in ihren zwischen (fiktiver) Historie und Historiographie changierenden Texten etwa in der Tradition der historia magistra vitae ein – einer Denkform, die für Reinhart Koselleck gerade die Grenze zum modernen (aufklärerischen) historischen Denken markiert? In Wielands „Beyträge[n]“ etwa wird diese Möglichkeit lediglich als ironisches Formzitat eingebaut, das trotz aller ironischen Brechung immer noch ein Modell der Gegenüberstellung verschiedener Perspektiven zu favorisieren scheint: Die Dekonstrukti14 Lessing, zitiert nach Zymner, Parabel, a. O., S. 185; s. Gotthold Ephraim Lessing, Abhandlungen zur Fabel, I., in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 4: 1758-1759: Philotas, Fabeln und Fabel-Abhandlungen, Literaturbriefe, hg. v. Gunter E. Grimm u. Wilfried Barner, Frankfurt am Main, 1997, S. 345-411, S. 370. 15 Dennoch spielt für die Definition der Fabel bis in die Aufklärungspoetik hinein das Auftreten von sprechenden Tieren weiterhin eine wichtige Rolle – ein Merkmal, dass dem Wirklichkeitspostulat diametral entgegengesetzt zu sein scheint.
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on des kolonialisierenden Selbst durch seine Autobiographie ist als historisches Dokument somit zulässig.16 6.3 Präsentationen des Exemplarischen In der Moderne entstammt das Beispiel häufig der Naturwissenschaft. Es hat vorzüglich empirischen Charakter und das ihm angemessene Schlussverfahren bildet die Induktion. Seine Entnahme aus der Empirie setzt sich nicht selten in der beschreibenden Praxis eines Textes um. Dennoch gibt es recht vielschichtige Möglichkeiten seiner textuellen Gestaltung. Eine von den barocken Reisebeschreibungen bis in die historischen Romane des 21. Jahrhunderts reichende beliebte Praxis besteht in der Verzeichnung des Empirischen. Was aus der Empirie zu zeigen ist, wird in den Text unterbrechenden bzw. bereichernden Zeichnungen – die moderne Variante bietet das Photo – untergebracht. Weitere Varianten der Unterbringung des Empirischen wären Schema, Tabelle oder Statistik. Blickt man in die barocke Tradition der Reisebeschreibungen zurück, so stellt die Bezeugung des Empirischen freilich nur eine Strategie (der Authentifizierung) der Texte dar. In weitaus größerem Maße dienen sie der Repräsentation von Mannigfaltigkeit und damit nicht zuletzt der Bestätigung der Reichweite der – die Reise initiierenden – herrschaftlichen Macht. In diesem Stadium weisen die Zeichnungen nicht selten noch einen direkten Korrespondenten auf: Die materiellen Mitbringsel werden – verglichen mit ihrer chronologisch-narrativen Ordnung im Text – relativ kontingent als Kuriositäten nebeneinander beigeordnet. Preis der unmittelbaren Erfahrbarkeit wäre damit ein Zuwachs an Kontingenz. Auf musealer Ebene wird die Entgrenzung des Kontingenten später durchbrochen –, das heißt nach Prinzipien geordnet. Das Mittel der Beiordnung bestimmt den Zusammenhang von Narration und Empirie. Empirie wird – freilich in medialer Übersetzung – in den Text integriert, wobei sie seine narrative Ordnung sogleich qua Integration durchbricht. Zeichnungen stehen räumlich gesehen neben oder unter dem Text, bzw. können sie außerhalb des Textes in einem Supplement untergebracht werden.17 In ihrer paradoxen Beiordnung zeigen sie zugleich ein dem Text Fremdes oder Externes, das es für den Text einzuholen gilt.18 16 In der Konfrontation zweier Erzählungen über den Priester Abulfauaris in Wielands Texten „Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit“, von denen eine als autobiographisch gekennzeichnet wird. Deren Inbezugsetzung stiftet sich über eine spielerische Überlieferungsfiktion. Mit der Doppelung Historie/Historiographie ist den Texten die Indifferenz zwischen Einzelereignis und Hypothetizität bereits eingeschrieben. 17 Aufschlussreich wäre in diesem Zusammenhang die Frage nach der Stelle von Registern in jenem Verweissystem. 18 In dieser Doppelfunktion entsprechen sie den „Parerga“ im Sinne Derridas. Jacques Derrida, Die Wahrheit in der Malerei, hg. v. Peter Engelmann, Wien, 1992; Seitenzahlen, auf
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So stellen Kants Fußnoten – vor allem dort, wo sie Reisebeschreibungen zitieren – solche Passagen der Beiordnung dar. Diese, nicht nur im Schriftbild manifesten, sondern besonders in der Semantik aufzuspürenden, Abweichungen könnte man als solche Zeichnungen des Empirischen begreifen. „Ich will diesen wunderlichen Abriß der menschlichen Schwachheiten durch Beispiele etwas verständlicher machen; denn der, welchem Hogarths Grabstichel fehlt, muß, was der Zeichnung am Ausdrucke mangelt, durch Beschreibung ersetzen.“
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Wo also „Hogarths Grabstichel fehlt“, die narratio der theoretischen Reise nicht durch die Zeichnung (den Kupferstich), jedoch die Beschreibung unterbrochen wird, ordnet Kants Text dem Argument Kuriositäten bei, die als Fundgruben für Argumentationslinien dienen. Besonders in stark theoretisch ausgerichteten Texten Kants bilden die Fußnoten Wunderkammern aus, deren Kuriosität (vom Rezipienten) sogleich registriert, jedoch selten in ihrer konstitutiven Mannigfaltigkeit verfolgt wird. In einer merkwürdigen Doppelung nehmen die Kuriositäten ergänzende Funktionen ein und brechen gleichzeitig die opake Argumentation auf, um sie (oder von ihr) abzulenken. Somit verfährt Kant in der Eingliederung seiner Beschreibungen eher barockisierend, als dass er das Prinzip der Deskription nach dem Ideal moderner Naturwissenschaft induktiv anwenden würde. 6.4 Das Exempel bei Kant Um den Stellenwert des Beispiel-Gebens, das variierende Figurierungen ausbilden kann, zu justieren, nimmt die Überschneidung des exemplarischen Komplexes mit literaturtheoretischen Fragestellungen eminente Bedeutung ein. Kants durchgängige Reflexion über den Einsatz divergenter (gattungsgebundener) Formprinzipien als die sich die Paraphrasen beziehen, in Klammern. Zeichnungen oder Fußnoten rahmen die Texte wie sie etwas von ihnen abtrennen, was nicht (zum Diskursiven) dazugehört und ihm gleichzeitig fehlt (76). Insofern sich das „Parergon“ von Werk und Hintergrund gleichermaßen abgrenzt (82), verweist es auf ein Außen. Im Falle der hier thematisierten Fußnoten Kants zielt es sicherlich auf den Diskurs der Empirie, damit aber zugleich auf den Intertext (in der Auseinandersetzung mit Forster auf Forsters Überlegungen zum Rassebegriff, aber auch auf weitere Reisebeschreibungen, zeitgenössische Gelehrte sowie weitere Gewährsmänner). Insofern könnte man erwägen, ob die digressiven Elemente paratextuelle Funktionen übernehmen, um die ‚Gattung‘ der jeweiligen ‚Abhandlung‘ zu kommentieren. In seiner Tendenz zur Iteration stimmt der Anmerkungscharakter des „Parergon[s]“ mit der Struktur des Beispiels überein, das dazu neigt, fortlaufend weitere Beispiele zu generieren (75). 19 Kant, Beobachtungen, a. O., S. 205-256, S. 214.
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Verständigungsmedien über die Struktur gewisser, narrativ zu entfaltender Sachverhalte der Menschheitsgeschichte steht in Opposition zu seiner ambitionierten definitorischen Arbeit am Exempel-Begriff – und diese wiederum im Missverhältnis zum argumentativen Gebrauch des empirischen Exempels innerhalb des theoretischen Arguments. Wobei eine philosophische Komplikation gerade darin begründet zu liegen scheint, dass das Argument teleologisch ausgerichtet ist und somit eigentlich nicht in den Bereich der Theorie fällt. Wie steht es aber in der Teleologie um die Feststellung, dass etwas kein Beweis, „aber doch nicht unerheblich“ sei – zumal gerade dieser schwer nachzuvollziehende Ausflug in die Fußnote den gedanklichen Zusammenhang zwischen zunächst recht solitären Einzelüberlegungen stiftet?20 Formal korrespondiert Kants Reflexion über mögliche literarische und repräsentationale Formen mit der Mischung verschiedener literarischer Gattungen, die sich im Beitragscharakter seiner Aufsätze manifestiert. Die performative Umsetzung tritt gewissermaßen als Mimesis der theoretischen Explikation auf. Dass sich formal betrachtet verschiedene Beispiel-Funktionen innerhalb von Texten, aber auch in performativ angelegten Arrangements finden lassen, welche jedoch nie rein modellhaft auftreten, lässt sich meines Erachtens aus der Ansiedlung des Beispiels in der Gemengelage aus Topik, Rhetorik, Logik und Poetologie begründen. Verschiedene Funktionen des Exemplarischen schlagen sich in bestimmten Darstellungsweisen nieder, die wiederum auf die Generierung eines je spezifischen Wissenssystems zurückführbar sind. Anders gesagt, vollzieht das Exempel in seiner repräsentationalen bzw. literarischen Ausgestaltung jeweils abweichende „Epistemologien des Exemplarischen“. Selbstverständlich gehört zu diesen exemplarischen Formen auch gerade diejenige, welche sich dem gleichermaßen naiven wie anspruchsvollen Projekt einer konsistenten Verknüpfung von Allgemeinem und Besonderem verschrieben hat; dort, wo sich die Schnittstelle zwischen Philosophie und Beispiel befindet. Ihr funktionaler Anspruch, der sie als un-ästhetisch und damit als wissenschaftliches (philosophisches) Verfahren ausweist, realisiert sich über das poetische Arrangement, das das Beispiel ausbildet. Dabei stehen die Phänomene des Überschusses oder der Ablenkung, welche exemplarische Strategien innerhalb der Texte erzeugen, im Dienste eines spezifisch kantischen „effet de réel“, der über die Diskursivität des philosophischen Textes hinausweist. 6.4.1 Kants Differenzierung von Exempel und Beispiel In (Kants eigener) philosophischer Terminologie nimmt das Beispiel epistemische Funktion, das Exempel jedoch lediglich moralisch-praktische Funktion ein. Kant unternimmt den Versuch einer begrifflichen Definition, um die Bedeutungen von
20 Kant, Über den Gebrauch, in: KAA VIII, S. 157-184, S. 174 (FN). Vgl. dazu auch mein Kapitel „Kant und die Reisebeschreibung“.
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Beispiel und Exempel auseinanderzuhalten, wobei er seine eigene Differenzierung – wie etwa von Günther Buck beobachtet – kaum durchhält. „Beispiel, ein deutsches Wort, was man gemeiniglich für Exempel als ihm gleichgeltend braucht, ist mit diesem nicht von einerlei Bedeutung. Woran ein Exempel nehmen und zur Verständlichkeit eines Ausdrucks ein Beispiel anführen, sind ganz verschiedene Begriffe. Das Exempel ist ein besonderer Fall von einer praktischen Regel, sofern diese die Thunlichkeit oder Unthunlichkeit einer Handlung vorstellt. Hingegen ein Beispiel ist nur das Besondere (concretum), als unter dem Allgemeinen nach Begriffen (abstractum) enthalten vorgestellt, 21
und blos theoretische Darstellung eines Begriffs.“
Allein im Bereich der praktischen Philosophie beansprucht das Exempel daher Gültigkeit für sich, da es von Handlungsvollzügen abhängt. Dabei weist gerade die Justierung des Exempels innerhalb der Moralphilosophie Widersprüche auf. Einerseits „[…] ‚beweist‘ das moralische Beispiel etwas, wenn dies auch kein Beweis aus letzten Gründen, sondern bloß aus dem Faktum ist“22, andererseits bestehe der Clou der kantischen Ethik gerade darin, dass Moralität gar nicht belegt werden soll.23 Weniger als Lösung denn als Zuspitzung des Problems resümiert Günther Buck: „Beispiele reiner Gesinnung sind möglich und für moralische Bildung notwendig. Aber dann kommt es auf ihren Erfahrungscharakter gar nicht an.“24
21 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. II. Ethische Methodenlehre. Erster Abschnitt. Die ethische Didaktik., in: KAA VI, S. 203-493, S. 479f., § 52 (FN) [A 167]. Hervorhebungen bis auf Latinisierungen von mir kursiviert. 22 Günther Buck, „Kants Lehre vom Exempel“, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. XI, hg. v. Karlfried Gründer, Bonn, 1967, S. 148-183, S. 150. Anhand der Empirie soll demnach gezeigt werden, dass es in Konformität mit dem Sittengesetz handelnde Menschen gibt, die schlicht die Möglichkeit ebendieser Handlungen bezeugen. Damit ein potentiell Handelnder von einem solchen Vorkommnis betroffen sein kann, müsste er annehmen, dass er dieses Gesetz und diese Möglichkeit als Mensch teilt. Das Funktionieren des Exempels ist also von einer minimalen anthropologischen Grundannahme abhängig. 23 „Die Unmöglichkeit, wahre Moralität durch Beispiele zu belegen, ist […] eine positive Bestimmung der Moralität selbst.“ Buck, Kants Lehre vom Exempel, a. O., S. 151. Jedoch könne man an der empirischen Handlung lediglich ihre „Legalität“, a. O., S. 170, nie ihre tatsächliche Konformität mit dem moralischen Gesetz ablesen. Über die inneren Beweggründe sage die äußere Form also nichts Gewisses aus. Weil die Moralität der Handlung nicht in ihrem Vollzug liege, könne man (nach Kant) nie mit Gewissheit sagen, ob ein Mensch moralisch handelt. 24 A. O., S. 152.
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Dass Kant das Exempel als Sonderfall des Beispiels nicht von seiner Erfahrbarkeit her bestimme, habe laut Buck „historische und sachliche Gründe“.25 Über die Hierarchisierung von Exempel und Beispiel versucht er zu plausibilisieren, inwiefern die Differenzierung (Kants) sinnvoll sein kann, indem er deren Verhältnis in einen prozessualen Zusammenhang übersetzt. „Daß das Sittengesetz zu einer wirklichen Bestimmung unseres Willens werden kann, das wird nicht durch das Exempel, sondern durch das praktische Urteils-Beispiel sichergestellt, […]. Diese Rangordnung der beiden Arten des Beispiels bestimmt den Gang der moralischen Didaktik, wie sie in der ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ entworfen ist; die Wirksamkeit des Exempels setzt die Verständigung an Hand des Urteils-Beispiels voraus. Man kann das Exempel erst dann in der rechten Weise – d. h. nicht nachahmend – ‚nehmen‘, wenn man durch 26
das Urteils-Beispiel zur Anerkennung der Verbindlichkeit des Sittengesetzes gelangt ist.“
Im Unterschied zum Exempel ergebe sich „das Problem seiner empirischen Gebbarkeit oder Nichtgebbarkeit“ nicht27, da das Beispiel für sich betrachtet die Darstellung des Gesetzes selbst bilde. Dabei würde die moralische Erkenntnis nur eine vorgängige Erkenntnis wiederholen (kein moralisches Gefühl evozieren) und ein gewisses Maß an Ansprechbarkeit transportieren: Es handelt sich um eine „[…] Einsicht […], die ihre praktische Applikation unmittelbar mit sich führt.“28 Anwendung meint hier aber einen reflexiven Prozess. Daher spricht Kant in diesem Zusammenhang von „Nachfolge“29 – dem Nachvollzug – und verwahrt sich gegen die schlichte Nachahmung. Ein weiterer, eminent wichtiger Nebeneffekt bei der Begutachtung von Beispielen bestehe in der „[…] Übung im Beurteilen vorgelegter Fälle nach dem einmal erkannten Gesetz.“30 In dieser Einübung sowohl der bestimmenden als auch der reflektierenden Urteilskraft liege der eigentliche Sinn der Orientierung an Beispielen, wobei hier in erster Linie Fragen der Kategorisierung oder Ty-
25 Ebd. Dieses Ausweichmanöver findet sich in Hinblick auf die Interpretation von Inkonsequenzen und Inkohärenzen in Kants Texten recht häufig. Dort, wo der vermeintlich ahistorische, da streng theoretisch argumentierende Text abweicht, bedarf es einer historischen oder kontextuellen Erläuterung. Insoweit sie erklärt, inwiefern sich die Abweichung generiert, ist dies ganz folgerichtig. Allerdings wird die Abweichung nicht als Konsequenz im Text wahrgenommen, sondern als etwas, was aus dem Text herausführt und ihn so argumentativ läutert und wiederherstellen kann. 26 A. O., S. 172. 27 Vgl. a. O., S. 155. 28 A. O., S. 154. 29 Ebd. 30 A. O., S. 157.
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pisierung zum Tragen kommen, es nicht um inhaltliche Beurteilungen von Handlungen geht. 6.4.2 Das Beispiel in der Theorie Für die generelle Funktionsbestimmung des Beispiels nimmt das Verhältnis von Gesetz (Regel) und Fall Orientierungsfunktion ein. Wie kann aber das Besondere, „[…] ein Beispiel […] als unter dem Allgemeinen nach Begriffen […] enthalten vorgestellt“ werden? Was stellt das Beispiel dar, wenn es eine „[…] blos theoretische Darstellung eines Begriffs“ bietet?31 Transzendentalphilosophisch steht das Besondere zum Allgemeinen in einem zirkulären (hermeneutischen) Verhältnis, insofern das Allgemeine (das a priori-Gültige) als notwendige Konstitutionsbedingung des besonderen Vorkommens aufgefasst wird. „Nur unter Zugrundelegung eines bestimmten Naturgesetzes z. B., das festlegt, inwiefern etwas ‚der Fall‘ ist, fungiert es als Beispiel.“32 Phänomenal weist das konkrete Beispiel einen Merkmalsüberschuss auf. Es bedeutet immer mehr als das, wofür es als Beispiel einsteht, unterwirft sich also einer Komplexitätsreduktion. Genauer bezeichne das Beispiel den Akt der Beurteilung des Falls als einer Regel zugehörig: Es beziehe sich auf den Urteilsakt, und nicht auf die Erwägung der einzelnen Merkmale des singulären Beispiels. „Das Beispiel verweist hier also auf ein Allgemeines, das nicht mehr angegeben werden kann. Es ist nicht Darstellung eines Begriffs, sondern es vergegenwärtigt ein Verfahren der Einbildungskraft, den Begriff auf das Konkrete zu beziehen (das Schema).“
33
Somit verweist das Beispiel auf ein bestimmtes Urteilsverfahren – auf dasjenige, was strukturell geschieht, wenn Begriff und Beispiel aufeinander bezogen werden.34 31 Siehe Kants Zitat aus: Die Metaphysik der Sitten, a. O., § 52 (S. 479f.), s. a. Buck, Kants Lehre vom Exempel, a. O., S. 151; S. 154: Buck ergänzt zu „eines Begriffs“: „oder Satzes“. 32 Man sieht hier: Auch das Naturgesetz steht wiederum nur als Beispiel ein. So klar begrenzbar wie die Transzendentalphilosophie ist der Bereich der Naturgesetze nämlich nicht. Vgl. a. O., S. 159. Genau dieses Verfahren trifft auf die ethnologischen Beispiele innerhalb des Teleologie-Aufsatzes zu. Dennoch versucht Kant, dem zirkulären Verhältnis einerseits auszuweichen, indem er die generelle Beweiskraft der Beispiele in diesem Bereich zurückweist, andererseits stellt sich sein Beispiel als wesentlich konstitutiv für seine teleologische These dar. 33 A. O., S. 161. 34 Beispiele allein können (im Sinne Kants) keine allgemeinen metaphysischen Sätze begründen, da die apriorische Geltung der Prinzipien sich eben per definitionem aus reiner Vernunft speist. Im Gegensatz zur Deduktion aus Vernunftbegriffen begründen Beispiele
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Dennoch komme den Beispielen eine basale Funktion innerhalb der theoretischen Philosophie zu: „Beispiele sind in der theoretischen Philosophie nicht nur mögliche, sondern notwendige Korrelate zu allgemeinen Begriffen und Sätzen und entscheiden darüber, ob sie ‚leer, d.i. ohne alles Objekt‘ sind oder ob ihnen ‚objektive Realität‘ zukommt.“
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Ohne Beispiele (Anschauungen) blieben reine Verstandesbegriffe unverständlich. Insofern sind sie „notwendige Korrelate“. Verstandesbegriffe benötigen etwas ihnen Äußerliches, Heterogenes. Aufgrund dieser konstitutiven Heterogenität könne ihre Funktionsweise im theoretischen Zusammenhang nicht auf ein Regel-FallSchema zurückgeführt werden (so Buck). Als Hilfe zur Vergegenwärtigung einer solchen Beispielfunktion gibt Buck mit Kant die Tätigkeit des Anatomen an, der das, was er diskursiv vorgetragen habe, anschließend am Objekt vorzeigen – im Wortsinne zergliedern36 – könne. Buck zufolge gebe jedoch auch der Anatom kein Beispiel, sondern zeige „[…] die Gattung an einem Exemplar vor.“ Mit dem Begriff der „Demonstration“37 wird eine direkte Darstellungsform benannt: das Zeigen. Was der Anatom jedoch zeigen könnte – die zuvor diskursiv erschlossene Funktionsweise eines Organs etwa – wird gerade durch die zergliedernde Demonstration sukzessive zerstört. Äußere Merkmale lösen sich zusehends auf und das Objekt wird für eine weitere „Demonstration“ untauglich. Obgleich diese „Demonstration“ wiederum nur ein indirektes Modell für die Funktion des Beispiels innerhalb der theoretischen Philosophie bietet, fällt auf, dass dieses Beispiel eines Beispiels sich auf das naturwissenschaftliche Feld bezieht. Diesem Zeigen geht es meines Erachnichts mit Notwendigkeit (die Definitionen aus der „Kritik der reinen Vernunft“ geben hier sozusagen unhintergehbar die Richtung vor und zwingen damit dazu, kantische Begrifflichkeit zu benutzen). Jene Notwendigkeit hingegen hänge von der apriorischen Zwangsläufigkeit ab, die (logische) Sätze oder Aussagen generieren. Anders gesagt, liegt diese in ihrer logischen Form bzw. ihrer konstitutiven transzendentalen Unhintergehbarkeit beschlossen. 35 Buck, Kants Lehre vom Exempel, a. O., S. 164. Erläutert wird dieser Zusammenhang in Bucks Aufsatz über die Kategorien, welche nichts anderes als ihre logische einheitsstiftende Funktion bedeuten. Zu ihrer schlichten Semantik gehöre, dass sie die Vorstellungen im Innersten zusammenhalten. Auf die Beispiele übertragen bedeutet dies: Sie suggerieren, dass einzelne Fälle mit den theoretischen Regeln, Begriffen, Sätzen zusammenstimmen können und sogar müssen, wenn die Regeln Gültigkeit für sich beanspruchen wollen. Epistemische Probleme könnten demnach immer nur dann auftreten, wenn man den Fall auf die falsche Regel bezieht. 36 Kant, Kritik der Urtheilskraft, in: KAA V, S. 165-485, S. 343 [241]. 37 Zitate: Buck, Kants Lehre vom Exempel, a. O., S. 163.
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tens weder um die einzelnen Teile des organischen Ganzen (die anatomischen Details) noch um die Repräsentation der Gattung, sondern um die Funktionszusammenhänge, welche die Details im Zusammenspiel aufweisen. In Erinnerung an Kants Einsatz der Reisebeschreibung lässt sich vermuten, dass die anatomische Fragestellung weitaus größere Bedeutung entfaltet, als man zunächst meinen könnte. Denn der Streit mit Forster entzündet sich sowohl an den ethnographischen ‚Daten‘ der Reisebeschreiber als auch an den physiologischen der Anatomen: Es geht sowohl um die äußeren als auch inneren Merkmale der verschiedenen Rassen und um deren epistemische Zuverlässigkeit sowie Überzeugungskraft. Jene Differenzen mit Forster zentrieren sich aber auch um die Frage des Umgangs mit dem empirischen ‚Material‘ oder den ethnographischen Daten. Obgleich die Analyse zeigt, wie sich im Teleologie-Aufsatz ein Netz von impliziten Vorurteilen und argumentativen Tricks entspinnt, folgt Kants Ordnung dieser Daten dennoch einer strukturgebenden Regel: dem Simplizitätsprinzip. Was für die Gattung Mensch ein starres, im Gegengewicht zu Kants Geschichtsphilosophie kaum fortschrittsaffines Korsett bildet – die Monogenesiethese –, legt sich auf die Poetologie Kants um: Auch hier sind Gattungen Restriktionsregeln und Verschmelzungstabus unterworfen – und die Toleranzgrenzen betreffen auch hier etwas prekär eine Geschmacksfrage.38 Dennoch scheint über den zwiespältigen Gattungsbegriff hinaus tatsächlich ein interessanter epistemischer Fund zu heben: mit dem Verfahren des Anatomen in der Demonstration öffnet Kant den Blick auf eine strukturale Perspektive hin, die mir für das angemessene Verständnis des Beispiels tragend erscheint. Auf der theoretischen Ebene wird ein ähnliches Moment geltend gemacht wie für das moralischpraktische Beispiel: Zunächst bloße Funktionshülle – „bloß ‚theoretische Darstel38 Kant verkehrt das Fortschrittsargument eigentümlich: Fortschritt scheint eher dann möglich, solange sich Rassen und Gattungen nicht vermischen. Wenngleich Kant Vermischungen aus biologischer und ästhetischer Perspektive konstatiert, sieht er in ihnen eher ein Degenerationsrisiko als ein positives Potential. Auf Ebene der Kunstwerke zeige eine Vorliebe für stark vermischte Formen einen eher simplen und ungebildeten Geschmack an. Vergleiche die Beschreibungen der vermischten Nationalcharaktere und ihres Kunstgeschmacks, für die Kant das Ideal eines Mittelwegs – „eine glückliche Mischung“, die übrigens den Deutschen zukomme – beansprucht. Siehe dazu meine Analysen im Kapitel zu Kants „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ (den vierten Abschnitt. „Von den Nationalcharakteren, in so fern sie auf dem unterschiedlichen Gefühl des Erhabenen und Schönen beruhen.“). Kant, Beobachtungen, a. O., Vierter Abschnitt., S. 243-256, S. 248. Nicht mehr ganz so holistisch konzeptionalisiert, aber immer noch an der Zensierung von Mischungen orientiert, präsentieren sich § 52 und § 53 der „Kritik der Urtheilskraft“. Kant, Kritik der Urtheilskraft, a. O., S. 325-330 [214-222; Pag. nach 3. Originalausg.].
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lung‘ eines Begriffs (oder Satzes)“ – banalisiert und nobilitiert es sich im Exempel zur strukturalen Analyse eines durchkomponierten Vollzuges. Dabei gerät weniger die Komposition der Handlung als solcher in den Blick, sondern die Frage, ob ein bestimmtes (implizites) Gesetz auf sie zutrifft. Die ‚Gattung‘ der Handlung würde damit unter der Maßgabe moralisch relevant oder irrelevant bestimmt. Das dem naturwissenschaftlichen Bereich Äußere wäre ein empirisches Beispiel, das seiner Regel nur dann gerecht werden kann, wenn auf beiden Ebenen nach einander strukturell entsprechenden Prinzipien argumentiert wird. Die Wahrheit, nach der hier gefragt wird, kann immer nur nach dem Kohärenzprinzip einer strukturell korrespondierenden Argumentation bestimmt werden, während die angenommene Geltung der Regel darauf angewiesen bleibt, dass das ihr entsprechende Phänomen außerhalb ihrer selbst gedacht wird. Andernfalls könnte das Einzelphänomen nicht als Beleg oder als empirischer Widerspruch interpretiert werden. Gehörte es dem Bereich der Regel an (als Pars pro Toto), würde es nur solipsistisch die Geltung der Regel bestätigen. In der Konsequenz wären Regel und Fall lediglich als Modi gegenseitiger Inklusionen zu denken. In einer als tatsächlich angenommenen Korrespondenz nach dem Regel-Fall-Schema würden Phänomen und Regel schließlich kollabieren.39 6.4.3 Literarisierung moralischer Beispiele – Ästhetische Exempel? In der Moralphilosophie hingegen dürfe kein heterogenes Moment zwischen Beispiel und Regel treten. Nur in diesem Bereich träfe das Regel-Fall-Schema eindeutig zu. In der Reflexion über das moralische Beispiel lasse sich das Empirische dennoch vom Rationalen scheiden. Zufällige Umstände und Begebenheiten sind von dem Teil abstrahierbar, in dem ein moralisches Gesetz zur Anwendung kommt. Dabei kennt die Vernunft die Regel schon, bevor sie den Fall gesehen hat.40 Das ganz grundlegende Problem des empirischen Beispiels lautet also: „[…] dem Exempel 39 Ein Zusammenhang von Regel und Beispiel ergibt sich im theoretischen Bereich gerade über das heterogene Moment ihres gegenseitigen Ausschlusses. Würde man jene die Phänomene bündelnde, auf den Verstand anpassende Funktion der Regeln nicht annehmen, so wären Beispiele lediglich als Einzelphänomene wahrnehmbar, welche sich selbst die Regel geben. Somit kommt der Begriff der Gattung in der Natur selbstverständlich nicht vor – was Kant zugesteht. Aber er müsste mit der Realität übereinstimmen, wenn man das Simplizitätsprinzip als Naturgesetz zugrunde legt. Zu fragen wäre, wie es sich dann mit den anderen Begriffen der Art, Varietät und Rasse verhält. Kant würde behaupten, dass wir Varietäten sehen und daraus das Prinzip der Rasse (als Naturgesetz) ableiten können. Dieses Verfahren lässt sich aber nur dann anwenden, wenn die Monogenese den Status einer unumgänglichen Voraussetzung annimmt, die gewisse Konstanzvorstellungen rechtfertigt. Zitat nach Buck, Kants Lehre vom Exempel, a. O., S. 154. 40 A. O., S. 166, S. 171.
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als faktischem Verhalten, […], fehlt die Transparenz.“ Somit kann es auch seine moralisch-didaktische Aufgabe nur unzureichend erfüllen.41 Bei allem prinzipiellen Einwand gegen das Exempel drückt sich jedoch eine positive Bestimmung seiner Leistung aus, welche sich darin erfüllt, zu etwas aufzumuntern, dessen „Gebotenheit“ man selbst bereits eingesehen habe. Was genau wäre nun aber am Exempel zu sehen? Wovon gibt es in didaktischer Hinsicht ein Vorbild ab? Nach Buck solle das Exempel „[…] die subjektive Autonomie der Vernunft als Reinheit der Gesinnung darstell[en].“42 Damit müsste am Exempel zweierlei offenbar werden: Zum einen sollte es zeigen, dass die Handlung dem moralischen Gesetz entspricht. Zum anderen sollte es bestätigen, dass der Wille des handelnden Subjektes (bei dieser Handlung) frei ist.43 Für ein solchermaßen als Vorbild zu begreifendes Exempel komme es insbesondere auf die richtige „Darstellungsfunktion“44 an. In den Einzelwissenschaften generiere Wissenschaftlichkeit sich Josef Simon zufolge nicht über ihre Gegenstände, sondern über ihre „Darstellungsart“. „Man kann also sagen, nach Kant seien empirische Wissenschaften nur gemäß ihrer Darstellungsart, nicht aber bezüglich der Erkenntnis der ihnen eigentümlichen Gegenstände ‚eigentliche‘ Wissenschaft.“45 In der Diskussion der verschiedenen Kunstformen in Kants Aufsätzen spielt die Darstellungsfunktion ebenfalls eine herausragende Rolle. Oberste Regel aller Kunstgattungen ist es, keine Überschüsse und Übertreibungen zu produzieren. Angemessenheit bedeutet – wie am Portrait abzulesen war – Proportionalität der Darstellung.46 41 Zitate s. a. O., S. 170. „Was die Nachahmung als ein Modus heteronomen Verhaltens bewirkt, das ist höchstens die assoziative Stiftung von Gewohnheiten ohne alle Maximen, ein ‚Mechanismus der Sinnesart statt eines Princips der Denkungsart‘.“ 42 Beides vgl. a. O., S. 171. 43 Beides zeigt sich im Exempel verschränkt und zugleich, insofern die erfüllte Möglichkeit einer freien Handlung in der moralischen Handlung ‚bereit‘ liegt. In diesem Modell kann eine wirklich freie Handlung ausschließlich gesetzeskonform sein: eine Paradoxie, die sich über den Gedanken einer freien Wahl des gesetzmäßigen Zustandes auflöst. 44 Ebd. 45 Josef Simon, „Begriff und Beispiel. Zur Aporie einer Philosophie und Systematik der Wissenschaften dargestellt am Wissenschaftsbegriff Kants“, in: Kant-Studien, 62 (1), Bonn, 1971, S. 269-297, S. 291f. Rein wissenschaftlich sei damit laut Simon einzig die Mathematik, die zur Verwissenschaftlichung der besonderen Wissenschaften beitrage, insofern sie ihnen als Methode inseriert wird. 46 Vgl. Kant, Über den Gebrauch, a. O., S. 166. „Was schon Lord Shaftsbury anmerkte, nämlich, daß in jedem Menschengesichte eine gewisse Originalität (gleichsam ein wirkliches Dessein) angetroffen werde, welche das Individuum als zu besonderen Zwecken, die es nicht mit anderen gemein hat, bestimmt auszeichnet, obzwar diese Zeichen zu entzif-
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Im Folgenden möchte ich plausibilisieren, inwiefern sich die von Kant bevorzugte Fiktionalität moralischer Exempel erklären lässt, und wie sich daher sein ambivalentes Urteil über das Theater begründet. Meiner Ansicht nach lässt sich dieser Versuch einerseits über die Dramatik kantischer Moralbeispiele rechtfertigen, andererseits scheint mir Kants inflationärer Einsatz von (zitierenden) Beispielen selbst auf die pädagogische Privilegierung des Literarischen hinzuweisen. Auf eine didaktisch zu fassende Funktion des Theaters angewendet, begünstigt die strukturelle Lesart mithin das Urteils-Beispiel. Für den Zuschauer oder Leser könnte eine grundlegende Kategorisierungsfrage darin bestehen, zu entscheiden, ob es sich beim vorliegenden Stück um eine Komödie oder ein Drama handelt. (Und es liegt nahe, dass eigentlich nur als moralisch relevant zu wertende Fälle dramatischen oder gar tragischen Charakter entfalten). Dann wäre für die tragischen Stücke anschließend zu klären, zu welchem moralischen Gesetz der Fall gehört, der in ihnen verhandelt wird (vorstellbar wäre etwa ein Konflikt zwischen familiärem humanem und staatlichem Gesetz in der antiken Tragödie). Den Grundkonflikt freizulegen, stellt eine Abstraktionsleistung dar, welche einen Akt der bestimmenden Urteilskraft beschreibt, da das Allgemeine als immer schon bekannt vorausgesetzt wird. Erst nach dieser strukturellen Lesart dient das Urteils-Beispiel als Exempel (beides kann durchaus in eins fallen). Es muntert auf, indem Charaktere und Handlungen nun wirklich als dem Sittengesetz entsprechend bewundert werden können. Überzeugungskraft geht damit nicht vom moralischen, empfindsamen Charakter aus, der etwa über äußerliche Merkmale oder über die Stellung innerhalb der Figurenkonstellation empfohlen fern über unser Vermögen geht, das kann ein jeder Portraitmaler, der über seine Kunst denkt, bestätigen. Man sieht einem nach dem Leben gemalten und wohlausgedrückten Bilde die Wahrheit an, d. i. daß es nicht aus der Einbildung genommen ist. Worin besteht aber diese Wahrheit? Ohne Zweifel in einer bestimmten Proportion eines der vielen Theile des Gesichts zu allen anderen, um einen individuellen Charakter, der einen dunkel vorgestellten Zweck enthält, auszudrücken. Kein Theil des Gesichts, wenn er uns auch unproportionirt scheint, kann in der Schilderei mit Beibehaltung der übrigen abgeändert werden, ohne dem Kennerauge, ob er gleich das Original nicht gesehen hat, in Vergleichung mit dem von der Natur copirten Porträt, sofort merklich zu machen, welches von beiden die lautere Natur und welches Erdichtung enthalte.“ Diese Passage liegt im Zentrum der Teleologie-Schrift und wirkt im Kontext des Gesamttextes auf den ersten Blick etwas unmotiviert, scheint mir hingegen zentral. Vgl. auch mein Kapitel zum „Portrait“. Zwar stellt Kant den Bezug zum „Original“ über die Wahrheitsfrage her. Dennoch kommt es im geschilderten Vorgang ästhetischer Erkenntnis gar nicht darauf an, das „Original“ gesehen zu haben. Unabhängig von der tieferen (unerkennbaren) Bedeutung der „Schilderei“ ist es möglich, ihre Angemessenheit, und das bedeutet eben ihre Proportionalität, festzustellen.
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wird. In dieser Gewalt von Konstellation und Ansprechbarkeit (affektiver Bindung) liegt nun die ambivalente Schnittstelle von Theater und Literatur allgemein: Die unmittelbare empfindsame Rezeption (respektive Lektüre) überzeugt reflexionslos, was sich didaktisch positiv auswirken kann, aber nicht muss. Die Zielsetzung der Didaxe erfüllt sich (für Kant) in der Anwendung (Applikation) des Sittengesetzes auf den eigenen Willen, um es handelnd selbst zu realisieren. Allein seine Erkenntnis hält einen Abstand ein. So wird Bewunderung – als Anerkennung des moralischen Gehalts – nicht zwangsläufig vom Wunsch nach Realisierung begleitet. Hier liegen die Überschneidungen mit der Kritik an einer Ästhetik der admiratio. Weder Bewunderung noch Mitleid wären daher als erwünschte Resultate der Rezeption anzusehen, obgleich übersteigerte Dramatik oder gar Tragik in Kants Moralbeispielen zum Kompositionsprinzip avanciert.47 An dieser Denkfigur lässt sich bereits ablesen, weshalb Kant (poetisch) größtmögliche – übersteigerte – Tragik bei strengster reflexiver Distanz einfordern muss (und kann). Unter zeitgenössischer Perspektive fast schon eine widersprüchliche, gar paradoxe, Forderung, bezeugt dieses Modell die Originalität kantischer Literaturtheorie.48 „Bei näherer Erwägung findet man, daß, so liebenswürdig auch die mitleidige Eigenschaft sein mag, sie doch die Würde der Tugend nicht an sich habe. Ein leidendes Kind, ein unglückliches und artiges Frauenzimmer wird unser Herz mit dieser Wehmuth anfüllen, indem wir zu gleicher Zeit die Nachricht von einer großen Schlacht mit Kaltsinn vernehmen, in welcher, wie leicht zu erachten, ein ansehnlicher Theil des menschlichen Geschlechts unter grausamen Übeln unverschuldet erliegen muß. Mancher Prinz, der sein Gesicht von Wehmuth für eine einzige unglückliche Person wegwandte, gab gleichwohl aus einem ofters eitlen Bewegungsgrunde zu gleicher Zeit den Befehl zum Kriege. Es ist hier gar keine Proportion [sic!] in der Wirkung, wie kann man denn sagen, daß die allgemeine Menschenliebe die Ursache sei?“
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47 „Der wahrhaft dramatische Charakter dieser Lebendigkeit liegt jedoch darin, daß das Exempel vorführt, wie in der Vielfalt der wirklichen Situationen des Menschen immer das Eine, das nottut, bestimmend sein soll und kann; darin, daß die Bewegungsgründe sich darstellen im Antagonismus des einen, reinen Bewegungsgrundes mit den vielen, deren Anspruch, Bewegungsgrund zu sein, sich nicht rechtfertigen läßt.“ Vgl. Buck, Kants Lehre vom Exempel, a. O., S. 174. Vergleiche ferner das häufig beigebrachte Fall-Beispiel vom „Depositum“, das die Klarheit der Pflicht „[…] selbst einem Kinde von etwa acht oder neun Jahren […]“ zumutet. Kant, Über den Gemeinspruch, Abschnitt I., in: KAA VIII, S. 273-313, S. 278-289, S. 286f. 48 Diese ambivalente Haltung gegenüber dem theatralen Genre mündet in eine nahezu brechtsche Theaterkritik. 49 Kant, Beobachtungen, a. O., S. 216 (FN). Trotz des zeitlichen Abstandes weist die Einschätzung des kathartischen Moments im Trauerspiel in der „Kritik der Urtheilskraft“ in
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Zur Nachfolge anzureizen, rehabilitiert das Exempel in seiner – zuvor ambivalenten – Funktion.50 An dieser Stelle schlägt auch die Forderung nach rein struktureller Beurteilung des Beispiels um. Hat man erst den gesetzmäßigen Charakter (des Urteils-Beispiels) eingesehen, so darf das Exempel lebendig sein. Lebhaftigkeit stellt kein Risiko mehr dar, sondern tritt als eine poetische didaktische Forderung auf. Im Umkreis dieser überraschenden Wendung kommen auch die kleinen Formen Fabel und Parabel ins Spiel. Anfängliches Misstrauen gegenüber Konkretion und Vielschichtigkeit der Fiktion wird positiv gewendet, und lässt Vermutungen darüber zu, weshalb das (moralische) Beispiel besser dem Feld des Literarischen zu entnehmen ist. Um als Urteils-Beispiel dienen zu können, wird das Exempel zunächst zur Fiktion entrealisiert, da es auf die empirische Wirklichkeit eben nicht ankommen darf. Nach Erkenntnis der allgemeinen Gesetzmäßigkeit gilt es im Umkehrschluss, die Fiktion wieder zu vitalisieren, also die Individualität der Umstände aufzurufen. Das aristotelische Diktum einer gesteigerten Wahrheit der Fiktion taucht programmatisch reformuliert wieder auf und findet auch in Kants eigener exemplarischer Praxis Anwendung.51 eine ganz ähnliche Richtung: „Die angenehme Mattigkeit, welche auf eine solche Rüttelung durch das Spiel der Affecten folgt, ist ein Genuß des Wohlbefindens aus dem hergestellten Gleichgewichte der mancherlei Lebenskräfte in uns: […] [deren Wirkung Kant einer Massage vergleicht; K. K.]. Da glaubt sich nun mancher durch eine Predigt erbaut, in dem doch nichts aufgebauet (kein System guter Maximen) ist; oder durch ein Trauerspiel gebessert, der bloß über glücklich vertriebne Langeweile froh ist.“ Kant, Kritik der Urtheilskraft, a. O., S. 273f. [124]. 50 Beweggrund ist aber nicht das Begehren nach eigener Bewunderung, sondern ein stärker ästhetisch motivierter Anreiz, der sich aus der Integrität, Harmonie und Ganzheit des vorbildhaften moralischen Charakters begründet. 51 Die Außergewöhnlichkeit und Außerordentlichkeit kantischer Moralbeispiele, mithin ihr extremer Anspruch, dient auf erster Stufe sicherlich dazu, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Das Abnorme entfaltet Appellcharakter, die liberale Denkungsart zu nutzen, um sich in den anderen hineinzuversetzen – jedoch nicht als Leidender (im Modus enthusiastischer Einfühlung), sondern als Handelnder (‚rationale‘ Einfühlung). Im Nachvollzug entstehe beim Zuschauer ein Bewusstsein über seine Freiheit, ebenso wie die Figur oder von ihr abweichend handeln zu können – und damit ganz grundsätzlich die Wahl zu haben, seine Handlung nach dem Sittengesetz auszurichten. Entscheidungsfördernd wirkt sich dabei sicherlich der Umstand aus, gerade in diesem konkreten Fall nicht handeln zu müssen. Dabei stellt sich der leitende Antagonismus für Kant jedoch immer als der von Pflicht und Neigung dar. Diesbezüglich zeigen sich die Grenzen des moralischen Schematismus recht gut. Um ein (klassisches) Beispiel zu erwähnen, das sich diesem Schema nicht einpasst: Eine gängige Interpretation von Sophokles’ „Antigone“ besteht darin, ihr Dilemma als Konflikt zweier Pflichten – familiäres (humanes) Gesetz der Bestattung versus staatli-
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Insofern es angemessen (also moralisch) rezipiert wird, greift das Exempel immer schon auf ein vorgängiges Wissen zurück. Im Zuschauer werden die sittlichen Begriffe jedes Mal bei Anblick der Erscheinung aktualisiert, sie werden durch das Beispiel wachgerufen. Dabei bleibt diese Vorstellung merkwürdig formal. Bezieht man jenes vorgängige Wissen jedoch auf die Fähigkeit zur strukturalen Analyse, scheint sich Kants positive Funktionsbestimmung von Kunst und Literatur ihrer fiktionalen Zuspitzung und exzessiven didaktischen Funktionalisierung anzunähern.52 Für den Darstellungsaspekt des Exempels ist bedeutsam: Erst das Exempel stellt den Willen als gut dar. Durch die fiktive Darstellung leistet es etwas, das im Blick auf das wirkliche Beispiel gar nicht möglich ist (hier lässt sich allein die „Legalität“ feststellen, nicht die tatsächliche Moralität). Es kennzeichnet die Handlung mit dem Index gut, verleiht ihr ein legitimierendes Als-ob. Jene Kennzeichnung wird auch durch literarische Detaillierung erzielt: durch die Innensicht auf Beweggründe, welche innerhalb der Fiktion den Eindruck entstehen lässt, als ob Betrug hier nicht möglich wäre. Es handelt sich um eine Fiktion, die keinen betrügerischen Erzähler kennt. Dem wirklichen Beispiel fehlt diese Innensicht. Im Gegensatz zur Fiktion kann es diese Transparenz nicht herstellen.53 Rein funktional betrachtet suggerieren literarische (darstellerische) Techniken wie Introspektion (Fokalisierung), Gleichzeitigkeit (gleichzeitige Bühnenpräsenz) eine authentische Darstellung der moralischen Gesinnung im Modus des fiktionalen Als-ob. In diesem Sinne spricht Buck auch vom gedachten Beispiel: weil es so gedacht wird, als ob es die moralische Gesinnung erfüllte. Allzu ausschweifender Fiktionalität baut Buck jedoch vor. „Das Exempel kann aber deshalb, weil die Beziehung auf die Erfahrung für es irrelevant
ches Gesetz (Gewaltmonopol) – aufzufassen. Das Auseinandertreten von Staat und Familie ist gerade nicht als Opposition von Pflicht und Neigung zu lesen. Tatsächlich ist fraglich, ob beides überhaupt voneinander zu trennen ist, wenngleich leicht zu erraten ist, wo die Trennungslinien für Kant verliefen. 52 Da das Gesetz (im Innern) ohne Rücksicht auf seine Begleitumstände gelten soll, sind diese Umstände austauschbar, variabel. Im moralischen Urteil werden sie ohnehin abstrahiert. Bei Kant können sie allenfalls dazu dienen, den Fall weiter zu verschärfen. Aus diesem Grund dürfen sie fiktiv sein und lassen sich als Fiktionen sogar besser konstruktiv auf die Spitze treiben. 53 Allenfalls kann ein Erzähler omnipotent über seine eigene Geschichte verfügen. Das gilt vor allem für die Autobiographie, solange ‚die Historie‘ und deren Begleitumstände sie nicht relativieren. Selbst wenn dieser (autobiographische) Erzähler über die Beweggründe seiner Handlungen, die Motivierung seiner Geschichte, Klarheit erlangen könnte, mag er hochgradig betrügerisch auftreten. In der Regel sind jene absichernden Innensichten (Introspektionen) dort aber ausgeschlossen und können ebenso gut der Irreführung dienen.
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ist, auch keine bloße Fiktion sein.“ Dennoch ist er sich der Quellenlage der Exempel bewusst.54 Zu Kants poetischen Reflexionen gehört, dass die angemessene Darstellung auch ihre Grenzen mit einbezieht. Auszuschließen wäre eine übersteigerte Idealisierung des Dargestellten. Sie erzeuge Unglaubwürdigkeit. Sofern der Mensch anthropologisch als unvollkommen und fehlbar bestimmt wird, kann ein nahezu göttliches Ideal keinen Handlungs-Anreiz mehr für ihn bieten. In ihrer Entscheidung würde die ideale Figur gar nicht schwanken können. Da Handlung sich aus treibenden Konflikten generiert, würde die Erzählung mangels Handlung stillstehen. Somit betrifft eine solche Idealfigur genau jenes strukturelle Problem, das Kant an der Gattung Roman ganz allgemein moniert. Stellt die Erzählung ein Element (eine Figur) übertrieben perfektionistisch oder kohärent dar, dann schwebt sie in Gefahr, zur „bloßen Erdichtung“ zu werden.55 Was für die Überregulierung des (vollkommenen) romanhaften Charakters gilt, findet ihr Pendant in der Kritik an der durchgän54 „Weil erst die Darstellung den reinen Fall des moralischen Exempels schafft, liegt es für die ethische Didaktik nahe, ihre Exempel dort aufzusuchen, wo solche Darstellung schon geleistet ist: in der Dichtung und im Bereich der Biographie“. Buck meint, die Darstellung müsse den Charakter einer bestandenen Prüfung annehmen. Da es für den Rezipienten (den moralischen Schüler) darauf ankommt, selbst Stellung zum Exempel zu beziehen, halte ich diese Forderung nicht für notwendig. Zitate: vgl. Buck, Kants Lehre vom Exempel, a. O., S. 176. Durch ihre Erzählung werden Exempel – eine hermeneutische Konzession Bucks – immer schon in gewisser Weise interpretiert, wodurch sie den Rezipienten einerseits intellektuell entlasten, andererseits aber argumentativ verstricken können. Zu ausgeprägte Ästhetisierung birgt für Buck die Gefahr eines zu großen Abstands (admiratio), wenngleich auch eine verstärkte Identifikation daraus resultieren könnte. 55 Kant, Idee, in: KAA VIII, S. 15-31, S. 29. „Ein philosophischer Versuch, die allgemeine Weltgeschichte nach einem Plane der Natur, der auf die vollkommene bürgerliche Vereinigung in der Menschengattung abziele, zu bearbeiten, muß als möglich […] angesehen werden. Es ist zwar ein befremdlicher und dem Anscheine nach ungereimter Anschlag, nach einer Idee, wie der Weltlauf gehen müßte, wenn er gewissen vernünftigen Zwecken angemessen sein sollte, eine Geschichte abfassen zu wollen; es scheint, in einer solchen Absicht könne nur ein Roman zu Stande kommen.“ Vgl. im Kontrast dazu: Kant, Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, in: KAA VIII, S. 107-123, S. 109: „Allein eine Geschichte ganz und gar aus Muthmaßungen entstehen zu lassen, scheint nicht viel besser, als den Entwurf zu einem Roman zu machen. Auch würde sie nicht den Namen einer muthmaßlichen Geschichte, sondern einer bloßen Erdichtung führen können.“ Das erste Zitat bezieht sich auf eine Art rationale Überregulierung der Narration, das zweite auf die Ergänzung der Erzählung durch Hypothesen nach dem Kausalprinzip. Beiden Verfahren ist ein Kippmechanismus eingebaut, der sie vom Rationalitätsprinzip zum fiktionalen Medium werden lässt. Vgl. mein Kapitel zum „Roman“.
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gig rational und motivisch aufgeschlüsselten Narration – das Romanhafte des Romans tendiert zur Vernachlässigung des Realistischen, das sich eben gerade als dereguliert erweist. In Opposition zu den als hermeneutischer Gesamtzusammenhang gedeuteten moralischen Exempeln fallen die geschichtsphilosophischen Erzählungen gerade auseinander: Der übergreifende Konnex der Menschheitsgeschichte wird aus Gründen der Fortschrittsaffirmation postuliert, aber nie zusammenhängend erzählt. Kants geschichtsphilosophische Erzählungen argumentieren teleologisch, wenngleich sie ausweisen, dass teleologische Verhältnisse nur innerhalb von Kunstwerken zu denken sind.56 Abweichend von dieser kritischen Konzession werden Geschichten erzählt, die sich – so das Begehren der ihnen inhärenten poetischen Reflexionen – an Proportionalität und Simplizitätsprinzip ausrichten. Somit entfalten jene Geschichten nicht allein metahistoriographische Reflexionen zum ‚Wirklichkeitsgehalt‘ künstlerischer Darstellungen, sondern überbieten sie in der Einsetzung neuartiger Erzählformen. Zusammenhangstiftung generiert sich in diesen Narrativen über Digressionen – dort, wo theoretisch Grenzen gesetzt werden.57 Zu betonen ist, dass es mir mit diesen Ausführungen keineswegs darum geht, weitere Analogien zu entfalten. Sondern sie dienen dazu, einerseits zu zeigen, dass der in unterschiedlichen Zusammenhängen implementierte Gattungsbegriff aus ideologischen Gründen ähnlichen strukturellen Problemstellungen unterworfen ist, und dass andererseits gerade aus dem (entleerten) Modell kantischer Moralphilosophie eine spezifische Literatur- und Gattungstheorie resultieren könnte. Letztere wiederum weist über die Gelenkstelle des Gattungsbegriffs strukturelle Überschneidungen mit naturphilosophischen Fragestellungen auf. Ob die ideologische Leerstelle den Keim kantischer Philosophie betrifft, nicht mehr zu prädisponieren als schlechterdings notwendig, lässt sich als Frage zwar leicht bejahen, scheint jedoch etwas unterkomplex zu bleiben, wenn man bedenkt, dass Kant das vertrackte Verhältnis von Empirie und Theorie wiederholt performativ umsetzt und sich sol-
56 Kant, Über den Gebrauch, a. O., S. 181. „Eine Grundkraft, durch die eine Organisation gewirkt würde, muß also als eine nach Zwecken wirkende Ursache gedacht werden und zwar so, daß diese Zwecke der Möglichkeit der Wirkung zum Grunde gelegt werden müssen. Wir kennen aber dergleichen Kräfte ihrem Bestimmungsgrunde nach durch Erfahrung nur in uns selbst, nämlich an unserem Verstande und Willen, als einer Ursache der Möglichkeit gewisser ganz nach Zwecken eingerichteter Producte, nämlich der Kunstwerke.“ 57 So holt etwa die Fußnote zur ‚Arbeitsmoral‘ der Schwarzen das Simplizitätsprinzip ein und kann somit als ‚Beleg‘ für die Monogenesiethese funktionalisiert werden. Vgl. dazu mein Kapitel „Kant und die Reisebeschreibung“.
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chermaßen nicht mit seinen theoretischen Erkenntnissen zufriedengibt.58 Zusammenfassend lenkt Buck den Blick auf die Funktion des Exempels in der Ästhetik und damit auf eine allgemein verstandene „Hermeneutik des Beispiels“.59 Dann räumt er mit dem Vorurteil auf, dass im Hintergrund des besonderen Falles, welcher das Beispiel bildet, eine „begrifflich formulierbare Regel“ stehe. In dieser Absicht bezieht er sich zunächst wieder auf die Funktionsweise des Exempels im moralischen Bereich. „Die das Beurteilungsvermögen […] übenden Beispiele sind ja keineswegs Beispiele für die Regel, sondern Beispiele für die Beurteilung vorliegender
58 Mit der Frage, ob das Exemplarische als ‚Urbild‘ zu begreifen sei, führt Buck aus dem Bereich des Moralischen heraus, fokussiert dessen Funktionen innerhalb der Ästhetik und erläutert seine Doppelrolle. In indexikalischer Funktion weise das Exempel auf eine Sache hin, sei jedoch gewissermaßen auch die Sache selbst. Zwar biete es kein Urbild dar, stelle aber ein Muster zur Verfügung, das zur Orientierungsregel werden könne. Das Exemplarische gebe „[…] weder für das Beurteilungsvermögen (den Geschmack) noch für das produktive Vermögen (das Genie) eine angebbare begriffliche Regel […].“ Insofern es auf etwas verweise, sei das Exemplarische Beispiel. Allerdings verweise es auf eine „‚unbestimmte Norm‘“. Deren Sinn bestimme und erfülle „[…] sich im einzelnen Geschmacksurteil und im einzelnen Kunstwerk […].“ In dieser Singularität könne es zum Muster für andere avancieren. Das Produkt, das dem Muster folgt, wäre selbst ein neues, empirisch gegebenes Kunstwerk, das sich wiederum exemplarisch ausprägen könne. Insofern im Beispiel – wenn es denn exemplarischen, d. h. überhaupt gesetzlichen Charakter entfaltet – nur eine „‚unbestimmte Norm‘“ zur Darstellung gelange, verlöre das RegelFall-Schema seinen Sinn. Ohne das Beispiel könne die Regel nicht als vorgängig und explizit dargestellt werden, wenngleich sie als ‚vorhanden‘ angenommen würde. Im Verweisen operiere das Exemplarische zwar dynamisch, „[…] hat Dynamis-Charakter, d. h. es wird durch jede neue Konkretion weiterbestimmt.“, entbehrt jedoch nicht vollkommen seines zyklischen Charakters. ‚Dynamisch‘ operieren auch Kants Beispiele – mit der Varianz, dass sich in und mit ihnen immer auch die allgemeine Regel verschiebt. Zitate: Buck, Kants Lehre vom Exempel, a. O., S. 181-183. 59 „Dieses Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem ist nun offensichtlich nicht auf den Bereich des Ästhetischen beschränkt.“ Mit dem „Hinweis auf die Sprache“, auf „[…] das Verhältnis der sogenannten Wortbedeutung zum offenen Umkreis ihrer besonderen Abwandlungen“ plausibilisiert Buck diese These, obgleich er eine solchermaßen generierte Dynamik eher begriffsgeschichtlich als dekonstruktiv denkt. Als nicht praktikabel erweise sich das „Regel-Fall-Schema“ auch hier. Auffällig ist allerdings, dass das Paradebeispiel der Fall- und Regelbildung keine Erwähnung findet: Das grammatische Beispiel kommt hier „als Beispiel“ für das Regel-Fall-Schema gar nicht vor. Zusammenfassung und Zitate vgl. a. O., S. 181-182.
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– strittiger – Fälle nach der Regel.“60 An dieser Stelle nimmt Buck den Begriff „Schema“ auf: „dasjenige, wofür das Beispiel hier steht, ist das Schema [der Zuordnung, K.K.] zu einem – inhaltlichen […] – Begriff.“61 Das Beurteilungs-Schema ist (für Kant) nicht formulierbar: „Es gibt keine angebbare Regel für die Beurteilung nach Regeln.“ Die Beispiele sind (schon) „Beurteilungen von Fällen“ als moralisch relevante Konflikte und betreffen nicht die Fälle selbst. Wofür die Beispiele Beispiele sind, wäre somit unsagbar. Für die verweisende Funktion des Exemplarischen im Bereich der Ästhetik könne man dieses Wofür ebenso wenig angeben.62 Wiederum als Denkfigur (oder als Muster) für das unvorstellbare Moment der nicht anzugebenden Regel im Exempelgebrauch steht die Funktionsweise des ästhetischen Musters ein, das sein eigenes Muster stellt und gegebenenfalls musterbildend wirkt, wenngleich es sich selbst eigentlich weder Muster sein kann noch darf. Eindeutig ist nur, dass es überhaupt verweist – auf sich selbst sowie ein Außen –, und dass man es in einem ästhetischen Prozess aufgreifen kann.63 Gemeinsam ist allen Funktionsweisen des Beispiels in theoretischer, praktischer und ästhetischer Philosophie ihre die Urteilskraft einübende Aufgabe (diese Gemeinsamkeit konzediert schon Kant). In der moralischen und der theoretischen Philosophie scheint die Geltung der angenommenen Regel immer schon vorgängig, wenngleich sie erst im Urteil zum Bewusstsein gerät. Für den Erkenntnismodus der nachträglichen Vorgängigkeit scheint die Ästhetik anschaulich Pate zu stehen, insofern sie in den Kunstwerken Muster vorliegen hat, welche sich selbst die Regel geben, indem sie einerseits auf Vorgängiges zurückverweisen, andererseits musterbildend wirken 60 A. O., S. 183. Das sind die die bestimmende Urteilskraft übenden Beispiele. Diese Übung verlangt den Widerspruch als dynamisches Moment. Für die Urteilskraft ist von Bedeutung, dass sie sich an ihrem Gegenstand ‚reiben‘ oder abarbeiten kann. Somit wäre ein Narrativ, das einen konfliktfreien vorbildlichen Charakter entfaltet, für die Urteilskraft nicht anschlussfähig. 61 Inhaltlich über ihn auszusagen wäre wahrscheinlich lediglich, dass er konfliktär auftritt. Eine bestimmte strukturelle Konstellation verschärft dieses inhaltliche Moment, welches negativ umso stärker hervortritt, je mehr seine Umstände expliziert werden. Solchermaßen befindet sich der Begriff im Konflikt, selbst wenn er als Begriff natürlich konfliktfrei, da uneingeschränkt gültig, ist. 62 Zusammenfassung und Zitate: a. O., S. 183. 63 Beurteilungen treten erst dann ein, wenn sie beim Rezipienten ‚angekommen‘ sind – mit der Einschränkung, dass die rezipierten Kunstwerke als Darstellungen selbst bereits Interpretamente enthalten. Im moralischen Bereich schätzt Kant dies sowohl als Chance als auch als Risiko ein. Zwar sucht er moralische Beispiele meist entweder in literarischen Texten oder stark konstruierten fiktiven Situationen auf. Dennoch strapaziert er für ihre Geltung immer noch das Argument einer angemessenen Darstellung, welche nicht allein richtig proportioniert sein, sondern auch den richtigen Absichten entspringen sollte.
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können in der komplizierten Figur eines gleichzeitigen Innen und Außen. Die konstruierte Artifizialität der Moralphilosophie mit ihren zwei Stufen der Abstraktion und Konkretion bedarf des Mediums künstlerischer Fiktion, um sich mit ihren hehren Ansprüchen überhaupt bemerkbar zu machen. Wenngleich auch die theoretische Philosophie nicht ohne die obige Figur gedacht werden kann – und ganz offensichtlich zirkulär argumentieren muss –, entkommt Kant diesem epistemischen Zirkel gerade performativ in seinen empirischen bzw. zitierenden Digressionen. Innerhalb der Digressionen, die sich der Darstellungstechnik der Beschreibung bedienen, wird das Prinzip (anempfohlenen) analogischen Denkens zugunsten eines metonymischen Kompositionsprinzips (dem Zerschreiben) aufgegeben, das die Kluft von Theorie und Empirie zu überbrücken sucht – jedoch weniger zugunsten romantisierender Totalitätsphantasmen als im Dienste einer anmutigen Darstellung. 6.5 Kleine Formen Die innerhalb der „Systematik des Beispiels“ vorgeschlagene heuristische Aufteilung in verschiedene funktional-epistemologische Idealtypen des rhetorischen, Beleg-, Ausgangs- und normativen Beispiels64 gibt hinsichtlich der Frage nach exemplarischen Gattungen überhaupt Aufschluss. Emblematik etwa könnte man als Form betrachten, die ihre rhetorische Herkunft – ihr Operieren mit topischem Fundus – in der Art eines Belegbeispiels einsetzt. Pictura, inscriptio und subscriptio entfalten in ihrer Synmedialität nicht allein verschiedene Darstellungsformen und Aussageebenen, sondern generieren gerade durch ihre „überraschende Verbindung“65 ein kompliziertes, schwer durchschaubares argumentatives Gebilde, das gerade keine Leseanweisung im Modus eines Regel-Fall-Schemas enthält. Insofern ist im Blick auf das einzelne Emblem kaum (ohne Weiteres) durchsichtig, wofür es eigentlich als Beleg einsteht, wenngleich es sich in seiner Dreigliedrigkeit hervorragend für die Darstellung eines solchen Schemas eignen würde (Festlegung der Regel, Darstellung des individuellen Falles, Erwägung des Falles in Ansehung der Regel: Conclusio). „Mehrdeutigkeit“ und „Kontextgebundenheit“66 korrespondieren als konstitutive Merkmale der Emblemkunst den funktionalen Komponenten des Beispiels, dessen Regelbindung nicht selten variabel ausfällt. In didaktischem Einsatz kann das Emblem gegebenenfalls normative Funktion entfalten (so können Belegbeispiele normativen Charakter besitzen). Nicht selten teilt die Fabel als Form jene konsti-
64 Willer, Ruchatz, Pethes, Zur Systematik des Beispiels, a. O., S. 8f. 65 Sabine Mödersheim, „Materiale und mediale Aspekte der Emblematik“, in: Allegorie. Konfigurationen von Text, Bild und Lektüre, hg. v. Eva Horn u. Manfred Weinberg, Wiesbaden, 1998, S. 201-217, S. 205. 66 Mödersheim, Materiale und mediale Aspekte der Emblematik, a. O., S. 211.
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tutive Dreigliedrigkeit, wobei die Darstellung des allgemeinen Satzes oder Mottos hier ausfallen kann. Motto und Interpretation verschränken sich häufig im vorangestellten oder abschließenden moralischen Satz. Funktional betrachtet tritt die narratio in der Fabel an die Stelle der bildlichen Darstellung der pictura, wenngleich der illustrative Grad der Darstellungen in beiden Fällen relativ ausgeprägt ist (und die Kernszenen von Fabeln werden ja nicht selten in Bildern vergegenwärtigt). Im ihnen gemeinsamen illustrativen Charakter liegt ihre Differenz gegenüber Formen wie Allegorie oder Parabel.67 Auf den ersten Blick scheint es, als erforderten die letztgenannten Gattungen im Zuge ihrer Interpretation einen höheren intellektuellen Aufwand. Mit Mödersheim würde ich jedoch dafür plädieren, auch das Emblem (sowie die Fabel) als komplexen Deutungszusammenhang zu begreifen. Dabei scheint es unzutreffend, pictura oder narratio eindeutig als semantisch zugänglichere oder aber als erläuterungsbedürftige Teile der ‚Gesamtaussage‘ zu qualifizieren. Komplexität sowie Entschlüsselungsfunktion können allen Darstellungsebenen zukommen. Dass sowohl der illustrative als auch der reflexive Teil der Darstellung erläuternde Funktion einnehmen können, scheint der (ungewollten) Offenheit des Beispiels zu entsprechen. Ob der Fall als Erläuterung oder zum Beweis der Regel dient oder die Regel den Fall zu erklären sucht, ist auch hier letztlich nicht mehr differenzierbar. Nicht zuletzt fingieren die solchermaßen innerhalb der genannten Gattungen präsentierten (zumeist didaktisierenden) Belegbeispiele ihre eigene Herkunft aus langjähriger anthropologischer respektive animalischer Erfahrung. Die Ausgangsbeispiele einer fortwährend wiederholten Situation zwischen Fuchs und Rabe kondensieren im Beleg der Verhaltensregel (eigentlich eines Verhaltenstabus), die somit innerhalb dieser Erzählung immer wieder aufgerufen werden kann. Aus dieser Modellhaftigkeit resultiert vermutlich der Reiz, derartige Geschichten umzuschreiben und zu aktualisieren (so wie Lessing es dann etwa vorgenommen hat).68 Gemeinsam wäre den Formen Fabel, Parabel sowie Emblem – und mit einigen Vorbehalten auch der Allegorie – auf den ersten Blick eine recht weit gefasste Nähe zum Regel-Fall-Schema. Wie mit Blick auf die Fabel expliziert, kann es sich dabei um zwei- bzw. dreigliedrige Denkfiguren handeln – je nachdem, ob die allgemeine Regel als Motto formuliert wird. Parabeln enthalten den Schlüssel ihrer Deutung häufig explizit, können der ausdrücklichen Inbezugsetzung – im Sinne einer Conclusio – jedoch entbehren. Die Narration muss nicht lediglich die Schilderung des Falles enthalten, sondern kann bereits eine Anwendung darstellen, die dem spezifi67 Mödersheim trennt hier allerdings genau nach den medialen Differenzen. 68 Dabei wären etwa Embleme mit stärker christlichen Motiven von derart empirisch gewonnenen Verhaltenscodices auszunehmen, deren Regel tatsächlich mit höherer transzendenter Verbindlichkeit auftritt.
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schen Fall eine bestimmte Richtung gibt. Somit kann eine Form im Extremfall bis auf die bloße Narration reduziert werden. Insbesondere Intertextualitätsphänomene können den Fall lenken bzw. ablenken, ohne dass es eines reflexiv angelegten Hinweises bedarf. Sowohl aus literaturtheoretischer als auch aus literaturgeschichtlicher Perspektive – die sich im Rahmen ihrer Ästhetik mit gattungstheoretischen Zuordnungen auseinandersetzt – sind Hierarchisierungen, Unterordnungen sowie Oberbegriffe ungleich verteilt, sodass einmal die Parabel als eine die anderen Gattungen verklammernde Form, ein anderes Mal die Allegorie als Funktionsmodus der kleinen Formen generell begriffen werden kann. „[W]ie also, meinte ich, wenn diese vermischte Gattung von Fabel und Emblem Parabel hieße? Parabel ist eine Gleichnißrede, eine Erzählung aus dem gemeinen Leben, mehr zu Einkleidung und Verhüllung einer Lehre als zu ihrer Enthüllung; sie hat also etwas Emblematisches in sich. Ueberdem geht sie den Gang der Fabel und maßt sich sehr freie Schritte in diesem Gange an, indem sie oft mehrere Lehren verbirgt und sich nicht wie die Aesopische Fabel an einer derselben begnügt. Die gemeinsten Dinge des Lebens sowie Engel und Geister einer andern Welt können in ihr erscheinen; warum also sollten nicht auch Abstractionen und Personificationen in ihr erscheinen dürfen? Kurz, Parabel ist eine Gattung Gedichte, die zwischen der Fabel, dem Emblem, der Allegorie und Personification in der Mitte liegt und, wenn sie enthüllt wird, die schwersten und leichtesten Denksprüche auf ihrem breiten Rücken tra69
gen kann; mögen also diese vermischten Dichtungen Parabeln heißen.“
In dieser eindeutige Differenzierungen bewusst zerspielenden Parabel-Definition fasst Herder das Thema der Mischformen in einer für dieses Kapitel paradigmatischen Weise und wendet ein potentielles Ineinanderfallen der Gattungen positiv – ohne dass das Gattungssystem selbst vollständig zu kollabieren droht. Im Vergleich 69 Johann Gottfried Herder, Ueber die vorstehenden Parabeln und die nachfolgenden Gespräche, in: Herder’s Werke. Funfzehnter Theil. Zerstreute Blätter. Hg. […] v. Heinrich Düntzer., Berlin, 1879, S. 245-252, S. 250. Sperrungen einheitlich kursiviert. Hermann Lindner untersucht etwa das Phänomen „[…] eines Übergangs von der historischen Gattung Fabel zu einer allgemeinen Schreibweise des Parabolischen […]“ in der französischen Literatur der Aufklärung. Hermann Lindner, „Von der Gattung der Fabel zur Schreibweise der Parabel? Zur Lage der parabolischen Literatur in der französischen Kultur der Aufklärung“, in: Fabel und Parabel. Kulturgeschichtliche Prozesse im 18. Jahrhundert, hg. v. Theo Elm u. Peter Hasubek, München, 1994, S. 19-36, S. 29. Im Zusammenhang mit dem Bedeutungsverlust – oder besser der Zuständigkeitsverlagerung – der Fabel spricht die Einleitung zum Band von ihrer Kolonisierungsfunktion, die sie als „‚parabolische Schreibweise‘“ entfaltet; Elm, Hasubek (Hg.), Fabel und Parabel, Einleitung: Fabel und Parabel in der Kultur der Aufklärung, S. 7-15, s. S. 11.
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dazu geht Kant zwar auch von einer konstitutiven Mischung der Gattungen aus, möchte einer allzu exzessiven Mischung jedoch Grenzen gesetzt sehen.70 Mir geht es mit diesen groben Einteilungen und den funktionalen Bestimmungen der Narrative weniger darum, einen Beitrag zur komplexen Gattungstheorie der kleinen Formen zu leisten. Vielmehr besteht hier mit einigem Recht ein intrinsischer Widerstand der Formen gegenüber ihrer Kategorisierung. In gleicher Weise wie die kleinen Formen auf einen Teil ihrer Darstellung verkürzt werden können, auf die narratio oder auf das Motto, können sie durch mediale Ergänzungen, paratextuelle Hinweise oder Erzählerkommentare zu spielerischen Mischformen avancieren. Jene grundsätzliche Erweiterungsoption oder Reduzierbarkeit teilen sie mit dem Exempel als Form, die angeben kann, für welchen Sachverhalt sie einsteht, dies aber nicht notwendig muss. Ferner bleibt das Exempel als erweiterte Form verschiedenen Anschlussmöglichkeiten offen und lässt divergierende Lesarten zu. An der Bestimmung der Allegorie als erweiterter Metapher lässt sich ablesen, dass das Spiel zwischen eigentlicher und uneigentlicher Bedeutung mannigfache Äußerungen hervortreiben lässt. An der Metapher wird die Verschmelzung von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit offenbar. Ihr fehlen ausdrückliche Lektürehinweise und ihre Narrative sind in ihr eingefroren. Uneindeutig bleibt, in welche Richtung sich ihr Bezugssystem entspinnt. Als reduktive Grundfigur steht sie für ein literarisches Verfahren ein, das sich an einer Teil-Teil-Relation abarbeitet, ohne dass sich das Allgemeine, Dritte oder das Tertium Comparationis hier noch angeben ließen. In der Rhetorik tritt das Exempel dort auf, wo es um Stellenfindung geht, und stellt somit einen Teil topischen Wissens zur Verfügung. Fundorte sind exemplarische (antike) Autoren oder die biblische Tradition. Aus dieser Herkunft erwachsen nicht selten Komplikationen, die sich für die wissenschaftliche Philologie stellen. Dennoch erweist sich die Philologie als virtuos im Umgang mit solchen Verweisen: Sie werden ausgestellt, gesucht, gefunden und kommentiert. Somit geht das Exempel immer schon in die Philologie über. Seine Intertextualität ist nicht als leeres Versprechen oder problematische Konstellation aufzufassen, sondern stellt allgemein akzeptierte Grundlage und Ausgangspunkt einer näheren Untersuchung dar. Kontextualisierung hat keinen hilfswissenschaftlichen Charakter, sondern stellt lebendige Anschlussmöglichkeiten aus. Intertext, Paratext und Interpretation gehören zu den Verfahren und der Deutung des Exempels, insofern sich letztere immer noch auf einen Problemgehalt hin orientiert. Im Umgang mit dem Exempel entwickelt auch Kant Strategien des intertextuellen Anschlusses. So überrascht es kaum, dass die Exempel nicht selten selbst aus Zitatstrukturen entspringen, aber auch tatsächlich wissenschaftliche Auseinan-
70 Vgl. meine Analyse zur Kunsthierarchie in § 52 und § 53 der „Kritik der Urtheilskraft“. Kant, Kritik der Urtheilskraft, a. O., S. 325-330 [214-222; Pag. nach 3. Originalausg.].
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dersetzungen entfachen. Als Beispiel dafür mag die langjährige Auseinandersetzung Kants mit Forster über das Problem der Rasse einstehen, die ihre Aufsätze (Repliken) im Modus eines Frage-Antwort-Spiels inszeniert und viele weitere Autoren und Fürsprecher einbezieht. Der Austausch der beiden Texte ist somit nicht allein aus historischer Perspektive als Artefakt einer ernstzunehmenden historia literaria zu lesen, sondern die Texte reproduzieren diesen intellektuellen Anspruch innerhalb ihrer selbst. Als Textformen vollziehen sie eine Geste, die man dem Brief zuschreiben würde. Sie inszenieren Bezugnahmen sowie Einspruchsmöglichkeiten, ohne dass sie von Verstellungen, Spitzfindigkeiten und persönlichen Animositäten frei wären. Sie inszenieren Kommunikation als offene und nicht selten verschleiernde Intertextualität. 6.6 Exempel und Metapherntheorie Behauptet man, innerhalb der Rhetorik verblasse das Exempel zur Metapher, dann stellt dies eine mögliche Deutung des Zusammenhanges zwischen Metapherntheorie und einer Gattungstheorie des Exempels dar. Anders gefragt: Wäre es zulässig anzunehmen, das Exempel tauche auf verschiedenen Makro- bzw. Mikroebenen der Sprache auf, sowohl innerhalb kleiner literarischer Formen als auch auf der Ebene tropischen Sprechens? Aufschluss gibt hier die Metapherntheorie, welche bereits die Metapher selbst als Verkürzung rhetorischer Sprachfunktionen, aber auch von Darstellungsmöglichkeiten, ansieht. Wie Gérard Genette es in seiner Kritik an Roman Jakobson formuliert: „Fügen wir noch an, daß die Reduktion aller Analogiefiguren auf den ‚metaphorischen Pol‘ nicht nur dem Vergleich Unrecht tut, sondern auch anderen Figuren, über deren Mannigfaltigkeit man bislang keine völlige Klarheit gewonnen hat.“
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Auch Genette beschreibt den Poetologisierungsprozess als „[…] Verschiebung des rhetorischen Objekts von der Eloquenz hin zur Poesie […].“ Damit einher gehe ein zunehmendes Interesse an semantisch aufgeladenen Figuren „[…] mit ‚sinnlich erfahrbarem‘ Bedeutungsgehalt […].“72 Zu kritisieren wäre somit die Vereinfachung sprachlich gerierter intellektueller Konstrukte, die – um hier noch ganz allgemein zu bleiben – zwei Begriffe oder Vorstellungen miteinander in Relation setzen. 71 Gérard Genette, „Die restringierte Rhetorik“, in: Theorie der Metapher, hg. v. Anselm Haverkamp, Darmstadt, 1983 [Wege der Forschung 389], S. 229-252, S. 239. 72 Zitate: Genette, Restringierte Rhetorik, a. O., S. 234f. Terminologisch irritierend ist hier Genettes Rede von „Figuren“. Gemeint sind in diesem Fall Tropen (eben im Sinne von „Sinnfiguren“). Meines Erachtens beklagt Genette ja gerade die Vernachlässigung (eher figurativ operierender) Tropen bzw. von rhetorischen Figuren.
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„Diese Objektverschiebung, […], trägt also dazu bei, die beiden Beziehungen der Kontiguität (und/oder der Inklusion) und der Ähnlichkeit zu privilegieren.“73 Sprachliches Potential, über intellektuell relevante Sachverhalte zu verhandeln – und das heißt zunächst einmal, sie in eine verhandelbare Form zu setzen (nicht: zu über-setzen) – gelangt daher nicht zur vollen Ausschöpfung. Den Umgang mit den Tropen vergleicht Genette dem Bezug „‚[der] Spezies auf die Gattungen‘“, wobei die Gattungen selbst wiederum Tropen darstellen. Bei Vossius handelt es sich noch um „vier grundlegende tropische Formen“: „Metapher“, „Metonymie“, „Synekdoche“ und „Ironie“.74 Jene Reduktion verläuft weiter über die für Jakobson maßgebliche Oppositionsbildung von Metonymie und Metapher bis hin zur Alleinherrschaft der Metapher selbst. Unter dem Titel „generalisierte Metapher“ fasst Genette mit Michel Deguy die gattungsbildende Funktion der Metapher: „‚Wenn es darum geht, eine Spezies einer Gattung unterzuordnen, dann ist es die Metapher oder Figur der Figuren, welche die Rolle der Gattung spielen kann […].‘“75 Einerseits reiht sich die Metapher als Stellvertreterin aller Tropen, damit von Rhetorizität generell, ein in ein Ordnungsdenken, das Schreibweisen als Formen von Literatur überhaupt betrifft. Unter diesem Aspekt ist die Ordnung der Rhetorik tatsächlich derjenigen der Poetik, der Literaturtheorie, vergleichbar. Die einzelnen Spezies würden durch die mannigfachen Figuren (eigentlich Tropen) gebildet, die sich der Gattung ‚Metaphorizität‘ oder übertragendes Sprechen unterordnen ließen. Insofern Sprache jedoch nur im übertragenden Modus funktionieren kann – wie Weltbezug überhaupt – avanciert die Metapher zur allein gültigen Denkfigur, deren Funktionsweise als Chiffre von Sprache, Wahrnehmung und Weltbezug generell einsteht. Dennoch bliebe mit dieser Verkürzung der figuralen Sprachdimension auf die Metaphorizität lediglich eine einzige Gattung erhalten, die ihren Gegenpol nur in der Gattung des eigentlichen Sprechens finden könnte. An der Metaphorizität zeigt sich jedoch, wie restriktiv und verkürzend Gattungsbegriffe überhaupt operieren. Greift die Ordnung der Rhetorik also auf das (weniger avancierte) Denken in literarischen Gattungen zurück (aus), unterstellt sie sich mit diesem Ordnungsmuster wiederum einem Ordnungssystem, das im als naturwissenschaftlich qualifizierten Feld zu suchen wäre. Den Zusammenhang, der sich mit dem Begriff der Gattung 73 A. O., S. 235. Zwei Seiten weiter stellt Genette jedoch heraus, dass die Kontiguität nur „scheinbar“ ein räumlicher Begriff sei (S. 237); vgl. dazu auch a. O., S. 245. 74 A. O., S. 233; man vergleiche diese Kategorisierung mit den für Hayden White maßgeblichen „master tropes“, welche auf distinkte Erzählweisen von Geschichte (und Geschichtsphilosophie) bezogen werden. Hayden White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Johns Hopkins University Press, 1973, S. 33 („Introduction“). 75 Genette, Restringierte Rhetorik, a. O., S. 245.
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zwischen divergenten epistemischen Bereichen ausbildet, möchte ich hier nicht im Einzelnen explizieren. Obgleich es sich wiederum um Übertragungsverhältnisse (zwischen zwei Wissensgebieten) handelt, drängt sich die Annahme auf, dass die Richtung der Übertragung kaum eindeutig festzulegen ist, beide Felder Anleihen beim jeweils anderen tätigen.76 Bezieht man jedoch die Einteilungen zur Kunstordnung in der „Kritik der Urtheilskraft“ mit ihrer Frage nach den Mischungsverhältnissen und deren Herabsetzung in die Diskussion der Gattungskategorie ein, werden Parallelen zur Kernfrage des Teleologieaufsatzes sowohl auf Ebene des textuellen Verfahrens als auch hinsichtlich des argumentativen Konflikts sichtbar. In beiden Zusammenhängen beharrt Kant auf der Limitierung von Mischungen, sofern diese überhaupt gestattet sind. Nicht zuletzt entwerfen die paradigmatische Fußnote im Teleologie-Aufsatz sowie das Streitgespräch mit Forster generell eine Pathologie der Mischungen, insofern eine Anartung an verschiedene Klimate als Degenerationsmerkmal aufgefasst wird. Stärker noch nähern sich die „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ einem Argument Lars Friedrichs an, insofern dieser Text Kants Mischungsverhältnisse von Gemütern auf Volkscharaktere überträgt (bzw. auf diese zurückführt). Charaktere zeichnen sich auch hier durch eine mehr oder minder „glückliche Mischung“ aus.77 In der Auseinandersetzung mit Forster diskutiert Kant freilich nicht verschiedene Gattungen der Menschen, sondern die Angemessenheit und Ordnungskriterien der Unterbegriffe Rasse und Art. Dennoch widmet er sich exzessiv den Erscheinungsformen und Ursachen von – besonders farblichen – Vermischungen. Im Bestreben, Menschen nach einem naturwissenschaftlichen Paradigma zu klassifizieren, äußert sich jener Verkürzungsmechanismus gerade dort, wo es um die Diskussion der historischen Perspektive geht. Historische Dynamik ist eigentlich weder in das System der Naturbeschreibung noch in das der Naturgeschichte integrierbar, insofern das historische Faktum (die Verpflanzung) im teleologischen Narrativ lediglich als Verfallsgeschichte deutbar ist – und zwar gerade durch die Rechtfertigung einer naturwissenschaftlichen Verfahrensweise, welche empirische Beobachtungen im Hier und Jetzt nach Prinzipien ordnet. Mithilfe des Verfahrens entledigt sich Kants Argumentation des Vorwurfs der Parteinahme: Empirie kann keine Partei er-
76 Lars Friedrich stellt den Zusammenhang zwischen anthropologischem Gattungsbegriff und der Differenzierung in verschiedene literarische Gattungen aus einem „genus mixtum“ anhand von Homers Dichtung heraus. Friedrich, Der Achill-Komplex, a. O., vgl. S. 34f., S. 55f., S. 59. 77 So kritisiert Platon Achills Charakter in seiner Abweichung von einer ‚glücklichen Mischung‘. Friedrich, Achill-Komplex, a. O., S. 46f., s. a. Kant, Beobachtungen, a. O., Vierter Abschnitt., S. 243-256, S. 248, „gemischtes Gefühl“, „glückliche Mischung“.
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greifen, insofern sie sich (letztlich) nach dem Simplizitätsprinzip richtet (naturwissenschaftlich ist). Anstelle mich eingehender der Erläuterung gattungstheoretischer Tiefendimensionen (der Logik von Gattungsbegriffen) zu widmen, möchte ich das epistemische Zentrum der Metaphorologie anvisieren, das mit seinem Grundkonflikt – den Anselm Haverkamp als „paradox“ oder als Skandal beschreibt – Auskunft über den Zusammenhang von Literaturgattungen, Metaphorologie, Wissenssystemen und Exempel gibt.78 In ihrer Übertragungsleistung ist die Metapher „[…] Phantom dessen, […], was als Ursprung der Metapher gelten soll und qua Metapher als Ursprung der philosophischen Begriffsbildung unterstellt werden soll: die Mimesis der Worte an die Dinge.“79 „Die ausgestellte Paradoxie besteht demnach darin, daß die Figur dis-figuriert, was sie als Referenz überschätzt.“; nämlich die Bedeutungsfunktion der Sprache überhaupt. Damit stellt die Metapher weniger einen Mittelweg zum Begriff dar, insofern die Uneigentlichkeit ihres Ausdrucks in die eigentliche Sphäre des Begrifflichen übersetzt werden könnte, sondern steht am Ursprung (Nullpunkt) der Sprache. Sprache stiftet Referenz – dies geschieht jedoch immer nur im Medium des Uneigentlichen. „In dem Maße, in dem das nach-metaphysische Interesse an der Metapher der Paradoxie ihres Ursprungs auf die Spur gekommen ist, hat Metapherntheorie meta-metaphorologische Fragen aufgeworfen, die in Umwertung des alten philosophischen Vorurteils ein mehr als (nur mehr) triviales epistemologisches Interesse in der Rhetorik erkennen lassen und folglich eine andere als die schlichte kompensatorische Rolle von Ästhetik vorsehen.“
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Selbst wenn es sich bei der eindimensionalen Zuschreibung des translatio-Modells zur Metapher um eine Verkürzung handelt, so stellt es doch heraus, inwiefern metaphorische Strategien nicht allein dort zum Einsatz kommen, wo Begriffe schlicht fehlen und man sie uneigentlich beschreiben muss. Vielmehr stellen sie das Verhältnis von Begriffen und Referenzobjekten her, insofern ihre Beziehungen immer katachretisch funktionieren. In diesem Modell verweist das sprachliche Zeichen auf ein Abwesendes oder Unerreichbares, seine semiotische Kernthese besteht in der Arbitrarität von Zeichen. Anders formuliert generiert sich Sprache immer metaphorisch – oder, um Verkürzungen zu vermeiden, tropisch – insbesondere dort, wo begriffliche Verhältnisse eingefordert werden. Damit dringt Sprache eigentlich nie in den Bereich logischer Begrifflichkeit vor – es sei denn, dass (kantische) Definitionen sie diskursiv oder aber deskriptiv zu zerschreiben suchen. 78 Willer, Ruchatz, Pethes, Zur Systematik des Beispiels, a. O., S. 9. 79 Anselm Haverkamp (Hg.), Die paradoxe Metapher, Einleitung, Frankfurt am Main, 1998, S. 7-25, S. 17. 80 Zitate: Haverkamp, Paradoxe Metapher, a. O., S. 14, S. 16, vgl. S. 13.
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Folgt man der sprachskeptischen Zuspitzung nicht, ändert diese Zurückhaltung kaum etwas an der oben geltend gemachten Rolle der Ästhetik innerhalb von Epistemologie und philosophischem Argument. Angesichts der Rücksichtnahme auf die Ästhetik verharmlost Haverkamp die für eine „Typologie von Metapherngeschichten“81 bedeutsame Beobachtung, „[d]aß die truth-conditions von Sätzen nichts als eine ausgezeichnete Form rhetorischer force bezeichnen“, wenn er sie als „rhetorische folklore“82 enttarnt. Die Geschichten, welche die Metaphern hier erzählen, geben Auskunft über die sprachliche Verfasstheit divergierender Wissensfelder. Dabei geht es weniger darum, mithilfe der Metaphorologie die Genese philosophischer Gemengelagen aufzuhellen, sondern um die sprachlichen Strategien wissenschaftlicher Disziplinen. In seiner Bandbreite ist dieses Phänomen nur unzureichend erfasst, wenn man lediglich von Sprachen der Wissenschaftlichkeit oder von ihrer Rhetorik spricht.83 81 Hans Blumenberg, „Paradigmen zu einer Metaphorologie“, in: Theorie der Metapher, hg. v. Anselm Haverkamp, Darmstadt, 1983, S. 284-315, S. 291. Blumenberg möchte die Metaphorologie bezeichnender Weise als „Hilfsdisziplin“ der Philosophie verstanden wissen und der Begriffshistorie integrieren. 82 Haverkamp, Paradoxe Metapher, a. O., S. 13. 83 Eine solche Deutung übergeht die tiefgehende Verwurzelung in Repräsentationslogik sowie die der Sprache auf mehreren Ebenen inhärenten Übertragungsmechanismen. In gewisser Weise handelt es sich bei dieser Ausstellung der referentiellen Funktion der Sprache natürlich um eine philosophisch motivierte Verkürzung, welche ihre translatio auf das philosophische Grundsatzproblem zurückführt: die Möglichkeit des referentiellen Bezugs auf die Welt überhaupt. Dabei ist zweitrangig, ob man diese Bezugnahme sinnlich-empirisch, über Zeichensysteme oder gedanklich deutet. Offen bleiben ferner bestimmte Auffassungen von Welt, die ebenso als ‚reale‘ innere oder äußere Welt sowie als Konstruktion verstanden werden kann – welche Referenz übrigens gerade nicht ausschließt, sondern selbstreferentiell absichert. Ohne irgendeine Übertragungsleistung ist dieser Bezug nicht zu leisten. Selbst Kants ‚Einsatz‘ der Kategorien und reinen Anschauungsformen ist in ihrer Synthesis eine Form von In-Bezug-Setzung – und dies gilt selbst dann, wenn man die Sentenz von der blinden Anschauung und den leeren Gedanken ausklammert, die als Chiffre einer Problemstellung einsteht, die selbst die Transzendentalphilosophie nicht vollkommen auflösen kann. Im Einsatz von (theoretischen) Begriffen kommt ein Prinzip von Unterordnung (Subsumtion) zum Tragen, das in seiner Funktionsweise Zeichenoperationen korrespondiert, selbst wenn man keinen zwangsläufigen Zusammenhang von Sprache und Denken prädisponiert. In diesem Modell wäre Sprache auf Denken zurückführbar, Denken jedoch nicht auf Sprache. Je nach philosophischer Schule oder Zeichentheorie kann es sich dabei um zwei- bzw. dreigliedrige Systeme handeln. Begriffsverwendung entspricht der In-Bezug-Setzung von Allgemeinem und Besonderem, stellt also ein ähnliches Problem wie das Exempel. Dabei entspricht der Be-
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Die größte Schwierigkeit liegt darin, die Regel anzugeben, der zufolge das Beispiel Relationen stiftet. Paradox gestaltet sich das wechselseitige Inklusionsverhältnis von Allgemeinem und Besonderem, sodass das jeweilige Gewicht dieser beiden Pole der Bestimmung schwierig auszutarieren ist. „Diese Eigendynamik wird dort kenntlich, wo ein Beispiel als Platzhalter für einen Sachverhalt einsteht, der ohne diesen Platzhalter gar nicht vorstellbar ist.“84 Anwendung, Illustration und Konstitution sind etwa für das Belegbeispiel nicht scharf voneinander zu trennen. „In topischen Denkzusammenhängen ist das Beispiel eine systematische Kategorie, die der Anwendung und Illustration bekannter Regeln dient – an deren Konstitution sie allerdings auch entscheidend beteiligt ist.“ Selbst mit dem Bedeutungsverlust der Topik ändert sich kaum etwas an dieser ambivalenten Doppelrolle: Im Zuge der Verwissenschaftlichung versteht sich das Beispiel nunmehr „[…] als Teil einer deduktiv argumentierenden Methodik […]“ und übersieht seine durchweg rhetorische Funktion. Denn auch das rhetorische Beispiel arbeitet sich von Anfang an am „[…] Bezug von Allgemeinem und Besonderem […]“85 ab. Zu verstehen wäre die Differenz von Beleg- und Ausgangsbeispiel somit als ein Ausschlagen in Richtung einer dieser beiden Pole von Allgemeinem und Besonderem.86 Anders formuliert, favorisiert das Ausgangsbeispiel die Empirie, das Belegbeispiel hingegen die Theorie. Im letzten Falle ist das Allgemeine bekannt, im ersteren dient das empirische Material dazu, die Regel erst zu finden. Insoweit sind die Richtungen der Verfahren scheinbar eindeutig. Einmal operiert es induktiv, einmal deduktiv oder, um in der Begrifflichkeit Kants zu sprechen, einmal reflektierend, einmal subsumierend (bestimmend). Als „Teile von Materialsammlungen“ bilden Ausgangsbeispiele „die empirische Grundlage für theoretische Generalisierungsversuche […].“ Dennoch prägt dieses Verfahren eine folgenschwere Vorannahme. „Die Präsentation als exemplarisch steht hier für die Gewissheit ein, dass sich für die versammelten Fälle überhaupt eine Regel finden lassen werde: Die Logik des Regelhaften wird dabei wissenschaftsrhetorisch weiter ausgedehnt, als sie allein aufgrund der Belege reichen würde. In diesem Zusammenhang ist nach der Autorität einer solchen Pars-pro-toto-Logik ebenso zu fragen wie nach der Poetik der Auswahl und Gestaltung von wissensbildenden Beispielen.“
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griff selbst dem Allgemeinen, das in regelhafter Konformität zum Besonderen steht. Oder entspricht der Begriff nicht vielmehr der Regel? 84 Willer, Ruchatz, Pethes, Zur Systematik des Beispiels, a. O., S. 8. 85 Zitate: a. O., S. 9. 86 Vgl. ebd. 87 Zitate: ebd.
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Der Funktionsweise von Beispielen selbst sind Kippfiguren eingeschrieben, „wenn der Ausgangsfall zum Beleg, der Beleg normativ oder die Norm zum Ausgangspunkt wird“.88 Als konkrete Phänomene des Beispielgebrauchs sind diese Grenzüberschreitungen für die „Epistemologie des Exemplarischen“ fundamental. Die idealtypische Differenzierung des Beispielgebrauchs in rhetorisches, Ausgangsoder Belegbeispiel sowie normatives Exempel, die der zitierte Aufsatz vorschlägt, unterscheidet zwei verschiedene wissenschaftliche Verfahren vom illustrativen Charakter des rhetorischen sowie didaktischen Gebrauchs, wenngleich der Aufsatz selbst hervorhebt, dass jene Typik schwer zu applizieren ist.89 Was also für die Theorie des Exempels – oder eine „Epistemologie des Exemplarischen“ – insgesamt gilt, besitzt auch in Bezug auf die von Kant generierten Exempel Relevanz: Das Problem der gegenseitigen Inklusion – das Kant viel schärfer in der Applikation der Begriffe auf die Anschauungen gesehen hat – belässt nicht selten in der Schwebe, ob es sich um ein induktiv oder deduktiv verfahrendes Beispiel handelt. Das Beispiel entwickelt ein Eigenleben. 6.7 Metapher oder Metonymie? Gemeinsamen Ausgangspunkt von Metaphorologie, Sprachtheorie und Exempelgebrauch stellt die Uneigentlichkeit des Verweisens dar, wobei jene Uneigentlichkeit gerade aus der Verweisungsfunktion entspringt: Verweisen ist nie eigentlich. Paul de Man beschreibt in seinem Aufsatz „Epistemologie der Metapher“ mehr oder minder ‚aufgeklärte‘ Strategien des Umgangs mit den Tropen. Für Kant scheint es „[…] epistemologisch zuverlässige Tropen zu geben […].“90 Tropen sind im Feld der Sprache lediglich etwas, das es zu kontrollieren gilt. Kant glaubt an einen Selbstaufklärungsvorgang der Sprache, ein Übergang von symbolischer (metaphorischer) zu schematischer (rationaler) Sprache ist möglich und nimmt allzu wuchernder Rhetorik ihre Bedrohlichkeit. Obgleich dieser Opposition eine Privilegierung abzulesen ist – der sprachliche Ausdruck ein Ziel hat – präsentiert sich Kants Zurückweisung des Metaphorischen keineswegs vorbehaltlos. Somit lässt sich auch
88 A. O., S. 55. 89 Ich würde sogar die Frage stellen wollen, ob das rhetorische Beispiel eine Oberkategorie für die anderen erwähnten Formen des Beispiels bildet. Jedes der anderen Beispiele ist in seiner Funktionsweise rhetorisch. Im Aufsatz wird diese Annahme mit dem historischen Einsatzpunkt enggeführt, insofern die Rhetorik als Feld bestimmt wird, in dem man Beispiele vornehmlich verwendet, aber auch über ihren theoretischen sowie poetischen Charakter zu reflektieren beginnt. 90 Paul de Man, „Epistemologie der Metapher“, in: Theorie der Metapher, hg. v. Anselm Haverkamp, Darmstadt, 1983, S. 414-437, S. 432.
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erklären, weshalb Kant etwa die „anmuthige[ ] Darstellung“91 bei Reinhold loben kann – welche dem Gegenstand angemessen ist, insofern sie etwas darstellt, das begrifflich nicht einzuholen ist – oder weshalb die oft lancierte kantische Kritik an Herders poetischer Schreibart fehlgeht. Nach all dieser ‚Klarheit‘ im kantischen Sprachsystem notiert de Man eine Abweichung oder Ablenkung vom Thema der sprachlichen Ordnungsmöglichkeiten. Bezeichnender Weise handelt es sich bei dieser Digression um einen selbstkritischen – und damit philosophiekritischen – Einschub, der sich auf den tatsächlichen Gebrauch der Metapher innerhalb der philosophischen Sprache bezieht. Damit diskutiert Kant nicht die theoretische Option, sondern thematisiert den Anwendungsfall, indem er einige Beispiele gibt. Jener Selbstbezug bricht jedoch wieder ab, er stellt ein Problem aus, ohne wirklich dazu Stellung zu beziehen. De Mans Interpretation des § 59 der dritten Kritik betont, dass die Frage nach der Adäquation von Darstellungsweisen von einem vielleicht abhängt, das die Beantwortung dieser Frage in der Schwebe hält. Was als theoretisches, fast schon skeptisches Zugeständnis eingeräumt wird, erfährt wiederum eine Art metaphorische Verschattung: Der Mechanismus, den Kant beschreibt, nämlich ein Unterlegen, speist sich selbst aus der Metaphorik. Unter Einbeziehung bisheriger metaphorologischer Überlegungen überrascht diese Wendung kaum: beschreibt das Unterlegen doch eine Seite der translatio. Dieses Spiel wäre unendlich weiterzutreiben, insofern Sprechen nie eigentlich sein kann. Mich interessiert hingegen der Befund, der sich aus der „[…] Entscheidung, ob eine Darstellung ihrem Gegenstand angemessen sein kann oder nicht“ ergibt. Laut de Man kann „[…] die Entscheidung zwischen apriorischen und symbolischen Urteilen einzig mit Mitteln der Metapher, die selber der symbolischen Ordnung angehören, getroffen werden […].“92 Maßgebend ist also die Frage, welches Urteil dem anderen „untergelegt“ ist. Die Vorstellung des Unterlegens, welche in der Beurteilung der Urteile als primär oder sekundär bemüht wird, um über das logische Ver91 „Das Talent einer lichtvollen, sogar anmuthigen Darstellung trockener abgezogener Lehren ohne Verlust ihrer Gründlichkeit ist so selten (am wenigsten dem Alter beschieden) und gleichwohl so nützlich, ich will nicht sagen blos zur Empfehlung, sondern selbst zur Klarheit der Einsicht, der Verständlichkeit und damit verknüpften Überzeugung, – daß ich mich verbunden halte, demjenigen Manne, der meine Arbeiten, welchen ich diese Erleichterung nicht verschaffen konnte, auf solche Weise ergänzte, meinen Dank öffentlich abzustatten. […]. Ich erfahre eben jetzt, daß der Verfasser obbenannter Briefe, Herr Rath Reinhold, […].“ Kant, Über den Gebrauch, a. O., S. 183f. Vgl. mein Kapitel über „Anmutige Darstellung“. Anmut fällt als Darstellungsprinzip offensichtlich nicht unter das Verdikt rhetorischer Modifizierung; ihr didaktischer Vorteil setzt sich ohne Umwege in Erkenntnis um. 92 Zitate: De Man, Epistemologie der Metapher, a. O., S. 434.
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hältnis zu entscheiden, ist wiederum uneigentlich. So paradox und iterativ diese Figur sprachlicher Rückführung gebaut sein mag, so interessant scheint mir Kants Strategie, ihr zu entkommen. Ganz ähnlich, wie de Man sie beschreibt, findet sie ihre Realisierung in Kants Einführung der Unterscheidung von Naturgeschichte und Naturbeschreibung in einer Fußnote zum Teleologie-Aufsatz.93 „Die Überlegungen über die mögliche Gefahr unkontrollierter Metaphern, […], beleben die versteckte Ungewißheit der Strenge einer Unterscheidung, die nicht standhält, wenn die Sprache, in der sie vollzogen wird, diejenigen Elemente der Unbestimmtheit, die sie auflösen soll, wieder einführt.“
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Jene gleichermaßen um terminologisch-wissenschaftliche Ausdifferenzierung wie – im Blick auf die Schlüssigkeit des Aufsatzes insgesamt – narrative Kohärenz bemühte Differenzierung der Begriffe von Naturgeschichte und Naturbeschreibung schreibt sich in ihren Definierungsversuchen die eigene Unentscheidbarkeit ein. Durch die Definitionen soll einerseits die unliebsame Liaison bestimmter Bereiche miteinander vermieden werden, wobei die Differenzierung von Naturgeschichte und Naturbeschreibung eigentlich gerade nicht die naturwissenschaftliche von der ethisch relevanten teleologischen Sichtweise abkoppeln kann – worauf Kant direkt auch gar nicht abzielt. Andererseits wird durch die Verunklärung, durch die Wiedereinführung der Indifferenz der Begriffe, gerade die Möglichkeit gestiftet, naturwissenschaftliche empirische Beobachtungen in das teleologische Narrativ zu integrieren – und zwar unter Zuhilfenahme der Einschränkung, dass der Einsatz der Teleologie innerhalb der Naturgeschichte heikel sei. Weder verfährt die Teleologie in der Ordnung ihrer Teilbeobachtungen induktiv noch deduktiv. In Kants Naturgeschichte bleiben teleologische Prinzipien nicht vollkommen außen vor, und sein Umgang mit der Empirie ließe sich am ehesten als abduktives Verfahren auffassen.95 Ich würde also davon sprechen, dass Kants Definierungsver-
93 Ich beziehe mich auf Kant, Über den Gebrauch, a. O., S. 162f. Erläuternd mein Kapitel „Kant und die Reisebeschreibung“. 94 De Man, Epistemologie der Metapher, a. O., S. 433. 95 Ein Schlussverfahren, das Kant noch nicht ‚kennt‘, das aber gerade für die Naturwissenschaft pragmatisch einschlägig ist. „Wenn aber wie in bedeutungskonstituierender Argumentation empirische Ereignisse, d. h. beobachtete Sachverhalte, mit Bedeutungen begründet werden sollen, und Bedeutungen […] keine empirischen Gegenstände, sondern Erkenntnisrelationen zwischen Subjekten und Objekten sind, dann ist die Induktionsbedingung nicht erfüllt, denn es wird von ‚Tatsachen einer Art auf Tatsachen anderer Art‘ – und damit abduktiv – geschlossen.“ Zitiert aus: Franz Wille, „Abduktive Erklärungsnetze. Überlegungen zu einer Semiotik des Theaters“, in: Die Welt als Zeichen und Hypothese.
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suche sich selber zerschreiben. Weniger zeigt das Zerschreiben einen Akt der Zerstörung an, als es in der Zergliederung oder Zerfaserung der Definitionen Komplexität steigert und Bedeutungshorizonte verschiebt. Terminologische Spezifizierung nimmt zunächst alle zuvor ausgeräumten Unklarheiten in sich auf. Insofern der Vorgang der Definition von den allgemeinen Merkmalen des Begriffs ausgeht, hat er weniger deduktiven Charakter, sondern gleicht mehr einem Verfahren der Deskription. Merkmale des Begriffs werden eher aufgesucht: Teilweise bilden ethnographische sowie geographische Quellen den Hintergrund, an dem der Geltungsbereich der Begrifflichkeit abgemessen wird. Ob die Begriffe mit diesem Verfahren nicht lediglich auf das Material appliziert würden, stellt einen berechtigten ‚begriffskonservativen‘ Einwand dar, der jedoch das Gewicht des Ausgangsmaterials verfehlt. Vertraut ist dieses Muster aus der Instrumentalisierung der Fußnoten, ohne die das Argument des Textes schlichtweg nicht möglich wäre, wenngleich der Haupttext eine andere Sprache spricht. Unzutreffend wäre es, eine reziproke Abhängigkeit oder eine schlicht ergänzende Funktion des Intuitiven anzunehmen. Das Interesse am Gegenstand äußert sich hier ganz fundamental. Innerhalb der Fußnoten und durch sie vollzieht sich ein dem re-entry der Metapher ganz analoges Verfahren. Das Exempel als ethnographisches Beispiel, aber auch andere Textstrategien wie die Definition qua Deskription zerschreiben etwa – aber nicht ausschließlich – in der Fußnote die Aussage des Haupttextes in dem Maße, wie sie den Zusammenhang der Essays überhaupt erst stiften. In dem misslingenden Versuch, sprachlich etwas einzuholen, indem man es verstellt oder verstellend umschreibt, kommt ein Moment zum Tragen, das sich innerhalb divergierender sprachlicher Äußerungen repetiert und für das die Metapher Pate steht. „Kant scheint zu glauben, […] daß ein reinlicher kritischer Haushalt die Rhetorik rehabilitieren und epistemologisch respektabel machen kann. Doch […] erweist sich die Unmöglichkeit, eine klare Trennungslinie zwischen Rhetorik, Abstraktion, Symbol und allen anderen Formen der Sprache aufrechtzuerhalten. In jedem der Fälle gründet die resultierende Unentscheidbarkeit in der Asymmetrie des binären Modells, nach dem die figürliche der eigentlichen Bedeutung einer Figur entgegengesetzt ist.“
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Unter diesem Aspekt lassen sich Metapher, Exempel und – wie oben erläutert – Gattungen des Exemplarischen zusammenführen. In Kants Überlegungen zur symbolischen Hypotypose scheint mir ein Moment eingebaut, dass jene Bewegung vom Umschreiben zum Zerschreiben bereits andeutet. Es äußert sich wiederum in Kants Unentschlossenheit der Definition des Symbols – landläufig mit einigem Recht als Perspektiven des semiotischen Pragmatismus von Charles Sanders Peirce, hg. v. Uwe Wirth, Frankfurt am Main, 2000, S. 319-333, S. 321f. 96 De Man, Epistemologie der Metapher, a. O., S. 434f.
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Metapher interpretiert – das aber wie das Zerschreiben selbst metonymisch operiert. Anzudeuten scheint sich damit ferner Kants grundlegende Skepsis in Bezug auf die Funktionsweise der Analogie. Jene von Kant selbst so benannten Analogien, welche er als heuristisch taugliche Verfahren herausstellt, bilden streng genommen keine Analogien aus, sondern sie stellen strukturale Äquivalenzen zwischen verschiedenen, mitunter weit auseinanderliegenden Wissensbereichen her. Trotz aller Zustimmung bleibt Kant in Bezug auf die Instrumentalisierung der Analogie (durch andere Autoren) immer skeptisch – so vermutet er einen allzu leichtfertigen Umgang mit der Analogie bei Linné.97 Jenes Misstrauen bildet ein weiteres Indiz dafür, Kants narrative Strategie als implizite Reinterpretation der Symbolfunktion zu lesen. Symbole als Anschauungen, „die man Begriffen a priori unterlegt“, operieren: „[…] vermittelst einer Analogie (zu welcher man sich auch empirischer Anschauungen bedient), in welcher die Urtheilskraft ein doppeltes Geschäft verrichtet, erstlich den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung, und dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz anderen Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist, anzuwenden.“
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Die Frage, die sich in Bezug auf den Metapherngebrauch stellt, liegt in dem Prinzip beschlossen, nach welchem der Begriff auf einen Gegenstand der sinnlichen Anschauung bezogen wird. Zunächst liest sich dieser Passus so, als ob es sich um ganz arbiträre Zuordnungen handelte, als ob jenes Prinzip eine zufällige Zuordnung oder einen Assoziationsmechanismus darstellte. Demnach würde der Begriff auf eine ganz beliebige sinnliche Anschauung bezogen. Bevor man diese Beziehung nicht gestiftet hat, weiß man nichts über den sinnlichen Gegenstand. Die ihn bestimmenden Merkmale müssen erst zur Entfaltung gelangen. Mit jenen Merkmalen sind keine empirischen Merkmale gemeint, obgleich – und das wird uns noch beschäftigen – sich die Analogie durchaus „auch empirischer Anschauungen bedient“. Als Merkmal des Gegenstandes wäre demnach „die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung“ aufzufassen. Weniger abstrakt klingt diese für die Urteilskraft wesentliche Operation, führt man sich das im Kapitel zur Reisebeschreibung bereits explizierte Beispiel vor Augen. Zwar handelt es sich in der Fußnote zur Arbeitsmoral der Schwarzen um ein 97 „Daß manche so unvorsichtig sind, ihre Ideen in die Beobachtung selbst hineinzutragen, (und, wie es auch wohl dem großen Naturkenner selbst widerfuhr, die Ähnlichkeit jener Charaktere gewissen Beispielen zufolge für eine Anzeige der Ähnlichkeit der Kräfte der Pflanzen zu halten), ist leider sehr wahr“. Kant, Über den Gebrauch, a. O., S. 161. Vgl. mein Kapitel „Kant und die Reisebeschreibung“. 98 Zitate s. Kant, Kritik der Urtheilskraft, a. O., § 59, S. 351f. [255-257; das „Hypotypose“Kapitel].
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von Kant zitiertes ethnographisches Dokument – es kommt jedoch lediglich unter dem allgemeinen Fokus der Wanderungsbewegungen oder der Entwicklung der menschlichen Rassen in Betracht. Offensichtlich schiebt uns dieses Dokument, das auf ganz vielschichtige Arten gelesen werden könnte, das Thema der Teleologie unter. Damit scheint es rein im Zuge dieser Regel für die Argumentation des Textes eingesetzt zu werden, was bedeutet, dass es als Dokument in seiner divergierenden empirischen (aber auch metareflexiven) Bandbreite nicht gewürdigt wird. Empirie ist demgemäß nach einer Regel lesbar – eine Annahme, die für die Rechtfertigung der Naturwissenschaften enorme Relevanz besitzt. Tatsächlich ist das Verfahren der Applikation einer so – nach welchem Prinzip? – gewonnenen Regel auf einen anderen Gegenstand besser nachvollziehbar als die Auswahl des empirischen Gegenstandes selbst. Denn wie es abschließend heißt, fungiert dieser erste arbiträr ausgesuchte Gegenstand schon als Symbol für einen zweiten Gegenstand, auf den die gewonnene Regel erst angewendet werden soll. Das unklare Verhältnis von Vorgängigkeit und Nachträglichkeit, von Regel und Regel generierendem Gegenstand, beschreibt nun die zentralen Komplikationen einer Epistemologie des Exempels. Wie also kann etwas Symbol von etwas Anderem sein, von dem man die Regel noch nicht kennt? In diesem Problem wurzelt mitunter die Ununterscheidbarkeit zwischen Ausgangs- und Belegbeispiel. Selbst Kant kommt nicht umhin, dieses komplexe Verhältnis, welches zudem als Aufriss zur Verwendung von Beispielen lesbar wäre, anhand von Beispielen aufzuklären. So greift er auf organizistische und mechanistische Herrschaftsmetaphorik zurück. Spürt man der Überzeugungskraft und den semantischen Schichten der Metaphorik nach, fördert das nachfolgende Resümee eine ebenso erleichternde wie ernstzunehmende Erkenntnis zutage: „Denn zwischen einem despotischen Staate und einer Handmühle ist zwar keine Ähnlichkeit, wohl aber zwischen den Regeln, über beide und ihre Causalität zu reflectiren.“99 Eigentlich müsste die Analogie ihr Potential aus dem anschaulichen Part der Darstellung beziehen. Aus dem Anschauungsmaterial generiert sich jedoch lediglich Regelwissen. Über die korrespondierende Kausalität von Gegenständen zu reflektieren, um das kausale Verhältnis in einem figuralen Zusammenhang auszudrücken, bedeutet: metonymische Verhältnisse herzustellen. Ob die gewählten Metaphern für die Verbildlichung von Prozessualisierung und Kausalverhältnissen innerhalb eines despotischen oder (aufgeklärt) absolutistischen Staates einstehen, bleibt fraglich. Die Suche nach einem verbindenden Dritten fixiert die Vorstellung von Gewaltausübung noch. Bei der Herrschaftsmetaphorik handelt es sich eher um Metonymien (besonders bei der organizistischen). Diese kaum orthodoxe, da heuristische These korreliert mit Kants
99 A. O., S. 352 [257].
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Misstrauen gegenüber der Analogie.100 Irritierendes Potential, welches sich auf die Beschreibung von Zusammenhängen nach Regeln bezieht, scheint im metonymischen Schreiben aufgehoben.
100 Zur historischen Vielschichtigkeit und Komplexität des Analogiebegriffs vergleiche Rudolph, Figuren der Ähnlichkeit, a. O., S. 26-30, präziser mein Kapitel zur Reisebeschreibung.
III. Johann Gottfried Herder. Vom ‚Beitrag‘ zu den Ideen und zurück: Eine Reise durch historische Gefilde und ästhetische Wälder
1. U NÜBERBRÜCKBARE D IFFERENZEN ? Beiträge zur Menschheitsgeschichte um 1800 lassen teilweise implizite und teilweise explizite Kontroversen auf den Plan publizistischer Verhandlung treten. Eng mit dieser Verschränkung verbunden ist ein Verfahren der Textkomposition im Modus impliziter und expliziter Zitate sowie Paraphrasierungen. Zitieren generell erweist sich als unverzichtbares Moment einer Rede über das Menschliche – die Selbstverständlichkeit einer potentiellen Erfahrung am eigenen Leibe bedarf der Rahmung durch den Verweis auf die Expertise eines Außenstehenden, nicht selten eines Augenzeugen. Erweist sich der Erfahrungsraum zugegebenermaßen als beschränkter – denn das ist ja gerade eine einschneidende Erkenntnis der Auseinandersetzung mit der historischen und geographischen Reichweite des Menschlichen – leistet gesunder Menschenverstand zunächst gute Dienste, das bessere Argument jedoch ergibt sich im Verweisen auf eine zitierbare (literarische) Quelle. Dass dieser Verweis recht variabel als Beweis einsetzbar wird, ließ sich bereits an Kants Fußnoten vorführen – und auch Herders Belegstrategien kennen diverse Möglichkeiten des Umgangs mit derartigen Verweisen.1 Kontrovers diskutieren Kant und Forster in mehreren Schachzügen Implikationen und Reichweite des Rassebegriffs (vgl. das Kapitel „Kant und die Reisebeschreibung“). Kontrovers verhält sich auch die Forschung zu diesem öffentlich – im Organ der Zeitschrift – ausgetragenen Streit. Wenig kontrovers hingegen bewertet jene den verschiedene Publikationen durchziehenden wissenschaftlichen Konflikt zwischen Herder und Kant, der vor allem anhand Herders „Ideen zur Philosophie 1
Ihre Texte führen mitunter etwas am Sekundärtext oder der Quelle vor. Zur Demonstration bei Kant vgl. das Kapitel „Das Beispiel in der Theorie“.
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der Geschichte der Menschheit“ und Kants Rezensionen (sowie weiteren veröffentlichten Reaktionen) dazu virulent wird. Dass es sich überhaupt um einen Streit handelt, in dem unvereinbare inhaltliche sowie methodische Positionen gegeneinander ausgespielt werden und den gewissermaßen der bessere Rhetoriker gewinnt – hier wäre es dann eher Kants Schreibstil, der sich durch eine gewisse „Sagacität“2 auszeichnet – steht selten in Frage. Zwar lässt sich an den in Herders „Ideen“ entwickelten pathetischen organologischen Vorstellungen über das Funktionieren von Naturgesetzen (generell: Gesetzmäßigkeiten) leicht ablesen, dass Kant von der Warte einer sicheren Begründung der Naturwissenschaften aus Vorbehalte äußern muss. Jedoch entpuppt sich die Unvereinbarkeit beider Standpunkte im Nachdenken über Zusammenhänge sowohl innerhalb eines natürlich als auch künstlich codierten Raums der Natur, welcher geographisch sowie historisch Ausmaße annimmt, die unter dem Titel einer Gesamtwelt oder Menschheitsgeschichte in Schach gehalten werden, bei genauem Hinsehen als weniger frappierend. Argumentativ, inhaltlich und rhetorisch (besonders: metaphorisch) weist die Auseinandersetzung mit dem Thema Menschheitsgeschichte Schnittmengen auf, ganz zu schweigen von einer fast unübersehbaren Fülle von gemeinschaftlich bemühten Quellen: in erster Linie Reisebeschreibungen, welche wiederum historische Tiefendimensionen entfalten, insofern sie selbst von längst vergangenen Zeiten und Orten berichten. Beide Beobachter der Menschheitsgeschichte mussten den jeweils anderen als ernstzunehmenden Gegner wahrnehmen – so wie es schon in den Repliken Kants und Forsters der Fall war. Die – in der Ausgabe der „Bibliothek deutscher Klassiker“ – gut neunhundert Seiten umfassenden „Ideen“ stellen selbst lediglich ein Fragment dar – sie enden etwas abrupt in der Neuzeit und führen nicht wie erwartbar3 den die Menschheitsge-
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Immanuel Kant, Recensionen von J. G. Herders ‚Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit.‘ Theil 1.2, in: KAA VIII, S. 43-66, S. 45. Zum Dreiecksverhältnis Kant, Herder, Forster vgl. Manfred Riedel, „Historizismus und Kritizismus. Kants Streit mit G. Forster und J. G. Herder“, in: Kant-Studien, Jg. 72, 1981, Heft 1-4, S. 41-57.
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Diese Erwartung ließe sich an die frühere Schrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beitrag zu vielen Beiträgen des Jahrhunderts“ von 1774 knüpfen, die sowohl als wegbereitender Vorläufer als auch als programmatisch begründete Abweichung zu den zehn Jahre später mit ihrem ersten Teil erscheinenden „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784-1791) aufgefasst werden kann. Einerseits sprengt die frühere Schrift ihren Rahmen in einem Maße, sodass eine Neuherausgabe unmöglich wird. Andererseits liegt ihr an der Einbindung und Adressierung der aufklärerischen Gegenwart, und so führt sie die Zeitachse bis in das achtzehnte Jahrhundert fort – eine Kontinuität, die allein durch die Verzeichnung zahlreicher Brüche gestiftet
J OHANN G OTTFRIED H ERDER : V OM ‚B EITRAG ‘ ZU
DEN I DEEN UND ZURÜCK
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schichte Bereisenden bis an die Pforten der zeitgenössischen Aufklärung. Von diesem Fragment rezensierte Kant die erste Hälfte und endet damit an einem Punkt, der als Abschluss fungiert sowie die gelegten Fäden zugleich von einer anderen Richtung her wieder aufnimmt. Dabei ist die Niederlegung dieser Aufgabe gleichermaßen nüchtern wie pragmatisch begründet: „Herder’s Ideen, dritten Theil, zu recensiren, wird nun wohl ein Anderer übernehmen, und sich, daß er ein anderer sey, erklären müssen; denn mir gebricht die Zeit dazu, weil ich alsbald zur Grundlage der Kritik des Geschmacks gehen muß.“4 Offen lässt diese beiläufige geschäftsmäßige Formulierung, ob Kant Herders „Ideen“ auch inhaltlich überdrüssig war oder ob Herders „Ideen“ als Provokation der ästhetischen Urteilskraft zu begreifen sind.
2. V OR -ARBEITEN , ANSCHLÜSSE : M ETAPHER UND S TIL Ehe jedoch die Allianzen der Texte Kants und Herders näher fokussiert werden, gilt es vor allem, Herders „Ideen“ im Kontext oder Kontrast zur Frühschrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beitrag zu vielen Beiträgen des Jahrhunderts“ (1774) zu positionieren, mit welcher die „Ideen“ nicht nur ihre thematische Reichweite, sondern auch programmatische und strukturelle Vorentscheidungen gemein haben. Stilistische Kontinuitäten5 in Herders Texten stiften sich vor allem über durchgängige Leitmetaphern, die innerhalb von Metaphernfeldern verschoben werden, indem eine Metapher mit einer anderen korreliert wird, die ihr zuwiderläuft. Beide Metaphern gehen dennoch eine Konjunktion ein, die ein schiefes Bild generiert.6 Dabei kombiniert Herder Metaphern aus dem Bereich der wird. Zu den Abweichungen der beiden Titel und zur diesbezüglich sprechenden Vorrede der „Ideen“ vgl. das Kapitel „Getreuer Auszug Robertsons“, FN 136. 4
Brief Kants an Christian Gottfried Schütz vom 25.6.1787, in: KAA X: Briefwechsel 1747-1788, S. 489f.; s. a. KAA, Anm. Bde. VI-IX, Bd. VIII, S. 472.
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Zu Herders Stil, Rhetorik und Metaphernverwendung liegen zahlreiche Studien vor. Stellvertretend verweise ich auf: Sabine Groß, „Spannungsvolle Präzision. Rhetorik, Stil und Gestus bei J. G. Herder“, in: Herders Rhetoriken im Kontext des 18. Jahrhunderts, hg. v. Ralf Simon, Heidelberg, 2014, S. 295-310. Stefan Greif, „Herder’s aesthetics and poetics“, in: A companion to the works of Johann Gottfried Herder, hg. v. Hans Adler u. Wulf Koepke, Rochester, NY, 2009, S. 141-164. Hans Adler, „Herders Stil als Rezeptionsbarriere“, in: Herder im Spiegel der Zeiten. Verwerfungen der Rezeptionsgeschichte und Chancen einer Relektüre, hg. v. Tilman Borsche, München, 2006, S. 15-31.
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Im Kontrast zu diesen Metaphern wäre die Funktion sogenannter „Denkbilder“ zu bestimmen, „[…] als Figuration uneigentlicher Rede […], die zwei unterschiedliche Zeichensysteme, Sprache und Bild, vereint und sich grundlegend bemüht, Anschauung und
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Natur – Baum, Blüte, Strom, Meer, um nur einige zu erwähnen – mit Metaphern menschlicher künstlerischer Produktion, die eine ganze Bandbreite an Kunst- und literarischen Gattungen abdecken: wie Gemälde, Schauspiel, Epos, Fabel u. v. m. Ein weiteres Feld, dessen sich seine Texte metaphorisch bedienen, wäre etwa die zeitgenössische Chemie, speziell mit Fokus auf Prozesse der Läuterung. „Solche Metapherngruppen, die sich zu ‚Bildfeldsystemen‘ zusammenordnen lassen, sind in Herders geschichtsphilosophischem Frühwerk der einheitsbildende Gesichtspunkt für manchen Textabschnitt, der auf den ersten Blick wegen der gedrängten Häufung von Metaphern der verschiedensten Bildfelder den Eindruck erweckt, als sei er nur ein Symptom für einen Überschuß an Assoziationen.“7
Das Verfahren Herders in der Verknüpfung von Metaphern in und zu Metaphernfeldern erweise sich Meyer zufolge als Problembewusstsein die Funktionalisierung metaphorischer Rede innerhalb der Beschreibung und tieferen Erkenntnis historischer Zusammenhänge betreffend. „Detailkorrekturen innerhalb der Metapher“ oder „am Bildspender“8 reflektieren nicht nur deren grundlegende Ambiguität9 – und geben dieser somit eine Richtung –, sondern nehmen Spannungsverhältnisse der Geschichtsdeutung auf, insofern deren divergierende Positionierungen sich bereits konventionalisierter Metaphernfelder10 bedienen. Reflexion zu verknüpfen.“ (S. 69) Der von Herder selbst verwandte Terminus (S. 70) dient konzeptuell der Überbrückung des epistemologischen Kontrastes zwischen Philosophie als Zergliederungskunst und dem fiktionalen Potential der Dichtung und befördert damit didaktisch die Schulung der Erkenntniskräfte (S. 74). Denkbilder sind kulturell gebunden, aber (in der Didaxe) adaptierbar und entfalten sich in diversen anschaulichen Textgattungen. So stellen Herders „Paramythien“ laut Müller-Michaels selbst Beispiele für dieses Konzept dar. Harro Müller-Michaels, „Herder – Denkbilder der Kulturen. Herders poetisches und didaktisches Konzept der Denkbilder“, in: Nationen und Kulturen: zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders, hg. v. Regine Otto, Würzburg, 1996, S. 65-76, Seitenangaben in Klammern. 7
Heinz Meyer, Überlegungen zu Herders Metaphern für die Geschichte, in: Archiv für Begriffsgeschichte, hg. v. Karlfried Gründer, Bd. 25, Bonn, 1981, S. 88-114, S. 113f.
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Meyer, Überlegungen, a. O., S. 103. Vgl. Johann Gottfried Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, in: FHA 4, S. 9-107, Seitenangaben in Klammern. Ausgabe nachfolgend durch FHA mit Band- und Seitenangabe und ggf. Kurztitel der jew. Schrift zitiert.
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Meyer, Überlegungen, a. O., S. 111.
10 A. O., S. 105, s. a. S. 91. So suggeriert auch die Katalogisierung Alexander Demandts in seinem Buch: Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historischpolitischen Denken, München, 1978.
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DEN I DEEN UND ZURÜCK
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Detailkorrekturen können recht variabel ausfallen. Um das Verfahren metaphorischer Verknüpfungen in der Frühschrift einzuführen, dienen zwei Zitate aus „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“: „Philosoph im nordischen Erdental, die Kinderwaage deines Jahrhunderts in der Hand, weißt du es besser, als sie?“11 Die Vorstellung einer kindlichen Waage (einer Spielzeugwaage?) schlägt um in die einer Wiege – besonders über die kongruierenden Konstruktionsmerkmale (des Minimalpaars) von Waage und Wiege – und begünstigt damit die übertragene Lesart: Tal als Wiege einer neuen Epoche, die der Philosoph – etwas falsch abwägend – stellvertretend beaufsichtigt. Die Schiefe des Bildes wird im Doppelsinn durch diese parallele Lesart aufgehoben. Gerade der etymologische Zusammenhang, die etymologische Unschärfe (von wägen und wiegen), wird im Dienste der Ambivalenz (durch Herder) ausgebeutet. Die Detailkorrektur liegt hier in der überraschenden Kombination selbst, die es notwendig macht, das Metaphernfeld auszuloten. Ähnlich funktionieren andere Wortschöpfungen Herders, z. B. „Ameisenspiele“ als Fortsetzung (Variante) eines theatralisch gewendeten „Schauplatz[es]“, dessen szenisches Arrangement architektonisch zertrümmert, durch diese „Öffnung[ ]“ allerdings überhaupt erst einsehbar wird. „Es geht ins Große! es wird, womit die Hülsengeschichte so sehr prahlet, und wovon sie wenig zeigt – Schauplatz einer leitenden Absicht auf Erden! wenn wir gleich nicht die letzte Absicht sehen sollten, Schauplatz der Gottheit, wenn gleich nur durch Öffnungen und Trümmer einzelner Szenen. Wenigstens ist der Blick weiter als jene Philosophie, die unter-über mischt, nur immer hie und da, bei einzelnen Verwirrungen auf, um alles zum Ameisenspiele, zum Gestrebe einzelner Neigungen und Kräfte ohne Zweck, zum Chaos zu machen, […]. Wenns mir gelänge, die disparatsten Szenen zu binden, ohne sie zu verwirren […].“12
Zuvor allerdings wird dieser „Schauplatz“ als emphatischer Gegensatz zur „Hülsengeschichte“ aufgebaut, scheinbar, um Momente einer lebendigen, aber uneinsehbaren Schöpfung hervorzuheben, die dann aber architektonisch eingehegt und somit wieder aufgebrochen werden müssen. „Ameisenspiele“ als Chiffre eines perfekten Chaos verbindet nun wieder zwei auseinanderdriftende Komposita miteinander: Metaphorisch erwartbar wäre der Ameisenhaufe als undurchschaubare Versammlung unendlich vieler kleiner Teile, die jedoch mitnichten chaotisch interagieren. Ihr Spiel probiert nichts aus, sondern ist pure Organisation. Zahlreiche ähnliche Beispiele ließen sich für die Frühschrift anführen, zum Teil mehrere pro Seite. Nicht selten ignorieren die Kommentare solche Wortschöpfungen bzw. geben sie Korrekturvorschläge, indem sie einen Teil des Kompositums austauschen. Damit unterstellen sie Herders Bildfindung implizite Flüchtigkeitsfehler und operieren so 11 Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 37. 12 A. O., S. 42.
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immer schon am Ausbuchstabieren in Richtung eines Metaphernfeldes oder -komplexes. Für Herders Frühschrift trete Meyer zufolge insbesondere die Differenzierung von naturaler und künstlerischer Metaphorik in den Vordergrund, die Perspektivierungen einer nicht (mehr) als Ganzheit repräsentierbaren sowie interpretierbaren Geschichte bereithält. „Bei Herder selbst geht es innerhalb seiner Schrift ‚Auch eine Philosophie‘ zunächst um die zunehmende Tendenz, die Aufgabe einer Veranschaulichung des Gesamtzusammenhangs der Geschichte für übermenschlich zu halten. Die Metaphern, in denen Herder vom Verhältnis des Menschen zur Geschichte spricht, werden gegen Ende seines Entwurfs mehr und mehr zu Metaphern für die Unmöglichkeit, sich ‚ein Bild‘ von der Geschichte zu machen.“13
Dabei reflektiert Herder die Angemessenheit der Metaphern (aus dem Bereich der Kunst) im Grunde eher unter formal-strukturalen Aspekten, insoweit etwa die kompositorischen Momente kultureller Produktionen wie Gemälde oder Schauspiel in den Blick geraten, welche dann auf historische Verlaufsgestalten appliziert werden. Ob daher noch von einer bildgebenden Funktion der Metapher zu sprechen ist, sei dahingestellt: Der Prospekt, sich ein Bild zu machen, scheitert nicht allein am Umfang des zu fokussierenden Gegenstandes, sondern vielmehr am System der Repräsentation selbst. Umso dringlicher stellt sich die Frage nach den Ursachen einer Rehabilitation der Gemäldemetapher in den „Ideen“ im Anschluss an die sukzessive Verabschiedung repräsentationaler Welt(v)erfassung in der Frühschrift. Weniger exzessiv betreiben die „Ideen“ diese Versetzung der Metaphernfelder, wenn sie auch nicht völlig ausbleibt. Somit gibt sich die spätere Schrift metaphorisch kaum avanciert, sodass der Eindruck einer Inszenierung im Modus des Realen vorherrscht.
13 Meyer, Überlegungen, a. O., S. 111.
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3. Ü BER DIE S PRACHE DER T HEORIE . V OM E RKENNEN UND E MPFINDEN DER MENSCHLICHEN S EELE Jedoch legt Herder in mehreren Schriften mitunter selbst Rechenschaft über seine Metaphernverwendung ab. Im Zuge sprachphilosophischer Überlegungen kommt es gehäuft zur Auslotung metaphorischer Möglichkeitsfelder. Was Sprache in der Darstellung oder für den Transfer von Welt leisten kann, wird skeptisch in den Blick genommen – der Arbeit mit, an und in der Sprache leistet dies jedoch keinen Abbruch. Prominent taucht die Reflexion über metaphorische Fremd- und Eigenleistungen in der Schrift „Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele“ von 1778 auf. Beide Fähigkeiten versteht sie im Sinne einer leibbasierten Philosophie immer schon reziprok, und unterläuft damit von Anfang an die Aufgabenstellung der Preisschrift, auf die Herder mit ihr antwortet.1 Zunächst bezieht Herders Text gegenüber genereller Kritik an Metaphernverwendung in der Theorie Stellung. Basis seiner metaphorologischen Überlegungen liefert seine synästhetische Anthropologie, in der bereits eine implizite Poetik liegt, wie sie etwa auch in der Abhandlung „Über Bild, Dichtung und Fabel“ (Erstdruck 1787)2 ausdrücklich wird. Theorie und Dichtung stellen keine kategorialen Gegensätze dar, sondern sind über äquivalente, sich wechselseitig ineinander überführende Bildungsprozesse aneinander gekoppelt. Wenngleich Hans Adlers einschneidende Untersuchung zur „Prägnanz des Dunklen“ den inneren Zusammenhang von Gnoseologie und Ästhetik aufgewiesen hat, liegt mir daran, jenen reflexiv auf den Begriff gebrachten und im zeitgenössischen Diskurs verorteten Konnex durch Herders metaphorische(s) Verfahren selbst zu belegen,3 Herders Texte lösen die unhintergehbar reziproke Struktur jener Beziehung durch ein performatives Ausbuchstabieren ihrer Metaphorik selbst aus und auf, indem sie beide Pole in der Schwebe halten. Einerseits wird die Verschränkung von Theorie und Dichtung dem Theoretiker zugestanden, andererseits unterläuft sie sein theoretisches Projekt gegen dessen Willen: „So ward Newton in seinem Weltgebäude wider Willen ein Dichter, wie Buffon in seiner Kosmogonie, und Leibniz in seiner prästabilierten Harmonie und Monadenlehre. Wie unsre ganze Psychologie aus Bildwörtern bestehet, so wars meistens Ein neues Bild, Eine Analogie, Ein auffallendes Gleichnis, das die größten und kühnsten Theorien geboren. Die Weltweisen, 1
Vgl. FHA 4, Anmerkungen zu: Herder, Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen
2
Vorarbeiten allerdings schon in den sechziger Jahren. Johann Gottfried Herder, Über
Seele, S. 1076-1080. Bild, Dichtung und Fabel, in: FHA 4, S. 631-677, vgl. den entsprechenden Kommentar in: FHA 4, S. 1300, S. 1304. 3
Hans Adler, Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie – Ästhetik – Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder, Hamburg, 1990 [Studien zum achtzehnten Jahrhundert 13].
306 │S UBTEXTE DER M ENSCHHEITSGESCHICHTE die gegen die Bildersprache deklamieren, und selbst lauter alten, oft unverstandnen Bildgötzen dienen, sind wenigstens mit sich selbst sehr uneinig. Sie wollen nicht, daß neues Gold geprägt werde, da sie doch nichts tun, als aus eben solchem oft viel schlechtern Golde ewig dieselbe Fäden spinnen.“4
Sowohl implizit als auch explizit äußern sich Vorbehalte gegenüber uneigentlichem Sprechen – implizit findet das poetische Potential der Theorie als Wiederkehr des Verdrängten Eingang in die wissenschaftlichen Konstrukte –, wodurch die nüchterne theoretische Künstlichkeit in ein (sprachliches) Kunstwerk überführt wird.5 Zwar unterscheidet der Text zunächst nicht zwischen „Bild“, „Bildwörter[ ]“, „Analogie“ und „Gleichnis“, verbucht unter der uneigentlichen Sprachfunktion jedoch das schöpferische Potential von Sprache – nicht ohne im Nebensatz unterzubringen, dass jene ausschließlich im Modus des Uneigentlichen operiere und daher nicht ohne „Bildgötzen“ auskomme. In seiner schöpferischen Kraft bietet tropisches Sprechen jedoch nicht allein sprachliche Varianten – eines ohnehin nur in sprachlichen Variablen ausdrücklichen Sachverhaltes – an, sondern treibt neuartige Theorien erst hervor. Was hier als Kopf-Geburt, gleichsam aus dem Nichts auftaucht, wäre tatsächlich in einen Prozess wissenschaftlicher (Sprach-)Findung übersetzbar. Vergleichbar wäre der Prozess, in dessen Verlauf aus Kants pflanzlicher Metaphorik eine (konservative) Theorie der Verpflanzung resultiert (vgl. Kant-Kapitel zur Reisebeschreibung). Gegen „die Bildersprache [zu] deklamieren“, erzeugt eine eigentümliche Überschneidung: äußert sich das Misstrauen gegenüber tropischem Sprechen doch in rhetorisch ausgezeichneter Form. Der Widerspruch der „Weltweisen“ gegen die Mittel der Rhetorik bildet keine Ausgeburt an Rationalität, sondern hat seinen Ort auf der Bühne des Redners. Wissenschaftliches Sprechen ist in diesem Sinne „mit sich selbst sehr uneinig“, Strategien seiner Verschlankung und Präzisierung, aber auch die Anknüpfung an Wissensbestände, münden sowohl in sprachliche als auch theoretische Armut „aus eben solchem oft viel schlechtern Golde.“ Mit der Goldbzw. Münzprägung kündigt sich zudem ein unterbundener Herrschaftswechsel, ein möglicher Wandel szientifischer Paradigmen und Idiomatik an. Als Pars pro Toto rationalistischer Verfahren stehen „Syllogismen“ ein, denen jedoch eine analogi4
Johann Gottfried Herder, Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele, in:
5
Wie sich hingegen am Ende des Absatzes offenbart, steht die Kunst dieser „Weltweisen“
FHA 4, S. 327-393, s. S. 327-363 („Erster Versuch“), S. 330. der ihrer dichtenden Kollegen nach, was ihr anthropologisches sowie historisches Potential anbelangt: „und glaube übrigens, daß Homer und Sophokles, Dante, Shakespear und Klopstock der Psychologie und Menschenkenntnis mehr Stoff geliefert haben, als selbst die Aristoteles und Leibnitze aller Völker und Zeiten.“ Herder, Vom Erkennen und Empfinden, a. O., S. 331.
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sche Erkenntnisform vorangestellt ist – wobei Herder die Leistungen der Analogie bereits im vorliegenden Text perspektivisch auffaltet. Ihr Verfahren umschreibt der Text mit der Metapher des „Brettspiel[s]“ als strategischem Umgang mit „Worterklärungen“ (Definitionen?) und „Beweisen“, „das auf angenommenen Regeln und Hypothesen ruhet.“6 Ein Verschieben der Steine oder Figuren gegeneinander tariert die Schachzüge aus, stellt spielerisch argumentatives Gleichgewicht her, wie es den Beweisen Ausschlag gibt. Jenes Verfahren des Ausgleichs beider Seiten oder aber ihr Ausspielen und die Tilgung (Kürzung) einer Seite gemahnt jedoch ebenso an mathematische Operationen und Formelbildung. Als Basis von Empfinden und Erkennen wird sinnliche Wahrnehmung in ihrer Mannigfaltigkeit durch Filter gelenkt, die ihre Komplexität reduzieren. Jedoch changiert diese Filterfunktion im Text: einmal erfüllen sie die Sinne selbst, ein anderes Mal nehmen Kanäle der äußeren Welt diese Funktion wahr: wie „Schall“, „Licht“, „Duft“ und „Würze“.7 In diesem Zusammenhang taucht das „Medium“ im Text auf: zunächst als „ein gewisses geistiges Band“8 definiert, scheint es zunehmend mit den o. g. Funktionsträgern identifizierbar zu werden. „Betrügt mich der Schall, das Licht, der Duft, die Würze; ist mein Sinn falsch, oder habe ich ihn nur falsch zu brauchen mich gewöhnet, so bin ich mit all meiner Kenntnis und Spekulation verloren. Auch kann der Gegenstand für tausend andre Sinne in tausend andern Medien ganz etwas anders, vollends in sich selbst ein Abgrund sein, […]; für mich ist er nur das, was mir der Sinn und sein Medium, jenes die Pforte, dies der Zeigefinger der Gottheit für unsre Seele, dargibt.“9
Mitunter entsteht sogar der Eindruck, dass die Sinne selbst mediale Qualitäten entfalten: „Da gebraucht mein Sinn alle die Kunstgriffe und Feinheiten, die ein Blinder mit dem Stabe gebraucht, zu tasten, zu fühlen, Entfernung, Verschiedenheit, Maß zu lernen, und am Ende wissen wir ohne dies Medium nichts, ihm müssen wir glauben.“10 Sinneskraft ist ungleich verteilt, so nutzen Menschen ihre verschiedenen Sinne nicht gleichermaßen – für diese Annahme steht implizit das Phänomen der Pathologisierung ein. Jedoch erfährt die sinnliche Beschränkung (hier: des Blinden) eine überraschende Ausweitung, wenn Herders Text zuletzt nach „blindgeborne[n] Dichter[n]“ verlangt – ein Verlangen, das sich aus der Literaturhistorie speist, denn „[d]ie drei größten epischen Dichter in aller Welt, […] waren blind, […].“11 Was 6
Vorangehende Zitate: a. O., S. 330.
7
A. O., S. 348.
8
A. O., S. 347.
9
A. O., S. 348.
10 Ebd. Lesbar wäre natürlich auch: Gott als Medium, das zuspielt. 11 Ebd. Diese Ausführungen könnten für eine Poetik des Epos als folgenreich gelten.
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für den Menschen allgemein gilt, entfaltet insbesondere bei künstlerischen Produktionen sein Eigenleben: „Dem Einen Dichter ist seine Muse Gesicht, Bild, dem andern Stimme, dem dritten Handlung: Ein Prophet ward durch Saitenspiel geweckt, der andre durch Gesichte: keine zween Maler und Dichter haben Einen Gegenstand, wenn auch nur Ein Gleichnis, gleich gesehen, gefasst, geschildert.“
Die Individuierung der Seelenkräfte entscheidet über den Modus der Weltwahrnehmung und weckt damit bestimmte Talente. Das Kurzschließen von emotionaler Anlage, Charakterneigung, kreativer Ausrichtung und Nationalgeschmack („was z. B. daran Ursache sei, daß Franzose und Italiener sich bei Musik, Italiener und Niederländer sich bei der Malerei so ein ander Ding denke?“)12 stimmt in weiten Teilen mit der Geschmacksanthropologie Kants in den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ überein (vgl. das Kapitel dazu). An dieser Stelle geht es (mir) jedoch weniger um Herders vermögenstheoretische Synästhetik, die in seinen kunsttheoretischen sowie poietischen Reflexionen Ausschlag gibt, sondern um die aus dieser Wahrnehmungsstruktur resultierenden sprachphilosophischen Konsequenzen. Dass die Gegenstände aufgrund dieser individuellen Struktur der Welt(v)erfassung variieren – so etwas wie ihr Wesen also nicht erfassbar sei – beunruhigt Herder keineswegs, sondern erfährt eine positive ästhetische Wendung. Epistemische Zurückhaltung gehört zum Repertoire intellektueller Skepsis und findet allenfalls theologisch motivierten Ausgleich: einen Skandal provoziert sie hingegen nicht. Bewegt Sprache sich im Bereich des Uneigentlichen – wie der Text zuvor konstatiert hat –, formuliert sie immer schon Gleichnisse, spricht allegorisch, stellt Vergleiche an, indem sie Relationen ausbildet. Nun bedeutet die Anerkennung dieses Zuges hingegen nicht, dass uneigentliche Kommunikation soweit konventionalisiert werden könnte, damit sie reibungslos und störungsfrei verliefe. Aufgrund der Wahrnehmungsstruktur – zu der viele weitere Faktoren gehören – variiert auch die Bildung von Gleichnissen. Insofern findet im Austausch von Gleichnissen metonymische Verschiebung statt. Nicht nur die individuelle Sprachfindung operiert nach diesem Muster (vgl. Kants Sprach- und Beweisfindung im Synthesekapitel „Einsätze des Exemplarischen“), sondern auch die Kommunikation im weitesten Sinne reiht sich in dieses Wechselspiel ein. Gleichnishafte Rede variiert, im Gleichnis Aufgefasstes oder Ausgedrücktes fällt nie gleich aus – dies gehört zur Poetologie des Gleichnisses selbst. Uneigentlich 12 Zitate: a. O., S. 349. Nebenbei erwähnt fasst Herder den Dichter im vorliegenden Text als eine Art anthropologischen Propheten auf, der Fiktion dezidiert nutzen darf; vgl. a. O., S. 340, S. 343: die Reihung „Ärzte“, „Freunde“, „Dichter“ mit Blick auf die Erfahrungsseelenkunde („wahre[ ] Seelenlehre“), s. S. 340f.
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Gesagtes bildet (im Gleichnis) wiederum uneigentliche Rede heraus. Was folgt daraus für die schöpferische Sprachfunktion? 3.1 Wahrnehmung, geheimnisvolle Epistemologie, innere Repräsentation Die metapoetischen Reflexionen zur Sprach- und Theorieschöpfung finden ihren Kontrastpol in Herders eigener sprachschöpferischer Tätigkeit. Am Text kann der Anwendungsfall daher aufgesucht werden, ohne dass zu ausgeprägte Koinzidenzen vorauszusetzen sind. Metaphorisch zeichnet sich das Verfahren des Textes dadurch aus, dass verschiedene Zusammenhänge füreinander eintreten können. Besonders für die im Nachdenken über das Erkennen und Empfinden entfaltete Epistemologie bringt dies weitreichende Folgen mit sich. In der Verknüpfung oder Kontrastierung der Metaphernspender ergeben sich chiastische Strukturen, die den Nachvollzug des Verhältnisses von Metapher und Metaphorisiertem erschweren. Oft ist uneindeutig oder auswechselbar, welcher Teil als Metapher des jeweils zu Beschreibenden eintritt, beide haben zugleich an Momenten der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit teil. Insoweit ein Unerklärbares das jeweils andere aufzuhellen sucht, zugleich jedoch von diesem anderen eingefangen und erläutert werden kann, ließe sich in einigen Fällen von zirkulären Begründungsstrukturen sprechen. „So wie diese äußere Medien [„Licht“, „Schall“, K.K.] für ihre Sinne würklich Sprache sind, die ihnen gewisse Eigenschaften und Seiten der Dinge vorbuchstabieren: so, glaub ich, mußte Wort, Sprache zu Hülfe kommen, unser innigstes Sehen und Hören gleichfalls zu wecken und zu leiten.“13
Zunächst fällt Herders eigentümliche Mediendefinition auf, welche sich zudem im Verlauf des Textes wandelt. Gleichnishaft funktionieren Medien wie Sprache: Medien – hier als Kanäle umschrieben – buchstabieren vor. Sprache steht als Medium schlechthin (als eine Art Mastertrope) für mediale Funktionen ein: Sie vermittelt zwischen den Gegenständen der Welt und dem Sinnesapparat. Erscheinungen in der Wirklichkeit bieten immer nur eine Auswahl an. Für den Erkenntnisprozess erweist sich daher Selektion als notwendig und entspricht am ehesten der Funktion, die mit dem (modernen) Medienbegriff zu verknüpfen wäre. Qualifiziert Herder „Licht“ und „Schall“ als Medien, so birgt dies ein implizites Wissen darüber, dass Medium und Botschaft kaum voneinander zu trennen sind. Ob das Medium im Zuge seiner folgenden Redefinitionen selbst zur Botschaft wird, wäre zu verfolgen. Die Rede von „[…] Eigenschaften und Seiten der Dinge […]“14 lässt natürlich eher die Diffe13 A. O., S. 357f. 14 A. O., S. 357.
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renzierung in verschiedene Sinnesqualitäten wie die taktile, optische (visuelle), akustische oder olfaktorische assoziieren. Insoweit „vorbuchstabieren“15 als vermittelnde Leistung der Sprache ausgewiesen wird, wirkt der Sprachvergleich etwas ungelenk, da Sprache damit eine eher technische Funktion übernimmt, die keinen semantischen Eingang der Dinge gewährt. So setzt dieses Vorbuchstabieren eine Art Imitation in Gang, welche die Sinne angesichts des Mediums durchführen. Ohnedies komplex, steigert der Text dieses mediale Modell um eine – durch die Imitation erforderte? – spiegelbildliche innere Variante, welche die Seite des tatsächlichen Eingangs in die Seele beschreibt. Implizit an verschieden gefilterte Sinneserfahrungen anknüpfend, geht es nun um ein „innigstes Sehen und Hören“16, dem ebenso wenig ein reales Sehen und Hören entspricht, wie den Medien eine „würklich[e]“17 Sprache. Einmal befindet Sprache sich im Außen – fungiert als Medium, bzw. das Medium operiert wie Sprache, ein weiteres Mal wartet die Sprache, spezifischer das „Wort“, bereits im Innern auf das, was gerade durch die Sinne geleitet wurde. Was zuvor an der Grenze des Äußeren zum Inneren stattfand (sehen, hören), wird ins Innere gespiegelt, nur handelt es sich hier kaum mehr um Wirkungen (Beschreibungen) eines materialen Versinnlichungsvorgangs. Der interne Verarbeitungsprozess wird in Metaphern des äußeren Wahrnehmens überführt, ebenso wie die intellektuell basierende Versprachlichung in ein Modell des materialen Leitens (Kanalisierens) übersetzt wird. Dabei geht die Frage nach der Funktion der Sinne selbst nahezu unter: Sie stehen am Ende einer Vermittlung, gewähren Durchgang oder imitieren etwas Vorbuchstabiertes. Ohne „viel von diesem innern Wort“, ohne „inwendig [zu] nenne[n]“, bleibt Sehen ausgeschlossen. Einerseits theologisch zur „göttlichen Bezeichnungsgabe“ aufgeladen, wird „diese innere Sprache“ andererseits epistemisch geerdet, insofern sie die Schulung von Urteilskraft und Verstand gewährleistet. Kontrastfolie des wirklichen Sehens ist bloßes Gaffen, das epistemischen Leerlauf produziert und einen Mangel markiert: „Die es nicht haben, und schwömme ein ganzes Meer an Bildern um sie, gaffen nur, wenn sie sehen, können nicht erfassen, nicht in sich verwandeln, nicht gebrauchen.“18 Inwendig nennen, in sich verwandeln bieten Chiffren unsichtbarer Übersetzungsprozesse an, die im zweiten Fall an chemische Vorgänge erinnern: Mit der Verwandlung übertritt die Metaphorik jedoch die Grenze zu Alchemie und Zauberei.19 15 Ebd. 16 A. O., S. 358. 17 A. O., S. 357. 18 Zitate: A. O., S. 358. 19 Vergleiche den Eintrag im Adelung zu „Verwandeln“. Über die Bedeutung des schlichten Veränderns hinausgehend beginnt er bezeichnender Weise mit zahlreichen biblischen Verweisen zum Vorkommen und Gebrauch des Wortes: „lauter biblische Ausdrücke, wo
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Im Modus des epistemologischen philosophischen Diskurses bot der Text zuvor die Definition eines durch Selbstreflexivität und Vereinheitlichung ausgezeichneten „Gedanke[n]“ an, welche jedoch ohne ironische Spitze in Richtung der „FormularPhilosophie“ nicht auskommt. Die imitierte philosophische Definition erhält einen metasprachlichen Kommentar, der deren (vermeintliche) Formelhaftigkeit aufbricht: „Eine Bildersprache der Art scheint freilich mystisch; in Geheimnissen aber, und im tiefsten Geheimnis der Schöpfung unsrer Seele, kann man sich kaum anders erklären.“ Abgesehen von einer theologisch motivierten Einschränkung im Bereich der (sakrosankten) Seelenkräfte, bleibt Epistemologie bis zu einem gewissen Grad geheimnisvoll. Sofern jedoch überhaupt etwas über sie auszusagen ist, verbleibt sie in der „Bildersprache“. 20 Eine erste Reflexion über die „Einbildung“ betont deren synthetisierenden Charakter als Ort eines „Zusammenflusses“. Über die Form der Aufbewahrung oder Repräsentation der äußeren Zuflüsse in der Einbildung(skraft) bleibt der Text jedoch unschlüssig: „[…] Einbildung: […] besteht aber nicht bloß aus Bildern, sondern auch aus Tönen, Worten, Zeichen und Gefühlen, für die oft die Sprache keinen Namen hätte.“ Im Zuge der Speicherung legt die Sprache also keinen alles aneinander angleichenden Teppich über die Sinneswahrnehmungen, sondern diese bewahren jeweils graduell ihre charakteristische Form. Generell bleibt Sprache repräsentationaler Limitation unterworfen, eignet sich also gar nicht für die durchgängige Darstellung aller sinnlichen Vorkommnisse. Entgegen ihrer etymologischen Herleitung beschränkt sich die Einbildung nicht auf das Hervorrufen imaginativer Bilder, sondern umfasst weitere Darstellungsmodi, die sich etwa auf verschiedenen Ebenen linguistisch differenzieren ließen. Zurückzuführen wären die Vorkommnisse z. B. auf phonetische, semantische, morphologische oder pragmatische Dimensionen, damit gehörten sie jedoch weiterhin einer – funktional in sich gespaltenen – Sprachlichkeit an. es oft nur bedeutet, ein Ding anstatt des andern darstellen.“ Als Verwandler von „[s]tumme[n] Bewegungen und einfache[m] Geschrey […]“ „in menschlichen Ausdruck“ wird der „Dichter“ bereits implizit in Verbindung mit dem Laokoon-Diskurs gebracht – mit Vorzug der poetischen vor der plastischen Darstellung. „Verwandeln“ steht also immer schon im Zusammenhang ästhetischer Diskurse. Ein Äquivalent zur biblischen (christlichen) Verwandlung stellt stoffwechselphysiologisch die Nahrungsaufnahme dar. Die Verwandlung von „Wasser in Wein“ (resp. „Blut“), „Wein“ in „Essig“ und die von „[…] Speise und Trank in Fleisch und Blut […]“ liegt motivisch auf einer Ebene – und schwankt zwischen chemischem Vorgang und sakrosankter (magischer) Handlung. „Im engsten Verstande ist verwandeln das Wesen eines Dinges verändern, ein Ding in ein Ding anderes Wesens umschaffen, wozu natürliche Kraft nicht hinlänglich ist.“ Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch, Vierter Theil, Seb-Z, Sp. 1170-1171. 20 Zitate: Herder, Vom Erkennen und Empfinden, a. O., S. 354.
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Ein Denken von Repräsentation gelangt dort an seine Grenzen, wo nicht mehr vom (mehr oder minder ausgeprägten) Zeichencharakter der Dinge gehandelt wird, sondern es um vermischte Qualitäten wie das „Gefühl“ geht: Zusammensetzung des Verschiedenen und undifferenzierbar zugleich. Die Repräsentationen (in) der Einbildung gehören demnach verschiedenen Ebenen an, weder nominal fassbar noch rein bildlich aufzufinden, bewegen sie sich nicht allein im Reich komplexer Zeichensysteme, sondern stiften kaum mehr nachzuvollziehende Unmittelbarkeit. Alles Nachdenken über Repräsentation kann den Modus der Repräsentierbarkeit von Gefühlen nicht auffinden, womit sie zur umfassenden Klammer epistemischer Problemstellung avancieren. Strategisch greift der Text über die zuvor gesetzte Einklammerung hinaus, indem er andere, abweichende Sprach- bzw. Darstellungsfunktionen vorschlägt. Über die Verschiebungen der Wahrnehmungen bzw. des Wahrnehmungsortes – genauer der Wahrnehmungen durch den Wahrnehmungsort – sondiert der Text Verhältnisse der Synästhesie und tariert sie neu aus: „Das Gesicht borgt vom Gefühl, und glaubt zu sehen, was es nur fühlte. Gesicht und Gehör entziffern einander wechselseitig: der Geruch scheinet der Geist des Geschmacks, oder ist ihm wenigstens ein naher Bruder.“ 21 Die parallele metaphorische Übertragung von inneren Vorgängen ins Äußere und äußeren Vorgängen ins Innere wiederholt sich in der doppelten Lesbarkeit des Geistes, der gerade noch materiell als sich verflüssigender, verflüchtigender Geist, der aus der Flasche aufsteigt (Weingeist), ruchbar wird. Das (im Grunde nur uneigentlich denkbare) Wort Geist wird hier noch uneigentlich gebraucht, läutert sich dabei im Übergang des Aufsteigens zum Vergeistigten. Die intellektuelle Verbindung, „ein gewisses geistiges Band“22 am Ende des Vergeistigungsprozesses überführt den Geist in seine eigentliche ätherische Bedeutung. Geist wird hier eher im Sinne des Uneigentlichen (Materiellen) gebraucht, der „nahe[ ] Bruder“ steht demgegenüber für die geistige und nicht körperliche Bindung ein, im Sinne des Eigentlichen, d. i. des Intellektuellen des Geistes. Was jedoch fühlt, empfindet das Gesicht, wenn es nicht sieht? Denn im Sehen besteht ja der ihm einzig mögliche Empfindungsmodus. Was für eine Wahrnehmung stellt sich ein, wenn es vom Gefühl borgt? Welche Konnotationen entfaltet der Verweis auf das Gefühl? Ist hier primär vom Tastsinn die Rede oder bereits vom o. g. umklammernden Gefühl? Insofern sich das Sehen das Gefühl zum Beispiel nimmt, beginnt es dann zu tasten? Die vorliegende Verschiebung verweist auf ein plastisches, auf ein an der plastischen (taktilen) Wahrnehmung geschultes Sehen. Oder bezeichnet sie vielmehr eine emotional gegründete Projektion des zu Sehenden? Sieht man unter Einfluss des Gefühls, was man zu sehen wünscht oder zu 21 Vorangehende Zitate: a. O., S. 349. 22 A. O., S. 347.
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sehen meint? Diese Lesart suggeriert die Konstruktion eines wechselseitigen Entzifferns von Gesicht und Gehör im Modus der Aufmerksamkeitssteuerung oder -ökonomie: Man sucht zu sehen, was man hört, und hält danach Ausschau. Oder man vermeint zu hören, was man von fern wahrnimmt. Epistemologische Aufklärung funktioniert hier als Verschieben der Sinnesorte, als Überführung der Sinne ineinander – was streng genommen epistemologische Widersprüche provoziert. Probieren lernwillige Sinne den operativen Modus der jeweils anderen Sinne aus? Somit speiste sich deren Bezug zueinander nicht nur über den Gedanken der Reziprozität. Übt das Sehen das Tasten, übt es sich am (im) Tasten? Wie kann ein Sinn sich so (an)fühlen wie ein anderer Sinn oder den anderen Sinn gar ausprobieren? Die Überführung der Sinne ineinander scheint lediglich an Darstellungen nachvollziehbar. Die Illusion eines Füreinander-Eintretens authentischer Sinneseindrücke wird in der Kunst ausdrücklich. Für jenes epistemologische Experiment könnte eine Formel gemäß des ut pictura poiesis eintreten – der Modus der Darstellung oder Beschreibung orientiert sich an der bestimmte Sinnesallianzen entfaltenden künstlerischen Gattung. 3.2 Einbildungskraft Die Einbildungskraft taucht im Text als eine der „Unterkräfte“23 der Seele auf, wenn es darum geht, diese Art der Binnendifferenzierung selbst in Frage zu stellen (und die Einteilung der Vermögen macht ja einen wesentlichen Teil philosophischer Erkenntnistheorie aus). Nun übernimmt die Einbildungskraft eine erhebliche Rolle im Zuge von Theorieproduktion. Die Grenzen zwischen Theorie und Dichtung werden aufgeweicht bzw. richten sich als solche gar nicht erst auf, insofern Herders Konzeption der Seele ein Abscheiden nach Vermögen – ihrer räumlichen Aufteilung im Sinne einer Gedächtniskunst etwa – von vornherein ablehnt. Daher trifft die Vorstellung einer Reinigung von Theorie bzw. Sprache oder der Theorie von Sprache nicht zu, obwohl eine proportionale Verschiebung der Seelenkräfte gegeneinander durchaus eingeräumt wird. Der Verstand stellt also kein entsprachlichtes Substrat an formalisierter Rationalität dar. Dass die Seele in unterschiedlichen Kräften entfaltet wird (unterschiedliche Kräfte entfaltet), gesteht Herder zu, verweigert jedoch, diese – epistemisch ohnehin nur bedingt zugänglichen Kräfte24 – sprachlich auseinanderzudividieren.
23 A. O., S. 355. 24 Deshalb würde ich behaupten, dass auch Herders Gebrauch der Kräfte uneigentlich ist, so wie Kant diesen Begriff stets als Problemstellung und nicht als Lösung versteht. Herder ist sich der Leerstelle, die mit diesem mystischen Wort aufgetan wird, durchaus bewusst. Vgl. Kants einseitig kritische „Recensionen von J. G. Herders Ideen [...]“, a. O., S. 53f.
314 │S UBTEXTE DER M ENSCHHEITSGESCHICHTE „Man nennet das Wort Einbildungskraft und pflegts dem Dichter als sein Erbteil zu geben; sehr böse aber, wenn die Einbildung ohne Bewusstsein und Verstand ist, der Dichter ist nur ein rasender Träumer. Angebliche Philosophen haben Witz und Gedächtnis verschrieen, jene nur Schalksnarren, diese Wortkrämern übergeben; Schade alsdenn für die edlen Kräfte. Witz und Gedächtnis, Einbildung und Dichtungsgabe sind von guten Seelen so verständig gebraucht worden, daß ihr großer Verstand gewiß nicht ohne jene weitfassende Wurzeln hätte erwachsen können.“25
Der Modus Operandi der Seele bleibt ungebrochen, solange sie „verständig“ vorgeht. Es bedarf keiner vorhergehenden Reflexion über ihr Verfahren (ihre Methode), sondern im Verfahren selbst bildet sich die Beteiligung einzelner Ressourcen heraus, über die ggf. angesichts des Produkts selbst reflektiert werden kann. Verständiger Gebrauch dient als Vorübung für den Verstand – wobei diese Übung, dieses Austarieren als Schulung der Urteilskraft fungiert.26 Bedauern die Philosophen die oberen (edlen) Seelenkräfte, insofern diese sich von ihnen untergeordneten Kräften bedroht sehen, so fordert Herder eine Rehabilitation der zu Unrecht beschuldigten unedlen Kräfte, die dadurch zu neuem Adel erhoben werden. Nicht zufällig gemahnt die Rede von der „guten Seele[ ]“, welche die ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen kreativ umsetzt, an Schillers Konzept der schönen Seele, deren Vorzug in Tugendfragen ja gerade in der anmutigen Verbindung von Intellekt und Sinnlichkeit besteht (da sich das Verhältnis wesentlich schwieriger gestaltet, fortwährend ineinanderkippt, nahezu kollabiert, verweise ich auf mein Kant-Kapitel „Anmutige Darstellung“). Gefahr für den Verstand gehe weder von Einbildung, Witz und Gedächtnis noch von der Dichtungsgabe aus. Allein dadurch, dass sie jene Kräfte diskreditieren, entlarven sich die Philosophen als angebliche, so wie deutlich wird, dass kein Dichter ohne Verstand operiere. Herder vertauscht hier die Rollen: mit Shakespeares Sonetten und Dramen sowie Homers Epen werden die Dichter aller drei poetischen Gattungen zu Philosophen und der Schulphilosoph „Leibnitz“ zum „sehr witzige[n] Kopf“. Dabei tritt gerade für den Schulphilosophen ein besonderes Verfahren seiner Theorieerzeugung hervor – nicht schwer zu erraten, bedient er sich den (rhetorischen) Mitteln der Dichter. Verschiedene Modi probieren hier ebenfalls einander aus.
25 Herder, Vom Erkennen und Empfinden, a. O., S. 356, vgl. ebd. die rationalisierende Gebäudemetaphorik: „Nie wird man diesen Kräften tief auf den Grund kommen, wenn man sie nur von oben her als Ideen behandelt, die in der Seele wohnen, oder gar als gemauerte Fachwerke von einander scheidet und unabhängig einzeln betrachtet.“ 26 „Die Menschen, die, [...], viel von diesem innern Wort, von dieser anschauenden, göttlichen Bezeichnungsgabe haben, haben auch viel Verstand, viel Urteil.“ A. O., S. 358.
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„Homer und Shakespear waren gewiß große Philosophen, wie Leibnitz ein sehr witziger Kopf, bei dem meistens eine Metapher, ein Bild, ein hingeworfnes Gleichnis die Theorien erzeugte, die er auf ein Quartblatt hinwarf und aus der die Weberzünfte nach ihm dicke Bände spannen. Rabelais und Swift, Buttler und selbst der große Bako waren witzige Köpfe: der letzte gehört auch zu denen – deren Ring durch Ein Gedankenpaar vertraulich keusch vermählt oft tausende gebar. es wäre aber nicht mein Feind, dem ich ihren Witz und ihre Bildersprache wünschte.“27
Nachdem im ersten Schritt das Gefälle zwischen Dichter und Philosoph nivelliert wurde, findet dann ein zweiter Übergang statt: Der Schulphilosoph, der im Verfahren seiner Theoriefindung mit aller rhetorischen Raffinesse ausgestattet ist, und dessen Zunft als genuin textproduzierende („Weberzünfte“) ausgewiesen wird, verweist über seine Satire auf satirische Vorgänge(r) schlechthin: „witzige Köpfe“ mit breit gestreutem intellektuellem Interesse. Francis Bacon wiederum steht dieser Tendenz zufolge für eine Gelehrsamkeit ein, die Disziplin- und Formgrenzen überschreitet – gemahnt an Zeiten, in denen selbst mathematische Abhandlungen noch in Reimform verfasst wurden. Der Reim bzw. Vers selbst generiert nun einen – zusätzlich im Schriftbild – manifesten Übergang zur Poesie, der poetologisch kommentierende Funktion entfaltet. Im Schriftbild abgesetzt, durch Zeilenumbruch und Gedankenstrich eingeleitet, nach einem Enjambement weitergeführt und durch einen Punkt abgeschlossen, gewährt er doch Anschluss. Die Einschaltung des Erzählers – oder Autors, das ist hier insofern von Relevanz, als metapoetisch ‚erwiesen‘ wird, dass beide kaum mehr eindeutig voneinander zu differenzieren sind – erfolgt trotz Satzschlusszeichens in Minuskel, gerade so, als ob eine Kommentarfunktion wahrgenommen würde (eine Art Einklammerung). Um Anschlüsse handelt es sich hier generell, so führt Herder mit seiner Einbindung des Verses vor, wie sprachliche Kreativität, mithin Theoriefindung operieren: als „hingeworfnes Gleichnis“. Als sprachliche Figuration steht das Gleichnis selbst für Sprach-, Text- und Theorieproduktionen ein: wie es scheint, generiert es legitime neuartige Verbindungen („Ring“, „keusch“). Gleichnisbildung markiert mit ihrer Frage nach dem impliziten Wie den Übergang zu metaphorischem Sprechen, das Gleichnis steht synekdochisch für die Metapher, wobei das Wie gleichsam das Tertium Comparationis, die operationale Schnittmenge von Gleichnis und Metapher, angibt. Wie im Abschlusskapitel zu Kants Sprachstil „Metapher oder Metonymie“ dargelegt wurde, tendiert die Metapher demgegenüber dazu, als Stellvertreterin für tropisches Sprechen generell einzutreten. Auf metonymische Textproduktion verweist im zitierten Abschnitt die Metapher des tausendfachen Gebärens. Die (fast schon) unbefleckte Empfängnis 27 A. O., S. 356.
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entfaltet ihren Reiz jedoch im Zuge einer Textadaption, die aus sich selbst nichts fruchtbar generiert („Weberzünfte […] spannen“), sondern Anschlüsse herstellt, indem sie – fast unmerkliche Varianten einbauend – plagiiert. Besonderer Reiz liegt für Herder offenbar in der Umschrift Withofs, ein Projekt, an dem auch Kant bisweilen fleißig mitschreibt.28 Mit ihr führt er performativ vor, wie (Theorie-)Adaption funktioniert, nicht ohne in der Art und Weise der Umschrift auf deren Poetik hinzuweisen. Dabei bietet die Umschrift lediglich eine leichte semantische Variante an, welche mit dieser kaum merklichen Änderung vorführt, wie nahezu unbemerkte Umschriften – als Theorien von Adepten, die nicht deren Urheber sind – operieren. Umschreibend entpersonalisiert sich das Text- oder Schreibmodell – im Original noch als falsche Zuschreibung enttarnt – durch die Tilgung der adressierten Instanz: eines überheblichen „Ihr“, das es zu belehren gilt. „O, ihr, die ihr so denkt, daß ein Gedankenpaar/ Durch euern Ring vermält oft tausende gebahr,/ O, prahlt nur [...].“29 Die falsche Zuschreibung wird in Herders Umdichtung durch eine eindeutige Adressierung berichtigt – „Bako […] gehört auch zu denen“ – und zugleich positiviert: Was bei Withof wie ein Vorwurf klingt, erhebt Herders Konstruktion zum Verdienst. Die Entpersonalisierung macht das Verdienst einer Person zurechenbar. Im Vers selbst ist diese Instanz jedoch nicht mehr anzutreffen, sondern sie offenbart sich durch den Kontext. Was dem Vers hinzugefügt wird, lässt sich als Legitimationsstrategie lesen, welche die Vermählung gewissen Sanktionen unterwirft: „vertraulich keusch vermählt“ gebiert es sich oft leichter. Die Geburt aus legitimer Vermählung steht dem beiläufigen Hinwerfen gegenüber und lässt sich damit als Plädoyer für bewusste regelgeleitete Sprachschöpfung sowie Theoriegenerierung lesen. Fragt sich mit Blick auf ein Programm des poietischen Umgangs mit Sprache oder Theorie nur: Was wird hier im Vertraulichen verhandelt? Und wie lässt sich die Keuschheit von Sprache sicherstellen, um illegitime Verbindungen zu verhindern? Wer sich als Schöpfer von Theorie missversteht, „prahlt nur“ und bringt nichts wirklich Neues hervor. Adepten, die hingegen Varianten anbieten, liefern mitunter Kommentare, welche den Regeln des guten Anstandes entsprechen. Herder führt selbst vor, wie man umschreibt, spart jedoch die Quelle aus. Jedoch belässt er dem vorgängigen Vers dessen formale Gestaltung, schaltet die andere, durch ihre rhetorischen Verfahren aufgerufene literarische Gattung in den Text ein, um „Weberzünfte[n]“ und „dicke[n] Bände[n]“ einen Widerpart zu bieten. Bildgebend tritt die Metapher des Bildes („Bildersprache“) selbst ein und verweist damit nochmals auf die gerierte Nähe sprachlicher sowie künstlerischer Verfahren, die wechselseitig füreinander eintreten können. 28 Vgl. das Kapitel „Kunstordnung und Geschmacksanthropologie. Attributive Verfahren“. 29 Zitiert nach Herder, Vom Erkennen und Empfinden, Kommentar, in: FHA 4, S. 1138.
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4. E INSCHALTEN , F ÜRSPRECHEN , AUS -Z IEHEN . S TIMMLICHE V IELFALT IN A UCH EINE P HILOSOPHIE DER G ESCHICHTE ZUR B ILDUNG DER M ENSCHHEIT 4.1 Sprechinstanzen Stilistisch lassen sich zwischen der Frühschrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beitrag zu vielen Beiträgen des Jahrhunderts“ (1774) und den späteren „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784-91) neben den metaphorischen weitere Abschwächungen ausmachen, wenngleich Merkmale früherer Texte Herders damit stets präsent bleiben. Der „Beitrag zu vielen Beiträgen des Jahrhunderts“ ist mit Hervorhebungen durch Kursive (Sperrungen) durchsetzt, die im Verbund mit zahlreichen Interpunktionen, besonders Exklamationen, Pathosformeln ausbilden, die hier noch lesbar, intonierbar, bleiben, während die „Ideen“ sich zunehmend auf das ikonographisch sichtbare Pathos konventionalisierter Abbildungen in Reisebeschreibungen konzentrieren.1 Insoweit die Hervorhebungen an Adressaten im Text gebunden werden, steigert sich die dramatische Intonation und suggeriert eine direkte Kommunikation mit den Mit-Streitern (impliziten Lesern). Ausufernde rhetorische Fragen gehören zum Repertoire beider Schriften, wobei die „Ideen“ ihren pathetischen Tonfall etwas abmildern, indem sie häufiger konstativ feststellen. Graphische Hervorhebungen kommen im späteren Text spärlicher vor, einzelne zu betonende Wörter werden durch Majuskeln angezeigt.2 Kursivierungen in den „Ideen“ bilden seltener Pathosformeln aus, da sie
1
Vgl. das Kapitel „Gemälde-Metaphorik?“, genauer die für die Renaissance einschlägige Darstellung der ‚Wilden‘. Vgl. I. Genese der ‚Pathosformel‘, in: Aby Warburg, Werke in einem Band. Auf der Grundlage der Manuskripte und Handexemplare hg. u. komm. v. Martin Treml, Sigrid Weigel u. Perdita Ladwig, Berlin, 2010, die Vorbemerkung der Herausgeber, S. 29-38, die Warburgs „poly-mediale und poly-aisthetische Betrachtungsweise“ hervorhebt, die jedoch schon auf den Text-Bild-Interferenzen der von ihm analysierten Renaissancegemälde beruht (S. 32f.).
2
Vgl. dazu die Frühschrift: Im letzten Absatz des ersten Abschnitts weisen von 584 Wörtern allein 142 Kursivierungen auf, 25 Mal endet ein Satz oder Komplex mit einem Ausrufezeichen mit der Tendenz zur Verkürzung derartig abgeschnittener Sätze (bzw. Wörter), im Vergleich dazu nur sechs Mal mit einem Punkt bzw. zwei Mal mit einem Fragezeichen (Doppelpunkte und Semikola sowie die Fußnote bleiben hier außen vor). 16 semantisch relevante Gedankenstriche strukturieren diesen letzten Absatz, d. h. sie markieren tatsächlich Lese- bzw. Denkpausen – die letzten Zeichen (nicht Wörter!) des Abschnitts bilden drei aufeinander folgende Gedankenstriche: „ – Ich fahre fort – – – “. Zum Ende hin erhöht sich der pathetische Druck – eine Tendenz, die für die Frühschrift allge-
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Merksätzen vorbehalten sind – Sätzen oder Gesetzen3 –, und dienen der Markierung von Personennamen (dies gilt bereits für die Frühschrift) oder wichtigen neueingeführten naturgeschichtlichen Begriffen (Bezeichnungen) wie Tier- und Völkernamen, Flüssen, Gebirgen usf. Insofern bilden sie eine Art Lern- und Lektürehilfe und können dazu dienen, zentrale Stellen zügig wiederzufinden. Wie die titelgebende Programmatik des „Beitrag[s]“ ankündigt, bietet „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ einen polyphonen Text dar. Während sich der Erzähler durchgängig mit auktorialem Ich zu Wort meldet, spricht er gleichzeitig verschiedene homo- sowie heterodiegetische Instanzen an. Dabei werden alle Personalpronomina durchdekliniert, historische Persönlichkeiten sowie – mehr oder minder explizit – Zeitgenossen adressiert, aber auch nebulöse oder sakrosankte Instanzen angerufen (Gott, Schicksal, Natur, Nachwelt). Häufig stehen bestimmte Typen (der Philosoph) für ihren Berufsstand oder ihre Gattung ein – eine Klimax der Aufklärungskritik ist dort erreicht, wo Herders Text dem zeitgenössischen Philosophen in dessen ungebrochener Apotheose seine Stimme leiht.4 Im Zuge der Verschiebung der Sprechinstanzen ereignet sich zugleich die Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen historischen Sprechens – so äußert sich im emphatischen Wir das Phantasma einer die Chronologie überwindenden intertemporalen Kommunikation. Vom „Beitrag“ zu den „Ideen“ lässt sich ein Wandel der Zitierpraxis beobachten. Zur Vielfalt der Stimmen sowie Sprechinstanzen in der Frühschrift gehört das eingeschaltete Zitat, das über seine Anführung formal als solches zu identifizieren, jedoch nicht näher zu bestimmen ist, da ihm die Quellenangabe fehlt. Gelegentlich deckt die philologische Kritik die Herkunft dieser Stellen auf – häufiger jedoch sind sie als bewusst gesetzte Einschaltungen von Stimmen der mein wesentlich ist. Vgl. Herder, Auch eine Philosophie, in: FHA 4, S. 9-107, S. 40-42. Staffan Bengtsson widmet sich typographischen und (daraus resultierenden) strukturellen Merkmalen von Herders „Aelteste[r] Urkunde des Menschengeschlechts“. Er arbeitet heraus, dass Satz- und Druckbild eine nicht-lineare Lesart des Textes eröffnen, s. dort S. 305. Dennoch scheint mir seine Untersuchung zu schnell auf eine Re-Semantisierung der desemantisierten Elemente abzuheben, s. S. 292. Wenn die typographischen Zeichen, die typographische Gestaltung, einen Raum zwischen textueller und bildlicher Dimension eröffnen, dann sollte die Nicht-Diskursivierbarkeit jenes Überganges in den Blick geraten. Staffan Bengtsson, Challenging Linearity: Finding the Perspective of Herder’s Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts, in: Herausforderung Herder. Herder as Challenge. Ausgewählte Beiträge zur Konferenz der Internationalen Herder-Gesellschaft, Madison 2006, hg. v. Sabine Groß, Heidelberg, 2010, S. 281-330. 3
Vgl. Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in:
4
Es handelt sich dabei nicht immer um Voltaire. Herder, Auch eine Philosophie, a. O.,
FHA 6, hg. v. Martin Bollacher, Frankfurt am Main, 1989, S. 72f. S. 81.
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Zeit lesbar. Tatsächlich werden derartige Zitate nicht selten in fingierter wörtlicher (stichischer) Rede auf die Spitze getrieben. Wenngleich zeitgenössische Parteien identifizierbar sein mögen, so stehen die Einschübe eher im Dienste der dramatischen Zuspitzung des Arguments.5 In diesem Fall wäre von uneigentlichen (seltener unzureichend gekennzeichneten) oder Scheinzitaten zu sprechen. Alle Formen der Fürsprache lassen sich unter dem Begriff der Prosopopoiia fassen, deren Potenz Herder selbst folgendermaßen umreißt: „Alles was da ist, sehen wir wirken; und schließen mit Recht, daß der Wirkung eine wirkende Kraft, mithin ein Subjekt zum Grunde liege; und da wir Personen sind, so dichten wir uns an allem Wirkenden der Naturkräfte, persönliche Wesen. Daher nun jene Belebung der ganzen Natur, jene Gespräche mit allen Dingen um uns her, jene Verehrungen und Anschauungen derselben, als ob sie auf uns wirkten, jene Prosopopöien und Personifikationen bei allen Völkern der Erde.“6
In Herders Frühschrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ treten verschiedene Modi der Prosopopoiia auf. Einerseits spricht der Text für abstrakte, fast unmöglich zu bestimmende Größen, etwa für Völker, „Erdstrich“ oder „Zeitläufte“.7 Dabei geht das Ansprechen eines Themas – also das Reden über etwas – in die direkte Adressierung dieser Instanzen über, die dann mitunter selbst Wort ergreifen, denen der Text also seine Stimme leiht. Als Marker dieser Stimmgebung fungieren u. a. Anführungszeichen. Andererseits spricht der Text für andere Autoren‚ in ihrem Namen, er leiht ihnen seine Stimme, lässt sie durch sich
5
Varianten dieses Verfahrens lassen sich zudem an Wielands „Beyträge[n] zur geheimen Geschichte der Menschheit“ aufweisen. Auch Herders Text kennt Varianten unvollständigen Zitierens – zu bemerken ist allerdings, dass Wielands „Beyträge“ stärker als literarisierte Texte auftreten. Wielands Verfahren entwickelt einen hohen Komplexitätsgrad im Spiel zwischen Fußnoten und Haupttext, indem je divergente, unvollständige und historisch inkonsistente Öffnungen der Quellen gegeneinander ausgespielt werden und philologische Verfahren somit metahistoriographisch kommentieren.
6
Herder, Über Bild, Dichtung und Fabel, in: FHA 4, S. 631-677, S. 642. Für Herders Poetik ist bemerkenswert, dass sie überhaupt einen Begriff von Prosopopoiia hat. Zwar ist das Konzept zu seiner Zeit keineswegs unbekannt, jedoch scheint hier über das rhetorische Wissen hinausgehend ein Bewusstsein über dessen epistemische Konsequenzen enthalten. Zur genaueren Information über Prosopopoiia siehe: Bettine Menke, Prosopopoiia: Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, München, 2000, in Kap. II, S. 137-216, bes. S. 137-192. Meine Aufmerksamkeit richtet sich hier auf das omnipräsente Gespräch.
7
Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 32.
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sprechen. So gibt das Zitat der „pragmatischen Geschichten“8 ‚wahrhaftig‘ wieder, erweist sich indes als durchgängige Karikatur dessen, was es ihnen an Aussagen zuschreibt. Tatsächlich spricht Herders Text durch diese anderen, in ihrer Karikatur kommt das Wahrhafte zum Ausdruck. Eine dritte Sprechweise, welche die beiden zuvor genannten mitunter verbindet, verläuft über die Verwendung von Personalpronomina. 4.1.1 Ein Wust an Stimmen – Personale Pronomina Die Mehr- oder Vielstimmigkeit von Texten gehört zu den Analysekategorien moderner literaturtheoretischer Forschung, die nicht zuletzt Rezeptionsbedingungen in ihre Theorie einbezieht. Zwar scheut sich Herders Text kaum, ich zu sagen: Dabei darf zunächst dahingestellt bleiben, inwiefern ein auf Autorschaft beruhendes Subjektivitätskonzept auf ihn zutrifft. Dass dieses Ich gleichberechtigt neben weiteren Sprechinstanzen auf den Plan tritt, lässt jedoch vermuten, dass ein zugrundeliegendes Autorschaftsmodell keineswegs naiv ausfiele, sondern bereits kompositorisch ein breitgestreutes Wissen über das Zustandekommen von Texten bereithält. Gerade die eingangs zitierte Passage lässt sich nicht als Plädoyer für die Allgegenwärtigkeit von Subjektivität, sondern von Hypostasierungsprozessen lesen, die in allen Kulturkreisen hypothetische Rede forcieren. Vorläufig beschäftigt der „Beitrag zu vielen Beiträgen des Jahrhunderts“ sich theoretisch nicht explizit mit Fragen der Subjektkonstitution, sondern nimmt sie in pragmatischer Hinsicht ernst: Er wirft die Frage auf, inwiefern historische Personen produktiv auf die Geschichte einwirken können. In seiner literarischen Inszenierung greift jedoch der Wust der bei Herder zur Sprache kommenden Stimmen auf dementsprechende Problemstellungen aus. Emphatische Anrede (du), abschätzige Abkanzelung (er), Anrufung undeutlicher Entitäten (es), die Zeiten transgredierende Diskurseinbindung (wir) und das Herstellen gemeinschaftsbildender Oppositionen stellen Formen der Verständigung über Personalpronomina dar. Nicht selten fehlt allerdings eine explizite Anrede, etwa bei der Ansprache nicht-personaler Entitäten. Paradigmatisch nimmt die folgende Analyse das Sprechen im Modus ich, du und wir auf. Er, sie, es können teils in die Prädikation konkreter Namen eingebunden werden, teils wird es allerdings notwendig sein, jene Namen zu rekontextualisieren. Als kontextgebunden erweisen sich (in der Einzelanalyse) zwei Karikaturen. Dabei handelt es sich um einen Auszug Robertsons sowie um die Auseinandersetzung mit dem „Schriftsteller von hundert Jahren“. 4.1.2 Ich und uneigentliche Zitate Wie eingangs erwähnt, scheut Herders Text sich keineswegs, ich zu sagen. Gerade dieser Sprechmodus verfährt vergleichsweise konventionell, er macht meistenteils 8
A. O., S. 79.
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vorsichtig auf die subjektive Gebundenheit eines Standpunktes aufmerksam, schränkt von dessen Warte aus getroffene Aussagen ein. „[I]ch denke“ (34 u. ö.), „ich glaube“ (18 u. ö.), „dünkt mich“ (22/29/48 u. ö.), „weiß ich[ ]“/“weiß ich nicht“ (35/38 u. ö.), „ich rede (von)“ (50)9 – so klingen typische Prädikationen des Ich. Graduell realisieren sich in dieser Aussageform gleichwohl metahistoriographische Reflexionen über das, was sagbar oder nicht mehr sagbar bzw. beschreibbar ist. In der Frühschrift gibt es eine Reihe gekennzeichneter und ungekennzeichneter Zitate, häufig markieren sie eine doppelte Brechung. Werden die Namen derjenigen, die man sprechen lässt, benannt, handelt es sich beim Zitierten meist um Paraphrasen, die karikierende oder ironisierende Züge tragen (siehe Robertson). Gelegentlich fehlen dann auch Anführungszeichen. Stark verbreitet ist das scheinbar wörtliche (wortgetreue) Zitat aus einer Schrift, zu der weder im Haupttext noch in der Fußnote ein Hinweis auf ihren Verfasser auftaucht. Teilweise handelt es sich dabei um Zitate, zu denen – bei entsprechendem Kontextwissen – Autoren benannt werden können. Die Forschung hat jedoch längst nicht alle Verweisstellen aufgeklärt. Zwar ist anzunehmen, dass manche Passagen zeitgenössischen Lesern keine Probleme bei ihrer Zuordnung bereitet haben dürften. Aus heutiger Perspektive gelingt die Zuordnung teilweise nur anhand sorgfältiger Quellenforschung. Dennoch wäre es ein Trugschluss, davon auszugehen, dass sich alle Quellenbezüge aufklären ließen, da es sich – so meine These – in vielen Fällen nicht um Zitate handelt, obgleich die Einschübe mittels Anführungszeichen als solche gekennzeichnet sind. Dennoch wäre anzunehmen, dass die Kennzeichnung eine spezifische Funktion erfüllt. Benutzt ein Text Anführungszeichen, dann spricht er in der Regel für jemand anderen, nicht nur in dessen (personalem) Namen, sondern ganz im Sinne seines Inhalts: Er gibt ihn wortwörtlich wieder. Was zur Äußerung gelangt, ist – trotz einer Art Fürsprache – nicht die eigene Stimme. Für wen aber könnten die Zitate, die eigentlich keine sind, sprechen wollen? Aus einem Vergleich der mannigfaltigen Stellen kondensiert vorerst relativ zügig eine verallgemeinernde Lesart. Die Paraphrasen sprechen (für) Allgemeinheiten, auch wenn diese lediglich als ‚lokale‘ Allgemeinheiten verortet werden. Einmal gilt dies für die Aufklärung, deren Schlagworte angeführt werden. In manchen Fällen trifft diese Reihung sogar auf die Menschheit zu: Somit wird sie zumindest in Teilen konsistent beschreibbar. Potenziert wird diese Sprechweise an Textstellen, wo sie sich mit anderen Formen personaler Rede verknüpft, welche die Zeitstelle des Verfassers anzeigen. Damit entlarven sie die mit rhetorisch verstellter Stimme redende Allgemeinheit. Einerseits durchbricht der Hinweis auf weitere (kontrastierende) Sprechinstanzen die Illusion des Allgemeinen, andererseits können sie auch 9
Belege aus Herders „Auch eine Philosophie […]“ in diesem und im Folgekapitel aus Gründen der Übersicht größtenteils als Seitenzahlen in Klammern.
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dazu dienen, deren Geltung zu bestärken. Insofern solch unbesetzte Personalstellen nämlich ein grammatisches Subjekt oder Objekt erhalten, löst sich der Charakter des Schlagwortes, des Allgemeinplatzes, auf, und sie gewinnen einen konkreten Zug, indem sie durch diese (grammatische) Instanz bestätigt werden. Schlagwörter der Aufklärung nimmt Herders Text natürlich kritisch auf, indem er sie karikiert, sie zuvor aber selbst in den Text einspeist. Insofern sie reduktionistische Auffassungen vertreten, werden sowohl optimistisch-naive als auch skeptisch-kritische Einwände vorgeführt – etwa unter personeller Rückbindung an Robertson und Voltaire. Wenn es überhaupt möglich sein sollte, den Fortschritt als Phänomen der Geschichte aufzuzeigen oder gar zu beweisen, dann erfordert dieses Vorhaben keine geringe intellektuelle Anstrengung: Dies verdeutlicht Herders Text nicht zuletzt durch die literarisch ausdifferenzierte Zurückweisung seiner zwei paradigmatischen Persönlichkeiten und durch die selbstreferentiellen Bezüge auf sein eigenes Unternehmen. „Daß offenbar dies Erwachsen, dieser Fortgang aus einander nicht ‚Vervollkommung im eingeschränkten Schulsinne sei, hat, dünkt mich, der ganze Blick gezeigt‘.“10 Obwohl der Verfasser mit diesem ‚Zitat‘ scheinbar selbst Wort ergreift, verläuft das Aufgreifen der Aufklärungskritik über eine andere, fremde Instanz, deren Position er zu übernommen haben scheint. Dennoch betont er (mit dem Zitat), dass die „Vervollkommung“ keine „im eingeschränkten Schulsinne sei“ und rechtfertigt diese Annahme mit dem Blick, den sein Werk eröffnet oder ermöglicht haben soll. Damit konkretisiert er seine eigentümliche literarische Leistung, die weniger in der Darbietung als in der Verwirrung des Blicks besteht. Eine solche Verwirrung resultiert aus der Verlebendigung einzelner skizzenhaft evozierter Bilder – etwa des mutmaßlichen Idylls im Patriarchenzeitalter – sowie aus der Vielzahl auf- bzw. angerufener Stimmen, die ein ganzes Ensemble von Sendern und Adressaten entfalten. Der Versuch, den „‚Roman einseitiger Hohnlüge‘“ anders als nach dem „‚Preisideal[ ] seiner Zeit‘“11 zu gestalten, sich von der institutionalisierten Eindimensionalität einer „‚[...] matten, kurzsichtigen, allverachtenden, allein selbstgefälligen, nichts ausrichtenden und eben in der Unwürksamkeit trostvollen Philosophie‘ [...]“12 abzugrenzen, gelingt lediglich über die Aufspaltung in verschiedene Rahmungen oder Kunst-Gattungen, die repräsentationale Vielfalt aufrufen: „‚Bauplan allmächtiger Weisheit?‘“, „‚Gottesgemälde‘“, „[...] ‚unendliches Drama von Sze-
10 Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 78. 11 Zitate: a. O., S. 79. 12 A. O., S. 80.
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nen! Epopee Gottes durch alle Jahrtausende Weltteile und Menschengeschlechte, tausendgestaltige Fabel voll eines großen Sinns!‘“13 Dem uneigentlichen Zitieren des Beitrags steht das exzessive Zitat in den „Ideen“ gegenüber – meist in Paraphrasen angeeigneten naturgeschichtlichen oder ethnographischen Wissens, autorisiert über große Namen oder aber mit philologischem Verweis auf die (Bild-)Quelle. Dabei täuscht dieser ungeheure Fundus an geographischem, geologischem, ethnographischem und physiologischem Wissen gelegentlich über die ausufernde Beanspruchung von Gemeinplätzen hinweg, welche lediglich als Verweis anzitiert und dann (etwa) in die Idee eines völkergeschichtlichen Zusammenhanges überführt werden. Dort, wo sich Belege für ethnologische Klischees finden, lassen sie sich – bei aller durchgehenden Betonung klimatisch-historischer Individualität und Bindung – potentiell unendlich wiederaufrufen, ohne dass ein Bemühen der jeweiligen Quelle weiterhin vonnöten wäre. 4.1.3 Er, Sie, Es Recht variable Entitäten werden in Abstufung der Konkretion über die dritte Person Singular angesprochen. Diese Abstufung reicht von der Nennung einer Person der Geschichte – etwa „Julian“ (46)14, „Luther“ (58/59)15, „Bossuet/Bourdaloue“ (76f.)16, „Montesquieu“ (88 u. ö.)17 – über die verallgemeinernde Ansprache eines 13 Zitate: a. O., S. 82f. Hier rufen mehrere (zeitgenössische) Parteien aus, wie oder als was sie die Geschichte verstehen. Bei diesen Einschätzungen handelt es sich bereits um Zitate, die hier in einfachen Anführungszeichen wiedergegeben werden. 14 Dabei erweist sich „Julian“ als vorausschauender Dramaturg eines „sehenswürdige[n] Schauspiel[s]“. „Das sahe Er und Jedermann! – […] – das sahe Er ebenfalls!“ Der Versal steht für die Hypostasierung des Prophetischen ein: „Julian“ ist als Herrscher nunmehr nicht nur eine Figur der Geschichte, sondern ihr Akteur. Zitate: a. O., S. 46. 15 A. O., S. 58: „Alle eure große Kirchenversammlungen, ihr Kaiser! Könige! Kardinäle und Herren der Welt! werden nimmermehr nicht ändern, aber dieser unfeine, unwissende Mönch, Luther solls ausrichten! […] Wie oft waren solche Luthers früher aufgestanden und – untergegangen.“ „Luther“ wird mit „ihr“ („eure“) kontrastiert. Durch dessen Pluralisierung verstärkt sich sein Aufbau als herausragende Persönlichkeit noch, insofern selbst jene Vervielfältigung wirkungslos blieb – so behauptet er sich doppelt (historisch sowie intellektuell) gegenüber einem Plural an Macht. 16 Diese Nennung fokussiert zwei merkwürdige (bei Voltaire erwähnte) Erfinder; einmal den kreativen Umgang „Bossuet[s]“ mit der „Geschichte“: „Bossuet erfand eine Geschichte, ganz Deklamation und Predigt und Jahrzahlregister“. Die Kopula erzeugen in dieser Gattungsmischung einen eigentümlichen Widerspruch, da sie das konstatierte „ganz“ aufweichen. Ein weiteres Mal: „Bourdaloue erfand seine Redegattung“. Beide waren als Prediger mithin Rhetoriker, während Herder sich nur im Falle Bourdaloues primär auf dessen rhetorischen Erfolg bezieht. Zwar handelt es sich eher um eine franko-
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Berufsstandes – der „Philosoph“ (62/81)18, „der arme Spitzbube“ (79)19, der „Arzt und Menschennaturkenner“ (92)20, der „Autor“ (65)21, der „Theologe“ (66)22 – bis hin zur Anrede des als Einzelexemplar die gesamte Gattung oder ein Zeitalter repräsentierenden Menschen (65/83f.!)23; „der Grieche“ (39). Somit entfaltet die personale Ansprache bereits eine enorme Bandbreite. phobe Karikatur, dennoch werden mit dieser Nennung Praktiken der Gattungsbildung, -mischung und -überschreitung problematisiert. Ebd., S. 76. 17 Die Auseinandersetzung mit dem Thema Kompilation wird hier fortgeführt, besonders unter den Aspekten von (möglicher) Übersicht und Auswahl: „Vorarbeiten gnug; […] Wir haben unser jetziges Zeitalter fast aller Nationen, und so die Geschichte fast aller Vorzeiten durchkrochen und durchwühlt, ohne fast selbst zu wissen, wozu wir sie durchwühlt haben. Historische Fakta und Untersuchungen, Entdeckungen und Reisebeschreibungen liegen da: wer ist, der sie sondere und sichte?“ (a. O., S. 88). Mit den späteren „Ideen“ beantwortet sich Herder diese Frage gewissermaßen selbst. Die Rede über Montesquieu – der zum Abschluss der Passage zum Schlagwort avanciert („Montesquieu!“) – verknüpft sich in Herders Inszenierung mit dem uneigentlichen Zitieren, einer Anführung ohne Quelle, aber mit Einbettung eines direkten Titel-Zitats, dem „Geist der Gesetze“. Der Abschnitt rezensiert Montesquieus Hauptwerk, das seinen Autor übersteigt. „Montesquieus edles Riesenwerk hat nicht durch eines Mannes Hand werden können, was es sein sollte.“ Gleichermaßen auf das zuvor verhandelte Problem der Quellenvielfalt und Kompilation Bezug nehmend, wirft Herder dem Autor nicht allein sprachlichen „Taumel“ vor. 18 A. O., S. 61f.: Hier findet ein shift vom „man“ über „Er“ und den Imperativ Plural („gebts“) zum „Philosophen“ statt. S. 81: Ein „Gemeiniglich“ leitet die Charakterisierung ein, sie erreicht ihren Höhepunkt im „ich“, mit der wörtlichen Rede des Philosophen. Danach bannt ein vierfaches einräumendes „Bedachte nicht“ (S. 81f.) die emphatische Selbstüberschätzung. 19 Im modernen Staat „besoldet“. A. O., S. 79. 20 Die Auslassung des Artikels erfüllt semantische Funktion, wird der Arzt doch zu „Gott, Entdecker und Heiland dem Siechen […]“. A. O., S. 92. Die gehäuft asyndetische Struktur poetisiert den Text rhythmisch, die Syllepsis (oder auch das Zeugma) gehören zu den generellen Merkmalen des Textes. Diese rhetorischen Figuren erfüllen für Herders Stilanalyse tragende Funktion. 21 Er gehört zu den „Mittel[n]“ „der Bildung“, a. O., S. 65. 22 Die theologische Einstellung zeichnet sich durch allgemeinmenschliche Vergesslichkeit aus. Siehe a. O., S. 66: „[…] lernet, weiß, beweist und vergißt: – zu den Theologen werden wir alle von Kind auf gebildet.“ 23 A. O., S. 65: „Ein Mensch“; S. 83: „Der aufgeklärte Mensch der spätern Zeit“. Zuvor: emphatische an ein „du“ gerichtete Passage, in der es um die Frage geht, wie sich „Weltall“ und „Geschichte des menschlichen Geschlechts“ für das „du“ darstellen (S. 82f.).
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Noch häufiger und vehementer werden abstrakte (geschichtsmetaphysische) bzw. theologische Größen angesprochen: sie, „die gute Mutter“ (39, d. i.: Mutter Natur, K.K.), die „Vorsehung“ (42-46), es, das „Schicksal“ (53, 57f.24, 86f.25), er, Gott, der „Hirt der Völker“ (74)26, der „Schöpfer“ (105 u. ö.)27, „Allenker[ ]“ (87)28; Auf die Belehrung des „du“ folgt ein Übergang zum – langsam auch verzweifelnden, sich dann aber gerade noch über dem „Abgrund“ fangenden – „ich“. In diesem Passus zur Frage der Repräsentierbarkeit werden die vielschichtigsten Sinnesleistungen mit thematisiert – es geht um die Darstellungs- („Wellen“, „‚Bauplan […]‘“, „Wohnhaus“, „‚Gottesgemälde‘“, „Dekoration“, „Auftritte“, „‚unendliches Drama von Szenen! […]‘“, „‚[…] Epopee Gottes […]‘“, „‚[…] tausendgestaltige Fabel […]‘“, „Allanblick“, „Zusammenwelt“, „Folgewelt“, „Drama“, „Labyrinth“, „‚Pallast Gottes, […]‘“, „‚[…] Lustanblicke […]‘“, „Abgrund“) und die Wahrnehmungsmodi („sehe“, „ohne Namen“, „voll Namen!“, „voll Stimmen und Kräfte!“, „fühle“, „tönt“, „Schalle“, „höre“, „weiß“, „Lobgesang“, „Menschenohr“, „verdrüßliches Stimmen von Mißtönen“) von „Geschichte“ und „Welt“ (S. 82f.). Zur metaphorischen Koexistenz und Verwandlung der Wahrnehmungs- und Darstellungsmodi ineinander sowie der Verschiebung der Sprechinstanzen (hier vom „du“ zum „ich“) treten (voneinander abweichende) Modi des Zitierens noch hinzu: So handelt es sich bei den vorgeschlagenen Repräsentationsmodi um vermeintliche (uneigentliche) Zitate. Zuletzt möchte „[d]er aufgeklärte Mensch“ selbst zum „[…] Repräsentant des Zwecks der Komposition in allen Szenen!“ werden, vgl. S. 83f. Metaphorik der Kunst leistet hier eher die Dissoziierung der Standpunkte und Akteure, dient nicht der Konzentration auf ein über sein Werk verfügendes Subjekt. 24 „blindes Schicksal“ (a. O., S. 57), „großes Schicksal!“, „Zufall, Schicksal, Gottheit!“ (S. 58) Aus der anfänglichen Geworfenheit („was die Dinge warf und lenkte“, S. 57) wird Überdeterminierung, Bedeutsamkeit von Allem: „Alles ist großes Schicksal!“ (S. 58). Vom Menschen dennoch nicht nachvollziehbar, wird alles gleichbedeutend mit „Zufall“ oder „Gottheit“. 25 „– Schicksal! –“ als Exklamation, als Abschluss von Fragen und Hypothesen. „Das Schicksal rief sie […]“: biblischer Anklang („Weinberg“), der auf eine festgelegte Ordnung hinweist. Die Hypothesen entlarven sich als „Träume!“ (u. f., a. O., S. 86f.). „Weg des Schicksals“ entspricht der Linearität der Bildung, in der weder Rückschritt noch Wiederholung stattfinden („kann der heutige Tag der gestrige werden?“). Wiederholung bzw. Modifikation der Wendung vom „Gang Gottes unter die Nationen […]“ (S. 87) bzw. Vorwegnahme? Vgl. S. 88: „‚Gang Gottes über die Nationen! [...]‘“. Bei der ersten Nennung (schon) kursiv, nicht als uneigentliches Zitat wie beim zweiten Mal. 26 Allerdings übertragen für „großer Gott Mammon“ (a. O., S. 74), ein imperialistisches Handelssystem. 27 Einige Synonyme fallen: „Gottheit“, „Gott“, „[…] der erste und einzige Handler, der Schöpfer!“ A. O., S. 105. Unter dem Aspekt des Handelns nimmt der Text moralphilosophische Kritik auf, welche sowohl auf den Utilitarismus als auch auf Kant zu münzen wä-
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dies sind nur einige typische Beispiele. Extrempole dieser Variationsbreite bilden die reine Schlagwortreihung, welche verschieden konkrete dritte Personen umfasst (97-99), sowie das unpersönliche es29, das Ursache-Wirkungsverhältnisse außer Kraft setzt und dabei (lediglich) als normative Setzung fungiert: „[e]s sollte nicht!“ (86); „[d]aß sich die Begriffe von menschlicher Freiheit, Geselligkeit, Gleichheit und Allglückseligkeit […] verbreiten, ist bekannt“ (97); „[...] es wäre schlimm, [...]“ (100!); u. ö. Häufig gehen er, sie und es Verbindungen mit anderen Sprechweisen ein. Sofern allgemeine Größen nicht geschichtsmetaphysisch oder religiös besetzt sind, driften sie bisweilen in die direkte Anrede des du über. Sie, die „Neigungen“ (50)30, er, der „Geist des Jahrhunderts“ (50)31, der „‚einzelne[ ] Zustand der Welt!‘“ (51)32, die „Werke des Geistes und des Genies aus diesen Zeiten“ (55), die „Philosophie“ (62f.), die „höchste Tugend“ (73), das „Werk ohne Namen“ (83), „Jahrtausende“ (84), „Menschengeist“ (85), die „Bildung“ (87), die „stärksten notwendigsten Grundplätze der Menschheit“ (98), „Inhalt fürs Ganze der Menschheit“ (102) – alle re, insofern die Unüberschaubarkeit von Handlungen deren Motivierung unkenntlich mache. 28 Nahezu materialistischer historischer Ansatz, der auf methodischem Einsatz von Vorhandenem beruht. Als „Allenker[ ]“ erweist sich selbst Gott als Technokrat. Vgl. a. O., S. 86f. 29 Ich schreibe die personalen Pronomina klein, weil ich mich auf ihre deiktische Funktion beziehe. Nur kleingeschrieben entfalten sie dezidiert ihre vereinnahmende rhetorische Wirkung. Ihr Auftreten in Herders Text entspricht dem in der Regel. Mit Anführungszeichen versehe ich sie nur, insofern sie direkt einem Zitat aus Herders Text korrespondieren. 30 „[…] eine Mischung von hohen Begriffen und Neigungen […]“; „‚Inbegriff aller der Neigungen, […]‘.“; „Väterliche Neigungen“; „orientalische, römische, nordische, saracenische Begriffe und Neigungen!“ Das Nebeneinander der Neigungen (und Begriffe) mündet in einen auflösenden Zusammenfluss, der Herkunft oder Ursprünge eher verschleiert als nachvollziehen lässt. So entsteht das Mittelalter „– zwischen Römern und uns – als Gespenst, als romantisches Abenteuer […]“, das „dasteht“, zu dem der Zugang jedoch verstellt ist (a. O., S. 50). 31 Der „Geist des Jahrhunderts“ – nämlich des Mittelalters – prägt selbst Varianten aus: „Wunder des menschlichen Geists“; „[…] Geist, der ihn belebte und band“ („de[n] gothische[n] Körper“, K.K.); „[…] verschiedne[ ] Perioden des Geists der mittlern Zeiten […]“; „gothischen Geist“; „Der Geist des Jahrhunderts“; „Geist ‚der nordischen Ritterehre‘“. Jedoch lassen sich die verschiedenen „Neigungen“ keineswegs in „Perioden des Geists“ auflösen, sondern Neigungen und Geist stehen gespenstisch in ihrer Mannigfaltigkeit für die Nachwelt da, das Mittelalter lässt sich nicht linear lesen (a. O., S. 50). 32 Mit der fiktiven Zitierung erhebt Herders Text diese Conclusio zum Schlagwort.
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diese Abstrakta haben eines gemeinsam: Sie stehen in ihrer Unpersönlichkeit und Formelhaftigkeit an der Grenze zur direkten Verfügung, werden dann zu Instanzen, die man persönlich ansprechen, an die man appellieren kann.33 Dabei setzt sich die Tendenz der Erweiterung einer Sprachfunktion um weitere durch, welche Auswirkungen auf die Entwicklung des (im Text) umstrittenen Begriffs oder Sachverhaltes hat. 4.1.4 Der Philosoph Angesichts der Aufgabenstellung des Textes, „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ beizutragen, tritt die Rede über den bzw. mit dem Philosophen besonders hervor. Zunächst wird der Philosoph als Figur des Lächerlichen inszeniert, karikiert, seine höheren Ziele werden verspottet. „Ein Geschäft auf der Welt, wollt ihrs übel besorgt haben, so gebts dem Philosophen! Auf dem Papier wie rein! wie sanft! wie schön und groß; heillos im Ausführen! bei jedem Schritte staunend und starrend vor ungesehenen Hindernissen und Folgen.“34 Der Philosoph ist praxisfremd, entweder zu sanftmütig35 oder „[g]emeiniglich [...] alsdenn am meisten Tier, wenn er am zuverlässigsten Gott sein wollte: so auch bei der zuversichtlichen Berechnung von Vervollkommung der Welt.“36 Sein Größenwahn gipfelt schließlich in ungebrochener Selbstdarstellung. „‚Sehet zu solcher Aufklärung, Tugend, Glückseligkeit ist die Welt gestiegen! ich, hoch auf dem Schwengel! das goldne Zünglein der Weltwaage: sehet mich!‘“37 Er geht ins „ich“ über, kulminiert im „mich!“. Insofern Herder dem Philosophen der Aufklärung seine Stimme verleiht, ihn zur Sprache kommen lässt, kritisiert er einen markanten Gestus der Aufklärung: ihre achronische Hybris, sich selbst als Endpunkt zu setzen, nach dem lediglich etwas folgen kann, das in ihrem Geiste operiert. Ob dieser Zustand auf anschließenden Stillstand oder Progression abzielt, bleibt dahingestellt. Wo der Philosoph sich prominent – auf Höhe seiner Zeit – zu Wort meldet, verfehlt er die Sachen am meisten. Zu viele Einzelwirkungen bleiben unbedacht.38
33 Vgl. dazu: Dominique Maingueneau, Linguistische Grundbegriffe zur Analyse literarischer Texte, übers. u. bearb. von Jörn Albrecht, Tübingen, 2000. S. 21. „Die Zeit, die Sonne, das Schicksal, ein Wort – so gut wie alles kann zum Sprecher in einem literarischen Text werden.“ Und reziprok zum Adressaten. 34 Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 62. 35 A. O., S. 59. Bemerkenswert ist hier der offenbare Vorzug der gewaltsamen Revolution vor der Reformation. Sie gewährleistet die Freisetzung von (wenn auch aggressiven) Kräften, welche die papierene Ausführung nicht aufbringen kann. 36 A. O., S. 81. 37 Ebd. 38 A. O., vgl. S. 81f.
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Dennoch finden sich auch positive Inblicknahmen des Philosophen an sich, den es in dieser kategorialen Wendung gar nicht geben dürfte. So bindet ihn syntaktische Nähe an den „Menschenfreund“.39 Auf den ersten Blick unterscheiden sich das Ansprechen des Philosophen und die Charakterisierung seiner philosophischen Tätigkeit (in dritter Person) kaum von seiner direkten Adressierung als du.40 Trotz aller Kritik an der exponierten Stellung der Aufklärungsphilosophie äußert der Text den Wunsch zum Dialog und gesteht die historiographische Notwendigkeit einer epistemisch ausgezeichneten Position zu, was seinen Ausdruck in persönlich gehaltenen Anreden findet. „– Philosoph, willt du den Stand deines Jahrhunderts ehren und nutzen: das Buch der Vorgeschichte liegt vor dir! mit sieben Siegeln verschlossen; ein Wunderbuch voll Weissagung: auf dich ist das Ende der Tage kommen! lies!“41 Der Appell an die Lesefähigkeit des Philosophen lässt sich um den des Schreibens erweitern. Im Anschluss an die skeptische Beleuchtung der Möglichkeit, ob Dinge wiederholt42 auftreten können, entwirft Herder trotz aller Vorbehalte einen Sokrates der neueren Zeit, an dem sich eine Ethik des Lesens und Schreibens explizieren lässt. Obgleich Sokrates als feststehende historische Größe vorkommt (als er), weisen seine Wesenszüge Variabilität auf, die sich entfaltet, sobald man sich persönlich an ihn wendet.43 „Du kannst, Sokrates unserer Zeit! nicht mehr wie Sokrates würken: [...]. Aber siehe! wenn du wie Sokrates handelst, demütig Vorurteilen entgegen strebest, aufrichtig, menschenlie39 Siehe a. O., S. 103. 40 Vgl. etwa a. O., S. 54, wenn er folgendermaßen angesprochen wird: „und du glänzender Philosoph ja allem auf den Schultern!“; „schönes Gemälde“ steht hier bereits ironisch für die geordnete überblickshafte Repräsentanz ein. 41 A. O., S. 85. Dass es sich beim so Angesprochenen um einen Philosophen der Aufklärung handelt, darauf deutet die Selbsteinschätzung des eigenen Zeitalters. „Ist unser Zeitalter in irgend einer Absicht edel nutzbar, so ists ‚seine Späte, seine Höhe, seine Aussicht‘!“ (S. 84) Dass mit dem „mit sieben Siegeln verschlossen[en]“ „Buch der Vorgeschichte“ „die Bibel!“ gemeint ist, bekräftigt die Fußnote. Markanter als der theologische Anklang tritt der Gedanke hervor, dass derjenige, der eine zeitlich exponierte Stellung innehat, am Ende zu stehen meint, eine ausnehmende Lektürefähigkeit besitzt: betreffe sie die Bibel oder die Geschichte. Diese Einschätzung qualifiziert Geschichtsphilosophie als „Posthistoire“. Vgl. dazu Ralf Simon, „Apokalyptische Hermeneutik. Johann Gottfried Herder: Maran Atha, Geschichtsphilosophie, Adrastea“, in: Herder Jahrbuch, hg. v. Hans Adler, Wulf Koepke u. Samson B. Knoll, Stuttgart/Weimar, 1998, S. 27-52, S. 28, bes. S. 37, S. 38f. 42 Vgl. Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 90f. 43 An eine seiner wiederkehrenden Erscheinungen.
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bend, dich selbst aufopfernd Wahrheit und Tugend ausbreitest, wie du kannst – [...]! Dich werden hundert lesen und nicht verstehen: hundert und gähnen: hundert und verachten: hundert und lästern: [...]. Aber bedenke, noch vielleicht hundert überbleiben, bei denen du fruchtest: wenn du lange verweset bist, noch eine Nachwelt, die dich lieset und besser anwendet. Welt und Nachwelt ist dein Athen! Rede! Welt und Nachwelt! Ewiger Sokrates, würkend und nicht bloß die tote Büste mit Pappellaube bekränzt, wie wirs Unsterblichkeit nennen!“44
Trotz historisch gebotener Skepsis schält sich eine sokratische Denkart heraus, welche auf ein intellektuelles Verhalten verpflichtet, in dem sich pragmatische und epistemologische Dispositionen ausdrücken. Beide Weltzugänge sind jedoch dezidiert moralisch imprägniert, der sokratische Denker bleibt in erster Linie Moralphilosoph. An (den reproduzierten) Sokrates ergeht die Forderung zu handeln, da sein Denken sich nicht in reiner Theorie erschöpfe. Seine pragmatische Ausrichtung ziele – so die historische Vorbildfiktion – auf die Kommunikation mit anderen Menschen, deren Tugend und Wahrheitsfähigkeit es zu wecken, zu befördern und zu erhalten gelte. Strebt das Einfordern von Wahrheit jedoch Vorurteilen entgegen, dann entwickelt dieses Streben Eigendynamik. Demütiges Entgegenstreben impliziert keinen aggressiven Akt, wie ihn etwa die Vorurteilsbekämpfung durchführen würde. Demut wäre nicht zuletzt als Reaktion auf den aufklärerischen Gestus der respektlosen Hinterfragung der Dinge zu üben, welche eine enthaltsame Einstellung erforderten (hier tlw. religiöse Belange). Etwas oder jemandem entgegenzustreben führt nicht zwangsläufig ablehnende Haltungen mit sich, sondern kann es (ihn) sogar als erstrebenswert fokussieren.45 Entgegenstreben präferiert eine sanfte Annäherung an altehrwürdige, dennoch zu kritisierende Gegenstände. Präsupposition dieser Denk- und Handlungsweise sei – so suggeriert der Text – die Menschenliebe. Obgleich die Verbreitung von Tugend und Wahrheit sich nicht zwangsläufig positiv auswirken müsse, umfasse sie dem Text zufolge die Aufopferung seiner selbst für andere.46 Die Prophezeiung des Unverständnisses gilt dabei nicht allein für die Zukunft, sondern trifft besonders auf die Zeitgenossen zu. Jedoch wagt der Text den Ausblick auf Zukunft und Nachwelt, knüpft eine Bindung an eine Welt, der Sokrates selbst gar nicht mehr angehört.
44 Ebd. 45 Vgl. hierzu die positiven Einschätzungen des Vorurteils, a. O., S. 39f. Vgl. Godel, Vorurteil – Anthropologie – Literatur, a. O., Kap. 5.1, S. 214-243. 46 Dieses Konzept scheint weniger sokratisch als theologisch. Sokrates opfert sich nicht auf, indem er als Hebamme tätig wird, seine Mäeutik ausübt, sondern leistet Hilfestellung, während der Theologe oder religiöse Mensch sich in seiner Mission (wie Jesus) aufopfern könnte, indem er die Bürden der anderen auf sich nimmt.
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Für den vielfach Unverstandenen besteht Hoffnung in der kompensatorischen Rezeption durch die Nachwelt. Neben vielen Unverständigen lassen sich dort ein paar Verständige antreffen. Sowohl verstehendes als auch adaptives Lesen sind in Zukunft möglich, was sogar die bessere Anwendung des einst Intendierten gewährleistet. Mit absoluter Sicherheit tritt diese Wirkung zwar nicht ein. Kennzeichnend für die sokratische Verbreitung ist hingegen der sich auf räumliche Gleichzeitigkeit und zeitliche Nachwelt erstreckende Wirkungskreis, der im Falle des historischen Sokrates auf Athen eingeschränkt war. Die Tradierung über temporale Distanzen hinweg erzeugt zudem die Unsterblichkeit des Textproduzenten (auch im Sinne moderner Rezeptions- und Autorschaftstheorien zum Tod des Autors). Das Pathos einer konstanten, sogar optimierten Wirkung oder Ausdruckskraft steht einem Skeptizismus, der auf der singulären Existenz aller Vorkommnisse beharrt, zunächst entgegen. Als wuchernde, alles übertönende Prosopopoiia inszeniert sich dann auch die Kommunikation über die bzw. mit der Nachwelt – beides fällt in diesem rhetorischen Akt in eins – in der „Denkschrift auf A. G. Baumgarten“ sowie im „95. Humanitätsbrief“. Damit wäre sie als Zuspitzung des sokratischen Prinzips direkter Kommunikation zu begreifen.47 Durch die Prosopopoiia werden Lesen und Hören (Sprechen) zu austauschbaren Prozessen. Stimmen wiederum erzeugen stumme Bilder – beides Artefakte des Lebendigen. Die unvollständige Repräsentation löst sich durch das Versprechen der Wiedergänger auf. Mit dem Zusammenfall von Vergangenheit und Zukunft kollabiert ein chronologisches Zeitverständnis. „Ich lese, wie wenn ich Stimmen hörte aus den Gräbern. Ich höre ihre Stimmen, wie wenn ich ihr Bild vor mir sähe.“ Aber nicht allein der lesende Vollzug vollzieht sich, als ob man Stimmen hörte. Bevor die produktive Rezeption (Bildwerdung) überhaupt einsetzt, wurde der Imperativ des Schreibens bereits stimmlich internalisiert – als Imperativ der Tradition: „‚Schreibe!‘ sprach jene Stimme und der Prophet antwortete: für wen? Die Stimme sprach: ‚schreibe für die Toten! für die, die du in der Vorwelt lieb hast.‘ – ‚Werden sie mich lesen?‘ – ‚Ja: denn sie kommen zurück, als Nachwelt.‘ – “48 47 Eine Fiktion, die bereits Platons Dialoge zu erzeugen suchen. Die direkte Kommunikation wird aufbehalten, indem er sie aufzeichnet. Letztlich entlarvt sich auch diese Konservierung als verschriftlichte Konvention. Platon zeichnet nichts auf, sondern inszeniert den Dialog durch Merkmale seiner Gattung. 48 Johann Gottfried Herder, Entwurf zu einer Denkschrift auf A. G. Baumgarten, J. D. Heilmann und Th. Abbt, in: FHA 1, Frühe Schriften 1764-1772, hg. v. Ulrich Gaier, Frankfurt am Main, 1985, S. 677-681, S. 678, („Hülle“, S. 679). Bemerkenswert ist dieses Verfahren, da es ausschließlich auf Lektüre beruht und dennoch so weit führen kann. Herder habe die drei „nicht gekannt“, „nie Briefe gewechselt“ und von ihnen auch „mündlich nichts gelernt“. Vgl. a. O., S. 677. Diesem Bekenntnis zufolge suggeriert sich
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Um jene übergreifende Wirkung erzielen zu können, sind weitere Faktoren zu berücksichtigen. Wirksamkeit stellt sich allein über Lebendigkeit her, die aus unmittelbarer Rede resultiert. Über die (implizite) Einforderung von Lebendigkeit schreibt sich Herder in den ästhetischen Diskurs seiner Zeit ein (vgl. dazu das Kapitel „Lessings Laokoon“). Daher ergeht an den modernen Sokrates der Appell, jetzt zu reden: situativ und räumlich gebunden. Die unmittelbare, temporal verankerte Rede erzeugt Situativität, welche rezeptiv allenfalls über die retrospektive sowie antizipierende Imagination der Leser und des Schreibenden einzuholen wäre – unter Umständen als Identifikation mit Sokrates. Ihre Tradierung in ferne Zukunft schließt situative Rede eigentlich aus. Für Konservierung eignet sich Standortgebundenheit nicht. Dennoch überlebt Tradition nicht ohne das Konstrukt ihrer ursprünglichen, erfrischenden Unmittelbarkeit. Zur Illusion gehört, dass durch die eigene Stimme des Anderen – ich als appelliertes du rede wie Sokrates – die Stimme des historisch Anderen spräche. Für die auf sprachlicher Wirksamkeit beruhende Lebendigkeit steht konstruierte Situativität ein, die rhetorisch durch deiktische Ausdrücke wie du, sieh, hier usf. erzeugt wird. Die „Funktion“ der sogenannten „‚Verschieber‘“ oder „shifters“ „[...] besteht [darin], eine Aussage in die dazu gehörige Äußerungssituation einzugliedern.“49 Personale Deiktika sind verschiebbar, sie können „[...] erst durch die Sprechsituation selbst bestimmbar werden.“50 dieses Verfahren als adäquat im Umgang mit einer Geschichte, deren Protagonisten und Einzelheiten nicht hinlänglich bekannt sind bzw. die sich entziehen. Ausführlich dazu Andreas Herz: Eine Hermeneutik radikaler Vergegenwärtigung: Herders ‚Denkmäler‘, s. Andreas Herz, Dunkler Spiegel – helles Dasein. Natur, Geschichte, Kunst im Werk Johann Gottfried Herders, Heidelberg, 1996 [Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 146], S. 105-112 (daher auch die Herder-Zitate). Johann Gottfried Herder, 95. Brief, Siebentes Fragment: Schrift und Buchdruckerei, in: FHA 7, Briefe zu Beförderung der Humanität, hg. v. Hans D. Irmscher, Frankfurt am Main, 1991, S. 525-530, S. 530. Dieser inszenierten Totenrede widerspricht freilich nicht, dass das Verhältnis Baumgarten – Herder breit erforscht ist. Vgl. Salvatore Tedesco, „Baumgartens Ästhetik im Kontext der Aufklärung“, in: Alexander Gottlieb Baumgarten. Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus, hg. v. Alexander Aichele u. Dagmar Mirbach, Hamburg, 2008 [Aufklärung 20], S. 137-150, Christoph Menke, „Das Wirken dunkler Kraft. Baumgarten und Herder“, in: Baumgarten-Studien. Zur Genealogie der Ästhetik, hg. v. Rüdiger Campe, Anselm Haverkamp u. Christoph Menke, Berlin, 2014, S. 73-115, Hans Adler, „Was ist ästhetische Wahrheit?“, in: Schönes Denken. A. G. Baumgarten im Spannungsfeld zwischen Ästhetik, Logik und Ethik, hg. v. Andrea Allerkamp u. Dagmar Mirbach, Hamburg, 2016, S. 49-66. 49 Maingueneau, Linguistische Grundbegriffe, a. O., S. 17. 50 A. O., S. 19. Maingueneau geht mit den zwischen symbolischer und indexikalischer Funktion schwankenden „shifters“ auf Roman Jakobson zurück. Roman Jakobson, Shif-
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Allein der Standort in medias res, situative Teilhabe, würde offen legen, wer hier eigentlich spricht. Wenn jedoch weder situativer Kontext noch Bezugswort vorhanden sind, dann „[besitzt] [d]ie sprachliche Äußerung die erstaunliche Eigenschaft, diejenigen, an die sie gerichtet ist, durch ihre eigene Kraft heraufzubeschwören und in ein DU zu verwandeln.“51 Untrennbar ist die Anrede du mit der (hypothetischen) Intimität von Sender und Adressat verbunden. Wer mit du angeredet wird, hat Mitspracherecht, der Adressat ist „‚Mit-Sprecher‘“, Kommunikationspartner. Entweder muss die Anrede an ein tatsächlich vorhandenes du gerichtet oder aber phantasmagorisch heraufbeschworen werden. Lediglich ein ich vermag es, rein formal für sich selbst zu sprechen.52 Maingueneau kategorisiert diese Form der Einbeziehung in Texte(n) als „literarische ‚Pseudoäußerung‘“53, der zuzugestehen ist, dass sie funktioniert. „In Fällen, in denen ein indexikalischer Ausdruck nicht erklärt wird, neigt man zu der Auffassung, daß man sehen würde, was sich hinter diesem verbirgt, könnte man nur die beschriebene Szene beobachten oder die Gedanken der Personen lesen. Dabei vergißt man jedoch, daß die in der Fiktion dargestellte Welt durch eben diese Fiktion überhaupt erst ins Leben gerufen wird.“54
Gerade die scheinbare Ansprache des Lesers als du sowie die Verlebendigung stummer Größen durch direkte Anrede gehören Funktionen der Prosopopoiia an, die sich über die Verwendung deiktischer Ausdrücke wie Personalpronomina herstellen. Glückt die Prosopopoiia, dann gerät die sprachliche Referenzfunktion, das Bewusstsein über die „Pseudoäußerung“, in Vergessenheit. Nicht allein eine allgemeinmenschliche Ethik verpflichtet den offenen Adressaten als Sokrates der modernen Welt, sondern ihn bindet vor allem seine Schreibweise. „Was du schreibst, sollte Wort für Wort, Welt und Ewigkeit wert sein, weil du, (wenigstens Materialien und Möglichkeit nach) für Welt und Ewigkeit schreibest.“55 ters, Verbal Categories and the Russian Verb, in: ders., Selected Writings II. Word and Language, Paris, 1971, S. 130-147. 51 Maingueneau, Linguistische Grundbegriffe, a. O., S. 21. Das gilt nicht allein für potentielle dus, also für Menschen, sondern auch für Abstrakta. Siehe ebd., bereits zitiert. 52 Vgl. a. O., S. 19f. 53 A. O., S. 24. 54 A. O., S. 32. 55 Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 91. Eine spätere, damit dekontextualisierte, dennoch analoge Variante, die jene Ergebnis- und Adressatenoffenheit noch bestärkt, bietet – vielleicht als spätes Echo rezeptionstheoretischer Reflexionen – ein Zitat Edmund Hus-
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Die übersteigerte Vorstellung, durch ein schriftlich fixiertes Werk Unsterblichkeit zu erlangen, bescheidet sich auf die Verpflichtung gegenüber der Nachwelt, das Geschriebene redlich zu verfassen, um Lesbarkeit abzusichern.56 Abschreckend wirkt sich die Antizipation des Scheiterns aus, und sie entfaltet Konsequenzen für die Würde des schreibenden Selbst. „In wessen Hand kann deine Schrift kommen! im Kreise wie würdiger Männer und Richter solltest du reden!“57 4.1.5 Du – Dialogform Wie bereits erläutert, treten Übergangsstufen bestimmter Redeformen auf, wie oben geschildert, vom er, sie, es zum du. Unter diesem Aspekt schien es sinnvoll, Sokrates’ Anrede vorzuziehen (für weitere Anredeformen des du gilt prinzipiell Ähnliches). Ähnlich subtil wie das (noch) zu untersuchende wir verfährt das anrufende, dialogisierende du. Häufig wird jemand direkt angesprochen, es handelt sich um ein adressiertes du. Zusätzlich verknüpft sich diese Anrede in der Regel mit dem Appell, sich etwas vorzustellen: zu sehen. Funktional entscheidender als doppelte Lesbarkeiten des du – etwa als gegenwärtiges oder zukünftiges du – sind die Modi seiner Appellation sowie die Handlungen, zu denen es aufgerufen wird. Im Kontext der Reflexion über die Darstellbarkeit von Geschichte fallen diese heuristisch passend aus. Für Herders metahistoriographische Überlegungen entfaltet die Zwischenreflexion im „Erste[n] Abschnitt“ besondere Bedeutung.58 Sowohl sprachlichen als auch bildlichen Varianten der Darstellung schenkt diese Beachtung. „[…] ein ganzes Volk, Zeitalter, Erdstrich“ zu malen59, steht dem Zusammenfassen „als ein allgemeines Wort“ in nichts nach, übertrifft es jedoch auch nicht.60 Zu beiden Formen der Repräsentation muss ein drittes Moment hinzutreten, das eine annähernde Schilderung erst ermöglicht: das Gefühl. serls an: „Oder er hat geschrieben mit der unbestimmten Adresse, mag es lesen, wer es lesen mag, und mag es da wirken; er wirkt in das unbestimmte Menschenpublikum als Schriftsteller.“ Edmund Husserl, Probleme: ‚Übernahme (Tradition) und Urstiftung. Gedanken kollidieren nicht in der Intersubjektivität, aber Zwecke kollidieren eventuell‘ (Beilage XXVIII), in: Husserliana, Bd. XIV, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, zweiter Teil, hg. v. Iso Kern, Den Haag, 1973, S. 222-225, S. 222. 56 Redlich konnte laut Adelung so viel bedeuten wie „seiner Rede gemäß“, „rechtschaffen“, „ehrlich“, „rechtmäßig“. In der Bedeutung „vernünftig“ ist der Gebrauch dieses Adjektivs/Adverbs bereits im achtzehnten Jahrhundert veraltet. Adelung, Grammatischkritisches Wörterbuch, Dritter Theil, M-Scr, Sp. 1015-1016. 57 Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 91. 58 A. O.: „Erster Abschnitt“, I., S. 32-35. 59 A. O., S. 32. 60 Ebd.
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Das Zitat auf S. 32f. reißt mehrere Repräsentationsformen metapoetisch an, ein Schwerpunkt liegt auf der Metaphorik des Malens („gemalt“, „Gemälde“). Die Gemäldemetapher entpuppt sich in Herders „Ideen“ als Dreh- und Angelpunkt einer Poetik historiographischen Schreibens. Da die Frühschrift vehemente repräsentationale Skepsis äußert, könnte man von einer Rehabilitation der Gemäldemetapher in den „Ideen“ sprechen. Selbst wenn sie nicht für die Lösung des historiographischen Dilemmas einsteht, tritt sie als potente Reflexionsfigur ein und positioniert Herders Text in der ut pictura poiesis-Debatte (vgl. dazu die Kapitel „Gemälde-Metaphorik?“ sowie „Lessings Laokoon“). „Mattes halbes Schattenbild vom Worte! Das ganze lebendige Gemälde von Lebensart, Gewohnheiten, Bedürfnissen, Landes- und Himmelseigenheiten müßte dazu kommen oder vorhergegangen sein; man müßte erst der Nation sympathisieren, um eine einzige ihrer Neigungen und Handlungen, alle zusammen zu fühlen, ein Wort finden, in seiner Fülle sich alles denken – oder man lieset – ein Wort.“61
Vielschichtige Repräsentationen gewährleisten die Verfügbarkeit ihres Gegenstandes besser, als sie allein mithilfe der Sprache und bildlicher Vorstellungen durchgesetzt werden kann. Das Gefühl allein ermöglicht diesen Zugang nicht, sondern es gehört einem Ensemble mehrerer imaginativer Techniken an. Zwischen Anlagen, Möglichkeiten und „[...] ‚dem ganzen Gefühl des Seins, der Existenz in solchem Charakter‘ [ist, K.K.] – Kluft!“ Um diese „Kluft“ zu überwinden, bedarf es der Erhebung. „Ganze Natur der Seele, die durch alles herrscht, die alle übrigen Neigungen und Seelenkräfte nach sich modelt, noch auch die gleichgültigsten Handlungen färbet – um diese mitzufühlen, antworte nicht aus dem Worte, sondern gehe in das Zeitalter, in die Himmelsgegend, die ganze Geschichte, fühle dich in alles hinein – nun allein bist du auf dem Wege, das Wort zu verstehen; nun allein aber wird dir auch der Gedanke schwinden, ‚als ob alles das einzeln oder zusammengenommen auch du seist!‘“62
Zu den imaginativen Techniken zählen herrschen, modeln und färben sowie ein Hinab- oder sich Hinaufbegeben. Alle Momente wirken (in ihrer speziellen Reihenfolge) am Projekt des Mitfühlens, das in ein Hineinfühlen mündet, mit. Zur malenden („färbet“) gesellt sich hier die plastische („modelt“) Metapher, erweitert das Spektrum der bildenden Kunst. Am Ende des Einfühlungsprozesses steht der epistemische Akt einer Deintellektualisierung, der den „Gedanke[n] schwinden“ lässt, aber sprachliche Eindeutigkeit (Wortverständnis) herstellt. Der Appell der 61 A. O., S. 33. 62 Zitate: ebd.
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Einfühlung ebnet den Weg zum Verständnis des Wortes. Dennoch besteht die Gefahr der identifikatorischen Übertragung auf das eigene Empfinden und der fehlgehenden Selbsteinschätzung. Gerade gelungene Einfühlung vollzieht den Schritt der Selbstapplikation nicht mit. Einfühlung in den historischen Gegenstand verwandelt den Teilhabenden nicht selbst in ein ähnliches Phänomen der Geschichte. Wie könnte jene Kulturtechnik dann aber verfahren? Wie erreicht sie das Fremde und überträgt es auf das Eigene oder projiziert das Eigene auf das Fremde? Findet zwischen Fremdem und Eigenem eine Rückkopplung statt, sodass sich das Fremde auf das Eigene auswirkt? Das grundlegende Paradox der Einfühlung liegt im Versuch, eine von sich selbst entfremdende Perspektive einzunehmen, die in der Einfühlung immerzu leugnen muss, dass sie eigentlich nur über sich selbst und nichts außer sich verfügt. Im Akt ihrer Selbstveräußerung meint die Einfühlung jedoch, etwas dezidiert Anderes zu erfassen. Glückt dieser Akt zu reibungslos, entsteht der Eindruck, das Fremde gehöre ursprünglich zum Selbst, als wäre es immer schon da (im Grunde als das von sich selbst entfremdete Eigene). Erkenntnistheoretisch lässt sich dieses Phänomen gut nachvollziehen. Gelungenes Einfühlen dimensioniert seinen Gegenstand nach eigenen Strukturen und Kategorien, sodass er in ein hinlänglich bekanntes Schema passt, da es die eigene Wahrnehmung – so die transzendentale Präsupposition – von vornherein leitet. Somit sorgt Einfühlung dafür, sich alles anzugleichen, es analog zur eigenen (inneren) Erfahrungswelt zu denken. In diesem Fall trifft Herders polemischer Vorwurf, der vollzieht, was er beklagt, als direkter Appell zu: „du alles zusammen genommen? Quintessenz aller Zeiten und Völker? das zeigt schon die Torheit!“63 Mit der dialogischen Annäherung gewährleistet dieser Anruf zugleich strategische Distanz: handelt es sich doch um ein du, dem man gegenübersteht und dessen Ansichten man nicht teilt. Im Entwurf träte das „du [...] zusammen genommen“ selbst als Repräsentant der historischen Vermengung auf: als im chemischen Prozess auf ein Wesentliches geronnenes, reduziertes Destillat („Quintessenz“). Trotz programmatisch zulässiger Einfühlung propagiert der Text einen geregelten Umgang mit dieser Technik. Zwar bildet die Äußerung, dass „[n]iemand in der Welt [...] die Schwäche des allgemeinen Charakterisierens mehr als ich [fühlt]“64, einen deutlichen Kontrast zur Festlegung von Nationencharakteren – Charaktere, die einer bestimmten Volksgruppe angehören, über welche die Gruppe sich definieren und identifizieren lässt. Dennoch tritt das Charakterisieren als (Mnemo-) Technik im Umgang mit (die eigene Leiblichkeit überschreitenden) umfassenden Gruppen ein.65 Gruppenidentitäten stiften sich nicht allein über emotionale Ver63 Ebd. 64 A. O., S. 32. 65 Vgl. dazu das Verfahren in Kants „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ sowie in Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“.
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bindlichkeiten, sondern komplettieren bloß dasjenige, was „[a]llein Data ihrer Verfassung und Geschichte [...] entscheiden [müssen].“66 Herder betont die Differentialität von Geschichte, die aus einzelnen Data besteht, dem Nationencharakter wie der jeweiligen Verfassung jedoch gleichermaßen angehört. Offensichtlich erfüllen diese historisch (erst) gewordenen Details gründende Funktion. Mehr noch als auf ihre politische Ordnung bezieht sich die Verfasstheit einer Nation etwa auf deren Geographie oder ihr Klima. Viel stärker lässt sich diese Tendenz dann an den „Ideen“ ablesen. Zu den Paradigmen dieser Staatenbildung gehört jedoch auch eine syntagmatische, diachrone Ebene. Einzelheiten verknüpfen sich zur Geschichte oder bilden zumindest Teile von ihr. Gilt es also, den vormaligen Erlebnischarakter von nachträglich stillgelegten Data in der Einfühlung zu verlebendigen, sodass man ein vergangenes Gefühl nachholt oder wiederholt? Bei der Einfühlung handelt es sich letztlich weniger um die Evozierung eines Gefühls, sondern um einen Prozess vieldimensionaler künstlerischer Eingriffe (malen, färben und modeln) und imaginativer Ortswechsel, die zugleich Annäherung sowie Distanzierung gewährleisten (das „Zeitalter“, in das man eintauchen, die „Himmelsgegend“, von der aus man alles überblicken kann). Detaillierung stellt sich als Effekt von Einfühlung ein, kennzeichnet aber zugleich (intellektuellen) Abstand, der zumindest sprachlich fassbar bleibt. Intellektuell und kulturell unterscheidet Herder zeitlich und räumlich voneinander abgegrenzte Volksgruppen eindeutig. Wie sich diese Differenzierung für das (zugegeben vage) Gefühl gestaltet, bleibt offener. Über das Argument der Lebensalteranalogie – später stelle ich heraus, dass die Allegorie die Analogie ablöst – erhält sich eine anthropologisch basale gefühlsbetonte Weltwahrnehmung: „Kindheit des Geschlechts wird auf Kindheit jedes Individuum würken: der letzte Unmündige noch im ersten Morgenlande geboren! – “67 Wenn das Morgenland vom jüngsten Lebensalter des Knaben repräsentiert wird, der sich (metonymisch für die Menschheitsepoche) in patriarchalischer Sicherheit wiegt, dann teilt die Kindheit ontogenetisch ebensolche ursprünglichen Gefühle. Geleitet wird das Kind also durch ein natürliches Gefühl, das es (eigentlich ihn) sein frühes Leben rein instinktiv vollziehen lässt. Mit der Analogisierung erhalten sich Reste einer Lebensbasis – ungeachtet dessen, wie stark sie (etwa) durch Profanierung der Religion als ursprünglich poetischer Kraft abgetragen wurde. Dennoch wiederholt sich hier (ähnlich wie bei der selbsterzeugten Tilgung der Gegenwart über transtemporale Kommunikation) die Versetzung des Vergangenen als Gegenwärtiges – entweder taucht das Morgenland fortwährend wieder auf oder jedes Individuum durchläuft den langen Prozess einer
66 Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 33f. 67 A. O., S. 85.
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rekurrenten Menschheitsgeschichte. Primär trägt die Zwischenreflexion also metahistoriographische Bedenken bezüglich der Repräsentierbarkeit von Geschichte aus. Ein gangbarer Ausweg aus der Misere der (das Andere) verstellenden Vergegenwärtigung vollzöge sich über (fingierte) extrapolierte Stellungnahmen. Dem Menschen bleibt jedoch verwährt, „in das Zeitalter“ zu gehen – und kommt damit dem Emporheben in die „Himmelsgegend“ (meine späteren Analysen transformieren diese Lesart) gleich. Abstraktion unter Wahrung historischer Konkretion – ein paralleles Sehen ihrer vielschichtigen Einzelheiten – bliebe Gottes Fähigkeiten vorbehalten. „Schöpfer allein ists, der die ganze Einheit, einer, aller Nationen, in all ihrer Mannigfaltigkeit denkt, ohne daß ihm dadurch die Einheit schwinde.“ Dennoch „flimmert“ und „fackelt“ die Geschichte dem Menschen nicht vor Augen und präsentiert sich nicht durchgängig als „ein Gewirre von Szenen, Völkern, Zeitläuften“, sondern der Imperativ der Ordnung lautet: „lies erst und lerne sehen!“68 Fasst man das Gewirre als szenische Anordnung, etwa eines Trauerspiels, auf, so lässt sich die dazugehörige Rezeptionssituation leicht evozieren. Obwohl im Medium der Schrift verfasst, soll dieses Stück eigentlich nicht gelesen werden. Lesen dient allenfalls als Brücke, die Vorstellungskraft anzuregen, um die Bilder des Stücks vor dem inneren Auge entstehen zu lassen. Der vorliegende Text drängt folgendes Rezeptionsexperiment geradezu auf: Sofern alle kursivierten (leider differenziert die Klassiker-Ausgabe nicht zwischen Sperrung und kursiv) Wörter und alle eingeschobenen Zitate beim lauten Lesen betont werden, erzeugt sich ein recht pathetischer Eindruck. Fast hört man den Theologen Herder von der Kanzel deklamieren. Unter (hypothetischer) Einbeziehung seiner Zuschauer (Leser) führt Herders Text einen dialogischen Austausch vor: Die Antworten seiner Zuhörer wartet er jedoch kaum ab. Da es sich aber nicht allein um die Stimme des Predigers und die Einwürfe seiner impliziten Zuhörer handelt, sondern vielgestaltige Stimmen verlautbaren, entwirft der Rezipient imaginativ eher eine ganze Szenerie. Auf diese Weise konstituiert sich ein Interaktions-Zusammenhang, den zu beobachten ergreifend sein könnte. Die kreative Leistung besteht also nicht in der Implikation – der Vereinfachung oder Vereinheitlichung einer größeren und gröberen Handlungssequenz auf ein einheitliches Handlungsprinzip –, sondern zeichnet sich durch exzessive Explikation aus. Ein Agglomerat historischer Handlungszusammenhänge wird in seine(n) Einzelheiten entfaltet, jede dieser Einzelheiten erhält stimmlich ein Gesicht (eine Maske, persona), wird sichtbar. Wie Geschichten zur singulären Geschichte werden, Erzählen mit dem, was man Geschichte nennt, zusammenhängt, fächert der Diskurs über die (ästhetischen) Repräsentationsmodelle von Geschichte (das heißt hier u. a. der Prosopopoiia) auf. Erstens liegt Geschichte nicht allein verschriftlicht vor – der Imperativ des Lesens erfüllt lediglich eine Brückenfunktion. Zweitens lässt sie sich auch nicht abbil68 Zitate: a. O., S. 35.
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den – was man sieht, erschöpft sich nicht auf zweidimensionaler Leinwand. Die szenische Anordnung positioniert sich dazwischen: zwischen Schrift und Bild, zwischen Handlung und Zeigen – alles Andeutungen (Indizes), welche Handlung oder Emotion (als inneren Vorgang) implizieren, somit dem Zuschauer überlassen werden. Liegt der poetologische Sinn der Vergegenwärtigung von Geschichte als Szenerie somit in der (rezeptionstheoretischen sowie rhetorischen) Einbeziehung des Zuschauers? Lassen sich persönliche Anreden als verlässliche Zeichen dieser Einbeziehung in den kreativen Akt eines nicht-linearen Erzählens begreifen? 4.1.6 Wir – Wissenschaftsform Die subtilsten Möglichkeiten der Fürsprache bietet das Sprechen im Modus des wir. Das wir oder uns, mit dem der Text spricht, entfaltet drei Bedeutungsebenen, die für die Phänomenalität von Geschichtlichkeit eintreten. Historizität zerfällt in drei situativ gebundene Zeitstufen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Über das deiktische wir stellt sich jeweils der Bezug zur Situation (Zeitstufe) her. Damit kennzeichnet wir drei potentielle Leerstellen, die jeweils dann zum Tragen kommen, wenn das wir zugunsten einer der beiden anderen Bedeutungen interpretiert wird. Zwar erweckt es den Eindruck, als bezöge die erste Person Plural das sprechende Subjekt mit ein, so als ob dieses ich im Namen einer Gruppe spräche, der es angehört. Gerade in wissenschaftlichen Kontexten entlarvt sich diese (grammatische) Lesart als naive Deutung. In einer auf Überzeugung angelegten wissenschaftlichen Publikation vermeidet das wir häufig ein ich. Damit verhehlt der Text seine Aussageinstanz, um nicht den Anschein zu erwecken, er redete rein subjektiv. Insofern der Autor hier tatsächlich nicht über seine Befindlichkeiten spricht, sondern sich in einen bestehenden Diskurs einreiht, von dem seine Positionierung abhängt, trifft dieser distanzierende Gestus zu. „Es handelt sich um den Fall, wo der Aussagende sich aus seinem Diskurs ‚heraushalten‘ will und wo folglich ein systematischer Mangel an Zeichen auftritt, die auf den Absender der historischen Botschaft (message) zurückverweisen könnten.“69 Trotzdem gelingt es der Historie in diesem Spezialfall der Stimmung des Textes nicht, „[…] sich selbst zu erzählen.“ Durch den Dialog mit der Adressatenseite, der ähnlich wie der objektive Diskurs „als eine Sonderform des Imaginären“70 auftritt, bezieht der Text das „Du“71 in den Diskurs ein. Die Illusion beschwört keine für sich selbst sprechende Historie herauf, sondern installiert einen Dialog zwischen den Zeiten, der potentielle Verständigung über die 69 Roland Barthes, Historie und ihr Diskurs, in: Alternative. Zeitschrift für Literatur und Diskussion, Heft 62/63, hg. v. Hildegard Brenner, Berlin, 1968, S. 171-180, S. 174f. 70 Zitate a. O., S. 175. 71 A. O., S. 174. Es meint an dieser Stelle nicht ausschließlich du, sondern wird stellvertretend für jede Art von „[...] Auf-einen-Empfänger-Gerichtetsein“ (ebd.) genannt.
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Geschichte suggeriert. Insofern prägt die Rede durch das oder mit dem wir Raffinesse aus. Denn es spricht noch in einem Namen, mit einer Stimme (des Allgemeinen). Damit legt der Text keinesfalls nahe, dass eine von den Menschen losgelöste Objektivität Wort ergriffe, wie im Falle naturwissenschaftlicher Texte oder eines naiven historischen Diskurses unterstellt werden könnte. Wir zu sagen bedeutet einen nachdrücklichen Appell an andere, das Behauptete als prinzipiell nachvollziehbar aufzufassen, da sie als Mit-Subjekte übereinstimmende Verständnisgrundlagen teilen. Jemand, der wir sagt, sucht entweder tatsächlich von anderen Menschen verstanden zu werden oder möchte zumindest das Gefühl erzeugen, dass ihm an einer solchen Verständigung gelegen sei – was sein Anliegen als intersubjektiv, diskussionswürdig und diskutabel auszeichnet.72 In diesem Sinne fungiert das wir als intersubjektiv abgeschwächte Form objektiven Sprechens, das sowohl das Moment der subjektiven Stimme als auch objektivistische Diskursvorgaben ausklammert. Diese Idealvorstellung eines Intersubjektivität einräumenden – daher von objektiven Wahrheiten vorläufig absehenden – Sprechens wird durch den Anschein erweckt, dass man Einspruch erheben, mitreden dürfe. Im Medium der Schrift lässt sich dieses Mitspracherecht aufgrund der Struktur seiner indirekten zeitlich gebundenen (linearen) Rezeption kaum umsetzen – zu gewährleisten wäre es lediglich innerhalb eines eng begrenzten Kommunikationskreises.73 Direkter Einspruch der Rezipientennachwelt, die mit diesem wir (grammatisch) als Leser adressiert wird, bleibt utopisch. Dennoch erzeugt gerade die Schrift in einer paradoxen Wendung jene Adressierbarkeit. Einerseits kappt sie direkte Kommunikation durch den Verschriftlichungsprozess, andererseits stellt sie die vom
72 D. h., er gibt vor, niemanden manipulieren zu wollen, vollzieht dies über die antizipatorische Miteinbeziehung (Vereinnahmung) doch. 73 Vgl. Descartes, der in seinen „Meditationes de Prima Philosophia“ solch eine Einbeziehung betrieben hat, indem er in deren erster Ausgabe bereits einige Einwände und seine Reaktionen darauf mit abdrucken ließ. René Descartes, Meditationes de Prima Philosophia, hg. u. übers. v. Gerhart Schmidt, Stuttgart, 1986, die Einleitung. In dem über mehrere Schriften andauernden Streit zwischen Kant und Forster lässt sich die – häufig zurückweisende – Einbeziehung (Einschreibung) des jeweils anderen beobachten. Im Zuge meiner bisherigen Analysen kristallisierte sich heraus, dass in dieser Funktion häufig das verkürzte oder entstellte Zitat eintritt. Unvollständiges oder eingreifendes (scheinbares) Zitieren bildet in der (Spät-)Aufklärung voneinander abweichende Semantiken aus. Direkte Kommunikation formiert sich in Schriften der Spätaufklärung hochgradig intertextuell. Dass sich Verfahren der gegenseitigen (mitunter antizipatorischen) Einbeziehung einer ausgeprägten Briefkultur schulden, liegt nahe.
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Subjekt abgelösten Äußerungen auf Dauer.74 Der rhetorisch initiierten Vervielfältigung der Adressaten und Zeitebenen kommt die Vieldeutigkeit – förmlich die Undeutlichkeit – occasioneller Ausdrücke zugute: wir besetzt keine feste Zeitstelle.75 Seinen Kontext gewinnt es sowohl für Herders unmittelbare Zeitgenossen – im Modus von Selbstinklusion sowie Selbstexklusion – als auch für alle danach Kommenden. Sie müssen sich, selbst wenn sie darüber reflektieren, wer eigentlich oder als erstes intendiert wurde, dennoch angesprochen fühlen. Darin erfüllt sich die Funktion eines Textes, der wir sagt, und somit eine imaginäre, jedoch unhintergehbare Verbindung zur Zeitebene des Geschriebenen sowie des Schreibenden herstellt. Was die Rede über die Aufklärung anbelangt, drückt wir häufig eine Absetzbewegung von den Zeitgenossen aus. Über die Funktion des wir nimmt jene Distanzierung größere Ausmaße an, als es der Anrede durch ihr gelingen könnte, da sie über die Positionierung einer geistigen Elite Auskunft erteilt. Diejenigen, die das Zeitalter würdigen könnte, in deren aufgeklärtem Zeichen es steht, beruft Herders Text zu Repräsentanten dieses Zeitalters – selbst wenn sie seiner Polemik zufolge das gemeine Volk verderben. Dadurch, dass Herder sich ihnen als Intellektueller zurechnet, setzt er zugleich fest, dass die deutlichsten Zeichen des Zeitalters diejenigen sind, von denen es sich abzugrenzen gälte. Der Selbsteinschluss stellt durch seine implizite Selbstkritik aus, wie elitär die Gruppe ist – man opponiert nicht gegen eine fremde anonyme Masse, sondern bezieht Mitstreiter ein, die Selbstironie entschlüsseln können. Diese Lektürefähigkeit lässt sie überhaupt erst als gleichberechtigte Partner, als wir, hervortreten. Wie ist das Zugeständnis an die intellektuelle Gemeinschaft damit zu vereinbaren, dass „[d]er Witz, die Philosophie, die Freiheit zu denken, [...] gewiß zu diesem neuen Throne nur wider Wissen und Willen Gerüst [war]“76? Wird die Aufklärung ihren ursprünglichen Ansichten und Absichten zum Trotz überwunden? Ist sie Werkzeug, doch nur Mittel zum Zweck allgemeiner Verbesserung? Demnach näherte sie sich der Selbsteinschätzung ihrer Verfechter schrittweise an. Historisierung erweist sich im Folgenden als doppelte Relativierung: „Wir sind bei dieser Fortrückung freilich auch auf unserer Stelle, Zweck und Werkzeug des Schicksals.“77 Es grenzt nicht allein an Selbstüberschätzung, sich selbst zum Zweck der Geschichte zu erheben, sondern auch als (ihr) Funktionsträger übt man keinen epochalen Einfluss aus – zumindest keinen, der sich nicht im übergreifenden Kontext 74 Im Sinne von Roland Barthes’: Der Tod des Autors, in: Texte zur Theorie der Autorschaft, hg. v. Fotis Jannidis u. a., Stuttgart, 2000, S. 185-196. 75 Obwohl Herder wir nicht hauptsächlich wissenschaftlich instrumentalisiert, macht er sich dessen Funktionsweisen zunutze. 76 Vgl. Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 100. 77 A. O., S. 81.
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aufheben oder jederzeit historisieren ließe. Diese Selbstrelativierung zugunsten einer offenen Zukunft gibt andeutungsweise Vorschläge für die kommende Dimension der Aufklärung. Einerseits lanciert Herders Text die Figur des dem guten Zweck integrierten Abwegigen. Als Erbin der Theodizee tritt eine gebrochene Teleologie ein, welche sich im Verfolg ihrer Zwecke nicht durch den Menschen manipulieren lässt.78 Andererseits vermag die je an die Gegenwart gebundene Perspektive ihre nachträgliche Wendung (zum Guten) niemals einzunehmen (oder vorwegzunehmen), ohne sich eines rhetorischen Tricks, der dreifachen Lesart des wir, zu bedienen. „Wir umfassen, womit es sei, den Kreis der Erde, und was darauf folgt, kann wahrscheinlich nie mehr seine Grundlage schmälern! wir nahen uns einem neuen Auftritte, wenn auch freilich bloß durch Verwesung! – “79 Das Umfassen der Erde birgt eine räumliche sowie zeitliche Dimension. Dabei verläuft es über die Ansprache aller (drei) wir. Jedes Mal kann dieses Ansprechen lediglich ein Fürsprechen bedeuten: Einmal spricht Herder für seine Zeitgenossen, ein weiteres Mal nimmt er eine spätere (freilich fiktive) Positionierung vorweg. Sofern ein Text darauf angelegt ist, auf ein breites Publikum zu wirken, adressiert er effektiver Zeitgenossen als historische Nachfolger. Konträr zu dieser Annahme positioniert sich das Zitat. Sobald der Zustand, auf den das Zitat abzielt, eintrifft, sind die Zeitgenossen längst verwest. Diese Annahme richtet sich auf die Zukunft, bezieht sich auf das, was „naht“. „Was darauf folgt“, nämlich auf das (rhetorische) Umfassen des Erdkreises, bleibt offen. Dass es „nie mehr seine Grundlage schmälern [kann]“, klingt lediglich als wahrscheinlich an, mit den Mitteln der Gegenwart ist darüber jedoch nicht zu verfügen. Wer aber könnte sich angesprochen fühlen, wer könnte die Frage nach dem späteren Zustand beantworten? Immer derjenige, der sich mit wir – als occasionellem Ausdruck – angesprochen fühlt, der die Schrift wieder-liest, später liest. Eine bereits um sich greifende Erfahrung des Zeitalters lässt sich extrapolieren. Dass „wir schon jetzt“ „[...] Werkzeuge zu großem Guten in der Zukunft, woran sie selbst nicht dachten, wahrnehmen.“80, und trotzdem noch in naher Zukunft „[...] Zeiten schätzen lernen, die wir jetzt verachten – “81, leitet eine sich zunehmend ausprägen78 Vgl. etwa a. O., S. 89f. Dabei geht es wirklich um Wege, Abwege (Digressionen), um den „Nebenweg zu den Arabern“ etwa – nicht zufällig treten hier Funktion und Epistemologie der „Reisebeschreibungen“ (S. 89) auf den Plan. Trümmer, „Verwirrung“ (S. 90) bieten mit der Fragmentierung weitere abweichende Formen dar. Beherrschung über die „Geschichte der Menschheit“ erlangt die Wiederherstellung räumlicher Ordnung: „Alles findet sich an Stelle und Ort“. Vgl. S. 90. 79 A. O., S. 100f. 80 A. O., S. 53. 81 A. O., S. 89.
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de (zukünftige) Dimension ein: die Selbstaufklärung der Aufklärung. Die Engführung von naher und ferner Zukunft begleitet ein Sprecherwechsel vom wahrnehmenden wir zum gerade erst historisierten sie („woran sie selbst nicht dachten“). Der antizipierende Lernprozess des wir, das sich erst kurz zuvor vom sie distanziert und emanzipiert hat, setzt erstes und zweites wir in Verbindung. Beide schlagen eine Brücke über das unzeitgemäße sie und suchen sich mit dem wir der Nachwelt zu verbrüdern, indem sie ihren Standortwechsel gegenüber der Vergangenheit anzeigen („Zeiten schätzen lernen, die wir jetzt verachten“). Über den Gestus der Toleranz knüpft das wir, das sich bereits selbst überwunden, sich selbst zur Vorwelt erklärt hat, eine Verbindung zu anderen Toleranten – und fordert damit Toleranz für sich ein. Dass die Konsultation (und Konzedierung) der Selbstaufklärung erst im Nachhinein erfolgen kann, erfordert die Einbeziehung der Zukunft – Geschichte ist stets im Werden begriffen.82 In dieser Permanenz kann sie jedoch nie still gestellt werden. Distanz der eigenen Gegenwart gegenüber hält diesen Prozess künstlich auf, baut eine Ellipse ein, die ein wir am anderen anschließen lässt. Der Nachvollzug der Selbstaufklärung bleibt den Zukünftigen vorbehalten, obgleich die Gegenwart erpicht ist, ihren Ausgang zu kennen. An den Stellen, wo die Kritik am eigenen Zeitalter ansetzt, taucht das wir vermehrt auf und fragt ängstlich danach, was einmal aus ihm werden wird. Dieser inszenierte Nach-Vollzug zielt auf keinen zeitübergreifenden Dialog oder eine Horizontverschmelzung (Gadamer) ab, sondern führt den imaginären, fiktiven Akt der Prosopopoiia plastisch vor. Um die Ansprache umzusetzen, nähert Herders Text sich und seinen Zeitgenossen die Zukunft fiktiv an. Zwar bleibt deren Gestaltung vage, nimmt jedoch vorweg, dass eine spätere Zeit die Frage einmal beantworten werde. Über die Fiktion, dass auch wir Späteren uns entsprechend rückbezüglich verhalten, die Frage der Vergangenheit zu klären suchen, realisiert sich das Sprechen für uns als ein Sprechen mit uns. Die Leistungsfähigkeit des an die Imagination gebundenen, begrenzt integrativen Konzeptes erschöpft sich dort, wo es die (grammatisch bereits eingelöste) Mitteilbarkeit berührt, die in Richtung der Vergangenheit vielfach gebrochener erfolgt als es bei der Zukunft der Fall ist. Selbst die hypothetische (fingierte) Beantwortung der Frage (durch Spätere) würde mit hoher Wahrscheinlichkeit an der globalen Fragestellung scheitern: Die Nachkommenden wissen nicht, was Herders Zeitgenossen gern von ihnen gewusst hätten – eine spätere Antwort auf die im Text gestellte Frage bleibt richtungslos, ihr fehlt der Adressat. Für die Zukunft (uns) ist das (grammatische) frühere wir ebenso eine Leerstelle wie das spätere wir (unser wir) für sie bzw. uns (als bald Vergangene). Sich direkt an die Zukunft zu wenden, entlarvt sich als defizitäre – wissenschaftlich inakzeptable – Strategie. 82 Vgl. etwa a. O., S. 89f.
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Neben diesen beiden Modi des Auftretens personaler Pronomina – der Stimme des epochenübergreifenden Wissenschaftsideals sowie der Stimme des historiographisch Unbewussten (seines schlechten Gewissens) im irrational-seelischen Moment der Einfühlung – kommen zwei weitere Figuren personifizierten (Für-) Sprechens vor. Eine dieser Figuren weist einen Kippmechanismus zur völligen Entpersonalisierung auf. Einerseits nimmt der Text ausgeprägte Ironisierungen anderer Autoren vor, indem er sie zunächst einmal wahrheitsgemäß zitiert. In einigen Fällen tauchen andererseits Textstellen oder ganze Passagen auf, die zwar durch Anführungszeichen gekennzeichnet sind, denen aber dennoch kein Sprecher bzw. Schreiber zugeordnet werden kann. Sie belassen im Ungewissen, in wessen Namen oder für wen Herders Text spricht. Verschafft sich hier die Stimme der Allgemeinheit – eines zeitgebundenen allgegenwärtigen Diskurses – Ausdruck? Oder spricht der Erzähler etwas aus, das er schlicht als allgemeingültig verstanden (oder zumindest von allen wahrgenommen) wissen will? Als Beispiele gekennzeichneter Zitierung83 dienen in diesem Kapitel sowohl die Ironisierung Robertsons84 als auch die profane namenlose Zitierung.85 Insofern ihre Stellen einem breitenwirksamen Fundus entnommen sind, fällt die sakrale Zitierung, die auf umfassender Kenntnis des ersten poetischen Werkes – des Buches der Bücher – beruht, aus der Kategorie namenloser Zitierung heraus, womit dessen Umschriften allerdings besonders ins Gewicht fallen. Dabei zitieren Herders Textverschnitte ihre Gegner kaum mit vollem Ernst. Von wissenschaftlicher Redlichkeit kann in Auswahl und Anführung der Zitate keine Rede sein. Dennoch verfolgt die zerstückend-zusammenstückelnde Strategie – eine Ironisierung am Rande der Dekonstruktion – im Grunde ernsthafte Zielsetzungen, indem sie andere (tlw. selbst historisch gewordene) Texte in den zeitgenössischen historiographischen Diskurs einzuordnen versucht. Ironie bringt hier ernsthafte Absichten zum Vorschein, sie dient nicht der Lächerlichkeit oder der Preisgabe eines Autors allein. 4.1.7 „‚Der Schriftsteller von hundert Jahren‘“ Ein namenloses Zitat eröffnet die Abhandlung eines Schriftstellers, der nur am Fußende, in einer Fußnote, in vulgärem oder gestelztem Tonfall namentlich erwähnt wird.86 Indiziert diese (beiläufige) nachgetragene Benennung die Zweitrangigkeit 83 Mit gesetzten Anführungszeichen. 84 Bei der Beschäftigung mit Voltaire, dem „‚Schriftsteller von hundert Jahren‘“, der als Paradigma seiner Zeit eintritt, handelt es sich um ein abweichendes Phänomen. 85 Zitiert sie die Geschichte an sich? Handelt es sich um Plattitüden bezüglich ihres Verlaufs oder um reflektierte Ordnungsschemata à la Hayden White? 86 Wie ist die Verschiebung von Voltaire zu „Voltär“ zu lesen, als Angleichung an den deutschen Sprachgebrauch? Siehe a. O., S. 104.
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des Namens selbst, sind Namen Schall und Rauch? Gibt es besser nicht auszusprechende oder nur marginal wahrzunehmende, zu überlesende Namen? Wieso wird dann der Zeitraum, das Alter, so betont, der Schriftsteller über sein Jahrhundert definiert? Handelte es sich um ein geflügeltes Wort, wäre nicht jeder (unzeitgenössische) Leser die Verschlüsselung zu enträtseln imstande. Für diesen Fall tritt die Fußnote ein. Liegt mit dem Schriftsteller gleichsam eine Epoche menschlicher Geistesgeschichte vor (metonymisch)? Oder birgt die Paraphrase den ironischen Verweis auf (allzu) langes Schaffen oder die gesundheitsfördernden Auswirkungen des Berufsbildes? Ohne großangelegte Kritik könne die Eingliederung in den kontemporären Kontext erfolgen: „[...] ohne Zank und Widerspruch wie ein Monarch auf sein Jahrhundert gewürkt […].“87 Ob damit einhergeht, dass er Zeit seines Lebens wenig „Zank und Widerspruch“ provoziert habe, bleibt fraglich. Nicht in Frage steht die Reichweite seiner Geltung. Dass sie der eines Monarchen gleichzusetzen ist, lässt sich doppelt auflösen. Einerseits deutet der Vergleich auf seine ungeteilte Vormachtstellung hin. Andererseits teilt die Wirkmächtigkeit sich ambivalent mit. Moralisch lässt sie sich nicht ungebrochen als gut oder schlecht sanktionieren. Ein Monarch darf sich so verhalten, wie es das Wohl des Staates erfordert. Auf seine Untertanen braucht er dabei keine Rücksicht zu nehmen. Kurz zuvor beleuchtet der Text diese Lesart monarchischer Machtausübung allerdings kritisch. In der Exposition der Programme Machiavellis und Antimachiavellis lanciert der Text die provokante These, dass sich unter dem Deckmantel der gutwilligen aufgeklärten Absichten Antimachiavellis Machtpolitik verbirgt. Unter der Hand schlägt Antimachiavellis (auf seinen Autor Friedrich II. appliziertes) Alternativprogramm in die Unterdrückung des Volkes um. Entsprechend verfahre Machiavelli, wenn er zum Besten der Regierung moralisch verwerflich agiere. Im Zuge der Parallelisierung suggeriert der Text, dass Aufklärung sich nicht zwangsläufig positiv auswirke.88 Voltaire erweist sich nicht allein selbst als Monarch, sondern tritt ferner als dessen Helferfigur auf, insofern er den Antimachiavelli redigierte. Mit der impliziten Kritik an Friedrich II. stellt sich die ungebrochene Herrschaft der Monarchie bereits als versehrt heraus und stiftet nachdrücklich die Konjunktion zwischen Intellektuellem und Fürsten. Die antizipierte Kritik an Friedrich II. auf Seite 99 verläuft über die Kontrastierung der literarischen Werke „Machiavelli“ und „Antimachiavelli“. Rückschlüsse auf den König lassen sich leicht herstellen, selbst wenn er im Text keine direkte Erwähnung findet. Bevor der Text die Paraphrase „‚[d]er Schriftsteller von hundert Jahren[ ]‘“ einführt, entwirft er eine ganz analoge Formulierung für Friedrich II.: eine vom übrigen Schriftbild abgesetzte Sentenz:
87 Ebd. 88 A. O., S. 99f., S. 103f. So deutet es auch der Kommentar, vgl. FHA 4, S. 894.
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„Ein Monarch, dessen Namen unsre Zeit mehr trägt und zu tragen verdient, als das Zeitalter Ludwigs – den uns sein Jahrhundert mit aufbewahrt!“
Formal resultiert der sentenzhafte Charakter aus dem Schriftbild. Gereimt oder rhythmisiert liest sich der Merksatz hingegen nicht, sondern er wirkt eher holprig. Zur Sentenz oder zum Gemeinspruch taugt lediglich die Formulierung: „ – den uns sein Jahrhundert mit aufbewahrt!“ In der Formierung eines personalen säkularen Speichers korrespondiert sie dem Merksatz zu Voltaire. Die potentielle Wiederholbarkeit (der Zitierung) liegt ihrerseits in der Form der Wiederholung – zitiert der Text doch bereits aus Klopstocks Ode „An Gleim“. Nicht durch Anführungszeichen weist das Zitat sich als solches aus, sondern durch seine zitierende Form selbst (formal im Schriftbild, generell durch Konvention). Dabei handelt es sich um eine Umschrift, die Ludwig zu Friedrich macht, und im Zuge dessen auf Klopstocks Vorlage verweist, welche sich wiederum mit Gleims eigenen politischen Dichtungen (zu Friedrich II.) befasst. Damit erweist sich die Überlieferung als mehrfach gebrochen, transferiert sie doch Zitate im Zitat, Huldigungen, aus denen (im Falle Klopstocks) leichte Ironie – die jugendliche Begeisterung der „Preussische[n] Kriegslieder“ Gleims89 betreffend – herauszulesen wäre. 89 A. O., S. 103. Vgl. den Kommentar, a. O., S. 895. Klopstock, An Gleim (1752): „[...] Mehr als Ludewig, den uns/ Sein Jahrhundert mit aufbewahrt.// So verkündigte ihn, als er noch Jüngling war,/ Sein aufsteigender Geist! Noch, da der Lorber ihm/ Schon vom Blute der Schlacht trof,/ Und der Denker gepanzert ging,// Floß der dichtrische Quell Friedrich entgegen, ihm/ Abzuwaschen die Schlacht! Aber er wandte sich,/ Strömt’ in Haine, wohin ihm/ Heinrichs Sänger nicht folgen wird!// [...]“, in: Friedrich Gottlieb Klopstock, Werke und Briefe. Historisch-Kritische Ausgabe, Abt. Werke I, Bd. I, Oden, hg. v. Horst Gronemeyer u. Klaus Hurlebusch, Berlin/New York, 2010, S. 121-123, Zeile 47-61. Vgl. Gleim, Lied an die Kayserin-Königin nach Wiedereroberung der Stadt Breslau den 19ten December 1757: „[...] Unsern Friedrich, der ein Held,/ Der auch Weiser ist;/ Der ein Wunder ist der Welt,/ Wie Du selber bist;// Der gerechte Waffen trägt/ Ins Gefecht mit Dir,/ Mit uns kommt, und sieht, und schlägt,/ Tapferer als wir;// Heldin, den bezwingst Du nicht:/ Gott kann Wunder thun!/ Schenk ihm Freundesangesicht,/ Biete Frieden nun!// Williger war nie ein Feind,/ Feinden zu verzeihn;/ Schneller nie ein Menschenfreund,/ Ausgesöhnt zu seyn;// [...]“ Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Ausgewählte Werke, Bd. I, Anakreontische Gedichte, hg. v. Walter Hettche, Göttingen, 2003, S. 96f., Zeile 9-24. Klopstocks Ode „An Gleim“ ist zwar auf das Jahr 1752 datiert, wurde allerdings erst 1771 veröffentlicht, Gleims „Preussische Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757 von einem Grenadier. Mit Melodien“ erschienen 1758 bei Voß in Berlin. Gleim begleite-
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Als (durchgängig implizit) adressierte Person wird Friedrich II. somit in ein ganzes Geflecht von Intellektuellen und Gelehrten eingebettet, bleibt über die ihm zugeschriebenen Eigenschaften und Absichten jedoch jederzeit identifizierbar. Ob diese Kontextualisierung einen möglichen Potenzverlust des Monarchen aufruft, insofern sie seine Abhängigkeit von Beratern ausstellt oder Übergänge von der Politik in die Dichtung generiert (so geschehen in Gleims politischen Gedichten), ist hier nicht weiter zu diskutieren. In beiden Fällen tritt die wirkmächtige Person (einmal „Voltär“, einmal Friedrich II.) als Speicher und Repräsentant des Jahrhunderts auf. Trotz gutwilliger aufgeklärter Absichten zeitigt ihr Handeln mitunter negative Resultate. Unter funktionalen Aspekten treten beide Persönlichkeiten als verkörperte Medien auseinander. So handelt es sich bei Friedrich um einen politischen Repräsentanten, bei Voltaire um eine literarische Figur oder um die Figuration von Literarizität selbst. Jedoch hält die funktionale Differenzierung keinem zweiten Blick Stand, Herders Textverfahren weisen die Grenzen als fließende Übergänge aus. Die im Text dargebotene Spannbreite der Monarchie erstreckt sich von absolutistischer Regierung über repräsentative Stellvertretung bis hin zur despotisch-tyrannischen Machtpolitik. Welche Ausprägung der Monarchie für die Umschreibung von Voltaires Reichweite einsteht, erschließt sich unter Berücksichtigung räumlicher sowie zeitlicher Indices. Zur temporalen Eingrenzung der Wirkung Voltaires auf ein Jahrhundert („von hundert Jahren“) tritt eine räumliche Limitation hinzu. Dabei liegen bei beiden Eingrenzungen eher Entgrenzungen vor. Zum einen überwindet sich die Dauer des Menschenlebens auf eine objektivierte Zeit hin, insofern dem biblischen Alter epochale Bedeutung zugemessen wird. Zum anderen dehnt sich ein als objektiv gültig gesetzter Raum – der europäische Kulturraum – auf (vermeintlich) unerschlossenes Gebiet aus. Die Kolonialisierungsbestrebungen (Frankreichs) geraten zum chiffrierten Expansionstrieb eines französischen Gelehrten, der weder vor zeitlichen noch vor räumlichen Begrenzungen – oder Kontingenzen – Halt macht. Je-
te den Prinzen von Brandenburg-Schwedt 1744 in den zweiten Schlesischen Krieg, und diente dann dem Fürsten Leopold I. von Dessau, bis er 1747 eine Anstellung als Sekretär des Domkapitels Halberstadt fand. Gleims eigene Kriegserfahrungen lagen also zur Entstehung der „Kriegslieder“, die dem Siebenjährigen Krieg gelten, schon eine Weile zurück. 1750 befreundete er sich dann mit Klopstock, der daher Kenntnis von einer jugendlichen Kriegsbegeisterung Gleims erlangt haben könnte. Das Problem der Datierung von Klopstocks Ode „An Gleim“ hat Morton C. Stewart in seinem Aufsatz „The Dating of Klopstock’s Ode, an Gleim“, in: Modern Language Notes, Vol. 21, No. 5, 1906, S. 134138, dargelegt, und kommt (mehrere Argumentationsstränge berücksichtigend) zu dem Schluss, dass die Ode später als 1752 (erst nach 1757, 1763 oder 1766) entstanden sein müsse.
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doch lässt sich ein Übergang der Verbreitung innerhalb des europäischen Kulturraumes „von Lißabon bis Kamtschatka, von Zembla bis in die Kolonien von Indien gelesen, […]“90 bis zur kolonialen Peripherie ausmachen, der im Unklaren belässt, wo Kulturtransfer aufhört und Kolonialisierung beginnt. Überhaupt bleibt offen, wer als Adressat (Leser) dieser Reihenbildung eintritt. So liegt nahe, dass die Empfänger explizit nach Voltaires Schriften verlangt haben – nämlich als Kolonialisten vor Ort selbst. Bei den gestreiften Orten handelt es sich in mehrfacher Hinsicht um Räume verschwommener Grenzen: geographisch zwischen Land, Meer und Kontinenten angesiedelt, politisch zwischen Russland, Japan und Skandinavien gelegen (und im Falle „Lißabon[s]“ drängt sich der Gedanke an die zweite mögliche Indienroute auf, die ja an einem vor ihrer Erkundung unbekannten Kontinent abprallte). Mit ihrer Stellung an den äußersten Rändern Europas bzw. Asiens sowie ihrer Lage an wichtigen Handelsrouten und Passagen vereint die Orte ein Prinzip, das es keineswegs dem Zufall überlässt, wohin man die Vorreiter von Kolonialisierung und Aufklärung entsendet. An den Zielorten der Vermittlung befriedigen französisch aufgeklärter Geist und französische Philosophie entweder die Neugierde, bleiben jedoch entbehrlich – da eine landesspezifische Kultur (und Kolonialgeschichte) bereits vorherrscht („Lißabon“) – oder sie laufen im Extremfall ins Leere, da es dort eigentlich gar nichts gibt – geschweige denn, was europäischer Philosophie und europäischem Geist bedürfte. Welche Funktionen Voltaires Schriften auf der Eismeerinsel Nowaja Semlja erfüllen könnten, lässt sich an ihrer liminalen Position ablesen, die als vorläufiges Ende oder manifeste Grenze zugleich ein neues Reich möglicher Ausweitungen erschließt. So bringt die Komplettierung ihrer Land- und Seekarten den Kolonialisten durchaus etwas ein: Mitunter finden sich an den scheinbar entlegensten Orten zwar keine Rohstoffe – Buch und Karte geraten jedoch zu Rohstoffen ganz eigener Qualität.91 Über den Erweiterungsdrang des Zeitalters eines Schriftstellers gibt der Okkupationsgeist Auskunft, insoweit er sich nicht nur rein zeitlich ausprägt, den Zeitgeist verbreitet, sondern territorial ausfällt. Zeitgeister binden somit nicht allein an anliegende Orte, sondern werden als lokal gefestigte Geister in die Ferne vermittelt: ihr auferlegt, sie überlagern etwas bereits Vorhandenes. Zeitgeist transferiert (sich) qua Besetzung eines (durch diesen Akt) begrenzbaren fremden Gebietes, das dann den eigenen Idealvorstellungen angepasst wird. Strukturell umfasst diese Inbesitznahme Raum und Zeit, insofern für Geschichte und spatial entfernte Bezirke übereinstim90 Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 104. 91 Streng genommen ist die Komplettierung der See- und Landkarten recht einträglich, sofern man sich über die Eismeerinsel etwa verkürzte See- und Landwege zu potenten Handelspartnern sichern will. Ob diese ökonomischen Zielsetzungen europäischer Aufklärungskultur bedurften, bleibt fraglich.
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mende Mechanismen eintreten. Vom Zeitgeist zu reden, schließt eingehegte Territorien ein. Wie übermittelt sich Voltaire nun aber an andere? „[...] gelesen, gelernt, bewundert, und was noch mehr ist, befolgt – “92: Dieses Bildungskonzept – treffender Bildungsparaphrase – weicht fundamental von der (zuvor präsentierten) Bildung des Patriarchenzeitalters im Morgenland ab. Mit der Orientierung an Voltaire prägt sich das Instrument der Bildung literal aus. Nach diesem Programm lernt man, was man liest, im selben Vollzug – Lernen löst Lesen unmittelbar in der Aufzählung ab. Jedoch übt der Schüler damit eine reflexionslose Tätigkeit aus. Was er lernt, hinterfragt er nicht weiter, er repetiert ein Vokabular: oberflächliche Bedeutungsgehalte oder rein stilistische Wendungen. Hat er diesen (mehr oder minder) mühevollen Nachvollzug geleistet, bewundert er letztlich kaum mehr als die eigene Fähigkeit zur Anwendung bestechender Schlagwörter oder stilistischer Regelwerke, die wie ein Kanon funktionieren. Lesen und Lernen aus Voltaires Schriften richten sich an einer Ästhetik der admiratio aus, die über die Nachahmung von Vorbildern erfolgt. Da der Kanon (temporal verschobene imitatio) sich als einzig mögliche Basis und Rahmung gelehrter Argumentation aufdrängt, zweifelt ihn niemand kritisch an. Zu Lernendes und die Instrumente seiner Vermittlung überschneiden sich bei der Lektüre Voltaires, Stoff und formale Gestaltung fallen ineinander. Literarische Form und Stil übermitteln zwar einen Gehalt, animieren in erster Linie jedoch zur Nachahmung: „mit seiner Sprache, mit seinen hundertfachen Talenten der Einkleidung, mit seiner Leichtigkeit, mit seinem Schwunge von Ideen auf lauter Blumen – “.93 Für das forcierte Bildungsprogramm nimmt die sprachliche Gestalt nicht zu unterschätzende didaktische Funktionen ein. Neben den manierierten geschmückten Inhalten überträgt sich der (rhetorische) Ornat selbst. Üben gerade dessen Mittel besondere Faszination aus, da sie das kreative Moment gelehrter Argumentation darstellen, obgleich der rhetorische Schmuck traditionsreicher Systematisierung entstammt? Stilistische Paraphrasen inszenieren Voltaire als Autor des Ornats, der Paraphrasen des Stils ausbeutet: Ideen in einem Schwunge locker verbündelt und nicht näher durchdenkt. Damit geraten die Ideen selbst zum Ornat auf lauter Blumen, zum Schmuck des Schmuckes selbst. Kluge Einfälle fungieren als Beiwerk, als Schmuck für diejenige, die ihrerseits Hilfsmittel philosophischer Ideen und Eingebungen, ihnen äußerlich, sekundär, bleiben müsste: die Sprache, um deren Ausdruckskraft es in chiastischer Verschränkung eigentlich geht. Einfällen gebührt als schmückenden Einfällen lediglich geringer Status, der einem kapitalen Einfall oder einer originellen Idee nicht gerecht wird. Daher ließe 92 Ebd. 93 Ebd.
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sich die (literarische) Wirkung Voltaires polemisch auf ornatus und sprachliche Mittel, nicht auf geistreiche Einfälle, die er nach allen Regeln der Kunst gestaltet, zurückführen. Taktisch betrachtet – denn sein Vermögen wird als taktisch (klug) oder manipulativ ausgewiesen – hat er (verquer) durch Unvermögen, durch schlichtes Glück (Fortune), wirken können, das ihn in den Rahmen seiner Zeit fügte. Denn „[...] am allermeisten [wirkte er, K.K.] dadurch, daß er auf der glücklichen Stelle geboren wurde, die Welt zu nützen, Vorgänger und Nebenbuhler zu nützen, Gelegenheiten, Anlässe, zumal Vorurteile und Lieblingsschwächen seiner Zeit, [...]!“94 Die räumliche Anordnung gewährleistet abermals ausufernden weltumspannenden Effekt. Damit weiß Voltaire Begebenheiten und Menschen seiner Zeit zu nutzen, ohne dass der Text genaue Auskunft oder Anweisung erteilt, worin dieser Nutzen besteht. Voltaire selbst profitiert nicht von dieser Nutzbarkeit, sondern weiß schlicht etwas zu nutzen, verfügt über Anwendungswissen. Befolgt wird Voltaire also, sofern er seine Zeit zu nutzen weiß, sich ihr anpasst. Dabei nutzt er Dinge, deren Utilität moralisch in Frage steht, da sie als Personen („Regenten“ und „Bräute“) entweder nur als Zwecke rangieren dürften oder aber als „Vorurteile und Lieblingsschwächen“ ohnedies als moralisch brisant einzustufen sind. „Lieblingsschwächen“ der Regenten und Bräute unterscheiden sich dahingehend, dass Bräute durch intellektuelles Geleit ihre eigene Person, die Regenten aber ihr gesamtes Herrschaftsgebiet zu schmücken suchen. Indem ein Gelehrter für den Staatsgeist eintritt, schlägt die ornamentale Funktion in pure Repräsentation um. Was vorher Schmuck war, mutiert zum programmatischen Versprechen, das sich nun sprachlich an (von) Voltaire schulen ließe. „[A]uf der glücklichen Stelle geboren“ verfügt das Glückskind nicht allein über aktuelle Moden, sondern entfaltet eine auf den umgebenden Wirkungsraum abgestimmte Charakterdisposition. So sehr der Text die komplexe Festlegung von Nationalcharakteren (her)ausstreicht, passt Voltaire trotz allem in seine Zeit. Er tritt als Paradigma französischer Aufklärung ein und hält damit zugleich deren Karikatur bereit. In ihrer prinzipiellen, vernünftigen iterativen Hinterfragung aller Dinge trägt die Aufklärung implizite Züge ihrer eigenen Karikierung.95 „‚Der Schriftsteller von hundert Jahren‘“ verkörpert sein Jahrhundert96, besonders dessen Schwächen. Präziser betrachtet erweist sich dieses Bild als historisch, chronologisch schief. Denn wäre Voltaire hundert Jahre alt geworden, dann fiele seine Charakterisierung 94 Ebd. 95 Kritische Vernunft leistet keinen Abschluss des Denkens, sondern führt es ins Unendliche fort. Idealistische Aufklärung müsste alles inklusive ihrer eigenen Grundprinzipien hinterfragen, womit der aufklärerische Gestus sich selbst auslöscht. Ein Weiterdenken wäre dann nur unter Einholung der eigenen Auslöschung, als Revidierung der Revision, möglich, was zur fortwährenden Wieder-Holung dieses Mechanismus führt. 96 Vgl. Herder, Auch eine Philosophie, Kommentar, in: FHA 4, S. 826.
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abweichend aus, da sie Ereignisse und Auswirkungen der französischen Revolution einbeziehen müsste. Zur Entstehungszeit von Herders Frühschrift liegt diese Tragweite außerhalb der Chronologie. Daher bleibt bei ihrer Veröffentlichung (vier Jahre vor Voltaires Tod 1778) offen, ob er eine epochale Rolle übernehmen könnte. Weder hat der Text (sichere) Kunde von der französischen Revolution noch weiß er vom Tode Voltaires. Trotzdem baut er einen proleptischen Möglichkeitsraum – die Aussicht, hundert Jahre alt zu werden – ein, ohne ihn restlos auszufüllen. Die Prolepse verfährt dem zukunftsoffenen wir analog, weil sie der Gegenwart zukünftige Respondenz einschreibt, indem sie ausspart.97 Enthebt nun die glückliche Geburt gänzlich der Aufgabe, sich die Welt nutzbar zu machen, da sie Automatismen anstößt? Inwiefern wäre es berechtigt, von einem Verdienst Voltaires zu sprechen? „[D]ieser große Schriftsteller, was hat er nicht ohne Zweifel auch zum Besten des Jahrhunderts getan!“98 Durchweg negativ, ironisch, ist dieser Ausruf kaum zu verstehen.99 Denn einerseits schlagen ernsthafte Passagen einen ähnlichen Tonfall an, andererseits berücksichtigt die Würdigung Voltaires als epochale Persönlichkeit (als Person des Zeitalters) primär dessen literarische Tätigkeit. Das einschränkende „auch zum Besten“ impliziert bereits, dass es schlechte Beiträge gibt. Pure Ironie könnte auf diese Konzession verzichten. Das „auch“ räumt ein, was „zum Besten des Jahrhunderts“ gehören könnte. „Licht verbreitet, so genannte Philosophie der Menschheit, Toleranz, Leichtigkeit im Selbstdenken, Schimmer der Tugend in hundert liebenswürdigen Gestalten, verdünnte und versüßte kleine menschliche Neigungen – als Schriftsteller ohne Zweifel auf der größten Höhe des Jahrhunderts!“100
Zwar unterliegen die angeführten Eigenschaften ironischer Brechung, wobei der Fortgang des Textes darauf abzielt, „[...] Leichtsinn, Schwäche, Ungewißheit und Kälte!“ sowie „[...] Seichtigkeit, Planlosigkeit, Scepticism an Tugend, Glück und Verdienst!“ als Begleiterscheinungen oder gar Pervertierungen dieser ersten Wirkungen zu entfalten. Zu vertiefen, wie der „Schriftsteller“ Voltaire die „so genannte Philosophie der Menschheit“101 modifiziert, erscheint legitim und reizvoll. An die97
Voltaire lebte von 1694 bis 1778. Wenngleich bereits Schlagwörter der französischen Revolution laut werden. Vgl. Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 98: „Freiheit, Geselligkeit und Gleichheit“.
98
Zitate: a. O., S. 104.
99
Diese Lesart vertritt Heinz Meyer sozusagen paradigmatisch in seinen „Überlegungen zu Herders Metaphern für Geschichte“, a. O., S. 103f. Meyer bezieht sich auf ein anderes Zitat, das in den Kontext der Erleuchtungsmetaphorik gestellt wird.
100 Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 104. 101 Zitate ebd.
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ser Berufsbezeichnung lässt sich nicht ablesen, dass Herder Voltaire den Status des Philosophen aberkennt, ihn zum Schriftsteller degradiert, sondern sie indiziert Voltaires außergewöhnlichen Zugang zu philosophischen Fragen des Jahrhunderts. Er bringt die vernunftlastige Aufklärung in eine seichtere, damit leichter genießbare Form. Ist eine solche Modifikation dem Gegenstand (Herders Einschätzung zufolge) weniger angemessen? Trifft Voltaire von unvermuteter Seite ein ähnlicher Vorwurf, wie ihn Kant später gegenüber Herders „Ideen“ erhebt? Worin bestünden die Vorteile leichten Selbstdenkens? Kursive Schlagwörter wie „Licht“, „Toleranz“ und „Selbstdenken“ gehören dem Programm des aufgeklärten Selbstverständnisses an, wiegen jedoch den Mangel nicht auf, dass die „Tugend“ lediglich „[...] in hundert liebenswürdigen Gestalten“102 durchschimmert. Als bevorzugtes Objekt philosophischer Bemühungen gerät sie unversehens zum Schmuck, die angenehme reflektierte Gestalt(ung) von Tugend und menschlichen Neigungen103 wächst sich zum selbstgenügsamen Zierrat oder Schwulst aus. Als Begleiterscheinungen literarischer Kunstfertigkeit schwächen sich Bedeutsamkeit und Autorität gewichtiger Themen ab, in erträgliche Form überführt, wirken sie sich, selbst dem Zwielichtigen angenehm, keineswegs nützlich, sondern schädlich aus. An der Leistung, Überfrachtung (Überdeterminierung) durch rezipierbare Formen zu bannen, offenbart sich das Genie des Schriftstellers, das Herder trotz aller rhetorischen Kritik zu würdigen weiß. Als Schriftsteller teilt Voltaire den hohen Rang sowie die Ambivalenz seines Jahrhunderts. Sowohl seine Vorzüge als auch seine Mängel resultieren daraus, lediglich Schriftsteller zu sein. Schriftsteller verfügen über andere Formen der Abstraktion von philosophischen Einstellungen (vgl. dazu Kants hyperfiktionalisierte moralische Fallbeispiele im Kapitel „Literarisierung moralischer Beispiele/Ästhetische Exempel?“). Im zitierten Passus weist Aufklärung sich nachdrücklich als literarisches Projekt aus. Wenn überhaupt, setzt sie sich in literarischer Adaption durch. Einerseits sichert sie damit ihre Vermittelbarkeit ab, andererseits drückt ihre Literarisierung den Mangel am exklusiv ihr zugehörigen Darstellungsmedium aus. Somit tritt Voltaire weder als Philosoph noch als moralischer Erzieher auf oder bestärkt als Rat erteilender Theologe: Rollen, die Herders Text jeweils anteilig übernimmt. Als Schriftsteller wird er nicht zur Verbesserung der Welt eingestellt, 102 Zitate siehe ebd. 103 Herder weiß das Theater als Institution moralischer Bildung durchaus zu würdigen, obgleich er Voltaires einschlägigen Bemühungen skeptisch gegenüberstehen mag. Dass keine illegitime Vermischung aus der Kombination (ernstzunehmender) moralischer oder philosophischer Stoffe mit poetisch-literarischer Darstellung resultieren soll, geht indirekt aus Herders eigenen Kompositionsbemühungen hervor. Dennoch weist die Kritik an Voltaire auf mögliche Gefahren der Vermischung hin.
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sondern sorgt für deren Unterhaltung (delectare). Aus der literarischen Einstellung resultieren vereinzelt negative Begleiterscheinungen, ornamentale Auswüchse. Moralische Gegenstände zu angenehm einzukleiden, sodass sie zu verschwinden drohen, grenzt an Leichtsinn. Insofern die spontane Beurteilung des unmittelbaren Gefühls im Medium aufwendiger Darstellungen in die Irre geht, wird das moralische Urteilsvermögen der Rezipienten geschwächt. Je mehr Aufwand die Darstellung betreibt, desto verklärter verbirgt sich die Botschaft. Was die moralische Aufklärung betrifft, liegen direkte Mitteilungen im Vorteil. Sich auf Evidenz berufende Darstellungen treten als Reihungen von Äquivalenten wie ursprünglich, unmittelbar, natürlich oder Gefühl ein. Evidenz erzeugt Beschreibungsketten, die Analogien suchen, ihren Fokus dabei jedoch ständig verschieben. Unschärfen entspringen aus literarischer Modifikation wie aus zu strenger Reflexion. Rhetorisierung nähert sich zuletzt purer Reflexion soweit an, dass sie ebenso kalt, gekünstelt wirkt. Ambivalent bleibt, ob Voltaire als Schriftsteller dem Jahrhundert seine Stimme verleiht. Für das Jahrhundert spricht sein literarischer Stil, zum Fürsprecher wird er jedoch nicht, indem er dessen Wort ergreift.104 4.1.8 „if it were possible to be vain of having read books“ – Getreuer Auszug Robertsons Eine andere Form der Umschrift – welche unter literarischen Gattungsbegriffen jedoch nicht ohne Weiteres als Ironisierung, Karikatur oder Parodie zu fassen wäre – führt der Auszug Robertsons vor. Hier inszeniert Herders Text eine Stimme, welche die Worte bzw. die Schrift Robertsons wiedergibt. Was er Robertson zuschreibt, wirkt einerseits stark paraphrasiert – als dessen Worte wären die zahlreichen Paraphrasen allenfalls in Umkehrung repräsentativer Verkürzung, als Ausfaltung der Zusammenfassung, zu entziffern. Dennoch präsentiert der Auszug ein Ganzes, das Robertsons Ansichten zusammenstellen soll. Andererseits ist der Eindruck eines „treuen Auszug[s]“ bei näherer Betrachtung nicht haltbar, sein karikierender Zug ist unverzüglich wahrzunehmen. Warum gibt die Fußnote als Quelle dennoch präzise an: „Robertsons Gesch. Karls 5., die Einleitung, davon dies nur ein treuer Auszug ist, mit etwanigem Urteil über sein Urteil“105? Widerspricht Urteilen generell nicht der Intention eines treuen Auszugs? Wem gegenüber müsste der Ausziehende Treue beweisen? Als Konzept wortgetreuer Wiedergabe schließt Zitieren ein Urteil zunächst aus, um es durch diesen Akt überhaupt fundieren zu können. Überzeugung beruht auf künstlich hergestellter Neutralität durch reine Mimesis, die ihre Wiederholung jedoch zu markieren hat – als Marker einer gerade erst und künftig ermöglichten Objektivität. Welchen Begriff von Wahrheit oder (redlicher) Autorschaft bringt die 104 Vgl. zur schönen Einkleidung ferner a. O., S. 66. 105 Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 72, FN.
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Umschreibung zum Vorschein? Welchen Regeln hat der Zitierende zu folgen und inwiefern ziehen Rahmung und Paraphrase dem Zitieren Grenzen? Herders Technik oder Arbeit am Text besteht bei seiner Wiedergabe Robertsons darin, das Urteil in den treuen Auszug einzuweben. In der literarischen Gestaltung des Ausgezogenen wird es implizit statt expliziert. Spricht Herders Text für andere Autoren, leiht er ihnen seine Stimme, dann zitiert er diese ‚pragmatischen Geschichtsschreiber‘ wahrhaftig, indem er ihre Aussagen durchweg parodiert – sie ihnen also eigentlich in den Mund legt.106 Da in der Parodie aber das Wahrhafte zum Ausdruck kommt, leiht der Auszug seine Stimme nicht den anderen, lässt diese durch sich sprechen, sondern er spricht selbstverständlich durch sie. Konventionell verläuft dieser Diskurs des Zitierens, insofern eine Aussage in der Wiederaufnahme durch jemand anderen korrigiert (überschrieben) oder als schlichtweg unzutreffend enttarnt wird. Erst im Ergebnis der Korrektur entlarvt sich die Aussage als falsch geurteilt, die Quelle des Irrtums wird somit niemals sichtbar. Die Reihenfolge des Enttarnens verkehrt sich: Es gilt nicht, eine von vornherein als unzutreffend feststehende Aussage umzuschreiben (zu berichtigen), sondern die Umschrift allein verweist auf etwas, das sie als erkennbaren Ursprung negiert. Für jene Beziehungsstruktur von Hyper- und Hypotext, welche temporale bzw. chronologische Relationen auflöst, findet Genette zahlreiche Beispiele. Reduktionen oder Erweiterungen107 – also Hypertexte – von (vorgängigen) Hypotexten lassen sich unter Umständen als deren ursprünglicher Hypotext108 lesen. Die Reihenfolge von Vorlage und Nachfolge verkehrt sich. Je nachdem, welche Darstellungsabsicht die Wiederaufnahme dem Primärtext unterstellt, gerät sein selektives Zitat zur wahrhafteren, reineren, da eigentlichen Darstellung. Im Zuge dieser Verlagerung verweist die Festlegung von Reihenbildung und Originarität auf den außertextuellen Bereich, auf ein vorhandenes kulturelles Wissen, ohne das die Plausibilität des Hypertextes ungebrochen bleibt. Fehlt dieses Wissen, generieren sich mitunter fälschliche Originale, denen es an Hypotexten gebricht oder denen der ausladende oder verknappte Hypotext gar zum Hypertext gereicht (sogar oder gerade dann, wenn es sich um Texte bzw. ihre Varianten desselben Autors handelt). Selbstverständlich verfährt Herders Robertson-Paraphrase selektiv, was sozusagen in deren ‚Gattung‘ begründet liegt. Das Zusammenwirken von Paraphrase – vielleicht wäre es sogar sinnvoll, hier von einer eigenen Gattung oder einem bestimm106 Vgl. Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt am Main, 1993, S. 29: „Die eleganteste, weil sparsamste Parodie ist somit nichts anderes als ein aus seinem Zusammenhang gerissenes Zitat, dessen ursprüngliche Bedeutung verdreht und dessen getragener Ton verfälscht wird, [...].“ Vgl. Herder, Ideen, a. O., S. 79: „pragmatischen Geschichten“. 107 Genette, Palimpseste, a. O., LV, S. 363, Amplifikationen. 108 In Bezug auf das Resümee vgl. a. O., LV, S. 363; s. a. XL, S. 287 od. XLVII, S. 322.
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ten Typus von Transposition auszugehen – und Zitat erzeugt überhaupt erst die lenkende Lektüre, indem sie die Paraphrase dem Zitat gleichstellt (auch wenn das dekontextualisierte Zitat selbst das Potential einer De- oder Relektüre anbietet). Jedoch sucht Herders Text in der Ausbeutung dieses Strukturmerkmals, den (rein korrektiven) Diskurs zu unterlaufen. Inwiefern sich philosophische oder geschichtsphilosophische Diskurse (um 1800) durch ernsthafte Sprechakte auszeichnen, da sie Ansprüche an Wissenschaftlichkeit einschließen, steht angesichts mancher Polemik zur Disposition. Polemik stellt keinen letzten Ausweg der Meinungsverschiedenheit oder rhetorisch-didaktischen Zusatz dar, versucht kein Spiel am Rande der seriösen Auseinandersetzung, flankiert sie, sondern gehört zu den Schreibpraktiken der Umschrift – wohnt dem Text immer schon inne. Damit wird ihre Funktion weder überspitzt noch unterschätzt, sich ernst zu nehmen bleibt weiterhin möglich. Somit läge mit der Robertson-Paraphrase eine „Transposition“ im Sinne Genettes vor, welche dem ernsten Register zuzuschlagen wäre109 – nicht ohne Spuren des „Ironischen“ sowie „Polemischen“110 aufzuweisen. Wäre Kritik im Idealfall also nüchtern anzubringen und in einer streng rationalen Argumentation zu widerlegen? Öffnet sich ein Raum für polemische Auseinandersetzungen aus Gründen diskursiver Ethik erst im Anschluss daran? Insofern Herders Umgang mit Fremdtexten polemische Züge trägt, wiegelt er jene nicht gerade nüchtern, sondern mitunter bösartig, gelegentlich sachlich unzureichend und kurzschlüssig ab. In der Art und Weise, wie Herders Text Robertson karikiert, steigt er nicht allein partiell aus dem ernsthaften Diskurs aus, sondern er verleiht dem entfremdeten ‚zitierten‘ Text wiederum Grade literarischer Qualität. Jedoch verlässt der Text im Zuge dessen allenfalls die stichische Struktur von Argument und Gegenargument und dispensiert keineswegs einen Diskurs, dem nachdrücklich daran gelegen ist, sich mit dem Text seines Gegenspielers auseinanderzusetzen. Ob die aus ihren Schriften entlassenen Autoren damit besser als mit kruder Ablehnung abgefunden werden, bleibt offen. Zwar handelt es sich bei der Operation, derzufolge vom Text auf den Autor geschlossen wird, um eine Form der Prosopopoiia, die Autor, Werk und Leben in eins setzt, indem sie vom vorliegenden Text auf ein Textexternes – ihn Hervorbringendes – schließt. Häufig ist diese externe Instanz (in der Welt) abwesend (etwa bereits tot). Nicht selten trägt sie aber ihre Abwesenheit (bloß) im Text aus. Obgleich Robertson für solch einen exemplarischen Fall eintritt, bleibt die geschilderte Referenzillusion nachrangig. Anstelle einer Integration des Autors in den Text findet durch die Prosopopoiia sein Ausschluss aus diesem statt. Der Zweck einer Lektüre im Modus der Prosopopoiia wird mithin verfehlt.
109 A. O., VII, S. 43f. 110 Vgl. a. O., VII, S. 45.
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Zum Ausdruck kommt daher nichts weniger als die gebrochene, da anderen in den Mund gelegte ‚Stimme‘ Herders. Einerseits liefert (nicht nur) Herders Frühschrift Argumente, weshalb die literarische der rationalen Textgestaltung vorzuziehen sei. Literarische Mittel eröffnen breitgefächerte Möglichkeiten der Textmodifikation – auf Abwegen oder in Nebensträngen der Handlung – und beschreiten damit offenere Pfade der Interpretation als streng rationale Varianten, welche geringere Flexibilität aufweisen, da sie einliniger Stringenz – etwa monokausaler Verkettung – verpflichtet sind. In einem raffinierten (rhetorischen) Schachzug trägt der Text andererseits aus, dass die Konstitution eigener Texte nur unter gänzlicher Verfälschung, ja Tilgung (Um-Schreibung) anderer Texte erfolgen kann. Dabei gerät wiederum die Mehrstimmigkeit des Vorausgesagten als unhintergehbares Moment der eigenen Stimmfindung zur literarischen Konstruktion. An der Modifizierung des Robertson-Textes zeigt sich, dass die Aufnahme und Arbeit am Fremden kaum mehr als eine (verkürzende) verzerrende Variation ist, die sich nur dann bewahrheiten kann, wenn sie sich dessen bewusst keinen vollkommenen Anspruch auf Seriosität erhebt. Ironie bietet (hier) eine Möglichkeit kritischer Hinterfragung, die dem Kritiker die völlige Zurückweisung des Anderen erspart, dabei aber die eigene Meinung so ausstellt, als spräche sie bereits durch den es im Grunde besser wissenden Anderen. Die Lächerlichkeit läge dann im um(ge)schriebenen Text begründet, der selbst bereits Urteile formuliert, die sich an der (historischen) Wirklichkeit brechen. Die Gesinnung, welche Herder Robertson mit seiner Umschrift unterschiebt, fällt wenig spektakulär oder überraschend aus. Unter dem Titel des Fortschritts fasse sie alle Entwicklungen, die in der – mit dem Mittelalter parallelisierten – Vergangenheit noch nicht verwirklicht waren, zusammen, und erhebe somit den Anspruch einer gegenwärtig verbesserten Ausgangslage. Mit dem Hinweis, „[d]a dürfen nur unsre politische Geschichtschreiber und historische Epopeendichter der Monarchie das Wachstum dieses Zustandes von Zeit zu Zeit malen!“111, verweist der Text in der Fußnote unmittelbar auf Robertson – das heißt, dieser steht für eine Gattung von Historikern ein. Damit unterstellt er dem Historiker (generell), er betreibe politisch instrumentalisierte Ideologiegeschichte und bemühe in dieser etatistischen Funktion altehrwürdige poetische Gattungen. Als Historist – wie die moderne Historiographiegeschichte suggeriert – kritisiert Herder ein Werk, dem Meinecke „[...] Leistungen eines geborenen historischen Talents, dem zwar die Genialität fehlte, aber nicht die vornehme Achtung vor den Erscheinungen einer bewegten Welt und selbst, soweit er sie fassen konnte, ihrer Eigenart, auf der die echte historische Objektivität beruht.“, attestiert. Als Zeichen und Medien (Stellvertre-
111 Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 72.
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ter) dieser Denkungsart treten „Tatsachen“, „Gewissenhaftigkeit“ und „Archive“112 ein, deren wissenschaftliches Verfahren Meinecke dem Historismus zuschlägt, während Herder sich vielmehr an ahistorischer eindimensionaler Fortschrittsemphase stört. Mit Robertson und Voltaire liegen also zwei verschiedene Modi der FürSprache vor. Vorgeblich und rein formal gefasst spricht Herders Text einmal für Robertson, indem er ihn durch sich sprechen lässt. In der Paraphrase kehrt sich dieses Verhältnis um. Durch die Re-Zitierung oder Rezitation der (omnipräsenten) Rede vom „‚Schriftsteller von hundert Jahren‘“ verleiht der Text Voltaire direkt keine Stimme, verwandelt ihn aber zur Stimme seines Jahrhunderts. Dessen Merkmale schreibt er mitunter auch Robertson zu, grundsätzlich treibt ihn allerdings ein anderer Aspekt um. An Robertson kritisiert er dessen (scheinbar) ungebrochenen Fortschrittsglauben. Gegenüber der eigenen Zeit äußerst affirmativ eingestellt, desavouiere Robertson alle anderen Zeiten aufgrund eines Mangels an „[…] gesellschaftliche[m] Leben in Europa“113 und versetze sie damit in den Stand einer vorzivilisatorischen Unordnung. Dabei verdanke sich dieser Standpunkt keiner geschichtsphilosophischen Reflexion, sondern resultiere aus der Ausrichtung am Fortschrittsparadigma, was den historistischen Impuls eigentümlich verkehrt. Zu Robertsons historistischem Vorgehen zähl(t)e seine Rücksicht auf die Wertigkeit gewisser Data, auf die es hinzuweisen galt. Insofern bezieht Robertson Quellenkunde in seine Heuristik ein. Die Einhegung der Quelle durch Herder hingegen erfolgt formal über deren Anführung, enthält jedoch Verunreinigungen, die das Zitat als verzerrend (Karikatur) ausweisen. Auf Fontenelle wiederum bezieht sich ein weiterer Zusatz114 – erweist sich daher als Zitat im Zitat – und entfaltet dabei pejorativen Charakter: So sähe Robertson „keine Spekulation in den Mond“ als kulturellen Mangel an, der sich aus (noch) nicht erfolgtem Fortschritt begründe. Durch diese weitere Einlage, die Intarsie Fontenelles, enthält der Text jedoch die Quelle (zum zweiten Mal) vor. Weder verweist er mit jenem Verfahren auf Robertsons Wortlaut noch auf den anderen Spender des Aperçus, sondern (re)produziert (Herders) Meinung. Im Paradigma der Aufklärungskritik, das Herder entfaltet, schneidet Spekulation generell schlecht ab – ihre Steigerung „in den Mond“ jedoch wird nie positiv lesbar. Wenn die Kritik an „historische[n] Epopeendichter[n]“ mit der Setzung der Fußnote direkt auf Robertson appliziert wird (wobei es sich hier um kein – auch kein vermeintliches – Zitat handelt), dann erzeugt das partielle Wiederaufrufen durch die Wendung des „philo112 Zitate s.: Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus, hg. u. eingel. v. Carl Hinrichs, in: Friedrich Meinecke: Werke, Bd. 3, hg. v. Hans Herzfeld, Carl Hinrichs u. Walther Hofer, München, 1965, S. 236-242, S. 237 (Kapitel: Robertson). 113 Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 73. 114 Herder, Auch eine Philosophie, Kommentar, a. O., S. 884.
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sophischen Epopeengeschichtsschreiber[s]“ im Zitat Robertsons den Eindruck, es handle sich um Robertsons Selbstbezeichnung. Die rahmende Karikatur außerhalb des Zitats tritt (leicht) modifiziert in den angeführten Text ein und entlarvt das poetologische Projekt Robertsons.115 Indem Herders Paraphrase Robertson den Hang zu unzulässiger Verkürzung zuschreibt, der im Fortschrittsvorwurf zur paradigmatischen Gestalt gerinnt, verkürzt er dessen Text tatsächlich. Eindeutig begründet Herders Kritik weder, woran sich der Fortschrittsglaube am Text ablesen lasse, noch stellt er plausibel dar, inwiefern Robertson eine Epopee malt. Handelt es sich bei der Paraphrase um eine reduktive Transposition, so zieht Herders Umschrift in ihrer Auswahl bereits Resümee.116 Unmittelbar offenbart sich das Malerische in Robertsons Text hingegen nicht, seine Rhetorizität äußert sich in spröder Genauigkeit. Vergeblich bleibt die Suche nach einem Plädoyer für die Errungenschaften aufgeklärten Fortschritts, denn der eigenen Epoche widmet sich der Text im von Herder paraphrasierten Teil mit keinem Wort. Dennoch wird lesbar, welche (rhetorische) Strategie diesen Eindruck bei Herder erzeugt haben könnte: spricht der Text von den politischen Verhältnissen des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts doch in republikanischem Vokabular. Robertson beschreibt die sukzessive Schwächung des Adels, aber auch das Scheitern von auf unzulässigen Prinzipien beruhender Monarchie im Zuge des Machtund (merkantilen) Bedeutungsgewinns der freien Städte innerhalb Europas. „The inhabitants of cities, having obtained personal freedom and municipal jurisdiction, soon acquired civil liberty and political power. It was a fundamental principle in the feudal system of policy, that no freeman could be subjected to new laws or taxes unless by his own consent.“117 115 Herder, Auch eine Philosophie, Zitate: a. O., S. 72f. 116 Vgl. Genette, Palimpseste, a. O., XLIX, S. 331f., 338f. „[…] Verlagerung des Interesses und des Standpunktes.“ 117 William Robertson, The History of the Reign of the Emperor Charles V, Volume I, in: The Works of William Robertson, 12 Volumes, London, 1996 [Reprint of the 1792 edition „The History of the Reign of the Emperor Charles V. With a View of the Progress of Society in Europe, from the Subversion of the Roman Empire, to the Beginning of the Sixteenth Century. In four Volumes. By William Robertson D. D., Volume I“], (S. 43). Herder nutzte die deutsche Übersetzung: Herrn Dr. Wilhelm Robertsons, Principals der Universität Edimburg, und königlichen Historiographen für Schottland, Geschichte der Regierung Kaiser Carls des V. Nebst einem Abrisse vom Wachsthume und Fortgange des gesellschaftlichen Lebens in Europa, […], bis auf den Anfang des sechszehenten Jahrhunderts. Aus dem Englischen übersetzt [von Matthäus Theodor Christoph Mittelstedt], Braunschweig, 1770. Zitate aus der deutschen Ausgabe hier auf S. 46f. Hervorhebungen aus dem Titel getilgt. Ich zitiere nach der englischen Ausgabe, da das
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Zwar geht es hier noch um das „feudal system“, die Marginalie hebt den Fokus auf Demokratisierungsprozesse mithin stärker hervor: „The inhabitants of cities aquire political power, as members of the constitution.“ (43) Von den Städten ist als „bodies corporate“ (44) die Rede, die Einrichtung neuer gesetzlicher Zustände befindet sich im Übergang vom dreizehnten bis ins vierzehnte Jahrhundert in vollem Gange: „the spirit of laws became different from what it had formerly been; it flowed from new principles; it was directed towards new objects; equality, order, the public good, [...].“ (46) Dabei bietet Robertson eine gesamteuropäische Geschichte, die Koinzidenzen und Korrelationen herstellt, die komplizierten (machtpolitischen) Wechselverhältnisse zwischen Fürstenhäusern beschreibt – bisweilen in direkter reziproker Verknüpfung (Verdichtung), bisweilen in paralleler Darstellung, welche eher (mögliche) ‚nationale‘ Entwicklungslinien betont: jedoch nie, ohne den „state of Europe“ im Auge zu haben. Die Minuskel behält noch vor, worum es eigentlich gehen könnte. So übersetzt die deutsche Ausgabe den Titel korrekt mit „Zustand“. Robertson jedoch vermittelt eher die Historie eines gesamteuropäischen politischen Körpers, die fortwährend sowohl den universalen Entwurf (Überblick, Aufriss) als auch Teilperspektiven berücksichtigt, ohne die partiellen Blickwinkel auf durch Robertson genutzte Vokabular dort deutlicher hervortritt. Um jedoch einen Eindruck zu verschaffen, inwiefern die Übersetzung sich um Adäquation bemüht, sei hier das deutschsprachige Pendant angeführt: „Die Einwohner der Städte, die eine persönliche Freyheit, und Stadtgerechtigkeit erhalten hatten, gewonnen bald eine bürgerliche Freyheit, und eine politische Macht. Es war ein politischer Grundsatz des Lehnsystems, daß kein freyer Mensch nach Gesetzen regiert, oder ihm Taxen aufgelegt werden könnten, als nur solche, die er sich aus eigener Bewilligung vorgeschrieben.“ Marginalie: „Die Einwohner der Städte gewinnen eine politische Macht, als Glieder des Staats.“ Die zitierte englische Ausgabe von 1792 unterscheidet sich, soweit ich anhand von Stichproben entnehmen konnte, nicht von ihrer ersten Ausgabe (1762-1771). Jene früheren Ausgaben sind über „DFG-Nationallizenzen“ einsehbar. Allerdings weichen die Titel zweier Ausgaben von 1770-1771 und 1771 signifikant ab. Dabei handelt es sich um zwei amerikanische ‚Reprints‘ Robertsons – aus einer Zeit allerdings, in welcher der von der britischen Regierung initiierte „Stamp Act“ nach Protesten der Kolonialisten wieder abgeschafft worden war (nämlich bereits 1766). Dort heißt es einmal: The history of the reign of Charles the Fifth, Emperor of Germany: and of all the kingdoms and states in Europe, during his age. To which is prefixed, a view of [...]. Hier setzt der oben zitierte englische Originaltitel wieder ein (1770-1771). 1771 nochmals abgewandelt: The history of the reign of Charles the Fifth, Emperor of Germany, and King of Spain: Including the history of the wars in Europe, during his age. The „Subversion of the Roman Empire“ impliziert mit Blick auf die politische Entwicklung Europas den Gedanken einer Translatio Imperii über das römische Rechtssystem. Vgl. die engl. Fassung, S. 78f. Seitenangaben zu Robertson in der Regel in Klammern im Fließtext.
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nationale (territoriale) Formationen („nations of Europe“, 51) oder „kingdom[s]“ (48) einzuschränken (so heißt es etwa auch „some provinces of Germany“, 48, „Germanic body“, 45). „Enfranchisement“ – was die „Freilassung“, ein „Freikaufen“ ebenso bezeichnet wie das damit verbundene neuerworbene Stimmrecht (46) – und „consent“ (politische Einwilligung) gehören zu den redundanten Vokabeln in Robertsons Text, sie beschwören demokratische – eigentlich republikanische, „republican government“ (48) – Verhältnisse als Ergebnisse der Befreiung von der Lehensherrschaft, ohne andere politische Zustände oder Geschehnisse auszugrenzen. Die Republikanisierung der Historie liest sich jedoch weniger als ideologisches Ziel des Textes, sondern vielmehr als Zustandsbeschreibung. So entfaltet die republikanische Verfassung gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts bereits historische Konkretionen: „But the freedom and independence which one part of the people had obtained by the institution of communities, inspired the other [...]“ und weckte damit bereits vor 1315 (die nächste in den Marginalien angegebene Jahreszahl) ein allgemeines politisches Begehren. Selbst wenn Robertsons Text die Unterstützung dieses freiheitlichen Begehrens durch einige Monarchen als intelligenten Schachzug gegen die sich ausweitende Macht des Adels liest, lässt er jedoch keinen Zweifel daran, dass einzig die richtige Einsicht dabei längerfristig ihre erwünschten Ergebnisse zeitigt: Ränkespiele unter den Fürsten, selbstgenügsames politisches Taktieren sowie die ökonomische Ausbeutung des Volkes haben ausschließlich Machtverlust oder gar allgemeinen Verfall zur Folge (vgl. dazu die Charakterisierung sowie die politischen Aktionen Louis XI., 116ff.). Jene Zustandsbeschreibung nimmt, wie gesagt, gegenläufige Tendenzen auf – ihre Republikanisierung ist Ergebnis einer direkten (ahistorischen) Übertragung republikanischen Vokabulars auf ein Land vor seiner Zeit und gerade darin zukunftsweisend. Das politische Klima errichtet sich über die genutzte Begrifflichkeit, die einer historisch erst nachfolgenden Zeit entstammt. Mit dieser sprachlichen Übertragung verbindet sich zugleich die metahistoriographische Wertung der unzeitgemäßen Zustände als durch den Fokus der politischen Vokabel lesbar: Der Anachronismus enthält die historische Deutung. Weniger inszeniert Robertsons Text jene Zustände als Vorläufer oder Genese einer auf die zeitgenössischen politischen Errungenschaften zielenden Aufklärung, in der sie kulminieren, sondern eher als zeitlose parallele Optionen, denen man sich beschreibend annähern kann. Als Einlösungen vor der Zeit stellen sie keine emphatische Begrüßung von Aufklärung und Fortschritt dar, sondern gehören zum politischen Tagesgeschäft (um 1300). Umso mehr verwundert es, dass Herder Robertsons Text weniger den Gebrauch anachronistischer Begriffe vorwirft, sondern ihm ein geradezu naives Zutrauen in die Fortschrittserzählung unterstellt, dessen Symptom freilich die ungebrochene Selbstverständlichkeit begrifflicher Übertragung darstellen könnte. „Adel durch
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Städte“118 trifft Robertsons stufenweise Darstellung politischer Emanzipation gerade nicht, insofern Herders Text in der Schwebe belässt, dass es sich hier um Ablösungsverhältnisse handelt, um sich eher dem schwebenden Zustand selbst zu widmen („gegen- und überwogen“), der Robertson weniger interessiert, der für Herder jedoch als Index maschinell gelenkter staatlicher Verhältnisse eintritt. Anstoß erregt die abwägende Betrachtung politisch-historischer Gleich- oder Gegengewichte offensichtlich in ihrer Neigung zur Seite der Maschinenmetapher, die ein geregeltes, sich austarierendes Räderwerk politischer Begebenheiten vorgibt. Während Herder in seiner Robertson-Paraphrase Vorgänge der Entstaatlichung aufgreift – „seitdem einzelne Kräfte und Glieder des Staats abgetan“119 – widmet sich Robertsons „Section I“ den Fundamenten und Begleitumständen potentieller politischer Gebilde, den Entstehungsbedingungen eines Staates also, den es so noch gar nicht gibt. Insofern verfehlt die Rede von der Schwächung des Staates Robertsons Darstellung, der nach den Ursachen ganz unterschiedlich gelagerter politischer Tendenzen forscht und sich nicht vorzeitig von etwas verabschiedet, dessen Genese es erst zu beschreiben gilt. Bevor Herders Text durch eine Fußnote auf Robertsons Schrift hinweist, karikiert er bereits das Modell eines „Gleichgewicht Europa’s“, das sich – so steht zu vermuten – als Ergebnis ausgefeilter „Staatskunst“120 einstellt. Bevor in Europa die Notwendigkeit, Gleichgewicht herzustellen eintrat, blieb das politische Leben handlungsarm – und die einzelnen Völker schirmten sich, so paraphrasiert Herder mit Robertson, lediglich gegen Eingriffe von außen ab. Erinnert dieser frühe staatenlose Zustand an Kants Stufen einer mutmaßlichen Menschengeschichte121, so teilen Herders Beschreibungen mitunter dessen Vorliebe 118 Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 73. Dieses Motto bildet den Teil einer paraphrastischen Substitutionsverkettung, deren politisches Ziel von Herder eher verstellt als angesteuert wird. 119 Zitate ebd. 120 Zitate: a. O., S. 72. 121 Vgl. Kant, Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, in: KAA VIII, S. 118: „Beschluß der Geschichte“. „Der Anfang der folgenden Periode war: daß der Mensch aus dem Zeitabschnitte der Gemächlichkeit und des Friedens in den der Arbeit und der Zwietracht, [...], überging.“ Kant spricht in diesem Zusammenhang von einem „Übergange“ aus dem „ersten“ (Jäger und Sammler) in den „zweiten Zustand“ (Ackerbau und Viehzucht). „Hier mußte nun der Zwist zwischen bis dahin friedlich neben einander lebenden Menschen schon anfangen, dessen Folge die Trennung derer von verschiedener Lebensart und ihre Zerstreuung auf der Erde war.“ Freilich geht es Kant um einen viel früheren, hypothetischen Zustand. Jedoch beschäftigt alle vier (Kant, Herder, Wieland und Robertson) die Frage nach dem paradoxen Moment der gleichzeitigen Entstehung von (historischer) Dynamik sowie (vorübergehend) stabilen Verhältnissen aus Abgrenzung.
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für die Abgrenzung eines selbstgenügsamen Inneren.122 Demgegenüber unterstellt er Robertson, jener beschwere sich über mangelnde Dynamik dieser Phase, da sie ihm nichts zu beschreiben, zu „malen“, übrig ließe. Tatsächlich macht Robertson durchaus Spannungen im Feudalsystem aus, das sich im Übrigen auf „choice“123 gründet und auf Gemeinschaftsbildung ausrichtet. „[D]isorder and corruptions“, „the sources of anarchy were innumerable“ (17) – trotz aller notwendigen sowie erfolgreichen Abschirmung nach außen gärt es eigentlich schon im Innern, ohne dass Robertson die prima ratio der Eroberer aburteilt oder gar in Frage stellt: von „elende[r] Gegenwehr“124 lässt sich im Text nichts entdecken. Politik findet für Robertson immer schon statt, wo sich ein gemeinsamer Wille bildet, selbst die „Huns and Alans“ gehen von einem völlig freien, von allem „state of social union“125 entbundenen Dasein zur „[…] necessity of uniting in more close confederacy“ über, sobald sie ihre „original countries“ (16) verlassen haben. Zur Konsequenz hätte dieses Gedankenspiel eigentlich, dass das Nomadentum zur Gemeinschaftsbildung überginge, sobald es sich zu bewegen beginnt – ein ihm innewohnendes Paradox. Laut Kommentar handelt es sich beim „Gleichgewicht von Europa!“ um eine in Voltaires Enzyklopädieartikel forcierte Idee – auch hier tritt (der Historiker) Voltaire als Stellvertreter oder Fürsprecher seiner Zeit ein, durch ihn drückt Herder Robertsons angeblichen Standpunkt aus. Damit rechnet Herder ihn einer Partei zu, ohne dass Robertson selbst (an dieser Stelle) Partei für die „Errungenschaften der Moderne“126 ergriffe. Somit gehen Voltaire und Robertson (als ihre gegenseitigen Stellvertreter) ineinander über, Robertsons Text selbst tritt in der Vorrede erst mit der Paraphrase „Adel durch Städte“ hervor, obgleich die Fußnote suggeriert, mit dem „treue[n] Auszug“127 sei schon vor knapp einer halben Seite begonnen worden. Trifft die Maschinenmetapher zu, dann im Zusammenhang mit der Schilderung der Herrschaftspraktiken Louis XI., „[w]o der Monarch den Staat so ganz in seiner Macht hat, dass dieser ihm nicht mehr Zweck, sondern auswärtiges Handeln durch ihn Zweck ist – wo er also so weit sieht, rechnet, ratschlaget, handelt, [...].“128 Konstatiert Robertson seine strategische Durchsetzungskraft und somit seinen poli122 Zum Beispiel: etwa Herder, Ideen, a. O., S. 222. Fruchtbarkeit und ästhetische Vorzugswürdigkeit treten als Merkmale von Abgrenzung auf. 123 Robertson, History, a. O., S. 14, Seitenzahlen weiterhin in Klammern. 124 Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 73. 125 Robertson, History, a. O., S. 14, Seitenzahlen in Klammern. 126 Vgl. Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 72, dazugehöriger Kommentar, a. O., ab S. 883. 127 Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 72. 128 A. O., S. 73.
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tischen Erfolg, so verschweigt er nicht dessen zwielichtigen Charakter, „subtle, unfeeling, cruel“, „[…] formed by nature to be a tyrant“129. Die Erfolgsbilanz und die (tatsächliche historische) politische Bedeutung jener Ränkespiele mag er nicht unterschlagen, selbst wenn er dem Charakter entspringende Motive negativ wertet. Damit liegen hier kaum Abweichungen zu Herder vor – nur liest Robertson diese Form der Machtausübung nicht als sich auf ganz Europa auswirkende Errungenschaft der Moderne, sondern mehr in diesem Rahmen, womit der Vorwurf ihrer positiven Wertung fehlgeht. Eher irritiert, dass Herders Text die Steilvorlage nicht nutzt, die Robertson ihm mit Louis XI. geliefert hat – handelt es sich hierbei doch um die Antizipation eines Herrschers nach dem Prototyp Machiavellis: einen Lieblingsgegenstand Herders, der unmittelbar zuvor im Zusammenhang mit Voltaire abgehandelt wurde. Das zusätzlich kommentierende Zitat zur Fußnote, „‚[n]icht die Tatsachen beunruhigen die Menschen, sondern die Meinungen über die Tatsachen […]‘“130, welches das Verfahren von „Auszug“ und „Urteil“131 rahmt, multipliziert die Verschränkung von Meinung und Urteil. So entsteht der Eindruck, als ob Robertsons Text eine fortschrittsaffine Meinung durchscheinen ließe, die Herder nun kritisch und unvoreingenommen zu hinterfragen hätte. Dabei lenkt die durch die Paraphrase errichtete Rahmung weit häufiger auf ein Urteil hin als Robertsons Text sich zu den durch ihn präsentierten Tatsachen äußerte. Einzig die emphatische Aufheiterung132 weicht von der neutralen Stimmung des Textes ab; ein Zugeständnis an das letztlich verfallende Mittelalter, dessen Lehenssystem bereits vernünftige und vor allem freiwillige Einrichtungen kennt, das jedoch kaum als Vorbote der Aufklärung eintritt (gerade hier mobilisiert die Komplexität des Übergangs offensichtlich rhetorisches Potential oder vielmehr topischen Vorrat). Hebt Herder die antezedente Rolle der französischen Geschichte hervor, bestimmt er sie durch die Doppelung von Vorgängigkeit und Historizität temporal, als Beginn einer Reihenbildung, ohne zu berücksichtigen, dass Robertsons Text ihre Vorbildhaftigkeit auf einen klassischen, sehr konkreten Exempelbegriff münzt. Der exemplarische Charakter, zuvor schon durch Louis XI., „[…] formed by nature to be a tyrant“ (116), ausstaffiert, verlockt weitere Herrscher zur Macht akkumulierenden sowie festigenden Politik der Intrige: „The example which Louis set was too inviting not to be imitated by other princes.“ (121) Nicht nur für England (121) übernimmt Frankreichs Herrscher die Rolle eines Vorbildes, sondern auch für Spanien (123). Robertson reiht die am französischen Vorbild geschulten Exempel in lo129 Robertson, History, a. O., S. 116. 130 Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 72, vgl. den Kommentar, a. O., S. 854. Zitat von Epiktet. 131 Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 72. 132 Vgl. Robertson, History, a. O., S. 25f. Seitenzahlen nachfolgend in Klammern.
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ckerer Folge, ohne jedoch kulturelle Überlegenheit Frankreichs zu suggerieren. Jedes europäische Land kann für Robertson solch exemplarische Funktion einnehmen. So traten bereits sowohl die italienischen Städte als Vorboten der Freiheit (37f./39, „This innovation was not long known in Italy before it made its way into France.“, 40, „Towns, upon acquiring the right of community, became so many little republics, governed by known and equal laws.“, s. a. „great cities in Germany“, „The practice spread quickly over Europe“, 40) als auch die englische Verfassung als konstitutioneller Vorreiter (44, „In England, one of the first countries in which the representatives of boroughs were admitted into the great council of the nation, [...]“) ein. Jedem Land zollt Robertson gemäß seiner Vorreiterrolle gebührende Aufmerksamkeit, jedes kommt seinem historischen Auftritt entsprechend an die Reihe. Dadurch entsteht der Eindruck einer zwar zwanglosen, aber natürlichen Folge, die historische Gewichtung nach Exemplarität vornimmt: Ins Narrativ tritt dasjenige Land ein, das sich besonders gut für die Beschreibung eines bestimmten Typus oder einer Entwicklungslinie eignet. Einen Vorzug räumt Robertsons Text Frankreich nicht ein, jener Verdacht schuldet sich eher einer auf frankophile Äußerungen gerichteten Aufmerksamkeit (Herders). Tritt Frankreich als Exempel ein, dann als negatives, das sich der Willkür eines tyrannischen Herrschers ausgesetzt sieht. Wie den anderen Ländern auch, gesteht Robertsons Text ihm mehrere exemplarische Auftritte zu, die jeweils Tendenzen epochalen Wandels oder politischer Umbrüche fokussieren – ein Land mag als Exempel diverser Veränderungen herhalten, die zunächst kaum etwas über dessen politisch zukünftigen Zustand aussagen. Allein, dass es als variable Größe innerhalb eines Netzes von Beziehungen identifizierbar wird, impliziert nationale Tendenzen in der Erzählrichtung. Herders Text schreibt also an Robertsons Darstellungsabsicht vorbei, indem er sie überschreibt. Die Abneigung, die in der Karikatur Gestalt gewinnt, entspringt einer stilistischen Abweichung, welche sich den Zustand Europas mithilfe republikanischen Vokabulars erschreibt (vergegenwärtigt), ohne Partei zu ergreifen. Zugegeben schmal, dafür aber nicht weniger instruktiv, äußert sich Robertsons Vorwort zu den eigenen historiographischen sowie poetologischen Vorgaben. Vornehmlich widmen sich die programmatischen Zugeständnisse den Eingrenzungen des Gegenstandsbereichs. Sie bestimmen, wann es sinnvoll ist, ins Detail zu gehen, und wann es darüber hinaus notwendig ist, Grenzen zu setzen. Nicht nur der Umfang des Gegenstandes selbst, sondern auch sein Bezug zur jeweiligen Erzählperspektive nimmt Einfluss auf die Bedingungen seiner (schriftlichen) Verfassbarkeit. Eine größere Nähe ihm gegenüber erfordert und ermöglicht Detaillierung zugleich. „No period in the history of one’s own country can be considered as altogether uninteresting. [...]. Even remote and minute events are objects of a curiosity, [...].“ (IX) Geschichte stellt für Robertson nicht allein einen Kollektivsingular – womit sein Vorwort Merkmale eines modernen Geschichtsbegriffs aufweist – dar, viel-
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mehr spaltet sie sich in mehrere Geschichten auf. Allerdings handelt es sich hier keineswegs um den – für das moderne Historiographieverständnis so gern und häufig bemühten – Gegensatz von Geschichte als Kollektivsingular und deren (unsystematischen) Einzelerscheinungen (Geschichten als Exemplar von etwas, als Erzählungen). Pluralität von Geschichte(n) denkt Robertson als Vielzahl von Kollektivsingularen – als Vielzahl, die diese intrinsische Multiperspektivität immer schon in sich enthält.133 Damit verkompliziert sich ein Denken von Historizität, das über Landesgrenzen ausgreift – grenzüberschreitend reziproke Strukturen anerkennt – und zudem materialistische Aspekte berücksichtigt. „But, with respect to the history of foreign States, we must set other bounds to our desire of information. The universal progress of science, during the two last centuries, the art of printing, and other obvious causes, have filled Europe with such a multiplicity of histories, and with such vast collections of historical materials, [...].“134
Mit diesem Zitat äußert sich das Zutrauen in den Fortschritt jedoch nicht emphatisch, sondern seine engere chronographische Eingrenzung sowie die materialistische Fundierung weist die ihm verbundenen Veränderungen als Tatsachen aus. Fortschritt wird konkret benennbar, ohne dass ein elaboriertes Konzept von Menschheitsgeschichte dahinterstünde oder er schlicht technokratisch aufgeschlüsselt würde. Dass unter den technischen Errungenschaften gerade der Buchdruck, „the art of printing“, hervortritt, betont dessen bildungsgeschichtliche Relevanz – agiert er doch als Medium der Wissenschaftlichkeit („universal progress of science“, IX). Insofern demokratisierende Tendenzen bereits dem Übergang vom Mittelalter in die frühe Neuzeit angehören, weitet sich der temporale Rahmen der Fortschrittsprozesse auf mehr als zwei vergangene Jahrhunderte aus. Aufgrund der Materialfülle ist eine universale Geschichte mehrerer Länder kaum durchführbar. Dennoch entwickelt Robertsons Vorrede eine programmatische Lösung für diese unvermeidbare Komplexitätssteigerung. „It is necessary, then, not only for those who are called to conduct the affairs of nations, but for such as inquire and reason concerning them, to remain satisfied with a general knowledge of distant events, and to confine their study of history in detail chiefly to that period, in which the several States of Europe having become intimately connected, [...].“ (X) 133 So konzediert Karen O’Brian Robertson, er erfasse „[…] simultaneous causality in history.“ Karen O’Brian, „Robertson’s place in the development of eighteenth-century narrative history“, in: William Robertson and the Expansion of Empire, hg. v. Stewart J. Brown, Cambridge, 1997, S. 74-91, S. 89. 134 Robertson, History, a. O., S. IX (Vorrede), titelgebendes Zitat: S. XIII. Seitenzahlen in Klammern.
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Ein Überblickswissen soll die historische Neugierde befriedigen, enzyklopädische Zurückhaltung sowie epistemische Distanz sind gefragt. Ausschnitthaft dürfen Schilderungen ins Detail gehen, insofern jene Ausschnitte im Zentrum inniger Verknüpfung liegen und damit Erklärungspotential entfalten. Dabei unterscheidet der Text generell nach historischen Perioden, zwischen denen markante Umschlagsphasen angesiedelt sind, welche neue Perioden einleiten oder andere beschließen. Im Prozess der Europäisierung beginnen die einzelnen Staaten sich gegenseitig zu betreffen. Zuvor blieben sie relativ singulär, behielten ihre eigene unantastbare Vergangenheit. Nun fangen andere Staaten an, exemplarische Funktion für sie zu übernehmen: „An æra should be pointed out, prior to which, each country, little connected with those around it, may trace its own history apart; after which, the transactions of every considerable nation in Europe become interesting and instructive to all.“ (X) Mit dieser Heuristik rechtfertigt die Vorrede den zentralen Gegenstand des folgenden Projektes: „The age of Charles V. may therefore be considered as the period at which the political state of Europe began to assume a new form.“ (XI) Diese Form bildet ein einheitliches politisches System – „one great political system“ – Europas (X), das sich sogar durch einen gewissen Grad an Beständigkeit auszeichnet („in which each took a station, wherein it has since remained with less variation […]“, X-XI). Heuristisch stützt demnach eher eine Konstanzannahme den Text, als dass er sich überschlagenden Fortschritt verfechten würde. Vielmehr führten fortschrittliche Tendenzen erst zum politischen Zustand, der Ausgangs- und Zielpunkt des historiographischen Unternehmens zugleich markiert. Die Geschichte des Fortschritts bleibt supplementär, indem sie dem sich perpetuierenden Zustand Europas vorangeht. Durch das Supplement gewährleistet der Text Leserfreundlichkeit, die Ergänzung der Erzählung übernimmt eher didaktische Funktion, als dass sie auf die Komplettierung des Historischen angelegt ist. „As my readers could derive little instruction from such a history of the reign of Charles V. without some information concerning the state of Europe previous to the sixteenth century, my desire of supplying this has produced a preliminary volume, in which I have attempted to point out and to explain the great causes and events, to whose operation all the improvements in the political state of Europe, [...], must be ascribed.“ (XII)
Man könnte also behaupten, dass gerade der Zustand beschrieben werden soll, an dem Stillstand erreicht ist, an dem der Zustand (state) zum State (of Europe) übergeht. Hierin liegt ein paradoxes Moment, insofern der Zustand nicht an sich zu beschreiben ist, sondern immer nur auf ihn hingeschrieben werden kann. Während sich die historiographische Heuristik einerseits aus einer ihre Gegenstände konturierenden Relation von Dynamik und Konstanz speist, welche es erlaubt, für die Erzählung relevante Elemente voneinander abzugrenzen, erfordert Robertsons Vorge-
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hen andererseits Verfahren der Beglaubigung oder des Belegs. Was zuvor als strukturell einschlägig errichtet wurde, bedarf nun der näheren Erläuterung (Detaillierung), welche die festgelegten Strukturmerkmale nachträglich rechtfertigt. Zu diesem Zweck begibt sich Robertsons Text in das Metier eines „lawyer or antiquary“ (XII) und positioniert das Supplement diesmal nicht am Anfang, sondern wirklich am Ende des Textes. Im Anhang versammelt er „critical disquisitions“, „under the title of Proofs and Illustrations.“ (XIIf.) Jener Zusatz bildet aus Sicht des Lesers entweder einen zu vernachlässigenden Teil oder avanciert zum „[…] most curious and interesting part of the work.“ (XIII) Mit dieser Bestimmung bleibt es dem Leser selbst überlassen, ob er „such researches“ (XIII) wahrnimmt, wenngleich sie der Authentifizierung der Fakten („authenticating the facts“, XIII) dienen. Zwar trägt die Anerkennung ihrer Faktizität zu Schlussfolgerungen bei („[…] facts which are the foundations of my reasonings“, XIII), dennoch verpflichtet der Faktenkatalog (den Leser) zu nichts. Mehr noch richtet sich die Ergänzung an Kollegen oder Nachfolger, an Leser, die in die Tiefe zu gehen geneigt sind. Die Selbstermächtigung des Lesers, seine Beteiligung am Prozess der Vertiefung des historischen Gegenstandes, erstreckt sich gewissermaßen bis auf programmatische Vorentscheidungen. Zumindest handelt es sich hier um eine offene Stelle, eine offensichtliche Auslassung, deren Fehlen sich der Beobachtbarkeit kaum entzieht. „Every intelligent reader will observe one omission in my work, the reason of which is necessary to explain. I have given no account of the conquests of Mexico and Peru, or of the establishment of the Spanish colonies in the continent and islands of America.“ (XIV)
Im Prozess der konzeptionellen (auf)schreibenden Vertiefung gerät das Ausmaß des ursprünglich Intendierten an die Oberfläche. Daraus resultiert eine Disproportionalität, die letztlich einen Aussch(l)uss provoziert. Um den exzessiven Exkurs zu vermeiden, werden Teile der Geschichte ausgelagert – wiederum supplementiert – diesmal jedoch direkt an die Reaktion des Lesers gebunden. Was als Captatio Benevolentiae lesbar wäre, gehört jedoch ausdrücklich zur metahistoriographischen Selbstrechtfertigung und löst das Versprechen der Demokratisierung des Lesers ein (zur Geschichte Amerikas wurden dann gleich mehrere Bände veröffentlicht). Im Zusammenhang der Gesamterzählung – hier recht technisch als „principal work“ betitelt – wird der Exkurs als Episode („episode“) gedeutet. Somit wäre das Verfahren der Supplementierung als Auslagerung von Episoden fassbar, die man nach Bedarf „episodisch hinzuthu[n]“ kann.135 135 Vgl. das Kapitel „Episode und Hauptschauplatz“, die Analyse zu Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ [s. KAA VIII, S. 29]. „Denn wenn man von der griechischen Geschichte – als derjenigen, wodurch uns jede andere ältere oder gleichzeitige aufbehalten worden, wenigstens beglaubigt werden muß*) – anhebt;
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Die knappe Zusammenfassung oder Paraphrasierung des Ausgelassenen weist jene ausufernde Tendenz auf, da der Autor selbst hier nicht darauf verzichten kann, auf die internen Zusammenhänge des bereits Ausgeschlossenen hinzuweisen. Mit seiner Ankündigung einer zukünftigen Ergänzung verfährt Robertsons „Preface“ komplementär zu Herders Vorrede der „Ideen“, in der jener darstellt, inwiefern die Reaktionen auf seine frühere Schrift ihre Neuauflage verhinderten und die „Ideen“ als eine Art Replik zum „Beitrag“ auf dessen vielfaches Maß anschwellen ließen.136 In seiner Vorrede also schweift Robertson kurz ab, um eine digressive Disproportionalität seines Gesamtwerks zu verhüten. „The history of these events I originally intended to have related at considerable length. But upon a nearer and more attentive consideration of this part of my plan, I found that the discovery of the new world; the state of society among its ancient inhabitants; their character, manners, and arts; the genius of the European settlements in its various provinces, together with the influence of these upon the systems of policy or commerce in Europe, were subjects so splendid and important, that a superficial view of them could afford little satisfaction; and, on the other hand, to treat of them as extensively as they merited, must produce an episode, disproportionate to the principal work. I have therefore reserved these for a separate history; which, if the performance now offered to the Public shall receive its approbation, I purpose to undertake.“137 wenn man derselben Einfluß auf die Bildung und Mißbildung des Staatskörpers des römischen Volks, das den griechischen Staat verschlang, und des letzteren Einfluß auf die Barbaren, die jenen wiederum zerstörten, bis auf unsere Zeit verfolgt; dabei aber die Staatengeschichte anderer Völker, so wie deren Kenntniß durch eben diese aufgeklärten Nationen allmählig zu uns gelangt ist, episodisch hinzuthut: so wird man einen regelmäßigen Gang der Verbesserung der Staatsverfassung in unserem Welttheile (der wahrscheinlicher Weise allen anderen dereinst Gesetze geben wird) entdecken.“ 136 Herder, Ideen, a. O., S. 11. „Die hie und da im Buch zitierten Schriften zeigen gnugsam, welches die betretnen und ausgetretnen Wege waren, von denen der Verfasser ablenken wollte; und so sollte sein Versuch nichts als ein fliegendes Blatt, ein Beitrag zu Beiträgen sein, welches auch seine Gestalt weiset. Die Schrift war bald vergriffen und ich ward zu einer neuen Ausgabe derselben ermuntert; unmöglich aber konnte diese neue Ausgabe sich jetzt in ihrer alten Gestalt vors Auge des Publikums wagen. Ich hatte es bemerkt, daß einige Gedanken meines Werkchens, auch ohne mich zu nennen, in andre Bücher übergegangen und in einem Umfange angewandt waren, an den ich nicht gedacht hatte. Das bescheidne ‚Auch‘ war vergessen; [...].“ 137 Robertson, History, a. O., S. XIV. Zu „Genius“ vgl. Samuel Johnson’s: A Dictionary Of The English Language: In Which The Words are deduced from their Originals, And Illustrated in their Different Significations By Examples from the best Writers. To Which Are Prefixed, A History of the Language, And An English Grammar. By Samuel John-
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Zu beleuchten wären unterschiedliche Aspekte der Kolonialgeschichte in der Neuen Welt, welche die Geschichte der Neuen und Alten Welt zunächst voneinander trennt. Ihre Entdeckung erfordert es, parenthetisch den vorangehenden Zustand einzuholen („the state of society among its ancient inhabitants; their character, manners, and arts;“, wobei die Parenthese hier innerhalb gesetzter Semikola vor „the“ und hinter „arts“ entsteht). Damit erzeugt sich allerdings auch der Eindruck eines unbehelligten Nebeneinanders beider Kulturen. Von gewaltsamer Übernahme, vom An-sich-Reißen durch die Kolonisatoren ist keine Rede. Rückwirkungen führt ihr Kontakt lediglich auf Seiten Europas mit sich, die sich vor allem auf den Handel konzentrieren. Durch den Einzug der Parenthese offenbart sich eine merkwürdige Verschränkung. Einerseits weist sie auf die Notwendigkeit einer unangetasteten Geschichte der „ancient inhabitants“ vor dem Kulturkontakt hin, andererseits verschweigt sie deren Verlauf seit dieser Zeit in der Ankündigung gänzlich. Mit der Frage nach dem „genius“ der europäischen Siedler bleibt freilich ein Raum für eine – zugegeben einseitige – Entfaltung der Begegnung offen.138 Hintergründe oder innere Beweggründe mögen jedoch verhindern, dem oberflächlichen Blick („superficial view“) anheimzufallen, der unbefriedigend bleiben muss. Aus der Misere der Vervollständigung einer räumlich disparaten, jedoch rekursiven Historie entspringen entweder die unbefriedigenden Optionen oberflächlicher oder disproportionaler Darstellung. Die Komplexität jener Historie resultiert daraus, dass sie zugleich räumlich und delokalisiert zu fassen ist. Zwar nimmt die lokale Inbesitznahme eine essentielle Rolle für den Kolonialismus ein, die Auswirkungen auf den europäischen Raum besitzen jedoch eher systemische Relevanz, gerade weil Zwischenräume existieren, die sich nicht im durchgängig verbundenen räumlichen Kontinuum auffangen lassen. Die Entdeckung (oder auch die zielgerichtete Reise) stiften kein räumliches Band, das die eurozentrische Erzählung erweiterte und die Neue Welt damit in sie integrierte. Somit legt das parenthetische (beiordson, A. M. In Two Volumes, Vol. I., London, 1755 (unpag.). „1. The protecting or ruling power of men, places, or things.“; „4. Disposition of nature by which any one is qualified for some peculiar employment.“ 138 O’Brian, Robertson’s place, a. O., S. 89, zur „History of America“. Selbst wenn das durch Robertson neu eingeführte (narrative) Paradigma der „historical sociology“ sich für seine Erzählung am vermeintlich neutralen Kategorisierungsmerkmal der Wirtschaftsform („subsistence“) orientiere (S. 89), liefen Robertsons historiographische Bemühungen O’Brian zufolge letztlich auf „Europe’s superiority“ zu, was durch die Wendung „‚progress of society‘“ eher verschleiert würde (S. 90). Robertson vertraue auf das „European grand narrative“, trotz der Spielart des Freihandels, die er entfalte (S. 91). Seine politische sowie schriftstellerische Liberalisierung erfolge erst später mit der Schrift „An Historical Disquisition Concerning the Knowledge Which the Ancients Had of India“ von 1791 (S. 91).
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nende) Verfahren seinen Finger eher auf die Wunde programmatischer Aporien, als dass der Text bestechende Lösungen vorschlagen würde. Ein unverbundenes Nebeneinander, das es unentbehrlich macht, jede Geschichte erst einmal für sich zu erzählen, lagert die parallel verlaufenden (doch nicht so linearen) Entwicklungslinien in weitere Bände oder Supplemente aus – genau weil es hier um die gleichberechtigte Darstellung des Trennenden sowie Verbindenden geht. Jenes beiordnende Verfahren erweist sich als kompositionelles Merkmal des Hauptteils, dem daran gelegen ist, räumlich und zeitlich Koinzidentes erst einmal säuberlich getrennt zu halten. Robertsons Reflexionen zur extensiven sowie intensiven Reichweite seiner Gegenstände und dessen supplementierendes Vorgehen erzeugen einen Gestus szientifischer Bescheidung. Einmal gefasste Pläne oder Entwürfe werden angesichts des zu Bewusstsein gedrungenen Umfangs der Tatsachen und Zusammenhänge verworfen, angeglichen oder ausgelagert. Dabei sollte man nicht darüber hinwegsehen, dass dem Rückzug eine Fülle weiterer Bände und Supplemente korrespondieren. Robertson vertritt ein disziplinäres historiographisches Programm mit umfassendem Anspruch. Am ehesten entsprächen Robertsons gesammelte Texte (in diesem Fall wäre wirklich von Werken zu sprechen) einer Universalhistorie, deren Universalität darin aufgefangen würde, fortwährend auf weitere Bände auszuweichen und neue Anschlüsse oder Rückbezüge zu generieren. Auch Herders Geschichten der Menschheit tragen universalhistorische Züge, wobei dieser Anspruch nicht allein durch das exklusive Thema gestellt oder eingelöst würde. Gerade im Übergang von der Früh- zur Spätschrift wagt Herder sich immer tiefer in dezidiert historische Gefilde, widmet sich materialistischen Geschichtsbetrachtungen und der Chronologie der Ereignisse. Ab einem gewissen Zeitpunkt ergänzen die „Ideen“ Jahreszahlen durch Klammern im Text, was ihrer Unterbringung innerhalb der Marginalien bei Robertson entspricht. Dabei kommen temporale Doppelungen, Rückschritte und Überschneidungen zum Tragen. Anders lässt sich Gleichzeitiges kaum (gleichzeitig) beschreiben, besonders insofern sich der Tenor der Darstellung Linearität verpflichtet – obgleich für Herders Texte bereits ins Feld geführt wurde, dass sie (doppelt) rekursive Bewegungen vollführen. Robertsons Vorrede bleibt knapp und rechtfertigt damit das, was sie nicht (mehr) vorzunehmen beabsichtigt. Zwar adressiert die Widmung („Dedication“) zunächst den König, „[…] no less a Judge than a Patron of Literary Merit“139, die 139 Robertson, History, a. O., Dedication, unpag. Als Whig war Robertson „Royal Chaplain“ unter George III., der die königstreuen Tories politisch bevorzugte. Trotz allen gebührenden Respekts changiert der Charakter der Widmung. Ob es also einen Gemeinplatz darstellt(e), die instruktive Funktion der Historie zu betonen, bleibt dahingestellt. Jene durch Robertson gutgeheißene Selbstbeschränkung („self-command“) des Königs bezieht sich wahrscheinlich auf dessen (vorläufigen) Rückzug aus der Kolonialpolitik
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Vorrede richtet sich dann aber an den selbstbewussten, gebildeten demokratisierten Leser – letztlich an eine literale Öffentlichkeit („the Public“, XV) – und sie bezieht deren Bedenken und mögliche Kritik bereits in die Darstellung mit ein („[...] that the plan must still appear to them too extensive, and the undertaking too arduous.“, XV). Demgegenüber wirft Herders Vorrede zu den „Ideen“ emphatisch die Frage der Theodizee auf und fordert vom Leser rezeptiven Humanismus ein. „Bei einem Thema, wie das Meinige ‚Geschichte der Menschheit, Philosophie ihrer Geschichte‘ ist, wie ich glaube, eine solche Humanität des Lesers, eine angenehme und erste Pflicht. Der da schrieb, war Mensch und du bist Mensch, der du liesest. Er konnte irren und hat vielleicht geirret: du hast Kenntnisse, die jener nicht hat und haben konnte; gebrauche also, was du kannst und siehe seinen guten Willen an; laß es aber nicht beim Tadel, sondern bessre und baue weiter.“140
Auch Robertsons Text gewährt dem Leser nicht zuletzt durch sein supplementäres Verfahren, eine Auswahl zu treffen, da er von abweichend gelagerten Interessen und Fähigkeiten ausgeht. Im Übrigen bezeugen Herders warme Worte keineswegs den humanistischen Anspruch des Gesamtwerks, wenn er den Lesern eine bestimmte Lektürehaltung abverlangt. Die Lösung seiner Fragestellung erwartet Herder im Aufschub (indem er deutlich macht, dass die ersten Bücher der „Ideen“ sie noch nicht gewähren können). Ein theologischer Tonfall trägt die Auseinandersetzung mit der Theodizee und entfaltet erbauliche Momente. Während Herder demzufolge hohe Ansprüche an seine Leser stellt, nicht vorschnell oder harsch zu urteilen, dem Gesagten ganz menschlich gegenüberzutreten, nimmt Robertson seinen (intelligenten) Leser als gleichberechtigten Diskussionspartner ernst, vor dem man sich zu Recht fürchten darf. „With what success I have executed it, the Public must now judge. I wait, not without solicitude, for its decision; to which I shall submit with a respectful silence.“141 Elegant zieht er sich dabei dennoch aus der Affäre: Denn er respondiert nicht auf potentielle Kritik, um sich zu rechtfertigen, sondern schweigt aus Respekt vor der Berechtigung anderer Positionen. Man könnte behaupten, er entziehe sich damit dem Zirkel demokratischer Kommunikation. Oder er zollt der Tatsache Beachtung, dass auch die Leser bis zu einem gewissen Ausmaß zum mit der „Königliche[n] Proklamation von 1763“, welche Verhandlungen zwischen Indianern und Siedlern anstoßen sollte, um letzten Endes Kriegskosten zu sparen. Der Abgleich mit Charles V. speist sich wohl aus dieser Selbstbeschränkung. „Public Welfare“ würde insofern gestärkt, als außenpolitische Belange zurücktreten. Dass sich dieses politische Verhalten ändert bzw. scheitert, scheinen spätere Vorreden nicht zu berücksichtigen. Seitenzahlen zu Robertson in Klammern. 140 Herder, Ideen, a. O., S. 14. 141 Robertson, History, a. O., S. XV (Vorrede). Seitenzahlen in Klammern.
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(schriftlichen) Schweigen verurteilt sind. Dennoch übergeht Robertson seine möglichen Adepten nicht („[...] may be useful in pointing out the way to such as shall hereafter hold the same course, and in enabling them to carry on their researches with greater facility and success.“, XIII). Sowohl Robertsons als auch Herders Projekte sind eurozentrisch ausgerichtet, nehmen allerdings variable Akzentuierungen vor. In Robertsons Vorrede kristallisiert sich heraus, dass jener Eurozentrismus dem Umfang des Gegenstandes geschuldet ist, weshalb er die Geschichte der anderen schlicht auslagert. Auch Herder geht es mit der Vorgeschichte Europas in den „Ideen“ um eine außereuropäische Geschichte. Am Ende läuft sie jedoch wiederum auf das europäische Zentrum zu. Der chronologischen Fairness halber bleibt zu erwähnen, dass Herders Menschheitsgeschichte ungefähr dort aufhört, wo Robertson einsetzt. Bei Herder datiert die letzte notierte Jahreszahl auf 1250/55 – eine Zeit, in der Robertson die gesellschaftlichen Veränderungen ansiedelt, welche die Herrschaft Karls des V. vorbereiten. Die Jahreszahlen stehen hier unabhängig von historischen Figuren. Genau an diesem Punkt geht es den beiden Historien jedoch um ein und dieselbe Bewegung, nämlich um eine erste Modernisierung nach dem Mittelalter, die eine neue Zeit aufschlüsselt. So fragt Herder unmittelbar an die letzte Figur seiner Geschichte, „Roger Baco“142, anknüpfend nach der Genese und dem Standort Europas143: visiert „die neue Kultur Europa’s“ an, welche wegweisend für den (zukünftigen) gegenwärtigen Zustand sein soll.144 Im Zuge jenes Ausblicks mahnt der Text zurückhaltend zur Geduld („[…] siehets eben als ein gutes Zeichen an, wenn auch das Beste nicht zu früh reifet.“)145, während Robertson den zu erreichenden (republikanischen) Status (terminologisch) bereits der Vergangenheit einschreibt. Das Abgeschlossene birgt das Zukünftige in sich, der Beginn der Erzählung beinhaltet schon seine (genetischen) Grundlagen – Grundlagen, die fragwürdig erscheinen lassen, was es überhaupt noch zu erzählen gibt –, und insofern geben sich sowohl Herders als auch Robertsons Texte fortschrittsaffin. Nimmt man die offenen Worte der Vorrede Robertsons pragmatisch ernst, tilgt sich der Erzähler kaum aus dem eigenen Text oder dem wissenschaftlichen Diskurs, sondern zeichnet die eigene Position als verantwortlich für die lückenlose Belegung bzw. Dokumentation seiner Behauptungen. Zwar verzichtet der Haupttext (weitgehend) auf eine Markierung der Sprecherposition, jedoch steht das Supplementierungsverfahren für das Versprechen textueller Verantwortlichkeit ein. Selbst wenn Robertsons Text dem Historismus zuzuschlagen ist und sich konzeptuell auf die 142 Herder, Ideen, a. O., S. 895. Hier findet sich auch die letzte Jahreszahl. 143 A. O., S. 897. 144 A. O., S. 898. 145 Ebd.
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Bildung dieser historiographischen Gattung auswirkte, legt er das ihm innewohnende narrative Verfahren zum Großteil offen, ohne sich hinter vermeintlicher Objektivität zu verbergen.146 Kritik an Voltaire formuliert Herders Text weder als Kritik am Fortschrittsparadigma noch als Zurückweisung seiner Methode historischer Forschung. Als Skeptiker äußert Voltaire ohnehin Zweifel am Primat des Fortschritts menschlicher Vernunft und unterscheidet sich dadurch von anderen aufgeklärten Zeitgenossen. Seine Auseinandersetzung mit Geschichte beruhe daher (etwa Meinecke und Gadamer zufolge) weder auf der Sammlung von Daten oder Tatsachen – von seiner Beteiligung an der französischen Enzyklopädie abgesehen – noch auf dem Prinzip einer teleologisch ausgerichteten Ereignisfolge.147 Für den Skeptiker erübrigt sich die ideologisch motivierte Suche nach einem Ordnungsprinzip für das Ganze der Geschichte. Deshalb beschränkt Voltaires Methode sich auf die kunstvolle sprachliche Ausgestaltung des Präsentierten. Ereignisse treten auf Grundlage seines basalen Skeptizismus als günstige Aperçus der Geschichte auf (gewährleisten so jedoch deren Relationalität, ihre Vergleichbarkeit). Wenn also Fortschrittsparadigma und aufkommender Historismus – dem Meinecke 146 O’Brian, Robertson’s place, a. O., S. 89. Gelegentlich spricht die Autorin Robertson eher rhetorische Überzeugungskraft zu, als sie ihm Originalität attestierte. Trotz stilistischer Vorbehalte betont sie dessen Vorbildfunktion („[…] praised as exemplary in the eighteenth century.“) (S. 81) und seine Rolle innerhalb der schottischen Aufklärung – was insbesondere deren neuartige Historiographie in sich begreift (S. 88f.). 147 Vgl. hierzu Meineckes Einschätzung, dass Robertsons „[...] Fortschritt über Voltaire mit seinem geringeren Wissen und größerer Kühnheit [...] unverkennbar [ist].“, insofern seine „[...] Fähigkeit [...], große Linien zu ziehen und durch repräsentatives Detail zu beleuchten, [...] um so höher zu achten [ist], als sie auf großem Wissen und Stoffbeherrschung beruht.“ [Meinecke, Die Entstehung des Historismus, a. O., S. 239] mit der von Heinz Meyer zitierten Charakterisierung Gadamers, derzufolge Voltaire die „‚Attitude einer geistreichen Skepsis gegen das Ganze der menschlichen Dinge‘“ vertrat. Meyer, Überlegungen zu Herders Metaphern für die Geschichte, a. O., S. 104. Beide Zitate verdeutlichen, dass es Voltaire nicht primär um Geschichtsforschung geht, und er daher auch die Suche nach größeren Zusammenhängen zurückweisen muss. Meyer vertritt die Ansicht, dass Herder sowohl von kruden Fortschrittsideen als auch von generalisiertem Skeptizismus Abstand nimmt. Das Konzept des Fortschritts wird zwar über seine Metaphorik aufgerufen (bes. Wachstumsmetaphern), aber durch „[...] Detailkorrekturen innerhalb der Metapher [mehr und mehr aufgelöst], [...].“ A. O., S. 100. In diese Bedeutungslinie reihen sich Metaphernwechsel ein, die ein aufgerufenes Bild zwar in einem exponierten Aspekt weiterzuführen scheinen, aber tatsächlich das anfänglich evozierte Bild unterlaufen bzw. einen Gegenpol dazu aufbauen.
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Herder prominent zurechnet – zwei Modi historischer Forschung oder Ordnungsprinzipien für Ereignisse darbieten, dann äußert Herders Text ihnen gegenüber ebenso skeptische Vorbehalte wie hinsichtlich einer auf (rein) sprachliche Mittel zurückgeworfenen Modifizierung, die dem Skeptiker (Voltaire) als Repräsentationsform übrig bliebe. Voltaires Einkleidungen erschöpfen sich dennoch nicht in Sprachspielen, sondern enthüllen eine – auf den Überraschungseffekt angelegte – Ordnung. Wird Voltaire aus der historischen Misere heraus zum Schriftsteller, dann beschreibt dies eine zeitgemäße Erscheinungsform im Umgang mit Geschichte. Zu diesen Umgangsformen gehören Historismus und (fortschrittsaffine) Teleologie gleichermaßen. Virtuos findet sich Herder in diesen Umgang ein, indem er alle drei gangbaren Wege verstellt, um sie dennoch zu beschreiten.
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5. A UCH EINE P HILOSOPHIE DER G ESCHICHTE ZUR B ILDUNG DER M ENSCHHEIT UND I DEEN ZUR P HILOSOPHIE DER G ESCHICHTE DER M ENSCHHEIT IM V ERGLEICH 5.1 Doppelter Kursus der Ideen „Die Ideen folgen in ihrem Aufbau einem doppelten Kursus, da die ‚Geschichte‘ zunächst als Geschichte der Natur, dann erst als Geschichte der Menschheit erscheint.“1 Mit dieser Feststellung sind bereits ein wesentliches Differenzkriterium zum sowie eine strukturelle Übereinstimmung mit dem Beitrag benannt. Naturgeschichte bleibt in der Frühschrift außen vor und findet lediglich über die Funktion des Klimatischen Eingang in den Diskurs einer auf Europa zulaufenden, in morgenländischer „Patriarchenwelt“2 einsetzenden Menschheitsgeschichte. Jedoch kommt auch der – die Kosmogonie umfassende (1. Buch) – naturgeschichtliche Teil der „Ideen“ nicht ohne ein punktuelles Vorziehen der Menschengeschichte aus, insofern die Betrachtung des Menschen als Naturwesen und Zielpunkt der organischen Schöpfung immer schon von der Einspeisung geographisch-ethnologischen sowie physiologischen Wissens abhängt.3
1
Siehe den Kommentar zu Herder, Ideen, in: FHA 6, S. 928.
2
Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 14.
3
Linné, Buffon und Blumenbach sind hier, wie auch für Kant, wichtige Gewährsmänner, was physiologisches Wissen der Zeit anbelangt. Vgl. den ersten Teil von Herder, Ideen, a. O., S. 112: Hier ist mit der Verzeichnung anthropologischer Kuriosa, die allerdings modernen (u. a. Linné) Quellen entnommen werden, die Grenze zum Mythischen angelegt (ganz ähnlich lassen sich solche Ausnahmeerscheinungen u. a. schon bei Plinius und anderen antiken Schriftstellern finden). Vgl. ferner S. 134 (Camper), S. 139 (Sack): Die vage Erinnerung und der damit verbundene Hang zur Verallgemeinerung driften in das Reich der Kuriositäten, von denen potentiell jeder schon einmal gehört haben könnte, ab. Dabei dient der diffuse Verweis der Herausarbeitung einer ambitionierten These zur sozialen Sprachfunktion (der Rede) als anthropologischem Puffer. Über die zahlreichen von Herder genutzten Quellen geben die Kommentare ausführlich Auskunft. Wenn das vorliegende Kapitel die breite Gelehrtheit von Herders „Ideen“ unterschlägt, ja unterschlagen muss, dann liegt das im Umfang, nicht allein der verwendeten Quellen, sondern auch der zahlreichen gelehrten Diskurse seiner Zeit begründet, in die Herder sich einschreibt. Siehe den Kommentar zu Herder, Ideen, a. O., S. 913; vgl. vor allem den Kommentar von Wolfgang Pross, S. 9-13, in dem er expliziert, dass Herder aus Kompilationen schöpfte: „Wenn z. B. eine Namensliste von Gewährsleuten gegeben wird, hat Herder praktisch nie die einzelnen Autoren gelesen, sondern bezieht sich auf eine ungenannte Quelle, in der
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Die Organisation des Naturmenschen (des Menschen als Naturwesen) gerät unter körperlichen Aspekten in den Fokus; einerseits im Vergleich und in Abgrenzung zu Pflanze und Tier (2./3. Buch), andererseits im Ausblick auf die ihm eigene soziale, moralische und kulturelle Disposition (4. Buch).4 Wenn der erste Teil der „Ideen“ also vorsichtig und vorläufig einige (naturgeschichtliche sowie) anthropologische Grundsätze formuliert (4./5. Buch), geht der zweite Teil geographisch in die Breite, um sich der klimatisch bedingten Organisation mehrerer „Völker“ zu widmen.5 Nun finden die ersten Ausflüge in und mit den Reisebeschreibungen – Herder selbst interpretiert sein Unternehmen als Lesereise6 – statt (6. Buch), um sogleich in allgemeinere Betrachtungen über den „[…] Zwist der Genesis und des Klima“7 (7. Buch) überzugehen. Dann folgt die gemeinschaftliche Abhandlung vermeintlich als solcher zu identifizierender Gegensätze – durch die Wendung „aldiese Autoren gemeinsam erscheinen. Wenn er also über die Erforschung der Insekten bei ‚Swammerdam, Reaumur, Lyonet, Rösel u. a.‘ spricht […], so sind nicht die einzelnen Autoren zu erläutern, sondern Herder benutzt ein Kapitel von Reimarus’ Schrift Über die Triebe der Thiere, dem er seine gesamten Kenntnisse entnimmt.“ Johann Gottfried Herder, Werke, Bd. III/2: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Kommentar, hg. v. Wolfgang Pross, München/Wien, 2002, Zitat S. 10 [im Folgenden: Pross, Herder, Ideen, Kommentar, S.]. Die vorliegende Studie kommt nicht umhin, beide o. g. Ausgaben, insbesondere Pross’ sehr ausführlichen Kommentar, zu nutzen. 4
Der Übergang von menschlicher Natur zu menschlicher Kultur wirkt bei Herder ganz unproblematisch, da die kulturschaffende Tätigkeit des Menschen als dessen Natur bestimmt wird. Insofern sind Menschen immer in kulturelle Zusammenhänge eingebunden, schon der basale menschliche Umgang gehört einem Bildungsprozess an.
5
Allein an den Überschriften lassen sich eigentümliche Verschiebungen ablesen. Die ersten beiden „Völker“ (wobei es sich jeweils um mehrere Völker handelt) werden geographisch festgelegt („Nähe des Nordpols“, „asiatischer Rücken“), während die dritten „Völker“ gar nicht unter geographischen, sondern ästhetischen Vorzeichen anvisiert werden, indem die epistemische Ordnung verkehrt wird: vom Ort wird nicht mehr auf die Organisation der „Völker“ geschlossen, sondern von den „schöngebildete[n] Völker[n]“ auf die „Organisation des Erdstrichs“. Afrika fungiert als (was für eine?) Einheit, die nicht genauer durch ihre „Nähe“ oder geologisch-geographisch differenziert wird. Unter dem Begriff der „Völker“ ist die fünfte Gruppe wiederum nicht zu fassen, da sie – so steht zu vermuten – eine insulare Existenz fristet. Der Ort dieser „Menschen“ ist wiederum doppelt codiert: geologisch-geographisch als Insel, klimatisch als heiß. Der letzten Gruppe wird weder der Status der „Völker“ zugebilligt noch eine klimatische Identität zugeschrieben. Dafür treten sie als rein durch sich selbst definierte Gruppe auf: als „Amerikaner“. Herder, Ideen, in: FHA 6, S. 1209 (Inhaltsverzeichnis).
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Etwa a. O., S. 514 u. ö.
7
A. O., S. 1210.
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lenthalben […] allenthalben“ strukturiert – (8. Buch), während die im neunten Buch anschließenden Sätze recht selbstbewusst Resümee aus dem Vorhergehenden ziehen. Das zehnte Buch nimmt eine Sonderstellung ein, da das Verfahren des doppelten Kursus ihm seine Grundlegung verdankt. Mit ihm zeigt sich tatsächlich ein Wandel der historischen Sichtweise an, der keineswegs nur den Übergang von der – ethnographisch ergänzten – Naturgeschichte zur menschlichen (professionellen) Historie markiert (11.-20. Buch). Nach der Ableitung anthropologischer Grundsätze im neunten Buch gehen die „Ideen“ in recht konkrete erd- und menschheitsgeschichtliche Fragen über. Wenngleich, wie bereits erläutert, auch deren Auswicklung nicht ohne die Konsultation physiologischer Traktate, von Reiseberichten und zum Zwecke der Systematisierung angefertigter Naturbeschreibungen auskommt, so gewinnt die folgende Untersuchung eine ganz eigentümliche faktische Qualität. Insofern nicht mehr (vermeintlich induktiv) nach anthropologischen Verallgemeinerungen gefragt wird, welche beinahe zeitunabhängig an Reisebeschreibungen abgelesen werden können, da sie trotz aller Kolonialismuskritik bei Herder immer noch als Konkretisierungen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auftreten, nähert sich der Text einer genuin historischen Dimension des Faktischen an, die nach verlorengegangenen Tatsachen suchen muss. „Die Erde sowohl, als die Geschichte ihrer Lebendigen, wie sie jetzt ist, bleibt also für den Forscher ein reines ganzes Problem zur Auflösung. Einem solchen treten wir näher und fragen: […] Wo war die Bildungsstätte und der älteste Wohnsitz der Menschen?“8 Zwar schlägt das erste Kapitel eine epistemologische Grundlegung vor: „So spricht das älteste Buch der Erde mit seinen Ton-SchieferMarmor-Kalk- und Sandblättern; […]“9 – über mehrere Zwischenstufen der Wissensvermittlung jedoch wandeln sich Status und Inhalt des zu lesenden Buches auffallend. Weder peripher noch epigonal lag Herders Ausführungen zufolge der erste Wohnsitz der Menschen, sondern zentral auf der höchsten Erhebung – und von dort bewegten sich die Menschen hinab. Diese Erzählrichtung schlägt der Text bereits zuvor ein. Nun leistet er die recht aufwendige Bestimmung einer nicht nur geographisch kodifizierten Mitte (das Prinzip der mediocritas nimmt in den naturhistorischen Betrachtungen bereits eine eminente Rolle ein), die zugleich den Ort höchstmöglicher Ausdifferenzierung bezeichnet.
8
A. O., S. 383. Der Doppelpunkt markiert den Übergang vom ersten zum zweiten Kapitel (II.), der zwar durch Absatz und neue Überschrift sichtbar abgesetzt ist, sich semantisch jedoch durchlesen lässt. Die Frage fungiert – in Kapitälchen gesetzt – als neue Überschrift.
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A. O., S. 382.
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„Wo konnte dieser Gipfel nun statt finden? wo erzeugte sich die Perle der vollendeten Erde? Notwendig im Mittelpunkt der regsten organischen Kräfte, wo, wenn ich so sagen darf, die Schöpfung am weitsten gediehen, am längsten und feinsten ausgearbeitet war; und wo war dieses, als etwa in Asien, wie schon der Bau der Erde mutmaßlich saget. In Asien nämlich hatte unsre Kugel jene große und weite Höhe, die nie vom Wasser bedeckt, ihren Felsenrücken in die Länge und Breite vielarmig hinzog. Hier also war die meiste Anziehung wirkender Kräfte, hier rieb und kreisete sich der elektrische Strom, hier setzten sich die Materien des Fruchtreichen Chaos in größester Fülle nieder. Um dieses Gebürge entstand der größeste Weltteil, wie seine Gestalt zeiget: auf und an diesen Gebürgen lebt die größeste Menge aller Arten lebendiger Tierschöpfung, die wahrscheinlich hier schon streiften und ihres Daseins sich freuten, als andre Erdstrecken noch unter dem Wasser lagen und kaum mit Wäldern oder mit nackten Bergspitzen emporblickten.“10
Die Mitte lässt sich also am Reichtum und der ausgeprägten Bandbreite (von Geschöpfen) ablesen, die sich hier auch am ursprünglichsten – „‚[…] daß alle Tiere, die in den Nord- und Südländern zahm geworden sind, sich in der gemäßigten Mitte Asiens wild finden, […]‘“ – erhalten, eine These, die der Text mit der „physikalischen Erdbeschreibung“11 von „Pallas“ untermauert. Aber nicht nur die geographisch-geologische Anlage der Natur selbst bekräftigt diese Annahme: „Der Gang der Kultur und Geschichte gibt historische Beweise, dass das Menschengeschlecht in Asien entstanden sei.“ Mit den vorliegenden Beweisen entsteht allerdings gleichursprünglich ein metahistorisches Bewusstsein, das Gewissheiten12, für die es offenkundig keiner weiteren Beurkundungen bedarf, von mangels Zeugnissen erzeugter „Unkunde“ abgrenzt: „denn bloß die Unkunde voriger Zeiten macht Authochthonen.“ Ein Gegenmodell dieser historiographischen Gesetzmäßigkeit liefert die Sprachgeschichte, deren Reste bereits eine Quelle positiven Wissens bereitstellen. Als Mittel zur Erforschung verlorener Ursprünge wird sie jedoch nicht ohne Ironie wahrgenommen, insofern sie „einer Reihe von Völkern ihren ihnen selbst unbe-
10 A. O., S. 383, Zitat S. 386. Herder nimmt dabei auf eine Idee Linnés Bezug, mit der sich auch Kant auseinandersetzt (vgl. das Kapitel „Kant und die Reisebeschreibung“). Herder deutet Linnés „Berg“ als „weites Amphitheater“ (ebd.) und somit in kulturelle Termini um. 11 A. O., S. 386f. 12 A. O., S. 390. Das Zitat entstammt der Überschrift des dritten Kapitels, s. ebd.: „Alle Völker Europens, woher sind sie? Aus Asien. Von den meisten wissen wirs gewiß: […] Teils aus ihren Sprachen oder Sprachresten, teils aus Nachrichten ihrer alten Sitze können wir sie ziemlich weit ans schwarze Meer oder in die Tatarei verfolgen, wo zum Teil noch ihre Sprachreste leben.“
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kannten Stammbaum gäbe[ ].“13 Sicherheit und Beglaubigung von Wissen hängen nicht nur von diversen Medien der Überlieferung ab, sondern von der Einspielung verlässlicher Gewährsmänner und Quellen – jedoch nur dann, wenn die geschilderten Zusammenhänge überhaupt als zu begründende ausgestellt werden. „Daß Wissenschaften und Künste zuerst in Asien und seinem Grenzlande Aegypten gepflegt sind, bedarf keiner weitläuftigen Erweise; Denkmale und die Geschichte der Völker sagen es und Goguets Zeugnisführendes Werk ist in aller Händen.“14 Was überhaupt als zeugnisführend angeführt wird, scheint in recht verschiedenen Kategorien angesiedelt: Einerseits handelt es sich um materielle „[…] Werke, von denen wir Reste oder Sagen haben“ (aufbehalten sind Reste des Monumentalen somit auch in Sagen), andererseits um zeitgenössische wissenschaftliche Werke bzw. literarische Sammlungen, auf die man in der Fußnote verweisen kann: „Die hohe Poesie mehrerer Südasiatischen Völker ist weltbekannt […].“15 Eine ganze Reihe weiterer Hypothesen erhält ihren ‚Beleg‘ über zwei Fußnoten (zu einer astronomischen Schrift sowie einer Reisebeschreibung) und bereitet damit eine perspektivische Erweiterung zur Frühschrift vor. Kalibriert wird das Verhältnis morgenländischer zu abendländischer Kultur16, sodass Asien überhaupt erst als Vorgeschichte morgenländischer Völker eingeholt wird (Ägypten, Phönizien), um
13 Zitate ebd. Die Sprache ihrerseits offenbart ihr Alter (in Asien) durch ihren „überfließende[n] Reichtum“, der „[…] auf sehr wenige Wurzeln zusammengeht“, a. O., S. 391. Zumindest an dieser Stelle fungiert die Schrift als „[…] Zeichen der Kultur einer Sprache […]“, a. O., S. 392. So unproblematisch gestaltet sich das Verhältnis von Sprache und Schrift in den „Ideen“ keineswegs durchgängig. 14 A. O., S. 394. Dass Ägypten als „Grenzland[ ]“ Asiens geführt wird, ist bemerkenswert, insofern die Frühschrift erst bei Phönizien und Ägypten einsetzt. In den „Ideen“ erweist es sich dann als zunehmend problematisch, Ägypten in die Kontinuität einer Menschheitsgeschichte einzureihen. Es wird zusehends zum Fremdkörper, der sich weder in einer geographischen Folge noch kulturell verorten lässt. Zur Ausnahme Ägypten vgl. S. 396, S. 499, „Rätsel der Urwelt“, S. 501, „ausgezeichnet-sonderbares Volk“, S. 506f., zur Einreihung, S. 514, „verschwundener Traum“. 15 Zitate: a. O., S. 394. Ebenso wie auf „Goguets“ folgt hier auf „weltbekannt“ sofort eine Fußnote mit Literaturangabe, ohne dass der Satz zuvor bis zum Ende geführt wird. 16 A. O., S. 394f. „Welcher scharfsinnige Gedanke, ja ich möchte sagen, welche dichterische Hypothese ist in eines späten Abendländers Seele gekommen, zu welcher sich nicht der Keim in eines früheren Morgenländers Ausspruch oder Einkleidung fände? sobald nur irgend der Anlaß dazu in seinem Gesichtskreise lag.“ Nicht allein kultur- und geistesgeschichtlich artikuliert sich die Vormachtstellung des Morgenländers, sondern teilt sich ferner ökonomisch mit: „Der Handel der Asiaten ist der älteste auf der Erde und die wichtigsten Erfindungen darin sind die ihre.“ A. O., S. 395.
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in den „Ideen“ einen emphatischen (positivistischen) naturgeschichtlichen Anfang zu setzen.17 Neben den wissenschaftlichen Werken, die sich auf der Höhe der AufklärungsZeit befinden, erfordert die retrospektive Fortschreibung der Menschheitsgeschichte vor Europa zudem Selbstzeugnisse der betroffenen Völker, deren kulturelles Wissen sich – eben da sie die ältesten sind – auf eine Vorzeit erstreckt, die allen anderen gar nicht zugänglich sein kann. „Alle Sagen der Europäer und Afrikaner (bei welchen ich immer Ägypten ausnehme) noch mehr der Amerikaner und der westlichen Südsee-Inseln sind nichts als verlorne Bruchstücke junger Märchen gegen jene Riesengebäude alter Kosmogonien in Indien, Tibet, dem alten Chaldäa und selbst dem niedrigen Aegypten: zerstreute Laute der verirreten Echo gegen die Stimme der Asiatischen Urwelt, die sich in die Fabel verlieret.“18
Sofort zerfällt jedoch die Hoffnung einer authentischen Bezeugung nicht bruchstückhafter „Riesengebäude“ (bzw. auch durch jene) in die Kompilation vielfältiger analoger Nachrichten, die nicht mehr „historisch-strenge“ zu sein vermögen, sondern eher im Bereich des Fabel- oder Sagenhaften liegen. Die geographische Festschreibung des Ortes, die historisch, philologisch und mit ihrer geologischen sowie ökologischen Rahmung natur-wissenschaftlich verfährt, löst sich unter der Hand wieder ins Ungefähre (Ohngefähr) auf. Zunftgemäß widmet der Text sich dann der Beurteilung des Werts historischer Zeugnisse „in diesem wüsten Walde“19, unterscheidet „Mutmaßung“ und „Hypothesen“ „von Tatsachen der Tradition“, die selbst verschiedene Grade der Gewissheit innehaben, etwa je nach historischer Distanz. So legt der Text die zeitliche Reichweite beglaubigter chinesischer Geschichte fest (auf das Jahr 722 v. Chr.)20, be17 Zwar konstatiert der Text „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ bereits: „Die Vorsehung leitete den Faden der Entwicklung weiter – vom Euphrat, Oxus und Ganges herab, zum Nil und an die phönicischen Küsten – große Schritte!“ Jedoch nimmt die Frühschrift ihren Ausgangspunkt (abermals initiiert sie eine – relativ statische – Wanderung im Raum) noch nicht in den hohen Gebirgen des fernen Ostens. Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 19. 18 Herder, Ideen, a. O., S. 396f. Dass mit „der verirreten Echo“ (S. 397) ein repräsentationstheoretisches sowie poietisches Register geöffnet wird, das über defiziente Repräsentationsverhältnisse, Schwundstufen („Reste“, S. 394, „Bruchstücke“, „Stimme“, „Laute“, „Echo“, S. 396f.) und fiktionale Deformierungen Auskunft erteilt, deute ich nur knapp an. 19 Zitate s. a. O., S. 397. 20 Dem Selbstzeugnis der „Sineser“ misst der Text auch in diesem Fall besondere Eminenz bei: „[…] was vor Fohi hergeht, […], wird von den Sinesen selbst als dichtende Allegorie betrachtet.“ Zitate: a. O., S. 397f.
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stimmt ihr „ältestes Buch“21 (nicht ohne Quellenangaben in den Fußnoten, welche freilich nur spätere Überlieferungen darstellen), um deren Ursprünge in die „Fabelsage“22 hinab (bzw. hinauf) zu führen. Tibet und das „alte[ ] Volk der Hindus“ dienen als Kontrastfolie für variierende Sagen – nach Möglichkeit eingespeist finden sich auch hier divergierende Belege in den Fußnoten, die dem Durchgang tatsächlich kulturhistorische Tiefe verleihen. Geographische Streuung lässt die „Ursage“ verschiedener Kulturen zunehmend zum „Märchen“ geraten. Wo jedoch aus dem Märchen „[…] ein Goldkorn historischer Ursage hervor[blickt]“, kann es über den geographischen Verweis an das (gegenwärtige) Reale zurückgebunden werden, an einen ortlosen Ort: an einen Fluss (den Ganges) oder eine Küste („die Malabarische Küste“).23 Die „physische“ Verortung der Sage24 verleiht ihr erst Geltung und Tiefe, ihre Ausdifferenzierung in „Lokalbestimmungen“25 verwässert sie zwar zunehmend, erzielt aber zugleich systematischen Mehrwert, insoweit sich einige ihrer Kernelemente herausschälen, die anthropologische Relevanz entfalten. Während die Sagen einerseits als verkürzbar präsentiert werden, indem der Text selbst an ihrer Extrahierung arbeitet, verliert der Ort ihres Auftauchens an Relevanz. Andererseits trägt jede physische Grundierung, speziell über die Anlage des Entstehungsraums zu ihrer Authentifizierung bei.26 In dieser Ambivalenz operieren die verschiedenen Modi der Verortung in Herders „Ideen“. Zuletzt dient die unter enorm belesenem und belegendem Aufwand betriebene Suche nach dem (geographischen) Ursprungsort der Alleinstellung eines literarischen Ortes. Weder Zeugnisse auf der wissenschaftlichen Höhe des aufgeklärten Zeitalters noch ein Nachspüren auf den Spuren ‚authentischer‘ Sagenreste – authentisch insofern, als es sich um Sagen im Dunstkreis des zuvor ‚wissenschaftlich‘ ermittelten ältesten Ortes handelt – liefern befriedigende Auskunft „[…] über den Ursprung der Menschengeschichte.“ Nachdem Asien in den „Ideen“ als blinder Fleck der Menschheitsgeschichte eingeführt wurde (der erste Kursus beginnt hier am Nordpol und schlägt einen nicht ganz kreisrunden Bogen), um zugleich nachträglich einen Ursprung zu begründen, der in der Frühschrift fehlt, und die daher ledig-
21 A. O., S. 398. 22 Ebd. 23 Zitate s. a. O., S. 399, bes. S. 400: „Offenbar sagt uns, wie auch Sonnerat anmerkt, die Erzählung, daß das Meer einst bis zum Berge Gate gestanden habe und die Malabarische Küste jüngeres Land sei.“ 24 Vgl. dazu a. O., S. 401: „der erste physische Grund“. 25 Ebd. Das ist es, was Herder mit nationalisieren meint, s. „Nationalgewande“. 26 Besonders die Wanderungsrichtung entscheidet darüber, ob Mythologien als beglaubigte Reste lesbar werden. A. O., S. 402.
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lich als eurozentristisch ausgerichtetes Projekt lesbar wird, tilgt dessen Überführung in die „schriftliche Tradition“ das asiatische Moment gleich doppelt. „Auch historisch also bleibt uns auf der weiten Erde nichts als die schriftliche Tradition übrig, die wir die Mosaische zu nennen pflegen. Ohn’ alles Vorurteil, also auch ohne die mindeste Meinung darüber, welches Ursprunges sie sei? wissen wir, daß sie über 3000. Jahr alt und überhaupt das älteste Buch sei, das unser junges Menschengeschlecht aufweiset. Ihr Anblick soll es uns sagen, was diese kurzen, einfältigen Blätter sein wollen und können, indem wir sie nicht als Geschichte sondern als Tradition oder als eine alte Philosophie der Menschengeschichte ansehn, die ich deswegen auch sogleich von ihrem morgenländischen poetischen Schmuck entkleide.“27
Am Ende, das ebenfalls einen Anfang markiert – nämlich den einer nunmehr unter genuin historischen Vorzeichen perspektivierten Menschheitsgeschichte, welche der Kommentar (erst) als zweiten Kursus deutet –, dient der zuvor geleistete referentielle Begründungsaufwand nur einem Trick: nämlich dazu, die Mosaische Tradition als ältestes Zeugnis herauszustellen. „Ohn’ alles Vorurteil“ selbst als herkunftslos betrachtet, wird diese Herkunftslosigkeit gleich doppelt überschrieben: von ihr absehend als mögliche asiatische (chinesische), zuletzt jedoch als vom Morgenländischen entkleidete.28 5.2 Wiederholstruktur der Frühschrift Als „Beitrag“ strukturiert sich Herders Frühschrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ in drei – so benannte – „Abschnitt[e]“.29 Ihrerseits weisen jene Binnenunterteilungen auf, welche in der Regel durch Asterisk gekennzeichnet werden. Davon ausgenommen schließen lediglich die ersten beiden Passagen des ersten Abschnitts mit einem Halbgeviertstrich, der dritte Abschnitt wird gleich zu Beginn mit dem Vermerk „Zusätze“ (78) versehen. Während der erste und der dritte Abschnitt einmal zwei Geviertstriche und fünf Sternchen respektive acht Sternchen aufweisen, unterteilt lediglich ein Sternchen den zweiten Abschnitt, wobei alle drei den Gesamttext tatsächlich ungefähr dritteln (der erste Ab27 Zitate: a. O., S. 402f. 28 Trotz des theologischen Rückgriffs findet eine Rationalisierung der Mosaischen Urkunde statt, die Moses als „Naturweisen“ einführt. A. O., S. 412f., Zitat s. S. 413. Das folgende Projekt der Rationalisierung dieser Tradition rettet die biblische Schöpfungsgeschichte und deren Zeitrechnung recht geschickt und setzt dabei an einem ähnlichen Punkt wie Kants „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ von 1786 an. 29 Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 11. Seitenzahlen der Frühschrift in diesem und im Folgekapitel in Klammern.
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schnitt beginnt auf Seite 11, der zweite auf Seite 42, und der dritte führt von Seite 78-107). An den Sternchen lässt sich demnach eine Ungleichverteilung ablesen, die es semantisch zu überprüfen bzw. abzuholen gälte. Übernähmen die Asterisken strukturierende Funktion, müssten an der (durch sie geschaffenen) motivischen Aufteilung und thematischen Reichweite elementare Bausteine einer Philosophie der Geschichte der Menschheit hervortreten, die nicht sowohl metahistorisch – sofern sie Gegenstände der Lektüre hervorheben und dadurch lenken – sondern auch metahistoriographisch das narrative Ergebnis dieser Lektüreangebote regulieren. Im Zuge dieser Prüfung besteht eine Aufgabe darin, jene strukturellen Einheiten mit Sinn zu füllen, ihnen das Ansehen eines Abstracts zu geben. Was kolportieren die Abschnitte und Unterabteilungen einzeln auftretender, in die Geschichte eintretender Akteure (z. B. Völker) über die Relevanz des Erzählten (oder Erzählbaren) im Besonderen und über die Menschheitsgeschichte im Allgemeinen? Inwiefern lassen die Sinneinheiten Schlüsse auf die Erzählbewegung eines umfassenden Narrativs der Menschheit zu – eventuell als Regungen der Kritik an anderen erzählten oder erzählbaren Varianten? Zeichnet man das maßgebende Narrativ nach, das die drei Abschnitte durchzieht, so grenzt es sich zwar in Worten, d. h. reflexiv oder kommentierend, von virulenten Modellen einer eurozentristischen, auf die europäische Moderne (Gegenwart) ausgerichteten fortschreitenden (weniger fortschrittlichen) Erzählung ab. Die Stationen jedoch, welche sie durchläuft, folgen dem altbewährten Schema einer Translatio Imperii, wenngleich Ursachen und Figuren der Ablösung durchaus abweichen. So führt der Gang der „Vorsehung“ (19, 42-46), für den Herder metaphorische Alternativen wie den „‚Gang Gottes über die Nationen [...]‘“ (88) anbietet, vom Patriarchenzeitalter im Morgenland über Zwischenhalte in Ägypten und bei den Phöniziern in das in mehrfacher Hinsicht zentrale Griechenland, dessen Reiz von der Unterjochung (aller europäischen Völker) durch die Römer abgelöst wird. Als Opfer seiner eigenen Degeneration fällt das römische Erbe dann in die Hände der Nordländer – erst hier gewinnt die Genese des die angrenzende Erzählung dominierenden Christentums Raum. Die Verlagerung des Nordens ereignet sich als abgelegene Neugeburt und anschließende Verpflanzung in südliche Gefilde, abweichend und den „Ideen“ analog lässt der Text den einzunehmenden Raum überschwemmen (43). Den Zusammenfluss fängt die „Gärung nordsüdlicher Säfte“ auf, der sich das Christentum als weitere Zutat, als „Ferment“ (45), anreichert. „Kraftlose[ ]“ „verduftete[ ]“ Vorgänger tragen zur Durchsetzung des Christentums bei wie dessen unmotiviertes synkretistisches Erbe (45-46). Ähnlich den „Ideen“ beansprucht der Text bereits den „Roman“ (44) des doppelten Diskurses für das Mittelalter. Als letzten Stufen der Erklimmung der eigenen Zeithöhe widmet er sich im Anschluss an das Mittelalter Renaissance sowie Reformation (ab 56), um die Gegenwart im dritten Abschnitt (ab 78) schließlich einer
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Zeitdiagnostik zu unterwerfen, die in den vorangehenden Abschnitten zudem jederzeit mitschwingt. Vom Morgenland bis hin zur römischen Herrschaft schöpft Herders Text eine Menschenalteranalogie aus, welche die Patriarchen zu (Gottes) Kindern, Ägypter und Phönizier zu Knaben, Griechen zu holden Jünglingen und Römer zu echten Männern erklärt. So oft die Forschung dieses Klischee zitiert und damit für ein Verständnis historischer Verlaufsfiguren heranzieht, übersieht sie den sich am Ende des ersten Abschnitts abzeichnenden Bruch mit diesem Schema: Bevor die Beherrschung Europas (noch nicht der Welt) an die Nordländer übergeht, schaltet der Text eine erste Zwischenreflexion über „[…] die Schwäche des allgemeinen Charakterisierens […]“ ein (32-42, daran schließt dann der zweite Abschnitt an und prägt die Wendung „Norden wars.“). Zwar hält der Text fest, die Nordländer seien in patriarchaler Einfalt aufgewachsen (43), welche ihr kriegerisches Gebaren jedoch nicht unterbindet, sondern sie geradezu befähigt, das Zepter Europas an sich zu reißen. Für Wiederaufnahme und Forterzählung taugt das auf Vergleich beruhende Modell dennoch nicht (zur Kritik der „Vergleichung“ s. 36 unten bis 37 oben, 38 unten). Es prägt keine weiteren Abstufungen aus: Die Renaissance kann weder (von neuem) als Jüngling noch als Mann ausgewiesen werden, und auch die zeitgenössische Gegenwart erreicht kein mannbares Alter. Argumentativ fällt die Genderisierung (gender shifting) in Bezug auf Herders eigene Zeit ins Gewicht, sie zeichnet sich durch schleichende Feminisierung (75f.) aus. Insofern vollzieht sich ein erster Bruch des Erzählregisters, infolge dessen das simple Schema an Überzeugungskraft einbüßt. Zusätzlich steht die Funktion der Analogie selbst zur Disposition. Gebührt jeder Epoche ihr eigenes Recht, besetzt sie eine Stufe des Zivilisierungsprozesses, da sie sich durch eine speziell von ihr entwickelte Tätigkeit oder Fähigkeit hervorhebt, dient die Menschenalteranalogie bisweilen der identifikatorischen Übertragung des Eigenen auf das Fremde und holt so Toleranzeinforderungen ein. Sich mit der eigenen Kindheit und Entwicklung auseinanderzusetzen, forciert ein Verständnis der Verhaltensweisen anderer Menschen, da deren Entwicklung als grundsätzlich ähnlich (demnach vergleichbar) ausgewiesen und in der persönlichen Rückerinnerung als problematisch oder mühsam zu durchlaufen imaginiert wird. Obgleich mit der reziproken Übertragung von Phylo- und Ontogenese ein Topos vorliegt, handhabt Herders Text ihn eher großzügig, indem er bei aller Rücksicht auf nicht zu tilgende Differenzen Wechselseitigkeit und Vergleichbarkeit absichert. Sein Einsatz wendet einen didaktischen Kniff an, der weniger geduldige Zeitgenossen darauf verpflichtet, sich mithilfe der geschilderten (herausragenden) Eigenschaften einzufühlen, im Vergleich mit anderen Stellung zu beziehen und Milde walten zu lassen. Umso mehr wirft diese Strategie die Frage nach der Dispensierung der Menschenalteranalogie und ihren Ablösemodellen auf. Mit dem zweiten Abschnitt ist, was es an historischem Gehalt mitzuteilen gibt, bereits abgehandelt und beschreibt eine Bewegung über die Nationen hinweg bzw.
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durch diese hindurch (und so stellt sich mit Blick auf die Gegenwart die Frage, wo wir uns befinden). Dennoch orientiert sich jene Menschheitsgeschichte dezidiert eurozentrisch und lagert sich insofern an geographisch begrenzbare Kulturgeschichte an. Erst im dritten Abschnitt sprengt die zeitgenössische Gegenwart diesen Rahmen auf die Kolonialisierung hin auf. Spuren zum Beginn dieser Geschichte legt das biblische Narrativ, an das man Fragen über den frühen Zustand der Menschen richten kann (wie Kants „Muthmaßlicher Anfang“ nehmen die kulturanthropologischen Errungenschaften ausdrücklich auf die Bibel Bezug). Darüber hinaus vertreten Herders „Ideen“ einen Standpunkt, der die Bibel über eine ausgefeilte Argumentationsstrategie kurzerhand zum einzigen Zeugnis erhebt, wohingegen die Frühschrift die Geschichte konsequent im Morgenland beginnen lässt. Was für Abschlüsse liegen aber im ersten Abschnitt mit Rom und im zweiten mit der Renaissance vor? Und was lässt sich im dritten Abschnitt überhaupt noch über die Geschichte der Menschheit aussagen? Die „Zusätze“, welche den Untertitel zur Überschrift „Dritter Abschnitt“ bilden, kündigen die kommende Zerfaserung in doppelter Hinsicht an: Einerseits entsprechen sie der fetischisierten Klage unaufhörlichen Verfalls sinnlicher Kapazitäten (Kräfte), welchen Zivilisierung und Intellektualisierung mit sich brächten. Andererseits zerfallen Argumente und Stimmgebung des Textes (auch auf formaler Ebene) vollends, sobald es um eine gegenwärtige Bestandsaufnahme und die Erkundung der Zukunft geht. Kein simples, klar nachvollziehbares historisches Narrativ steuert die Bewegung des Textes, sondern es schlägt in Zitat und Kommentar gegenwärtiger Stimmen oder Tendenzen um und treibt diese in den Exzess. Als rhetorische Strategie begleitet das zerfasernde Moment die vorangehenden Abschnitte durchgängig. Insgesamt durchläuft den Text eine Wiederholstruktur, die der frühen Erzählung sowohl Elemente der Aufklärungskritik einschreibt als auch die Aufklärung Alternativprogrammen unterwirft, indem sie das historisch Vorangehende auf sie appliziert. Rückbezug auf bereits Erzähltes bleibt jederzeit möglich, und so bietet der nachträgliche Überblick – dessen Exposition in luftiger Höhe (vgl. 70, 77-80) nicht ungebrochen erfolgt – Raum für gedankliche Modifikation, welche mehrfach demütig Nichtwissen ausstellt. Eine signifikante Abweichung nimmt ein doppelter Kursus, der „verschlämmte“ Wege einschlägt – bezeichnender Weise ist von einem „under plot“ (86) der Geschichte die Rede – und daher erst im dritten Abschnitt ausgehoben wird (vgl. das Kapitel „Arabien als ‚under plot‘ der Geschichte“). Wenn mit Beginn des zweiten Abschnitts ein erster historischer Bruch statthat, der die Reichweite der Menschenalteranalogie erschöpft, obwohl vertraute Muster nach wie vor für die Deskription des Neuen herangezogen werden, dann schließt sich hier ein erster historischer Zirkel. Mit dem Hinweis auf „Tacitus“ (43) trennt Herders Text die Herrschaft der Nordmänner zugleich von ihrer römischen Vorgeschichte ab, wie er jene in sie integriert: Die reflexive Distanz der vorangehenden
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sowie parallelen Zivilisierung Roms kommentiert die Ablösenden und erhebt sie potentiell zu Vorgängern wie Nachfolgern des eigenen Imperiums. Jene anzitierte Distanz des historiographischen Blicks weist indexikalisch auf die Möglichkeit hin, die Geschichte (noch einmal) ganz anders (von neuem) zu erzählen. Der zweite Kursus (bzw. Abschnitt) schließt die Vorführung der translatio jedoch nicht ab, nachdem er Mittelalter, Renaissance (welche weniger eine Verdoppelung als einen Vorlauf einträgt) und Reformation durchschritten hat, sondern mündet in offene, offenkundige und öffentlich ausgetragene Gegenwartskritik, die Lücken sich einzuschalten bereithält. Dennoch breitet sich der dritte Abschnitt eher redundant und mühsam aus, seine Polemik treibt ihn bis an den Rand der Lesbarkeit. Dabei windet er sich durch abweichend einzunehmende Positionen und sucht ihren Wechsel zu verschleiern – weniger, um deren Gleichberechtigung zu propagieren, denn der Tenor der Gegenwartskritik bleibt ungebrochen. Vielmehr häufen sich predigtnahe Einschübe, schier endlose Reflexionsketten und zitathafte Verweise. Formal liegt eine Parallele zum liturgischen Zitat vor. Wie beim Zitieren der Bibel akkumuliert sich das Zitat der Zeitgenossen (Gewährsmänner) und Schlagwörter aus Versatzstücken. Bisher habe ich die Strukturierung der drei Abschnitte leitmotivisch zusammengefasst und ihren Verlauf ausgehend von einer relativ klar abgrenzbaren Erzählung (mit Minimalplot) über ihren ersten Bruch zum synkretistischen Zusammen- und Überfluss des Mittelalters bis hin zur völligen Zerfaserung skizziert. Als Zwischenstufe kündet die Renaissance (ab 56) im Grunde nur von der Aufklärung und nimmt den dritten Abschnitt insofern vorweg. Die Folge sich ablösender Völker bzw. Nationen geht in eine (begrifflich so markierte) Epochengeschichte über, welche sich als Schmelztiegel akkumuliert und zusehends in die zeitgenössische Gegenwart ausläuft. 5.3 Doppelter Kursus – doppelter Diskurs Neben der Erzählstrategie eines doppelten Kursus – jedoch vielfach durch Rückverweise und Vorausdeutungen durchbrochen, durchkreuzt oder aufgelockert – verfolgt Herders Text einen parallel verlaufenden Diskurs zur Darstellbarkeit von historischen Zusammenhängen. Dabei werden nicht allein Metaphernfelder ausgelotet und zum Zweck wechselseitiger Ablenkung oder Neutralisation gegeneinander ausgespielt, sondern vor allem breit angelegte künstlerische Medien als Darstellungsformen vorgeführt und ihre Leistungsfähigkeit sowie Reichweite betreffend gewertet. Kunstformen und (die Darstellung von) Epochen scheinen in eklatanter Präzision aufeinander abgestimmt, geradezu aufeinander zugeschnitten. Dem widerspricht keineswegs, dass in manchen Fällen gerade deren Abweichung herausgekehrt wird.
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Als charakterisierende Klammer kristallisiert sich das Phänomen der Epochenkunst heraus und könnte damit tatsächlich an einen Gedanken Hegels erinnern – jedoch mit grundverschiedenen Folgen für die historische Narration. Als Medium des Erzählens bzw. Darstellens selbst treten Kunstformen in den historiographisch gefärbten Diskurs ein. Deshalb gilt es, den Bezug prägnanter Zeitabschnitte zur sie ausstellenden Kunstform zu stiften, um zu erkunden, inwiefern dieser Diskurs über die Kunst (hinweg) Hinweise auf Herders Konzeption der Menschheitsgeschichte gibt. Für die Frühschrift treten einige Kunstgattungen bzw. deren Produkte gesondert hervor, da ihr Darstellungspotential als recht ausgeprägt vorgestellt oder zumindest in Teilen als unvollständig ausgewiesen wird. Der Grad ihrer Vollständigkeit hängt jedoch nicht allein vom Medium selbst, sondern vielfach von der Positionierung und Vorbildung der Rezipienten ab, welche durchaus in mangelnder Bildung und sinnlicher Nähe (besonders gut) bestehen kann. Der Text lässt eine zwanglose Bevorzugung einiger Kunstwerke durchblicken, die Rückschlüsse auf den Repräsentationsdiskurs zulässt. Teile der Geschichte werden als Zusammenstellung in einem Kunstprodukt vorgestellt, das ausgewählte Aspekte des Gesamteindrucks hervorhebt, um ihn effektiv vergegenwärtigen zu können. Auf die sinnliche Einheit der Kunst appliziert erhält die Geschichte, deren Überschuss einen Mangel an (göttlichem) Überblick anzeigt, einen abschließenden Sinn, der sie zugleich als intellektuell unfassbar, damit als grundsätzlich offen bestimmt. Von einem gleichnishaften oder metaphorischen Einsatz der Kunst für die Geschichte auszugehen, würde jedoch der komplexen Relation nicht gerecht. Wie sie sich gezielter gestaltet, zeigt ein close reading der betreffenden Passagen. Um Herders Kunsttheorie geht es an dieser Stelle weniger. Wie sie sich mit dessen Epistemologie verknüpft, gehört jedoch zu den Reflexionen dieser Arbeit. Der expliziten bzw. anklingenden Präferenz von Kunstformen entnehme ich Hinweise zur kontemporären Debatte über deren Leistung im Sinne des ut pictura poiesis. Ob es darüber hinausgehend stimmig ist, Herders Repräsentation von Historie im Gewand der Kunstformen zu beschreiben, steht als Fragestellung im Hintergrund. Geschichte generiert sich nicht allein maßgeblich als Diskurs über Kunst, sondern bis zu einem gewissen Grade als Kunst.30 Geschichte als Diskurs über Kunst – oder als 30 Dieser Konnex ist (unter anderem im Kontext des sich im 18. Jahrhundert ausprägenden Geschichtsbegriffs bzw. der sich formierenden historischen Disziplin) freilich schon mehrfach gestiftet worden. Vgl. Hans Adler, „Herders Ästhetik als Rationalitätstyp“, in: Johann Gottfried Herder: Geschichte und Kultur, hg. v. Martin Bollacher, Würzburg, 1994, S. 131-139, S. 135ff., ders., Die Prägnanz des Dunklen, a. O., bes. Kap. IV. B: Aisthesis und Geschichte, S. 162-172, Gabriele Dürbeck, „Staunen, Einbildung, ‚Sympathisieren‘. Der historische Betrachter und die vergangene Fremde in Herders früher Geschichtsphilosophie“, in: Herder Jahrbuch. Studien zum 18. Jahrhundert, hg. v. Karl Menges, Wulf Koepke, Regine Otto u. Hans Adler, Stuttgart/Weimar, 2000, S. 79-90,
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Diskurs, der über Kunst ausgehandelt wird – zu gestalten, schließt selbstredend die Erkenntnis ein, dass sie keine Kunst ist. Insofern bewegt Herders Text sich immer schon (eher) im Bereich des Metadiskurses. Im Zuge der Analyse heraufbeschworener Kunstformen ergeben sich Querbezüge zu den „Ideen“, die sich – ähnlich bei genutzten Metaphern, Motiven etc. – als kontinuierlich oder als Revisionen ihrer erstmaligen Konzeptualisierung in der Frühschrift erweisen. Verstärktes Augenmerk gilt der Gemäldemetapher, die bereits im „Beitrag“ prominent hervorsticht – häufig in Konkurrenz zum bühnenfüllenden Auftritt selbst. Die Hymne auf das Patriarchenzeitalter, mit der Herders Text aus dem Off als Vorspiel, das nur stellvertretend eingesetzt wird (ähnlich, wie Kant zu diesem Zweck die Bibel nutzt), anhebt (wir befinden uns noch außerhalb der Struktur der Asterisken und wagen nach dem ersten Gedankenstrich, gedankenverloren einen frühen Blick schweifen zu lassen), führt schon wesentliche Elemente der Kritik ein. So kritisiert Herders Text sowohl „Philosophien der Geschichte“ als auch „Geschichten der Philosophie“31 und brandmarkt somit zwei maßgebliche Erzähltendenzen seiner Zeit. Jene Selbstkritik formuliert sich als Zurückweisung hypothetischer Absetzbewegungen von anderen Epochen wie des Patriarchenzeitalters. Mögliche Kritik am ‚retardierten‘ Zustand flicht der Text ein, als ob er die aufgeklärten Kritiker des einfachen Lebens zu Wort kommen ließe. Dennoch sind die Sympathien klarer verteilt: Neben dem biblischen Ideal kindlicher Patriarchen im Morgenland (16) sehen die Zeitgenossen eher vergreist (vgl. 19) aus. Damit steckt Herders Projekt seinen Rahmen in einer Absetzbewegung. Ein Netz aus rhetorischen Fragen, Appellen und romantisierenden Vorstellungen durchzieht diese erste Etappe der Menschheitsgeschichte und dennoch gelingt es ihm nicht, das vielschichtige Idyll einzufangen. Zum Abschluss hinterbringt der Text die historistische Botschaft, die vollkommene Einfühlung einfordert, ohne deren Einlösung hinlänglich zu verbürgen. So verbirgt sich das historistische Argument selbst hinter einem Scheinzitat und stellt die nahezu paradoxe Behauptung auf, das unverkennbare Moment des (lokal gebundenen) Zeitalters oder Zeitgeistes sei anzutreffen. Als un-
S. 84, Jochen Johannsen, „Der Erfahrungswandel der Moderne und die Ästhetisierung der Geschichte. Aspekte der historischen Erfahrung bei J. G. Herder“, in: Monatshefte, Vol. 95, No. 2, Wisconsin University Press, 2003, S. 250-272, S. 263ff., Ulrich Gaier, „Poesie oder Geschichtsphilosophie? Herders erkenntniskritische Antwort auf Kant“, in: Johann Gottfried Herder [s. o.], S. 1-17, S. 16f., Andreas Herz, Dunkler Spiegel – Helles Dasein. Natur, Geschichte, Kunst im Werk Johann Gottfried Herders, Heidelberg, 1996 [Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 146]. 31 Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 19. Seitenzahlen in Klammern.
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erreichbares utopisches Ideal solch treffender Darstellung, die Authentizität gewährleistet, tritt das „Gemälde“ ein: „Gehe hin, mein Leser, und fühle noch jetzt hinter Jahrtausenden die so lang erhaltne reine morgenländische Natur, belebe sie dir aus der Geschichte der ältesten Zeiten, und du wirst ‚Neigungen antreffen, wie sie nur in dem Lande, auf die Art, zu den großen Zwecken der Vorsehung aufs Menschengeschlecht hinab gebildet werden konnten‘ – Welch ein Gemälde, wenn ichs dir liefern könnte, wie es war!“32 (19)
Allerdings sollte die Lobeshymne auf Orient oder Morgenland nicht überbewertet werden, da sie relativ inhaltsleer bleibt und dessen Behandlung im Vergleich zu anderen Etappen knapp ausfällt. Die Lebensalteranalogie rechtfertigt dessen narrative Ballung sogar durch ein pseudowissenschaftliches Argument: „zwei Jahrtausende waren nur zwo Generationen.“ (13) Mit dem Knabenalter (und dem ersten Asterisken) betritt der Text geographische Gefilde, es geht auf Ägypten zu. Dort wohnt ein sesshaftes, pedantisches, eigenbrödlerisches („kolchisches“) „Völkchen“ (25), das Ackerbau betreibt und sich in den mechanischen Künsten hervortut. Kontrastierend werden die Phönizier als Handeltreibende aufgebaut. Ihre Verbreitung erfolgt nicht nur über Waren, sondern umfasst eine genetische Komponente. Kulturell entfalten die ersten Reisenden einen Entwicklungsfaktor, der sich auch politisch niederschlägt („die Regimentsform tat einen gewaltigen Schritt zur Freiheit der Republik“, 25). Durch die Liberalisierung 32 (Ebd.) Herders Einfühlungsemphase äußert sich nicht durchgängig stark. Sie scheint insbesondere vom Gegenstand abhängig, der eine Belebung erlaubt. Im Argumentationsrahmen der Menschenalteranalogie stiftet sich diese Gelegenheit über die Suggestion, man habe diesen Zustand stellvertretend (analogisch) bereits einmal durchlaufen. Bildung wird in Herders Texten räumlich doppelt codiert: Sie kann sowohl zu etwas hinauf- als auch hinabbilden. Diese Doppelung besitzt speziell für die „Ideen“ Virulenz. Dort rührt sie gelegentlich aus geographischen Auf- und Abwärtsbewegungen her. Beide Bewegungsrichtungen können gleichermaßen positiv besetzt sein – es handelt sich um keine bildlich unterstützten Abstufungen. Hinaufbilden impliziert keine höhere Wertigkeit der Fortschrittsmetapher. Mitunter kann das Hinabbilden ein ambitionierteres Bildungsprojekt versprechen. Die je semantische Besetzung von hinauf und hinab behält Herder nicht durchgängig bei. Eine zusätzliche Variante bietet „weiter hinaus“ bilden an; s. Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 26. In den „Ideen“ vgl. dazu etwa Herder, Ideen, a. O., S. 393: „[...] steigt [...] über alle Revolutionen der Geschichte hinauf.“ (adressiert Kultivierungsschritte), S. 394, „und je älter hinauf“ (ursprüngliche „Würde und Einfalt“ der „Poesie“), S. 430, „die herabziehenden Kolonien“ (damit verknüpfte Verfeinerungen), S. 253, „[s]teigen wir nun in jene Zeiten hinauf“ (in die Vergangenheit). Seitenzahlen in Klammern weiterhin zu Herders „Auch eine Philosophie […]“.
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des Handels gewinnen die Phönizier eine demokratisierende, kosmopolitische Dimension für die Menschheitsgeschichte hinzu – ein Argument, das Herder im Zuge seiner Robertson-Kritik (im selben Text) kaum gelten lässt, und das die „Ideen“ ihrerseits bis zum Überdruss ausbeuten. Einerseits gehört Ägypten kulturell („der Patriarchengeist der ersten Hütte ging also verloren.“, 20) nicht weiter dem Orient oder Morgenland an (Herder gebraucht beides weitgehend synonym). Es wandelt sich zum Land der „Metamorphose“ (20), dient nicht mehr der „Genese“: „es ward Landessicherheit, Pflege der Gerechtigkeit, Ordnung, Polizei, wie alles im Wanderleben des Orients nie möglich gewesen: es ward neue Welt.“ (20) Andererseits wird Ägypten wie die phönizischen „Seestreicher und Völkerläufer“, welche der Text als „expatriiert[ ]“33 (25) auslagert, an das Morgenland zurückgebunden („Zwillinge einer Mutter der Morgenlands“, 26). Der Vergleich Ägyptens mit „Sina“ in der Frühschrift (vgl. 22) sowie in den „Ideen“34 deutet auf dessen Sonderstellung als (zum Orient gehöriger) Zwischenzustand hin. Als geographischer gerät das Mittelmeer zum historischen Faktor (es steht synekdochisch für die durch es angestoßenen Veränderungsprozesse ein), so wie die Kunst zum Indikator des Kulturvergleichs aufsteigt – zunächst paradigmatisch vorgeführt an Griechenland und Ägypten. Beispielhaft geht es darum, die Angemessenheit der ägyptischen Kunst für deren eigene Zeit sowie die uneinholbare Verspätung und Parteilichkeit künftiger Urteile herauszustellen.35 Neben der mehr dem historistischen Argument dienlichen Eintragung der Kunst in das Register menschheitsgeschichtlicher Erzählungen überführt der Text sie bereits in ein genetisches (genealogisches) Modell: Phönizier weisen „ganz neue[n] Kunsttrieb“ auf, der spielerisches Potential entfaltet, sich von ägyptischer Strenge befreit: „[...] Bildnerei und Werkarbeit der Ägypter ins Große und Ungeheure, spielte man jetzt so vorteilhaft mit Glas, mit zerstücktem, gezeichneten Metall, Purpur und Leinwand, [...], Schmuck, Gefäßen, Zierrat – man spielts [...].“ (25) Bevor ich mich entlang jener Linie jedoch dem qualitativen Sprung annähere, den Griechenlands Kunst – gleichursprünglich mit der Erfindung des Schönen – für diese Kunst-Geschichte (oder Philosophie der Kunst, da sie sich zunehmenden Abstraktionsfähigkeiten widmet) bedeutet, lege ich parallel einige Bemerkungen zum Medium von Historizität dar – ganz im Horizont der Doppelung des Diskurses über 33 Konsequent spricht der Text somit eher von Phöniziern als vom Land Phönizien. 34 Herder, Ideen, a. O., S. 501, S. 504, S. 506f. 35 „[...] Torheit, eine einzige ägyptische Tugend aus dem Lande, der Zeit und dem Knabenalter des menschlichen Geistes herauszureißen, und mit dem Maßstabe einer andern Zeit zu messen!“ Vgl. Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 22, S. 23 (FN): „[...] bald eins, bald das andere, pro loco et tempore.“ Vgl. insgesamt S. 22-24, bes. S. 23. Seitenzahlen zur Frühschrift weiter in Klammern.
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Kunst, mit der ich Kunstformen sowohl als Darstellungsmedien von Geschichte als auch als mediale (materiale) Träger (Zeichen) des historischen Moments in den Blick bekommen möchte. 5.3.1 Exkurs: Analogie oder Allegorie? Unterstellt man Herders Texten, sie verführen analogisch, entdeckt im Sinne Kants deren analogische Schreibart36, so droht diese Behauptung hinsichtlich der Menschenalteranalogie zu kollabieren. Ganz offenkundig des Vergleichens müde – „Nur entwickelte sich dagegen auch etwas ganz anderes, (was ich zwar keineswegs mit jenem zu vergleichen willens bin: denn ich mag gar nicht vergleichen!)“ – codiert Herder sein Verfahren der (durch die Forschung so benannten) Menschenalteranalogie um. Als Einklammerung wird der Ausruf als Meta-Kommentar zum deskriptiven Verfahren lesbar, was keineswegs dem Befund widerspricht, dass die Textpraxis darin besteht, permanent zu vergleichen, d. h. zwei differenzierte Momente in Relation zu setzen. Bei der Rede von Kindern, Knaben, Jünglingen und Männern als Völkern handelt es sich jedoch vielmehr um ein allegorisches Vorgehen. „Also beide Werkzeuge der Fortleitung in den Händen des Schicksals, und wenn ich in der Allegorie bleiben darf, der Phönicier, der erwachsenere Knabe, der umherlief [...].“37 Analogie und Allegorie unterscheidet der Text nicht trennscharf. Um sich darüber zu orientieren, was Herder unter Allegorie versteht, konsultiert meine Analyse zunächst seine Schrift „Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume“ (1770), deren fünfter Abschnitt (310-326) sich vorrangig mit der Allegorie auseinandersetzt. Genauer geht es um die Stellung bzw. Funktion der Allegorie in den bildenden Künsten (318). Jeder Kunst eignet Herder zufolge ihre eigene (Form der) Allegorie, die ihrer Natur entspricht (318/326), immer ist „[…] der einzelne, hier bestimmte Gebrauch [...]“ (319) zu berücksichtigen. Darüber hinaus beschreibt Herder die bildende Kunst selbst als allegorisch: „Ich kann sagen, dass bildende Kunst eine beständige Allegorie sei, denn sie bildet Seele durch Körper, [...].“ (319) Übereinstimmend mit diesem – durch die Bildung doppelt codierten – Bezug von Seele und Körper erstreckt sich das semantische Feld der Allegorie in der späteren Zeitschrift „Adrastea“ (II. Bd., 4. Stück von 1802) über die generelle Figuralisierung der Kunst hinweg bis zur anthropologischen Reflexionsfigur schlechthin. „Die Ausdruckvolleste Allegorie, die wir kennen, ist der Mensch. Kräfte, Neigungen, Gedanken und Leidenschaften 36 Kant, Recensionen, in: KAA VIII, S. 45. 37 Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 26. Der „erwachsenere Knabe“ im Gegensatz zum Ägypter. Parallel spricht Herder allerdings auch von der „[...] Analogie von menschlichen Lebensaltern hergenommen“, s. S. 20. Folgende Seitenangaben zu Herders Aufsatz „Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume“, s. FHA 4, S. 243-326, in Klammern im Fließtext.
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der Seele deutet sein Äußeres, der Körper, nicht etwa nur an, sondern stellet sie dem Verständigen dar.“38 Als sichtbare Veräußerlichung des Innersten überbrückt sie die Kluft zwischen Körper und Seele und stiftet ihr commercium, ohne dass beide überhaupt (noch) voneinander zu trennen wären, wodurch die Allegorie zur philosophischen Schlüsselfigur avanciert. Die Rede von der Darstellung gewährleistet jene ungebrochene Zusammengehörigkeit von Form und Inhalt. Somit erweist sich die Allegorie letztlich als omnipräsentes Prinzip innerhalb der gesamten Natur, das Geist und Körper miteinander verbindet. „Kein Naturkörper ist [...] ohne Geist, kein Geist in der Natur ohne Körper. Seine Gestalt stellet ihn dar; seine Ereignisse und Wirkungen sind Ausdrücke Seiner. Wie nun nennen wir dies Bedeutsame aller Bilder der Schöpfung? Nach Quintilian und den Griechen könnten wir es nicht anders als Allegorie nennen: denn ein Andres wird durch ein Andres bedeutet. In diesem Verstande ist die ganze Natur, die ganze menschliche Sprache Allegorie; [...] In diese wahre, große Allegorieen der Schöpfung tief hineinzudringen, ist der Beruf sowohl des Philosophen als des Dichters, [...].“ („Adrastea“, 292)
Zu den Aufgaben des Stückes der Zeitschrift „Adrastea“, das mit „I. Pygmalion. Die Wiederbelebte Kunst. Erster Gesang.“ (289) überschrieben ist und sich der „II. Früchte aus den sogenannt-goldnen Zeiten des achtzehnten Jahrhunderts.“ annimmt – konkreter „Bilder, Allegorieen und Personifikationen.“ (290) entwirft und untersucht –, gehört es in diesem Rahmen, „Allegorie der Kunst“ (295) sowie „Allegorieen der Rede“ (301) konzise zu bestimmen und voneinander abzugrenzen. Dabei bleibt offen, ob jene dem Text zusätzlich vorangestellten sowie inserierten Gedichtstrophen exemplarischen Charakter entfalten. Inwiefern es sich um eingängige Allegorien handelt, bleibt im Kontext ihrer (möglichen) Auslegung und der theoretischen Reflexion über ihre Gattungsmerkmale zumindest fragwürdig. Unmissverständlich weist das zweite, kürzere Beispiel seine Funktion und Auslegung nicht aus – auf beigegebene Attribute verzichtet es allerdings nicht. Dennoch bezieht sich die folgende „Fortsetzung“ auf „dergleichen Gedankenbildungen“ (295) – ein Indiz 38 Johann Gottfried Herder, Adrastea, in: FHA 10, S. 285-374, S. 306. Speziell mit Blick auf den Aufsatz „Über Bild, Dichtung und Fabel“ betont Lothar van Laak „[…] eine entschiedene Neukonzeption von Bildlichkeit […]“, die sich an der Allegorie abzeichnet. Ich stimme dahingehend mit ihm überein, dass die Allegorie in Herders späteren Schriften zunehmend an Bedeutung gewinnt, wobei die Vorarbeiten zu „Über Bild, Dichtung und Fabel“ bis in die 60er Jahre zurückreichen. Lothar van Laak, „Bildlichkeit und Bildkonzepte beim späten Herder“, in: Der frühe und der späte Herder: Kontinuität und/oder Korrektur. Beiträge zur Konferenz der Internationalen Herder-Gesellschaft Saarbrücken 2004, hg. v. Sabine Groß u. Gerhard Sauder, Heidelberg, 2007, S. 321-329, S. 321. Seitenzahlen zur „Adrastea“ im Folgenden in Klammern im Fließtext.
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dafür, dass die kurze Strophe allegorisch gelesen werden und sowohl auf die bildende als auch die literarische Allegorie verweisen kann. „O wer den Ring, den Ring der Göttin hätte, Der jeden Wahn verscheucht, der freundlich trüget, Vor dem der falschen Kunst, der Gorgonette, Die Larv’ entfällt, die schädlich uns vergnüget, Den Ring, in dem sich an der Anmut Kette, Das Innigste zum Innigsten sich füget; Er würde, frei von Dunst und Zauberbinden, Nur Wahrheit schön, nur hold die Güte finden.“
39
Speziell die Herkunft dieser Stanze aus Ariosts „Orlando Furioso“, einem Versepos, das in Gesänge aufgeteilt ist, birgt Irritationspotential (es handelt sich um den 8. Gesang, 2. Stanze).40 In diesem Zusammenhang ist der Bezug des Zitats zur Allegoriedefinition nicht restlos zu klären. In der Übersetzung, die Herder wiedergibt, wäre das Zitat gegebenenfalls als Allegorie auf die Kunst selbst lesbar. Was kann es bedeuten, die Strophe des Versepos als Exempel einer literarischen (gedichteten) Allegorie aufzufassen? Epen wurden in der Aufklärung teilweise als Allegorien wahrgenommen, insofern sie seit Mittelalter und früher Neuzeit weniger Genealogien oder Machtverteilungen verhandelten und damit historische Rückbindung erfuhren, sondern (durch ihre Figuren) z. B. christliche Tugendexempel gaben.41 Als Antwort auf das in seiner Exemplarität changierende Gedicht-Zitat tritt nun folgende Definition ein: „In der Rede werden dergleichen Gedankenbildungen gewöhnlich Personendichtung, in der Kunst Allegorie genannt; sind sie in Beiden Eins? Kann bildende oder zeichnende Kunst darstellen, was die Rede [...] als ihre Schöpfung andeutet? Darf Rede sich gefallen lassen, was die bildende oder zeichnende Kunst in ihrer engen Werkstäte allein auszudrücken vermag? 39 Herder, Adrastea, a. O., S. 294f. Sein sprachliches Komplement findet dieser „Ring“ der wahren Kunst in Herders Umschrift des Withof-Gedichtes in „Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele“: „– deren Ring durch Ein Gedankenpaar/ vertraulich [...]“, vgl. das Kapitel „Einbildungskraft“, s. diese Studie: S. 315f. Auch hier handelt es sich um eine modifizierende Umschrift. Der Vers erstreckt sich bis in Zeile drei auf S. 295. Dann folgt nach deutlicher Absetzung eine Art (formaler) Überschrift, welche „Fortsetzung.“ lautet. 40 Vgl. in: FHA 10, den Kommentar zur „Adrastea“, S. 1147. 41 Reinhart Koselleck, Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main, ²1992, S. 38-66.
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Darf sie von ihr Gesetze nehmen? Jedermann siehet das Hauptgesetz der Allegorie: ‚in ihr spreche Geist durch den Körper; wo möglich nicht symbolisch, sondern natürlich‘. Mithin scheint hier die Kunst der Rede vorzutreten, indem sie spricht: ich bilde Gestalten. Was bildet sie nun durch ihre Gestalten? wie weit reicht ihre Allegorie?“ („Adrastea“, 295)
Das „Hauptgesetz“ wird zudem als Zitat angeführt, es scheint, als zitiere Herder sich mit dieser Definition bereits selbst. An der Allegorie wird die Frage der Übersetzbarkeit von Kunstformen ineinander grundlegend verhandelt. Gerade die materiale Figur, deren wortwörtliche Figurativität kaum in sprachliche Form übertragbar ist, wirft die Frage auf: ut pictura poiesis? Mag sich die Bildlichkeit des vorangehenden Gedichts nicht ohne Mühe erschließen, so legt es sein zwischen „falsche[r] Kunst“ und „Wahrheit schön“ (294f.) angesiedeltes Hauptinteresse durch die Kursivierung unumwunden offen. Dass die allegorische Rede der Reimform verpflichtet ist, übermittelt Herders Text allein implizit über die Einbindung der Strophe, deren „Fortsetzung“ er ganz unproblematisch folgen lässt. Jene oben zitierte „Fortsetzung“ vereint unter ihrer Überschrift Dichtung („Rede“) und bildende Kunst durch den übergeordneten Begriff „Gedankenbildungen“, welche in beiderlei Formen umsetzbar sind. Kann also eine „Schöpfung“ der „Rede“, ein sprachliches Kunstwerk, in sein bildendes Gegenstück (in Plastik oder Malerei) übersetzt werden? Kann es ein solches Gegenstück überhaupt geben? Oder wäre es der Dichtung möglich, sich an den Werken der bildenden Kunst zu orientieren (sie zum Vorbild zu nehmen) und mithilfe ihrer Gesetzmäßigkeiten zu imitieren oder neue Formen zu generieren? Dürfen Gegenstände oder Verfahren der bildenden Kunst der Rede „gefallen“ oder hat deren Übernahme Einbußen für ihre eigene Ausdruckskraft zur Folge? Ohne diese Fragen ad hoc zu beantworten, stellt die zitierte Passage doch eines klar: Mit dem „Hauptgesetz der Allegorie“ bliebe eine Verwechslung oder Vertauschung von Allegorie und Symbol eigentlich ausgeschlossen. Das natürliche Zeichen wird in der Allegorie dem symbolischen entgegengesetzt. Insofern äußert Herders Text einen (poetologischen) Vorzug der Allegorie gegenüber dem Symbol. Ob jedoch die bildende Kunst das eigentümliche Gefilde der Allegorie und ihre sprachliche Umbesetzung eine nachgelagerte (unnatürliche) Form sei, stellt der Text gerade zur Disposition. Für die „Allegorie der Kunst“ geht der Text von einer graduellen Defizienz (Distanz) der Nachahmung aus. Was der Künstler darbietet, präsentiert sich immer schon als Auswahl: „Der Künstler aber kann Ideen nicht anders als nach seiner Kunst gesellen: denn den großen Zusammenhang der Natur erreicht Er nicht. Mithin beschränkt sich seine Allegorie darauf, was Er vorzustellen vermag, in jeder Art seiner Künste.“ (295) Im Zitat oben nennt der Text Allegorie und Symbol in einem Atemzug und differenziert sie deutlich voneinander. Bei der Allegorie handelt es
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sich entgegen der symboltheoretischen Konvention um 180042 idealer Weise um ein natürliches Zeichen. „Jede Gestalt bedeutet ihre Idee, sie durch sich sprechend, natürlich. Symbole und Attribute mögen diese innere Bedeutung ihres Daseins näher bestimmen und erläutern; [...] der reine Punkt der Allegorie indes liegt in der Personifikation selbst, [...].“ „Symbole“ ergänzen die „Allegorie“ wahlweise als „kleines Spielwerk“ und nähern sich in ihrer Beiläufigkeit der Zugabe von „Attribute[n]“ an („Adrastea“, 296).43 In den Personifikationen werden Götter anthropomorphisiert („[…] Personifikation selbst, im menschlich-dargestellten Göttercharakter.“, 296), ihre Eingliederung in eine Fabel historisiert sie indessen: „Mitwirkend in einer Fabel werden sie historische Wesen; im Moment der Handlung, an der sie Teil nehmen, [...].“ (297) Zwischen den Übergang von (natürlicher) Allegorie-Definition (296) zu den Reflexionen ihrer Darstellung fügt sich wiederum die Dichtung (die Form) selbst mit einer Art Allegorie auf das Verhältnis von „Natur und Kunst“ ein. Das Gedicht thematisiert die Unmöglichkeit, deren künstlich herbeigeführte Trennung aufrechtzuerhalten. Insofern könnte man behaupten, es handle sich um eine Allegorie auf die Funktion der Allegorie. Wie passgenau Inhalt und Form aufeinander abheben, kann hier (noch) nicht bestimmt werden – auffallend und vielleicht etwas selbstironisch gibt sich ihr sporadischer Wechsel allemal. Geht es also im Zuge der Darstellung – der Raumgewinnung der Allegorie – um ihre flächige Abschließbarkeit (297), um ihre notwendige Begrenzung („[…] im engen Cirkus einer Allegorie […]“, 298) sowie ihr reduktives Verfahren44, spannt der Text zuletzt abermals die Griechen als Kontrastfolie auf, nicht ohne in seinem impliziten Winckelmann-
42 Vgl. Bengt Algot Sørensen, Symbol und Symbolismus in den ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts und der deutschen Romantik, Kopenhagen, 1963, S. 109, die Ablehnung der Allegorie und Bevorzugung des Symbols durch die Klassik und die Rehabilitation der Allegorie in der Romantik. Für Goethe nähert sich das Symbol einem in sich geschlossenen natürlichen Zeichen an (s. a. S. 112). Die sprachliche Dimension der (dichtenden) Allegorie (seiner Definition folgend mehr des Symbols) kommt bei Goethe anders als bei Herder nicht zum Tragen. In Abgrenzung von den Romantikern billigt Goethe dann der Plastik zu, symbolischer als die Malerei zu sein, vgl. S. 112f. 43 Seitenzahlen in Klammern weiter zu Herders „Adrastea“. 44 Herder, Adrastea, a. O., S. 298. „Nicht jedem geistigen Begriff, nicht Alles in diesem Begriff wollten die Griechen bilden; vielmehr die Einfalt, mit der sie dergleichen Begriffe ansehn, der Wink, mit dem sie den zartesten Punkt der Handlung erfassen, die Leichtigkeit, mit der sie, ohn’ Ein Überflüssiges, ein Weniges und das Wenigste zu jenem Punkt der Erinnrung ordnen, Dies macht sie zu Mustern, so wie des reinen klaren Sinnes, so der süßen Gnügsamkeit und Weisheit der Allegorie.“ Zitate zur „Adrastea“ weiterhin in Klammern im Haupttext.
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Bezug den Entwurf („Übersicht“) einer Kunstkritik („[…] eine Auseinandersetzung von vielseitiger Art“) anzukündigen.45 Insgesamt entwickelt Herders Text demnach sowohl Definition als auch Phänomenologie der Allegorie, welche auf den Seiten 299f. dann nochmals zusammengefasst und auf ihren „Zweck“ hingeführt werden: „Gedanken oder Empfindungen zu wecken war ihr Zweck.“ (300). Wie im Text „Plastik“ ausgeführt, gehört die Auslegung nicht wesenhaft zur Allegorie (vgl. „Adrastea“, 299f.). Auf eine erläuternde „Inschrift“ vermag die „Allegorie der Kunst“ zu verzichten, sie „spreche sich selbst aus“. Schriftliche Interpretationen resultieren aus „dankbaren“ Aufnahmen der Allegorie, die weniger als Auslegungen, sondern als Anwendungen oder kreativer Umgang mit ihr gelesen werden (300). Die „Allegorie“ subsumiert der Text hier unter gelungene „Denkbilder“ (300), welche in anderen Texten Herders abweichend bzw. tiefergehend charakterisiert werden.46 Etwas zu denken zu geben oder an etwas zu erinnern („Adrastea“, 298), ihr rationaler Anreiz, widerspricht keinesfalls der gedämpft emotionalen Funktion der Allegorie, da es ihr obliegt, „Gedanken oder Empfindungen zu wecken […].“ (300) Ein Zusammenwirken beider (rationaler und affektiver) Vermögen drängt sich in Form der Allegorie aufgrund ihrer überbrückenden Leistung als unproblematisch, da wünschenswert auf.47 Moderne, zeitgenössische Allegorien oder „Denkbilder“ verraten (metonymisch sowie pejorativ) Geschmacksverfall um 1800, dem dessen sichere Schulung an Allegorien kontrastiert wird, so als wandelte man unter ihnen im Ausstellungssaal („Adrastea“, 300). Durch seine „Inschrift“ (300) führt das sinnverwandte Emblem seine Auslegung mit sich, überlädt die Allegorie mit einem entbehrlichen Moment.48 Wie jedoch meine an den Komplex „Gemälde45 Herder, Adrastea, a. O., S. 299, s. den dazugehörigen Kommentar in FHA 10 auf S. 1148f. Seitenangaben zur „Adrastea“ weiterhin in Klammern im Fließtext. 46 Prominent in Herder, Metakritik, in: FHA 8, S. 303-640, S. 418ff. „Von Denkbildern menschlicher Verstandesbegriffe.“, der Abschnitt, in dem auch der Begriff „Metaschematismus“ auftaucht (a. O., S. 420). 47 Hier liegt die Differenz zur mit Goethe klassisch gewordenen Allegorieauffassung, die aufgrund ihres rationalen, konventionellen Charakters die affektive Kraft des Symbols bevorzugt und herauskehrt. Vgl. Sørensen, Symbol, a. O., S. 114f. 48 Zum genetischen Zusammenhang von Emblem und Allegorie vgl. die breitaufgestellte gelehrte Arbeit von Peter-André Alt, Begriffsbilder. Studien zur literarischen Allegorie zwischen Opitz und Schiller, Tübingen, 1995 [Studien zur deutschen Literatur 131], S. 101-112, bes. S. 111f. Zur Stellung Herders in der Allegoriediskussion der Aufklärung vgl. das Kapitel IV, 1) Die Historizität der Form. Herders Lehre von der Allegorie, S. 581-599. Alt berücksichtigt Herders frühe Äußerungen zur Allegorie, die schon im Dienste der „‚offnen‘ Allegorie“ stehen, vgl. S. 587, S. 589. Zur terminologischen Verwirrung von Allegorie und Symbol im zeitgenössischen Diskurs vgl. S. 595, S. 596 Mitte
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Metaphorik?“ anschließenden Kapitel zur „Sprache“ und zum „Parrhasische[n] Demos“ veranschaulichen, ist die „Inschrift“ ihrerseits in der Lage, weitreichende, über Sprachlichkeit hinausweisende Darstellungsfunktionen zu übernehmen.49 Obwohl es zum Zweck der Allegorie gehört, „Gedanken oder Empfindungen zu wecken“, darf ihre Darstellung nicht aufrütteln und emotional mitreißen. Sie strahle eine Freundlichkeit aus, die keinesfalls beunruhige („Adrastea“, 300). Wie für andere Gattungen auch wirft die Organisation von Regeln (zur Auswahl) ihrer Darstellung die Frage nach dem fruchtbaren Moment auf und schließt damit an die Laokoon-Debatte an, wenngleich Laokoon kein allegorisierbares Motiv für Herder anbietet. „Und da kein Moment der Handlung länger und gnügender wirkt, als eines schönen Anfanges oder Endes: so erfasse diesen die Allegorie der Kunst; die mittleren Turbationen lasse sie andern Künsten.“ (301) Zwar nehmen Herders Ausführungen zur „Allegorie der Kunst“ größeren Raum ein. Richtungsweisend für das Verhältnis von bildender und literarischer Allegorie – auf den Rahmen des ut pictura poiesis-Modells ausgreifend – zeugt der Abschnitt über die „Allegorieen der Rede“ von einer Reinterpretation der Allegorie als Kunstform. Bei den „[…] Allegorieen der Dichtkunst und Rede“ (302) handelt es sich um Sonderformen der Sprachallegorie, welche letzteren Gesetze gibt und eben für den Bereich der Sprache ihre omnipräsente Geltung absichert. 5.3.2 Sprachallegorie Jene bereits für die bildende Allegorie beanspruchte Limitation und Grazilität fordert auch die Sprache ein. Weniger steuert die Verfasstheit der Sprache den Modus der Allegorie, sondern die Allegorie als solche drückt den ihr möglichen Darstellungsformen ihr Gesetz auf: „leicht müssen sie schweben: denn sie sind ätherischer Art.“ (302) Obwohl generell ähnliche Formgesetze gelten mögen, lassen sich manche gedichtete oder gelesene Allegorien gar nicht in andere Gattungen übersetzen: „Vornehmlich ist dies bei lyrischen Gedichten der Fall, wo auf dem Hauch der Empfindung die Bilder wie Geister vorüberschweben. [...]. Leset [...]. Die Bilder, die Allegorieen und Personifikationen in ihnen, lassen sie sich zeichnen, meißeln, malen? [...] Stellet die Rede, der Klang und Ton der Empfindung sie der Seele nicht unendlich geistiger und inniger dar, als es der zeichnende Künstler tun könnte? Also bleibe dieser in seiner Werkstatt; aus ihr und den bis 597 oben; s. a. zum „erweiterten Allegoriebegriff“ Herders: S. 583. Alt geht so weit, „[…] die intellektuelle Summe einer Allegorietheorie“ (um 1800) bei Herder zu finden, vgl. S. 598. Schon Benjamin diskutiert die Interferenz von Emblem und Allegorie im Unterkapitel „Ursprung der neueren Allegorie“ in Bezug auf Herder. Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt am Main, 1963, S. 184ff. 49 Vgl. mein Kapitel „Sprache“ ab S. 460, besonders das dann folgende Kapitel ab S. 469 zu: „Der Parrhasische Demos“.
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Bedürfnissen seiner Kunst schreibe er der Dichtkunst keine Gesetze vor, deren sie nicht bedarf, die sie vielmehr lähmen oder gar töten.“ (302)
Mit dieser Feststellung bereitet dieser spätere Text zur Allegorie aus der „Adrastea“ seine überraschende Wendung vor. Insofern er die Eigentümlichkeit jeglicher Kunstformen und dazugehöriger Gesetze betont, weist er nicht nur die Formel ut pictura poiesis zurück, sondern äußert bereits aufgrund formaler Vorgaben den Vorzug der Dichtung. Graziler, geistiger eigne sie sich als Medium der Allegorie um ein Vielfaches besser als die gröbere, materiale Kunst. Darin erschöpft sich ihre Reichweite jedoch nicht. Ohne Umschweife legt der Text die Vorgängigkeit der literarischen gegenüber der bildenden Allegorie fest und verkehrt damit gewissermaßen deren Genese: „Dies um so mehr, da die Kunst selbst ihre bildliche Begriffe der Poesie allein zu danken hat und ohne sie ganz unverständlich spräche.“50 Dabei spendet vorwiegend die narrative Struktur ein stabilisierendes, ja konservierendes Moment. „Die schönsten Allegorieen der Kunst waren Märchen (Mythen) oder mußten es werden: so nur ward ihr Dasein gesichert; sonst verstob es.“ (303) Durch den Versprachlichungsprozess schwächt sich die Bedeutung der Gestalt für die Allegorie ab, die Allegorie löst sich in die ätherische Dichtung auf. Kulturgeschichtlich hebt sie sich durch ihre Kultivierungsleistung hervor, besonders für die Sprachbildung komme ihr unverzichtbare Funktion zu. „Allerdings sind durch die Allegorie, d. i. durch den Bilderschaffenden Verstand alle kultivierten Völker kultiviert worden. Nähme man der Sprache ihre Bildwörter, auch die sie nicht mehr dafür erkennet; es blieben ihr weder Namen, noch Zeichen der Handlung, (weder Nomina noch Verba) kaum Ausrüfe (Interjektionen) und pronomina übrig. Und auch diese sind Personendichtung. Vom höchsten Altertum an drückte sich der Verstand gern in Allegorieen aus. Ein neugefundnes Bildwort gab oft ein ganzes System, so wie man aus Einem Goldkörnchen ungeheure Ballen glänzenden Goldpapiers fabrizieret.“ (304)
Demnach entsteht Sprache aus Allegorien. Parallel zu lesen wäre diese Stelle mit den Äußerungen zur legitimen Sprachschöpfung im Aufsatz „Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele“, welche nahezu übereinstimmende Metaphorik 50 „Nicht also von der zeichnenden oder bildenden Kunst empfängt die Dichtkunst Gesetze; desto strengere legt sie sich aber selbst auf. Eins der Ersten ist: ‚nicht für die Steinhauende oder zeichnende Kunst zu singen oder zu allegorisieren.‘“ (Zitate: Herder, Adrastea, a. O., S. 303) Die Bildlichkeit in der Kunst verdankt sich also der Poesie: eine vorerst kontraintuitive Eingabe. Bei Kant tritt Malen als Überbegriff ein, der in anderen Gattungen den Verfahrensmodus angibt, vgl. das Kapitel zu „Kunstordnung und Geschmacksanthropologie“, „Von der Eintheilung der schönen Künste“. Seitenzahlen zur „Adrastea“ weiterhin in Klammern.
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verwenden.51 Als Form der Speicherung kulturellen Wissens eignet der Allegorie beharrliche Nachdrücklichkeit für die memoria und sie glänzt durch ihre Bandbreite bzw. universale Anwendbarkeit. Wenngleich Herder einige neuere Sonderformen zurückweist, so scheut er sich nicht, die Allegorie selbst zur omnipotenten Reflexionsfigur zu erheben. Am Schluss der Reflexionen eröffnet der Verweis auf (vergessene) Allegoriendichter einen Ausblick auf gelungene (nicht explizit benannte) Allegorien sowie Herders eigene Epigramme, welche Allegorien zum Thema erheben. Mit ihrer äußerst knappen Zusammenfassung erfüllen Epigramme Herders „Anmerkungen über das griechische Epigramm“ zufolge die Aufgabe, das Vergnügen am Kunstwerk zu expositionieren.52 Das Florilegium umfasse dabei breitgefächerte Gattungen, wie Herder erläutert. Auf der Gemme werde das Epigramm besonders häufig eingesetzt.53 In der Klassiker-Textausgabe zur „Adrastea“ wirken beide Epigramm-Zitate („Adrastea“, 305) an ihrer Stelle im Text „Früchte goldner Zeiten“54 wie analytische Überschriften oder Inhaltsverzeichnisse, mit denen der Abschnitt etwas abrupt aussetzt. Die Klassikerausgabe lässt das, was sie noch überschreibt, aus: nämlich Beispiele für „Allegorien der Kunst“55 und „Allegorien der Rede“. Leider entgeht dem Leser damit Herders aberwitziger Versuch, Allegorien der Kunst und Rede vorzuführen. Trotz theoretischer Erläuterungen, die den medial begrenzten Anwendungsraum beider Allegorieformen ausloten, sucht er nun, die bildende Allegorie in die Schrift zu übertragen. Tatsächlich bilden die „Allegorien der Kunst“ eine Reihe, einen „Hayn“, der griechische Götter und mythologische Figuren nebeneinanderstellt (aufeinander folgen lässt). Von Epigrammen zu sprechen, rechtfertigt sich insofern, als die Figuren, die Statuen, mit Unterschriften versehen werden, die zum Teil zusätzliche szenische Momente oder Erläuterungen anfügen (oder auftragen). Abweichend könnte die erstarrte Szenerie eine dreiteilige emblematische Darstellung annehmen, der das bildliche Element, die pictura fehlt. Die inscriptio gibt jedoch die vorgestellte Figur, den Gott, an, und die subscriptio erläutert den Rah51 Herder, Vom Erkennen und Empfinden, in: FHA 4, S. 356. 52 Herder, Anmerkungen über das griechische Epigramm [Anmerkungen über die Anthologie der Griechen, besonders über das griechische Epigramm], in: FHA 4, S. 499-548, S. 507f. 53 A. O., S. 508. 54 Vgl. zu den Zitaten ab hier parallel zur Klassiker- die (vollständige!) Suphanausgabe. Johann Gottfried Herder, Adrastea, Zweiter Band, Viertes Stück (1801/1802), in: Sämmtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, Bd. 23, Weidmannsche Buchhandlung, Berlin, 1885, S. 325-329 [Reprographischer Nachdruck 1967]. Klassiker-Ausgabe: Herder, Adrastea, in: FHA 10, S. 290-305, nächster Abschnitt ab S. 306 („Tanz. Melodrama.“). 55 Die sie als Epigramme bezeichnet, vgl. den Kommentar zur „Adrastea“ in: FHA 10, S. 1151.
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men, in dem die Darbietung steht – gibt indes auch konkretere Hinweise für die Ausgestaltung („Jupiter. [...] In der Linken drohet Dein Blitz nur;/ Aber die Rechte hält Deinen friedseligen Stab.“ usw.). Der Medientransfer erlaubt freilich nur die Ausrichtung „nach alten Kunstdenkmahlen“, während die „Allegorien der Rede“ direkt als „Denkmahle“, als Gedichtzitate56, zuletzt als „Lied“, dem Text inseriert werden können. Der Gedichtform der „Allegorien der Rede“ steht der epigrammatische und szenische Charakter der „Allegorien der Kunst“, der durch wörtliche Rede oder auch Regieanweisungen („Juno,/die den Herkules säuget“) erzeugt wird, entgegen. Passagen in gesetzten Anführungszeichen changieren dabei zwischen wörtlicher Rede und Inschrift. Auf Seiten der „Allegorien der Kunst“ entspricht den gereimten „Allegorien der Rede“ das etwas holprige Metrum griechischer Hexameter, das der doppelten Entfremdung der bildenden Allegorie (als ursprünglich griechischer, plastisch eingefasster Allegorie, die Herder zudem verschriftlicht) Ausdruck gibt. Die Reihenbildung, der „Hayn“, fügt Übergänge zwischen den Figuren ein, indem sie Motive wiederaufnimmt, aber auch die Verkettung von Handlungen, Gesten herstellt. Das Problem der Reihenbildung stiftet ebenso wie der Rekurs auf unsichtbare, dennoch ekphrastisch verfügbare Bilder den Konnex zum allegorischen Gemälde (vgl. zur „Gemälde-Metaphorik?“ und das Schlusskapitel „Idee zu einem allegorischen Gemälde“). Die Auslassung der Klassiker-Ausgabe stiftet naht- und bildlos den Bezug zum Folgeabschnitt, der unter der Überschrift „Tanz. Melodrama“57 steht, in dessen Verlauf Herder eine ganz neue (musikalische) Gattung in Aussicht stellt („Adrastea“, 309). Das theoretisch eingeebnete Feld überwindend, den Horizont ihrer Definition hinter sich lassend, schifft sich die Allegorie als anthropologisches Merkmal ein: Denn die „Ausdruckvolleste Allegorie“ sei der Mensch selbst (vgl. dazu den Eingang dieses Kapitels, der diesen Passus zitiert, 306). In den Reflexionen der „Adrastea“ von 1802 zeichnet sich die Dichtung als der bildenden Kunst überlegene, sie grundlegende Kunstform aus. Sie gibt ihr die Regeln vor, samt oder ausdrücklich der Allegorie. Übertrifft Sprachbildlichkeit demnach alle im Raum bildenden Künste? Inwiefern ist in diesem Zusammenhang überhaupt von Bildlichkeit zu sprechen, wie weit trägt die Bildlichkeit des Bildes? Handelt es sich um eine Metapher des besonders eindringlichen – um im Bild zu bleiben – plastischen Ausdrucks? Liegt dem Sprach-Bild an der Evozierung phantasievoller imaginärer Innenwelten? Und weshalb kommen „Allegorieen der Rede“ ausschließlich im Plural, diejenigen der Kunst hingegen durchaus im Singular vor („Allegorie der Kunst“)? Gehen wir zunächst auf den anfangs zitierten Text „Plastik“ zurück, in dem die Vorschriften plastischer allegorischer Darstellung verhandelt werden. Im Gegensatz zu ihrer sprachlichen Umsetzung übernimmt die Allegorie in der Plastik (der Form 56 Ebd. 57 Adrastea, in: FHA 10, S. 306. Seitenangaben in Klammern zur „Adrastea“.
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und im gleichnamigen Text) uneigentliche Bedeutung – eine Funktion, die eigentlich der Sprache obliegt –, da das ihr zugehörige Material sich als zu schwerfällig erweist, um einen „Hauch“ zu „haschen“ („Plastik“, 320).58 Allenfalls „lebend in Stein gesenkt“ (320), als individuelle Darstellung einer Person, ihres Charakters sowie ihrer Lebensumstände, könne die Personifikation überzeugen. Einerseits entspricht die Aufgabe, Exemplarität zu vermitteln, der Allegorie (die als Gattung das Allgemeine im Besonderen aufruft), wie etwa Goethe festhält59, andererseits schlägt Herder mit den Attributen der Götter eine Brücke zur individuell verstandenen Darstellung, die für die Allegorie wesentlich sei. „Diese Attribute waren so wenig Allegorie (wie wir nach der Poetik das Wort nehmen) [...]; historische, individuelle Kennzeichen warens, diesen Gott und jetzt und hier zu bezeichnen. Sie bedeuteten, aber keine Abstraktion; ein Individuum deuteten sie an, wie’s ohne Schrift angedeutet werden konnte.“ („Plastik“, 321)
Herders Allegorie nimmt den Raum zwischen Bedeuten und Andeuten ein. Obwohl sein Beharren auf Individualität den Daseinscharakter des (allegorisch) Dargestellten betont und seine Bemerkungen zu den Attributen die Allegorie eher aus dem Dargestellten ausschließen, enthält er einen (möglicherweise) alternativen Symbolbegriff vor.60 Mit der Auslassung oder Ausblendung des Symbols greift Herder indirekt das Problem mythologischer Vorstellungen auf, in deren Sphäre das Besondere nicht schlicht das Allgemeine bedeutet, sondern, mit Schelling gesprochen, das
58 Zitate aus Herders „Plastik“, in: FHA 4, S. 243-326, Seitenzahlen im Folgenden in Klammern. 59 Vgl. Sørensen, Symbol, a. O., S. 107f. Die Differenz zwischen Allegorie und Symbol liegt bei der Allegorie auf dem Schwerpunkt des Allgemeinen, zu dessen Gunsten das Besondere ausgebeutet wird. Beim Symbol liegt der Schwerpunkt beim Besonderen, das zu seinem eigenen Recht kommt. Aber auch hier holt die repräsentierende Funktion das Besondere ein, insofern es bei lebendiger Darstellung das Allgemeine unbemerkt mitvermittelt. Was Goethe dem Symbol zuschreibt, billigt Herder durchaus der Allegorie zu. Vgl. die vielzitierte Stelle: Johann Wolfgang Goethe, Allgemeines und Besonderes, in: ders., Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 13, Sprüche in Prosa. Sämtliche Maximen und Reflexionen, hg. v. Harald Fricke, Frankfurt am Main, 1993, S. 368. 60 Vgl. Sørensen, Symbol, a. O., S. 57, S. 58 unten. Sørensen deutet diese Leerstelle so: „Ein eigenes Wort für diesen Symbolbegriff, den Herder häufig bloß ‚Allegorie‘ nennt, findet sich erst in den späten Schriften, in denen das Wort ‚Natursymbol‘ in diesem Sinne öfters verwendet wird.“ Vgl. Herder, Adrastea, a. O., S. 295; Johann Gottfried Herder, Kalligone, in: FHA 8, S. 641-964, S. 958 („Natursymbole“).
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Allgemeine zugleich selbst ist.61 Dieser Zusammenfall von Idee, Dargestelltem und Sein bleibt in der Regel dem Symbol vorbehalten. Winckelmann teilt Selbstbezug, Simplizität und Lieblichkeit als Kompositionsprinzipien der Allegorie. Als „Iconologie“ kann seine Allegorietheorie einen konträren Symbolbegriff jedoch vernachlässigen. Ohne die Götterbilder in ein komplexes theoretisches Korsett zu pressen, zieht er im zweiten Kapitel seines „Versuch[s] einer Allegorie, besonders für die Kunst“ die Konsequenz aus Herders Forderung historischer Einbettung (stellt sie sich selbst heuristisch voran), indem er die abweichenden Beigaben oder Attribute der Götter einerseits aus der jeweiligen mythologischen Situation herleitet, und andererseits den Deutungs-Verschiebungen durch multimediale, mitunter fragmentierte Quellen und Adaptationen nachspürt. Sein konsequentes Vorgehen reizt dann bereits Zeitgenossen zur theoretischen Anfütterung seines Werks.62 Signifikant an Herders Formulierung ist, dass nicht bedeuten und sein, sondern bedeuten und andeuten in der geglückten Allegorie terminologisch zusammenfallen. Andeuten übernimmt tatsächlich indexikalische Funktion („ohne Schrift“, „Plastik“, 321)63, es verweist auf etwas, das räumlich erreichbar, im gleichen RaumKontinuum vorhanden ist, zudem in einer (verursachenden?) Teilrelation zum Angedeuteten steht. Anders gesagt, schwächt Herders Text die mythische bis magische Relation oder Identifikation von Sein und Bedeutendem ab, um dennoch partielle Identität aufrechtzuerhalten. „Attribute“ (321) werden als Agenten einer positiven 61 Dieses Verhältnis trifft auf Schellings ambitionierten Symbolbegriff zu, den er in seiner „Philosophie der Kunst“ entwickelt. In diesem Sinne verstehe ich den das allegorische Weltverhältnis charakterisierenden Zusammenfall von innen und außen in Herder, Adrastea, vgl. a. O., S. 292. Sørensen versetzt deren Korrespondenz in den Kontext früherer Schriften Herders und damit von dessen „Sprachtheorie“, vgl. Sørensen, Symbol, a. O., S. 62-64. Zu Schelling siehe Tzvetan Todorov, Symboltheorien, aus dem Französischen v. Beat Gyger, Tübingen, 1995, S. 206-208; mit Bezug auf den Komplex des Mythologischen. Todorov zitiert aus: Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings Sämmtliche Werke, Erste Abtheilung, Fünfter Band, Stuttgart/Augsburg, 1859, S. 353-736. 62 Todorov, Symboltheorien, a. O., S. 211. Der dort zitierte Passus zu den (symbolischen) Götterbildern entstammt einer Anmerkung Meyers zu Winckelmanns „Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst“ (1766) als (Mit-)Herausgeber. Vgl.: Winckelmann’s Werke, Zweiter Band, welcher die Schriften über die Herculanischen Alterthümer, die Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen, und denVersuch einer Allegorie enthält, hg. v. Carl Ludwig Fernow, Dresden, 1808, vgl. S. 427 („Versuch“) u. S. 684f. (Anmerkungsapparat). Zu meinen Winckelmann-Anmerkungen vgl. diese Ausgabe, S. 441 (basale Definition, „Iconologie“), S. 484f. („Einfalt“, „Deutlichkeit“, „Lieblichkeit“), S. 476 (Heuristik); Herleitung im zweiten Kapitel im Grunde durchgängig, vgl. S. 495f. („Apollo“), S. 500f. („Mercurius“) usw. 63 Seitenzahlen zu Herders „Plastik“ weiter in Klammern im Fließtext.
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Allegoriefunktion umgedeutet, insofern diese nicht „nach der Poetik“ (321) genommen wird. Die terminologische Unschärfe des oben zitierten Passus, welcher zunächst einen defizitären Allegoriebegriff suggeriert, entspringt dessen Nutzung dem traditionellen, poetischen Umfang gemäß (im Sinne des Auslegens). Meines Erachtens markiert die Einklammerung zum poetischen Gebrauch die Abgrenzung vom überkommenen oder missverstandenen Allegoriebegriff, dem das Symbol in letzter Konsequenz entgegengestellt werden müsste. Herders positive, wenngleich historisch verankerte, nicht übertragbare Lesart der Allegorie kann symbolischer Opposition entbehren. Was die „Kennzeichen“ (321) in der Allegorie andeuten, kann man gegebenenfalls dazu sagen, sprachlich ergänzen. Mit der Auslegung gewinnt die Allegorie bei Herder jedoch nicht ihre eigentliche Bedeutung – auch als Gattungsmerkmal gehört diese ihr nicht an bzw. taucht sie als historische Späterscheinung auf: „Je feiner meistens die Auslegung der Allegorie, desto unwahrer. – “ (321) Bei einer misslungenen Personifikation lasse sich lediglich in Ansehung der Attribute noch etwas denken (323), sie entwickele den Hang, das Besondere nicht mehr darstellen zu können (vgl. 323). Allein in der griechischen Kunst bringe die Allegorie „treffende, natürliche Gedanken“ zum Ausdruck, die „aus Umständen der Geschichte“ (322) entspringen. Umgekehrt proportional zur entbehrlich ausgreifenden Auslegung verhält es sich mit Darstellung und Ausarbeitung der Allegorie. Angemessen sei ihr eine distinkte Simplizität, etwas Reliefartiges, Ornamentales, das sich besonders gut (natürlicher Weise) auf bestimmten Trägermedien anbringen lasse: auf „Gemme“, „Münze“, „Urne“, „Bas-relief“ (322/326), nicht dem „Kolossus“ (322). Konsequent in Bezug auf Kleinteiligkeit und Detailverliebtheit (wobei Relief und Ornament jeweils eine Einheit in der geschwungenen Linie bilden), jedoch kontraintuitiv angesichts der vorherigen Trennung bildender sowie literarischer Allegorien, fragt der Text nach der Anlage der Allegorie als Gruppe: „denn zu aller literarischen und moralischen Allegorie gehört Gruppe, und im eigentlichsten Verstande hat die die Bildnerei nicht.“ (324) Zum Beweis ruft der Text nachfolgend mehrere Beispiele auf, unter anderem den Laokoon (325). Argumentativ sorgt die (plastisch sichtbare) Unterordnung mehrerer Figuren unter eine Hauptfigur dafür, „das ewige Gesetz“ der Kunst einzuhalten, „die nur Eins gibt, und in dem Einen Alles!“ (325) Die Auflösung der Gruppierung zur Einheit hin scheint der zuvor forcierten Auflockerung (Eleganz: „klein, simpel, schmal umründet“, 322) der Allegorie kaum zu entsprechen. Der komplexe Bezug von Kleinteiligkeit und Gesamtzusammenhang wird jedoch für beide Fälle verhandelt. Dennoch irritiert die Gruppenbildung gerade als offenkundiges Merkmal literarischer Allegorie: Denn worin besteht die Gruppierung eines literarischen Textes oder sprachlichen Gebildes? „Eins durchs Andere“ (318) zu sagen, zwei oppositionelle,
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miteinander interagierende Gruppen zu bilden, könnte als Kompositionsmerkmal literarischer Allegorie, mithin als operativer Modus der Sprache selbst gelten. Wie genau setzt sich dieser Modus jedoch im Falle bildender Allegorien durch, deren Gefüge nicht auflockern darf (wobei „das ewige Gesetz“ schlicht unbegründeter Akt der Setzung bleibt)? Gruppierung leistet in der literarischen Allegorie eine Voraussetzung ihrer Narrativierung. Insofern erweist sich ihr bildendes Gegenstück als benachteiligt: „Kann nun eine Geschichte in der Bildhauerei nicht Gruppe werden, weil jedes für sich auf seinem Grunde, in seiner Welt stehet; liebe Allegorie, wie wird’s mit dir sein, [...]?“ (326) Scheitert die bildende Allegorie daran, nicht narrativierbar zu sein? Scheitert sie schlicht an ihrer materiellen Undurchdringlichkeit? Trotz allem – so meine These – schlägt der Text Beispiele gelungener bildender Allegorisierung vor. Im Rückgriff auf die griechischen Götterstatuen entwirft er ein Modell der ihr angemessenen Gestaltung sowie Rezeption. Wie bereits zitiert, funktionieren Attribute der Götter nicht als abgegriffene Allegorie, sondern als „historische, individuelle Kennzeichen“ (321), die Individualität anstatt Abstraktion anzeigen. „Man gehe die Statuen der Götter und die aus ihnen gesammleten Allegorien durch; man wird sie sämtlich dieser Art finden.“ (321) Damit entfaltet der Text eine beinahe paradoxe Definition der Allegorie. Insofern sie von der Individualität des Dargestellten überzeugt, das gleichermaßen sich selbst wie seinen eigenen Repräsentanten liefert, setzt sie den ihr eigentümlichen Zweck durch – verfährt jedoch nicht allegorisch (was terminologisch dann den alternativen Symbolbegriff hervorgetrieben hat). Sobald das Moment des Allegorischen reflektiert, die Allegorie gedeutet wird, verliert sie ihre allegorische Wirksamkeit und wird erst recht zur Allegorie. Zur Allegorie wird sie damit für die Späteren. Als Allegorie wirkt sie für die Früheren, die nicht über ihren allegorischen Charakter zu reflektieren brauchen, jedoch wissen, wie sie darzustellen sei, um nicht in die Auslegung zu kippen (vgl. 322). Mit (weitgehendem) Verzicht auf fortschreibende Allegorese bemühe ich zur Verdeutlichung ein Gedicht Herders, das jenes Verhältnis von alt und neu vorführt: „Alte und neue Allegorie A. Durch Tugend in der Ehre Tempel! B.
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Ja, alter Welt Allegorie. Durch Goldkoth in der Ehre Tempel! So käuen jetzo sie.“
64 Johann Gottfried Herder, Alte und neue Allegorie, in: Sämmtliche Werke, Poetische Werke, Bd. 5 [d. i. Bd. 29 der Gesamtausgabe], hg. v. Berhard Suphan, Weidmannsche Buchhandlung, Berlin, 1889, S. 51 [Reprographischer Nachdruck 1968].
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Nun stellt sich resümierend die Frage, was die bildende mit der literarischen Allegorie verbindet. Denn im Grunde führt Herders Text letztlich vor, weshalb es keine bildende Allegorie geben könne. Zum Ausgangspunkt des Exkurses zurückgekehrt, bliebe demnach zu klären, um welcherlei Allegorie es sich beim Knaben Phönizien überhaupt handelt. In „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ steht die Allegorie in Konkurrenz zum Vergleich, zur Analogie („denn ich mag gar nicht vergleichen!“)65 – vielleicht bietet sie nur eine alternative Beschreibungsmethode an. In der „Plastik“ wird sie in ihre Schranken verwiesen: in den Rahmen einer zusammenhängenden Fläche („Kontinuum Einer Fläche“). Damit steht sie wiederum scheinbar in Opposition zu einer weiteren flächigen Darstellung, der es um „historische[ ] Wahrheit“ („Plastik“, 326)66 zu tun sei. „Gemme, Münze, Bas-Relief, Denkmal, kann nicht viel mehr als eine Allegorie geben, dazu sind sie da und die geben sie unnachahmlich. Warum sie von da wegreißen? mit ihr die großen Bilder der Wahrheit, Götter- und Heldengestalten, oder die Zaubertafel historischer Wahrheit, das Gemälde, verwirren und zu Schatten verscheuchen?“ (326)
Mythologie überträgt im Zusammen-Hang griechischer Statuen historisch-individuelle Wahrheit, der zur richtigen Zeit und am passenden Ort ihre (geschmälerte) allegorische Darstellung entsprechen kann. In Zeiten, in denen Allegorese den Zugang zur Allegorie versperrt, tritt ein abweichendes Medium historisch-wahrhafter Darstellung ein. Über repräsentationslogische Rückbindung verleiht der Text Skulptur und Malerei jeweils Minimaldefinitionen mit gleichsam anthropologischer Fundierung, die ihren typischen Gebrauch erklärt. Gleichzeitig gibt deren geringfügige Differenz Auskunft über ihre historische Reichweite. „Wie weit sind die Formen der Skulptur oder die Gestalten der Malerei einförmig und ewig, oder den Modebegriffen verschiedener Zeiten und Völker unterworfen und mit ihnen wandelnd? Antwort. Die Formen der Skulptur sind so einförmig und ewig, als die einfache reine Menschennatur; die Gestalten der Malerei, die eine Tafel der Zeit sind, wechseln ab mit Geschichte, Menschenart und Zeiten.“ (276)
Der Gattung „Malerei“ wohnt das historische Moment selbst inne, wohingegen die „Skulptur“ als überzeitlich ausgewiesen und durch ein anthropologisches Argument naturalisiert wird. Ob es sich um eine Analogie oder ein Begründungsverhältnis handelt, bleibt offen. Kunstformen werden demnach entweder als zeitlos und überzeitlich oder als historisch gebunden (wandelbar) definiert. Angesichts des (annähernd) konsequenten Kultur-Relativismus, in dessen Dienst sich die Frühschrift zur 65 Herder, Auch eine Philosophie, in: FHA 4, S. 26. 66 Seitenzahlen zu Herders „Plastik“ weiter in Klammern.
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Philosophie der Geschichte stellt, irritiert die in der „Plastik“ offerierte Option solch ahistorischer Kunst. Dennoch erachte ich es als zulässig, beide Schriften im Horizont derselben Fragestellung zu lesen, insofern sie chronologisch eng beieinander liegen (1770/1774) und die Frühschrift beharrlich auf das Gemälde zurückkommt. Mit der Malerei widmet sich der Text „Plastik“ der tableauhaften Darstellung wandelbarer „Gestalten“. Wandelbarkeit erhebt die Malerei zur historischen Gattung par excellence. Im näheren Vergleich von „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ und den „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ komme ich auf diesen Komplex zurück und lote den repräsentationalen Umfang des Gemäldes weiter aus. Dass der Text „Plastik“ in Kontrastierung der Allegorie auf die Historienmalerei zu sprechen kommt, ist markant. Dennoch bereitet er damit keine poetologische Abscheidung beider Gattungen vor. Vielmehr gehört die Diskussion der Reichweite der Malerei dem Allegoriediskurs selbst an, insofern die Allegorie sowohl als deren Überbegriff als auch als deren Unterkategorie eintreten kann. Wie schon Winckelmanns „Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst“ zeigt, verbindet die Allegorie sich unzertrennlich mit der ut pictura poiesis-Debatte. Die Allegorie liegt genetisch immer schon als Hybrid aus Text und Bild vor. Wie Herder räumt Winckelmann der literarischen Darstellung Vorrang ein.67 Zwar tritt Herder schon früh als scharfer Kritiker Winckelmanns auf. Seine Äußerungen in den „Kritischen Wälder[n]“ (1767/68, 1769) und im „Denkmal Johann Winkelmanns“ (1777) bergen jedoch allesamt dessen Verteidigung gegen ausnehmend rigorose Kritik.68 Das „Ers67 Winckelmann, Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst, a. O., S. 448f., S. 452 (Dichterbilder, Homer). Trotz der insgesamt schiefen Kategorisierung der Allegorie auf S. 467 vergleiche den letzten Absatz bis S. 468 oben: „Diese Allegorien sind wie ein augenblicklicher Punct in einem Gemählde vorgestellet, [...].“ Zur Vorbildfunktion der Griechen siehe S. 484: „Die Einfalt bestehet in Entwerfung eines Bildes, welches, mit so wenig Zeichen als möglich ist, die zu bedeutende Sache ausdrücke, und dieses ist die Eigenschaft der Allegorien in den besten Zeiten der Alten.“ Über die „Lieblichkeit“ stiftet S. 485-488 den Anschluß an das Kernproblem des Laokoon-Diskurses im Rahmen der ut pictura poiesis-Debatte. „[...], und es soll überhaupt beobachtet werden, was in der Geschichte der Kunst von Vorstellung der Leidenschaften gesaget worden. [...]. Die Kunst aber ist in ihren Bildern verschieden von der Dichtkunst, und kann die schrecklich schönen Bilder, die diese mahlet, nicht mit Vortheil ausführen. [...].“ 68 Zur Einschätzung von und Kritik an Winckelmanns Allegorietheorie generell vgl. Alt, Begriffsbilder, a. O., S. 434-455. Johann Gottfried Herder, Älteres Kritisches Wäldchen, in: FHA 2, Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767-1781, hg. v. Gunther E. Grimm u. Martin Bollacher, Frankfurt am Main, 1993, S. 11-55; Verteidigung, S. 40. Meines Erachtens schuldet sich Herders harsche Kritik an Winckelmanns „Geschichte der Kunst des Alterthums“ von 1764 hier dem Interesse an einem ähnlichen Projekt, der Verqui-
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te[ ] Wäldchen“ entschuldigt Winckelmanns Fehleinschätzungen aufgrund der Vermischung von „bildende[m]“ mit „dichtende[m]“ „Gefühl“69, um dessen „Eindruck“ einer Dichtung – genauer eines Theaterstücks, Sophokles’ „Philoktet“ – nur wenige Zeilen später von Lessing abweichend zu bestätigen.70 Ob Winckelmanns Gespür für die Allegorie dem kontemporären Allegoriediskurs unterliegt, entzieht sich eines abschließenden Urteils. Dennoch greift auch Winckelmann in seinem „Versuch“ die Frage auf, ob die bildende Allegorie als „Gruppe“ dargestellt werde könne, und verknüpft sie mit Reflexionen zur wechselseitigen Übertragbarkeit der Kunstformen. „Vergebens ist also die Hoffnung derjenigen, welche glauben, es sey die Allegorie so weit zu treiben, daß man sogar eine Ode würde mahlen können: dieses würde selbst den alten Künstlern nicht gelungen seyn, und ein solches Gemählde würde mehr Erklärung als alle Oden des Pindarus nöthig haben. Ich stelle mir daher mit dem Herrn Graf Caylus als unmöglich vor,[ ] daß das Gemählde des Parrhasius, welches das atheniensische Volk bilden sollte, alle die zwölf verschiedenen und einander entgegengesetzten Eigenschaften desselben, die Plinius angibt, ausgedrücket habe, und daß dieses nicht anders als durch eben so viele Symbola habe geschehen können, wodurch eine unbeschreibliche Verwirrung entstanden wäre. Ich behaupte dieses jedoch mit der Einschränkung, wenn man es von einer einzigen Figur verstehen will: in einem großen Gemählde von vielen Figuren ist diese Möglichkeit anzunehmen.“71
Bevor ich dieses Zitat im späteren Kapitel zum Parrhasischen Demos wiederaufnehme, widmen sich die folgenden Kapitel zunächst den Strukturvorgaben der Frühschrift (sowie der „Ideen“), für welche die Einzigartigkeit der Griechen eine markante Zäsurfunktion erfüllt.
ckung von Kunst- mit Menschheitsgeschichte, welches die „Ideen“ meiner Deutung zufolge durchführen. Ferner: Johann Gottfried Herder, Kritische Wälder oder Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend, nach Maßgabe neuerer Schriften. Erstes Wäldchen Herrn Leßings Laokoon gewidmet, in: FHA 2, S. 57-245. Leider kann ich mich in diesem Rahmen nicht dem vollen Umfang des „Erste[n] Wäldchen[s]“ widmen und verweise daher auf das analytische Inhaltsverzeichnis auf den Seiten 59-61, bes. Punkt 1. „Es ist unbillig, Leßing auf Winkelmanns Kosten zu loben. Unterschied beider Schriftsteller in Materie, Denkart und Styl.“ Zur Kritik und Rehabilitierung des „Versuch[s] einer Allegorie, besonders für die Kunst“ vgl. Johann Gottfried Herder, Johann Winkelmann, in: FHA 2, S. 677-689, S. 685f. 69 Herder, Erstes Wäldchen, in: FHA 2, S. 66f. 70 A. O., S. 69-72. 71 Winckelmann, Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst, a. O., S. 472. Zur Frage der Gruppierung vgl. Johann Gottfried Herder, Plastik, in: FHA 4, S. 243-326, S. 324.
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5.4 Anknüpfung: Doppelter Diskurs (Frühschrift) Der qualitative Sprung, den Griechenland in der Geschichte der Menschheit markiert, lässt sich paradigmatisch an den Aussagen über griechische Kunst ablesen, insofern Griechenland die schöne Kunst (kulturgeschichtlich betrachtet) überhaupt erst erfindet. Handwerkliche Kunstfertigkeit geht in ein Wissen vom Schönen über und dies justiert Griechenland mehrfach als stabiles (ewiges) Zentrum menschheitsgeschichtlicher Etappen: „in der Geschichte der Menschheit wird Griechenland ewig der Platz bleiben, wo sie ihre schönste Jugend und Brautblüte verlebt hat.“72 Mit der Herauslösung aus rein pragmatischen Zusammenhängen geht die politische Freiheit des griechischen Bürgers einher. „Die groben Arbeitkünste verachtete er, [...]; aber von allem brach er die Blüte, einer neuen schönen Natur. – Handwerkerei ward durch ihn schöne Kunst: der dienstbare Landbau, freie Bürgerzunft, [...], leichte schöne griechische Liebhaberei in aller Art. Nun welche neue schöne Klasse von Neigungen und Fähigkeiten, [...].“ (27) Durch das Einsetzen des kategorialen Umschwungs befestigt sich seine Rolle als „Zwischenland der Kultur“ (28) – nicht nur als Bindeglied „phönicischer und ägyptischer Denkart“ (28), sondern mit Blick auf die Zukunft, für die es als exemplarisches Ideal eintritt. Selbstredend spart der Text die vieldiskutierte Rolle Griechenlands in der europäischen Kulturgeschichte und den Anschluss an Winckelmann nicht aus. Anstatt sich erwartungsgemäß in die polemische Diskussion einzuschalten, führt sich der Text als unbeteiligter Richter auf, „‚den ewigen Streit über die Originalität der Griechen oder ihre Nachahmung fremder Nationen‘ etwas zu entwirren.“ (29) Das Urteil bietet sich als salomonische Lösung an. Ohne Griechenlands kulturgeschichtliche Auszeichnung einzubüßen, vermag der Text es, von Kulturtransfer zu handeln. „Daß Griechenland Samenkörner der Kultur, Sprache, Künste und Wissenschaften anders woher erhalten, ist, dünkt mich, unleugbar, und es kann bei einigen, Bildhauerei, Baukunst, Mythologie, Literatur offenbar gezeigt werden. Aber daß die Griechen dies alles so gut als nicht erhalten, daß sie ihm ganz neue Natur angeschaffen, daß in jeder Art das ‚Schöne‘ im eigentlichen Verstande des Wortes ganz gewiß ihr Werk sei – das, glaube ich, wird aus einiger Fortleitung der Ideen eben so gewiß.“ (29f.)
Alles Adaptierte erfährt eine Anreicherung um eine bis dahin nie dagewesene Kategorie, die ihm eine zweite Natur in Form ästhetischer Kultur verleiht. Mag zuvor (in Natur sowie Kultur gleichermaßen) vereinzelt zufällig Schönes aufgetaucht sein, so erfindet erst Griechenland das Ästhetische sowohl als Reflexions- als auch als produktives Moment. Somit existiert erst seit dieser Phase ein spezifischer Selbstbe72 Herder, Auch eine Philosophie, in: FHA 4, S. 26, vgl. auch als „Wiege“, S. 27. Seitenzahlen im Folgenden in Klammern im Fließtext.
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zug, der Kultur als Produkt, als kreativen Akt ausweist. Die Vereinnahmung durch die Griechen ist jedoch nicht umkehrbar, aller kulturellen Adaption bleibt der Rückweg versperrt, da etwas grundlegend Neues auf die Bühne tritt. Die Unverkennbarkeit des Neuen führt die Unkenntlichkeit des Alten mit sich. Nicht einmal die Zukunft vermag hinter diese Stufe griechischer Kultur zurückzutreten, Griechenland von sich selbst zu entkleiden, um sich dem Ausgangspunkt anzunähern. Auf griechischem Boden gerät etwa die morgenländische Kultur zum Zitat: zum Zitat, das bereits wiederholte ästhetische Modifikationen darbietet: „da alles auf Theater und Markt, und Tanzplatz Schau getragen wurde, wards in kurzem ‚Fabel, schön ausgedehnt, beschwatzet, gedichtet und neugedichtet – Jünglingstraum und Mädchensage!‘“ (28-29) Auf diese Weise geht Herders Text selbst vor: Er zitiert etwas, das schon Gegenstand mehrfacher Modifikation und (nicht selten polemischer) Deutung ist. In seiner Beschreibung des Morgenlandes entwirft er eine verklärende Fabel. Zwar dehnt er sie nicht aus, geschwätzig geben sich die Passagen dennoch. Beruft sich jene modifizierende Darstellung auf die bereits entstellte Vorlage, so wirft sie kaum die Frage nach möglichen abweichenden Varianten auf: es sei denn, Fabel, Traum und Sage gerieren sich wiederum als Modifikation von Analogie und Allegorie. Die alles in sich aufnehmende, umfassende Modifikation sichert Originalität nicht allein ab, sondern fördert zugleich ihren Überschuss zutage. So mündet das Zugeständnis an die herausragende kulturelle Identität der Griechen in die überraschende Wendung: „und in manchem Betracht waren sie fast zu sehr Originale, die alles nach ihrer Art um- und einkleideten.“ (30) Demnach geriert sich Exemplarität als Überdeterminierung. Das Gegeneinanderführen verschiedener Völker, ihr gegenseitiger Abgleich, das Springen zwischen ihnen im Vollzug wechselseitiger Kritik und Wertung korrespondiert Herders metaphorischem Verfahren: dem Wechsel der Metaphern, die jeweils das entgegengesetzte Moment betonen, anstatt die Metapher auszubuchstabieren, sowie dem Ausspielen von Positionen durch Abwechslung impliziter oder expliziter Zitate (tatsächlich zitierter bzw. paraphrasierter Autoren). Aus dem Verfahren resultiert ein chiastischer Textaufbau, der Kants Vorgehen in der Bestimmung der Nationalcharaktere in den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ in groben Zügen entspricht. Die Frühschrift paraphrasiert diesen Vorgang des Positionswechsels von der Warte des (nachträglichen) Urteils aus: „Wood, Webb, Winkelmann, Newton, Voltaire, bald eins, bald das andere, pro loco et tempore“ (23, FN 8). Mit den Römern manifestiert sich der Einbruch des Realen innerhalb des Völkerwechsels: „Was bei den Griechen Spiel, Jugendprobe gewesen war, ward bei ihnen ernsthafte feste Einrichtung: [...].“ (31) Trotz aller Anerkennung männlicher Reife
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und besonnenem Eroberungseifers (30) bleibt dem koloßhaften Auftreten („Kolossus für alle Welt“, 31) der Römer wenig hinzuzufügen. Allegorisches Erzählen erschöpft sich, sobald „Schautaten der Welt“ die historische Bühne einnehmen (31). Die Römer vereinnahmen nicht allein Territorien für sich („der Name knüpfte Völker und Weltstriche zusammen, [...]“ 31; „mit der Zeit wurden die Bande immer fester, endlich sollte das ganze römische Reich gleichsam nur Stadt Rom werden“73), sondern gleichzeitig das Publikum, das wie erstarrt „vom Ufer“ (32) aus dazu gezwungen bleibt, den „größern Anblick“ zu schauen: „Anblick, wie aufs weite offenbare Meer neuer Nationen.“ (32) Spätestens zum Ende des römischen Reiches hin beherrscht eine gewisse Statik die historische Szenerie – eine Tendenz, welche in der zuvor lancierten Maschinenmetaphorik (31f.) bereits aufgehoben scheint. Für Herder versinnbildlicht die eingespielte Maschine erstarrte Verhältnisse, insofern sie sich nicht auf veränderte Außenbedingungen einstellen kann. In der Schilderung Roms tritt der doppelte Diskurs in den Hintergrund, der stillgestellte Anblick, das Erinnerungsbild (als das man das Vergil-Zitat auf Seite 30 lesen könnte), lassen den Zuschauer innehalten und überbrücken die Dauer der anschließenden Zwischenreflexion. Die erzählte Zeit pausiert, während die Erzählzeit fortläuft. Die Zwischenreflexion unterbricht die Fortsetzung des historischen Wandels gerade dort, wo mit dem Neubeginn im Norden, der die Menschenalteranalogie nicht geradewegs weiterverfolgt, tatsächlich ein Bruch erfolgt. Die Zwischenreflexion fügt sich zudem zwischen ersten und zweiten Abschnitt, selbst wenn sie rein formal dem ersten Abschnitt angehört. Ihr Umfang umfasst ein Drittel des ersten Abschnitts. Im Gegensatz zu den kurz gehaltenen Schilderungen der Völker billigt der Text ihr ausreichend Raum zu: Er hält sich mit ihr auf. Für „[…] die Schwäche des allgemeinen Charakterisierens […]“ setzt die Zwischenreflexion die Darstellungsform des Malens („malet“, „gemalt“) ein. Die Verquickung von Malen und Sprache nimmt unweigerlich den Faden der ut pictura poiesis-Debatte auf – und ich erinnere daran, dass Malen in der Kunsthierarchie in Kants „Kritik der Urtheilskraft“ einen umspannenden Modus angibt, daher auch als Moment von Erzählungen eintreten kann. Die sprachliche Funktion des Malens operiert zusammenfassend (32) und endet im „allgemeine[n] Wort“.
73 Nivellierende, angleichende Tendenzen römischer Herrschaft, s. a. Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 31: „Die Mauer ward zerbrochen, die Nation von Nation schied, der erste Schritt gemacht, die Nationalcharaktere aller zu zerstören, alle in eine Form zu werfen, die ‚Römervolk‘ hieß.“ Selbst wenn sich die kulturelle Eigenständigkeit zunächst noch beharrlich hält, geht sie sukzessive verloren („[…] die innersten Kammern der Nationaldenkart [...] durchdrang“; „Wenn alle Völker [...] die Völker zu sein aufhörten, die sie waren“, s. S. 32).
410 │S UBTEXTE DER M ENSCHHEITSGESCHICHTE „Man malet ein ganzes Volk, Zeitalter, Erdstrich – wen hat man gemalt? Man fasset auf einander folgende Völker und Zeitläufte, in einer ewigen Abwechslung, wie Wogen des Meeres zusammen – wen hat man gemalt? wen hat das schillernde Wort getroffen? – Endlich man fasst sie doch in Nichts, als ein allgemeines Wort zusammen, [...].“ (32)
Mit diesem Zitat liegt ein präziser Kommentar zum Textverfahren der Zusammenfassung und Abwechslung charakteristischer Einheiten vor, ohne bereits von seinem repräsentationalen Scheitern Zeugnis abzulegen. Erfolglos wird der zuvor forcierte „Anblick“ (32) auf sein Potential, einen Überblick zu liefern, überprüft: „wenn man das Weltmeer ganzer Völker, Zeiten und Länder übersehen, in einen Blick, ein Gefühl, ein Wort fassen soll!“ (33) Damit erwägt der Text mannigfache rezeptive bzw. produktive Modi der Welterfassung oder ihrer Darstellung. Schließlich führt er Sprache und Bild (malen) in einer Wendung zusammen, die deren Defizit anzeigt, jedoch nicht ohne eine Darstellungsalternative aufzurufen. „Mattes halbes Schattenbild vom Worte! Das ganze lebendige Gemälde von Lebensart, Gewohnheiten, Bedürfnissen, Landes- und Himmelseigenheiten müsste dazu kommen, oder vorhergegangen sein; [...].“ (33) Bild und Bildlichkeit erfüllen keineswegs die Funktion einer universal einsetzbaren Mastertrope. So oft Herders poetologische oder epistemologische Reflexionen die Bildmetaphorik strapazieren, markiert das Bild ein historiographisches Unvermögen, das alternative Formen sucht. Nur wäre gerade das bevorzugte „Gemälde“ als bildlich generiert zu beschreiben. Kein Gemälde entsteht ohne malende oder zeichnende Vorarbeiten. Differenz stiftet das Adjektiv des Lebendigen, das dem Gemälde innewohnt, und damit einmal mehr auf den poetischen Metadiskurs ausgreift. Das Gemälde vereinigt ein breit angelegtes Register segmentaler Beschreibungen, die umklammernde, zusammenstellende Medien („Worte“) begleiten sollen. Geeigneten Medien wird abverlangt, eine prägnante „Fülle“ zu umfassen. Das „Wort“ erhält begriffliche Attribute („Ein Wort finden, in seiner Fülle sich alles denken“, 33), ohne dass Herders Text den Terminus Begriff in Umlauf bringt. Durch diese Aussparung liegt der Fokus auf dem sprachlichen Ausdruck, der einen Merkposten bietet, einzelne Anhaltspunkte (Merkmale) zu durchlaufen. „Ein Wort“ tritt für das Mannigfaltige ein, eine Aufgabe, die das „lebendige Gemälde“ ebenfalls umzusetzen hat. „Ein Wort“ betrifft hier das richtige Wort, das im Gegensatz zum „Schattenbild vom Worte“ ein Gemälde generieren kann, das sich in dessen Wahrnehmung entfaltet. Demnach bringen einige „Worte“ Schattenbilder, andere „Gemälde“ hervor. Handelt es sich bei der favorisierten Darstellung also um Gemäldesprache, um Sprachmalerei? Ohne diese Frage bereits befriedigend zu beantworten, hebe ich ein zusätzliches, dem richtigen Wort essentielles Merkmal hervor. Nicht zuletzt speist sich jene angestrebte Lebendigkeit der Darstellung aus dem Imperativ der Einfühlung – was bemerkenswert ist, insofern Herders Texte Skepsis gegenüber allzu vehement eingeforderter Empathie bekunden. Dennoch schlägt die
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Zwischenreflexion Einfühlen nicht als allgültigen Ausweg aus der Misere historischer Repräsentation vor. Meines Erachtens erwägt sie Einfühlung nicht als Praxis der Versetzung in andere Zeiten, sondern als grundlegende Bereitschaft des Lesers („mein Leser“, 33), sein Empathievermögen auszutesten, anders zu denken, als er es alltäglich gewohnt ist: „man müßte erst der Nation sympathisieren, um eine einzige ihrer Neigungen und Handlungen, alle zusammen zu fühlen, [...].“74 Folgerichtig weist der Text wiederholt die „Kluft“ aus, welche vor dem Einfühlenden aufreißt. Im Zuge dieser Kritik geht es um die Aneignung von Fähigkeiten, um mögliche Anverwandlung, die Herder in Frage stellt: „fehlte es dir also auch an nichts, als an Zeit, an Gelegenheit, deine Anlagen zum Morgenländer, zum Griechen, zum Römer in Fertigkeiten und gediegne Triebe zu verwandeln – Kluft!“75 (33) Veranlagung schafft lediglich rudimentäre Bedingungen potentieller Aktualisierung, au74 Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 33: „sympathisieren“ hat mit „der Nation“ zwar ein Objekt, die Präposition mit fehlt. Insofern nutzt der Text das Verb im Sinne von „mitfühlen“ oder gar Mitleid empfinden. Vgl. Jacob u. Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Leipzig, 1854-1961, Bd. 20, Sp. 1409: „Sympathisieren“, „3) entsprechend sympathie 2 c von personen ‚im inneren gefühlszusammenhang stehen, anteil haben an empfindungen einer anderen person, mitfühlen, mitempfinden‘“. Die vorliegende Herder-Stelle selbst wird dort zitiert, im selben Abschnitt wie Lessing, dessen Beispiel auf Fragen theatralischer Darstellung gemünzt ist. „Lessing 13, [...] M.; die leidenschaften nicht beschreiben, sondern vor den augen des zuschauers entstehen und ohne sprung in einer so illusorischen stetigkeit wachsen zu lassen, dasz dieser sympathisiren musz ebda 9, 185“ (ebd., Sp. 1411). Der Artikel zu „Sympathie“ im Adelung gibt darüber Auskunft, dass der Ausdruck zudem für das Zusammenspiel der Farben in der Malerei üblich ist – besonders betrifft dies Mischungsverhältnisse: „In weiterm Verstande gebrauchen die Mahler dieses von den Farben, wenn sie in der Vermischung eine angenehme dritte Farbe hervor bringen, wie z. B. Blau und Gelb; dagegen zwischen Blau und Zinnober eine Antipathie herrscht, weil beyde eine unangenehme harte Farbe geben.“ Adelung, Grammatischkritisches Wörterbuch, Vierter Theil, Seb-Z, Sp. 509-510. 75 Gerade in Bezug auf die Frage der Glückseligkeit entwickelt Herder aus diesem Gedanken ein weiterführendes Argument, vgl. Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 38-40, welches das „Vorurteil“ (also beschränkte Aneignung) unter stabilisierenden politischen Faktoren verbucht, da es „[...] Völker zu ihrem Mittelpunkte zusammen [drängt]“. Liest man die beiden Stellen (auf S. 33 und S. 39) parallel, suggeriert dies, dass die im Text historisierten Völker im Gegensatz zur aufgeklärten Gegenwart gelungene Assimilation („assimiliert“) beherrschen. Die gesteuerte Aneignung oder Versetzung der (in die) Anderen wirkt sich als Selbstschwächung aus, als welche Phantasmen der Rückkehr, Flucht und Reise gedeutet werden, s. S. 40 („[…] Zeitalter fremder Wunschwanderungen, und ausländischer Hoffnungsfahrten […]“). Seitenzahlen zur Frühschrift weiter in Klammern im Fließtext.
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thentische „‚[...] Existenz in solchem Charakter‘“ (33) bleibt ihr verschlossen. Wie der folgende Abschnitt zeigt, bietet Einfühlung immer nur einen Näherungswert, der ihr Verfahren als progressus ad infinitum ausweist, welcher fortwährend (an Daten) zu überprüfen ist, wobei das Bewusstsein des Ungenügens den Prozess zwingend zu begleiten hat. „Ganze Natur der Seele [...] – um diese mitzufühlen, antworte nicht aus dem Worte, sondern gehe in das Zeitalter, in die Himmelsgegend, die ganze Geschichte, fühle dich in alles hinein – nun allein bist du auf dem Wege, das Wort zu verstehen; nun allein aber wird dir auch der Gedanke schwinden, ‚als ob alles das einzeln oder zusammen genommen auch du seist!‘ du alles zusammengenommen? Quintessenz aller Zeiten und Völker? das zeigt schon die Torheit! Charakter der Nationen! Allein Data ihrer Verfassung und Geschichte müssen entscheiden.“76 (33f.)
Der Aufruf, historische Orte aufzusuchen, die Emphase, dort ein- und aufzugehen, bricht sich (rhetorisch) an historischer Wirklichkeit, welche als Korrektiv herangezogen wird. Unter Umständen kann die „Himmelsgegend“ einen Ort (Punkt) am Himmel bezeichnen, ferner im Sinne von „Weltgegend“ gebraucht werden. Die Haupt- und Nebengegenden (Nebenstriche) der Welt richten sich bzw. heißen nach den Tageszeiten und orientieren sich am Blick auf den Kompass.77 Weniger hält 76 A. O., S. 33f. Hiermit liegt wiederholt ein Scheinzitat vor. Einmal mehr kanzelt der Text das Modell der Aufklärung als selbsterwählten Maßstab menschheitsgeschichtlicher Entwicklung ab. Vgl. konkret a. O., S. 38, „[...] wenn der Dichter ein Geschichtschreiber, ein Philosoph ist, [...], und die denn nach der einen Form ihrer Zeit [...] alle Jahrhunderte modeln – Hume! Voltäre! Robertsons!“ 77 Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Wien, 1811, Zweyter Theil, F-L, Sp. 482-483, „Gegend“, „2) In der Astronomie und Geographie, derjenige Punct in der Fläche der Himmelskugel, worin sich die gerade Linie endiget, welche in Gedanken aus dem Auge mit dem Horizonte parallel gezogen wird; die Himmelsgegend, Weltgegend. In diesem Verstande hat man vier Hauptgegenden angenommen, Morgen, Abend, Mittag und Mitternacht, und 28 Nebengegenden.“ „Hauptgegend“, Adelung, a. O., Zweyter Theil, F-L, Sp. 1013, „Die Hauptgegend, [...] plur. die -en, die vornehmste Gegend unter mehrern. Besonders werden in der Erdbeschreibung Morgen, Abend, Mittag und Mitternacht die vier Hauptgegenden, oder Cardinal-Gegenden genannt; zum Unterschiede von den Nebengegenden“. „Nebengegenden“, s. „Nebenstrich“, Adelung, a. O., Dritter Theil, M-Scr, Sp. 454, „des -es, plur. die -e, Striche, welche von dem Hauptstriche abhängig, ihm nach- und untergeordnet sind. So werden die zwischen den Hauptstrichen auf dem Compasse befindlichen Striche, welche die Nebengegenden bezeichnen, und diese Nebengegenden selbst, Nebenstriche genannt.“
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Einfühlen einen kosmischen extratellurischen Überblick bereit, sondern es meint hingehen, sich an den Ort des Geschehens begeben (nicht: versetzen). Mit Blick auf die reale Reisetätigkeit des 18. Jahrhunderts gewinnt der Begriff einer Einfühlung als Mitgefühl seinen Sinn, da es nicht vereinnahmt, sondern sich offen (empathisch) gegenüber anderen zeigt. Historische Dimension und entfernter Ort fallen bei Herder gelegentlich zusammen: ein (historiographisches) Klischee, dessen Konjunktur sich nachvollziehen lässt, wenn man die Menschenalterallegorie als schlichte Analogie liest. Insofern sie die Anderen nicht analog auffasst, löst die Menschenalterallegorie eher kosmopolitische Toleranzanforderungen ein.78 Ohne dass jener Annäherungsprozess vorangeht, bleibt das (richtige) Wort unverständlich. Sprachlicher Ausdruck und Verstehen bedürfen demnach sympathetischer Propädeutik, welche die (historischen) Fakta aufsucht. Widersprüche resultieren aus der nie abzuschätzenden Mannigfaltigkeit des Aufgesuchten, und deshalb erweisen sich für gewiss angenommene Tatsachen als vorübergehend oder nur bedingt stabil. An Gewichtung gewinnt das Detail in übergreifenden Zusammenhängen, für die es als Garant von Authentizität eintritt: „So mache ich mich ebenfalls auf kleinfügige Widersprüche gefaßt, aus dem großen Detail von Völkern und Zeiten.“ (34) Richtete sich der vorangehende Passus an der Ausweitung der historischen Vielfalt aus, indem er auf Empathie und Faktentreue beharrte, kippt das historische Problembewusstsein mit diesem Zitat in Richtung Gesamtdarstellung und Überblick. Wurden unzureichende Allgemeinbegriffe zuvor in (hypothetische) historische Vielfalt zerspielt, versucht der Text den möglichen Gesamteindruck nun in einer Fragebewegung zu rekonstruieren. „Kanns ein allgemeines Bild ohne Untereinander- und Zusammenordnung? kanns eine weite Aussicht geben, ohne Höhe? Wenn du das Angesicht dicht an dem Bilde hältst, an diesem Spane schnitzelst, an jenem Farbenklümpchen klaubest: nie siehest du das ganze Bild – siehest nichts weniger als Bild! Und wenn dein Kopf von einer Gruppe, in die du dich vernarrt hast, voll ist, kann dein Blick wohl ein Ganzes so abwechselnder Zeitläufte umfassen? ordnen? sanft verfolgen? bei jeder Szene nur Hauptwürkung absondern? die Verflößungen still begleiten? und nun – – nennen! Kannst du aber nichts von alle dem! die Geschichte flimmert und fackelt dir vor den Augen! ein Gewirre von Szenen, Völkern, Zeitläuften – lies erst und lerne sehen! Übrigens weiß ichs, wie du, dass jedes allgemeine Bild, jeder allgemeine Begriff nur Abstraktion sei – Schöpfer allein ists, der die ganze Einheit, einer, aller Nationen, in alle ihrer Mannigfaltigkeit denkt, ohne dass ihm dadurch die Einheit schwinde.“ (35) 78 Vgl. Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 26 sowie S. 38, die Stellungnahme zur Preisfrage, „‚welches in der Geschichte wohl das glücklichste Volk gewesen?‘“, die mit der Conclusio „im Grunde also wird alle Vergleichung mißlich.“ schließt. Seitenzahlen zur Frühschrift weiter in Klammern.
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Das „Bild“ wird als tendenziell defizitäres Medium wiederaufgenommen, als „Abstraktion“ ausgewiesen, der das göttliche Sehen detailliert und dennoch allumfassend gegenübersteht. Für die menschliche Wahrnehmung treten Fragen der Strukturierung und Ordnung in den Vordergrund, wobei beide die Unvollständigkeit menschlichen Sehens nicht völlig ausgleichen können. Dennoch bleiben Ordnungsversuche unverzichtbar, um zumindest den Entwurf eines ganzheitlichen Bildes zu vermitteln. „Untereinander- und Zusammenordnung“ als Arrangement von sichtbarem (hierarchisiertem) Ausschnitt und Gesamtzusammenhang als flächigem (kontigem) Nebeneinander einzelner Elemente liefern Überblick und (potentielle) Vereinzelung zugleich, sofern eine angemessene Perspektive eingenommen wird. Zu aufdringliche detailversessene Nähe oder detailverliebte Parteilichkeit verhindern den Überblick (beim Bild) bzw. unterbinden sie die nötige Beharrlichkeit, Abläufen oder wechselnden Szenerien zu folgen. Der phänomenologische Nachvollzug der Bildwahrnehmung wird der Verfolgung des „Ganze[n] so abwechselnder Zeitläufte“ parallelisiert. Insofern das Zitat sogleich zur Metaphorik der Szenerie überwechselt, greift der Text den Kontrast zwischen statischem Bild und der Dynamik historischen Geschehens auf. Einzelne Szenen, welche die Details des zusammenhängenden Verlaufs ausmachen, treten in den übergreifenden Zusammenhang ein, mit dem sie (so mein Vorschlag) Schnittmengen ausbilden. „Völker[ ]“ und „Zeitläufte[ ]“ können sowohl einzelnen Szenen angehören als auch diese übergreifen. Die schwebende Ebenendifferenzierung hindert daran, Hierarchien auszubilden, eine „Hauptwürkung ab[zu]sondern“, um den Faden nicht zu verlieren, was den Eindruck eines „Gewirre[s]“ erzeugt. Vor der Artikulation des Erfassten („nennen!“) wäre ein zweistufiger Prozess zu durchlaufen. Sehen zu lernen bedeutet, das einzuklammern, was „flimmert und fackelt [...] vor den Augen“, um es in eine nachvollziehbare Ordnung zu versetzen. An dieser Stelle überwindet der Text die Metapher des Lesens als Erfassung eines linearen Nacheinanders. Der Appell, „lies erst und lerne sehen!“, verkehrt die Reihenfolge alltäglicher Wahrnehmung, die kulturelle Praxis geht dem (vermeintlich) natürlichen Weltbezug voran, wird zu dessen Vorübung. Nicht zuletzt stellt der Text historisches Verstehen als Akt der Lektüre aus, da historisches Wissen sich immer schon aufbereitet präsentiert, dessen ursprüngliche Quelle als authentische Wahrnehmung temporal von Anbeginn verschoben und somit unzugänglich bleibt. Dieser Verstellungsprozess bildet ein durchgängiges Motiv in Wielands Texten und gehört zu deren hervortretenden Kompositionsmerkmalen. Zitatstrukturen tauchen dort vermehrt als verschobene (fiktive) Quellen auf, die in ihren vielfachen Übersetzungen, Rückübertragungen und Kommentaren die Komplikationen historischer translatio inszenieren und die Quelle somit immer nur ex negativo ausweisen. Durch sein ‚Zitat‘ Robertsons erreicht Herder eine ganz analoge Verstellung des Quelltextes, obgleich er zur Überprüfung vorliegt. Für die Argumentation der Texte
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Wielands spielt das Beharren auf unvermitteltem, evidenzbasiertem Sehen eine zentrale Rolle. Lässt man sich hingegen auf die Tiefenstrukturen des Textes ein, bricht die Unverzichtbarkeit der Lektüre, die Mittelbarkeit des Unmittelbaren ungehemmt hervor. Im Gegensatz zu „Bild“ und „Szene[ ]“ (35) entfaltet „modeln“ (38) (in eine Form gießen, bringen) durchweg pejorativen Charakter. Bild und Szenerie schlagen sich demnach als vertretbare (künstlerische) Repräsentationen des Historischen vor. Präziser gefasst diskutiert der Text an ihrer Wahrnehmung historische Erscheinungsformen, was deren interne Strukturierung, aber auch externe Fokalisierung anbelangt. Dabei verschränken sich die eingespannten künstlerischen Begriffe und aufgeworfenen historischen Phänomene („Völker“) und Strukturen („Zeitläuften“) so miteinander, dass ein Formular der Analogisierung (so wie oder als ob) entbehrlich bleibt (35).79 Kontemporär kulminiert die Frage nach dem Fortschritt entweder im Fortschrittsglauben oder Skeptizismus (Kulturpessimismus). Für beide Positionen delegiert Herders Frühschrift mit Voltaire und Robertson jeweils Stellvertreter. Generell bewährt sich der Text durch Auslassungen und Verdichtungen, welche die Metaphorik des Erfolgsprojekts nach der „Analogie in der Natur“ (41) stören, in der sich vor allem theologische Bezüge manifestieren.80 Das Auf- und Zerbrechen, das Öffnen der Metaphorik lenkt die Argumentation ab, sichert zudem die Anschlüsse der Erzählung. Durch „Öffnungen“ und „Trümmer“ bricht die „Hülsengeschichte“ auf, ihr „Schauplatz“ wird einsehbar. Jedoch trägt das Bühnengeschehen nicht nur
79 Jedoch auch mit den harmlos klingenden „Verflößungen“, a. O., S. 35, öffnet sich das Register künstlerischer (Charakter-)Darstellungen, bezeichnender Weise sind wir hier wieder bei Lessing angelangt. Vgl. Jacob u. Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Leipzig, 1854-1961, Bd. 25, Sp. 342, „Verflöszung, f. fortschaffung auf dem wasser: verflöszung des holzes; übertragen (anschlieszend an bedeutung 4 des verbums): Lessing hat die abstechung seiner personen aus den verflöszungen ihrer charaktere herauszuholen gewagt. Sonnenfels bei Campe unter abstechung“. „Verflöszungsmittel, n. mittel, etwas fortzuschaffen und, übertragen, etwas zu verbreiten: und so ist ihr denn diese dichtung das vorzüglichste verflöszungsmittel der erlangten geistigen ausbildung in das allgemeine leben. Fichte reden an die deutsche nation 157.“ (s. o.) Seitenzahlen zur Frühschrift weiter in Klammern. 80 Zahlreiche Arbeiten haben sich mit Herders Spinozismus und Monismus befasst. Vgl. stellvertretend Claas Cordemann, Herders christlicher Monismus, Tübingen, 2010 [Beiträge zur historischen Theologie 154]; s. a. Klaus Hammacher, „Herders Stellung im Spinozastreit“, in: Herder und die Philosophie des Deutschen Idealismus, hg. v. Marion Heinz, Amsterdam, 1997, S. 166-188 [Fichte-Studien Supplementa 8].
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„Ameisenspiele“ aus. Sondern die Fragmentierung arbeitet ihrerseits am Projekt mit, „Szenen zu binden“.81 Die Anwendung des Bekannten auf das Neue („Norden wars.“, 42) im zweiten Abschnitt vollzieht sich nicht so bruchlos, wie man zunächst annehmen könnte. Mit der Paraphrase „[…] ‚Patriarchen wie sie in Norden sein konnten‘“ (43) zitiert Herders Text das (eigene) Patriarchenklischee aus dem ersten Abschnitt, indem er die Wendung durch Kursivierung sowie Anführung als doppeltes Zitat offenlegt, als Entstellung enttarnt. Der Text beharrt auf der historischen Zäsur („[…] in Norden neuer Mensch geboren.“, 43), insofern die vorangehende Entwicklung zwangsläufig ihre Selbstzerstörung vorantrieb. Roms Entnervung und Zusammenbruch verlangen einen Neuanfang, während die „Ideen“ sich Zeit und Raum nehmen, parallele Entwicklungen aufzuzeigen. Die werkschaffenden Nordländer (44), welche sich als diversifizierende Versammlung von „Völkern“ „[…] in kleine Verbindungen, Abteilungen und Untereinanderordnungen […]“ oder „Glieder“ zerstreuen, einschleusen und niedersetzen lassen, verachten „Künste und Wissenschaften“ (Zitate: 42-44) als entbehrlichen Aufwand. Obwohl die Kunst im doppelten Diskurs als mögliche Selbstbeschreibung zurücktritt, lässt sich die nordische Lebensweise, ihr Lebensideal, dennoch als Kunstform umreißen. Sie nimmt fiktionalen Charakter an: „obgleich Roman, so doch ein hoher Roman“ (44). Die Beschreibung des „gothischen“ Zeitgeistes ergeht sich im Motivschatz der Ritterromane (vgl. die Kursive, 50), der fremdartige Vorstellungswelten in sich begreift („orientalische, römische, nordische, saracenische Begriffe und Neigungen!“) Der synkretistische Zusammenfluss (50) ist Ergebnis und Kennzeichen des romantisch-romanhaften Zeitgeistes. Die historische Dynamik der „mittlern Zeiten“ (50) wird als Antagonismus kleinteiliger Kräfte angeregt, die durch „Reibungen“ oder „Gärung[en]“ (44f., 50) Transformationsprozesse in Gang setzen. Auch die Reflexion über die christliche Religion (ab 45 bis 49, letzter Absatz) sowie des Epochengeschmacks führen diese als Zutaten der umwälzenden „Mischung“ (vgl. 48f., 50, 54) auf. Zwar knüpft der Text an die Vorurteile eines „dunkeln“ (51) Mittelalters an und diskreditiert partiell den gothischen, abgeschmackten 81 Vgl. Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 42 (meine Analyse im zweiten Kapitel zum Herder-Teil der Arbeit, S. 303): „Es geht ins Große! es wird, womit die Hülsengeschichte so sehr prahlet, und wovon sie wenig zeigt – Schauplatz einer leitenden Absicht auf Erden! wenn wir gleich nicht die letzte Absicht sehen sollten, Schauplatz der Gottheit, wenn gleich nur durch Öffnungen und Trümmer einzelner Szenen. Wenigstens ist der Blick weiter als jene Philosophie, die unter-über mischt, nur immer hie und da, bei einzelnen Verwirrungen auf, um alles zum Ameisenspiele, zum Gestrebe einzelner Neigungen und Kräfte ohne Zweck, zum Chaos zu machen, […]! Wenns mir gelänge, die disparatsten Szenen zu binden, ohne sie zu verwirren – “. Seitenzahlen weiter in Klammern.
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Geist (49f., 51), relativiert dieses Deutungsmuster hingegen: „Alle das ist wahr und nicht wahr.“ (51) Der Widerspruch hält die labile Genealogie in der Schwebe, in welche sich die Protagonisten des dritten Abschnitts nicht nahtlos einreihen können. Der romanhafte Geist schleicht sich nicht allein als Rückprojektion ein, sondern tritt als „Gespenst, als romantisches Abenteuer“ (50) zwischen Römer und uns; schottet die Fremdheitserfahrung einer genuin anderen Zeit ab. Als historisches Konzentrat kommt „‚der Rittersinn‘“ (54) nach der an die aufgeklärten Kritiker gerichteten Gegendarstellung (52), die sich bemüht, die Ausfälle nicht zu „verteidigen“ (53), sondern nur zu „erklären“, zu seinem Recht (54 unten). Die neue „Mischung“ dient als Surrogat, als „Ersatz“ (46, 54), nachdem „[…] die Stärke jedes einzelnen Nationalcharakters verloren gangen war“. (54) Neu entstehende „[…] Regierungsformen, [...]; mit der Idee von barbarischer Ordnung vom Element herauf bis zum Gipfel“ (55) wertet die Frühschrift beharrlicher als die „Ideen“ als chaotische Gebilde („Chaos“, 55), denen dennoch eine Kompositionsregel innewohnt, welche die spätere Schrift als ornamentales Epochenzeichen implementiert. „Der Zufall [...] erschöpfte sich in kleinen Formen der großen Form“. (55) Der Vergleich der Epoche mit den „gotischen Gebäude[n]“ (55) betont wie in den „Ideen“ die arabeske Durchsetzung der Ära mit demselben (architektonischen) Prinzip. Die Wiederholung, das wechselseitige Wiederaufrufen von Mikro- und Makrokosmos wohnt dem synkretistischen Überfluss inne, der überraschende historische Modifikationen bereithält.
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6. I DEEN ZUR P HILOSOPHIE DER M ENSCHHEIT
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Bereits für die Frühschrift gilt, dass sich doppelter Kursus und doppelter Diskurs kaum voneinander trennen lassen. Kulturgeschichte wird als Kunstgeschichte verhandelt und zeigt damit den spezifischen Entwicklungsstand des gerade in Augenschein genommenen Landes an. In den „Ideen“ zeichnet sich grob dieselbe Erzählrichtung ab wie in der Frühschrift – wichtige Stationen der europäischen Kulturgeschichte markieren auch hier Griechenland, Rom sowie das (entstaatlichte) Mittelalter, dessen übergreifender Synkretismus entscheidend auf die künftige Geschmacksbildung einwirkt. Mit diesem Übergang hat ein Wechsel von der Raumzur Zeitkategorie statt: Der Raum des dreifachen Griechenlandes1 schmilzt auf den Kern einer römischen Stadt zusammen und wird zuletzt nur als eine räumlich ausgreifende dissoziierende Epoche fassbar. Dem doppelten Diskurs der „Ideen“ folge ich entlang der Verhandlung von Darstellungsmedien bzw. Repräsentationsformen, die sich zudem sowohl mit reflexiven Passagen zur Historiographie kreuzt – heuristisch verhandelt, wie Geschichten zu schreiben seien – als auch modellhaft historische Verlaufsfiguren unterlegt oder Merkformeln entwirft, die metahistorisch (vor allem) das Gewicht bestimmter Staaten aushandeln.2 Welche Gesetzmäßigkeiten hier wirksam werden, fällt angesichts des zuvor entwickelten legis naturae ins Gewicht. Dennoch sucht der Text nicht selten nach Auswegen aus der Zwangsläufigkeit des Narrativs – vor allem 1
Herder, Ideen, in: FHA 6, S. 515.
2
Zum Thema Metahistorie s. vertiefend Ralf Simon, „Historismus und Metaerzählung. Methodische Überlegungen zur Erzählbarkeit von Geschichte in Herders Geschichtsphilosophie“, in: Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders, hg. v. Regine Otto, Würzburg, 1996, S. 77-95, ders., „Apokalyptische Hermeneutik. Johann Gottfried Herder: Maran Atha, Geschichtsphilosophie, Adrastea“, in: Herder Jahrbuch, hg. v. Hans Adler, Wulf Koepke u. Samson B. Knoll, Stuttgart/Weimar, 1998, S. 27-52, ders., Das Gedächtnis der Interpretation. Gedächtnistheorie als Fundament für Hermeneutik, Ästhetik und Interpretation bei Johann Gottfried Herder, Hamburg, 1998, Kap. 1.8: Entwurf eines Gedächtnisraums: Herders Geschichtsphilosophie, S. 110-145, S. 119, Jochen Johannsen, „Vom Zeitigen in der Geschichte. Revolution, Zeiterfahrung und die historische Sinnbildung beim späten Herder“, in: Herder Jahrbuch (1998), S. 7195. Hans Adler, „Monumentalfragment und Totalität: Johann Gottfried Herders Stellung zum diskursiven Konstrukt der Geschichtsphilosophie“, in: Monatshefte, Vol. 90, No. 1, University of Wisconsin Press, 1998, S. 5-16, philologisch tiefgehend: Ralf Häfner, Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre. Studien zu den Quellen und zur Methode seines Geschichtsdenkens, Hamburg, 1995, bes. der dritte Teil: Methodische Aspekte der Geschichtstheorie Herders, S. 175-264.
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dann, wenn es zur dringlichen Aufgabe wird, grausame Abweichungen zu sanktionieren, zu erklären und sie zu reintegrieren. Gemäß des Aufgabenspektrums entwickelt Herders Text mannigfache Strategien, die auf den doppelten Diskurs zurückgreifen. Korrekturen sowohl anhand neu eingeführter Ordnungssysteme als auch unter Einsatz künstlerischer Konjekturen führt meine Analyse am Beispiel Roms vor, das ein narratives Dilemma für die Geschichte der Menschheit aufwirft. 6.1 zurückblicken, durchwandern, sehen Ganz basal orientiert sich die eurozentrisch ausgerichtete Erzählbewegung der Frühschrift am „‚Gang Gottes über die Nationen! […]‘“3, der Überblick und Zusammenhang gewährt. Erhält die spätere Schrift zur Menschheitsgeschichte im Gegensatz dazu gerade über den doppelten Kursus eine außer- bzw. präeuropäische Vorgeschichte sowie über Europa hinausgehende Anschlüsse, verfolgt sie doch einen ähnlichen Weg, dessen Rahmungen ihn als Lesereise ausweisen: „Nachdem wir abermals einen großen Strich menschlicher Begebenheiten und Einrichtungen vom Euphrat bis zum Nil, von Persepolis bis Karthago durchwandert haben: so lasset uns niedersitzen und zurückblicken auf unsre Reise.“4 Der zweite Part des doppelten Kursus der „Ideen“ setzt meines Erachtens nicht mit der auf die Naturgeschichte folgenden Kulturgeschichte, sondern mit der gleichzeitigen Festsetzung sowie Negierung des asiatischen Ursprungs ein, nach der die Geschichte wieder auf Europa zulaufen lernt. Liegt die Zäsur formal in beiden Fällen beim Übergang zum dritten Teil der „Ideen“, so könnte bereits zuvor von Kulturgeschichte die Rede sein. Denn eine Trennung von Natur- und Kulturmensch lässt sich in Herders Anthropologie kaum aufrecht erhalten. Widmet sich der erste Kursus schon recht eingehend umliegenden Beschaffenheiten, um Völkern kulturelle Vorbedingungen zu verleihen, so unterbrechen Zwischenreflexionen im zweiten Kursus die professionelle (disziplinäre) Abhandlung verschiedener Staaten (Staatsformationen), welche die Deutungen der Abfolge maßgeblich steuern (Rechtfertigungsstrategien). Übergeht die Frühschrift die wechselnden Völker vom überhöhten Standpunkt aus, der einen Überblick suggeriert, so schwächen die „Ideen“ den erhabenen Einblick durch eine Wanderungsbewegung ab, die der Leser selbst vollzieht. Sein Streifzug im Raum korrespondiert der sinnlichen Adjustierung der Wahrnehmung: Innehalten und zurück- bzw. nach vorn blicken rücken neue Eindrücke und Sachverhalte in sein Sichtfeld. Entsprechend oft handelt der Text vom Anblick, der sich vor dem Leser ausbreitet, vom Sehen, das sich gewissermaßen autoevidentiell und
3
Herder, Auch eine Philosophie, in: FHA 4, S. 88.
4
Herder, Ideen, a. O., S. 507.
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(reflexiv) völlig ungebrochen das historische Gelände erschließt.5 Häufiger noch als die Voraussicht gibt die Rückschau Auskunft über metahistorische Deutungen und Zusammenhänge: Nachträglichkeit wird als unmittelbar inszeniert, so als ob man sich lediglich einmal umdrehen müsse, um die Vergangenheit nochmals in Augenschein zu nehmen: „Endlich sehen wir aus dem ganzen Erdstrich, den wir durchwandert haben, wie hinfällig alles Menschenwerk, ja wie drückend auch die beste Einrichtung in wenigen Geschlechtern werde.“6 Optische Metaphorik und räumliche Fiktion manifestieren den Eindruck, das Historische könne sich nicht entziehen – auch wenn der Text damit rechnet, dass sich das Zurückliegende mit jedem Augenblick verändert, sobald man ihm den Rücken zukehrt. Dabei gelten für den schreibenden Wanderer (und damit zwangsläufig seine Leser) die gleichen Unwägbarkeiten, die auch den Weltenbummler betreffen. Nicht er allein steuert seine Reise, sondern Kontingenzen unterwerfen seine Neugierde Beschränkungen, welche ihn dazu zwingen, gleichsam zu früh abzureisen. „Mit dem Bedauern eines Wanderers, der ein Land verlassen muß, ohne daß ers nach seinen Wünschen kennen lernte, verlasse ich Asien.“ Verweilen bietet sich nicht mehr als Option an, da historisch gesicherte Tiefe fehlt: „[…] meistens aus wie späten Zeiten, aus wie unsichern Händen!“. Die Wege der Überlieferung sind unsicher oder verstellt, weshalb sich die Nachrichten am Rande des Fiktiven ansiedeln („Fabelland“). Obgleich mangelnde Kunde im Falle der Lesereise fehlender (dokumentierter) Kenntnis geschuldet ist, während der beschränkte Erfahrungshorizont des realen Wanderers ihn eher vom profunden Verständnis vor Ort ausschließt, perpetuiert der Text das Historische beharrlich als räumlich organisiert. „Das östliche Asien ist uns nur neulich durch religiöse oder politische Parteien in Europa zum Teil so verwirret worden, daß wir in große Strecken desselben noch wie in ein Fabelland blicken.“ Fast schon als parallele Erfahrung („nur neulich“) verstellt gegenwärtige parteiliche Ignoranz den Zugang zum bloß lokal durchdrungenen Gebiet („östliche Asien“), dessen instante Vergangenheit das Temporaladverb „noch“ und räumliche Tiefe („große Strecken“) streifen. 5
Wenngleich Jaegers Rücksicht auf die Performativität von Herders historiographischen Texten sowohl generell als auch im Vergleich von Frühschrift und Spätwerk (dem ich im Einzelnen nicht zustimme) anregende Beobachtungen bereithält, richten sich dessen Lektüren zu stark am Paradigma der Widerspiegelung aus, weshalb seine rhetorischen Analysen das Potential der Performativität jener Texte nicht vollends ausschöpfen (können), vgl. Jaeger, Performative Geschichtsschreibung, a. O., S. 146-148: „Wieder spiegelt Herders Stil den Inhalt der Darstellung.“ (S. 148) Das halte ich in dieser Verkürzung schlichtweg für falsch, und schlage daher den doppelten Diskurs als (ein!) alternatives Instrumentarium der Stilanalyse vor.
6
Herder, Ideen, a. O., S. 512. Von Pathetik und Formelhaftigkeit dieser Wendung sehe ich an dieser Stelle einmal ab.
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Bemüht die reziproke Übertragung von temporalen in räumliche Metaphern ein historiographisches Klischee, trägt sie für die „Ideen“ darüber hinausgehend eine Strukturvorgabe an, die nicht nur die Erzählrichtung steuert, sondern auch auf die naturgeschichtliche Anlage durchschlägt. Die Wege, die der Leser nimmt, haben mit der erforderlichen Bewegung im Raum übereinzustimmen. Ein Übergehen oder grobes Überschlagen von Epochen bleibt im Gegensatz zur Frühschrift eher ausgeschlossen, da der Reisende in den „Ideen“ sich den Gegebenheiten der zu durchquerenden Länder anzupassen hat. Wenn die Reise durch die Zeiten wenig überraschend als Reise mit Halt an abwechslungsreichen Orten figuriert wird, birgt diese Figur zumindest für die Spätschrift einige überraschende Wendungen, die es im Folgenden abzuschreiten gilt. Nahe vom „östliche[n] Asien“ ausgehend bewegt sich der Wanderer südwestlich über den Landweg nach Ägypten („[…] Vorder-Asien und dem ihm nachbarlichen Ägypten […]“), das eine zwiespältige und dennoch bahnbrechende Brücke aufspannt. Als Transfer Richtung Griechenland erfordert die anknüpfende Bewegung den Seeweg: „[…] wir schiffen ihm froh entgegen.“7 Zwar schlossen vorherige Übergänge (implizit zu unterstellende) Seewege nicht aus.8 Als aktive Bewegung des Lesers treten sie jedoch erst an dieser Passage hervor. 6.2 Reliefkarte: fluten, strömen, überschwemmen. Lange Dauern Als Gemeinsamkeit mit der Frühschrift erzeugt der Text ein kartographisches Tableau, dem in den „Ideen“ besonders an der plastischen, reliefartigen Struktur der Welt gelegen ist. Die Lesereise zeichnet den Wechsel von einem Volk zum anderen mit dem Finger auf der Landkarte nach. Für diese Bewegung selbst ist jedoch maßgeblich, dass Gefälle eingeprägt sind, die sich auch taktil nachvollziehen lassen. Gleichsam auf physikalisch oder geologisch unumgänglicher Bahn wandert der Finger von „Gebürgen“ hinab und zu Gewässern hinunter. Völker selbst werden zu Wassermassen, die das zu ihren Füßen Liegende fluten, an ihm vorbeiströmen oder es überschwemmen. „Wie wenn eine Flut, die Sammlung gewaltiger Bergströme, in einem höheren Tal lange zurückgehalten oder mit schwachen Dämmen hie oder dahin geleitet, endlich unaufhaltsam losbricht, und die niedrigen Gefälle überströmet: Wellen folgen auf Wellen, Ströme auf Ströme, bis alles ein helles Meer wird, das langsam überwältiget, überall Spuren der Verwüstung, zu-
7
Vorangehende Zitate: Herder, Ideen, a. O., S. 514.
8
A. O., S. 492ff., die Bedeutung der phönizischen Seefahrt für den Handel.
422 │S UBTEXTE DER M ENSCHHEITSGESCHICHTE letzt aber auch blühende Auen nachläßt, die es mit Fruchtbarkeit belebte: so erfolgte, so wirkte die berühmte Wanderung der nordischen Völker in die Provinzen des römischen Reichs.“9
Bevor ich mich genauer der dreidimensionalen räumlichen Modifizierung von Welt und Weltkarte widme, nehme ich einige bekräftigende Beispiele für die wandernde Erschließung des Erzählraumes auf. „Lasset uns auf den Erdstrich zurückblicken, den wir bisher durchwandert haben; in allen Einrichtungen der Völker von Sina bis Rom, in allen Mannigfaltigkeiten ihrer Verfassung, so wie bei jeder ihrer Erfindungen des Krieges und des Friedens, selbst bei allen Greueln und Fehlern der Nationen blieb das Hauptgesetz der Natur kenntlich: ‚[...]‘.“ (632)
Darauf folgt ein häufig variiertes Motiv in Herders Menschheitsgeschichte: Als historistisches Projekt, das (noch) naturgesetzliche Zwangsläufigkeit annimmt, betont der Text die historisch erwünschte sowie angemessene Differenz einzelner Stadien. Als Zitat ausgewiesen, kündet das „Hauptgesetz der Natur“ bereits von ständiger Bereitschaft, aufgerufen zu werden, um sich zum Deutungsklischee zu verkürzen. Die mnemorative Funktion des Rückblicks erzeugt quasi Evidenz: Die Vielfalt des Bedeuteten lässt sich am Schluss resümierend zusammenfassen. Präziser stellt jedoch die knappe sprachliche Aufzählung Anknüpfungspunkte des zu Memorierenden zur Verfügung, das zuvor in epischer Breite dargelegt wurde. Nachdem Griechenland als Station wohlgemuter Annäherung („froh“, 514) eingeführt wurde, äußert der Text trotz aller historischen Gerechtigkeit Freude darüber, Abschnitte hinter sich zu lassen und Vorausliegendes zu entdecken (von dem man allerdings immer schon weiß, dass es sich erschließt – auch hier birgt das kartographische Abtasten und räumliche Vertiefen den Vorteil, sich an einer Vorlage auszurichten). „Mühsam haben wir bisher das dunklere Feld alter Nationen durchwandert; freudig gehen wir jetzt dem näheren Tage entgegen und sehen, was aus dieser Saat des Altertums für eine Ernte nachfolgender Zeiten keime?“ (671) Überwindung der Dunkelheit und aus dem Scheitern Griechenlands sowie Roms resultierende Enttäuschung bereiten nun auf den vierten Teil der „Ideen“ vor, welcher den Bruch zwischen Altertum und Norden markiert, der in der Frühschrift ebenfalls ausgewiesen wird. Nicht nur hier lässt man den Anblick eines verfallenen Imperiums hinter sich. Wird die Reise zu mühsam, da man nurmehr durch Trümmer watet, verlässt der Reisende überkommene historische Gebilde und Formationen, um sich an neuen Himmelsrichtungen zu orientieren. „Lange gnug hat sich unser Blick bei verdrängten, oder unterjochten und ausgerotteten Völkern verweilet; lasset uns jetzt 9
A. O., S. 755, vgl. S. 465, „Sina und Indien sind von den Mongolen mehr als einmal überschwemmet, [...].“ „Gebürgen“, S. 461 u. ö. Seitenzahlen zu den „Ideen“ im Folgenden in Klammern.
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die sehen, die sie verdrängten und unterjochten.“ (689) Musste man sich zuvor der römischen Herrschaft zuwenden, da sie alle Völker in Europa unterwarf, schließt nun die Durchschlagskraft des Nordens an den Untergang der Römer an. Die Überwinder stellen im letzten Fall „Deutsche Völker“ (690). Dennoch liegt keine Geschichte historischer Sieger vor. Die gewaltsame Zerstörung integrer, selbstgenügsamer Völker provoziert vehemente Kritik. Nicht allein der Blick vermag es, sich von überkommenen Szenerien abzuwenden. Vielmehr initiiert das Abwenden ein aktives Beschreiten neuer Wege, das sich an Rezeptionsinteressen ausrichtet. Geht es darum, etwas über die frühe Entwicklung und Verbreitung des Christentums zu erfahren, erzeugt der Text Aufbruchstimmung: „Lasset uns also, von diesen östlichen Geburtsländern hinweg, dem Schauplatz entgegen gehen, auf dem es seine erste größere Rolle spielte.“ (733) An dieser Stelle fällt auf, dass der bloße Anblick nicht nur zielgerichtet erfolgt, sondern ferner nahezu theatralisches oder voyeuristisches Interesse an seinem Gegenstand bekundet. Der Zuschauer geht nicht allein davon aus, dass etwas vor seinen Augen passiert (eintrifft), sondern dass es eigens vor ihm ausgebreitet, gut verfolgbar inszeniert wird. Dennoch bleibt die Schauspielmetaphorik („Schauplatz“) tendenziell anderen, kommentativen Funktionen vorbehalten (dazu mehr im Kapitel zu Rom). Anblicken kann man sich demnach entziehen, wie es möglich ist, sie aufzusuchen oder sich ihnen auszusetzen. Nicht immer lässt sich die Aufmerksamkeit so gut steuern. Was man anblickt, teilt sich zuweilen mit Zwangsläufigkeit mit, ohne Abstand gegenüber seinem Beobachter zu wahren. In den „Ideen“ gilt diese Distanzlosigkeit für Gegebenheiten, deren Beobachtbarkeit der Text unter Verwendung der Sichtmetaphorik (wobei der „Anblick“ eine mehr statische Anordnung fokussiert) sowie des Tempus ausstellt. An Käte Hamburger angelehnt, könnte man von epischem Präteritum oder historischem Präsens sprechen, das Partizipien bevorzugt. Als Marker der Zeitlosigkeit oder Nähe beschriebener Gegenstände verwenden die „Ideen“ keineswegs durchgängig historisches Präsens. Allenfalls Partizipien betonen die überzeitliche, gelegentlich allgemeingültige Gewichtung von Sachverhalten. Im Falle eines bestimmten Herrschers nimmt der Text mit dieser Strategie den Standpunkt ein, jener individuell ausgezeichnete Herrscher bleibe für alle Zeit er selbst (praesens majestatis). Ein positives „Muster“ („Sternbild“) für dieses Verfahren gibt Alfred von England ab, der auch andernorts als exponiertes Beispiel dienen wird: „Vom Papst Leo 4. schon als Kind zum Könige gesalbet, war er unerzogen geblieben, bis die Begierde, sächsische Heldenlieder lesen zu können, seinen Fleiß dergestalt erweckte, daß er von ihnen zum Lesen lateinischer Schriftsteller fortschritt; unter denen er noch ruhig wohnte, als im 22. Jahr ihn der Tod seines Bruders zum Thron und zu allen Gefahren rief, die je einen Thron umringt haben. Die Dänen hatten das Land inne, [...].“ (785)
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Selbst bei Präteritumsgebrauch weitet sich das Partizip in die temporal andauernde präsentische Dimension aus. Mitten in die historische Gemengelage bricht das Ereignis ein, das zeitlose allgemeine Geltung („je einen Thron umringt“) beansprucht. Die Nutzung des Präsens verbindet sich vorwiegend mit Anblick und Sichtmetaphorik. „Sieben Königreiche sächsischer Barbaren, die auf einer mäßiggroßen Halbinsel in ungleichen Grenzen neben und mit einander heidnisch und christlich kämpfen, sind kein erfreulicher Anblick. Und doch dauerte mehr als 300 Jahre dieser chaotische Zustand, aus welchem nur hie und da Stiftungen und Satzungen [...], hervorschimmern.“ (784)
Besonders auffällig umklammert ein zweifach gesetztes Präsens die im Präteritum eingefügte Zeitangabe, welche zudem eine lange Dauer anzeigt. Obwohl der Kampf und der ihm verbundene „chaotische Zustand“ eine Spanne von 300 Jahren umfassen, wird das Kämpfen in einem Augenblick eingefroren. Vor dem Leser breitet sich der Anblick eines (für den Kampf) repräsentativen Moments aus, der sich als „Zustand“ beschreiben lässt. Paradoxer Weise übergreift jene Zustandsbeschreibung nun etwas, das sich der Feststellung durch einen „Zustand“ entzieht, da das Momentane schon lange aus ihm getilgt wurde. Tatsächlich überdauert der Kampf mehr als einen kurzen Moment, ihn durchdringen wiederholte Auseinandersetzungen, die rekursive Strukturen ausprägen. Dennoch ist dessen Dauer kaum anzugeben, da allenfalls von mehreren Kämpfen zu sprechen wäre, die einander ablösen oder perpetuieren, weshalb der Text konsequenterweise nur das Verb „kämpfen“ nutzt und vom „chaotischen Zustand“ handelt, welcher alle Zuständigkeiten zerfasert. Trotz allem sucht der Text jene Undarstellbarkeit einzufangen, anzublicken. Sobald die lange Dauer den „Anblick“ zertrümmert hat, schimmert abermals etwas Sichtbares hervor. Inwieweit Evidenzbehauptungen die Metapher des unmittelbaren Anblicks heranziehen, bliebe wie im Falle Wielands abzuwarten, dürfte jedoch in Frage stehen. Kurz vor Abbruch des umfangreichen Fragments der „Ideen“, das sich dem gegenwärtigen Europa zuwendet, kaum noch historisch einschlägigen Ereignissen (wie zuletzt den aufgrund ihrer Nebeneffekte ambivalenten Kreuzzügen) nachgeht, als vielmehr ein generalisierendes Resümee anzustellen, teilt sich dem Leser ein weiterer trauriger Anblick mit, der ihn dazu zwingt, nicht nur zu schauen, sondern zu vergleichen. „Traurig wird der Anblick, wenn man den Zustand des in Europa wiedererwachenden Geistes mit einigen ältern Zeiten und Völkern vergleichet.“ (890) In den Text schleicht sich ein Futur ein, das allerdings erst als Ergebnis des Vergleichs entsteht und erneut einen „Anblick“ gewährt. Was man konkret anblickt, wer oder was für den traurigen Anblick verantwortlich zeichnet, belässt diese Formulierung bewusst im Dunkeln. Scheint „Barbarei“ vorerst als negative Seite des Vergleichs einzustehen, insofern sie ein (erneutes) Aufsprießen des „Samenkorn[s]“
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unterdrückt, so bereiten überkommene Verhältnisse den Nährboden („[…] der wohltätige Boden alter Einfalt und Güte […]“) künftiger Besserung. Reaktionäre Tendenzen schreiben sich als notwendiges Übel der Geschichte ein, indem sie die Keime des Neuen – bzw. hier gerade des Altertums – überdecken und damit in diesem frühen Stadium schützen (in diesem Terrain baut der Text seine pflanzliche Metaphorik weiter aus). Rhetorisch geriert sich der zu erzeugende Anblick über die Aufzählung von Antagonisten – „geist- und weltlicher Herrschaft“, „schwärmenden Ketzern“, „streitender Dialektiker“, „[…] nützlichsten Wissenschaften als Zauberei und Aberglaube“ – und Beschreibungsvarianten: „[…] auf hartem Wege zertreten oder von Raubvögeln geholet“, „[…] unter Dornen nur mühsam emporarbeiten“, „erstickt oder verdorret“, „abgetragener, geflickter Mantel“, „verlebt[ ]“ (Zitate: 890). Gerade die Verknüpfung der einzelnen Elemente zur Argumentation stört indes die Unmittelbarkeit des Blicks. Der Vorschlag, die Orientierung der Erzähleinsätze an der Wahrnehmung einer Reliefkarte auszurichten, spielt vor allem für Verdrängungsprozesse eine zentrale Rolle. Während ein solches Modell (mit der Flutung durch die Nordländer, 755) als Motto vorangestellt und paradigmatisch durchgespielt wird, setzt es sich andernorts als implizites Strukturmerkmal durch: ein Hinweis darauf, dass auch das Furchen einziehende Zitat schlichte Gleichnisrede überschwemmt. So bewegt sich die wie von selbst wandernde Menschheit (homo in itinere) in der Regel von „Gebürgen“ hinab und verdrängt die darunter Liegenden (Flussmetaphorik) oder flüchtet sich in diese hinauf. Deren exponierte Lage tritt entweder als Ursprungsort oder Reservoir neuer Entwicklungen hervor oder bewahrt bestimmte Bevölkerungsgruppen davor, (schon) in den Verlauf des Historischen einzutreten. „Die Länder der Araber lagen längs der Erdhöhe, auf welcher diese streitbaren Völker, Kurden, Türken, Mogolen, Berbern wie Raubtiere wachten, und da sie großenteils selbst unwillig unter der Herrschaft der Araber standen, ihrer Rache zu rechter Zeit nicht verfehlten.“ (839)
Nachdem der rechte Zeitpunkt abgepasst und „[…] den Türken der Weg ins Innere des Reichs gebahnet“ wurde, löst sich der territoriale Zusammenhang auf, „bis das weite Reich einem Sunde losgerissener Inseln glich“ (840). Einschnitte und Trennungen teilen das Land entlang von Bewegungs-Linien neu auf („die Länder jenseit des Gihon wurden vom Stuhl des Kalifen getrennt […]“, 840) – hier entlang eines Flusses, der Ausrichtungen vorgibt. Sowohl die Abscheidung durch den Fluss als auch die Wanderung der Türken vom Gebirge (gemeint sind wohl das Taurusgebirge bei Hakkari, das Armenische Hochland mit Ararat und der nördliche Teil des Zagrosgebirges) hinab erzeugen die Vorstellung der (hinunter)fließenden Verteilung, der physikalisch-geologischen Auswirkungen eines Gefälles. Selbst wenn nicht explizit von der Flutung des darunter- oder umherliegenden Landes die Rede
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ist, bekräftigt die insulare Analogie das Bild schwimmender bzw. überschwemmter Grenzen, die das Herauskragen der Schollen aus dem Wasser, ihre Formation und fernere Stabilität unterbinden. Gekoppelt wird auch dieser labile Zustand an eine lange Dauer: „Sieben bis achthundert Jahre wechselten diese Inselreiche mit oftveränderten Grenzen, [...].“ (840) Das Durchmessen des Raumes durch wechselnde Akteure wie Gebirge, Flüsse und Völker wäre als Basisnarrativ der Menschheitsgeschichte aufzufassen, die sich dezidiert als Wanderungsbewegung ausweist (509, „denn fast jede Nation der Erde ist früher oder später, länger oder kürzer, wenigstens Einmal gewandert.“) So kommt es im Doppelsinn auf die Sicherung von (Handels-)Wegen an, die sich an „Mittelpunkt[en]“10 kreuzen. Durchziehen, binden arrangieren die Metaphorik dieser Wege: „dahin sich dann über Suez der Handel der Welt zog“, „band sich mit der westlichen die äußerste Ostwelt“ (842), und bilden friedliche Varianten räumlicher Erstreckung, die rückwärts gewandt ebenso Auskunft über Herkommen erteilt. Die Kulturgeschichte entfaltet ihren Weg bahnend eher aggressives Potential, das scheinbar abgelegene Pfade in die Verbindungslinien der Menschheitsgeschichte eingliedert: „Bis in die Tatarei und die mogolischen Länder, ja bis ins abgeschlossene Tsina drangen durch sie [die Araber, K.K.] die edelsten Wissenschaften des menschlichen Geistes“. (849) Sowohl die Akteure der Geschichte als auch die Lesereisenden, die ihren Weg nachvollziehen, orientieren sich an gebahnten Wegen, Linien (auf der Landkarte), wodurch in Verkürzung der Strecken sowohl Raum- als auch Zeitkategorien überschaubar werden. Als Stakkato – generell könnte man sagen, Herder gebe die narrativen (weniger reflektierenden) Passagen im Stakkato wieder – präsentiert sich die Geschichte wiederum über den „Anblick“: „Wir kommen zu den Ufern des Euphrat und Tigris; aber wie verändert sich in diesem ganzen Erdstrich der Anblick der Geschichte! Babel und Ninive, Ekbatana, Persepolis und Tyrus sind nicht mehr: Völker folgen auf Völker, Reiche auf Reiche [...].“ (465) Während die Zeitkategorie für den Lesereisenden zusammenschnurrt, sofern das Nacheinander als Nebeneinander aufgereiht wird, das in seiner Vielgestalt kaum zu erblicken ist, bietet den einstigen Usurpatoren der Blick vom Ufer aus Aussicht wie auf den (zukünftig) eigenen Garten. „Dies war die Lage des südlichen Europa gegen die Besitzungen der Araber; den Küsten Italiens insonderheit lagen sie wie ein Garten voll Spezereien, wie ein 10 Der „Mittelpunkt“ kommt a. O., S. 842 drei Mal vor: als „[…] Mittelpunkt eines großen Völker-Verkehrs […]“ (gemeint ist Mekka), „natürlicher Mittelpunkt der Karawanen“, „[…] Mittelpunkt des Reichtums und Kunstfleißes.“ Es gibt durchaus mehrere Mittelpunkte, die parallel unter divergierenden Aspekten als solche hervortreten. Sicherlich stellt es keinen Zufall dar, dass der Mittelpunkt vornehmlich Ort des „Zusammenfluß[es]“ ist. Die Kreuzung von Flüssen bietet einen Umschlagplatz für Waren an und steht als Akkumulation höchsten Grades ein.
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Feenland voll Reichtümer vor Augen.“11 (860) Zeigt sich beim ersten Anblick letztlich gar nichts, weder Trümmer von Städten („sind nicht mehr“) noch ominöse „Völker“ oder „Reiche“, so erblickt man im zweiten Fall das Entfernte als nah Vertrautes, das man besitzen könnte. Dem eigenen Garten indes ist als Refugium der Feen dessen Fremde eingeschrieben, die sich als Begehren auf ferne Ufer projiziert. Vom erfolgreichen Blick auf andere Ufer kann allenfalls im Anschluss an bereits erfolgte Bewegungen die Rede sein. Erst wer gereist ist, kann das andere Ufer als (un)überschaubaren Garten imaginieren. Chaotische Zustände zeitigen in Herders „Ideen“ oftmals lange Dauern. Auf Wiederherstellung nach Zerfaserung in bruchstückhafte Distrikte etwa „haben alle Reiche Deutscher Verfassung in Europa ein halbes Jahrtausend hin arbeiten müssen“ (801). Über alle Maßen lässt die Naivität der Deutschen sie am überkommenen Brauch festhalten, „[…] 350 Jahre lang dieses Kleinodes halber nach Rom […]“ zu ziehen (nicht ohne Ironie ist die römische Kaiserkrone gemeint), dem sie „[…] das Blut ihrer Nation willig aufopferten“. (809) Währte das wandlungsvolle Inseldasein der arabischen Reiche „[s]ieben bis achthundert Jahre“ (840), so walten hier noch vergleichbar kurze Dauern. „Schnell, wie die Ausbreitung und Zerteilung des Kalifenreichs, war auch die Blüte desselben, zu welcher auf einem kältern Boden ein Jahrtausend vielleicht kaum hinreichend gewesen wäre.“ (841) Wie „[s]chnell“ die „Blüte“ gedeiht und vergeht, enthält der Text vor. Dennoch entwirft er einen Vergleich, dem ein Part der Relation (der Rechenfaktor zwischen warm und kalt) fehlt und zudem eine weitere Unschärfe („vielleicht kaum hinreichend“) eingeschrieben ist. Die „Gestalt“ des eigenen Weltteils („unser Weltteil“), am „[…] westlichen Ende der alten Welt“, in dessen Mitte die „ungebildeten Völker“ mit der „[…] eroberte[n] römische[n] Welt ein wahres Paradies“ vorfinden (alle 851), nimmt Europa bereits vorweg. „Schnell“ (841) verstreicht die lange Dauer eines Jahrtausends dort mitnichten. Sondern im einen Hauch kälteren „westliche[n] Teil dieser Nordwelt“ findet sich „[…] das Menschengeschlecht mehr als Ein Jahrtausend zurückgesetzt […]“, da dieser „Erdstrich“ barbarischen „Zerstörungen“, „Verheerungen“ (Zitate: 851) und „Lehnherrschaft“ (852) unterliegt: „also daß nach drei bis fünfhundert Jahren die Reformation der Protestanten […] noch denselben Samen fand und ihn nur neu belebte.“ (884f.) Ohne große Umschweife operiert der Text mit langen Zeiträumen, die konjunktive Funktion entfalten. Als Erzählstrategie lässt er das Auseinanderklaffende – anhaltende Dauer und weitschweifige Panoramen – ineinanderfallen, indem er in reihender Verdichtung ihren Anblick behauptet. Insofern sich die über wechselnde Orte erstreckende fortwährende (in ihren Einzelelementen vergehende) – und damit unsichtbare – Abfolge einerseits anschauen lässt, sowie ungleichzeitige, an weitent11 Im doppelten Diskurs nimmt das phantastische Erbe der Araber zudem eine bedeutsame Rolle für die europäische Romangeschichte ein.
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fernten Ufern gelegene szenische Rundblicke andererseits panoramatisch (im Tableau) ansichtig werden, erzeugt der Text eine doppelte Entfremdung von Raumund Zeitkategorie, die das repräsentativ Unmögliche sich beide Male ereignen lässt. 6.3 Gatterers Planiglobien. Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen Jene Verknüpfung szenisch-panoramatischer An- bzw. Überblicke könnte sich ihr repräsentatives Verfahren betreffend etwa über Johann Christoph Gatterers „Abriß der Geographie“ von 1775 (recte 1778) erschließen, deren „Dritte[m] Theil: Staatenkunde“ folgende technisch-illustrative Programmatik vorangestellt ist: „Vorläufig von den hieher gehörigen Schriften und Landkarten. Weil man in der Staatenkunde immer die ganze bekannte Erde überschauen muß, so sind hiezu Stücken des Erdbodens oder Landkarten nicht hinlänglich, sondern es gehören hiezu Planiglobien, und zwar immer dieselben, nur anders illuminirt, damit man sich jedesmal auf dem Erdboden sogleich orientiren, und eine Zeit mit der andern vergleichen kann.“12
Während die „[a]lte Staatenkunde“ in vier „grose[ ] Reiche der alten Welt“ unterteilt und „auf siebnerley Art illuminirt“ darzustellen ist – „Alexander des Grosen Reich, oder Macedonisches Reich […]“ sowie „Römisches Reich“ erfordern ihrerseits eine interne, abweichend illuminierte Zweiteilung – gliedert sich die „[m]ittlere Staatenkunde, oder Geographie der Völkerwanderung“ in „Akt[e]“ und „Auftritt[e]“. Der theatralen Inszenierung entsprechend, welche die einzelnen Szenen überwiegend als Standbilder mit Einhegungen durch Jahreszahlen (von-bis) versieht, nutzt dieser zweite Abschnitt die Metapher „[…] Schauplaz der grosen Weltbegebenheiten […]“, auf dem ein rascher Wechsel des Ausagierten statthat: „und das Europäische Planiglob muß daher auch 24mal in der Illumination verändert werden.“ Gleichgesetzt wird die Folge von Akten (insgesamt fünf) und Auftritten (mindestens vier bis maximal sechs) mit Etappen der Völkerwanderung. Als Beschreibungsvariante zementiert die Wendung „Geographie der Völkerwanderung“ den Eindruck unverbundener Standbilder, deren innere Dynamik zu Beginn sogar noch aus dem Gegensatz von Akteur und Zuschauer gespeist wird („Araber und Perser sind bey diesen Auftritten noch blose Zuschauer: [...].“, Zitate s. XIV).
12 Johann Christoph Gatterer, Abriß der Geographie, Göttingen, 1775 (recte 1778), S. XIIIf. Vgl. Herder, Ideen, in: FHA 6, S. 913, S. 921f., S. 1041-1042 (Kommentar). Folgende Seitenangaben in Klammern zu Gatterer. Vgl. den „Dokumentarische[n] Anhang“ von Pross zu Herders „Ideen“, in: Herder, Werke, Bd. III/1: Ideen [...], Text, hg. v. Wolfgang Pross, S. 1103-1107.
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Jahreszahlen treten sowohl als Index der Dauer (von-bis) als auch als Fixpunkte („A.“ für anno) auf und übernehmen ebenso wie „Anblick“ und lange Dauern in den „Ideen“ doppelt strukturierende, widersprüchliche temporale Funktion. Bei Gatterer bleiben fixe Zeitangaben und Dauern jedoch strenger voneinander getrennt, insofern den Akten die Zeitangabe anno vorbehalten und den untergeordneten Auftritten verstreichende, überbrückende Zeitlichkeit zugeordnet ist. Unter Umständen schlagen die Akte allerdings auch größere Bögen, etwa „[v]om Ende des 3ten Jahrh. bis zum Uebergang der Hunnen nach Europa A. 376“, XV. Geht es zum dritten Abschnitt, „Staatenkunde der neuern Zeiten, oder die heutigen grosen Staaten“ über, erfordert dies wieder größeren Überblick, der die szenische Darstellung zurücktreten lässt: „man muß aber, um diese grose Absicht zu erreichen, das Europäische und Amerikanische Planiglob zugleich, das ist, die ganze bekannte Erde, methodisch illuminirt, vor sich nehmen.“ (XVII) Eingeschrieben ist jener Darstellung ein imperialistischer Blickwinkel, insofern die Staaten absteigend nach ihrer Verbreitung auf den fünf „Welttheilen“ (XVIII) aufgelistet werden. Es fällt auf, dass jeder der drei Abschnitte seinerseits eine deskriptive Variante kennt, welche der Zeitkategorie jeweils ein stärker räumlich ausgerichtetes Modell an die Seite stellt. Über die Konjunktion „oder“ werden die Epochen doppelt räumlich sowie zeitlich adressiert.13 Dabei handelt es sich bei der vorgenommenen Aufteilung, die im zweiten Abschnitt der Akte und Auftritte bereits ins Detail geht, noch um ein Inhaltsverzeichnis („Anzeige des Inhalts“14) zum „Abriß der Geographie“. Gerade diese Form gewährt jedoch Überblick, insofern Akte und Auftritte quasi referenzlose Unterschriften zu den illuminierten Planiglobien darstellen. Die Karten sehen wir nicht, die Über- oder Unterschriften fassen zusammen, was auf den Karten zu sehen wäre. Das Inhaltsverzeichnis wirkt wie ein Stakkato von Abfolgen, nebeneinander geordneten schnellen Wechseln, die sich herunterlesen lassen – ein Tempo, dem Herders Text nicht selten in seiner Darstellung folgt.
13 Gatterer, Abriß der Geographie, a. O.: „I) Alte Staatenkunde, oder die grosen Reiche der alten Welt, vor der Völkerwanderung.“ Hier wäre noch von einer dreifachen Bestimmung auszugehen. Zeitlich sowohl über das Adjektiv alt als auch die Angabe „vor der Völkerwanderung“ doppelt relational gefasst, räumlich über „die grosen Reiche der alten Welt“, die eine implizite temporale Komponente enthalten, lokalisiert. „II) Mittlere Staatenkunde, oder Geographie der Völkerwanderung, zugleich mit den grosen Staaten des Mittelalters [...].“ Abermals findet eine räumliche Ergänzung durch das eingeschaltete „zugleich“ statt. „III) Staatenkunde der neuern Zeiten, oder die heutigen grosen Staaten.“ Im dritten Abschnitt reduziert sich die Komplexität des Verfahrens, insofern Raum- und Zeitkategorie in eins fallen. Vgl. S. XIV, S. XVII. 14 A. O. Siehe jeweils die Kopfzeile der zitierten Seiten.
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Bei Planiglobien handelt es sich um kreisförmige Weltkarten, welche die Erde häufig in die vier Abschnitte West, Ost, Nord und Süd unterteilt darstellen. Nach heutigen Maßstäben (Sehgewohnheiten) wirkt an dieser Darstellung die Draufsicht von den Polen aus eher ungewohnt, welche die Nord- und Südhälfte jeweils in zwei Kreise (Planiglobien) unterteilt. Im Falle des Nördlichen Planiglobs wären an den äußersten Rändern des Kreises (von West nach Ost) etwa die obere Spitze Südamerikas, die obere Hälfte Afrikas sowie Malaysia zu sehen.15 Im 19. Jahrhundert dienten Planiglobien der ausschnitthaften thematischen Repräsentation. Unter der Herausgeberschaft des Perthes-Verlages entstanden in Gotha zahlreiche thematische Karten: darunter etwa ein „Planiglob zur Übersicht der geographischen Verbreitung der vornehmsten Krankheiten, denen der Mensch auf der ganzen Erde ausgesetzt ist.“16 (von 1849) sowie ein „Planiglob zur Übersicht der Verbreitung der Deütschen in beiden Hemisphären über den ganzen Erdboden. Zugleich mit Angabe der oceanischen Wasser-Strassen, auf denen die Verbindung zwischen ihren Wohnsitzen bewirkt wird.“17 (1846). Der ersten Karte zur „Verbreitung der vornehmsten Krankheiten [...].“ sind drei kleinere Detailkarten (Ausschnitte) sowie zahlreiche Grafiken (Diagramme) beigegeben, die sich Einzelproblemen widmen; darunter eine Karte zu den „Charakter-Krankheiten in Nord-Amerika, Antillen.“ oder ein Diagramm, das „Irrsinn, nach geographischer Verbreitung.“ anzeigt. Besonderes Augenmerk widmet die zweite Karte z. B. der „Verbreitung der Deütschen in NordAmerika.“, indem sie die prozentuale Bevölkerungsdichte der Deutschen in den amerikanischen Bundesstaaten angibt.
15 Vgl. etwa: Planiglob der Erde. Ostlicher. Westlicher. Sudliche, Nordliche Hemisphaere bis zu den Wendekreisen. Gezeichnet von H. Kiepert u C. Ohmann. Gestochen von E. Kratz. Weimar, 1856, Verlag des Geographischen Instituts, in: Allgemeiner Hand-Atlas der Erde und des Himmels nach den besten astronomischen Bestimmungen, neuesten Entdeckungen und kritischen Untersuchungen entworfen. Geographisches Institut in Weimar (1856?). 16 Vgl.: Planiglob zur Übersicht der geographischen Verbreitung der vornehmsten Krankheiten, denen der Mensch auf der ganzen Erde ausgesetzt ist (1849), in: Dr. Heinrich Berghaus' Physikalischer Atlas oder Sammlung von Karten auf denen die hauptsächlichsten Erscheinungen der anorganischen und organischen Natur nach ihrer geographischen Verbreitung und Vertheilung bildlich dargestellt sind, Zweiter Band, enthaltend in drei Abtheilungen: 6. Zoologische Geographie. 7. Anthropographie. 8. Ethnographie: Abtl. 7, No. 2, Gotha, 1845-1848. 17 S.: Planiglob zur Übersicht der Verbreitung der Deütschen in beiden Hemisphären über den ganzen Erdboden. Zugleich mit Angabe der oceanischen Wasser-Strassen, auf denen die Verbindung zwischen ihren Wohnsitzen bewirkt wird (1846), in: a. O.., Abthl. 8, No. 3.
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Das Verfahren des Planiglobs wäre somit als Detaillierungspraktik auszuweisen, die mittels – bei Gatterer durch mehrfarbige Kennzeichnung hervorgehobenen – Ausschnitten divergierende Sachverhalte simultan darstellen kann. Bei Gatterer bleibt indes unklar, inwiefern die Färbungen nebeneinander auf einer Fläche eingetragen werden oder ob gleich mehrere (abweichend illuminierte) Karten zu verwenden sind, welche denselben Raum heterogene Sachverhalte (oder Zeiten) betreffend repräsentieren. Schwer umsetzbar wäre eine solche Vervielfältigung der Karten in Bezug auf die Akte und Auftritte der Geschichte im zweiten Abschnitt, da hier allein 24 Auftritte auf 24 Karten eingezeichnet werden müssten. Speziell für diesen wechselvollen Part ergäbe sich ein zusätzliches Problem. Denn die Darstellung durch räumliches Nebeneinander erzeugt im Falle der Völkerwanderung unweigerlich Überschneidungen, welche bei farblicher Differenzierung zudem verschwommene Grenzen provozieren. Allzu viele Akteure auf sich überlagerndem Raum ergäben eine alles einander angleichende bräunliche Färbung. Bei Problemen der Darstellung simultaner Ungleichzeitigkeit nähme sich die Illuminierung der Kartenabschnitte durch wechselnde Lichtquellen sicherlich hilfreich aus (der Fokus wäre jeweils neu auszurichten). Allerdings ist wenig wahrscheinlich, dass „illuminiren“ hier tatsächlich abweichend von kolorieren gebraucht wird.18 Der „Abriß“ erschöpft sich in diesem Fall in der „Anzeige des Inhalts“, der Blick ins Buch gibt keinen Aufschluss über die mögliche Gestaltung der „Staatenkunde“ durch „Planiglobien“. „Bey der Anzeige des Inhalts wird man auch den Inhalt des zweyten, noch ungedruckten Theils angegeben finden. Die nächste Absicht davon war, für meine geographischen Vorlesungen einen Leitfaden dadurch zu bekommen; vielleicht aber ist es auch den Lesern nicht unangenehm, das ganze Werk im Skelet zu sehen.“19 18 Vgl. Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch, Zweyter Theil, F-L, Sp. 1360. „Illuminiren, [...]. 1) Farben auf eine Zeichnung oder auf einen Kupferstich tragen, die Theile derselben durch verschiedene Farben kenntlicher machen. Einen Riß, eine Landkarte illuminiren. 2) Erleuchten, doch nur so fern solches mit mehrern Lichtern oder Lampen geschiehet. Die Fenster eines Hauses, einen Garten illuminiren. Daher die Illumination, eine solche feyerliche Erleuchtung.“ 19 Gatterer, Abriß der Geographie, a. O., S. VII. Von den zu den Erläuterungen gehörigen Karten bzw. Planiglobien ist nur eine einzige erhalten geblieben, die zur „Mittelalterfolge“ gehört. Vgl. Martin Gierl, Geschichte als präzisierte Wissenschaft. Johann Christoph Gatterer und die Historiographie des 18. Jahrhunderts im ganzen Umfang, Stuttgart-Bad Cannstatt, 2012 [Fundamenta Historica 4], S. 297. Akte und Szenen listet Gierl tabellarisch auf (S. 296). Während der von Gierl zitierte Goffart (S. 295), der die erhaltene Karte wiedergibt, die Versprechen des Titels „Geographie der Völkerwanderung“ bei Gatterer nicht eingelöst sieht, kehrt Gierl die Relevanz von Gatterers Gestaltungsversuchen für die
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Im „Skelet“ bleibt die Inhaltsangabe tatsächlich kaum mehr als ein „Abriß“20, an dem sich der Überblick über die alte, mittlere und neuere Staatenkunde orientieren kann. Gatterer unterbreitet einen Vorschlag, wie die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu präsentieren wäre. Zwar behilft er sich dabei mit kartographischen Darstellungen, genauer gesagt, Planiglobien, welche grundlegend multiperspektivisch angelegt sind, insofern sie den Globus von allen vier Himmelsrichtungen aus in den Blick nehmen und auf die Ebene projizieren. Stets halten sie zusätzlich die Möglichkeit bereit, lokal bzw. thematisch vertiefend ins Detail zu gehen. Jene Ergänzung der Planiglobien durch die stichpunktartige Erfassung von Akten und Auftritten sucht über die theatrale Metaphorik nicht nur die (narratologisch relevante) Dynamik des Mittleren zu berücksichtigen, sondern wirft grundsätzlich die Frage der Erweiterung des kartographischen Konzepts über andere Darstellungsmedien (Szenarien) auf. Folgerichtig dient das „Skelet“ in der bloßen Inhaltsanzeige des „Abriß“ als Anstoß darstellender Kreativität, für die der Wechsel von „Anblick“, langer Dauer und Wanderungsbewegung in Herders „Ideen“ eine Variante bietet – wiederum allein im schriftlichen Medium. Neben dieser Taktik nutzen die „Ideen“ Wiederholungen als Mittel, Gleichzeitigkeit zu erzeugen. Jene Gleichzeitigkeit führt eher den Eindruck relativer Entfernung bei sich, insofern die narratio immer schon einen Erzähl-Schritt voran oder gar bis zum Ende gegangen ist, um sich dann zurückzuwenden und (temporal vorausliegenden) Überschneidungen zu widmen. Als gängiges Mittel, eine solche Retrospektive zu kennzeichnen, tritt der eingeklammerte Appendix der Jahreszahlen ein, insofern er anzeigt, dass der Leser sich nun wieder in einer (relativ beliebigen) Zeit vor der just erlangten erzählten Gegenwart befindet. Um diese Erzählbewegung zu bekräftigen, wird das Erzählte (ferner) häufig durch schicksalshafte Begegnungen strukturiert: Hat man das römische Reich (für sich erzählt) bereits unzu initiierende Mittelaltergeschichte heraus, die mitunter „[a]n die Grenzen des Mediums“ (S. 297f.) stoßen. Vgl. a. O., S. 319, S. 324. Karte s. Walter Goffart, Historical Atlases. The First Three Hundred Years, 1570-1780, Chicago, 2003, S. 170, bzw. Christian Kruse, Probe der Gattererschen Charten zur Geschichte der Völkerwanderung, in: Allgemeine Geographische Ephemeriden. XVI. Bandes, Viertes Stück, April 1805, hg. v. Friedrich Justin Bertuch u. Christian Gottlieb Reichard, Weimar, 1805, S. 377-399, „Charte“ s. S. 542 (DFG-Viewer). Die hier vorliegende Karte ist nicht koloriert, was es erschwert, an ihr Dynamik abzulesen. Zur Umsetzung der Karte(n) s. Walter Goffart, „The Plot of Gatterer’s ‚Charten zur Geschichte der Völkerwanderung‘“, in: Geschichtsdeutung auf alten Karten. Archäologie und Geschichte, hg. v. Dagmar Unverhau, Wiesbaden, 2003, S. 213-220. 20 Denn das ganze Buch als „Abriß“ zu bezeichnen, nähme sich wiederum als Bescheidenheitsgestus aus, der folgerichtig auf das Verhältnis Geographie der Erde zu im Buchmedium wiederzugebenden geographischen Merkmalen zu münzen wäre.
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tergehen lassen, kann man sich ihm mehrfach erneut widmen, insofern es in der Geschichte eines weiteren Volks, dem man sich nun als Protagonisten zuwendet, eine bedeutende Rolle einnimmt. Obgleich Herders „Ideen“ dessen Geschichte nicht ohne seinen umliegenden Kontext ausbreiten, verlagern sie doch den Fokus ihrer Aufmerksamkeit, indem vorige Nebenwege zu Hauptsträngen avancieren oder Haupt- zu Nebensträngen reduziert werden. 6.4 Gemälde-Metaphorik? Trotz aller Skepsis, welche die Frühschrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ gegenüber Repräsentation generell und speziell bildlicher Repräsentation hegt, äußert sie doch einiges Zutrauen in die Darstellung durch das Gemälde. Zumindest transportiert dessen metaphorischer Einsatz einige Hoffnung auf angemessene und leidlich vollständige Repräsentation: „Kanns ein allgemeines Bild ohne Untereinander- und Zusammenordnung? kanns eine weite Aussicht geben, ohne Höhe? Wenn du das Angesicht dicht an dem Bilde hältst, an diesem Spane schnitzelst, an jenem Farbenklümpchen klaubest: nie siehest du das ganze Bild – siehest nichts weniger als Bild! [...]. Übrigens weiß ichs, wie du, dass jedes allgemeine Bild, jeder allgemeine Begriff nur Abstraktion sei – [...].“21
Als Kontrast zur Verabschiedung des Bildes tritt das „lebendige Gemälde“ in die Verhandlung des repräsentativen Diskurses ein: „Mattes halbes Schattenbild vom Worte! Das ganze lebendige Gemälde von Lebensart, Gewohnheiten, Bedürfnissen, Landes- und Himmelseigenheiten müßte dazu kommen, oder vorhergegangen sein; man müßte erst der Nation sympathisieren, um eine einzige ihrer Neigungen und Handlungen, alle zusammen zu fühlen, Ein Wort finden, in seiner Fülle sich alles denken – oder man lieset – ein Wort.“22
Da beide Passagen bereits unter medialen Gesichtspunkten interpretiert wurden, nehme ich hier nur den Faden des Gemäldes auf, dessen Darstellungsappell „[w]elch ein Gemälde, wenn ichs dir liefern könnte, wie es war!“23 auch für die „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ nicht an Attraktivität einbüßt. Im Gegenteil weist die Spätschrift eine regelrechte Konjunktur der Gemäldemetapher auf, die in variablen Kontexten ausgereizt wird. Zum Teil tritt sie als relativ simple Metapher ein, die repräsentational affirmativ gemeint ist: Das Gemälde 21 Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 35. 22 A. O., S. 33. 23 A. O., S. 19.
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figuriert als Ideal(-Bild) möglichst vollkommener Repräsentation – eine Tendenz, die durchgängig zu beobachten ist. Im Zuge des doppelten Diskurses übernimmt die Metapher jedoch strukturierende Funktion für den ausladenden Plot der Menschheitsgeschichte (Bsp.: Griechenland), an dessen Nahtstellen Ablösungsfiguren sichtbar werden. Das Gemälde beweist nicht nur Vorzüge gegenüber dem Bild (selbst wenn der Text sich angesichts seiner Darstellungsfunktion bedeckt hält), sondern übertrifft auch das Medium der Beschreibung, das in Reiseberichten vorherrscht. Insofern Herders Text Reisebeschreibungen zitiert oder als Vorlage nutzt, gibt er Beschreibungen von Beschreibungen: sekundäre Beschreibungen. Offen bekundet dieses Verfahren seine eigene Unzulänglichkeit: „Über die Völker am Eismeer im weiten rußischen Reich haben wir außer so vielen neuern, allgemeinbekannten Reisen, die sie beschreiben, selbst eine Sammlung von Gemälden derselben, deren Anblick mehr sagt, als meine Beschreibung sagen könnte. [...]. Der Samojede hat das runde, breite, platte Gesicht, das schwarze sträubige Haar, die untersetzte blutreiche Statur [...]; nur sein Lippe wird aufgeworfner, die Nase offner und breiter, [...].“24
Um Gemälde handelt es sich hier im Wortsinn – nicht etwa um eine spezifische Form der Beschreibung. Herder verweist in der dazugehörigen Fußnote auf Johann Gottlieb Georgis „Beschreibung aller Nationen des Rußischen Reichs, ihrer Lebensart, Religion, Gebräuche, Wohnungen, Kleidungen und übrigen Merkwürdigkeiten“ (1776-80). Mit diesem Werk liegt seinerseits eine repräsentationale Doppelung vor. Bei den Gemälden handelt es sich um Kupferstiche, welche, in eigene Bände ausgelagert, der „Beschreibung aller Nationen“ beigegeben sind. Nun verhält es sich jedoch keineswegs so, dass jene Beschreibung ohne die Konsultation der illustrativen Bände inhaltsleer bliebe. Im Gegenteil vollzieht der Text Georgis eine (tabellarisch aufgelistete) einzelne Merkmale wie physische Gestalt, Kleidung, Bräuche aufnehmende ethnographische Beschreibung, der an Detail und Nähe ihres Gegenstandes gelegen ist.25 Daher ließe sich beim narrativen Part bereits von leben24 Herder, Ideen, in: FHA 6, S. 214. 25 Um ein kurzes Beispiel zu geben vgl.: Johann Gottlieb Georgi, Beschreibung aller Nationen des Rußischen Reichs, ihrer Lebensart, Religion, Gebräuche, Wohnungen, Kleidungen und übrigen Merkwürdigkeiten. Erste Ausgabe. Nationen vom Finnischen Stamm, St. Petersburg, 1776; aus der Beschreibung der Hochzeitsriten der „Tschuwaschen“, S. 41: „Des folgenden Morgens geschieht wegen der Mosaischen Kenntzeichen der Jungfrauschaft Nachfrage. Wäre sie vorher verblühet, reicht der Brautdiener einem Ehrenmann einen Becher mit Bier. Der Becher hat im Boden ein klein Loch, daß er zuhält, wenn aber der Gast trinkt, läuft das Bier fort, welches ein Gelächter, worüber die Braut erröthet, verursacht; andere Folgen hat es aber nicht.“ Nicht allein das Tempus vermittelt Teil-
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digen Gemälden sprechen, die üppige Zusammenhänge illustrativ entfalten (wie etwa die Schilderung des Hochzeitsritus nahelegt). Die Kupferstiche selbst bieten in erster Linie Abbildungen der betreffenden Volkszugehörigen in nationaler oder Berufstracht – je eines männlichen Vertreters sowie einer weiblichen Vertreterin (Exempel) mit sehr genauer Zeichnung der Gesichtszüge und Kleidung (teilweise koloriert).26 In der Verbindung von Beschreibung und Gemälde entsteht vielleicht erst der Eindruck der lebendigen, authentischen Schilderung, welche das Gemälde als Beschreibungsmodus metaphorisiert. Demgemäß bildet auch Herders Text an dieser Stelle nichts ab, fügt keine Kupfer ein, sondern kommt nicht umhin, auf Georgis Werk zu verweisen. Woran er sich jedoch im Zuge seiner Beschreibung des „Samojede[n]“ in den „Ideen“27 orientiert – ob an Georgis sprachlicher Beschreibung oder am (aus dieser ausgelagerten) Gemälde (Kupfer) –, bleibt unentschieden, sobald man Georgis Werk zum Vergleich heranzieht.28 nahme an dieser recht lebhaft geschilderten Wirtshausszene. Nicht ohne Sympathie verfolgt der (externe) Zuschauer das possenhafte Geschehen, das jedoch keinerlei Folgen zeitigt, weder die Verstoßung der Braut, ja nicht einmal eine (der Posse angemessene) Schlägerei provoziert. Der Erzähler nimmt hier nicht etwa Abstand von grausamen oder abergläubischen Volksriten, sondern huldigt der lebhaften Szene und der impliziten Ratio des Verfahrens. Beginnt er seinen Bericht in ernsthaftem Modus („wegen der Mosaischen Kenntzeichen der Jungfrauschaft Nachfrage“) löst sich die Szene letztlich in „Gelächter“ und Folgenlosigkeit auf. 26 Vgl. Johann Gottlieb Georgi, Kupfer zur Beschreibung aller Nationen des Rußischen Reichs. Erste Ausgabe. Nationen vom Finnischen Stamm, 1776. 27 Herder, Ideen, a. O., S. 214. 28 Johann Gottlieb Georgi, Beschreibung aller Nationen des Rußischen Reichs, ihrer Lebensart, Religion, Gebräuche, Wohnungen, Kleidungen und übrigen Merkwürdigkeiten. Dritte Ausgabe. Samojedische, Mandshurische und ostlichste Sibirische Nationen, St. Petersburg, 1777, S. 277. Kupfer der Samojeden: Johann Gottlieb Georgi, Kupfer zur Beschreibung aller Nationen des Rußischen Reichs. Dritte Ausgabe. Samojedische, Mandshurische und ostlichste Sibirische Nationen, 1779, Abb. 56-58. Georgis Vorrede selbst spielt die mediale Rolle der Kupfer herunter. Aus seinen Bemerkungen wird recht schnell ersichtlich, dass auch sie nicht ohne Umschweife als Garant von Unmittelbarkeit und Authentizität aufzufassen sind. Georgi, Beschreibung [...], Erste Ausgabe, Vorrede, S. IX: „Ob gleich meine Beschreibungen die in Kupfer gestochenen Abbildungen der vorzüglichsten Nationen nicht wesentlich erfordern, so sind doch jene um dieser willen da und machen einen Theil der Beschreibungen recht anschaulich; [...]. Die Abbildungen stellen die Nationen in ihren meist gewöhnlichen Kleidern nach den im akademischen Museum aufbewahrten Kleidern oder nach illuminirten Zeichnungen unserer berühmten Reisenden, theils vom sel. Roth hier nach lebenden Originalen gemachten Zeichnungen vor, und drucken so viel sichs nur thun ließ, das Eigenthümliche der Gesichtsbildung jeden Volkes
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Ähnlich wie Kant widmet Herder sich ausführlich der vorwiegend an äußeren Merkmalen orientierten ethnographischen Beschreibung einzelner Völker, die er häufig im gegenseitigen Vergleich oder im Kontrast zueinander aufbaut. Wie er dabei auf Reisebeschreibungen Bezug nimmt, ließ sich u. a. im Falle Georgis zeigen. Herders Text fertigt Auszüge von Reisebeschreibungen an, die Themen ihres Interesses absondern und aufgreifen. Als Auszug fremder Beschreibungen sucht der Text (auch ohne Kupfer) genau das zu inszenieren, was er bei seinem Vorbild Georgi (realisiert) vorfindet. Der Schilderung einiger „Negergeschlechter“ folgt in den „Ideen“ (230f.)29 eine allgemeine Reflexion zur dokumentarischen Limitation vollständiger Beschreibung: „Kennten wir nun noch die zahlreichen Völkerschaften, die über ihren dürren Gegenden im Innersten von Afrika bis nach Abeßinien hinauf wohnen [...]: so könnten wir die Schattierungen des Völkergemäldes in diesem großen Weltteil vollenden und würden vielleicht nirgend eine Lücke finden. Aber wie arm sind wir überhaupt an geltenden Nachrichten [...].“ (231)
Während Kant etwa im Aufsatz „Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie“ auf eine „Farbenleiter der Haut“30 Bezug nimmt, welche neben der Hautfarbe Merkmale wie Haar- und Bartwuchs einschließt, suchen die „Ideen“ gut aus.“ Was um wessen „willen da“ ist, lässt sich nicht ohne Weiteres erschließen. Mindestens dreierlei Quellengattungen verdanken sich die Abbildungen. Allein die Kleider werden bereits musealisiert zur direkten Vorlage (ohne dass lebendige Vertreter oder ihr personales Ensemble noch in ihnen steckten); schon vermittelt über Zeichnungen aus Reisebeschreibungen speist sich eine weitere abbildende Gattung, und letztlich gewährt nur die Begegnung der „Originale[ ]“ mit der Person des Kupferstechers allein nach dem Leben abgefasste Zeichnungen. Der Kupferstecher, „sel. Roth“, ist nun bereits tot, weshalb es müßig ist, erfahren zu wollen, welcher Abbildung nun welches Vorbild gedient haben mag. Die Beschreibung der „Samojeden“ auf S. 277 in: Georgi, Beschreibung, Dritte Ausgabe, nimmt sich wie folgt aus: „Die Samojeden sind kaum mittelmäßiger Länge, nicht leicht unter 4, selten über 5 Fuß hoch. Sie sind untersätzig mit kurzen Beinen und Halse, haben dicke Köpfe, ziemlich platte Gesichter und Nasen, der untere Theil des Gesichtes steht merklich vor, Mund und Ohren sind groß, die Augen klein, schwarz, die Augenlieder lang geschlitzt, die Lippen dünn, die Füsse klein, die Haut braungelb, ausser dem Kopfe ohn alle Haare, weil es theils sparsam erscheinet und von beiden Geschlechtern von jugend an sorgfältig ausgerauft wird, die Haare schwarz und borstig.“ 29 Herder, Ideen, a. O., S. 230f. Seitenzahlen zu den „Ideen“ nachfolgend im Fließtext in Klammern. 30 Kant, Über den Gebrauch, in: KAA VIII, S. 170. Obgleich er kritisch auf diese Wendung Forsters Bezug nimmt, widmet er sich exzessiv „Schattirungen“ (a. O., S. 169), „Vermischung“ und „Farbe“ (a. O., S. 171).
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„Schattierungen des Völkergemäldes“ zu „vollenden“ („Ideen“, 231). Beide Texte streben dabei eine lückenlose Zeichnung von Charakteristika an. Auch ohne ergänzende konkrete Gemälde tritt für die ethnographische Beschreibung das Ideal des Gemäldes ein, dessen Schattierungen teilweise dem Nebeneinander, den Übergängen und Vermischungen von (Haut- und Haar-)Farben entsprechen.31 Bestünde nun das lückenlose Gemälde aus einer Art Tableau, etwa dem verdichteten Nebeneinander von Georgis Kupfern? Wie vollständig präsentierte sich nun diese Tafel menschlicher Gestalten – als „Völkergemälde“ gefasst – ohne illustrative oder narrative Schilderung des konkreten menschlichen, gesellschaftlichen Zusammenlebens? Nicht nur die Gefälle und Furchen, welche die Lesereise strukturieren, streuen und steuern die Bewegung des Textes, auch die Abfolgen der ethnographischen Teilbeschreibungen tragen dem Gemälde eine Richtung (des optischen Abtastens) wie auf der Landkarte ein. Dabei verfolgt der Wanderer auf den Spuren der Menschheitsgeschichte entweder bereits eingetretene Pfade nach oder geht vorweg, um sich später noch einmal umzuwenden. Als Konstrukt des Textes suggerieren diese Wanderungsbewegungen die Wiederholung eines bereits vor längerer Zeit oder gerade erst erfolgten Verlaufs auf einem stillgestellten Tableau: Die Akteure werden statuarisch eingefroren, damit der Beobachter unberührt zwischen ihnen wandeln kann (dies gilt freilich stärker für die historiographischen als ethnographischen Passagen der „Ideen“). Dass man sich nicht allein umdrehen, sondern auch zurückgehen kann, lenkt das Interesse auf den Entwurf eines Herkunftsnarrativs – und insofern ist der Text stark bemüht, zum Faktenwissen über Wanderungs- und Ablösungsbewegungen beizutragen (s. das Kapitel zum doppelten Kursus der „Ideen“). „Nichts ist schwerer unter gewissen Hauptzügen zu charakterisieren, als die im Schoß des Ozeans zerstreueten Länder. Denn da sie von einander entfernt sind und meistens von verschiednen Ankömmlingen aus nähern und entferntern Gegenden, später oder früher bewohnt 31 Um Herders Verfahren zu ‚illustrieren‘, dem als weitere Parallele etwa das ZügeEntwerfen in Kants Aufsatz „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ zu gesellen wäre, s. Herder, Ideen, a. O., S. 231: „Auf Kongo und Angola z. E. fällt die Schwärze in die Olivenfarbe: das krause Haar wird rötlich: die Augäpfel werden grün: das Aufgeworfne der Lippen mindert sich und die Statur wird kleiner. An der gegenseitigen Küste Zanquebar findet sich eben diese Olivenfarbe, nur bei einer größern Gestalt und regelmäßigern Bildung wieder. Die Hottentotten und Kaffern endlich sind Rückgänge der Neger- in eine andre Bildung. Die Nase jener fängt an, etwas von der gequetschten Plattigkeit, die Lippe von ihrer geschwollnen Dicke zu verlieren: das Haar ist die Mitte zwischen der Wolle der Neger und dem Haar andrer Völker: ihre Farbe ist gelbbraun: [...].“ Vgl. a. O., S. 240: „der wird Zug für Zug den allmählichen Übergang bemerken.“
438 │S UBTEXTE DER M ENSCHHEITSGESCHICHTE wurden und jede derselben gewissermaßen eine eigne Welt ausmacht: so stellen sie in der Kunde der Nationen dem Geist ein so buntes Gemälde dar, als sie dem Auge auf der Landcharte geben.“ (236-237)
Lückenlose Übergänge und Schattierungen münden hier zusehends in Unübersichtlichkeit. Das „zerstreuete[ ]“ (236) Nebeneinander lässt sich nicht mehr in die verbundene, richtungsweisende Abfolge auflösen, weshalb „[…] jede derselben gewissermaßen eine eigne Welt ausmacht“ (237, meines Erachtens handelt es sich hier sowohl um ein Merkmal als auch ein Ergebnis der Beschreibung). Während das durchgängig und in gehörigen Abständen schattierte Gemälde Zusammenhang und Überblick gewährt, tendiert das „bunte[ ] Gemälde“32 zu fehlender Übersicht, Dissoziation, Zerstreuung und Auflösung. Die Buntheit des vor Augen Liegenden, Flimmernden erschwert die distinkte Wahrnehmung in dem Maße, wie Farben oder Schattierungen demgegenüber zuvor als Differenzierungsmerkmal genutzt werden konnten. In dieser Konsequenz handelt es sich nurmehr um ein Gemälde im „Geist“ (237), d. h., nicht einmal mehr die für das Aufbringen der Schattierungen unverzichtbaren Farbkontraste tragen in ihrer flächigen Materialität zu Plastizität und Lebendigkeit bei. Aus dem (Farb-)Überschuss resultiert eine Ausweichbewegung, welche das optische Paradigma allenfalls vergleichsweise heranziehen darf: „als sie dem Auge auf der Landcharte geben.“ Sofern die „Kunde der Nationen“ einen Zeitindex enthält, verfolgt der Text weiterhin die Tendenz der räumlichen Projektion an-dauernder Zustände („dem Auge auf der Landcharte“, 237). Weshalb tritt nun aber das Paradigma Karte als Repräsentant von Unübersichtlichkeit und Verwirrung auf, insofern sie innere „bunte[ ] Gemälde“ auf die äußere Fläche umklappt? Wieso steht gerade das Medium räumlicher Rationalität und Praxis als Metapher des Überschusses ein, den sie ja gerade Maßstäben unterwerfen und in räumliche, flächige Ordnungen übersetzen, auf reine Topographie reduzieren kann? Oder zeugt der Mikrokosmos der in Abschattungen kolorierten Karte tatsächlich von der Unübersichtlichkeit der großen weiten Welt (als Pars pro Toto)? Während „bunte[ ] Gemälde“ Herkunft sowie Transferstrecken also zunehmend verschleiern, eröffnet die Orientierung an abweichend codierten Gemälden menschheitsgeschichtliche Rückwege. Ähnlich wie bei Roths Kupferstichen in Georgis „Beschreibungen [...]“ rückt die Gewährleistung von Authentizität in den Vordergrund: „Werden wir einst die ganze Nordwestliche Küste von Amerika, die wir jetzt nur in ein paar Anfurten kennen, übersehen und von den Einwohnern daselbst so treue Gemälde haben, als Cook z. B. uns vom Anführer in Unalaska u. f. gegeben: so wird sich mehreres erklären. Es 32 A. O., S. 237. Zu zu bunten Gemälden vgl. S. 703, S. 718f., sie umschreiben hier den mittelalterlichen Synkretismus.
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wird sich ergeben, ob tiefer hinab auf der großen Küste, die wir noch nicht kennen, auch Japaner und Sinesen übergegangen und was es mit dem Märchen von einer gesitteten bärtigen Nation auf dieser Westseite für Bewandnis habe.“ (Herder, „Ideen“, 240f.)
Vereint mit (noch ausstehender) präziser Kenntnis geographisch-topologischer Gegebenheiten gewährt das „treue Gemälde“ „von den Einwohnern“ Aufschluss über eine ganze Reihe menschheitsgeschichtlicher Fragen. Jene Ortskenntnis wird einmal mehr als Überblick figuriert („übersehen“). Mögliche Wege (von einem Kontinent zum anderen) sind tatsächlich erst zu erschließen, selbst wenn sie sich schon lange Zeit zuvor als gangbar erwiesen haben mögen. Insofern liegt der die Menschheitsgeschichte Erwandernde weit hinter dem von ihm verfolgten Gegenstand zurück: Es geht nicht nur um retrospektive Erfassung, sondern diese macht es erforderlich, zukünftig überhaupt erst Wege zu bahnen (zu erschließen). Eine große Hilfe, Schneisen in die Vergangenheit (der Wege) zu schlagen, bieten „treue Gemälde“, „als Cook z. B. uns vom Anführer in Unalaska u. f. gegeben.“ Gewährleisten nun besonders verlässliche, mit Autorität ausgestattete Zeugen die Treue des Gemäldes? Und um was für Gemälde handelt es sich hier? Obwohl Cook – wie zahlreiche seiner Begleiter, etwa die Forsters – selbst Aufzeichnungen zu seinen Reisen verfasste, kann man nur sehr indirekt davon sprechen, dass Cook dieses treue Gemälde gibt. Denn gerade beim Gemälde „vom Anführer in Unalaska“ liegt wieder ein wirkliches Gemälde vor, das den Eingang zum „Tagebuch einer Entdekkungsreise nach der Südsee in den Jahren 1776-1780. unter Anführung der Capitains Cook, Clerke, Gore und King. Mit einer neuen verbesserten Karte und Kupfer nach der originellen Handschrift getreulich beschrieben. Eine Übersetzung nebst Anmerkungen von Johann Reinhold Forster, der Rechte, Medizin, und Weltweisheit Doktor, Professor der Naturgeschichte zu Halle. [...]“ (Berlin 1781)
ziert.33 Noch vor dem Titel erblickt der Leser als oder anstatt eines Titelkupfer(s) die Illustration zur Unterschrift: „Ein Anführer von Unalashka“, die somit emblematisch für das ganze Unternehmen der Fabel stehen könnte, von der wir bei Herder jedoch nichts erfahren. Die statische Abbildung eines Portraits (genauer einer Büste) eröffnet in seiner Exemplarität („Ein“) die Hoffnung oder den Ausblick auf eine Sammlung mehrerer „treue[r] Gemälde“, die insgesamt für die Bezeugung definitiver Wanderungsbewegungen einstehen sollen (und zwar – das bleibt hier implizit – durch den wechselseitigen Vergleich physiologischer Merkmale). Dahinter stünde ein recht restriktives, aber verlässliches System von Vermischungen, dessen
33 Was der ‚Umschlag‘ der elektronischen Ausgabe ausstellt, indem er das (antizipierende) Kupfer wiederholt (s. Literatur- und Medienverzeichnis).
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neu zustande kommenden Schattierungen eine Bewegung der Vermischung ablesen ließen. Autorität vermitteln im Titel eher die „Anmerkungen“ J. R. Forsters. Auf seine akademischen Titel folgen zahlreiche Mitgliedschaften in internationalen Sozietäten, die ihn als der „Weltweisheit Doktor“ auszeichnen. Bei der Schrift handelt es sich um eine Art Vorausgabe, auf deren englisches Original man nicht warten lassen wollte, was umso dringlicher die Frage nach dem Verbleib der „Original Handschriften“ (Vorrede nach Widmung, unpag.), welche als Basis der englischen Ausgabe dienen sollen, aufwirft. Demgemäß verzögern auch R. Forsters einleitende Worte den Aufschluss über die Verfasserschaft und Produktionsbedingungen des Textes. „Der Verfasser dieser Reise, scheint auf der Discovery die Reise mitgemacht zu haben; ausser daß er nach dem Tode des Herrn Clerke auf die Resolution gekommen. In England müßte es ein leichtes seyn denselben heraus zubekommen, ob er sich gleich nicht genannt hat. Ich habe zwar ausdrücklich deswegen nach England hingeschrieben um dieses zu erfahren; allein die Unsicherheit und Langsamkeit der Posten im Kriege zur See sind Schuld dran, daß ich von meinen Freunden auf den Punkt noch keine Antwort bekommen habe. Indessen muthmasse ich, daß es einer der Unterwundärzte der Discovery gewesen; weil kurz zuvor auf der Resolution der Oberwundarzt Herr Anderson gestorben war; und daß es also wahrscheinlich ist, man werde einen an dessen Stelle, bei der Beförderung der anderen Wundärzte auch von der Discovery herüber gehohlt haben. Der Charakter des Schriftstellers und seine Kenntnisse sind sich nicht allezeit gleich. Man kann es ihm nicht absprechen, daß er in einigen Fällen ein sehr edles, gefühlvolles Herz nebst einem gesunden Menschenverstande verrathen habe; an anderen Orten geräth man über seine falschen und schielenden Grundsätze in Versuchung ihn einen schlechten Menschen zu schelten: besonders hat er Lust gehabt sein Buch durch Einschiebung grosser Stellen aus Kapitain Cooks und meines Sohnes Reisebeschreibung anzuschwellen. Der Sprache der Südseeinseln scheint er auch, ungeachtet des langen Aufenthaltes und und vielen Umganges mit den Einwohnern in der Südsee, doch nicht mächtig genung [sic!] gewesen zu seyn. Zu Berichtigung der falschen Namen, und unrichtig angegebener Umstände, und zu Erläuterung solcher Umstände die mitten in Deutschland unverständlich seyn möchten, habe ich vorzüglich meine Anmerkungen angewendet: so wie ich überhaupt geglaubt meinem Vaterlande einen Dienst geleistet zu haben, daß ich diese Uebersetzung übernommen; weil nur wenige Uebersetzer, die englische Sprache so vollkommen verstehen, daß sie auch die See-Redensarten übersetzen könten, und dabei über viele Umstände der Reise-Erläuterungen mittheilen könten.“ (Vorrede, unpag;)34 34 R. Forster, Tagebuch einer Entdekkungsreise [vollständiger Titel s. Haupttext]. Jene Vorrede hebt zudem einen durch Lord Sandwich insinuierten Sinneswandel Cooks hervor, der für den Ausgang der Reise und ihre Berichterstattung wesentlich verantwortlich gemacht wird.
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Wie die Reise selbst, präsentiert sich auch deren Aufzeichnung als Zusammenspiel diverser Teilhaber. In der Zwielichtigkeit des Verfassers spiegelt sich diese Ambivalenz verstellter Autorschaft wider („Der Charakter des Schriftstellers und seine Kenntnisse sind sich nicht allezeit gleich.“), ihm fehlt es zudem an sprachlicher Kompetenz: Die indigene Sprache beherrscht er weniger gut, als es seinem Aufenthalt angemessen wäre, sodass es erforderlich ist, „falsche[ ] Namen“ zu korrigieren. Die Integrität anderer Autoren achtet er wenig und übernimmt Passagen aus deren Reisebeschreibungen, um sein Buch „anzuschwellen“, dem die erste englische Ausgabe der „A voyage round the world“ durch Georg Forster von 177735 vermutlich als Quelle gedient hat. Inwiefern das „Tagebuch einer Entdekkungsreise“ auf Band vier und fünf der sieben Bände umfassenden deutschen Übersetzung (Georg Forsters) „Geschichte der See-Reisen und Entdeckungen im Süd-Meer: welche auf Befehl Sr Großbrittannischen Majestät [George des Dritten] unternommen...worden sind...; aus den Tagebüchern der verschiedenen Befehlshaber und den Handschriften [der Gelehrten]...; aus dem Englischen übersetzt...; mit Kupfern..., Berlin, Haude und Spener, 1774-1788“36
Bezug nimmt, für die er als „Naturkundiger“ sowie Quelle37 benannt wird, klärt R. Forster nicht auf. 35 Georg Forster, A Voyage round the World, in His Britannic Majesty’s Sloop, Resolution, commanded by Capt. James Cook, during the Years 1772, 3, 4, and 5. By George Forster, F. R. S. Member of the Royal Academy of Madrid, and the Society for promoting Natural Knowledge at Berlin. In two Volumes, London, 1777. 36 Ich zitiere diesen und weitere Titel tlw. verkürzt (korrigiert) aus dem Bibliothekskatalog Erfurt/Gotha. Neben Forster trat auch Johann Friedrich Schiller als Übersetzer auf, siehe unten. Im Katalog findet sich ein Eintrag zu den maßgeblich Beteiligten der Reise sowie den Verfassern der sieben Bände: Bd. 1-3 verf. von Johann Hawkesworth. und übers. von Johann Friedrich Schiller; Befehlshaber: John Byron, Samuel Wallis, Philip Carteret, Jacob Coock; Gelehrter: Joseph Banks. Bd. 4-5 verf. und übers. von Georg Forster; Befehlshaber: James Cook; Gelehrte: Joseph Banks, Daniel Solander, Johann Reinhold Forster, Georg Forster. Bd. 6-7 verf. von James Cook und James King und übers. von Georg Forster; Befehlshaber: James Cook, Charles Clerke, John Gore, James King; Gelehrte: Joseph Banks, Daniel Solander, Johann Reinhold Forster, Georg Forster, George William Anderson. Wer neben an der Reise teilnehmenden Malern noch gezeichnet hat, bildet eine weitere Leerstelle. Zu den bekannten Malern und Werken vgl. Joppien, Smith, The Art of Captain Cook’s Voyages, s. meinen Text, S. 448 (FN 52). 37 Georg Forster, Geschichte der See-Reisen und Entdeckungen im Süd-Meer welche auf Befehl Sr. Großbrittannischen Majestät George des Dritten unternommen worden sind. Aus den Tagebüchern der Schiffs-Befehlshaber und den Handschriften der Gelehrten
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Eine ganze Reihe von Verschiebungen, welche die Übersetzung erforderlich machen, aber auch gleichermaßen aus ihr resultieren sowie der komplexe Grenzverkehr zwischen den beiden europäischen Ländern wären sicher der vertiefenden Analyse wert. Dennoch kann es hier nur um die bei R. Forster exemplarisch durchexerzierte Verstellung der Quelle gehen, welche dem Zitat eines vorangestellten (relativ kontextlosen)38, aber für sich selbst sprechenden Gemäldes kontrastiert wird. Die Herkunft bzw. Bildung der Amerikaner, ihr „Ursprung“ und die Besiedlung Amerikas, stellt für Herder ein ähnliches menschheitsgeschichtliches Problem dar wie für Kant.39 Vielseitigkeit entzieht sich innerhalb dieses Kontinents der klimatologischen und geographischen Ordnung, fast schon einer zuvor geltend gemachten philosophischen (und ästhetischen) Regel, welche für die Erzählung der Menschheitsgeschichte in Anspruch genommen wird. „Ein Gleiches ists mit den Nationen: denn es sind Menschen eines ganzen Hemisphärs in allen Zonen. Oben und unten sind Zwerge, und nahe bei den Zwergen Riesen: in der Mitte
Herren J. Banks Esq. Dr. Solander; Dr. J. R. Forster und Herrn G. Forster welche diesen Reisen als Naturkundiger beygewohnt haben herausgegeben. Aus dem Englischen übersetzt vom Verfasser Herrn Georg Forster Mitgl. der Gesellsch. der Wissensch. zu London und zu Madrid, [...] mit Zusätzen für den deutschen Leser vermehrt und durch Kupfer erläutert. Vierter Band: Johann Reinhold Forster’s Doctor der Rechte [...] Reise um die Welt während den Jahren 1772 bis 1775 in dem von Seiner itztregierenden Großbrittannischen Majestät auf Entdeckungen ausgeschickten und durch den Capitain Cook geführten Schiffe the Resolution unternommen/Beschrieben und herausgegeben von dessen Sohn und Reisegefährten George Forster der Gesellsch. der Wissensch. zu London und Madrid [...] Mitglied [...], Berlin, Haude und Spener, 1778. Vgl. den Bibliothekskatalog Erfurt/Gotha. 38 R. Forster, Tagebuch einer Entdekkungsreise, a. O., Kontext ab S. 229, vor Ort in „Georgensunde“, S. 230 folgen die Koordinatenangaben, wo man sich befand. S. 231232, Beschreibung des „Kopfputz[es]“ der „Anführer“: „Sie hatten das Haupt mit Binden worin Federn steckten umwunden, [...].“ Kaum mehr auf das Gemälde zutreffende Eckdaten sind über den Text zu erfahren. 39 Vgl. Herder, Ideen, a. O., S. 249. Mit R. Forsters „Tagebuch [...]“ befinden wir uns in Alaska genau am Übergang (Beringstrasse), von wo aus Bewohner des asiatischen Kontinents (zu Herders Zeiten Russlands) vor vielen Jahrtausenden (vor 16000-12000 Jahren) noch den Landweg (Beringia) zum nordamerikanischen Kontinent nehmen konnten, was Herders Zeitgenossen jedoch unbekannt war. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Alaska# Besiedlung_und_Ureinwohner, Zugriff: 5.2.18.
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wohnen mittelmäßige, wohl- und minder wohlgebildete Völker, sanft und kriegerisch, träge und munter, von allerlei Lebensarten und von allen Charakteren.“40 (Herder, „Ideen“, 248)
Trotz oder gerade aufgrund dieser unregelmäßigen Verteilung „weiset“ die „[...] Hauptphysiognomie, [...] allerdings auf einen ziemlich einförmigen Ursprung.“ (248f.) Wie bereits erläutert, tritt Physiognomie als Zeugin von Wanderungsbewegungen ein, die sich an Vermischungslinien ablesen lassen sollen. In diesem Bezugsrahmen gedeiht den aus Reisebeschreibungen entnommenen Beschreibungen eher Gewalt an: „Einartigkeit“, „Hauptphysiognomie“ und „Familienzug“ werden den Texten eher unterstellt („[...] dies ists, was man mit der herrschenden Gesichtsbildung und Gestalt der Amerikaner sagen wollte[ ]“) als plausibilisiert und mit einer Gegenthese gefestigt. „Wären Völker aus allen Weltteilen, zu sehr verschiednen Zeiten nach Amerika gekommen; mochten sie sich vermischen oder unvermischt bleiben, so hätte die Diversität der Menschengattung allerdings größer sein müssen.“ (Zitate: 248f.) Als Negativbeweis wird das Verschwinden (Sich-Verlieren) der blonden Haarfarbe eingeführt, die sich nur recht kurzfristig und singulär vorgefunden und erhalten habe. Das physiognomische Argument läuft indes letztlich auf ein ethisches Programm hinaus. Ein weiteres Mal kritisiert Herder den Umgang der Kolonisatoren mit der Bevölkerung vor Ort, beinahe unter Rückgriff auf das Klischee des edlen Wilden. Von physiognomischer „Gestalt“ kann hier allenfalls indirekt die Rede sein: „Soll man nach der Gestalt einen gewissen Haupt- und mittlern Charakter der Amerikaner angeben: so scheints Gutherzigkeit und kindliche Unschuld zu sein, [...].“ Bereits in diesem frühen Zustand unter „schwachen Anfängen der Kultur“ büßt der illustrative Wert des Gemäldes nichts ein, und legt insofern „[…] ein sehr lehrreiches Gemälde der Menschheit“ (Zitate: 249) vor. Was genau diesem Gemälde abzulernen sei, bleibt unbestimmt, es heranzuziehen (seine Geltung zu behaupten) mutet eher als erzieherische denn didaktische Maßnahme an. Zwar zielt die Gemäldemetapher auf Schattierungen vermischter physiognomischer Züge, der Verweis auf buchstäbliche Gemälde bleibt an dieser Stelle jedoch aus. Auf „Wortbeschreibungen“ zurückzugreifen, markiert der Text als Defizit. Daher empfiehlt das „lehrreiche[ ] Gemälde“ sich als Zukunftsprojekt: „Es wäre schön, wenn ich jetzt durch eine Zauberrute alle bisher gegebnen unbestimmten Wortbeschreibungen in Gemälde verwandeln und dem Menschen von seinen Mitbrüdern auf der Erde eine Galerie gezeichneter Formen und Gestalten geben könnte.“ (alle 249) Als Vorbilder oder Muster eines solchen Verfahrens hebt der Text „Buffons Naturgeschichte“, deren deutsche Übersetzung von 1771-177441 sich in ihrem fünften 40 Herder, Ideen, a. O., S. 248. In der Regel wohnen Herders Narrativ zufolge in der Mitte, also im gemäßigten Erdstrich, fern von allen Extremen, die schönsten Völker, vgl. S. 224-227. Seitenangaben zu Herders „Ideen“ weiter in Klammern im Fließtext.
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und sechsten Teil mit der Naturgeschichte des Menschen auseinandersetzt, sowie Blumenbachs „Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte“42 hervor. Der sechste Teil der Übersetzung von Buffons Naturgeschichte hängt zusätzlich Abweichungen (Abartungen oder Monstrositäten) an (vgl. dazu deren „Anhang“ ab S. 222), denen – wie in Buffons Naturgeschichte generell – Kupfer zur Illustration beigegeben sind, und verweist unter anderem sowohl auf zeitgenössische Fachliteratur als auch – seiner Vorlage folgend – auf traditionelle Quellen (z. B. Ptolomäus).43 41 Mit „Band 6“ weist die Fußnote bei Herder, Ideen, a. O., S. 249, auf diese deutsche Übersetzung hin: Herrn von Buffons allgemeine Naturgeschichte. Eine freye mit einigen Zusätzen vermehrte Übersetzung nach der neuesten französischen Außgabe von 1769, übers. v. Friedrich Heinrich Wilhelm Martini, Berlin, bey Joachim Pauli, Buchhändler, 1771-1774. „Theil“ 5 erschien 1773, „Theil“ 6 1774. Beide tragen einen abweichenden Zusatztitel. Das Kürzel „Mart.“ bezieht sich auf den Übersetzer Martini. Leider schweigen sich beide Kommentare an dieser Stelle aus. Lediglich Pross verweist auf Buffons „Histoire naturelle de l’homme“ (Pross zu: Herder, Ideen, Kommentar, a. O., S. 362), jedoch sind die Bände der französischen Ausgabe anders strukturiert. Inhaltsangabe zu diesem „Sechste[n] Theil“: „Natürliche Geschichte des Menschen. IIte Abtheilung.“, „Innhalt des VIten Bandes.“ „I.) Von den unterschiedenen Arten im Geschlechte der Menschen. II.) Anhang. III.) Von der unterschiedenen Größe der Menschen. a) Von Zwergen. b) Von Riesenartigen Menschen. c) Von unförmlich dicken und schweren Menschen. d) Durch Kunst entstellte Menschen. e) Von verwillderten Menschen. IV.) Vom Aufenthalt und von der Nahrung der Menschen. V.) Schreiben der Deputirten und des Syndikus der Pariser theologischen Fakultät. VI.) Anstößige Stellen in der Naturgeschichte des Herrn von Büffon. VII.) Des Herrn von Büffon Antwort und Vertheidigung. VIII.) Zweytes Schreiben der theologischen Fakultät in Paris.“ Das Inhaltsverzeichnis zum sechsten Band s. S. 330. Herrn von Büffons allgemeine Naturgeschichte. Eine freye mit Anmerkungen vermehrte Uebersetzung. Sechster Theil, übers. v. Friedrich Heinrich Wilhelm Martini, bey Joachim Pauli, Berlin, 1774. 42 Blumenbach, De generis hvmani varietate nativa [...], Goettingae, Rosenbvschii, 1775 (Dissertation). Exemplar, auf das sich Herder vmtl. bezieht: Io. Frid. Blvmenbachii M. D. Et Prof. P.O. De Generis Hvmani Varietate Nativa Liber: Cvm Figvris Aeri Incisis. Editio Altera Longe Avctior Et Emendatior, Goettingae, Vandenhoek, 1781. Herder besaß auch ein Exemplar in deutscher Übersetzung mit persönlicher Widmung Blumenbachs, die allerdings erst 1798 erschien. 43 Martini, Büffons allgemeine Naturgeschichte, Sechster Theil, S. 255, weist auf „Herrn Professor Müllers Linn. Natursystem I B. S. 104“, auf ein dort abgebildetes Kupfer des Engländers „Eduard Bright“ als Exempel eines besonders dicken Menschen hin; Text und Abbildung zu S. 44, „Der geschwänzte Mensch“, nehmen auf angezweifeltes Wissen Bezug, das als Traditionsbestand dennoch Erwähnung finden muss. Ein Digitalisat der
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Blumenbachs Abhandlung versammelt mit ihren Kupferstichen ein Nebeneinander verschiedener, dem Vergleich dienender humaner Schädel44 sowie eine Grafik zur Gegenüberstellung der Halswirbel von Mann und Mandrill. Gerade der medizinische oder anatomische Blick – der in seinen Kupferstichen Gemälde produziert – wird keinesfalls als distanziert, sondern als seinem Gegenstand nahe imaginiert. Dabei mutet das Verfahren der umstandslosen Zerlegung der Artgenossen (vgl. bei Blumenbach S. 144ff., ab S. 149ff., ab S. 289ff.), das Eindringen in das Innere ihres Körpers – schließlich die Entfleischlichung und Reduzierung auf ein Schädel-Präparat – aus heutiger Sicht wenig empathisch an. Im Gegenteil erfordert diese ‚Nähe‘ einen höchsten Grad der Abstraktion.45 In Herders „Ideen“ wird der gewaltsamen (kolonialen) Eroberung die „friedliche Reißfeder“ („Ideen“, 249) als implizite Alternative zur vereinnahmenden, ungeeigneten Sprache kontrastiert: „an die friedliche Reißfeder dachte man nicht und auch dem großen Heer der Reisenden ists kaum eingefallen, daß man mit Worten keine Gestalt male, [...].“ (249-250) Sprachliche Deskription entwickle einen Hang zur Dichtung, zum Wunderbaren. „Lange ging man aufs Wunderbare hinaus und dichtete; nachher wollte man hie und da, selbst wo man Zeichnungen gab, verschönern, ohne zu bedenken, daß kein wahrer Zoolog verschönere, wenn er fremde Tiergestalten malet.“ (250) Somit fordert Herder für die Repräsentation des Menschengeschlechts die „Aufmerksamkeit“ und Genauigkeit der Zoologie ein, deren erstes und unerlässliches Mittel das Abreißen, letztlich das Erstellen von Gemälden ist. Den Maßgaben „treue[r] Gemälde“ (250) entsprechen diejenigen aus „ältern Zeiten“ – sie mögen erdichten oder verschönern46 – nicht, der erforderliche Blick französischen Ausgabe „Histoire Naturelle, Générale et Particulière. Par M. de Buffon [...]. Nouvelle Édition. Tome Cinquième, Paris, 1769“ findet sich zum Vergleich unter: http://www.biodiversitylibrary.org/item/105214#page/10/mode/1up, 26.1.18, zur Naturgeschichte des Menschen, s. S. 1-238 (ohne den oben erwähnten „Anhang“). 44 Blumenbach, Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte, Leipzig, 1798, siehe ab S. 289, „Erläuterung der Kupfertafeln.“. Zu den aus Blumenbachs „Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte“ nachfolgend genannten Seitenzahlen vgl. ebendiese Ausgabe von 1798. 45 Freilich nimmt Blumenbach diese Operation nur metaphorisch vor. Allerdings ist deren Durchführung auf die konkrete anatomische (entfleischlichende) Operation angewiesen. Als Gegenbewegung fügt die „Erläuterung der Kupfertafeln“ (S. 289) zur „Tafel 2.“ kurze Herkunfts- und Lebensgeschichten der ‚Spender‘ der Schädelpräparate bei. Seitenzahlen zu Herders „Ideen“ weiter in Klammern. 46 Herder, Ideen, in: FHA 6, S. 250. Der Vorwurf, der die „ältern“ Beispiele trifft, geht jedoch in eine andere Richtung, werden sie doch als „sehr französisch“, „nicht authentisch“ und „idealisieret“ kritisiert. Einzig die Idealisierung wäre als Verschönerung zu lesen, die beiden anderen Kritikpunkte bleiben relativ unkonkret.
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erweist sich als spezifisch modern („[…] in den neuesten Zeiten der edle Bemerkungsgeist […]“, dessen Vertreter Herder unter anderen in der Fußnote versammelt). „Nicht als ob ich die Bemühungen dieser Männer nicht schätzte; indessen dünken mich [...] derer de Bry Gemälde, die nachher in schlechtern Nachstichen beinah in alle spätere Bücher übergegangen sind, nicht authentisch. Nach Forsters Zeugnis hat auch Hodges noch die Otahitischen Gemälde idealisieret. Indessen wäre es zu wünschen, daß [...] die genaue und gleichsam Natur-historische Kunst in Abbildung der Menschengeschlechter für alle Gegenden der Welt ununterbrochen dauren möge. Niebuhr, Parkinson, Cook, [...] rechne ich zu diesen Anfängen; die letzte Reise Cooks scheint nach dem Ruhm, den man ihren Gemälden gibt, eine neue höhere Periode anzufangen, [...].“ („Ideen“, 250, FN 66)
Als Aufgabenstellung soll die Sammlung der „[…] hie und da zerstreueten treuen Gemälde […]“ in eine „[…] sprechende[ ] [...] Physiognomik der Menschheit […]“ (250) münden, Herders Bekunden zufolge die philosophische Anwendung der „Kunst“. Mit Forster und Cook läutet der Text eine Umbruchphase ein, was das repräsentationale Potential von Gemälden anbelangt. Worin besteht nun der Unterschied zwischen „treuen“ und „nicht authentisch[en]“ Gemälden, wenn in beiden Fällen die gleiche mediale Aufbereitung vorliegt? In der Fußnote erwähnt der Text die Kupfer de Brys, verweist somit auf dessen „Warhafftige und eygentliche Abconterfayung [...] der Völcker [...] Americae [...]“ von 1601.47 Unter dem Titel de Bry, „Americae“ finden sich Abbildungen im Internet, die einen Eindruck der Sicht auf ‚die Wilden‘ verschaffen. Zeigt eine Abbildung rein technisch und damit kommentarlos die Tätigkeit amerikanischer sowie afrikanischer Zuckersklaven48, so bietet die Zeichnung der Ankunft49 der Europäer bzw. einer Kampfszene50 ein eher stereotypisiertes Bild von Begegnungen. Eine gut zehnminütige Abfolge vielfältiger, sehr zahlreicher – als Slideshow in Szene gesetzter – Gemälde erzeugt nicht allein durch dieses Verfahren den Eindruck lebhafter Gemälde. In der Serie selbst überwiegen dynamische Szenen (wie Kampfszenen), denen recht statische, symmetrische An47 Vgl. Herder, Ideen, a. O., S. 1007 (Kommentar), präziser mein Literaturverzeichnis. 48 http://www.flmnh.ufl.edu/histarch/images/puertoReal/debry_sugarslaves.jpg, 31.1.18. 49 Freundliche Aufnahme, gegenseitiger Austausch von Gastgeschenken bzw. Handel (seitens der Europäer bezeichnender Weise von Waffen), s. Verzeichnis der Abbildungen unter de Bry, „Empfang Kolonisatoren“. 50 http://commons.wikimedia.org/wiki/File:1622_massacre_jamestown_de_Bry.jpg, 31.1.18. Dazu ist allerdings zu sagen, dass de Bry bei der Darstellung von Gewalt (Versklavung, gegenseitige Überfälle, Folter) sowohl von Seiten der Europäer als auch der Amerikaner nicht zimperlich ist.
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ordnungen von Siedlungen und Behausungen gegenübergestellt sind. Weniger präsentieren die Gemälde divergierende Charaktere, an deren Vorkommen sich ihre Treue, welche die „Diversität der Menschheit“ auffaltet, ablesen lasse (Herder, „Ideen“, 250), sondern sie reproduzieren tendenziell einen nackten, muskulösen Typus des amerikanischen Bewohners (Ureinwohners). Nicht fehlen dürfen dabei Abbildungen von Menschenopfern sowie kollektivem Kannibalismus, welche der Bilderfolge nicht zuletzt ein archaisches Gebaren verleihen.51 Völlig anders, aber in Herders Augen dennoch unangemessen, verfährt William Hodges, einer der Landschaftsmaler auf der „Resolution“. Wenn mit den Gemälden, die auf den Reisen Cooks und Forsters entstehen, ein Umbruch eingeleitet wird, dann tritt Hodges als Figur ein, an der sich dieser Umbruch abzeichnet. Als 51 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=E3X_h7PnNnU, 5.2.18. Selbst wenn die Mimik der dargestellten Figuren häufig ‚entrückt‘ wirkt, reproduzieren die muskulösen, symmetrischen Körper sowie Gesichtszüge ein eher klassisches Schönheitsideal (das gilt nicht nur für die Darstellung von Kriegern, sondern etwa auch für Frauenkörper). Eine wichtige Rolle spielen ferner Szenen der exotischen Tierjagd (etwa von Walen oder Krokodilen). Zum Teil liegt der Illustrationsmodus von biblischen Szenen oder Heiligenviten nahe. So oszillieren die Abbildungen zwischen der idealisierten Nachzeichnung körperlich makelloser Ausbildung, ohne jedoch allzu individuelle Merkmale zu verleihen, und der Erzeugung des Unheimlichen, das man als Effekt dieser auf Körperlichkeit beharrenden Darstellung begreifen könnte. De Brys Kupferstiche basieren auf „Watercolours“ John Whites, die neben Thomas Hariots „A Briefe and True Report of the New Found Land of Virginia“ (1588) während der Kolonisalisation (der 1585 auch Richard Grenville angehörte) auf „Roanoke Island“ angefertigt wurden. Bereits durch die Bearbeitung de Brys und
folgender
Koloristen
wurden
Whites
Darstellungen
stark
abgewandelt.
Zum Vergleich Whites mit de Bry siehe: http://www.virtualjamestown.org/images/white_debry_html/jamestown.html, 5.2.18. Im Unterschied zu White dramatisiert de Bry stärker. Er variiert die Untertitel, doppelt dargestellte Personen durch ihre Vorder- und Rückenansicht, erweitert Darstellungen der Speisezubereitung um ein personales Ensemble, verwendet insgesamt stärkere Kontraste und räumliche Rahmungen (s. „Charnal House“). Der Bildraum wird eher ausgefüllt („Village of Secoton“), seine Personendarstellungen erhalten eine horizontale Erweiterung bzw. Begrenzung. Einen guten, recht verlässlichen ersten Überblick bietet: http://www.lib.unc.edu/dc/debry/about.html, Zugriff: 5.2.18. Alternative gedruckte Quelle: Paul Hulton, America 1585. The complete Drawings of John White, University of North Carolina Press/British Museum Publications, 1984. Vgl. „Indian Man and Woman Eating“, „Indian Village of Seconton“, „Indian Charnal House“, S. 190f. (Erläuterungen); Abbildungen (White+de Bry): Plate 41 (S. 71)+Figure 20 (S. 122), Plate 36 (S. 66)+Figure 24 (S. 126), Plate 38 (S. 68)+Figure 26 (S. 128). Zur Personendarstellung und Raumerfassung vgl. S. 62-68, (Plate 32-38, White)+S. 109-117 (Figure 7-15, de Bry).
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beschreibende und herausgebende Instanz übernimmt Georg Forster die Funktion eines Kommentars oder Korrektivs, indem er „Zeugnis“ darüber ablegt, dass „[…] auch Hodges noch die Otahitischen Gemälde idealisieret.“ (Herder, „Ideen“, 250, FN). Worin mag aber die von Forster (und Herder) monierte Idealisierung bestehen? Zumindest für die Landschaftsmalerei lässt sich dieser Eindruck bestätigen, die Darstellung der Natur romantisiert: so beim Gemälde eines Wasserfalls, vor dem man in zarter Andeutung einen Regenbogen wahrzunehmen meint.52 Sind Menschen, besonders Frauen, auf den Landschaftsszenen abgebildet, weisen sie antikisierende Züge auf, was sich insbesondere am Faltenwurf im Vordergrund zeigt.53 In Bezug auf Hodges’ Portraits – vor allem der „Natives“ – lässt sich 52 Verifizierung der Gemälde zu den Reisen Cooks über Rüdiger Joppien, Bernard Smith, The Art of Captain Cook’s Voyages, Volume One: The Voyage of the Endeavour 17681771, with a Descriptive Catalogue of all the known original drawings of peoples, places, artefacts and events and the original engravings associated with them, Yale University Press, New Haven/London, 1985. Zu dieser Serie gehören vier Bände. Volume Two: The Voyage of the Resolution and Adventure 1772-1775, with a Descriptive Catalogue of all known original drawings and paintings of peoples, places, artefacts and events and original engravings associated with the Voyage, Yale University Press, New Haven/London, 1985. Volume Three [1]: Text, The Voyage of the Resolution and Discovery 1776-1780, S. 1-233. Volume Three [2]: Catalogue, The Voyage of the Resolution and Discovery 1776-1780. Yale University Press, New Haven/London, 1988, S. 235-669. Vgl. Vol. II, S. 25, Plate 21, William Hodges, [Cascade Cove] Dusky Bay. c. 1775-6. Im Literaturverzeichnis werden Links zu den entsprechenden Abbildungen nach Stichwörtern aufgelistet und bieten somit eine alternative Quelle dar. 53 Joppien, Smith, Voyages, Vol. II, S. 62, Plate 53, William Hodges, A View taken in the Bay of Otaheite Peha [Vaitepiha], c. 1775-6. (Link: Tahiti revisited). Das Buch „The Art of Captain Cook’s Voyages“ nimmt die Darstellungsgepflogenheiten zwischen „[…] the allegoric [...] and the ethnographic convention.“ (Joppien, Smith, Voyages, Vol. I, S. 38), denen die Maler folgten, auf und gibt zahlreiche inter-pikturale Verweise, die nicht durchgängig als Vorbilder, sondern vielmehr als kultureller Hintergrund, in den die Gemälde der Reisen sich einfügen, betrachtet werden sollten. De Brys Gemälde ordnen sich demzufolge etwa in die Tradition anatomischer Darstellungen ein (S. 7). Zur Anverwandlung klassischer Formen vgl. u. a. S. 16-19. Ein romantisiertes (verkitschtes) Motiv bietet folgende Darstellung mit Frau und Kind im Vordergrund (links im Bild), auch hier schuldet sich der Eindruck wesentlich der Draperie: Joppien, Smith, Voyages, Vol. II, S. 63, Plate 54, William Hodges, [The Resolution and Adventure in Matavai Bay, Tahiti], c. 1776. Stark antikisierend verfährt auch diese weibliche Badeszene, zu der ich keinen weiteren Beleg gefunden habe, wobei die Figur rechts vorn sich zu wiederholen scheint. http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hodges_waterfall-tahiti.jpg?uselang=de. Über ihre antike Stilisierung kippt etwa folgende (erhabene) Naturszene fast schon ins
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schon weniger eindeutig angeben, worin ihre Idealisierung besteht.54 Könnte man versucht sein, an den Gesichtsausdrücken des langhaarigen Tahitianers bzw. des tahitischen Königs Emotionen abzulesen – im ersten Falle etwa Stolz, im zweiten unterschwellige Besorgnis – so vermittelt das Bild der Frau von Santa Christina keine eindeutige mimische Botschaft, sondern konzentriert sich eher auf Faltenwurf (auch der Hautoberfläche) und die direkte frontale Darstellung, welche sich ihrem Blick aussetzt, ohne Blick in ihr Inneres zu gewähren. Im Gegensatz dazu wendet sich die Prinzessin von Raitea von ihrem Betrachter ab und ihr besorgter Blick sucht an ihm vorbeizuschauen.55 Eine Ankunftsszene bei Tana auf den Neuen Hebriden, welche die unmittelbar bevorstehende Begegnung mit den Europäern festhält, wird von einer ganz anderen Dynamik als Landschaftsbilder und Portraits getragen, insofern sie keine friedliche Aufnahme andeutet, sondern nervöse Anspannung und Defensive verrät.56 Als Kontrast zu Hodges’ Gemälden erwähnt Herder nun diejenigen, welche auf der letzten (dritten) Reise Cooks entstanden sind, von welchen er selbst jedoch keine Kenntnis zu haben scheint: „die letzte Reise Cooks scheint nach dem Ruhm, den man ihren Gemälden gibt, eine neue höhere Periode anzufangen, [...].“ (Herder, „Ideen“, 250, FN) Im Gegensatz zu Hodges’ Gemälden erlangen diejenigen John Webbers, welcher als Maler diese dritte Reise begleitete, Herder zufolge epochale Bedeutung. Diese Einschätzung wirft natürlich die Frage nach der Differenz zwischen den Gemälden beider Maler auf: nach deren ethnographischem Stil. Auch Webber bildet eine tahitische Prinzessin57 und einen Herrscher namens Kaneena58 ab, und tatMythische (eine Art Götterszene, sie ‚befindet‘ sich allerdings in Neuseeland). Joppien, Smith, Voyages, Vol. II, S. 35, Plate 29, William Hodges, A View of Cape Stephens in Cook’s Straits with Waterspout. c. 1775-6. 54 Langhaariger Mann: Joppien, Smith, Voyages, Vol. II, S. 171, William Hodges, [A Man of Tahiti with long hair], [Aug 1773?], König Otoo: Joppien, Smith, Voyages, Vol. II, S. 60, Plate 51, Wiliam Hodges, Otoo [Tu] King of Otaheite [Tahiti], probably August 1773, Frau von Santa Christina (Tahuata): Joppien, Smith, Voyages, Vol. II, S. 207, Woman of Sta Christina. Engraved by J. Hall after a lost original by Hodges. Cook (1777). 55 Joppien, Smith, Voyages, Vol. II, S. 179, William Hodges, [Tynai-mai], [1773]. Ganz abwesend und vom Beobachter abgewandt, die Darstellung eines Häuptlings der Maori (eben mit den Insignien des Häuptlings, Kriegers, versehen, weniger als Naturmensch wie die Tahitianer): Joppien, Smith, Voyages, Vol. II, S. 193, William Hodges, [Portrait of a Maori Chieftain], [Oct 1773]. 56 Joppien, Smith, Voyages, Vol. II, S. 98, Plate 90, William Hodges, The Landing at Tanna, c. 1775-6. 57 John Webber, Princess of Poedua: Joppien, Smith, Voyages, Vol. III, 1, S. 68, Plate 79, John Webber, A Portrait of Peodua (Poetua, Poedooa), November 1777.
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sächlich fällt der stilisierende Unterschied zu Hodges unmittelbar ins Auge. Wenn im Falle der beiden Herrschergemälde Webbers durchaus antikisierende, teils klassizistische Tendenzen59 wahrzunehmen sind, schuldet sich dieser Eindruck – so wäre zu vermuten – gerade der Majestät der Dargestellten selbst. Im Gegensatz dazu geht die Abbildung einer jungen Frau detailliert naturalisierend vor, wenngleich auch sie kaum auf das togaartige, umwindende Gewand verzichten kann.60 Die Abbildung einer weiteren Frau (Eaoo), ebenso wie die eines (diesmal hawaiianischen Mannes)61, fokussiert auf eine differenzierte Darstellung, welche individuelle Merkmale hervorkehrt. Während die Abbildungen zwar nicht völlig auf Stilisierung verzichten, weisen sie doch einen hohen Grad an Individualität auf, der nicht geradewegs kontinuierliche Charakteristika, etwa eines Stammes, anzeigt. Soweit es sich bis hierhin angeben lässt, neigen stärker bearbeitete Zeichnungen – besonders wenn sie tatsächlich als Gemälde umgesetzt vorliegen – zum Verlust ihrer Individualität (die zum Teil der Detaillierung geschuldet ist) bei zunehmender Stilisierung rahmender Zusätze wie der Bekleidung (vgl. das Bild von Prinzessin und Herrscher). Gruppierungen tendieren dementsprechend zur Entindividualisierung, siehe dazu das Gemälde eines Herrschers inmitten zweier Gefolgsleute.62 Die (physiognomische) Individualität der Figuren wird zugunsten der dargestellten Szene aufgegeben, welche sich etwa auf die Emotionen der Beteiligten einlässt.63 58 Kaneena: Joppien, Smith, Voyages, Vol. III, 2, S. 543, John Webber (after), ‘A Man of the Sandwich Islands, with his Helmet’. 59 Die Prinzessin erinnert in ihrem um die Hüften drapierten Gewand und mit den bloßen Brüsten an (antike) Venusdarstellungen. http://de.wikipedia.org/wiki/Venus_von_Milo, 5.2.18. Boticellis Venus würde eine Variante mit geöffneten Haaren darstellen. Kaneenas Kopfbedeckung ähnelt – selbst wenn sie aus bunten Federn besteht – an Helme (Cassis) der Römer, was Nachahmer inspirierte, dies in ihren Kopien/Adaptionen Webbers auch umso stärker herauszuheben. 60 Young Woman: Joppien, Smith, Voyages, Vol. III, 2, S. 547, John Webber (after), ‘A Young Woman of the Sandwich Islands’. Ähnlich detailliert die Zeichnung eines Mannes mit traditioneller (ritueller?) Bemalung: Joppien, Smith, Voyages, Vol. III, 1, S. 97, Plate 115, John Webber, A Man of Nootka Sound, April 1778. 61 Joppien, Smith, Voyages, Vol. III, 2, S. 328, John Webber (after), ‘A Woman of Eaoo’; Native of Atooi: Joppien, Smith, Voyages, Vol. III, 1, S. 78, Plate 93, John Webber, A Native of Atooi, January 1778. 62 A Chief of the Sandwich Islands: Joppien, Smith, Voyages, Vol. III, 1, S. 129, Plate 154, John Webber, A Chief of the Sandwich Islands leading his party to battle, 1787. 63 Diese Tendenz tritt ganz generell ein, sobald die Darstellung stärker auf ihr szenisches Moment abhebt. Vgl. Joppien, Smith, Voyages, Vol. III, 1, S. 124, Plate 150, John Webber, An Offering before Captain Cook, January 1779. Tanzender: Joppien, Smith, Voyages, Vol. III, 2, S. 533, John Webber (after), ‘A Man of the Sandwich Islands, Dancing’.
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Relativ schlicht und nüchtern, mit besonderem Augenmerk auf die Architektur, präsentieren sich einige Illustrationen aus Niebuhrs Reisen, die ich, da Herder auf sie Bezug nimmt, als kontrastierende Beispiele heranziehen möchte.64 Der von Herder erwähnte Parkinson hingegen bemüht zwar zum Teil antikisierende Anklänge65, widmet sich jedoch vorzugsweise der – wie es scheint – schonungslosen Darstellung mimischer Abweichungen (tendenziell schiefer Gesichter bis hin zu absichtsvoll hervorgebrachten Grimassen)66, die ein Paradigma des Hässlichen entfalten. Bei meiner Deutung ist jedoch insofern Vorsicht geboten, als es sich hier (zum Teil) um Gemeinschaftsproduktionen handelt. Ähnlich detailliert wie die Einzelportraits verfährt wiederum folgende Darstellung eines hawaiianischen Tempels: Joppien, Smith, Voyages, Vol. III, 1, S. 75, Plate 88, John Webber, A ‘Morai’ at Atooi. (Link: s. Heiau at Waimea). 64 Vgl. Herder, Ideen, a. O., S. 250. Carsten Niebuhr, Beschreibung von Arabien. Aus eigenen Beobachtungen und im Lande selbst gesammleten Nachrichten abgefasset von Carsten Niebuhr, Kopenhagen, 1772. Überblick 1: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/niebuhr1772/0001/thumbs?sid=3f421e48a5a8d80b7f774883e179319d#current_pag e; daraus [Tab. 16]: Kriegsübungen der Araber in Yemen. Ders., Carsten Niebuhrs Reisebeschreibung nach Arabien und andern umliegenden Ländern, Bd. 1, Tafel 47, Tafel 63, Tafel 68, Kopenhagen/Hamburg, 1774. Überblick 2: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/niebuhr1774abd1/0019/thumbs?sid=090f04f24bad321121d9871e578cedc3#current _page; daraus: Kloster St. Katharina, Berg Sinai, Kaffeeplantage im Jemen, Haus im Garten-Vorort Bir al-Azab von Sana’a (Jemen), 2..2.18. Vgl. nochmals den Überblick 1 zu: Carsten Niebuhr, Beschreibung von Arabien. Aus eigenen Beobachtungen und im Lande selbst gesammleten Nachrichten abgefasset [...], Tab. 15: Ackerbau der Morgenländer. Hier geht es um eine genaue, technisch nachvollziehbare Darstellung des Ackerbaus, die sogar eine erläuternde Legende erhält. Selbst wenn Niebuhr der Ackerbau teilweise etwas rückschrittlich erscheinen mag, so liefert er dennoch eine relativ detaillierte Beschreibung auf S. 155-157, welche auf die Abbildungen Bezug nimmt. 65 Joppien, Smith, Voyages, Vol. I, S. 22, Plate 20, Engraving by R. B. Godfrey after Parkinson, A Native of Otaheite, in the Dress of his Country. Parkinson (1773). Joppien, Smith, Voyages, Vol. I, S. 114, A Woman & a Boy, Natives of Otaheite, in the Dress of that Country, Engraving by Thomas Chambers after Parkinson (1773). Parkinson begleitete Cook auf seiner ersten Südseereise, vgl. Pross, Herder, Ideen, Kommentar, a. O., S. 396. 66 Natives of Terra del Fuego, vgl. auch pl. XIX, s. FN 67, den Überblick. Joppien, Smith, Voyages, Vol. I, S. 14, Plate 14, Engraving by Thomas Chambers, A Man, Woman & Child, Natives of Terra del Fuego in the Dress of that Country. Parkinson (1773). Joppien, Smith, Voyages, Vol. I, S. 150, A Head of a Native of Otaheite, with the Face curiously tataow’d; And the wry Mouth, or manner of defying their Enemies, as practis’d by the People of that, & the Neighbouring Islands. Engraving after Parkinson by R. B. Godfrey. Parkinson (1773).
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Über diesen Eindruck hinausgehend versammelt Parkinson allerdings generell Abweichungen, Varianten, ohne dass diese Zusammenstellungen zwingend unter ästhetischen Vorzeichen zu lesen sind.67 Das Nebeneinander verschiedener Portraits einiger „Natives“ im Tableau nähert sich Zimmermanns „zoologische[r]“ Karte allenfalls über eingeschaltete (imaginäre) Zwischenstufen an. Was Herder als Zukunftsprojekt in Aussicht stellt, „[…] eine anthropologische Charte der Erde, wie Zimmermann eine zoologische versucht hat“, realisiert Zimmermanns „Geographische Geschichte des Menschen und der allgemein verbreiteten vierfüßigen Thiere, mit einer hiezu gehörigen Zoologischen Weltcharte“ zum Teil bereits selbst. „Ich habe hier zugleich die Hauptverschiedenheiten des Menschengeschlechts beygebracht, doch blos in Rücksicht der Größe und der Farbe. Auf die übrigen Abweichungen der Menschen unter einander, konnte und wollte ich mich für diesmal nicht einlassen, ob ich gleich in kurzen von allem hieher gehörigen, seit mehrern Jahren gesammelten Bemerkungen, einen ähnlichen Gebrauch zu machen gedenke.“68
Dabei treten für ein begrenztes Ensemble von sieben (Haut-)Farben und fünf (Körper-)Größen jeweils Symbole ein, die dazu dienen, eine bestimmte Gruppe des Menschengeschlechts über eine simple, zweifach codierte Taxonomie auf der
67 Genau hier stellt sich die Frage, ob es Tafeln dieser Art sein könnten, welche Herder als „anthropologische Charte“ (Herder, Ideen, in: FHA 6, S. 250) vorschwebten: Joppien, Smith, Voyages, Vol. I, S. 156, Heads of divers Natives of the Islands of Otaheite, Huaheine, & Oheiteroah. Engraving by Thomas Chambers after Parkinson. Parkinson (1773). Vgl. auch, verschiedene Gesichter als auch Perspektiven aufweisend, da es um den Kopfschmuck geht: http://southseas.nla.gov.au/journals/parkinson/158.html (pl. XXIII), pl. XXVI, die Zusammenstellung von (Alltags-)Gegenständen funktioniert ähnlich. Joppien, Smith, Voyages, Vol. I, S. 198, The Heads of Six Men, Natives of New Zealand, ornamented according to the Mode of that Country. Engraving by T. Chambers after Parkinson. Parkinson (1773). Eine übergreifende Zusammenstellung von Parkinsons Illustrationen gibt: http://southseas.nla.gov.au/journals/parkinson/plates.html, 2.2.18. Zu Plate XVI: vgl. Joppien, Smith, Voyages, Vol. I, S. 34f., Plate 34, Plate 35, Sydney Parkinson, Portrait of a New Zeland Man, c. 1770. Siehe zu Plate XIII: Joppien, Smith, Voyages, Vol. I, S. 162, Various Instruments, & Utensils, of the Natives of Otaheite, & the adjacent islands. Engraving by W. Darling after S. H. Grimm. Parkinson (1773). 68 Herder, Ideen, a. O., S. 250. Eberhard August Wilhelm Zimmermann, Kurze Erläuterung der zoologischen Weltcharte. Ein Anhang zu E. A. W. Zimmermanns Geographische Geschichte des Menschen und der allgemein verbreiteten vierfüßigen Thiere, Leipzig, 1783, S. 4.
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„Charte“ zu verzeichnen.69 Zimmermanns „Erläuterung“ zufolge fügen sich die symbolisierten „Hauptverschiedenheiten des Menschengeschlechts“ auf der durchgeführten „Zoologischen Weltcharte“ neben „Thiernamen“ bzw. deren „Abkürzungen“ ein, welche die „Erläuterung“ tabellarisch aufschlüsselt.70 Dass in der Überschau nicht mehr zu sehen ist als eine Ansammlung und flächige Verteilung von Abkürzungen und Symbolen, die Gemälde zugunsten eines Systems von Abkürzungen, die als Schraffur kenntlich werden, zurücktreten, schuldet sich der angestrebten Darstellung: der gleichzeitigen Erweiterung und Reduktion des (durch Parkinson umgesetzten) Tableaus zur Karte bei Zimmermann. Auf einer – nicht realisierten, aber von Herder als wünschenswertes Projekt anvisierten – humanen Amplifikation der Karte würden „Abweichungen“ und „Bemerkungen“, vermutlich unter Auslassung der vierfüßigen Thiere, womöglich ihren Platz finden.71 Durch die Schraffur erzeugt sich der Eindruck einer physischen Weltkarte, die streckenweise weiße Flecken aufweist. Tatsächlich schrumpft der Maßstab der (klassifikatorischen lateinischen, aber auch durch Zahlenreihen umgesetzten) Abkürzungen in den ausgiebig erforschten Gebieten, sodass sie sich schwer lesbar dicht nebeneinander drängen, während die zoologische Terra incognita Lücken lässt, die nachträgliche Einträge erlauben. Die klimatisch relevanten Besiedlungslinien schreiben die Tiernamen in der Regel aus, damit sie sich besser verfolgen lassen.72 69 Zimmermann, Kurze Erläuterung, a. O., S. 7. Auf Seite fünf führt Zimmermann Besiedlungs- und Begrenzungslinien der Tiere zur Nutzung „statt eines vergleichenden Thermometers“ ein, um die Klimazonen auf der Erde in Relation zu setzen. Nicht das Klima erlaubt hier Rückschlüsse auf die Tierwelt, sondern die Tierwelt tritt als Index des Klimas ein und erübrigt damit ein weiteres Messungs- bzw. Aufzeichnungssystem. Zu Zimmermanns Programm vgl. ferner die Vorrede zu: Eberhard August Wilhelm Zimmermann, Geographische Geschichte des Menschen, und der allgemein verbreiteten vierfüßigen Thiere, nebst einer hieher gehörigen Zoologischen Weltcharte, Bd. 1, Leipzig, 1778, Vorrede, S. 2f. (unpag.): „von der wahrscheinlichsten Originalfigur des Menschen, von seinem ältesten Vaterlande, von seiner ältesten Verbreitung“. 70 Zimmermann, Kurze Erläuterung, a. O, S. 3f., „Thiernamen“, S. 8-32, deren Klassifikation und „Abkürzungen“, S. 7, menschliche Symbolzuschreibung. 71 Die Karte findet sich in: Eberhard August Wilhelm Zimmermann, Geographische Geschichte des Menschen, und der allgemein verbreiteten vierfüßigen Thiere, mit einer hiezu gehörigen Zoologischen Weltcharte, Bd. 3, Leipzig, 1783. 72 Zimmermanns „Tabula Mundi Geographico Zoologica sistens Quadrupedes hucusque notus sedibus suis adscriptos“ liegt mir digitalisiert vor, die Auflösung der über das Internet (Göttinger Digitalisierungszentrum) verfügbaren Karten lässt vom Eintragungssystem tatsächlich wenig mehr als die Schraffur erkennen. In der Tat scheint jemand (im mir verfügbaren Exemplar) die weißen Flecken der afrikanischen Wüsten dazu genutzt zu haben, neu aufgefundene Tierarten nachzutragen.
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Liefern nun die verstreut zu findenden materialen Abbildungen in den Werken anderer Herder (erst) eine vorläufige Propädeutik, deren Zielsetzung unvollkommen bleiben muss? Weshalb bewegt sich Herders Metaphorik dann weiterhin im Feld der Malerei, sodass das „[…] bisher entworfene Gemälde der Nationen […]“ zum „[…] Vorgrund [...], über welchem wir einige Bemerkungen weiter auszeichnen“ (Herder, „Ideen“, 251) geschmälert wird? Unterteilt ist das Gemälde wiederum in „Gruppen“, die unter Anleihen bei der Gedächtnistheorie in einer mythischen Wendung zum indexikalischen „Hülfsmittel“73 erklärt werden. Ob es sich bei diesen Gruppen um geographisch bestimmte Nationen, narrativ angenäherte Völker oder Anordnungen möglicher ethnographischer Darstellungen (Gemälde) handelt, lässt sich nicht mehr ohne Weiteres bestimmen, insofern an dieser Stelle des Textes die Unterscheidung zwischen materialem oder metaphorischem Gemälde ins Leere läuft. Die Gemäldemetapher sprengt sich mit Blick auf den Nationenbegriff möglicherweise selbst auf, insofern das Gemälde hier „unendliche Schattierungen“ aufweisen muss, deren Komplexität sich allenfalls über Perspektivierung reduziert (d. h. aufspaltet). „Das Gemälde der Nationen hat hier unendliche Schattierungen, die mit den Räumen und Zeiten wechseln; es kommt also auch bei ihm, wie bei jedem Gemälde, auf den Standpunkt an, in dem man die Gestalten wahrnimmt.“ („Ideen“, 340) Für diese durch fokussierende Wechsel strukturierte Darstellung wäre demnach weiterhin eine Vermittlung über Gatterers Planiglobien denkbar. Unendlichkeit wäre recht unproblematisch durch heraushebende (hineinzoomende) Perspektive aufzulösen. Wiesen schon die Versammlungen von Abweichungen bei Parkinson eine hohe Bandbreite der Tableaus auf, die jedoch intrinsisch – für dieses Tableau – wesentlich eintritt, damit an ihrer Zusammenschau etwas abzulesen ist, so empfiehlt sich die Gemäldemetapher für klimatische Zusammenhänge, die ihrerseits in recht variable Einzelfaktoren zu gliedern wären.
73 Herder, Ideen, a. O., S. 251, „so wie auch die Gruppen desselben nichts sein wollen, als was die templa des Augurs am Himmel waren, bezirkte Räume für unsern Blick, Hülfsmittel für unser Gedächtnis.“ Mit dem „Augur[ ]“ verweist der Text allerdings auf eine prophetische Praxis, (lückenhafte) Zeichen zu lesen. Zeichen und Ziel des Wissens werden hier meines Erachtens keineswegs als Kontinuum gedacht. Die Gruppen befänden sich innerhalb (unterhalb) des „Gemälde[s] der Nationen“, wären eine Binnenunterscheidung, die nicht völlig in den Nationen aufgeht, sondern sie gehören womöglich zur Darstellungspraxis des Gemäldes. Seitenangaben zu den „Ideen“ weiter im Fließtext in Klammern.
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„Endlich die Höhe oder Tiefe eines Erdstrichs, die Beschaffenheit desselben und seiner Produkte, die Speisen und Getränke, die der Mensch genießt, die Lebensweise, der er folgt, die Arbeit, die er verrichtet, Kleidung, gewohnte Stellungen sogar, Vergnügen und Künste, nebst einem Heer andrer Umstände, die in ihrer lebendigen Verbindung viel wirken; alle sie gehören zum Gemälde des vielverändernden Klima.“ (Herder, „Ideen“, 266)
Bereits zuvor, im Nachdenken über die Wirkung der Winde, bringt Herder den Begriff der „[…] Klimatologie aller menschlichen Denk- und Empfindungskräfte […]“ (266) ein, deren mögliche Faktoren folgen. Dieser positiv gefassten „Klimatologie“ wird die „physiologisch-pathologische“ (266) als unvollständige, gleichsam sklerotische Form vorangestellt. „Denk- und Empfindungskräfte“ gerieren sich Herders Anthropologie entsprechend synästhetisch „in ihrer lebendigen Verbindung“ (266), die sich im „Gemälde des vielverändernden Klima“ niederschlagen muss. Das Gemälde tritt also als Metapher lebendiger Darstellung ein, für die eine Verzeichnung rein physiologischer Merkmale (wie etwa Schädelformationen) nicht ausreicht. Dennoch wäre just im klimatischen Gemälde denkbar, verschiedene Faktoren tableauartig nebeneinander zu stellen (Portraits, Speisezubereitung, Arbeitsund Haushaltsgerät, Tiere, Pflanzen, Behausung etc.), um Erfordernisse oder Auswirkungen des Klimas zu versammeln (wobei es sich nach wie vor um ein begrenztes, zufälliges und nicht maßstabsgetreues Konvolut handelt). Abermals ist nicht eindeutig, ob das Gemälde in seinem metaphorischen Gebrauch aufgeht oder sich auf die zuvor anzitierten, real vorliegenden Darstellungsvarianten bezieht. Herders spezifische Auffassung von „Klimatologie“ reizt den Darstellungshorizont des klimatischen Gemäldes zusätzlich aus, insofern sie zwar sichtbare Wirkungen, aber dennoch schwer ergründbare Wirkungsmechanismen aufgreift. Was zu sehen ist, kann auf ganz heterogene klimatische Bedingungen zurückgeführt werden (vgl. den Wind auf 266). So findet das Klima kulturelle Niederschläge, die sich gleichfalls mit der Gemäldemetapher umschreiben lassen. Fatalismus gehört nicht zu den Merkmalen von Herders „Klimatologie“: „das Klima zwinget nicht, sondern es neiget: es gibt die unmerkliche Disposition, die man bei eingewurzelten Völkern im ganzen Gemälde der Sitten und Lebensweise zwar bemerken, aber sehr schwer, insonderheit abgetrennt, zeichnen kann.“ (270) Das lebendige klimatische Gemälde weist Schnittmengen mit dem „Gemälde der Sitten und Lebensweise“ auf, scheint mit ihm zu konvergieren. An der ausgeführten Darstellung bzw. am metaphorischen Gemälde (als mannigfaltiger, ganzheitlicher Wahrnehmung) lasse sich „die unmerkliche Disposition“ unmittelbar „bemerken“, jedoch „sehr schwer, insonderheit abgetrennt, zeichnen“. Distinktion tritt hier ausdrücklich als Problem der Darstellung (weniger der Wahrnehmung) auf, das Eintragen oder gar Herausheben (Absondern) einzelner Züge (ihre Zeichnung) unternimmt eine anspruchsvolle künstlerische Operation, die an das Verfahren der Planiglobien erinnert.
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Als kultureller Zusammenhang lässt sich das „Gemälde der Sitten und Lebensweise“ schwierig in seine Einzelheiten zerlegen, es büßt damit seine Lebendigkeit ein. Jedoch nicht allein „bei eingewurzelten Völkern“ bietet die „Klimatologie“ ein Gemälde dar. Ausgerechnet das klimatische Gemälde sticht durch eine ihm innewohnende Dynamik hervor, es nötigt zur Bewegung im Raum, dazu, „[…] ohne Vorurteile und Übertreibungen für den Geist des Klima [zu] reise[n].“ (270) Seine Dynamik verdichtet sich „[…] nicht auf Zeitpunkte sondern herrscht in Zeiträumen“, insofern „die lebendigen Kräfte“ „[…] jedes Klima [...] schon durch ihr Dasein [...] mannigfalt modifizieren und ändern“ (270), also Rückwirkungen auf das Klima statthaben. Wenn die Gemäldemetapher im Falle des Klimas für dynamische, d. h. reziproke Prozesse innerhalb von Natur- sowie Kulturordnungen einsteht, das Gemälde dezidiert als lebendiges Medium ausgestellt wird, so reiht sich die Metaphorik graduell wiederum in die Statik kartographisch fassbarer Nationenabfolgen ein. „Weiter hinab müssen wir uns begnügen, in der Negergestalt und Farbe wenigstens nichts widersprechendes gegen diese [asiatische, K. K.] Abkunft, vielmehr ein fortgehendes Gemälde klimatischer Nationalbildungen zu finden, [...].“ (390) Das Gemälde tritt an dieser Stelle als Metapher des Übergangs ein, die Differenz eigentlich zu verschleiern sucht, indem sie ein – wenn auch schwaches („nichts gegen diese“) – Kontinuum behauptet. So kondensiert ethnographische Absicherung in der Unmittelbarkeitsbehauptung des „Anblick[s]“. „Ein gleiches ists mit dem späterbevölkerten Amerika, dessen Bepflanzung aus dem östlichen Asien schon der einförmige Anblick der Völker wahrscheinlich machte.“ (390) „Anblick“ und der Pflanzenwelt entlehnte Metaphorik („Bepflanzung“) bringen das wandernde Gemälde erneut zum Stillstand. Die „Bepflanzung“ ließe sich dem Gliederungsvorschlag Zimmermanns vergleichen, demzufolge zoologische Besiedlungslinien als Indices des Klimas eintreten sollen, die sich bequem eintragen und auf einen Blick erfassen lassen.74 Eine weitere Gemäldevariante, welche die „Ideen“ lancieren, trägt eher unvermutet das „systematische[ ] Gemälde“ (413) an, von dem im Falle von Moses’ „Naturgeschichte“ die Rede ist. Dessen Rationalisierung des Schöpfungsmythos als die asiatische Vorgeschichte tilgendes Narrativ (vgl. mein Kap. „Doppelter Kursus der ‚Ideen‘“) wird als gewebtes Gemälde eingeführt, als „Naturgemälde“ (407), in dem einzelne Faktoren Akteuren vergleichbar auftreten. „Sonne und Gestirne treten also in diesem Naturgemälde auf, sobald sie auftreten können“; d. h. sobald die physikalischen Kriterien dazu erfüllt sind. Die „Naturgeschichte“ wird quasi als Zeugin („bezeuget“) des sie verkürzenden, rationalisierenden Schöpfungsberichts aufgerufen (vgl. 407). Züge zu entwerfen, zu zeichnen, zu weben, stellt – vom „Gemälde 74 Zimmermann, Kurze Erläuterung, a. O., S. 4f. Seitenangaben zu Herders „Ideen“ weiter im Fließtext in Klammern.
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der Sitten und Lebensweise“ abweichend – beim Naturgemälde kein Dilemma dar. „Doch ehe wir vor diese Krone [der Schöpfung, K. K.] treten, lasset uns noch einige Meisterzüge betrachten, die der alte Naturweise in sein Gemälde webte.“ (407) Kein „fortgehendes“, Klima und Nation miteinander verschränkendes (390), sondern ein „ineinanderbegreifendes, systematisches Gemälde“ (413) liegt hier vor. Resultiert nun das abgewandelte, „ineinanderbegreifende[ ]“ Gemälde aus dem differenten Verfahren des Webens, durch das sich dessen „Meisterzüge“ fließender einfügen als mit Stichel oder Feder? Als technische Umschreibung des Verwebens nicht nur in horizontaler Durchschiffung, sondern auch vertikaler Richtung – das Ineinanderbegreifen gibt das Verfahren am Rande des Gewebes an, das ein Ineinandergreifen (eigentlich aneinander vorbeilaufender) einzelner Schlaufen umkehrt und die Festigkeit des Gewebes über vertikale Streben gewährleistet – verleiht das Ineinanderbegreifen dem Gemälde plastische, dreidimensionale Struktur, die keinem bloß optischen Spiel von Farben oder Schattierung zu verdanken ist, sondern sich förmlich ohne Untergrund selbsttätig einstellt. Hier wird nichts aufgebracht, eingezeichnet, sondern der Grund hebt sich samt seinem Auftrag ab – sofern man das löchrige Gitternetz nicht schon als Grund auslegt –, das gewebte Gemälde geriert sich aus sich selbst. Nicht ohne Grund löst die Gebäudemetaphorik die des gewebten Gemäldes ab – auch hier dient eine Art (vertikales) Gitternetz als Gerüst. Ausgerechnet das künstliche „Gebäude“ avanciert nicht zur Ausgeburt an Rationalität, sondern wird der „Natur selbst“ zugeordnet. „Dieser Naturweise hat das Chaos überwunden und stellt uns ein Gebäude dar, das in seiner Einfalt und Verbindung der Ordnungsreichen Natur selbst nachahmet.“ (411) Metaphorische Übergänge verlaufen bei Herder nicht lückenlos und sind daher nicht durchgängig, frei von Brüchen, zu interpretieren. Dennoch ergibt sich die Frage, inwiefern die Webtechnik das „systematische[ ], ineinanderbegreifende[ ] Gemälde“ gegenüber Varianten des mehr oder minder lebendigen Gemäldes auszeichnet und welche Gemäldeversion generell bevorzugt wird. Der mögliche Wechsel zur Gebäudemetaphorik schiebt dem Verweben eine statische Komponente unter. Aber das gewebte Gemälde wird nicht allein durch die Gebäudemetaphorik abgewandelt bzw. rational gestützt, sondern geht in die Parallelexistenz eines „Symbols“ über, als das die Gesamterzählung gefasst wird. Was exakt als Symbol eintritt – ob das „Gemälde“, das „Rad der Schöpfung“ oder „Sonne und Gestirne“ – und wofür das Symbol letztlich einsteht – für die Schöpfung selbst, deren rationale Verknappung oder deren Übergängigkeit –, drückt die Passage nicht eindeutig aus. Selbst „Sonne und Gestirne“ fungieren nur als „Mittelpunkt seines Symbols“ (Zitate: „Ideen“, 407), übernehmen nicht die Symbolfunktion selbst, sondern erfüllen nur dessen Teilbereich. „Mittelpunkt“ als räumliche (metaphorische) Variante von Herzstück zu deuten, halte ich für nicht plausibel. „Sonne und Gestirne“ geben buchstäblich einen räumlichen Mittelpunkt an, dessen Umgebung etwa als vollständiges, terrestrisch ausgerichtetes Planetensystem fassbar wäre, das Symbol jedoch
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semantisch nicht ausfüllt. Es bleibt referenzlos, in seinem Rahmen wird nur beschrieben, was als Persistenz der Übergänge zu fassen wäre.75 Wenn im Umfeld eines statischen – oder zunehmend stillgestellten – Gemäldes vom Symbol gehandelt wird, drängt sich die Erkundung der Verbindung von Allegorie und lebendigem Gemälde auf, der näher zu folgen sein wird. Gemälde und Gewebe treffen innerhalb eines den „Ideen“ inserierten sprachphilosophischen Diskurses metaphorisch (und metapoetisch) ein weiteres Mal aufeinander. In diesem Rahmen ergründet die folgende Passage, ob das Gemälde eigentlich als emphatischer Gegensatz sprachlicher Vermittlung oder uneigentlich als Metapher (möglichst) dichter lebendiger Beschreibung eintritt. Selbst wenn das Gemälde unmetaphorisch als Kontrastpol sprachlicher Deskription aufgebaut wird, geschieht das innerhalb der „Ideen“ zweifellos sprachlich. Verweise auf außerhalb des Textes oder innerhalb anderer Texte befindliche (ggf. in Supplemente ausgelagerte) Gemälde werden freilich nur formuliert, nicht bildlich in den Text selbst eingebracht. Diese Diskrepanz hingegen, der Verweis auf ein weitreichendes Außerhalb des Textes, das selbst nicht textuell ist, markiert ein entschlossenes Beharren auf dem Potential nicht-sprachlicher Mitteilung, dem der metaphorische Gebrauch des Gemäldes an die Seite gestellt wird. Mehr oder weniger explizit knüpfen die sprachphilosophischen Reflexionen an die ut pictura poiesis-Debatte an, in der die schwebende Differenz beider Gemälde zur Chiffre des gegenseitigen Übergangs sowie seiner Grenzen wird. Widmet sich der Text also dem „Rätsel“ der Sprache, löst er es mit sowohl kommunikativer als auch humanistischer Emphase76 auf. Abwei-
75 Der Text wirkt an dieser Stelle erstaunlich wirr und lädt – anders als bei Herder üblich – kaum zum Zitieren ein: „Doch ehe wir vor diese Krone treten, lasset uns noch einige Meisterzüge betrachten, die der alte Naturweise in sein Gemälde webte. Zuerst. Die Sonne und die Gestirne bringet er nicht als Wirkerinnen in sein ausarbeitendes Rad der Schöpfung. Er macht sie zum Mittelpunkt seines Symbols: denn allerdings erhalten sie unsre Erde und alle organische Geburten derselben im Lauf und sind also wie er sagt, Könige der Zeiten; organische Kräfte selbst aber geben sie nicht und leuchten als solche nicht hernieder. Noch jetzt scheint die Sonne, wie sie im Anfange der Schöpfung schien; sie erweckt und organisiert aber keine neuen Geschlechter: denn auch aus der Fäulnis würde die Wärme nicht das kleinste Lebendige entwickeln, wenn die Kraft seiner Schöpfung nicht schon zum nächsten Übergange daselbst bereit läge.“ Herder, Ideen, a. O., S. 407. 76 „Nur die Sprache hat den Menschen menschlich gemacht, indem sie die ungeheure Flut seiner Affekten in Dämme einschloß [...].“ A. O., S. 348, „die Sprache hat es getan, sie, die große Gesellerin der Menschen.“ Ebd. Seitenzahlen zu den „Ideen“ weiter in Klammern im Fließtext.
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chend grenzt er sprachliche Möglichkeiten skeptisch ein – und hier kommt erneut das „Gewebe“ ins Spiel (348). „Wenn uns jemand ein Rätsel vorlegte, wie Bilder des Auges und alle Empfindungen unsrer verschiedensten Sinne nicht nur in Töne gefaßt sondern auch diesen Tönen mit inwohnender Kraft so mitgeteilt werden sollen, daß sie Gedanken ausdrücken und Gedanken erregen; ohne Zweifel hielte man dies Problem für den Einfall eines Wahnsinnigen, der höchst ungleiche Dinge einander substituierend, die Farbe zum Ton, den Ton zum Gedanken, den Gedanken zum malenden Schall zu machen gedächte. Die Gottheit hat das Problem tätig aufgelöset. Ein Hauch unsres Mundes wird das Gemälde der Welt, der Typus unsrer Gedanken und Gefühle in des andern Seele.“ (346)
Was das Zitat als „Einfall eines Wahnsinnigen“ aburteilt, führt Herder in seiner Schrift „Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele“ vielmehr als Modell sinnlich-epistemischer Weiterbildung vor, wenn es heißt: „Das Gesicht borgt vom Gefühl, und glaubt zu sehen, was es nur fühlte. Gesicht und Gehör entziffern einander wechselseitig: der Geruch scheinet der Geist des Geschmacks, oder ist ihm wenigstens ein naher Bruder.“77 Zwar führt der Text den „Gedanken“ nicht als weiteres Medium (oder als Ausgangspunkt) der Übersetzungsprozesse (des wechselseitig Entzifferns) auf, generell diskutiert er das Rätsel des Transfers zwischen innen und außen sehr ausführlich. Gerade in Bezug auf die künstlerische Darstellung betont er die qualitative Differenz diverser Medien – „[a]uch kann der Gegenstand für tausend andre Sinnen in tausend andern Medien ganz etwas anders, vollends in sich selbst ein Abgrund sein“ –, die denselben Gegenstand oder Gedankeninhalt völlig abweichend umsetzen müssen: „Dem Einen Dichter ist seine Muse Gesicht, Bild, dem andern Stimme, dem dritten Handlung: Ein Prophet ward durch Saitenspiel geweckt, der andre durch Gesichte: keine zween Maler und Dichter haben Einen Gegenstand, wenn auch nur Ein Gleichnis, gleich gesehen, gefaßt, geschildert.“78 Was der epistemisch programmatische Text (noch) als (komplexen) Sachverhalt entfaltet, um spielerisch mit der (womöglich allein künstlerisch zu bewältigenden) wechselseitigen Überführung zu experimentieren, stellen die „Ideen“ polemisch als unüberwindbares Problem aus, das göttlicher Beihilfe bedarf. „Ein Hauch unsres Mundes wird das Gemälde der Welt“ („Ideen“, 346): Mit dieser poetischen Fassung findet eine mehrstufige Vermittlung statt, die vom rein physischen Hauch zum physikalischen Ton der schließlich syntaktisch-semantisch strukturierten Sprache erfolgt, welche die Welt als Gemälde konturiert. Ausdrücklich bahnt die Sprache keinen direkten Zugang zur Welt, wird nicht zu ihr, sondern das Gemälde schiebt sich 77 Herder, Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele, a. O., S. 349. 78 Zitate: a. O., S. 348f., vgl. das Kapitel „Über die Sprache der Theorie“. Seitenzahlen zu den „Ideen“ weiter in Klammern im Fließtext.
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zwischen sie und Welt (oder anders: die Sprache schiebt das Gemälde zwischen sich und Welt). Um welcherlei Gemälde, die zugleich trennende sowie konjunktive Wirksamkeit entfalten, handelt es sich hier? Was kann es bedeuten, wenn das Gemälde ausweitend als „[…] Typus unsrer Gedanken und Gefühle in des andern Seele“ (346) gefasst wird? Die Pluralisierung von Gedanken und Gefühlen in die je andere Seele verweist auf individuelle Vervielfältigung des Gemäldes durch die kommunikative Situation. Jeder kommunikative Akt vermittelt ein jeweils anderes Gemälde. Durch die Doppelung von Originalität und Mustergültigkeit tritt der „Typus“ als Begriff des Exemplarischen ein.79 6.5 Sprache Argumentativ breitet die Passage im Folgenden die kulturelle Funktion und Unentbehrlichkeit der Sprache aus, von der indes noch nicht explizit die Rede ist: nur von ihren magischen Vorstufen „Otem“ und „Zauberton“ („Ideen“, 346). Als „Zauberton“ initiiert und entfaltet der „göttliche Otem“ historische Tradierung, welche sich gegenüber der Barbarei erhebt („denn alle liefen wir noch in Wäldern umher“, 346). Trotz fehlender menschlicher Einsicht in die Mechanismen der Sprachwerdung (des Verkehrs nicht nur zwischen innerer Emotion und Ausdruck, sondern auch im Austausch verschiedener Medien) kann deren Funktionalität nicht verleugnet werden. „Daß alle Affekten, insonderheit Schmerz und Freude Töne werden, daß was unser Ohr hört, auch die Zunge reget, daß Bilder und Empfindungen geistige Merkmale, daß diese Merkmale bedeutende, ja bewegende Sprache sein können – das Alles ist ein Concent so vieler Anlagen, ein freiwilliger Bund gleichsam, den der Schöpfer [...] zusammenfügte.“ (347)
Im Gegensatz zur Sprachursprungsschrift heben die „Ideen“ bei dieser Gelegenheit die göttliche Provenienz80 der Sprache hervor, obgleich sie in ihren gesellschaftlichen Funktionsrahmen eingebettet wird. Ohne Sprache erfolgt keine (die Erkenntniskräfte einübende) Kultivierung, „wie die Beispiele der Menschen, die unter die Tiere gerieten, zeigen.“81 Kein anderes Zeichensystem ist in der Lage, Sprache zu 79 Jacob u. Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Leipzig, 1854-1961, Bd. 22, Sp. 1962. Schon im 18. Jahrhundert umfasst der Begriff eine naturwissenschaftliche sowie ästhetische Komponente. Vgl. 1a) zu „Göthe“, der proteische und als Klassifizierungsbegriff daher schwer fassbare „typus“, vgl. zusätzlich das Wieland-Zitat, wo der biologische Typus „mensch“ zum ästhetischen Vorbild („zum typen aller schönen formen […]“) avanciert. Seitenzahlen zu den „Ideen“ weiter in Klammern im Fließtext. 80 Herder, Ursprung der Sprache, in: FHA 1, S. 695-810, S. 704. 81 Herder, Ideen, a. O., S. 347. Konträr dazu vgl. Herders Sprachursprungsschrift „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ (1772), gleich ihren Einleitungssatz nach Wieder-
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ersetzen. Nicht zum ersten Mal bemüht Herder diesbezüglich ein ‚pathologisches‘ Beispiel: „Die Taub- und Stummgebornen, ob sie gleich Jahre lang in einer Welt von Gebehrden und andern Ideenzeichen lebten, betrugen sich dennoch nur wie Kinder oder wie menschliche Tiere. Nach der Analogie dessen was sie sahen und nicht verstanden, handelten sie; einer eigentlichen Vernunftverbindung waren sie durch allen Reichtum des Gesichts nicht fähig worden.“ („Ideen“, 347)
Anders als beim Heranziehen ethnographischer Zeugnisse stützt kein Verweis die empirische Behauptung, der andernorts zum Teil erbracht wird. Unter der Maßgabe, Sprache nicht allein als gesellschafts-, sondern vorwiegend als vernunftbildendes Vermögen auszustellen, gerät das saubere Argumentieren ins Hintertreffen. Bemerkenswert bleibt Herders Interpretation der Abhängigkeit von Sprache und Vernunft dennoch, insofern er festhält, dass es keine Vernunft ohne Sprache geben kann. „Ein Volk hat keine Idee, zu der es kein Wort hat: die lebhafteste Anschauung bleibt dunkles Gefühl, bis die Seele ein Merkmal findet und es durchs Wort dem Gedächtnis, der Rückerinnerung, dem Verstande, ja endlich dem Verstande der Menschen, der Tradition einverleibet: eine reine Vernunft ohne Sprache ist auf Erden ein utopisches Land.“82 (347)
holung der Fragestellung: „Schon als Tier, hat der Mensch Sprache.“ Herder, Ursprung der Sprache, a. O., S. 697. Zwar geht es noch um rein affektive Laute, die sich selbst ganz ohne Gesellschaft bzw. unter animalischer Gesellschaft ausbilden. In die Sprachfähigkeit „Blinder und Stummer“ legt diese frühere Schrift zudem größeres Zutrauen. Ihr sprachliches Substitut kann sich zumindest gleichwertig zur gesprochenen Sprache ausbilden, während die „Taub- und Stummgebornen“ der „Ideen“ gewissermaßen sprachlos bleiben müssen. Allerdings kommen frühe und spätere Schrift darin überein, dass Taubheit grundsätzlich den Weg zur Sprache verstellt. „Der Mensch ist also als ein horchendes, merkendes Geschöpf zur Sprache natürlich gebildet, und selbst ein Blinder und Stummer, siehet man, mußte Sprache erfinden, wenn er nur nicht fühllos und taub ist. Setzet ihn gemächlich und behaglich auf eine einsame Insel: die Natur wird sich ihm durchs Ohr offenbaren: tausend Geschöpfe, die er nicht sehen kann, werden doch mit ihm zu sprechen scheinen, und bliebe auch ewig sein Mund und sein Auge verschlossen, seine Seele bleibt nicht ganz ohne Sprache. Wenn die Blätter des Baumes, dem armen Einsamen Kühlung herabrauschen, wenn [...], Dringnis gnug, ohne Augen und Zunge in seiner Seele sie zu nennen. Der Baum wird der Rauscher, [...] – Da liegt ein kleines Wörterbuch fertig, und wartet auf das Gepräge der Sprachorgane.“ A. O., S. 735. 82 Herder, Ideen, a. O., S. 347. Dies lässt sich freilich gegen Kant gerichtet verstehen.
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Damit formiert sich ein weiterer Gegensatz oder zumindest eine Akzentverschiebung zur Sprachursprungsschrift. Zwar kehrt diese einen natürlichen Sprachfindungsprozess heraus, der sich in Konfrontation mit den Menschen umgebenden Tönen ergibt.83 Auf den Wiedereintritt der Vernunft im Gewande der „Besonnenheit“ kann sie trotzdem nicht restlos verzichten. Während die „[…] Besonnenheit (Reflexion) zum erstenmal frei würkend“84 die Sprache erfindet, wie die frühe Schrift betont, umschreiben die „Ideen“ eine operationale Merkmalsfindung, die durch die vielgestaltige Seele erfolgt (s. a. die Schrift zum Erkennen und Empfinden). In der Sprachursprungsschrift gerinnt der Schall zum Merkmal des Wahrgenommenen, artikulierte Sprache bedarf hingegen der Einschaltung der Besinnung.85 Selbst wenn beide Verfahren über das Finden und Nutzen von Merkmalen vonstatten gehen, so entsteht die Vernunft im Aufsatz zum Erkennen und Empfinden erst gleichursprünglich mit der Sprache, in der Frühschrift zur Sprache scheint mindestens ihre Schwundstufe (Vorform) erforderlich. Dort negiert Herder sowohl den tierischen (sofern in der Tierwelt die bloße Nachahmung von „Schällen“ noch keine Sprache erweckt)86 als auch den göttlichen Ursprung der Sprache, um sie als genuin menschliches Vermögen herauszustellen. In den „Ideen“ birgt der göttliche Ursprung kein explosives Potential mehr, sondern wird von Herder selbst in Anspruch genommen. Daher ist dessen Auseinandersetzung mit Süßmilch von Interesse, der als „Gegner“ zum Fürsprecher in eigener Sache wird: „und sein Haupteinwurf, bloß etwas richtiger erkläret, wird Einwurf gegen ihn selbst und Beweis von seinem Gegenteile der Menschenmöglichkeit der Sprache. Er will bewiesen haben ‚daß der Gebrauch der Sprache zum Gebrauch der Vernunft notwendig sei!‘ [...].“87 Damit beweise er Herder zufolge allein, dass beide dem Menschen gleich natürlich sind. Süßmilch bestärke die Annahme, dass „[...] feine verflochtne Handlungen, als Aufmerksamkeit,
83 Als Onamatopoetik der (unartikulierten!) Seele („seine Seele hat gleichsam in ihrem Inwendigen geblöckt“). Herder, Ursprung der Sprache, a. O., S. 723f. „Das Schaf kommt wieder. Weiß, sanft, wollicht – sie sieht, tastet, besinnet sich, sucht Merkmal – es blöckt, und nun erkennet sies wieder! ‚Ha! du bist das Blöckende!‘ fühlt sie innerlich, [...]. ‚Der Schall des Blöckens von einer menschlichen Seele, als Kennzeichen des Schafs, [...], ward, kraft dieser Bestimmung, Name des Schafs, und wenn ihn nie seine Zunge zu stammeln versucht hätte.‘“ Rhetorisch verfährt der Text insofern inkonsequent, als er schon Merkmale vor dem „Blöcken“ schildert. Mit den Überlegungen aus der Schrift zum Erkennen und Empfinden zusammengelesen entlarvt sich freilich die Komplexität des unschuldigen „gleichsam“. Vgl. das Kapitel „Über die Sprache der Theorie“. 84 Herder, Ursprung der Sprache, a. O., S. 722. 85 A. O., S. 725. 86 A. O., S. 724. 87 A. O., S. 725.
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Reflexion, Abstraktion u.s.w. nicht füglich ohne Zeichen geschehen können, auf die sich die Seele stütze; [...].“ Mit einer Doppelstrategie beruft Herder sich zum einen auf das virtuelle Kognitionspotential anderer Wesen („[…] folgt daraus noch gar nicht, daß an sich selbst keine Abstraktion ohne sinnliches Zeichen möglich sei.“), um zum anderen anthropologisch zu bestätigen, „[…] daß nicht der mindeste Gebrauch der Vernunft, [...], nicht das simpelste Urteil einer menschlichen Besonnenheit ohne Merkmal möglich sei: [...].“ Damit treibt er Süßmilchs Argument vollends auf die Spitze, anstatt es zu negieren, wobei die Besonnenheit sich an zweiter Stelle hinter das „Merkmal“ einreiht. Nun sucht er nachzuweisen, dass Sprache „ganz natürlich“ aus diesem „Merkmal“ als „erste[m] Aktus der Vernunft“ entspringt, wodurch die Vernunft erneut vor die Sprache tritt. Letztlich gesteht Herder zu, dass sowohl Süßmilch als auch er selbst sich in einen argumentativen „Kreisel“88 verstricken, womit er nochmals die Gleichursprünglichkeit von Vernunft und Sprache unterstreicht. Süßmilchs Versuch „übernatürliche[r] Erleichterung“ pflichtet der Text nicht bei: „nur alsdenn hat Gott durchaus für die Menschen keine Sprache erfunden, sondern diese haben immer noch mit Würkung eigner Kräfte, [...], sich ihre Sprache finden müssen.“89 In den „Ideen“ verfolgt der Text eine gegenläufige Strategie, um den kulturalisierenden Effekt der Sprache zu betonen. Zwar negiert er Modelle mythischer, über ein künstlerisches Medium erfolgender Vermittlung. „Nicht die Leier Amphions hat Städte errichtet, [...].“ („Ideen“, 348)90 Dennoch vertritt der Text ein emphatisches (aktualisierendes) Modell der Prosopopoiia, das ausdrücklich auf die Kunst der Sänger verwiesen ist: „die Sprache hat es getan, sie, die große Gesellerin der Menschen. [...]; nur durch sie ward eine Geschichte der Menschheit in herabgeerbten Formen des Herzens und der Seele möglich. Noch jetzt sehe ich die Helden Homers und fühle Oßians Klagen, obgleich die Schatten der Sänger und ihrer Helden so lange der Erde entflohn sind. Ein bewegter Hauch des Mundes hat sie unsterblich gemacht und bringt ihre Gestalten vor mich; die Stimme der Verstorbenen ist in meinem Ohr: ich höre ihre längstverstummeten Gedanken. Was je der Geist der Menschen aussann, was die Weisen der Vorzeit dachten, kommt, wenn es mir die Vorsehung gegönnt hat, allein durch Sprache zu mir.“ (348)
Auf die Ode an die Sprache, welche ihren universalen kulturhistorischen Wirkungskreis näherbringt, folgt die sprachphilosophische Ernüchterung, deren transzendentale Eingrenzung. Als beschränktes Vermittlungsmedium identifiziert der
88 Zitate: a. O., S. 726. 89 Zitate: a. O., S. 727. 90 Seitenangaben zu Herders „Ideen“ weiter im Fließtext in Klammern.
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Text Sprache nunmehr als „unwesenhafteres, leichteres, flüchtigeres Gewebe“, dem der Zugang zu den „Sachen“ verstellt bleibt. „Indessen zeigt eine kleine nähere Ansicht, wie unvollkommen dies Mittel unsrer Bildung sei, nicht nur als Werkzeug der Vernunft, sondern auch als Band zwischen Menschen und Menschen betrachtet; so daß man sich beinah kein unwesenhafteres, leichteres, flüchtigeres Gewebe denken kann, als womit der Schöpfer unser Geschlecht verknüpfen wollte. Gütiger Vater, war kein andrer Calcul unsrer Gedanken, war keine innigere Verbindung menschlicher Geister und Herzen möglich?“ (348)
Resignation mündet in ein nüchternes Modell sprachlicher Repräsentation: „Keine Sprache druckt Sachen aus, sondern nur Namen: auch keine menschliche Vernunft also erkennt Sachen, sondern sie hat nur Merkmale von ihnen, die sie mit Worten bezeichnet; [...].“ (348) Metaphysik hält keinen verborgenen Zugang zu den Dingen bereit, sondern wird immer schon als entfremdeter Modus der Weltwahrnehmung aufgerufen. „Alle unsre Metaphysik ist Metaphysik, d. i. ein abgezognes, geordnetes Namenregister hinter Beobachtungen der Erfahrung.“ (349) Mit der Rechenoperation zielt der Text auf die hilflose Vernunft („[u]nsre arme Vernunft ist also nur eine bezeichnende Rechnerin, [...].“, 349), da Sprache sogar auf doppelte Vermittlung angewiesen ist. „Und womit rechnet sie? Etwa mit den Merkmalen selbst, die sie abzog, so unvollkommen und unwesenhaft diese auch sein mögen? Nichts minder! Diese Merkmale werden abermals in willkürliche, ihnen ganz unwesenhafte Laute verfaßt, mit denen die Seele denket. Sie rechnet also mit Rechenpfennigen, mit Schällen und Ziffern: denn daß ein wesentlicher Zusammenhang zwischen der Sprache und den Gedanken, geschweige der Sache selbst sei, wird niemand glauben, der nur zwo Sprachen auf der Erde kennet.“ (349)
An der zweifachen Willkür vorbei laviert der Text sich mit dem Zitat erneut in den Bereich der Empirie, welche als außersprachliche Zeugin in Sachen Sprache aufgerufen wird. Legte der Text zuvor beredtes Zeugnis davon ab, dass Erfahrung doppelt durch Sprache verstellt ist (349), sprechen Sprachen (in ihrem gesamten Bedeutungsspektrum von der Phonetik bis hin zur Semantik) nun gleichsam für sich selbst, um ihre eigene Unzulänglichkeit, Differenz sowie Vermitteltheit zum Ausdruck zu bringen. Dass der Text unablässig gegen die von ihm errichtete Logik von Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit verstößt, bestätigt ein weiteres Mal die parallele Gegebenheit assimilierender sowie differenzstiftender Sprachlichkeit: „Lasset uns also die gütige Vorsehung anbeten, die durch das zwar unvollkommene, aber allgemeine Mittel der Sprache im Innern die Menschen einander gleicher machte, als
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es ihr Äußeres zeiget.“91 (352) Überdies wird das Differenzkriterium als Medium von Historizität herausgekehrt: „Der schönste Versuch über die Geschichte und mannigfaltige Charakteristik des menschlichen Verstandes und Herzens wäre also eine philosophische Vergleichung der Sprachen: denn in jede derselben ist der Verstand eines Volks und sein Charakter gepräget. Nicht nur die Sprachwerkzeuge ändern sich mit den Regionen und beinah jeder Nation sind einige Buchstaben und Laute eigen; sondern die Namengebung selbst, sogar in Bezeichnung hörbarer Sachen, ja in den unmittelbaren Äußerungen des Affekts, den Interjektionen ändert sich überall auf der Erde.“ (353)
Der mögliche Einwand, Sprache werde hier unter (mindestens) zwei verschiedenen Registern gefasst – als abstrakter anthropologischer sowie realer kulturhistorischer Faktor einerseits, als (philosophisch in ihre Schranken verwiesene) Semiotik andererseits – trifft die Komplexität der Doppelung nur partiell und löst sie keineswegs auf. Strategisch beruft sich der Text auf Empirie, sobald die Sprachphilosophie die Entfernung zwischen Dingwelt und Sprache festhält, betont Differenz, sofern ein Faktor der Einheit gesucht wird, bemüht die „philosophische Vergleichung“ dort, wo eine empirische Untersuchung ansteht. Was die Leistungen der Sprache als Medium anbetrifft, bleibt der Text gespalten. Medien der Sprache, als Medien in Sprache – Gemälde, epischer Gesang und Gewebe –, treten in den repräsentationalen Diskurs ihrer Leistungsfähigkeit ein und übernehmen die mittlere oder vermittelnde Position (zwischen Sachen und Wahrnehmung, d. h. Merkmalsfindung) mehr oder minder überzeugend. Von Interesse ist daher das anschließende Aufeinandertreffen zwischen Gemälde und Gesang (bzw. epischer Dichtung), welches sein Paradigma abermals im antiken Griechenland findet. Dichtung und Dichter weist der Text als umstritten verlässliche Zeugen aus, insofern sie zu Ausschmückung oder Verkürzung neigen: „[…] wilde[ ] Sagen [...], die der spätere Dichter gern ausmalte […]“ dienen als Grundlage nachfolgender, professioneller „kompilierende[r]“ bzw. „abstrahierende[r]“ Adaptionen, welche „Geschichtsschreiber“ und „Philosoph“ entwerfen (415). Beide Strategien (Amplifikation und Verkürzung) empfehlen sich allerdings als unwirksam: „Abstraktionen aber geben so wenig als das Gemälde der Dichter eine wahre Urgeschichte der Menschheit.“ (415) Ohne es direkt dem Text zu entnehmen, rege ich an, „ausmal[en]“ technisch der Allegoristerei zuzuschlagen.
91 Herder, Ideen, a. O., S. 352, „ja, gewissermaße ist unsre menschliche Sprache mehr für das Herz, als für die Vernunft geschaffen.“ Im Zuge dieses Spracherwerbs hebt der Text die Rolle der Sinnlichkeit hervor.
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Da der doppelte Diskurs der „Ideen“ Griechenland als Geburtsstätte des Schönen samt des ästhetischen Denkens ausweist, wäre zu überprüfen, ob es im Falle des Gemäldes Vorbildfunktion übernimmt. Als beispielhafter Sänger tritt Homer in die Diskussion des Gemäldes ein. „Vor allen ist unter diesen Homer berühmt, der Vater aller griechischen Dichter und Weisen, die nach ihm lebten. Durch ein glückliches Schicksal wurden seine zerstreueten Gesänge zu rechter Zeit gesammlet und zu einem zwiefachen Ganzen vereint, das wie ein unzerstörbarer Palast der Götter und Helden auch nach Jahrtausenden glänzet. [...]. So manche seiner Art mögen untergegangen sein, die ihm Teilweise den Ruhm streitig machen könnten, in welchem er jetzt als Einziger lebet.“ (524f.)
Während der dritte Teil der „Ideen“, der Frühjahr 1787 im Druck erschien92, noch recht zuversichtlich an ein intaktes Autorschaftskonzept anknüpft, klingen Herders Einschätzungen zum kulturellen Erbe Homers in der Zeitschrift „Adrastea“ (ab 1801) entscheidend modifiziert. „Wie das bekannte Haupt des Homer ein idealisches Gebilde ist, das indeß sehr bestimmt und charakteristisch die Gestalt des göttlichen Sängers zeiget: so laßet uns die Sammlung der Gedichte betrachten, die seinen Namen tragen. Uns sind sie Homerus, die Gesamtstimme (Homophonie) der Gesangesvorwelt, das aus vielen und vielerlei Sagen älterer Zeit Kunstreich emporgehobene Epos.“93
92 Herder, Ideen, a. O., S. 909 (Kommentar). 93 Johann Gottfried Herder, Adrastea, [Neuntes Stück des fünften Bandes, erstes Stück], in: Sämmtliche Werke, Bd. 24, hg. v. Bernhard Suphan, Weidmannsche Buchhandlung, Berlin, 1886 [Reprographischer Nachdruck 1967], S. 178-416, S. 229-246: „I. Von der Natur und dem Ursprunge des Epos.“ (ferner die vier folgenden Überschriften, die zum selben Themenkomplex gehören), Zitat: a. O., S. 232f. Herder widmete sich selbst der Frage nach der Authentizität Homers, vgl. den Ideen-Kommentar, in: FHA 6, S. 1047. Die orale Tradition, die in der „Adrastea“ zwangsläufig in die Polyphonie der Überlieferung mündet, entschärft das rigide (frühere) Autorschaftsmodell der „Ideen“. „Haupt“ und „Gesammtstimme“ markieren ein Auseinanderdriften von Autorschaft, die ein letztes Mal in der „Gestalt“ göttlicher Schöpfungskraft kulminiert, bevor sie in die „Sammlung“ (Adrastea, s. o., S. 232f.) zerstreut wird. Obwohl die Polyphonie epischen Gesanges in den „Ideen“ nicht in den Vordergrund rückt, weisen auch sie die Annahme gottgleicher Künstleridentitäten zurück. Vgl. Herder, Ideen, a. O., S. 525, „Man hat ihm Tempel gebaut und ihn als einen menschlichen Gott verehret“. Seitenangaben zu den „Ideen“ weiter im Fließtext in Klammern.
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Leider müssen nähere Ausführungen zu den instruktiven Bemerkungen über das Epos in der Zeitschrift „Adrastea“ ausbleiben, um dem Argumentationsfluss näher nachzuspüren. Trotz weitreichender Historisierung der individuellen Gegenwart fern liegender „Gegenstände“ markieren die „Ideen“ das kompositorische Verfahren Homers als vorbildlich und einzigartig. „Aber die Wahrheit und Weisheit, mit der er alle Gegenstände seiner Welt zu einem lebendigen Ganzen verwebt, der feste Umriß jedes seiner Züge in jeder Person seiner unsterblichen Gemälde, die unangestrengte sanfte Art, in welcher er, frei als ein Gott, alle Charaktere sieht und ihre Laster und Tugenden, ihre Glücks- und Unglücksfälle erzählet, die Musik endlich, die in so abwechselnden großen Gedichten unaufhörlich von seinen Lippen strömt und jedem Bilde, jedem Klange seiner Worte eingehaucht, mit seinen Gesängen gleich ewig lebet: sie sinds, die in der Geschichte der Menschheit den Homer zum Einzigen seiner Art und der Unsterblichkeit würdig machen, wenn etwas auf Erden unsterblich sein kann.“ („Ideen“, 525)
Die Gemäldemetapher steht hier für divergierende Merkmale wie Ganzheitlichkeit, Lebendigkeit, Umrissenheit (Begrenzung), Detaillierung („jedes seiner Züge“), Übersicht („alle Charaktere sieht“), anmutige Ungezwungenheit („unangestrengte sanfte Art“) sowie „Wahrheit und Weisheit“ ein, wobei innerhalb dieses Gefüges eine mediale Vielfalt zum Tragen kommt: Das „Gemälde“ gibt den Überbegriff ab; daneben „Musik“, „Gedichte[ ]“, „Bild[ ]“, „Klang[ ]“, „Worte“, „Gesänge[ ]“. Mit dieser Zusammenstellung findet eine Präzisierung dessen statt, was unter der Wendung lebendiges Gemälde firmieren könnte. Dabei belässt der Text in der Schwebe, ob das Gemälde als Über- oder Teilbegriff eintritt. Im letzten Fall zählte es zum ominösen übergreifenden „lebendigen Ganzen“, dem partiell eine Kombination abwechslungsreicher Medien entspricht. Als vielgestaltes Medium kann das Epos punktuell angehalten und vorübergehend in seine Einzelelemente zerlegt werden. Sein Faden wäre indes unverzüglich wiederaufzunehmen, damit dessen Lebendigkeit nicht verloren geht. Gemälde treten im „Ganzen“ vielfältig auf, beschränken sich keineswegs auf bloße Personenzeichnung, sondern jene prägt ihrerseits nur Teilmengen des Gemäldes aus. Parallel zum „lebendigen Ganzen“ erlangt das Gemälde das Attribut des Unsterblichen, das Lebhaftigkeit medial im Gemälde stillstellt und zudem perpetuiert. Hält das Epos sich als begriffliche oder gattungstheoretische Klammer im Hintergrund, so findet es selbst keine (wörtliche) Erwähnung, sondern wird in Teilelementen geschildert, die seine Wirkung erzeugen. Neben mehrere Gemälde tritt das den moralischen Zeigefinger senkende, anmutig plaudernde auktoriale Narrativ. Unter Enthaltung einer wertenden Stimme erzählt es alles, was dem Erzähler vor Augen tritt. „Musik“ wiederum agiert als Verstärker oder im Dienste der Akzentverschiebung. Sofern „Musik“ „[…] in so abwechselnden großen Gedichten unaufhörlich von seinen Lippen strömt […]“, als klangvoller Modus der Gedichte bestätigt wird,
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genügt sie Ansprüchen melodischer Modulation, entspricht stilistischen Vorgaben poetischer Sprache. Wörtlich und metaphorisch annektiert sie die Grenze zwischen gesprochener und gesungener Sprache: Poesie ist musikalisch, insofern die Intonation des Reims zur veränderten Tonlage zwingt, in den Modus tragender gebundener Rede verfällt. Der Versuch, dagegen anzugehen, wird sofort als Durchkreuzung (Disharmonie, Offbeat) der Intonation hörbar. Musik lässt sich weniger als Gesang, mit dem sie sich verbündet, wahrnehmen, noch hebt sie sich als lautlichinstrumentaler Hintergrund von Narrativ oder Gemälde ab. Dennoch erlaubt es die zitierte Passage ebenso wenig, Musik schlicht als Metapher poetischer Sprache auszuborgen, die Gedichten anhaftet. Das musikalische Moment fließt sowohl in das artfremde „Bild[ ]“ als auch in den ihm konformen „Klang[ ]“ ein. Mit den „Gesängen“ eint die Musik (ähnlich wie bei Ganzem und Gemälde) die lange Dauer („gleich ewig lebet“). Ob die Musik in seinen Gesängen „gleich ewig lebet“ (im Text heißt es „mit seinen Gesängen“) oder parallel zu den Gesängen fortdauert (gleich ihnen ewig lebet), bleibt unentschieden. Der Vortrag (das Vortragen) kann als blinder Fleck des medialen Ensembles gelten. Wie Musik und Gesang inszeniert wurden und geklungen haben mögen, kann der Text hier nicht zeigen, insofern sie etwas Hörbares betreffen. Aber selbst Gemälde oder Bild können den Mangel an Demonstration nicht metaphorisch ausgleichen, so sehr sie es im Umreißen einer Szene der Tugenden und Laster versuchen. Gemälde, Narrativ und Musik – welche in Gedichte umgesetzt zum belebenden Element („eingehaucht“, vgl. „göttliche[r] Otem“, 346) wird, jedoch nicht umstandslos in Gesang zu überführen ist – versammeln medial die Vielgestalt des Epos, ohne den Modus seiner Wirksamkeit aufzuschlüsseln oder vorzuführen. Sprache könnte (über ihr Schriftbild hinausreichend) etwas zu hören geben, spricht ihre musikalische Facette indes nur technisch an. Zu sehen gibt sie (ihren eigenen medialen Vorgaben entsprechend) nichts, sondern ruft das Gemälde zwar im medialen Ensemble gebunden, dennoch als Gipfel metaphorischer Vermittlung auf. Das „unsterbliche[ ] Gemälde“ vereint (verklammert) mediale Vielfalt und bildet die Folie vorbildlicher Darstellung in Homers „zerstreueten Gesänge[n]“ (524f., die hier abweichend bzw. auch als Oberbegriff genutzt werden), ohne klare mediale Hierarchien auszuprägen, also deren Anteil an der Wirkung in einzelne Medien zu zerlegen bzw. ein Leitmedium herauszufiltern. Unsterblichkeit umspannt im Text den Modus historisch übergreifender, persistenter Wahrnehmung, die es erlaubt, die kulturelle Güte homerischer Gesänge auch Jahrtausende später noch als solche zu erkennen. Obwohl die moderne Rezeptionsbereitschaft nicht unvoreingenommen an Homers Erzeugnisse herangeht (525f.), dessen unkritische Verehrung in der Vergangenheit bereits „Mißbrauch stiftete“, wie der Text einräumt, ist sein Werk als „Geschenk der Bildung“ identifizierbar (526). Obgleich die Späteren dieses Geschenk der historischen Distanz wegen nicht in gleicher Weise nutzen können (vgl. 526, Bedeutung Homers für Europas Kulturgeschichte), verändert sich ihr Wahr-
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nehmungsfokus nicht so stark, dass sie nicht mehr darüber zu urteilen fähig wären – eine Grundbedingung jeglicher Kulturgeschichtsschreibung, die Herder zudem selbst betreibt. 6.6 Der Parrhasische Demos Nur wenig später wird das Potential des lebendigen Gemäldes angesichts der Griechen ein zweites Mal verhandelt. Dabei lotet der Text dessen repräsentationale Grenzen aus. In diesem Fall unterbindet die interne diametrale Vielfalt des Dargestellten die Treue des Gemäldes. Das historistische Argument formiert sich im Voraus gegen die gelungene Ausbeutung der Gemäldemetapher. „Die Sitten der Griechen waren so verschieden, als die Art ihrer Stämme, ihrer Gegenden und Lebensweise nach den Graden ihrer Kultur und einer Reihe von Glücks- und Unglücksfällen war, in welche sie der Zufall setzte. Der Arkadier und Athener, der Ionier und Epirote, der Spartaner und Sybarit waren nach Zeiten, Lage und Lebensweisen einander so unähnlich, daß mir die Kunst mangelt, ein trügerisches Gemälde von ihnen allen im Ganzen zu entwerfen, dessen Züge widersprechender auffallen müßten, als das Bild jenes Athenischen Demus, das Parrhasius malte.“ (537)
An dieser Stelle bedient der Text sich eines Verweises in der Fußnote, welche aus dem fünfunddreißigsten Buch von Plinius’ „Historia Naturalis“ (meist als „Naturalis Historia“ betitelt) zitiert. Die Fußnote gibt im lateinischen Original die Passage wieder, in der Plinius sich auf Parrhasius’ Darstellung bezieht. Der Kommentar zu Herders „Ideen“ fügt folgende deutsche Übersetzung an (nicht ohne zu bemerken, dass Herder selbst an der Übersetzung dieses Passus gearbeitet habe).94 „Das Volk der Athener malte er auch in geistvoller Art: er hatte nämlich die Absicht, es als veränderlich, rachsüchtig, ungerecht, wankelmütig und zugleich als nachsichtig, milde, mitleidig, hochfahrend, ruhmsüchtig, kleinlaut, gewalttätig und ausweichend, kurz, in allen seinen Eigenschaften darzustellen.“95
Doch findet mit dem Zitat von Parrhasius’ Darstellung des Athenischen Volksgeistes („Demon Atheniensium“) schon eine erste Verschiebung statt. Denn es geht diesem Gemälde nicht um die „widersprechende[ ]“ Vielgestalt griechischer „Stämme“, denen sich Herder widmet (Herder, „Ideen“, 537). Sondern es setzt die Viel94 Herder, Ideen, a. O., S. 1050 (Kommentar). 95 Vgl. Plinius, Historia Naturalis, XXXV 69. C. Plinius Secundus d. Ä., Naturkunde, Lateinisch-deutsch, Buch XXXV, Farben, Malerei, Plastik, hg. u. übers. v. Roderich König, Zürich/Düsseldorf, 21997, S. 60/61.
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gestalt der Athener als Teilmenge oder – einer (retrospektiven) Tendenz griechischer Historiographie folgend – Repräsentanten der Griechen um.96 Insofern wird das Exempel hier bereits zu eng gefasst und damit zugespitzt als Muster für den Darstellungsmodus lesbar. Zwar referiert der Text auf die Illustrationsgewohnheiten (und vielleicht nur diese) eines konkreten historischen Gemäldes, die Referenz läuft allerdings ins Leere. Im Gegensatz zu den Abbildungen der Reisebeschreibungen erlaubt es keinen Seitenblick: Das Gemälde und seine (mutmaßlichen) Reproduktionen sind nicht erhalten. Das Gemälde existiert allein als Beschreibung des Plinius. Was „widersprechender auffallen“ könnte, ist der Imagination des Lesers überlassen. Nun liegt der Clou des „trügerische[n] Gemälde[s]“ darin, „widersprechend[ ]“ aufzufallen. Ausgerechnet der Widerspruch bürgt als Garant von Authentizität. In dem Moment, in dem es als unglaubwürdig identifiziert wird, erreicht es erst den Horizont seiner Authentizität. Man glaubt es nicht, aber es ist eine authentische Darstellung der Sitten der Athener. Bezeichnender Weise rekurriert Herders Verweis auf das leere unsichtbare Gemälde des Parrhasius, anstatt die mit ihm verbundene Urszene realistischer Malerei selbst zu schildern, welche ebenfalls trügerische Malerei behandelt, und die Plinius vier Kapitel zuvor (XXXV 65) narrativ entfaltet.97 Aus seinem Wettbewerb mit Zeuxis, dessen täuschend echt gemalte Trauben Vögel dazu verleiten, danach zu picken, geht Parrhasius als Sieger hervor, da sein gemalter Vorhang wiederum Zeuxis um den Augenschein betrügt. Den Widerspruch zu provozieren, erfordert die hohe Kunst des Parrhasius, dessen malerischer Realismus legendär ist. Die Darstellung des widersprüchlichen Athenischen Geistes, bzw. des Athenischen Volkes als widersprüchlicher Geist, erfolgte – so lässt sich zumindest archäologisch noch ermitteln – in der Gruppierung von Figuren.
96 Bei Plinius kommt allerdings eine weitere Stelle vor, die sich auf den Demos bezieht, XXXV 137: „Pausiae filius et discipulus Aristolaus e severissimis pictoribus fuit; cuius sunt Epaminondas, Pericles, Media, Virtus, Theseus, imago Atticae plebis, boum immolatio.“ Übersetzung: Aristolaos ist Sohn und Schüler des Pausias aus den strengsten Gemälden gewesen: dessen (Gemälde) sind: Epaminondas, Perikles, Media, Virtus (die Tugend), Theseus, das Bild des Athenischen [Attischen] Volkes, Opfer des Rindes. [Übersetzung K.K.], Plinius, Naturkunde, a. O., S. 104/105. Bei Pausanias findet der Demos der Spartaner Erwähnung, Paus. III 11, 10: „Auch eine große Statue des Demos der Spartaner steht dort. Auch ein Heiligtum der Moiren haben die Spartaner und dabei ein Grab des Orestes, des Sohnes des Agamemnon“. Siehe Pausanias, Beschreibung Griechenlands, Ausgabe in zwei Bänden, Erster Band, übers. u. mit einer Einleitung u. Anmerkungen vers. v. Ernst Meyer, Zürich, 1952, S. 154. Es ist demnach üblich, dass bei verschiedenen Autoren vom Demos griechischer Volksgruppen die Rede ist. 97 Vgl. Plinius, Naturkunde, a. O., S. 56/57-58/59.
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„Auch in seinen amtlichen Organen wird der Staat personifiziert, und zwar scheint es, daß dieser Gedanke von Athen ausgegangen ist. Unseres Wissens hatte zuerst Parrhasios das personifizierte Volk von Athen, den Demos, gemalt, ungefähr zu derselben Zeit, als ihn Aristophanes auf die Bühne brachte, und die Kunstkenner rühmten diesem Bilde nach, daß in ihm die verschiedenen und einander widersprechenden Eigenschaften des souveränen Volkes zugleich zum Ausdruck gekommen seien, [...]. Ob und wie diese Demosstatuen näher charakterisiert waren, wissen wir nicht. Erhalten ist uns sein Bild nur auf attischen Urkundenreliefs des fünften und vierten Jahrhunderts, z. B. auf dem, welches den Vertrag mit Korkyra schmückt, [...]. Daß der Demos der Athener gemeint sei, konnte der antike Beschauer, falls ihm die Figur nicht schon durch ihre Anbringung an solcher Stelle ohne weiteres verständlich war, aus den Eingangsworten des Eides, der in der darunter stehenden Urkunde den Korkyräern vorgeschrieben wird, entnehmen: ‚Ich will dem Demos der Athener zu Hilfe kommen‘ usw.;“98
Dem ungeschulten (altertumsunkundigen) Betrachter erschließt die Abbildung 65, welche den erwähnten Fries zeigt, relativ wenig. Nur drei Figuren gehören zum Ensemble, deren Mittelpunkt die „Personifikation der Korkyra“ (Korfus) bildet.99 Neben ihr steht Athene, sie wendet sich dem sitzenden Demos (der Athener) zu. Die bei Plinius geschilderten Charaktereigenschaften bzw. Emotionen aus den Figuren herauszulesen, fällt allein schon deshalb schwer, weil die Gruppe begrenzt ist, zu unvollständig scheint, um alle Eigenschaften aufzuführen. Beim Demos der Athener handelt es sich allerdings lediglich um eine einzelne Figur, die inmitten der Gruppierung inseriert ist. Wenn überhaupt, dann müsste aus ihrer Physiognomie und Mimik jene Vielschichtigkeit hervorsprechen. Bei dem, was ihr abzulesen wäre, handelt es sich (im konkreten Fall tatsächlich aufgrund der diffizilen archäologischen Überlieferungslage) immer nur um Bruchteile, Fragmente des Wissens. So kämpft der zitierte altertumskundige Text mit Unsicherheitslücken und erzeugt Plausibilisierungen sowie (notwendige) Verschiebungen.100 Mit Roberts Hinweis auf die kontemporäre Demosdarstellung des Aristophanes leitet sich ein Gattungswechsel von der Malerei über die (archäologisch und das heißt materiell bezeugende) Bildhauerei zur Komödie ein, der sich zudem auf die Hauptquelle Plinius übertragen ließe, deren Duktus Robert als „stark rhetorisch übertrieben“ einschätzt. Ro98
Carl Robert, Archaeologische Hermeneutik. Anleitung zur Deutung klassischer Bildwerke, Berlin, 1919, S. 77. Vgl. auch die Anmerkungen auf S. 420, denen ich die Quellen verdanke.
99
Robert, Archaeologische Hermeneutik, a. O., S. 78.
100 Vgl. a. O., S. 77: „Mag dies auch stark rhetorisch sein und mag dabei zugleich die Doppelnatur des Aristophanischen Demos, [...], vorschweben, – da Parrhasios gerade in der Wiedergabe des Gesichtsausdrucks Meister war, [...], so wird doch ein Körnchen Wahrheit darin stecken.“
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bert insinuiert, dass das rhetorische Potential in Plinius’ Text (ca. 77 n. Chr.) von dessen Kenntnis der Aristophanischen Komödie „Die Ritter“ (424 v. Chr.) herrühren könnte, in der zunächst ein vergreister, im Zuge der Konfliktlösung verjüngter Demos auftritt. Parrhasius lebte vor 399 v. Chr., war demnach tatsächlich Zeitgenosse von Aristophanes. Nun kann es im Rahmen dieser Arbeit nicht darum gehen, ob oder inwiefern Parrhasius’ Gemälde sich von der Komödie des Aristophanes inspirieren ließ. Vielmehr stellt sich die Frage, weshalb Herder mit dem Zitat des Plinius (in XXXV 69) einerseits die geläufigere Urszene realistischer Malerei, den Wettstreit mit Zeuxis (vier kurze Kapitel zuvor), ausspart, und andererseits nicht auf die – der theatralischen Gattung gebührend stärker ausgeschmückte – szenische Darbietung des Demos Bezug nimmt. Aus ihr die wechselvollen Eigenschaften des Demos herauszulesen, stellt ein größeren Erfolg versprechendes Unterfangen dar, als auf das leere Gemälde zu verweisen, dem einzig eine knappe sprachliche Schilderung entspricht, deren gemalte oder in Stein gemeißelte Vorlage man nicht kennt. Eigentlich tritt diese Beschreibung in der Rezeption (mindestens seit Plinius) für das Gemälde selbst ein – sie ist das Gemälde, dessen Vorlage für alle Zeit verloren ist. Wenn Herder also auf das vorbildliche Gemälde des Parrhasius verweist, dann verweist er letzten Endes auf Plinius’ epigraphische Beschreibung als kryptischem Ideal einer malenden Beschreibung (als Sprachgemälde). Somit erweist es sich als durchaus konsequent, die Urszene vorzuenthalten, die auf den gesteigerten Realismus der Malerei abzielt. Das trügerische Gemälde des Parrhasius überzeugt nicht, weil es realistisch ist (der Schein trügt), sondern dürfte aufgrund seiner Vielschichtigkeit gerade nicht überzeugen (womit es eben dem widersprüchlichen Geist, Demos, entspricht). In einer Bewegung doppelter Entfremdung läge es nun an Herder, Parrhasius’ Widersprüchlichkeit zu übertreffen („dessen Züge widersprechender auffallen müßten, als das Bild jenes Athenischen Demus“), woran ihm aber „die Kunst mangelt“ (Herder, „Ideen“, 537). Die Steigerung des Trügerischen, mit der ausgesuchten Plinius-Passage des Widersprüchlichen, steht für die höchsten Weihen realistischer Malerei ein. Gerade der notwendige Rückgriff auf das Sprachgemälde wirft indes erneut die Frage auf, welche Art Gemälde Herder – orientiert am Ideal der Gemäldemetapher – überhaupt entwirft. Woran hat sich das Gemälde anzunähern? Soll es einer Beschreibung entsprechen, die eine Vorlage besitzt (welche sie, wie bei der Reisebeschreibung, letztlich ablösen soll), die ihre Vorlage fingiert – was auf die Herder und uns mögliche Lesart des Plinius zutrifft – oder die an jene (uns von Herder vorenthaltene) komödiantische Szene des Aristophanes anknüpft? Was auf dem Gemälde – bzw. dem Relief – als figurale Gruppierung von Personifikationen dargestellt wäre, geht in seiner sprachlichen Schilderung in eine Reihung parallel geschalteter („zugleich“) negativer sowie positiver Adjektive (Eigenschaften) über, wobei im zweiten Part der Aufzählung ein unvermittelter Bruch, eine unmotivierte Kehrtwende statthat, welche
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die negativen wiederum an die positiven Eigenschaften anschließt, indem sie die Reihe schlicht weiterführt. Syntaktisch entsteht so ein semantischer Widerspruch, da die divergierenden Eigenschaften weder in das Schema eines Sowohl-als-auch noch in das eines Entweder-oder eingereiht werden. Beim Lesen gerät man an der Stelle zwischen „mitleidig, hochfahrend“ ins Stocken, ein Stocken, das sich beim Schweifen des Blicks von einer Figur zur anderen ebenso einstellen könnte. Wie die einzelnen Figuren miteinander in Aktion treten, darauf weisen weder Plinius noch Herder hin: „kurz, in allen seinen Eigenschaften“ (vgl. die Plinius-Übersetzung) präsentiert sie uns ein zweiter, flüchtiger Blick auf das Relief (der erste musste umso gründlicher erfolgen), von dem man nun schon weiß, was oder wer darauf wiedergegeben ist – dessen Kenntnis wir dem Sprachrelief, dem Epigramm, der Inschrift unter dem Fries bzw. Plinius’ subscriptio ohne pictura verdanken. Die Erfahrung, die das Plinius-Zitat rein sprachlich wiederzugeben oder zu imitieren sucht, knüpft an die ursprüngliche Wahrnehmung der griechischen Allegorie als historischer Wahrheit (vor ihrer Allegorisierung oder Allegorese) an (vgl. mein Kapitel zur Allegorie). Ausgerechnet die bildende Allegorie sei Herder zufolge nicht als Gruppe darstellbar: „denn zu aller literarischen und moralischen Allegorie gehört Gruppe, und im eigentlichsten Verstande hat die die Bildnerei nicht.“101 Ihr fehle die Rückbindung an eine Hauptfigur, welche ihre figurale Einheit stabilisiere. Die zuvor eingeforderte Simplizität („klein, simpel, schmal umründet“)102 bildender Allegorie steht quer zur Einforderung dieser Einheit. Dienen Medien wie „Gemme“ oder „Bas-Relief“ treffender allegorischer Darstellung, so verweist der Text „Plastik“ die Reichweite der Allegorie letztlich in ihre Schranken: „Gemme, Münze, Bas-Relief, Denkmal, kann nicht viel mehr als eine Allegorie geben, dazu sind sie da und die geben sie unnachahmlich. Warum sie von da wegreißen? mit ihr die großen Bilder der Wahrheit, Götter- und Heldengestalten, oder die Zaubertafel historischer Wahrheit, das Gemälde, verwirren und zu Schatten verscheuchen?“103
Dennoch steht die plastische Allegorie mit ihren Personifikationen hier als Bezugspunkt im Hintergrund. „[L]ebend in Stein gesenkt“104 wird sie als Überrest eines Gemäldes sichtbar, dem kein anschauliches Pendant entspricht. Ob es sich um ein Gemälde handeln könnte, auf dem allegorische Figuren (wie eingefroren) interagieren, lässt das ornamentale Band adjektivischer Reihung in seinen Durchbrechungen und Musterwechseln offen.
101 Herder, Plastik, in: FHA 4, S. 324. 102 A. O., S. 322. 103 A. O., S. 326. 104 A. O., S. 320.
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7. D OPPELTER D ISKURS
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7.1 Griechenland Sowohl Früh- als auch Spätschrift halten an identischen Stationen der Menschheitsgeschichte inne, um sich ihnen näher zu widmen. Der Frühschrift fehlt die asiatische Vorgeschichte, auch geht sie, ihrem formalen wie materialen Umfang entsprechend, als „Beitrag“ weniger ins Detail der einzelnen Völker. Dennoch finden beide Schriften ähnliche, über den doppelten Diskurs von Kultur- und Kunst-Geschichte strukturierte Narrative. Trotz aller Distanz gegenüber von Griechenland besessener, gebildet-ästhetischer Liebhaberei erheben die „Ideen“ es in mehrfacher Hinsicht zum Paradigma des historischen Verlaufs (des Historischen als Verlaufsfigur). Vermöge seiner Geschichte wird im Kleinen sichtbar, was andernfalls nur das umfassende Gesamtkonzept (Herders) mit Leben füllen würde. An Ort und Stelle ins Detail zu gehen, rechtfertigt das Alleinstellungsmerkmal griechischer Geschichte, „weil sie zur Philosophie der Geschichte gewissermaßen ein einziges Datum ist unter allen Völkern der Erde.“ („Ideen“, 566)1 An den Griechen lasse sich exemplarisch zeigen, wie ein möglichst vollständiger, unangetasteter Gang der Bildung organisiert wäre, denn „[…] sie haben auch ihre Perioden so ganz durchlebt und von den kleinsten Anfängen der Bildung die ganze Laufbahn derselben so vollständig durchschritten, als sonst kein andres Volk der Geschichte.“ (567) Bedingung dieses Zusammenhalts schafft das Argument relativer Abschottung, das ohnedies als Rahmung der Wanderungsbewegungen angeführt wurde.2 Um den internen Zusammenhang – und damit die menschheitshistorische Heuristik (als Pars pro Toto) – der griechischen Geschichte zu plausibilisieren, greift Herder auf pflanzliche Metaphorik zurück. Nicht allein der biologische Mensch wird mit Blick auf Wanderungsbewegungen im Paradigma der Pflanze gedacht, sondern auch die durch Anfang und Ende begrenzte Geschichte, in welche er eingebettet ist: „[…] von ihrem Samen und Keim aus bis zur Blüte und Abblüte [...] wäre uns die griechische Geschichte eine solche Pflanze“. Meines Erachtens wird das naturgeschichtliche Raster, das Verfahren des „Naturlehrer[s]“ (Zitate: 567), mehr zum Schein auf die griechische Historie appliziert, als Synekdoche der Geschlossenheit beschworen, was besonders im Vergleich mit der römischen Geschichte auffällt, für die Erzählalternativen gefunden werden müssen. Im Durchgang durch einige Medien des Griechischen (ab 524) vermitteln sich nicht nur die immanente Ästhetik griechischer Kunst und Kultur, sondern Gattun1
Seitenangaben zu Herders „Ideen“ weiter im Fließtext in Klammern.
2
„Gegen das alles schützte sie nun ihre mäßige Macht, selbst ihr eingeschränkter Handel, der sich nie über die Säulen Herkules und des Glückes hinausgewaget.“ Herder, Ideen, a. O., S. 567.
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gen ihres (historischen) Transfers selbst, die sich zudem im Kontakt zwischen Medien modifizieren. So beobachtet der Text eine Entzerrung, Simplifizierung griechischer Kultur durch sich selbst in der sprachlich-rhetorischen Bereinigung (Entschlackung) mythischer Hymnen. Simplifizierung durch „griechische[ ] Worte und Bilder“ „veredelt“ die Güte des orphischen Hymnus, was sich positiv in der griechischen Mythologie niederschlägt, welche sich auf ihren Kernbestand, die „Fabeln der Götter“, besinnt. „[...] wie ist der Orphische Natur-Hymnus bloß und allein schon durch die griechischen Worte und Bilder gereinigt und veredelt! Und wie angenehm-leichter wurde die griechische Mythologie, da sie mit der Zeit auch in den Hymnen selbst die Fesseln bloßer Beiworte abwarf und dafür, wie in den Homerischen Gesängen, Fabeln der Götter erzählte.“ (524)
Im aufgeblähten Hymnus ist die Mythologie sprachlichem Überfluss („Fesseln bloßer Beiworte“) und Kontingenz unterworfen, welche aus der unausgereiften, verschwenderischen Verknüpfung beliebiger Attribute, „bloßer Beiworte“, resultieren. Sowohl sprachlich als auch bildlich lässt sich dieses Manko beheben, indem Hymnus und Mythos als verkürzende, treffendere „Worte und Bilder“ einspringen, und somit die Fabel vor allen „Beiworte[n]“ herausheben. Dieser Veredelungsprozess tritt zwischen Natur („Natur-Hymnus“) und griechische Kultur, „die griechischen Worte und Bilder“, ereignet sich im Grunde als Übergang zweier kultureller Stadien, da die Natur längst in den Hymnus übertragen wurde. Dabei gilt es, das kurative Rezept einer Reinigung von Sprache durch Sprache zu betonen. Ob die daneben angeführten Bilder sprachlich oder gar allegorisch zu lesen sind, bleibt offen. Als ihr eigenes Korrektiv legt Sprache den (neuartigen) Modus des Kulturtransfers – griechischer Mythologie nach dem Muster homerischer Gesänge – fest, und befördert damit die griechische Kultur selbst. Jedoch erbringt diese sprach-bildliche Vorleistungen, welche die Modifizierung des orphischen Hymnus erlauben. Ein mediales kulturelles Feld (hier die Sprache) schreitet voran und ermuntert zur Modifikation weiterer Gattungen und Medien. Vorbildfunktion übernehmen simple reduzierte Darstellungsformen, an die sich produktiv anknüpfen lässt. Jene Interaktion zwischen (gefälliger) Reduktion und ihrer sukzessiven Erweiterung umkreist nicht nur das exegetische Verfahren der Allegorie, wie wir es bereits kennengelernt haben, sondern entwirft – beinahe konträr zum Ideal auslegungsfreier Allegorie – ein optimistisches Modell kultureller Überlieferung und Amplifikation. „Glücklicher Weise hatten die alten Theogonien-Erzähler in die Stammtafeln ihrer Götter und Helden so treffende, schöne Allegorien, oft nur mit Einem Wort ihrer holden Sprache, ge-
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Bestenfalls bleibt die Auslegung „so treffende[r], schöne[r] Allegorien“ „späteren Weisen“ vorbehalten, zu ihrer Zeit bringt sie eher einen Verlust an Authentizität mit sich. Die Allegorie ist aufs Äußerste reduzierbar, „oft nur mit Einem Wort ihrer holden Sprache“ ausgedrückt deutet sie kaum mehr die Spur möglicher Allegorese an. Für die intellektuelle Allegorese bemüht der Text die Gewebemetapher und erinnert damit an den Prozess der Theorieerzeugung aus Gleichnissen, welcher in „Über das Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele“ erläutert wird: „[…] eine Metapher, ein Bild, ein hingeworfnes Gleichnis die Theorien erzeugte, die er auf ein Quartblatt hinwarf und aus der die Weberzünfte nach ihm dicke Bände spannen.“4 Wie erläutert, übernimmt Homer (nicht allein) für Griechenland exemplarische Funktion, welche sich an seinen Gesängen (Epen) festmachen lässt.5 Damit bürgt nicht allein der Dichter, sondern die vermischte Gattung exemplarisch für die griechische Kultur, welche als kulturelle Keimzelle weitere Gattungen aus sich hervortreibt. Kulturgeschichte bekundet sich an Homers Epen und durchquert sie. Durch deren Amplifikation entwickelt sich die griechische Kultur fort. „Die spätern Dichter folgten ihm: die tragischen zogen aus ihm Fabeln, die lehrenden Allegorien, Beispiele und Sentenzen; jeder erste Schriftsteller einer neuen Gattung nahm am Kunstgebäude seines Werks zu dem seinigen das Vorbild, [...].“ („Ideen“, 526)6 Das Exemplarische gestaltet neue exemplarische Gattungen, „Allegorien, Beispiele und Sentenzen“, aus. Jedoch hängt nicht allein die Wirkung aneinander anknüpfender, Verwandtschaften ausprägender Genres (allgemein: Medien) zusammen, sondern gewisse Kunstformen prägen über den Bereich von Kunst oder Literatur hinaus, was Kulturgeschichte oder (mit Herders Worten) Nationalcharakter zu nennen wäre. Zwar korrespondiert der Gedanke einer Genese von Philosophie aus dem Mythos dem Rationalisierungsnarrativ (seit Platon). Instruktiv ist indes, welche Gattungen federführend für die Philosophie eintreten. Die Kunst existiert dem Text zufolge – und ohne dem Mythos als Hilfsmittel integriert zu werden – vor der Philosophie. „Gedichte[ ] und Allegorien“ leiten als literarische Genres die Entstehung der Philosophie, letztlich die Ausrichtung ihrer Begriffe ein. Mitunter gehören Allegorien philosophischen Darstellungen an oder erfüllen gar den Anspruch genuin 3
Es folgt die schon zitierte Homer-Stelle (a. O., S. 525), die auf „unsterbliche[ ] Gemälde“ hinausläuft.
4
Herder, Vom Erkennen und Empfinden, in: FHA 4, S. 356, vgl. meinen Text S. 315f.
5
Vgl. Herder, Ideen, a. O., S. 524f., meinen Text S. 466.
6
Seitenangaben zu den „Ideen“ im Fließtext in Klammern.
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allegorischer Schilderung, wie sie menschheitshistorisch (allein) zuletzt bei den Griechen vorlag, und die nicht – das möchte ich betonen – mit dem Symbolbegriff zusammenfällt. „Jede Nation hat in allgemeinen Begriffen ihre eigene Sehart, die meistens in den Formen des Ausdrucks, kurz in der Tradition ihren Grund hat und da bei den Griechen die Philosophie aus Gedichten und Allegorien entstanden war: so gaben diese auch ihren Abstraktionen ein eigentümliches, ihnen nicht undeutliches Gepräge. Selbst noch bei Plato sind seine Allegorien nicht bloße Ziererei; ihre Bilder sind wie klassische Sprüche der Vorzeit, feinere Entwickelungen der alten Dichter-Traditionen.“ („Ideen“, 549)
Philosophische Genese folgt der Dichtung, „Gedichten und Allegorien“, Elemente der Philosophie dürfen zudem dem dichtenden Paradigma, „Dichter-Traditionen“, verschrieben bleiben. Damit erlaubt diese Passage ein zweites Mal, an den Aufsatz „Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele“ anzuknüpfen, der philosophische Autoren und Dichter wechselseitig ineinander überführt.7 Allegorien werden sowohl als literarisch als auch als bildend vorgestellt – ihre Nähe zu „Gedichten“, „Bilder[n]“ und „Sprüche[n]“ nimmt deren mediale Bandbreite auf. Die Allegorie vermittelt aus erster Hand, weder bedarf sie der Allegorese noch bleibt sie „bloße Ziererei“. Neben respektive vor dem Epos haftet die Allegorie für die Charakterisierung griechischer Kultur. Nicht nur die Philosophie entspringt dem Wechselspiel mit literarischen Gattungen – drückt sich durch sie aus –, sondern darüber hinaus erwacht das Ästhetische in und mit der griechischen Kultur (wie Herder deutlich ausstellt). Somit kann die griechische Historie nicht allein retrospektiv als Epoche der Aisthesis umschrieben werden, vielmehr spiegelt sich jene Verfasstheit in ihren Selbstbeschreibungen. In den Fremdzuschreibungen, welche die Menschheitsgeschichte vornimmt, avanciert die Historie zum Merkmalsträger, da diese Äquivalenz der Form behaupten, welche die stilistische Fassung der korrespondierenden Historie betrifft. Von Rom abweichend erschließen sich „[…] Anmut und süße Schönheit der griechischen Historie“ („Ideen“, 614) dem nahen Beobachter
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„Homer und Shakespear waren gewiß große Philosophen, wie Leibnitz ein sehr witziger Kopf, bei dem meistens eine Metapher, ein Bild, ein hingeworfnes Gleichnis die Theorien erzeugte, die er auf ein Quartblatt hinwarf und aus der die Weberzünfte nach ihm dicke Bände spannen. Rabelais und Swift, Buttler und selbst der große Bako waren witzige Köpfe: der letzte gehört auch zu denen – deren Ring durch Ein Gedankenpaar vertraulich keusch vermählt oft tausende gebar. es wäre aber nicht mein Feind, dem ich ihren Witz und ihre Bildersprache wünschte.“ Herder, Vom Erkennen und Empfinden, a. O., S. 356.
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bzw. ersten Rezipienten der Historie(n) ungebrochen. Somit untersteht die Geschichte als solche dem ästhetischen Paradigma, das zum ersten Mal mit griechischer Historisierung aufkommt. Unter doppeltem Diskurs ist demnach die Übereinstimmung, die wechselseitige Überführung von Form und Inhalt ineinander zu verstehen. Die zur Form ästhetisierte Geschichte Griechenlands gerinnt zu ihrer Essenz als erstem Ort ästhetischer Kultur. Dem doppelten Diskurs wohnt damit eine Wiederholungsstruktur inne, die dem doppelten Kursus entspricht. Die Beschreibung der Kultur imitiert mit diesem Akt unlängst eine Kultur der Selbst-Beschreibung, die ihrem Material zugrunde liegt. Von daher lässt sich plausibilisieren, weshalb der doppelte Kursus sich in der Überleitung von der Natur- zur Kulturgeschichte spätestens mit Griechenland in den doppelten Diskurs auflöst. Das Ästhetische holt sich als Vorbedingung sowohl der griechischen Philosophie als auch der Historie ein. Verkörpert Griechenland (aufgrund seiner Geschlossenheit) generell exemplarische Historizität, nimmt es den Zuschnitt historischer Erzählung, welcher der Amplifikation literarischer Gattungen entspringt, aus sich selbst vor. „Die Philosophie der Geschichte endlich gehört vorzüglich nach Griechenland heim, weil eigentlich die Griechen allein Geschichte haben. [...]; der Grieche bildete aus Sagen, Liedern, Märchen und Stammregistern mit der Zeit den gesunden Körper einer Erzählung, die in allen Gliedern lebet. Auch hierin ging ihm seine alte Dichtkunst vor, da sich ein Märchen nicht leicht angenehmer erzählen läßt, als es die Epopee erzählte: die Verteilung der Gegenstände nach Rhapsodien gab zu ähnlichen Absätzen in der Geschichte Anlaß und der lange Hexameter konnte bald den Wohlklang der historischen Prose bilden. Herodot ward also Homers Nachfolger und die späteren Geschichtschreiber der Republiken nahmen die Farbe derselben, den republikanischen Rednergeist in ihre Erzählung auf.“8 (555f.)
Über die Organismusmetaphorik erhebt die historische Erzählung Anspruch auf Lebendigkeit. Als Folie unterliegt ihr die formale Anlage der Epopee, und strukturiert sowohl Gegenstände als auch ihren (sprachlichen) Rhythmus. Dabei überführt ausgerechnet die poetische Rhythmisierung des „lange[n] Hexameter“ den historischen Text in Prosa: ein Prozess, der bruchlos erfolgt und lediglich graduelle Abweichungen von Poesie und Prosa suggeriert. Die Ästhetisierung griechischer Geschichte gehört zweifellos zu den hervortretenden Merkmalen ihrer Erzählweise und ihres Verlaufs, selbst wenn der Text mitunter naturgesetzliche Geltung für sie in Anschlag bringt.9 Ihre Exemplarität hängt von nachvollziehbaren Ordnungsver8
Herder, Ideen, a. O., S. 555f., danach setzt eine Entwicklung zur pragmatischen Ge-
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Eine Stelle, an der sich dieses Argument mit langer Dauer und dem natürlichen Gefälle
schichtsschreibung hin ein. der Wanderungsbewegungen verknüpft: „So reich und verflochten die griechische Ge-
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suchen ab, die zugleich als Bedingung und Effekt ästhetischer Modifikation eintreten. 7.2 Rom Demgegenüber zeichnet sich die römische Geschichte vorherrschend durch chaotische Zustände aus, die nicht allein aus ethischen Gründen Probleme für die Erzählung aufwerfen. Sobald die Irrationalität und Gewaltsamkeit römischer Historie in den Vordergrund treten, kann der Text kaum mehr auf das ordnungsstiftende Naturgesetz verzichten, das er als künstlichen Kontrastpol errichtet. Anders als Griechenland vermag er Rom wenig Positives abzugewinnen10, ist er doch von Anfang an dazu gezwungen, es als „Kriegsstaat“ (586) zu schildern: „Gnug, mit Karthago fiel ein Staat, den die Römer nie zu ersetzen vermochten. [...]. Wohin sich von Karthago aus mein Blick wendet, siehet er Zerstörungen vor sich, denn allenthalben ließen diese Welteroberer gleiche Spuren.“ (596f.)11 Zwar kennt Rom einzelne Helden, überragende Herrscherpersönlichkeiten, dagegen keinen Nationalschriftsteller wie Homer. In der Gesamtbilanz römischer Geschichte schlagen diese dennoch kaum zu Buche. „Ihr großen edlen Seelen, Scipionen und Cäsar12, was dachtet, was schichte an Veränderungen ist: so gehen doch ihre Fäden an wenigen Hauptpunkten zusammen, deren Naturgesetze klar sind. Denn I. Daß in diesen drei Landesstrecken mit ihren Inseln und Halbinseln viele Stämme und Kolonien zur See und vom höhern Lande hinaus hin und her wandern, sich niederlassen und einander vertreiben, ist allenthalben die Geschichte der alten Welt bei ähnlichen Meer- und Erdstrichen gewesen. [...]. Dies ist die Geschichte Griechenlandes beinahe von 700 Jahren.“ A. O., S. 557f. Seitenangaben zu den „Ideen“ weiter im Fließtext in Klammern. 10 Er gesteht freilich dessen welthistorische Rolle als imperialistische Eroberungsmacht Europas zu. Dennoch wertet er diese Funktion mit Blick auf die Menschheitsgeschichte kritisch und betont durchgängig die römische Unterjochungs-Politik (später die weisere Eingliederung unter formaler Wahrung der, z. B. religiösen, Freiheit). „Als Rom Italien unterjocht hatte, fingen seine Händel mit Karthago an; und mich dünkt, auf eine Weise, der sich auch der entschlossenste Römerfreund schämet.“ (a. O., S. 595) Vgl.: „[…] noch bedaurender wende ich mich Westwärts zu den verheerten Nationen in Spanien, Gallien und wohin weiter die Hände der Römer reichten.“ S. 599. 11 Vgl. a. O., S. 608, „[...] der Kriegsgeist Roms allein sich zuletzt selbst verderben [...] mußte“. 12 Wobei sich in Cäsar als Sonderfall die Rolle von Herrscher und Schriftsteller kreuzen. Dies gilt etwa auch im Falle Ciceros (Senecas), da sich in ihren Personen die Funktionen des Politischen und Literarischen vereinen. Dies hängt von der für den Römergeist veranschlagten Gattung ab, der als Zwitterwesen diese Doppelung eingeschrieben ist. Die Rede wird als Medium des Politischen zum stilbildenden Mittel von Historiographie und litera-
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fühltet ihr, da ihr als abgeschiedene Geister von eurem Sternenhimmel auf Rom, die Räuberhöhle und auf euer vollführtes Mörderhandwerk hinunter sahet?“ (600) Die direkte Ansprache zuschauender Protagonisten distanziert sie zudem von der eigenen Historie, dem ihnen zugehörigen Gegenstand. Als irrationales Moment von Geschichte muss Grausamkeit ausgeglichen werden. Insofern kann das römische Reich nicht als in sich geschlossenes Gefüge, in dessen Rahmen Geschichte auf etwas hinarbeitet, eingefasst werden. Ihre „Fäden“ laufen nicht „an wenigen Hauptpunkten zusammen“ wie die Geschichte Griechenlands (557), obgleich irrationale Momente auf eine Ursache, die Verfassung selbst, zurückzuführen sind.13 An dem Punkt, wo sich das Dilemma römischer Politik narrativ nicht mehr auffangen lässt, wird das „Gesetz der Wiedervergeltung“ nicht etwa als göttlich-moralische Einrichtung, sondern als physikalisches Naturgesetz bemüht. „Das Gesetz der Wiedervergeltung ist eine ewige Naturordnung. Wie bei einer Waage keine Schale niedergedrückt werden kann, ohne daß die andre höher steige: so wird auch kein politisches Gleichgewicht gehoben, kein Frevel gegen die Rechte der Völker und der gesamten Menschheit verübt, ohne daß sich derselbe räche und das gehäufte Übermaß selbst sich einen desto schrecklichern Sturz bewirke. Wenn Eine Geschichte uns diese Naturwahrheit zeigt: so ists die Römische Geschichte; [...].“ (601)
Der Text proklamiert als Naturgesetz, was als narratives Strukturelement Konfliktbildung, Dynamik und Positionswechsel erlaubt: ein Aufschaukeln der Ereignisse sowie die letztlich ausgleichende Gerechtigkeit. Mit der Metaphorik der Waagschale gemahnt der Text nicht allein an das Bild der Gerechtigkeit, sondern untermauert es zugleich mit einer physikalischen Komponente, um dessen naturgesetzliches Fundament zu konsolidieren. „In alle diesem zeigen sich die Gesetze der Wiedervergeltung nicht anders als die Gesetze der Bewegung bei dem Stoß des kleinsten physischen Körpers und der höchste Regent Europa’s bleibt den Naturgesetzen des Menschengeschlechts sowohl unterworfen, als der Geringste seines Volkes.“ (668) rischer Aufzeichnung. Dabei lässt sie sich als rhetorische Rede nicht eindeutig im Feld des Literarischen oder Pragmatischen positionieren, insofern etwa die Gerichts-, Senatsoder Volksrede Ciceros in einen literarischen Dialog, ein Zwiegespräch überführbar wird. Vgl. auch a. O., S. 614! 13 „I. Im Innern der Verfassung Roms lag ein Zwiespalt, der, wenn er nicht gehoben ward, den Untergang desselben früher oder später bewirken mußte; es war die Einrichtung des Staats selbst, die unbilligen oder unsichern Grenzen, zwischen dem Rat, der Ritterschaft und den Bürgern.“ A. O., S. 601.
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Neben die Bekräftigung des Naturgesetzes reihen sich gehäuft Auftritte Roms (sowie andere metaphorische Fassungen von Geschichte) ein. Historische Ereignisse und Verläufe werden als „schreckliche[s] Schauspiel“ (608)14 verfolgt oder gar als „Trauerspiel“ (610) bedauert. Kampfplatz schicksalshafter („Großes Schicksal!“, 609) Darbietungen ist die Bühne als Ort des doppelten Diskurses. So findet das römische Leben für gewöhnlich auf öffentlicher Rednerbühne statt. „Nur Einmal standen jene alten Römer auf der Schaubühne und spielten meistens als Privatpersonen, das fürchterlich-große Spiel, dessen Wiederholung wir der Menschheit nie wünschen mögen. Lasset uns indessen sehen, was im Lauf der Dinge auch dies Trauerspiel für Glanz und große Seiten gehabt habe.“ (609f.)
Das Pathos der Tribüne („Glanz und große Seiten“, 610) kongruiert mit den Vorstellungen großer Männer, die als singuläre (heldenhafte) Ausnahmen historischer Gesetzlichkeit einstehen.15 Demnach führt das „Trauerspiel“ nicht bloß Machtpolitiker, sondern mit allen menschlichen Schwächen begabte Protagonisten ein, die sich in persönliche Machthändel und Intrigen verstricken. Dennoch nutzt Herder das „Trauerspiel“ mitnichten als leere Metapher, um der irrationalen, überschießenden Geschichte einen Namen zu geben, sondern baut die Szene auf der Bühne zusätzlich narrativ auf. Dabei hält er sich nicht als stiller Beobachter im Hintergrund oder dirigiert das Geschehen vom Rand der Bühne aus (gibt Regieanweisungen), sondern tritt selbst zwischen die Helden des Stückes – von denen einer bereits tot auf den Brettern liegt. Als dritter Akteur – beinahe als Chor – erhebt er die Stimme, mischt sich ins Drama ein, und verleiht damit der historischen Gerechtigkeit oder auch Brutus’ schlechtem Gewissen Ausdruck (insofern wäre hier von Prosopopoiia zu sprechen). „Aber gegen ihm über stehet sein Freund Brutus mit gezucktem Dolch. Guter Brutus, bei Sarden und Philippen erschien dir dein böser Genius nicht zuerst; er war dir längst vorher unter dem Bilde des Vaterlandes erschienen, dem du mit einer weichern Seele als deines rohen Vorfahren war, die heiligern Rechte der Menschheit und Freundschaft aufopfertest. Du konn14 A. O., S. 608, etwas weiter unten: „Dies Schauspiel dauerte fort.“ Die Schauspielmetaphorik ist hier kein technischer, sklerotischer (strukturaler) Begriff, sondern wird durch die Satzstellung mit pathetischem Ton angereichert: „[...] und Rom floß von Blut über.“ 15 Das akteursgebundene (personale) Wirkungsmodell wird für die römische Geschichte generell beansprucht. Staats- und Privatperson trennt diese Annahme kaum voneinander, woraus sich ebenso grauenhafte Konflikte wie vorbildliche Politiker generieren. Positive Eigenschaften, die aus der Publizität strömen: a. O., S. 611. „patriotische[ ] Tugenden“, Tapferkeit, S. 613, „Gesetzgebung, Beredsamkeit und Geschichte“, S. 611, „Römischen Mutes“.
482 │S UBTEXTE DER M ENSCHHEITSGESCHICHTE test deine erzwungene Tat nicht nutzen, [...]. Nichts blieb dir übrig als dein eigner Stahl, [...].“ (611f.)
Brutus’ persönliche Adressierung bettet die Freveltat in den historischen Kontext und die unbeabsichtigte politische Folgenlosigkeit des Mordes ein. Die lebhafte Szenerie des Schauspiels zieht den Zuschauer oder Regisseur förmlich auf die Bühne, zwingt ihn, den sprachlichen Gestus der Akteure zu reproduzieren. Bereits einleitend situiert der Text den Beschauer (Roms) inmitten des historischen Geschehens und erweitert damit das Motiv der Wanderungsbewegung, die der Leser zu vollziehen hat. „Wir gehen also auf dem Blutbetrieften Boden der Römischen Pracht zugleich wie in einem Heiligtum klassischer Gelehrsamkeit und alter überbliebner Kunstwerke umher, wo uns bei jedem Schritt ein neuer Gegenstand an versunkne Schätze einer alten nie wiederkehrenden Weltherrlichkeit erinnert.“ (576)
Museales Interesse wird als Umhergehen auf dem Schlachtfeld inszeniert, auf dem die Artefakte verstreut herumliegen. Verglichen mit der griechischen Geschichte, deren mediale Folie Gemälde, Epos und Allegorie bilden, löst Roms Bühnenmetaphorik die historische Distanz zunehmend auf – gerade dort, wo der Beobachter sich von seinem Gegenstand abzugrenzen sucht. Im Verlauf des doppelten Diskurses handelt der Text einige Gattungen römischer Kultur, ihres „grausamen, stolzen und wilden“, „zusammenraffenden, auftürmenden“ Geschmacks (620) ab. Als „ausländische Blume“ besitze die „Poesie der Römer“ (616) wenig Originalität, ihr kreatives Talent erschöpfte sich darin, dass sie „[…] das anderswo Erfundene barbarisch gnug zusammensetzten“ (620). Den Hang zum Theatralischen stützt der Text durch die fehlende Überlieferung einer beträchtlichen „Menge Trauer- und Lustspiele“ (616f.). Bei diesem Fundus handelt es sich um eine „Menge“, die nur aus sekundären Quellen bekannt ist, die sie erwähnen: kein unwiederbringlicher kulturgeschichtlicher Verlust, wie Herder klarstellt. Obgleich jene Bühnenwerke nicht erhalten sind, trifft der Text Aussagen zum römischen Geschmack. „Das Römische Volk erfreuete sich an Possen und Pantomimen, [...] oder gar an blutigen Fechterspielen viel zu sehr, als daß es fürs Theater ein griechisches Ohr und eine griechische Seele haben konnte. Als eine Sklavin war die szenische Muse bei den Römern eingeführt und sie ist bei ihnen immer auch eine Sklavin geblieben; [...].“ (616)
Somit veranschlagt der Text zwei qualitativ auseinanderdriftende Profile des Theatralen, zu denen die avancierte griechische Tragödie einerseits und die sklavischen „Trauer- und Lustspiele“ der Römer andererseits zählen. Die „Kunst der Rö-
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mer“ (618) kulminiert in architektonischer Repräsentation. „Ruhmeszeichen“, „Denkmale“, „Mauer“ (Limes), „ungeheure Wasserleitung“, „Galerien“, „Tempel“, „[…] Gerichtssäle und jener ungeheure Zirkus“, „Tore und Türme“, „Theater und Amphitheater“, „Zirken und Stadien“, „Triumphbogen und Ehrensäulen“, „prächtige[ ] Grabmale und Grabgewölbe“, „Landstraßen und Wasserleitungen“ sowie „Paläste und Bäder“ (619) geben sichtbare Indizien des „zusammenraffenden, auftürmenden Geschmack[s]“ (620) ab, der sich alles aneignend keine eigene Nationalkultur kreiert. Einzig die Philosophie bildet eine Ausnahme. Unter Tilgung der Dichter, nämlich ihrer Überführung in die Philosophie, hebt der Text die intellektuellen Leistungen Roms als praktisch orientiert hervor. „Freudiger wende ich mich von den römischen Dichtern zu den Philosophen; manche waren oft beides und zwar Philosophen von Herz und Seele. In Rom erfand man keine Systeme; aber man übte sie aus und führte sie [...], ins tätige Leben.“ (617) In Lehrdichtung („Lehrdichter“, „Lehrsätze“) und „schönen Gesprächen“ fallen poetische und philosophische Gattung zusammen, die stoische Philosophie gestaltet „[…] eine praktische Festigkeit und Schönheit […]“. (alle 617) Ästhetik unterwirft sich innerhalb der römischen Kultur praktischen Zwecken. Ob die Dichtung neben der Philosophie entbehrlich wird oder völlig in ihr aufgeht, ähnlich wie die „szenische Muse“ (616) dem römischen Theater nur als Sklavin dient, bleibt als Frage hintergründig. Der philosophischen Blüte von Lehrgedichten korrespondiert die Konjunktur der Rede, die als charakteristisch römische Kunst benannt wird und sich durch pragmatische Gattungen auszeichnet. In das Ensemble pragmatischer Gattungen, denen „Staats- und Kriegskunst“ (614) angehören, reiht sich nicht zuletzt die Historiographie selbst ein. „Römische Würde“, „philosophische und politische Klugheit“ treten als Züge des historiographischen Stils zutage, der ungleich nüchterner als die „[…] Anmut und süße Schönheit der griechischen Historie“ (vgl. 614) ausfällt. Wie im Falle der „Menge Trauer- und Lustspiele“ stehen materiale Überlieferung sowie Kunde aus zweiter Hand („wo sind [...]?“, 613) in asymmetrischem Verhältnis. „Nach den wenigen Bruchstücken und Proben […]“ (614) lässt sich urteilen, dass etwas, sogar was fehlt, über deren stilistische Amplifikation dann Aussagen zum Stil (der Historiographie) insgesamt getroffen werden. Der geringste Verlust betrifft die Haupt-Gattung, die „Beredsamkeit“ (615), da ein Autor ganz legitim als exemplarischer Ersatz für „viele“ gelesen wird. Größeren Schaden nimmt die „Gelehrsamkeit“: „Die Geschichte der Römischen Gelehrsamkeit endlich ist für uns eine Trümmer von Trümmern, da uns größtenteils die Sammlungen ihrer Literatur sowohl, als die Quellen fehlen, aus welchen jene Sammlungen geschöpft waren.“ (618) Als Zertrümmerung des unlängst Zertrümmerten, welche die verlorenen „Sammlungen“ (als Schwundstufe) metaphorisiert, erleidet die römische Kulturgeschichte eine doppelte Fragmentierung, die sie einem zwiefältigen Vergessen aussetzt. Nicht einmal mehr die Sammlung, deren „Quellen“ unwiederbringlich ver-
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schüttet sind, ist als willkürliche, unvollständige, zufällige Auswahl erhalten. Dennoch nimmt sich die sekundäre Einsicht, eine Art Hörensagen im Schriftlichen, als unverzichtbares Moment im doppelten Diskurs römischer Geschichte aus. Einerseits kämpft sie gegen den hausgemachten Untergang ihrer Zeugnisse an, deren zweifach vermittelte Existenz durch Literatur – die sie schlicht erwähnt oder anzitiert – für Herders Fassung ihres doppelten Diskurses unausweichlich ist. Andererseits wirft die Geschichte Roms ein globales narratives Dilemma auf, insofern sie Irrationalität und Ungerechtigkeit erzwingt, welche allenfalls durch eine längerfristige Perspektive aufgehoben würden. Auf die lange Bank geschoben, wird das „Trauerspiel“ in Naturgesetze eingegliedert, die mit mathematischer Gewissheit zu berechnen seien. Ausgleich schaffen weder das heilsgeschichtliche Versprechen noch in Naturgesetze verwandelte, insgeheim waltende Metaphysik. Im Gegenteil lasse sich die Balance ohne metaphysischen (Geschichts-)Ballast ausrechnen, da sie a priori feststehe. Das Politische artikuliert sich zunehmend im Paradigma des Mathematischen, obgleich es konträr zum „Trauerspiel“ vorab als politischer Roman avisiert wurde. „Wollte man einen politischen Roman erfinden, wie ein Rom etwa habe entstehen mögen? so wird man schwerlich glücklichere Umstände erdenken, als hier die Geschichte oder die Fabel uns wirklich gibt.“ (584) Die römische Geschichte liefert eine ideale Romanvorlage, in ihr sind Motive, die zum Stoff romantischer Erzählungen taugen, reichlich vorhanden.16 Wo liegen die Grenzen zwischen Roman und Trauerspiel bzw. wo greifen sie als Medien des Historischen (im Kontrast zu Gemälde oder Allegorie) ineinander? Wann wird es notwendig, Erzählstrategien zu ändern bzw. vollends aufzugeben, um andere strukturgebende Kurse einzuschlagen? Als „Naturerzeugung“ (623) folgt die Geschichte keiner verborgenen Teleologie, sondern wird von ihr entbunden. „Nichts stünde dieser Parteilosen Betrachtung mehr entgegen, als wenn man selbst der blutigen römischen Geschichte einen eingeschränkten, geheimen Plan der Vorsehung unterschieben wollte; wie wenn Rom z. B. vorzüglich deshalb zu seiner Höhe gestiegen sei, damit es Redner und Dichter erzeugen, damit es das Römische Recht und die lateinische Sprache bis
16 „Rhea Sylvia und das Schicksal ihrer Söhne, der Raub der Sabinerinnen und die Vergötterung des Quirinus, jedes Abenteuer von roher Gestalt in Kriegen und Siegen, zuletzt ein Tarquin und eine Lukrezia, ein Junius Brutus, Poplicola, Mutius Scävola u. f. gehören dazu, um in der Anlage Roms selbst schon eine ganze Reihe künftiger Erfolge zu malen.“ A. O., S. 584. Jene umstandslose wechselseitige Übertragbarkeit von Geschichte und Roman könnte sich der Struktur der „Fabel“ verdanken, welche keiner Differenz von fiktional oder faktual untersteht. Sie ist das einzig Überlieferte und verweist damit bereits auf die Gemachtheit, die narrative Vorstrukturierung von Geschichte.
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an die Grenzen seines Reichs ausbreiten und alle Landstraßen ebnen möchte, die christliche Religion einzuführen.“ (623)
Es gilt also, dem Irrtum vorzubeugen, sich mit den Naturgesetzen zugleich auf die Vorsehung zu berufen.17 Selbst wenn konkrete Fakten zuzugestehen wären (sie kommen in der Geschichte vor, treten auf die historische Bühne und hinterlassen Spuren), aus mancher Dynamik weitere Gegebenheiten (als Begleitumstände) entspringen, kann dieser Wandel nicht als geplant oder mutwillig (erzeugt) interpretiert werden. Für etwaige Triumphe römischer Kultur wäre der Preis zu hoch: „Um eine Aeneis des Virgils, um die ruhige Muse eines Horaz und seine urbanen Briefe zu erkaufen, mußten Ströme von Römerblut vorher vergossen, zahllose Völker und Reiche unterdrückt werden; waren diese schönen Früchte eines erpreßten goldnen Alters solches Aufwandes wert?“ (624)
Die menschheitsgeschichtliche Bilanz fällt negativ aus, alle Errungenschaften römischer Historie können durch Rom verursachte Übel kaum aufwiegen. Zwar folgen einige Begebenheiten zwangsläufig, da sie Naturgesetzen unterstehen, die dauerhaft Gleichgewicht wiederherstellen. Dennoch weist der Text sie als desorganisiert, verheerend aus. Obwohl die Vorsehung einerseits ausgestrichen, vor dem römischen Regiment gerettet wird, insofern Menschheitsgeschichte nicht als durchgängige Verkettung gefasst18, sondern Rom ihr als Bruch eingetragen wird, schlägt sie andererseits Brücken, was hinter ihrer Befähigung zurückbleibt: „ja es wäre Gottesunwürdig, sich einzubilden, daß die Vorsehung [...] keine andern Werkzeuge gewußt habe“. (625) Als Werkzeug der Vorsehung entspräche Roms Herrschaft einem häretischen Akt, „[d]ie Brücke wäre die schlechtste, die gewählt werden konnte“. (626) Rom als Bestandteil eines weitgespannten Narrativs zu werten und es dort einzufügen, wirft ein narratives Dilemma auf. Auf der einen Seite dürfen dessen Irrationalität, seine fatalen Auswirkungen, nicht überkompensiert, ihm darf kein geheimer Plan untergeschoben werden. Auf der anderen Seite bedarf es dennoch seiner Rechtfertigung und Eingliederung in übergreifende Kontexte. Eine Strategie, dieses Dilemma zu überwinden, verfolgt der Text darin, von der Vorsehung entkoppelte Naturgesetze zu behaupten. Trotzdem kann Rom nicht radikal außerhalb 17 „ja es wäre Gottes-unwürdig, sich einzubilden, daß die Vorsehung für ihr schönstes Werk, die Fortpflanzung der Wahrheit und Tugend keine andern Werkzeuge gewußt habe, als die tyrannischen, blutigen Hände der Römer.“ (a. O., S. 625), Teleologie-Kritik generell s. ebd. 18 „Wir haben also auch der Meinung zu entsagen, als ob in der Fortsetzung der Zeitalter die Römer dazu gewesen sein, um, wie in einem menschlichen Gemälde über den Griechen ein vollkommneres Glied in der Kette der Kultur zu bilden.“ A. O., S. 625.
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der Vorsehung angelegt werden, sofern es in die Geschichte der Menschheit – der es so viele Übel zugefügt hat – integriert werden soll. Der Text beharrt auf dem wiedervergeltenden (640) Naturgesetz (632, 633, 634, 636, 637, 639, 640) und unterfüttert dessen Walten mit sich zum Teil auf empirische Sachverhalte berufenden Phänomenen (638).19 Dann wechselt er aber, wie schon bei „Trauerspiel“ und „Roman“, ein weiteres Mal sein Paradigma. Der „politische[ ] Roman“ (584) wird über „Naturgesetze“ in den „politischen Calcul“ überführt. Nun gelten unversehens apriorische Gesetze, noch bevor berechnende Handlungen einen nachtragenden Ausgleich notwendig machen. „Da nun diese Grundsätze eine Naturordnung sind, [...] die auf sich selbst d. i. auf der Natur der Unterdrückung [...], wie auf Gesetzen eines gestörten Gleichgewichts ruhet [...]: warum sollte man zweifeln müssen, daß diese Naturgesetze nicht auch, wie jede andre, erkannt und je kräftiger sie eingesehen werden, mit der unfehlbaren Gewalt einer Naturwahrheit wirken sollten? Was sich zur mathematischen Gewißheit und auf einen politischen Calcul bringen läßt, muß später oder früher als Wahrheit erkannt werden: denn an Euklides Sätzen oder am Einmal Eins hat noch niemand gezweifelt.“ (640)
Strategisch sucht der Text sein Argument der Wiedervergeltung noch stärker als über Naturgesetze abzusichern. Es wird epistemisch geadelt und in den Stand mathematischer Gewissheiten erhoben. Überdies wird die „Naturordnung“ dadurch politisch rückgebunden. Politik ist Gegenstand der Berechnung, des „politischen Calcul[s]“, weshalb darauf zu achten ist, keine Rechenfehler zu begehen. Dass alles vorauszuberechnen sei, widerspricht der zuvor gemiedenen (retrospektiven) Über19 Ab a. O., S. 627, beginnt mit dem fünfzehnten Buch der „Ideen“ eine eingeschobene globale Reflexion, die an die Präsentation der römischen Geschichte anschließt, zwischen die römische und die Geschichte der nordischen Völker geschaltet ist. Die Applikation der Naturgesetze auf die römische Geschichte wird jedoch bereits auf S. 601 geleistet. „Wiedervergeltung“ und Waagschale bilden Schlagwörter (bzw. Metaphern) des politischen Gleichgewichts. Einander gegenüberliegende Massen oder Mengen werden zwar nicht berechnet, jedoch durch die (Metapher) Waage mittels eines technischen, Ausgleich schaffenden Verfahrens austariert. Schließlich deponiert man auf einer Seite der Waagschale Gewichte, die sowohl symbolische als auch materiale Funktion besetzen. Für die materielle Funktion ist zwar unerlässlich, dass sie selbst ein spezifisches Gewicht einnehmen. Allerdings dient ihre Masse als Stellvertreter (Gegengewicht) diverser, variierender Gegenstände, die in ihrer handfesten Materialität das Interesse des Handels wecken. Die Gewichte bedeuten durch die ihnen auf- oder eingedrückte Zahl. Da die konventionalisierten Gewichte das spezifische Gewicht der gegenüberliegenden Gegenstände nie ganz treffen, wird hier schon eine Addition oder Subtraktion von Gewichten (aber auch von Mengen in der anderen Schale) durchgeführt.
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determinierung, wodurch das „politische[ ] Calcul“ als (trickreiche) Ermunterung oder Warnung Herrschender lesbar wird. Anstelle humanistischer Postulate löst die „Berechnung“ die Aufgaben vernünftigen, geordneten Handelns und garantiert es umso zwangsläufiger. Mit der Mathematisierung verfolgt der Text eine Doppelstrategie. Zum einen erhebt sie das Gesetz der Wiedervergeltung auf die höchste Stufe des Wissens (der apriorischen Gewissheit). Zum anderen schwächt sie das ethische Argument zugunsten einer nüchternen Rechenoperation ab, die in den größten Nutzen aller münden soll – „wenn nicht aus Völkerliebe, so aus sparender Berechnung.“ (642) Ohne einen Fundus an Erfahrungen scheint die Berechnung indessen kaum durchführbar, sie bedarf des Vergleichs zweier äquivalenter Werte, von denen einer sich als unter falschen Vorzeichen stehend erwiesen hat.20 Implizit rechnet Herder mit Machiavellis „Il Principe“ ab und erweist die Zwangsläufigkeit und Unbestechlichkeit mathematischer Berechnung wiederum paradoxal aus der – von ihm zu schreibenden, nun mathematisierten – Geschichte selbst: „sobald man nämlich klar wie der Tag einsieht, daß jede Staats-Unvernunft mit einem falschen Einmal Eins rechne und daß, wenn sie sich damit auch die größesten Summen errechnete, sie hiemit durchaus keinen Vorteil gewinne. Dazu ist nun die Geschichte geschrieben und es werden sich im Verfolg derselben die Beweise dieses Satzes klar zeigen.“ (646)
Demzufolge ist die Geschichte dazu geschrieben, mathematische Sätze zu beweisen. Ihr Narrativ dient als Hilfsmittel, als Grundlage der Berechnungen, wie sie zuvor unter apriorischer Absicherung (ihrer Gesetzmäßigkeit) in Formeln der Mathematik gefasst wurde. Damit entsteht ein argumentativer Zirkel, der die unbestechliche Mathematik einmal als Grundlage der Historie, dann aber die Historie als Fundus (Daten- und Formelsammlung) für die (kaum mehr mathematische) Begründung von Sätzen festlegt. In das „Naturgesetz“ (647) hält demgegenüber die ästhetische Organisation Einzug – ähnlich wie die narrative Ordnung die heuristische Grundlage mathematischer Beweise abgibt, da die Mathematik andernfalls ihrer Daten entbehrt. Ob „Schönheit“ zu errechnen sei oder die ungetrübte ästhetische Erkenntnis Rückschlüsse auf eine auf mathematischen Gesetzen beruhende Ordnung erlaube, bleibt in der Schwebe. Harmonie („harmonische[s] Gleichgewicht“) und „Proportion“ werden zu Regeln „nach diesem schönen Naturgesetz“. (647) Das „Naturgesetz“
20 „ja es muß eine Zeit kommen, da wir auf unsern unmenschlichen Negerhandel eben so bedaurend zurücksehen werden, als auf die alten Römersklaven oder die Spartanischen Heloten, wenn nicht aus Menschenliebe so aus Berechnung.“ A. O., S. 642.
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gewährleistet die schöne Ordnung demnach nicht allein, sondern gedeiht selbst zum ästhetischen Gegenstand.21 In einem ersten Schritt bemüht sich der Text, die Normativität von Naturgesetzen zu demonstrieren, von aller Erfahrung abzulösen, indem sie zur mathematischapriorischen Gewissheit erklärt werden. Dann wiederum kehrt er die narrativen Grundlagen des Gesetzes in der Historie hervor, um Naturgesetzlichkeit und ästhetische Regel (an anderer Stelle) miteinander zu verschränken. Schönheit wird als ökonomisches Prinzip („sparsam-schönste Form“, 647) in die Naturordnung inseriert. Anders formuliert: Was dem Naturgesetz entspricht, ihm angehört, ist außerdem schön, folgt dem „[...] vortreffliche[n] Gesetz, das Unordnung und Willkür aus der Natur verbannet und uns auch in jedem veränderlichen eingeschränkten Teil der Weltordnung eine Regel der höchsten Schönheit zeiget.“ (647) Lässt die Geltung des Naturgesetzes sich nun der schönen Erscheinung absehen, tritt Schönheit als Index naturgesetzlicher Konformität auf? Ist, was dem Naturgesetz folgt, selbst dann schön, wenn dies nicht auf den ersten Blick ins Auge fällt? Entpuppt sich die grausame römische Geschichte als schön, sofern sie sich (letztlich) dem Naturgesetz eingliedert? Dem ungeachtet würde ich darauf beharren, dass Urteile zur römischen Geschichte überwiegend vernichtend ausfallen, obwohl sie in künstlerische Metaphern wie „Roman“ (584) oder „Trauerspiel“ (610) gekleidet wird, die sich in erster Linie auf ihre Struktur beziehen.22 Die Übertragung in künstlerische Medien 21 In technischen Termini führt der Text eine „Art Vollkommenheit“ an, die „zum Beharrungszustande eines Dinges“ erforderlich sei (a. O., S. 647). Auch hier wäre der „Beharrungszustand[ ]“ zwischen „Maximum oder Minimum“ auszutarieren, die „Vollkommenheit“ liegt in der stimmigen Proportion (die ein Mehr oder Weniger einfordert). Der Sprachgebrauch irritiert etwas, da zunächst von einem „Maximum oder Minimum“ (des Dinges), dann aber vom „Maximum“ die Rede ist, auf dem die „Schönheit“ ruhe. Je nach gebotenem „Maximum oder Minimum“ könnte im Ergebnis (des schönen Gegenstandes) von einem Maximum (selbst des Minimums) zu sprechen sein (so mein Vorschlag). 22 Der „Roman“ empfiehlt sich als Struktur des Politischen bzw. das Politische offenbart sich als (in) Struktur(en) des Romans, in den Haupt- und Staatsaktionen verlagert werden. Zitate: „schreckliche Schauspiel“ siehe (a. O., S. 608), „Trauerspiel“ (S. 609-610). Sowohl Trauerspiel als auch Roman konzentrieren sich überwiegend auf das personale Ensemble, das sich affektiv, irrational oder zumindest unberechenbar verhält. Das „fürchterlich-große Spiel“ der „Privatpersonen“ trägt alle Züge eines „Trauerspiel[s]“, in dem „Großes Schicksal!“ verhandelt wird (S. 609-610). Demgegenüber ist der „politische[ ] Roman“ reich an personengebundenen Motiven („Raub“, „Schicksal“, „Vergötterung“, „Abenteuer“, S. 584), bedient sich zum Teil aus dem mythischen Fundus („Fabel“). Einige Namen, deren „Schicksal“ unentfaltet ruht, stehen tendenziell für die Geschichte selbst ein, sofern sie gleichsam für sich sprechen. Vgl. in diesem Abschnitt: FN 16 (ab „Tarquin“).
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führt keine durchgängige Ästhetisierung (moralische Rehabilitierung) des Gegenstandes mit sich. Der Text exerziert Strategien der Ablösung oder Verlagerung von Wissen und Begründungsansätzen sowie -szenarien durch, welche die Position zwischen fiktionaler oder faktualer Ausrichtung permanent in der Schwebe halten. Zugespitzt demonstriert er durch die Überführung epistemischer Felder ineinander, dass jene Grenze (für die Historiographie) nicht eingezogen werden kann bzw. sie (sich) ständig mit verschiebt. Mathematische Gewissheit etwa speist sich aus dem historischen Narrativ (646, „Dazu ist nun die Geschichte geschrieben und es werden sich im Verfolg derselben die Beweise dieses Satzes klar zeigen.“), wie sie sich wiederum selbst in es einspeist (640, „auf einen politischen Calcul bringen“). Naturgeschichte transzendentalisiert sich einerseits zur apriorischen Gewissheit, da „[…] Gesetze der Wiedervergeltung nicht anders als die Gesetze der Bewegung bei dem Stoß des kleinsten physischen Körpers […]“23 (640, 668) zählen, wie sie andererseits in ästhetischen Erscheinungen der Historiographie aufgesucht werden kann, dort „[...] eine Regel der höchsten Schönheit zeiget.“ (647) Ein basales narratives Dilemma (626), der Fremdkörper Rom, stößt die Verkettung, ein Erproben von Wissenszweigen an, von denen keiner zu bevorzugen oder dem anderen überzuordnen ist. Zwar verlässt der Wanderer das „Gewühl der Szenen“ (630), „[…] den hohen und schönen Naturgesetzen entgegen“, recht zügig. In Bezug auf Rom betont die Theatermetaphorik durchaus negative Tendenzen der Desorganisation, hebt unangemessene (da persönliche) Motive hervor und beteuert hohes, zudem grausames Schicksal. Ein positiver Theatralitätsbegriff ist der Historie in diesem Fall nicht abzugewinnen. Richtungsweisende deskriptive Funktion vermag er nicht zu übernehmen, Ablösungsfiguren wie „Roman“, „Naturgesetz“ und mathematisches „Calcul“ springen ein. So wie die „szenische Muse“ nur als „Sklavin“ (616) auf die Bühne römischer Inszenierung tritt, die Römer die hohe griechische Tragödie nie erreichen, erfüllt der ihre Historie verklammernde theatrale Aufbau die Rolle eines allumspannenden Narrativs nur näherungsweise. Allerdings lösen, wie ich gezeigt habe, selbst die „Naturgesetze“ ihre theatralen Vorläufer nicht umstandslos ab.24 Was bedeutet es nach den bisherigen Ausführungen, die „Rede“ (614f.) im doppelten Diskurs (vgl. FN 16 in diesem Abschnitt) als Volks-Kunst der Römer auszuweisen? Verlässt diese Gattung das Gefilde ästhetischer Produktion oder ist sie
23 Das physikalische Gesetz adressiert einen höheren Grad epistemischer Gewissheit, die sich auf das moralische „Gesetz[ ] der Wiedervergeltung“ niederzuschlagen verspricht. 24 Eine weitere Verlagerung von der Mathematik zur Geometrie habe ich nicht näher verfolgt, s. dazu a. O., S. 655, den „[…] Gang der Kultur [...] mit seinen abgerissenen Ecken, mit seinen aus- und einspringenden Winkeln […].“
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nur punktuell – sprachlich etwa über poetische, rhetorische Stilmittel – in ihm angesiedelt? Als Zwitterwesen positioniert sich die Rede zwischen Politik, Recht und Repräsentation (Lobes-, Staats- und Gerichtsreden). Dienen ihre ästhetischen Mittel der Überzeugung und fügt sie sich daher in das Schema eines delectare et prodesse? Böte ihre möglicherweise becircende Ausgestaltung den Ansatzpunkt der Kritik (für Rhetorikkritik)? Aus ihr entstehen zudem Literaturgattungen, denen ihre Verwandtschaft zur Ansprache jederzeit anzumerken bleibt. Wie ist es um den Konnex von Rede und dem Gewaltpotential römischer Geschichte bestellt? Schickt die Rede ihre Bürger ins Feld? Stachelt sie an? Verblasst mit dem ästhetischen Moment die moralische Facette der Rede? Immerhin weist Herder Moralität als zentralen Gegenstand praktischer römischer Philosophie aus, die Überführung „ins tätige Leben“ (617) leistet. 7.3 Mittelalter Der Übergang zum Mittelalter, zur mittleren Zeit, der unter räumlichen Verschiebungen vor sich geht, setzt einerseits die Erwanderung der Menschheitsgeschichte fort. Zunächst wird das einstweilige Etappenziel begrüßt, die Wanderung klingt in einen lockeren Spaziergang aus. „Mühsam haben wir bisher das dunklere Feld alter Nationen durchwandert; freudig gehen wir jetzt dem näheren Tage entgegen und sehen, [...].“ (671, die Passage entstammt der Zwischenreflexion) Der Schock römischer Historie sitzt so tief, dass das Lustwandeln durch die griechischen Haine vergessen scheint und das dunkle Mittelalter als Sonnenaufgang am Horizont sichtbar wird. Da die Lichtmetaphorik in der Regel dem Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit (bzw. zur Renaissance oder gar Aufklärung) vorbehalten ist und von Herder andernorts so verwendet wird, ist dieser Befund auffällig. Was uns vorschwebt, bleibt vage: um etwas konkret Geographisches oder kulturell Errichtetes wie Gebäude oder deren Trümmer handelt es sich nicht, vielmehr beschwört das „dunklere Feld“ die Impression eines Schlachtfeldes herauf, das bis zur Sättigung von Blut getränkt ist (vgl. auch: „unter ihm verblutete eine Welt“, 671). Nach dem Untergang Roms nehmen die „Ideen“ analog zur Frühschrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ eine Zäsur vor, welche eine (gedoppelte) Reflexionspause einschiebt. Auf „Allgemeine Betrachtungen über das Schicksal Roms und seine Geschichte.“ („Ideen“, 621-627), spezifisch Allgemeines also, folgen mit dem „Funfzehnde[n] Buch“ stärker abstrahierende Direktiven zur Menschheitsgeschichte (627-671), die als weiterführender Kommentar (nicht allein) römischer Geschichte gelesen werden können. In der Frühschrift entspricht jene Zäsur dem Abschnitt von Seite 32-42, der Zwischenreflexion über „[…] die Schwäche des allgemeinen Charakterisierens […]“: eine vielstimmige,
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(rhetorisch) aufgeregte Textpassage mit zahlreichen Kursiven, Zwischenrufen und pathetischer Anrede.25 Mehrere Zwischenüberschriften zum Thema „Humanität“ (630) – im konkreten Abschnitt mit den Unterpunkten „Vernunft“, „Billigkeit“ und „Schicksal“ (647/630) – segmentieren die allgemeinen Reflexionen der „Ideen“, in deren Rahmen die unlängst angerissenen Naturgesetze diskutiert werden. Was das Pathos der Überschriften zum Teil vorenthält bzw. in den Hintergrund drängt, liegt im Konnex von Moralität und Naturgesetzlichkeit beschlossen. Der Text bemüht sich, moralische Anliegen Naturgesetzen zu unterwerfen, um sie – physikalischen Gesetzen folgend – unweigerlichem Ausgleich (vgl. Zitate: „Ideen“, 601, 640, 668) zu überantworten. Dass dies nur durch Verschiebungen gelingen kann, welche der paradoxalen Struktur dieser Unterstellung ausweichen, habe ich im vorangehenden Abschnitt gezeigt. Sowohl den dritten (ab 425) als auch den vierten (ab 673) Teil der „Ideen“ durchziehen universelle Erläuterungen, die jeweils an die vorigen Abschnitte zu einzelnen Gebieten oder Völkern anschließen, sie kommentierend abschließen. In diesem Fall wäre von Binnenreflexionen zu sprechen: Meist heißen sie „Allgemeine Betrachtung[en]“, vgl. 458, 566, 621, 703, 798, 851; einmal finden sich abweichend „Weitere Ideen“ (507), am Ende steht eine „Schlussanmerkung“ (897). Obgleich Herders Texte generell dazu neigen, Exkurse einzuschalten, wird den „Allgemeine[n] Betrachtung[en]“ ein separater Ort eingeräumt, der sie auf ihre Aufgabe und in ihrem Umfang einschränkt (auf drei bis acht Seiten, bei der „Schlussanmerkung“ sind es nur zwei). Rund vierzig Seiten reflexive Unterbrechung, die zudem schon vorhandenen „Allgemeine[n] Betrachtungen“ zu Rom angefügt werden, stellen daher ein markantes singuläres Strukturmerkmal innerhalb der „Ideen“ dar.26 Mehrfach wird der Bruch Rom(s) hier versuchsweise wiederaufgefangen. An dieser Stelle ist es Zeit, die groben Differenzen der Historie vor und nach dem Bruch einzuschieben (zwar vom dritten Teil und damit von „Sina“ ausgehend, signifikant dagegen mit Griechenland beginnend). Im Gegensatz zur Geschichte der „nördlichen alten Welt“ (677) strukturieren sich griechische und römische Historie vorzugsweise über Helden-Namen, große Männer (Persönlichkeiten) der Epoche, 25 Vgl. meinen Text S. 334f., S. 409-413. Seitenangaben zu den „Ideen“ weiter im Fließtext in Klammern. 26 Dort kommt so etwas nur einmal vor. Dass wiederum ganze Bücher (besonders das vierte und fünfte Buch) aufgrund ihrer thematischen Anlage – Spezifik menschlichen Daseins innerhalb der Naturordnung – sowie das siebte und achte Buch mit ihrer Klimatologie, das neunte in seinen Ansätzen zur Kulturgeschichte, dazu neigen, jenen expositorischen Charakter zu tragen, steht auf einem anderen Blatt. Das Allgemeine ist dezidiertes Thema der so ausgewiesenen reflexiven Einschübe, was nicht heißt, dass es nicht in anderen Kontexten wiederauftaucht.
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deren schiere Erwähnung ihnen verbundene Narrative oder Zeugnisse (Quellen) nicht selten erübrigt (nicht allein, wenn auf mythische Ursprünge Bezug genommen wird). Ihr Schicksal wird als (unter Bildungsbürgern) bekannt vorausgesetzt. Die konturierten Plots entfalten, meist Rom betreffend, das Naturgesetz des Verfalls, der Dekadenz geschuldeten Selbstzerstörung. Pauschal suchen sie das naturgesetzliche Paradigma zu etablieren: eine Tendenz, die sich verstärkt im Zuge der langen Zwischenreflexion durchsetzt. Zeitangaben zeichnen sich allenfalls über historischen Personen verknüpfte (welthistorische) Ereignisse wie politische Intrigen (der Römer) ab.27 Demgegenüber ist die Geschichte des Nordens hinreichend mit Sekundärquellen ausgestattet, die zum Teil zeitgenössischen Universalgeschichten, aber auch der Kultur- und Sprachgeschichte des gesamteuropäischen Raums entnommen werden (es handelt sich mehrheitlich um relativ zeitnahe Quellen). Zeugnischarakter kommt vorwiegend zu Beginn des vierten Teils sprachhistorischen, etymologischen, literatur- bzw. motivgeschichtlichen28 Untersuchungen sowie Vergleichen zu.29 27 Allerdings werden die Konflikte durch die Theatermetaphorik (teilweise) ins Private verlagert, vgl. das Zitat a. O., auf S. 609f., „[...] und spielten meistens als Privatpersonen“. Darin könnte freilich bereits eine erzähltheoretische (metahistoriographische) Wende einer dergestalt strukturierten Historie bestehen. Sofern große Männer als Einzelakteure vorgestellt werden, welche die Geschichte steuern (die Geschichte sind), kann ihr Gegen- oder Miteinander konsequent als Aufeinandertreffen auf dem Schauplatz oder der Bühne figuriert werden. Nebenumstände treten zurück, dienen als Bühnenbild, als Staffage. Über seine Hauptdarsteller bleibt der Konflikt jederzeit mit zu verfolgen, bis er in die überraschende Wendung mündet. Die Vermittlung historischen Geschehens auf der Bühne birgt (metahistorisch) ein Denken in Konfrontationen, da identifizierbare, überschaubare Positionen durch Akteure gegeneinander geführt werden. 28 Beispiele: Literaturverweise in Fußnoten dazu a. O., auf S. 679, S. 680, S. 683f., S. 686, S. 687. Dies betrifft die „Vasken, Galen und Kymren“ (ab S. 679), also eine recht knapp abgefasste Geschichte, einen Ausschnitt; danach wird vermehrt auf historiographische Werke Rücksicht genommen. Sprache (Sagenstoffe wie die Artussage) dient hier als Instrument der Ursprungsforschung, als letztes Mittel, etwas über eine Zeit zu erfahren, von der man wenig weiß. Was der Text anschließend behauptet, geht implizit aus diesem Fundus hervor, wird nicht direkt belegt. 29 Eine heuristische Begründung für dieses Verfahren findet sich etwa bei August Ludwig Schlözer: Allgemeine Nordische Geschichte. Aus den neuesten und besten Nordischen Schriftstellern und nach eigenen Untersuchungen beschrieben, und als eine Geographische und Historische Einleitung zur richtigern Kenntniß aller Skandinavischen, Finnischen, Slavischen, Lettischen, und Sibirischen Völker, besonders in alten und mittleren Zeiten, Halle, 1771. Vgl. dort S. 263, „Von den Stamm-Völkern des Europäischen Nordens.“, S. 267 zur Quellenlosigkeit bzw. „lauter Möglichkeiten“, die sich aus dem „Man-
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Namen bieten hier wenig Anhaltspunkte zur Chronologie, Jahreszahlen kommen bisher nicht vor.30 Ergänzend greift der Text ein alternatives Programm, „Gatterers Einleitung zur Universalhistorie“ (Herder, „Ideen“, 687), auf, die sich zudem als „Erläuterung seiner synchronistischen Tabellen“ versteht: ein Hilfsmittel, um gleichzeitig vorfallende Begebenheiten der Weltgeschichte miteinander in Bezug zu setzen, ihre Parallelität auszuweisen, um dennoch prinzipiell chronologisch und unter Berücksichtigung recht detaillierter Zeitangaben zu verfahren.31 Der Verweis auf „Schlötzers allgemeine Nordische Geschichte“ in derselben Fußnote rechtfertigt nicht nur das sprachhistorische etymologische Verfahren. Sondern Schlözer selbst gibt mit seiner Einleitung einen großangelegten Überblick, der „Nachrichten“ und deren Quellen eng miteinander verschränkt, „Summarien dieser Einleitung in die ganze Nordische Geschichte.“ bietet.32 Herder unterlässt hier, was andere scheinbar besser beherrschen. Er überlässt Chronologie, Quellenkunde und Quellennachweis den Experten der Universalgeschichte, um abweichende Akzente zu setzen. Das Erzählziel „Europa“33 wird unter dem „Namen der Europäischen Republik“ („Ideen“, 678) in der Überleitung zur „nördlichen alten Welt“ (677) rasch anvisiert, metaphorisch als „Gebäude“ oder „Riesentempel[ ]“ (678) errichtet (gemeinhin dient das „Gebäude“ bei Herder als systematische Metapher). Dem mittelalterlichen Europa, das zu Beginn durch Völkerwanderungen geprägt ist, wohnt eine eigentümliche Ambivalenz inne, welche sich näher über den doppelten Diskurs erschließt. Die politischen Manöver „Deutscher Völker“ (690) nehmen sich als „wilde Vorspiele eines Systems“ (692) aus, sofern sie durch deren „stehende[ ] Kriegsverfassung“ (692) dereguliert werden. Alles in allem handelt es sich bei Europa um eine wilde Mischung, welche die Grundlage tiefgreifender, gel der Zeugnisse“ ergeben, ferner im Inhaltsverzeichnis die Überschrift, welche S. 288 zugeordnet ist. Im Text findet sie sich so nicht wieder, fasst Schlözers Verfahren aber thematisch zusammen, das folgende Untersuchung durchführt: „Neuer Weg, die Stammvölker des Nordens wieder zu finden, durch Erforschung der Haupt-Sprachen“. Ab S. 1: „Summarien dieser Einleitung in die ganze Nordische Geschichte.“ (S. 2, „Summarische Einleitung in die ganze Nordische Geschichte.“) 30 Erst ab Herder, Ideen, a. O., S. 756 bzw. im Jahre 395 n. Chr. Dies schuldet sich dem Versuch, die Geschichte der „Vasken und Kantabrer“ (S. 679) über die Zeiten hinweg einmal komplett zu erzählen (S. 679f.); mindestens von den Zeiten des Augustus an (S. 679) bis zur Herrschaft Karls des Großen (S. 680). 31 Johann Christoph Gatterer, Einleitung in die synchronistische Universalhistorie zur Erläuterung seiner synchronistischen Tabellen, Göttingen, 1771. 32 Vgl. Herder, Ideen, a. O., S. 687; diesen Abschnitt: FN 29, Schlözers „Summarien“ ab S. 1. 33 Vgl. Massimo Mori, „Herder und Europa“, in: Herder im Spiegel der Zeiten. Verwerfungen der Rezeptionsgeschichte und Chancen einer Relektüre, München, 2006, S. 290-305.
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vollständiger Vermischung, „Verschmelzung“ (705), abgibt. Eine affirmativ besetzte Gemäldemetaphorik gerät vor den „Völkerschaften Europa’s“ an ihre repräsentationalen Grenzen. Das Gemälde leuchtet zu bunt, seine Farben schimmern zu undifferenziert, um weiter überschaubar zu sein. Es wirkt „verworren[ ]“, lässt sich nur noch „ungefähr“ fassen: „So ungefähr erscheint das Gemälde der Völkerschaften Europa’s; welch eine bunte Zusammensetzung, die noch verworrener wird, wenn man sie die Zeiten, auch nur die wir kennen, hinabbegleitet.“ (703) Schon die statische, etwa kartographische, Variante zeichnet sich durch Unübersichtlichkeit aus, ohne dass ihr die temporale Dimension ansatzweise eingetragen wird. Die rhetorische Frage, ob „[…] die Völker hier wie Mauern neben einander hätten stehen mögen?“ (703) negiert der Text zügig und weist Europa als multikulturellen Raum aus, der das Sujet der Anordnung, der Reihung, berührt: „In keinem Weltteil haben sich die Völker so vermischt, wie in Europa: in keinem haben sie so stark und oft ihre Wohnplätze, und mit denselben ihre Lebensart und Sitten verändert. In vielen Ländern würde es jetzo den Einwohnern, zumal einzelnen Familien und Menschen schwer sein, zu sagen, welches Geschlechtes und Volkes sie sind? ob sie von Gothen, Mauren, Juden, Karthagern, Römern; ob sie von Galen, Kymren, Burgundern, Franken, Normannen, Sachsen, Slaven, Finnen, Illyriern herstammen? und wie sich in der Reihe ihrer Vorfahren das Blut gemischet habe? Durch hundert Ursachen hat sich im Verfolg der Jahrhunderte die alte Stammesbildung mehrerer Europäischen Nationen gemildert und verändert; ohne welche Verschmelzung der Allgemeingeist Europa’s schwerlich hätte erweckt werden mögen.“34 (705)
Ob Gemälde, Tableau oder Fries: Wie beim Parharrsischen Demos ringt die Darstellung mit dem Problem des Nebeneinander, der Reihung („wie Mauern neben einander“) und ihrer akkumulierenden Auflösung („Verschmelzung“). Dem Zitat zufolge zielt der Text politisch auf ein dezidiert republikanisches Europa ab, das durch den kulturellen Faktor eines „Allgemeingeist[es]“ getragen wird.
34 Herder, Ideen, a. O., S. 705, vgl. S. 791, „Einimpfungen der Völker zu rechter Zeit […]“, S. 706, „denn alles neigt sich in Europa zur allmähligen Auslöschung der Nationalcharaktere.“ Obwohl die Rolle „Deutsche[r] Völker“ (S. 690) speziell in Bezug auf die Verfassungsbildung innerhalb Europas hervorgehoben wird, die Wendung „[…] Widerstand, [...] unsres Deutschlandes gegen die Römer […]“ fällt, wird Deutschland dezidiert als Vielvölkerstaat ausgewiesen, sofern von „mehrere[n] Völker[n] unsres Deutschlandes“ die Rede ist (S. 691). Germanen kommen nicht (mehr) vor; so werden sie im schon verlassenen Teil römischer Geschichte benannt (Begriff als Fremdzuschreibung griechischer, römischer Historiographen). Seitenangaben zu Herders „Ideen“ weiter im Fließtext in Klammern.
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Jener Faktor definiert sich, ohne ein herausragendes Merkmal zu bilden, genetisch über die bis zur Unkenntlichkeit erfolgte, zu bunte Vermischung (703), die jegliche Differenzierungen überwindende „Verschmelzung“, welche beharrliche Veränderungen suggeriert. Das Partizip „verändert“ kommt zwei Mal in diesem Passus vor. Dass der „Allgemeingeist Europa’s schwerlich hätte erweckt werden mögen“, schließt durch seine doppelte Konjunktivierung im Futur jedweden Abschluss dieses Vorganges aus. Einzelne Völker bleiben weiterhin benennbar, ohne dass sie an ihre Ursprünge zurückgebunden oder als Ursprünge ausgewiesen werden müssen. Kulturgeschichtlich findet der Synkretismus des Mittelalters seinen Ort im doppelten Diskurs. Insofern das Mittelalter als „Epoche des Christentums“ identifizierbar ist, zeichnet es sich durch auffallende Geschichtslosigkeit aus. Rückwärtsgewandt ereignet sich ein Bruch, der positive Aspekte ehemaliger Epochen ausweist, deren Schlachtfelder man kurz zuvor eilig zu verlassen suchte. Im Namen der Kirche wurde „der historische Glaube verletzt“ (717), die jener Verfehlung geschuldete „Bischofs-Kirchen und Mönchschronik“ fällt namentlich im Kontrast zur griechisch-römischen Historiographie unangenehm auf. „Und um so unangenehmer fällt dieses ins Auge, da die Epoche des Christentums sich einem Zeitalter der trefflichsten Geschichtschreiber Griechenlandes und Roms anschließt, hinter welchen in der christlichen Ära sich auf einmal, lange Jahrhunderte hin, die wahre Geschichte beinahe ganz verlieret.“ (717)
Über Art und Anlage der Geschichtsschreibung wird die Authentizität von Geschichte hier tatsächlich mitverhandelt, sofern der christlichen Historiographie neben der (verfälschenden) Hagiographie das Medium Chronik zugeteilt wird. Ein bereits erreichter historiographischer Standard wird zugunsten parteilicher, interessegeleiteter Aufzeichnungspraktiken preisgegeben. Wie am doppelten Diskurs Griechenlands und Roms gezeigt wurde, gehen Kulturgeschichte und (Geschichte der) Historiographie Hand in Hand: So entspringt das Historische in Griechenland zeitgleich mit dem Ästhetischen, strukturieren sich Werke römischer Historie als Reden. Die partielle Geschichtslosigkeit des Mittelalters korrespondiert genereller Geschmacksver(w)irrung, die sich durch die Begegnung mit dem Christentum noch potenziert. „Unglückseliger Weise trafen die christlichen Jahrhunderte mit Unwissenheit, Barbarei und der wahren Epoche des übeln Geschmacks zusammen, also daß auch in seine Gebräuche, in den Bau seiner Kirchen, in die Einrichtung seiner Feste, Satzungen und Prachtanstalten, in seine Gesänge, Gebete und Formeln wenig wahres Großes und Edles kommen konnte.“ (718)
Beides vereint ergibt, etwa die Liturgie betreffend, „[…] ein seltsames Gemisch von jüdisch-ägyptisch-griechisch-römisch-barbarischen Gebräuchen“. (718) Bereits
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vorhandener übler Geschmack trifft mit dem schlechten Geschmack des Christentums zusammen und schlägt sich in Gattungen und Medien der Epoche nieder. „Betrachten wir endlich den Geschmack in Wissenschaften, Sitten und Künsten, der sich von diesem ersten größesten Christenreiche verbreitet hat; so können wir ihn nicht anders, als barbarischprächtig und elend nennen.“ (740f.) Für jenes disproportionierte brodelnde „Gemisch“ (718) beansprucht der Text die Metapher „bunteste[s] Gemälde“35, und betont abermals dessen Indifferentialität. „Und da dieser christliche Geschmack sich mit der Zeit in Gerichts- und Staatsgebräuche, in die häusliche Einrichtung, in Schauspiele, Romane, Tänze, Lieder, Wettkämpfe, Wapen, Schlachten, Sieges- und andre Lustbarkeiten gemischt hat: so muß man bekennen, daß der menschliche Geist damit eine unglaublich-schiefe Form erhalten, [...].“ (718f.)
Eine „schiefe Form“ empfängt die politische Ordnung aufgrund von Problemen der Machtverteilung sowie -repräsentation, wie sie der Verbund von Lehenssystem und Wanderkönigtum aufwerfen. Kaum einzulösende Allgegenwärtigkeit erfordert Stellvertreter, welche sich mit dieser Rolle schwerlich begnügen können – „unter schwachen Königen“ steigen sie selbst zu „Landesherren oder Satrapen“ auf (vgl. 800f.): „Ihr Distrikt enthielt, wie ein Stück der Gothischen Baukunst, alles im Kleinen, was das Reich im Großen hatte“. (801) Jene fragmentarische Existenz – „[…] Bruchstücke, wo jeder Teil ein Ganzes sein wollte“ – zerstreuter, verlorener „Glieder“36 wird der Organisation eines „Polyp[en]“ verglichen, „bei welchem in jedem abgesonderten Teile ein Ganzes lebet“: das Bild einer unvollkommenen, unüberdachten Verfassung, deren Schwachstellen am (erweiterten) Körper des Königs offen liegen.37 35 „Eine Geschichte des christlichen Geschmacks in Festen, Tempeln, Formeln, Einweihungen und Komposition der Schriften, mit philosophischem Auge betrachtet, würde das bunteste Gemälde werden“. A. O., S. 718. 36 „[...] einigen derselben hat es noch nicht gelingen mögen, ihre eignen Glieder wieder zu finden.“ A. O., S. 801. 37 Ein breites Spektrum zum Thema entfalten Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann, Thomas Frank, Ethel Matala de Mazza, Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt am Main, 2007. Vgl. bei Herder, Ideen, a. O., S. 801f.: „Weil bei diesem Gesamtkörper alles auf Persönlichkeit beruhete, so stellete das Haupt desselben, der König, ob er gleich nichts weniger als unumschränkt war, mit seiner Person sowohl, als mit seinem Hauswesen die Nation vor. Mithin ging seine Gesamtwürde, die bloß eine Staatsfiktion sein sollte, auch auf seine Trabanten, Diener und Knechte über. [...]: so unnatürlich wards, als diese Kapellane und Truchsesse wirklich repräsentierende Gestalten des Reichs, erste Glieder des Staats, [...] sein sollten; [...]. Die alte Staatsfiktion wurde zur nackten Wahrheit“. Der „[...] Körper der Nation, [...] in kei-
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Jene Vervielfältigung, Verdoppelung im Innern beschreibt der Text als Formprinzip gotischer Baukunst. Die Prozedur interner Vervielfachung (Reproduktion) steht metonymisch für die mittelalterliche Staatenorganisation ein. Nicht nur die politische, sondern auch die Heilsordnung büßt durch dieses Verfahren zwar nicht an (klerikaler) Macht, jedoch an (spiritueller) Wirkmächtigkeit ein, sofern die römischkatholische Kirche sich einer „Ökonomie“ (813) „des Faßlichsten, des Kleinsten“ (812) bedient. Diese Ökonomie setzt ebenfalls ein Modell unendlicher Vervielfachung um, welche die Heilswirkung an sich wertloser Dinge ins Unendliche verlängert. So wie das gothische Ornament auf die es reproduzierende Architektur des sakralen Gebäudes im Ganzen verweist, das architektonische Ganze als ein monumentales Ornament zu lesen wäre, vermag es das christliche Symbol, die allumfassende göttliche Macht mit sparsamsten Mitteln aufzurufen oder besser: dem Gläubigen ins Gedächtnis zu rufen (vgl. 812/13). Herders Kritik des gothischen BauStils fällt ungleich differenzierter als die seiner Zeitgenossen aus, da sie implizit bleibt. Die Gotik wird nicht kurzerhand als überbordende Geschmacklosigkeit abgetan, sondern als (künstlerisches) Merkmal seiner Zeit identifiziert, die „Baukunst“ tritt synekdochisch für die gesamte Epoche ein: „Die sogenannte gothische Baukunst hängt mit dem Geist der Zeiten, mit der Religion und Lebensweise, mit dem Bedürfnis und Klima ihrer Zeitgenossen dergestalt zusammen, daß sie sich völlig so eigentümlich und periodisch als das Pfaffen- und Rittertum, oder als die Hierarchie und Lehnherrschaft ausgebildet.“ (829)
Damit enttarnt Herder das Schimpfwort Gotik als Fremdzuschreibung („sogenannte gothische Baukunst“38), und entdeckt in ihr überdies das Potential einer redefinierten vorgezogenen Renaissance: „Von kleinern Künsten erhielt und vervollkommete sich, was zum Waffenschmuck der Ritter, zum Putz und Gebrauch der Kirchen, Kastelle und Klöster gehörte; ihre Produkte waren eingelegte Arbeit und Schnitzwerk, gemalte Fenster und Buchstaben, Bilder der Heiligen, Teppiche, Reliquienkästchen, Monstranzen, Becher und Kelche. Von diesen Dingen, die Kirchenmusik und das Jagdhorn nicht ausgenommen, fing in Europa die Wiedergeburt der Künste, wie so ganz anders als einst in Griechenland, an![ ]“ (829) nem seiner freien Glieder des Königs Knecht, sondern sein Mitgenoß und Mitstreiter [...]“, wird von Herder allerdings als dezidiert republikanischer Körper vorgestellt. Seitenangaben zu den „Ideen“ weiter im Fließtext in Klammern. 38 Eventuell liegt der Versuch einer abweichenden Etymologie des Gothischen vor, vgl. a. O., S. 767, „prächtige Gebäude, von welchen vielleicht der Name der gothischen Baukunst herrühret“. (Gebäude, die unter Theoderichs gutgeheißener Herrschaft errichtet wurden.)
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Die „[…] Geschichte der Künste des mittleren Alters“ wird derjenigen der „gothischen Baukunst“ praktisch gleichgestellt, zum „lesenswürdige[n]“, noch ins „Werk“ zu setzenden, Projekt deklariert.39 Aus Intarsien, der am Detail orientierten Kunstfertigkeit heraus, entsprießen die Künste von neuem, über die techné verbreitet sich eine neue Form der ars.40 Die Kunst der Vervielfältigung des Kleinsten ins Große, die Geburt des Gesamtwerks aus dem Teil, wird ausdrücklich einer Renaissance des Griechentums kontrastiert (wobei die Renaissance rein syntaktisch bereits in Griechenland möglich wäre). Somit klingt im doppelten Diskurs die Option einer abweichenden, mit dem Label Renaissance versehenen Kulturgeschichte an, eine Geburt neuer Gattungen, des neuen Schönen, die aus dem verächtlichen Stilmittel der Amplifikation des „Faßlichsten“, „Kleinsten“ (812/13) entspringt. Chaotische Tendenzen, überbordende mediale oder ethnische Vermischungen, agglutinierte Artefakte und politische Gemengelagen wie das „Deutsch-Römische[ ] Chaos“ (803) bilden als „wilde Vorspiele eines Systems“ (692) die Vorhut einer Reorganisation, um „[…] in Europa endlich ein politisches System Deutscher Art […]“ („Ideen“, 778) zu errichten – ein Projekt, das unverbrüchlich mit dem Namen „Karl der große“ (778) verbunden ist. Dieses „System“ setzt sich, so verstehe ich die im Text angedachte Genese, nicht gegen den Synkretismus des Mittelalters durch. Vielmehr erfüllt das „Gemisch“ eine unverzichtbare Voraussetzung anhaltender Veränderungen bis hin zum modernen Europa: eine Idee, die das Mittelalter gar nicht mehr allzu dunkel imaginiert. Neben der „Baukunst“ steht auch die Genese von Roman und Dichtkunst im Zeichen dieser notwendigen Verwirrung, welche sich zudem in der biologisch angesetzten „Verschmelzung“ zum Europäer niederschlägt. 7.4 Roman, Romantik Der romantischen Projektion des Epochenbegriffs „Mittelalter“ spürt Herder im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert nach und beginnt, mit dessen Tendenzen zu experimentieren. Um diesen Befund zu bekräftigen, entfalte ich anhand zweier Passagen aus den „Ideen“, auf welche Weise der Ritterroman als exemplarische Gattung seiner Epoche durchexerziert wird. Mit Blick auf das kulturelle, motivgeschichtliche Erbe der „Kymren“ hebt der Text die Tragweite der Artussage für das menschheitsgeschichtliche Archiv hervor. Davon entfernt, die Geschichte des Mit39 Siehe a. O., S. 829, FN 48, zur „Brittischen Gesellschaft der Altertümer“ vgl. David Allan, „The Scottish Enlightenment and the Politics of Provincial Culture. The Perth Literary and Antiquarian Society, ca. 1784-1790“, in: Eighteenth-Century Life 27/3, 2003, S. 1-30. 40 Ein Resultat der einschränkenden Organisation der „Künste“ in „Zünften“, vgl. Herder, Ideen, a. O., S. 804. Seitenangaben zu den „Ideen“ weiter im Fließtext in Klammern.
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telalters selbst zum Artus-Roman zu (v)erklären, lokalisiert er die Provenienz der Ursage, um deren Eingang in den gesamteuropäischen Raum und deren Modifikation zu situieren – betont nachdrücklich, dass es sich um ein Gemisch vielförmiger Fragmente und gärender Fermente handelt. Nicht die Geschichte des Mittelalters selbst wird als ritterliches Abenteuer geschildert (wenngleich der „Rittergeist“ als Merkmal der Epoche vorkommt41), sondern die literaturhistorische Forschung nach Motiven und der Amalgamierung von Rittergeschichten gerät selbst zum „Ruhmwürdige[n] Abenteuer“ (686). „Das Denkwürdigste, was uns von den Kymren übrig geblieben und wodurch wunderbar auf die Einbildungskraft der Menschen gewirkt worden, ist ihr König Artus mit seinen Rittern der runden Tafel. Natürlich kam die Sage von ihm sehr spät in Bücher, und nur nach den Kreuzzügen bekam sie ihren Schmuck der Romandichtung; ursprünglich aber gehört sie den Kymren zu: denn in Cornwallis herrschte König Artus; dort und in Wales tragen in der Volkssage hunderte Orte noch von ihm den Namen. In Bretagne, der Kolonie der Kymren, ward, vom romantischen Fabelgeist der Normannen belebt, das Märchen wahrscheinlich zuerst ausgebildet, und breitete sich sodann mit zahllosen Erweiterungen über England, Frankreich, Italien, Spanien, Deutschland, ja späterhin in die gebildete Dichtkunst. Märchen aus dem Morgenlande kamen dazu, Legenden mußten alles heiligen und segnen; so kam dann das schöne Gefolge von Rittern, Riesen, dem Zauberer Merlin, (auch einem Waliser,) von Feen, Drachen und Abenteurern zusammen, an welchem sich Jahrhunderte lang Ritter und Frauen vergnügten. Es wäre umsonst, genau zu fragen, wenn König Artus gelebt habe? aber den Grund, die Geschichte und Wirkungen dieser Sagen und Dichtungen durch alle Nationen und Jahrhunderte, in denen sie geblühet, zu untersuchen, und als ein Phänomenon der Menschheit ins Licht zu stellen; dies wäre, nach den schönen Vorarbeiten dazu, ein Ruhmwürdiges Abenteuer, so angenehm als belehrend.“ (685f.)
Herder nimmt sich (in dieser Konsequenz) als Literarhistoriker des Artusstoffes an, wenngleich er in der Fußnote bekennt: „[d]ie poetischen Sagen indessen vom Könige Artus und seinem Gefolge sind in ihrer Ursprünglichkeit noch wenig durchsucht worden.“ (685) Im Vollzug, der sich die Geschichte erschreibt, welche erst am Ende als abenteuerliches, in Angriff zu nehmendes, Projekt in Aussicht gestellt wird, entpuppt sich deren Entstehung aus verwerteten, als „Chaos“ disqualifizierten „schönen Vorarbeiten“ (686) selbst als zutiefst zweifelhaftes Moment. Bietet sich das ritterliche Abenteuer zunächst als Forschungsprojekt an, so kehren dessen Motive unvermutet an anderer Stelle wieder. Wir befinden uns im „Reiche der Sachsen, Normänner und Dänen“, in einer Epoche, die präzise punktuelle Zeitangaben sowie exakt ausgewiesene Dauern kennt. Jahreszahlen kommen ab 41 Etwa in Bezug auf die „Normänner“: „[...] ihren Sitten ist nicht nur England, sondern ein großer Teil von Europa den Glanz seines Rittergeistes schuldig.“ A. O., S. 787.
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dem achtzehnten Buch mit den „[…] Westgothen, Sveven, Alanen und Wandalen.“ auf (vgl. 756). Es beginnt im Jahre 395. Auf jener ersten chronologisierten Seite tauchen fünf weitere Jahresangaben auf, nehmen zunächst kleinteilige Schritte vor (400, 412, 414), vollziehen dann einen (epochalen) Sprung („auch nach völliger Verdrängung der Römer aus dieser Weltgegend [585]“), und geben schließlich einen exakten Zeitraum an, „[407-485]. während seiner 178. Jahre“. Unter fortwährender temporaler Parzellierung im „Reiche der Sachsen, Normänner und Dänen.“ (Seite 783f.) strukturiert der Text sich diesmal über acht maßgebende Zeitangaben, die Dauern und Sprünge einschließen. „Schon in der Mitte des fünften Jahrhunderts [449] […]“ nimmt das Geschehen seinen Lauf, dem ein erster Einschnitt „nach 150 Jahren [582]“ folgt, der die Eroberungszüge der Angelsachsen beendet. Die Etappen schreiten mit der Einführung des Christentums „in England [...] [597]“ fort, widmen sich der Machtpolitik des Papstes „Gregor der große“ (der Ernennung Augustins zum Erzbischof von Canterbury „[725]“) bis hin zu den „[…] Anfäng[n] einer geschriebenen Gesetzgebung, wie z. B. Adelberts und Ina’s [828]“. Dieser grobe zügige Durchgang durch rund vierhundert Jahre (englischer Geschichte) läuft jedoch zielstrebig auf sein Erzählziel „Alfred [...] [872]“ zu. Hier hält der Spurt an wichtigen Wendepunkten (Daten) der Geschichte entlang inne, und der Text würdigt historische Gesetzmäßigkeiten nochmals eingehender – nicht ohne pathetischem Unterton zu verfallen: „Wie aber eben im heftigsten Sturme der Not sich die größesten Seelen zeigen: so ging England unter andern sein Alfred auf [872], ein Muster der Könige in einem bedrängten Zeitraum, ein Sternbild in der Geschichte der Menschheit.“ (785) Wird der individuelle Herrscher als vorbildliches Exemplar unterbreitet, bahnen sich unmerklich literarische Muster an. Exakte Daten schließt deren Durchsetzung zwar nicht aus. Dennoch neigt die Narrativierung des Lebens dazu, die Chronologie schleifen zu lassen. Den (feindlichen) Dänen gegenüber „[…] eben so gütig und gerecht, wie vorsichtig und tapfer […]“ scheitern Alfreds Versuche einer friedlichen Beilegung des folgenschweren Konfliktes. Als Garant der Exemplarität hält die Häufung politisch relevanter Ereignisse in kurzer Zeit her: bürgt als Zeichen dafür, dass es Alfred mit dem Frieden wirklich ernst sei. Jedoch sieht er sich einem unzuverlässigen und wankelmütigen Verhandlungspartner gegenüber, so „daß Alfred, der ihnen in Einem Jahr [875] acht Treffen geliefert, der sie mehrmals den Frieden auf heilige Reliquien hatte beschwören lassen, [...], sich dennoch endlich dahin gebracht sah, daß er in Bauerkleidern seine Sicherheit suchen mußte, und dem Weibe eines Kuhhirten unbekannt diente [878].“ (785)
Die Travestie, besonders die motivische Verkleidung von Herrschern, welche bei Leuten des einfachen Volkes Zuflucht suchen oder dort – nichtsahnend schon im Kindesalter versteckt – unterkommen, gehört zum Repertoire von Herrscherviten
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(aber auch zum mythischen Fundus) seit der Antike.42 Am Ende dient das Versteckspiel dazu, die noble Abkunft desto vehementer einzufordern. Im Verbund mit der exzellenten frühen Ausbildung des edlen Zöglings liegen zwei Motive des mittelalterlichen Artusromans vor. Dennoch birgt die Geschichte Alfreds einen individuellen Zug, insofern er als Autodidakt seine Funktion als tapferer sächsischer Herrscher vorwegnimmt (früh einstudiert). Nicht zuletzt hält die Leseübung den Stoff, aus dem Helden gemacht sind, bereit, und bestätigt das aus sich selbst hervorgebrachte Interesse an und die Identifikation mit eigener Kultur und Herkunft als Moment der Herrschaftslegitimation. Zwar wird die Rechtmäßigkeit des Anspruchs vorab anderweitig (vom Papst) autorisiert. Gleichwohl besteht der autodidaktische Akt darin, sich als von Rom unabhängiger Herrscher zu etablieren, indem man an ein selbstgewähltes älteres Recht anknüpft: „Vom Papst Leo 4. schon als Kind zum Könige gesalbet, war er unerzogen geblieben, bis die Begierde, sächsische Heldenlieder lesen zu können, seinen Fleiß dergestalt erweckte, daß er von ihnen zum Lesen lateinischer Schriftsteller fortschritt; [...].“43 (785) Nunmehr des Lateins kundig, beherrscht Alfred eine weitere Vorübung, die es ihm erlaubt, sein Reich nicht nur militärisch zu verteidigen, sondern auch als Ort eigenständiger Kultivierung einzurichten. Doch zuvor hat er mehrere Unwägbarkeiten zu bewältigen. Auf Flucht und Verkleidung folgt die provisorische Einrichtung in einem alternativen sumpfigen Königreich, der „Insel der Edeln“, von der er „[w]ie aus einem unsichtbaren Schloß […]“ seine Feinde angreift. Obwohl er seine Beute nicht den Armen abtritt, ließe sich das Setting umstandslos in den Sherwood Forest versetzen (Alfreds Zeitgenossen dürften die Balladen über Robin Hood noch nicht gekannt haben, Herder schon). Doch das selbsterwählte Exil dauert nicht ewig an, sondern kann durch den Gewinn eines Zaubermittels durchbrochen werden. Damit liegt ein Strukturmerkmal des Märchens vor (man entsinne sich Propps „Morphologie des Märchens“), das auch in Artusromanen bzw. höfischen Romanen reichlich Verwendung findet. Der Zwischenzustand währt so lange, „bis Einer seiner Treuen in einem Gefecht mit ihnen den Zauberraben erbeutet hatte, die Fahne, die er als das Zeichen seines Glücks ansah. Als Harfenspieler gekleidet, ging er jetzt ins Lager der Dänen und bezauberte sie mit seinem lustigen Gesange; man führte ihn in das Zelt des Prinzen, [...]. Jetzt kehrte er zurück, tat durch geheime Boten seinen Freunden kund, daß er lebe, und lud sie an die Ecke eines Waldes zur Versammlung ein. Es kam ein kleines Heer zusammen, das ihn mit Freudengeschrei empfing; und schnell rückte er mit demselben auf die 42 Der Sauhirt Eumaios wird zwar entführt, die Motive der Verkleidung, Identitätsverschleierung und –offenbarung gehören allerdings fraglos zum Repertoire der Odyssee. 43 Allerdings gilt als relativ gesichert, dass Alfred der Große Latein erst im Erwachsenenalter erlernte.
502 │S UBTEXTE DER M ENSCHHEITSGESCHICHTE sorglosen, jetzt erschrockenen Dänen, schlug sie, schloß sie ein, und machte aus Kriegsgefangenen seine Bundsgenossen und Kolonisten im verödeten Northumberlande und Ostangeln. Ihr König ward getauft, von Alfred zum Sohne angenommen, [...]. Unglaublich schnell brachte Alfred den zerrütteten Staat in Ordnung, [...], schuf sich eine Macht zu Lande, bald auch zur See; so daß in weniger Zeit 120 Schiffe die Küsten umher bewachten. [...] das ganze Land glich im Augenblick der Not einem Heerlager, [...]. [...], und gab dem Staat eine Landund Seemacht, Wissenschaften und Künste, Städte, Gesetze und Ordnung. Er schrieb Bücher, und ward der Lehrer der Nation, die er beschützte.“ (785f.)
Vom Zaubermittel bis zur gerechten, von Beginn angelegten gütigen weisen Regierung ist es kein weiter Weg mehr, die Ereignisse resultieren unweigerlich auseinander. Nach Errichtung der exemplarischen Herrschaft Alfreds leitet der Text zu weiteren „trefflichen Königen“ (786) Englands über, von denen ihm jedoch keiner das Wasser reichen kann. Ab hier flicht der Text erneut Daten ein: den Zeitpunkt, als „[…] England unter dem Letzten den Dänen Lehnpflichtig ward [1016]“ sowie die „einzige Schlacht [1066]“, die „Wilhelm de[n] Eroberer“ „auf den Thron“ hob. (786f.) Der Zwischenraum, den der oben zitierte Passus erfüllt, fällt schrittweise aus der Chronometrierung heraus. Nach der letzten Zeitangabe, „[878]“, welche der Kuhhirtenepisode zugeordnet wird, überschlägt der Text die Dauer des Exils nur noch annähernd mit „[ü]ber ein Jahr lang“ (die Jahreszahl fehlt), um dann auf Deiktika und Temporaladverbien zurückzugreifen, die schicksalsvolle Ereignisse und Aktivitäten segmentieren; „bis Einer [...] den Zauberraben erbeutet hatte“, „ging er jetzt ins Lager der Dänen […]“, „Jetzt kehrte er zurück“, „[…] schnell rückte er mit demselben[…]“, „[u]nglaublich schnell“, „daß in weniger Zeit“ [Kursivierungen K. K.]. (Zitate: 785f.) Aufgrund der Kombination von Adverbien und Vergangenheitsform plädiere ich dafür, das Erzähltempus als episches Präteritum zu definieren. Außerhalb der chronologischen Zeitordnung befinden wir uns inmitten einer abenteuerlichen, märchenhafte Züge tragenden Erzählung, deren strukturelle Eigenlogik eins aufs andere folgen lässt. Nun schaltet Herder jenen Part keineswegs als sagenhaftes Einsprengsel in den Text geschichtswissenschaftlich fundierter Erzählung ein (was anderswo sehr wohl vorkommt), sondern gibt diese Erzählung für bare Münze aus. Wie die zauberhaften Elemente Eingang in die Erzählung gefunden haben, bleibt unkommentiert. Demgegenüber schlägt die Abhandlung der Mosaischen Urkunde einen rationalisierenden Weg ein. Deren Bezeugungen zieht Herder im Einklang mit Moses, dem „Naturweise[n]“ (408), als „[…] reine[ ] Ideen dieser alten Tradition, [...] ohne Hypothese oder Verzierung [...]“ (411) anderen asiatischen Schöpfungsmythen vor,
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die von ihrem legendären Gehalt zu entkleiden sind.44 Die Mythen werden in den „Ideen“ auf ihre naturgeschichtliche Substanz hin abgeklopft. Solch eine Verschlankung nimmt auch Kants „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ vor, indem er sich „[…] einer heiligen Urkunde dazu als Karte [...] bedien[t] […].“45 Diesem Verfahren folgend ließe sich die Herrschervita in authentische, zumindest wahrscheinliche oder schmückende (idealisierende) Elemente dividieren. Auf Zauberelemente verzichtend dürfte Alfreds Erzählung nicht an Glaubwürdigkeit einbüßen. Im Gegenteil bleibt der Hinweis, dass sie durch diesen Verzicht gewönne, aus. Ein Verweis auf mögliche Quellen findet nicht statt.46 Der Pross-Kommentar legt Herders Quellen offen.47 Unter anderem beziehe sich Herder auf John Spelmans „Alfredi magni Anglorum regis vita“ (Oxford 1678). Auf Spelman gründet sich zudem Albrecht von Hallers historischer Roman „Alfred, König der AngelSachsen“ von 1772. In einem Nebensatz erwähnt Pross, dass Herder „dessen erstes 44 Vgl. Herder, Ideen, a. O., ab S. 397-403, insbesondere S. 399f., in Bezug auf die „älteste[ ] Tradition“ der „Indier“: „Indessen blickt auch durch manches spätere Märchen ein Goldkorn historischer Ursage hervor. Der Ganges z. B. ist in ganz Indien heilig und fließt unmittelbar von den heiligen Bergen, [...]. In der achten Verwandlung erschien Wischnu als Prassarama: noch bedeckte das Wasser alles Land bis zum Gebürge Gate: er bat den Gott des Meers, daß er ihm Raum verschaffen und das Meer zurückziehen möchte, so weit, wenn er schösse, sein Pfeil reichte. Der Gott versprach und Prassarama schoß: wie weit der Pfeil flog, ward das Land trocken, die Malabarische Küste. Offenbar sagt uns, wie auch Sonnerat anmerkt, die Erzählung, daß das Meer einst bis zum Berge Gate gestanden habe und die Malabarische Küste jüngeres Land sei.“ Vgl. mein Kapitel „Doppelter Kursus der Ideen“. 45 Kant, Muthmaßlicher Anfang, in: KAA VIII, S. 109. Kant beginnt schon mit der „Existenz des Menschen“ (S. 110), ein erster Schritt in Richtung Rationalisierung. Anders als bei der belegbaren Herrschervita rücken dort naturhistorisch (wenigstens) wahrscheinliche, bestenfalls notwendige Entwicklungslinien ins Zentrum: „so können sie sich auch nicht mit derjenigen Geschichte messen, die über eben dieselbe Begebenheit als wirkliche Nachricht aufgestellt und geglaubt wird, deren Prüfung auf ganz andern Gründen, als bloßer Naturphilosophie beruhet.“ (S. 109) Dennoch reduzieren der „Muthmaßliche[ ] Anfang“ sowie Moses’ Mosaische Urkunde Erzählungen auf notwendige, ihre Anschlüsse garantierende Momente. Narratives Fortschreiten könnte auch die Erzählung über Alfred den Großen ohne Rückgriff auf ein Zaubermittel absichern und den Plan eines klugen, hinterlistigen Angriffs der Dänen vorbereiten. 46 Die Biographie Alfreds wurde vom Mönch John Asser, einem Zeitgenossen, mit dem er in Kontakt stand, verfasst (im Stil von Einhards Karlsbiographie). Eine Handschrift dieses Werks aus dem zehnten Jahrhundert verbrannte 1731, war jedoch kurz zuvor, 1722, von Francis Wise gedruckt worden. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Asser. 47 Vgl. Pross, Herder, Ideen, Kommentar, a. O., S. 853f. sowie 787f.
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Buch […] hier zusammenfaßt.“48, geht aber nicht näher auf die Vorlage ein. Pross nennt noch ein Werk, das Herder als Quelle gedient habe, nämlich Thomas Wartons „The History of English Poetry“49, daraus die zweite Dissertation.50 Es kann in dieser Arbeit nicht darum gehen, einzelne Quellen zu prüfen oder gar mit dem Druck der verbrannten Handschrift von Assers zeitgenössischer Biographie abzugleichen (es liegen sogar moderne Ausgaben bzw. Übersetzungen von Spelmans Werk vor). Bezieht Herder sich auf Hallers Vorlage, dann verwertet er einen (nach heutigem Verständnis) historischen Roman, um Alfreds Vita in das Geschehen um „Sachsen, Normänner, Dänen“ (Herder, „Ideen“, 783) einzuflechten. Dass er sich Hallers erstem Buch bedient hat, lässt sich an mehreren Stellen nachweisen. Hallers Roman widmet sich dem zeitgenössischen König, Georg III., und könnte in seiner Anlage als (aktualisierender) Fürstenspiegel gelesen werden, der mit Alfred einen vorbildlichen Herrscher exponiert, welcher den Anforderungen moderner aufgeklärter Herrschaft angepasst wird (vgl. dazu besonders die Vorrede, die darlegt, eine „gemäßigte Monarchie“ beschreiben zu wollen).51 Die Vorrede rechtfertigt die Romanhandlung als Mittel zum Zweck, jene Rezipienten anzusprechen, „die ein bloß ernsthaftes Buch niemahls in die Hände genommen hätten.“ (unpag.) Die Widmung hebt die „Aehnlichkeit“ (unpag.) beider Könige hervor, deren Amtszeiten rund 900 Jahre trennen. Als Vorbild zeichne ihn (bzw. beide) aus, „daß er als König, als Gemahl, als Sohn, als Vater, in der Erfüllung dieser erhabenen Pflichten gleich groß ist“. (Widmung, unpag.) Indem der in der Vorrede adressierte Georg kurzerhand zum „Enkel“ Alfreds erklärt wird, schnurrt die temporale Distanz zusammen. Die vorab zitierte Paraphrase Hallers borgt Herder sinngemäß für ein Resümee zu Alfreds Wirken aus: „Eben so groß in seinem häuslichen als öffentlichen Leben teilte er die Stunden des Tages, [...].“ (Herder, „Ideen“, 786) Dass Herder sich an einem Roman orientiert, hält ihn nicht davon ab, ihn unter Vermehrung und Rekombination romanhafter Elemente zusätzlich umzuschreiben, anstatt diese zu tilgen. Herder unterschlägt beispielsweise den Betrug um die Thronfolge, welchen Edelred an seinem Bruder Alfred begeht52, und wandelt Alfreds Aufzug eines „Taglöhners“ (23) auf dessen Flucht zur bäuerlichen Bekleidung ab. Schließlich ‚unterläuft‘ ihm eine kapitale Verwechslung: Nicht Alfred behaust die „ungekünstelte[ ] Festung“ „zwischen tiefen Mooren“ (24), sondern die „Normänner“ selbst greifen die Bevölkerung von diesem Versteck aus an. Die siebenma48 A. O., S. 853. 49 A. O., S. 788. 50 A. O., S. 853f. 51 Albrecht von Haller, Alfred König der Angel-Sachsen, Zweyte Auflage, Frankfurt/ Leipzig, 1774, (Vorrede, unpag.). 52 von Haller, Alfred, a. O., S. 10, S. 15, Seitenzahlen zu von Hallers Roman im Folgenden in Klammern.
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lige Zusammenkunft (19) mit den „Normännern“ übernimmt er zwar, die Wendung des Schicksals (von und durch Alfred) gestaltet er indes um, und unterwirft sie einer abweichenden Chronologie. Bei Haller bewegt das an die mildtätige Speisung eines armen Wanderers anknüpfende prophetische Traumbild den jungen König dazu, erneuten Mut zu fassen (25/26). Das Zaubermittel gewinnt Alfred in Hallers Fassung erst nach dem gelungenen Übergriff auf die (schlafenden) „Normänner“ (27). Als Begleitumstand wird im Roman erläutert, wozu das Einschleichen im Kostüm des Spielmannes („als ein Spielmann verkleidet“, 27) eigentlich dient, nämlich der Auskundschaftung des feindlichen Lagers. Von (musikalischer) Bezauberung verlautet hier anders als bei Herder nichts. Der „Zauberrabe[ ]“ aus Herders „Ideen“53 taucht als Motiv des Raben bei von Haller zwar zweifach auf (Gott als derjenige, „der die Raben nährte“, Haller, „Alfred [...]“, 25), prominent im Banner der „Scandinavier“ (29/30). Zwar lässt sich der „Zauberrabe[ ]“ auch in Herders Bearbeitung synekdochisch für die „Fahne“ lesen, auf der er abgebildet ist. Zum „Zeichen seines Glücks“ wird die Fahne nur bei Herder erhoben, an dem Alfred (anstelle des Traums bei Haller) festhält. In Hallers Fassung verfällt Alfred diesem prophetischen Aberglauben keineswegs. Sondern er leitet – da sie auf ihm beharren – den Untergang der barbarischen Gegner ein, nachdem ihr Zeichen, „der gestikte Raabe, die Hauptfahne der Scandinavier, [...], an deren Zauberkunst nach der Normänner Aberglauben der Sieg hieng, [...] in Alfreds Hände [gerieth].“ (Haller, „Alfred“, 29/30) Was die folgenden Kultivierungsleistungen betrifft, stimmen Herder und Haller in etwa54 überein, die (vermutlich) frühe Ausbildung durch „sächsische Heldenlieder“55 kommt im ersten Buch bei Haller dagegen nicht vor. Wieso die „Ideen“ abweichen, vorenthalten, dazudichten oder an manchen Stellen andere Quellen nutzen, ist in diesem Rahmen nicht zu ermitteln. Mit Hallers Romanvorlage liegt im Vergleich zu Herders modifizierender Nacherzählung die rationalere Variante vor, die Herder immerhin zu Gebote stand. Weshalb er inmitten der durch Jahreszahlen strukturierten Abfolge die romanhaften mythischen Elemente einer kurzen, aber spannenden Episode steigert, wirft abenteuerliche Fragen auf, sofern man sie mit dem jüngst (von Herder) abgesteckten Abenteuer der Philologie zusammenliest. Was kann es bedeuten, wenn der Text die philologisch detaillierte Analyse als „Ruhmwürdiges Abenteuer“ („Ideen“, 686)56 vorbereitet, philologische Sorgfalt und Beweisführung andernorts jedoch zugunsten der fabulierenden Umschrift des Ro53 Herder, Ideen, in: FHA 6, S. 785. 54 Vgl. von Haller, Alfred, a. O., S. 33/46 zur Gesetzgebung, S. 34, S. 35, S. 42, S. 55 und S. 60, König der „allgemeine Lehrer seines Volkes“, auf S. 65 wird die durch Alfred in die Wege geleitete sächsische Übersetzung lateinischer liturgischer Texte erwähnt. 55 Herder, Ideen, a. O., S. 785. 56 Seitenangaben zu Herders „Ideen“ weiter in Klammern im Fließtext.
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mans und der (wahrscheinlichen) Verquickung abweichender Quellen aufgibt (vgl. 785f.)? Fehlen im letzten Fall verlässliche Originale, was dazu zwingt, auf alternatives Material zurückzugreifen, die Historie über Sagen anzureichern, deren Geltung man aufgrund des fundamentalen Mangels an Zeugnissen nicht anzweifelt? Oder geht mit Herder bei dieser Gelegenheit die historische Phantasie durch und beschwört die Doppelung seines Historiographie-Modells, das basaler Skepsis unterliegt, daher permanent erzählende Auswege aus dem Dilemma des (niemals vollständig) Repräsentierbaren sucht? Avancieren Abenteuer zu wesenhaften Strukturmerkmalen der Geschichte (nicht nur des Mittelalters) oder gar zur Strukturvorgabe philologischer Untersuchungen, da komplizierte Wechselbeziehungen in (zu) ihnen zusammengeführt und kondensiert werden können? Durch Paraphrasen und Einschübe reiht der Text die wichtigsten Protagonisten und Eckdaten aneinander, verknüpft sie miteinander, jeder (Neben-)Satz, jeder Zusatz gewährt knappe, dennoch unverzichtbare Informationen für die unweigerliche Verschmelzung zur Geschichte. Jedes Einzelelement entstammt schon einem Fundus, der prinzipiell Rekombination erlaubt. Welche Elemente zur Verfügung stehen und wie sie bestenfalls zu kombinieren sind (womöglich um den glücklichen Ausgang zu gewährleisten), ist lange vorhergeschrieben, liegt in der Struktur des Ritterromans und seiner Aventure bereit. Im nächsten Beispiel macht der erste Teil des Hauptsatzes den angehenden Protagonisten bekannt, von dem wir sogleich erfahren, dass er sich in Gefahr begibt, ihm ein Abenteuer bevorsteht: „Gefährlicher Weise nahm Otto“. Der Relativsatz erläutert, dass es sich um einen standesgemäßen Herrscher, „der mit Karls Krone zu Aachen gekrönt war“, handelt, was en miniature dessen Herkunftsgeschichte bereithält, derzufolge er sich auf sein nobles verpflichtendes Erbe, das Kaisertum, beruft („[…] diesen großen Franken zum Vorbilde“). Unverzüglich befinden wir uns mitten in dessen „Abenteuer“, seiner ersten Aventure, „die schöne Witwe Adelheid aus dem Turm zu retten“, welche sowohl politisches als auch romantisches Potential birgt. Dass Adelheid verwitwet ist, lässt auf ihre legitime Herkunft und die Illegitimität des Aufenthaltes im „Turm“, aus dem sie „zu retten“ ist, schließen. Deren Schönheit und mögliche Wiederverheiratung als „Witwe“ künden von einer (denkbaren) romantischen Wendung der Geschichte, wie ihre erneute Vermählung implizit territorialen sowie materiellen Zugewinn verspricht. Zudem flicht die Passage zwei Begleitumstände des Abenteuers ein („ihm das Königreich Italien verschaffte“). Der erste entpuppt sich als Quintessenz der Liaison mit Adelheid, der zweite umfasst die daraus resultierende territoriale sowie diplomatische Öffnung machtpolitischer Optionen („und ihm dadurch freilich der Weg nach Rom offen war“). So lautet die Erzählung im Ganzen oder Kurzen: „Gefährlicher Weise nahm Otto, der mit Karls Krone zu Aachen gekrönt war, sich diesen großen Franken zum Vorbilde; und da ein Abenteuer, die schöne Witwe Adelheid aus dem
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Turm zu retten, ihm das Königreich Italien verschaffte, und ihm dadurch freilich der Weg nach Rom offen war; [...].“ (796)
Ob Herder die politische Situation um Otto I. und dessen Aktivitäten historisch korrekt einschätzt, bleibt nebensächlich. Es fällt jedoch auf, dass er typische Erzählmuster des höfischen Romans nutzt (der literarhistorisch nach dem zehnten Jahrhundert entstand), um die Erzählung selbst zu ihrem Abschluss hin als brüchig zu erweisen. Der oben zitierte Passus führt bis an das Ziel der ersten Aventure, welche mit Heirat und herrschaftlichem Zugewinn ausklingt. Vollzieht die erste Aventure bereits ein Happy End, gehört es zur Mission der zweiten Aventure, die Legitimität des Ausgangs einer Prüfung zu unterziehen, die den Protagonisten erneut auf den Weg schickt. Tatsächlich lässt sich in Herders Schilderung eine zweite Aventure ausmachen, welche indes nicht in voneinander abzugrenzende Prüfungen, in Einzelepisoden wie Gefechte gegen Riesen oder die Teilnahme an Kreuzzügen, zerlegbar ist, sondern eine Verkettung unglücklicher Umstände bedeutet: „so folgten nun Ansprüche auf Ansprüche, Kriege auf Kriege, [...], Italien von Deutscher Tyrannei besudelt, Deutschland von Italien aus seinem Kreise gerückt, [...], mit sich selber uneins, sich selbst und andern schädlich gemacht ward, ohne daß die Nation von dieser blendenden Ehre Vorteil gezogen hätte.“ (796)
Nicht das Eingeständnis rechtmäßiger (kaiserlicher) Herrschaft beschließt die zweite Aventure, sondern sie mündet in den politisch desolaten Zustand Deutschlands sowie Italiens. Obgleich Herders kühne Fassung der ersten Aventure dazu neigt, die Beziehung zwischen Adelheid und Otto zu idealisieren – etwa als Rettung, welche das politische Kalkül beider Beteiligten unterschlägt, das Geschlechterverhältnis als romantisches Abenteuer situiert –, tappt die Gesamterzählung mit der zweiten Aventure keineswegs in die Falle einer großdeutschen Legende, wie sie zum Streitfall der Historiographie des späten neunzehnten Jahrhunderts (Sybel-Ficker-Streit) werden konnte. Vielmehr nimmt sie kritisch die Zerrüttung zweier europäischer Nachbarn wahr. Zwar fällt auf, dass längst von „Deutschland“ und „Italien“ die Rede, der Streit sozusagen entschieden ist. Herder nutzt für seine Zeit anachronistische Termini. Dennoch dokumentieren die „Ideen“ die politische Instrumentalisierung eines konkret historischen Stoffes und werten sie (von der Warte des 20.-21. Jahrhunderts aus) demzufolge menschheitsgeschichtlich sowie metahistoriographisch treffend. Das reflexive Votum des zweiten Kursus rührt aus der Fabulierung der ersten Aventure und erlaubt daher die legitime Romantisierung von Geschichte. Es liegen mindestens zwei abweichende Anreize vor, romanhafte Momente in die nüchterne professionelle Historiographie zu integrieren. Einmal unterstreicht das Weiterdichten des hallerschen Alfred-Romans die unweigerliche Doppelexistenz narrativer sowie reflexiver Passagen innerhalb historischer Erzählungen (mit
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exemplarischem Happy End). Zudem schlägt sich das Abenteuer als erstrebenswerter Aufbau theoretisch fundierter Abhandlungen vor, die als aggressive (polemische) Gegenüberstellung zweier oder mehrerer (philologischer) Gegenspieler vorpreschen (welche Herder gelegentlich in Fußnoten anführt, vgl. „Ideen“, 686)57, in deren Konfrontation man jedoch auch selbst Stellung beziehen muss. Andererseits markiert der romantische Ausklang der ersten Aventure Ottos die Aussparung des Happy Ends im zweiten Kursus überdeutlich, da sie das Erzählmuster des höfischen Romans zuerst bewusst aufruft, um dann darauf zu verzichten. Der doppelte Kursus wird durchbrochen, es wiederholt und bestätigt sich nichts. In Bezug auf den Roman erhärtet der doppelte Diskurs die Annahme des mittelalterlichen Synkretismus (wie wir ihn fürs Detail, in christlich-heidnischen Gebräuchen und der Baukunst kennengelernt haben). Aus einem relativ begrenzten Fundus geht diesmal die (bedingt) variable Rekombination von Elementen zu „Legenden und Romane[n]“ hervor. „Legenden und Romane, das Einzige, was der Witz der Menschen damals ersann, dreheten sich in einem engen Kreise: denn wenige Schriften der Alten waren in einigem Gebrauch; man konnte also wenig Ideen vergleichen und die Vorstellungsarten, die das damalige Christentum gab, waren im Großen bald erschöpfet. Eine poetische Mythologie gewährte dies ohnedem nicht; einige Züge aus der alten Geschichte und Fabel von Rom und Troja mit den Begebenheiten näherer Zeitalter vermischt, webten den ganzen rohen Teppich der mittleren Dichtkunst. Auch als diese in die Volkssprache überzugehen anfing, begann man von geistlichen Dingen, die auf eine seltsame Weise mit Helden- und Ritterfabeln vermengt wurden.“ (828f., Vergleiche zum Romangeschmack s. a. 868)
Insofern Herders Text Motive und Strukturmerkmale des höfischen Romans aufnimmt, verfährt er, was die Kompositionsprinzipien der mittelalterlichen „Dichtkunst“ anbelangt, mimetisch. Der Mimesis ist eine doppelte Brechung eingeschrieben, weil es sich beim höfischen Roman um eine retrospektive Gattungszuschreibung handelt. Die „Ideen“ ordnen den Ritterroman als Unterhaltungsmedium für „Ritter und Frauen“ (685f.) allerdings ironisch dessen eigener Epoche zu. Zudem bricht der Bruch mit den Erzählprinzipien des höfischen Romans dessen Adaption zum metahistorischen Kommentar. Liegt diesmal ein impliziter metahistorischer Kommentar vor, so erfolgen zusätzlich ausdrückliche Stellungnahmen zur Verfasstheit der Geschichte, von denen ich zwei einander kontrastiere. Einen expliziten metahistorischen Kommentar verzeichnet die beginnende Schilderung der „Reiche der Sachsen, Normänner und Dä57 Seitenangaben zu den „Ideen“ weiter im Fließtext in Klammern.
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nen“ (783) – sie bezieht sich allerdings auf Vorangehendes. Das Resümee, das in den nächsten Abschnitt rutscht, fällt knapp aus und proklamiert einen Blickwechsel, der Dynamisierung verspricht: „Die Geschichte der Deutschen Völker mitten im festen Lande hat etwas Einförmiges und Unbehülfliches an sich. Wir kommen jetzt zu den Deutschen Seenationen, deren Anfälle schneller, deren Verwüstungen grausamer, deren Besitztümer ungewisser waren; [...].“ (783) Retrospektiv verstanden erzeugt das Resümee den Anschein, das Vorhergehende sei kaum zu fassen oder narrativ zu entwickeln. Der abgekürzte Kommentar verbürgt, was man nicht hätte erzählen können (was nur in der Zusammenfassung greifbar wäre). Da bereits dreißig Seiten lang durchgängig erzählt wurde, entsteht ein performativer Widerspruch in der Inszenierung des Textes. Spätestens ab Seite 755, dem achtzehnten Buch der „Ideen“, trifft dies zu. Man könnte ferner argumentieren, dass sechzehntes und siebzehntes Buch ebenfalls dem Kommentar angehören, da „[d]ie Geschichte der Deutschen Völker“ (783) dort behandelt wird. Dem kompletten vierten Teil der „Ideen“ wird ein Motto vorangeschickt, das die Germanen („Germanas“) zu seinen Protagonisten erhebt (673), der dritte Abschnitt des sechzehnten Buches ist mit „Deutsche Völker.“ (690) überschrieben. Demnach wären die ersten hundert Seiten des vierten Teils rückblickend als nicht schreibbar zu qualifizieren. „Die Geschichte der Deutschen Völker mitten im festen Lande hat etwas Einförmiges und Unbehülfliches an sich.“ (783) Zunächst scheint die aufwallende Meeresgeschichte, die dem Meer entströmende Geschichte, der Statik zu Lande entgegengesetzt. Dieser Eindruck hält weder dem Vergleich mit der Realgeschichte noch mit den zuvor geschilderten Begebenheiten Stand: Vollzieht die Epoche, die das Prädikat des „Einförmige[n] und Unbehülfliche[n]“ trägt, doch eine Bewegung, welche historische Dynamisierung schlechthin vorführt, da singuläre Ereignisse, temporale oder territoriale Einheiten kaum mehr auseinander zu halten sind: die Völkerwanderung. Daher nutzt der Text „Völkerwanderungen“ (755) betreffend die Metaphorik des Fließens und Strömens vom Berge hinab (755). Selbst wenn man den an die Völkerwanderung grenzenden anvisierten Zeitraum bis auf die Neustrukturierung Europas ausdehnt, fügt sich der Befund der Einförmigkeit nicht in die Epoche von Modifikation und Chaos. Insofern ihr Kurs Personen, Ereignisse, Jahreszahlen und Orte anpeilt, wäre diese Etappe kaum als einförmiges Chaos zu betiteln.58 58 Man vergleiche nur die ersten zwei Seiten „Reiche der Westgothen, Sveven, Alanen und Wandalen.“, Herder, Ideen, a. O., S. 756f. Aus- oder Vorgriffe auf die Völkerwanderungszeit werden schon ab S. 677 inseriert, vgl. z. B. S. 679, „Als die Wandalen, Alanen, Sveven, Gothen und andre teutonische Völker ihren wilden Durchzug durch die Pyrenäen nahmen“. Ferner S. 704, „Dieser unangenehme Anblick nun erfüllt über ein Jahrtausend hin die Europäische Geschichte, in welcher Reiche und Völker nie zur Ruhe kommen,
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Einförmigkeit prägt an dieser Stelle eine Kritikformel und wird nicht zum Ziel der „Geschichte der Deutschen Völker“ erklärt. Einerseits richtet Teil vier der „Ideen“ seinen Fokus auf „Deutsche Völker“: „[…] lauter südliche deutsche Völker, West- und Ostgothen, Wandalen, [Alanen], Sveven […]“; „[…] Sachsen, Franken, Burgunder[ ] und Herulaner[ ] […]“, 694, „[ ] Alemannen, Thüringer[ ], Bayern und Sachsen“, 695, „[ ] Allemannen, Burgunder und Franken“, 773, „Longobarden“, 764. Pross’ Kommentar zufolge orientiert Herder sich bei ihrer Einteilung an Tacitus „Germania“ sowie an Caesars „De bello Gallico“, greift für ihre Beschreibung auf römische sowie andere spätantike Quellen zurück.59 Neben die adaptierte Fremdbeschreibung tritt ein relativistischer Kommentar60: „Auch hüte man sich, allen diesen Völkern gleiche Sitten oder eine gleiche Kultur zuzueignen; das Gegenteil davon zeigt ihr verschiedenes Betragen gegen die überwundnen Nationen.“61 (Herder, „Ideen“, 694) weil sie entweder selbst des Wanderns gewohnt waren oder weil andre Nationen auf sie drängten.“ 59 Vgl. Pross, Herder, Ideen, Kommentar, a. O., S. 790-792; bei den „Alanen“ handelt es sich nach heutiger Kenntnis um ein Volk aus der Gegend des Iran. 60 Vgl. Sonia Sikka, die entgegen des sich in der aktuellen Herderforschung einbürgernden ‚pluralistischen‘ Sprachgebrauchs auf dessen ‚Relativismus‘ beharrt. Sonia Sikka, Herder on Humanity and Cultural Difference. Enlightened Relativism, Cambridge University Press, 2011, Introduction, S. 3-5, zur – relativierenden – Kritik von Herders Rassebegriff s. dies., „Herder and the Concept of Race“, in: Herder Jahrbuch VIII (2006), hg. v. Wulf Koepke u. Karl Menges, S. 136, S. 148 (in Sikkas Monographie in Kap. 4 wiederabgedruckt). 61 Der Rede über die „Deutsche[n] Völker“ wohnt eigentümliche Äquivalenz inne. Neben die Warnung vor vorschneller Vereinheitlichung tritt der unbefangene Gebrauch dieses Titels als Klammer sowie die fixe Idee der Durchsetzung eines deutschen Verfassungsmodells in Europa. Im letzten Fall beharrt der Text demnach auf Begriff und historischer Funktion „Deutsche[r] Völker“. Dennoch würde ich der Ansicht widersprechen, dass jenes Insistieren eine Geschichte deutscher Nation, ein nationales Narrativ mit assimilierender Kulturgeschichte vorbereitet. Zunächst einmal lässt sich schwer kategorisieren, inwiefern die Begriffe („Reiche“,) „Völker“ und „Nationen“ in den analysierten Abschnitten voneinander differenziert werden. Sie kommen gleichberechtigt nebeneinander vor, zum Teil sind sie gegeneinander austauschbar oder können füreinander eintreten. Zwar weist der Text der „Ideen“ die grobe Tendenz auf, Völker als früheren (natürlichen, aus sich selbst generierten) Verbund und Nationen als (zentral) organisierte Einheiten zu fassen, dennoch erfolgt die Unterscheidung keineswegs konsequent oder hält sich konsistent durch. Werden die „Deutschen Völker“ im der zitierten Passage vorangehenden Abschnitt als Überwinder dargestellt, benennt der Text sowohl die Unterworfenen als „Völkerstamm“ (FHA 6, S. 687, „Finnische Völkerstamm“) oder „Völkerschaften“ (a. O.,
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S. 679, „[…] zahlreiche[ ] Völkerschaften, die einst die Spanische Halbinsel bewohnten“) als auch die Überwinder selbst (S. 690, die „Deutschen“ als „Völkerstamm“), bzw. ist schlicht von „Volk“ (S. 683, „Volk[ ]“ in Bezug auf die „Galen“), „deutsche Völker“ wie „Gothen, Franken, Burgunder, Alemannen, Sachsen, Normänner […]“) die Rede. Vgl. insgesamt die Nennung „Europäische[r] Völker“, S. 680. Für die „Galen“ gebraucht der Text einmal den Volksbegriff (S. 683), kurz zuvor wendet er indes den Begriff der „Nationen“ auf dessen Bandbreite an. „Notwendig aber waren die so weit verbreiteten verschiedenen Nationen dieses Volksstammes nach Ländern, Zeiten, Umständen und wechselnden Stufen der Bildung sehr verschieden, so daß der Gale an der Küste des Hochoder Irlandes mit einem Gallischen oder Celtiberischen Volk, das die Nachbarschaft gebildeter Nationen oder Städte lange genossen hatte, wohl wenig gemein haben konnte.“ (S. 682) In diesem Zitat taucht der Nationenbegriff zweifach auf und bezieht sich auf voneinander abweichende Zusammenhänge. Zum einen verkehrt die Rede von „verschiedenen Nationen dieses Volksstammes“ die hier vorgeschlagene Differenzierung von „Volk“ und „Nation“ eigentümlich, insofern der „Volksstamm[ ]“ zum übergreifenden Begriff aufsteigt. Der „Volksstamm[ ]“ dividiert sich in „Nationen“ (aus dem „Volksstamm[ ]“ entstehen mehrere Nationen), keinesfalls resultiert die Nation aus diversen Volksstämmen, die sie politisch übergreift. Anders formuliert, handelt es sich bei der Unterteilung eines „Volksstammes“ in mehrere „Nationen“ um ein gängiges Phänomen in der (Völker-)Geschichte, das nicht zwangsläufig in Deindividualisierung mündet (der „Volksstamm[ ]“ verliert nicht an Zusammengehörigkeit oder Identifizierbarkeit). Damit vertritt der Text keine Emphase des ‚ursprünglichen‘ Stammes, der sich über wechselnde Nationen hinweg erhalten und (oder) in eine neue Nation münden würde. Was ihn als gemeinsames Merkmal durchzieht, bleibt auf unterster Stufe („wohl wenig gemein haben konnte“) dennoch benennbar (andernfalls könnte Herder den zitierten Satz nicht formulieren). Im Zitat tritt der Nationenbegriff, die „Nation“, einmal als Unterkategorie des Volksbegriffs, des „Volks“, auf, das andere Mal befindet sie sich in der „Nachbarschaft gebildeter Nationen“. Diese Wendung suggeriert, die „Nation“ müsse „gebildet[ ]“, eine Gebildete, sein. Ihre Bildung (Einrichtung) als politischer Körper geht dem Prozess ihrer (kulturellen) Ausbildung entweder voran oder der kulturelle Faktor Bildung fördert deren politische Institutionalisierung. In beiden Fällen erfüllt sie einen Grad der Zivilisation, der von ihrer künstlichen (oder kunstfertigen) Einrichtung abhängt, die dem natürlichen Zusammenhang des „Volks“ entgegensteht. Indessen verdeutlichte der vorige Gebrauch des Nationenbegriffs, dass ein „Volk“ (oder „Volksstamm“) sich in heterogen organisierte „Nationen“ zerstreuen kann: Die Opposition von natürlich und künstlich wird bereits durchbrochen. Dann taucht der Nationenbegriff als „mehrere teutonische Nationen“ auf (S. 682, vgl. ferner S. 679, „teutonische Völker“) – wiederholt zählt deren Eigenschaft als kriegerische „Überwinder“ (678). Wie unterscheiden sich nun aber „teutonische Nationen“ und „Deutsche Völker.“ (S. 690) bzw. „deutsche[ ] Stämme[ ]“ (S. 682, S. 684, „deutschen Stämmen“) voneinander? Auf S. 694 werden „Sachsen“, „Alanen“, „Sveven“,
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„Ostgothen“ und „Burgunder[ ]“ sowohl als (deutsche) „Völker[ ]“ als auch als „Stämme“ („[…] Stämme, die lange an den römischen Grenzen, [...], gewohnt hatten“) adressiert, welche ihrerseits gegen andere „Nationen“ („[...] hüte man sich, allen diesen Völkern gleiche Sitten oder eine gleiche Kultur zuzueignen; das Gegenteil davon zeigt ihr verschiedenes Betragen gegen die überwundnen Nationen.“) vorgehen. Die als „Stämme“ charakterisierten Bewohner der Peripherie oder der Grenzen gehören weiterhin den deutschen Völkern an, werden jedoch nicht eigens als „deutsche Völker“ wie etwa „Westund Ostgothen, [usw.]“ bezeichnet. Nun könnte man argumentieren, mit den von „deutschen Völkern“ „überwundnen Nationen“ spiele der Text vor allem auf Rom an, das als vollständig eingerichteter Staatskörper gefasst wird. Dennoch legt der Plural der „Nationen“ nahe, dass sowohl die früher als auch nachfolgend erwähnten nicht-deutschen Völker wie „Vasken, Galen, Kymren“ (S. 679, „Völkerschaften“, „Völker“, „verschiedene[ ] Nationen dieses Volksstammes“, S. 682; gemeint sind keltische „Völker“, K. K.), „Finnen, Letten und Preussen.“ (S. 687, die Finnen betreffend ist von „Völkerstamm“ und „Volksstamm“ die Rede; bei den „Letten“ in Abgrenzung von „[…] deutschen, slawischen und finnischen Völkern […]“ vom „lettische[n] Stamm“, S. 689) sowie „Slavische Völker.“ (S. 696) einkalkuliert werden, die von der Eroberungswut „deutsche[r] Völker“ betroffen waren (vgl. S. 682f., zu „nordischen Völkern“). Die dehnbare Begrifflichkeit legt nicht nur innerhalb dieser vier Bücher der „Ideen“ (IV 16, 1-4) nahe, Herder zugeschriebene Konzepte von Volk oder Nation zu überdenken. Keiner der Begriffe dient (allein) dazu, kulturelle Identität zu stiften, sondern sie können variabel nach Kontext oder Bedarf eingesetzt oder ausgetauscht werden. Sie besetzen keine strikt festgelegte Bedeutung, sondern weisen ein semantisches Spektrum auf, das erst im Diskurs von Zusammenhang und Austausch heterogener Zugehörigkeit sowie Vermischungen innerhalb (und außerhalb) Europas voll ausgeschöpft werden kann. Identitätsstiftende Begriffe sind perspektivisch verschiebbar. Historisch vertiefend: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer, Dietrich Hakelberg (Hg.), Zur Geschichte der Gleichung ‚germanisch-deutsch‘. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen, Berlin, 2004 [Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 34]. Zum Klassifizierungsproblem, das vom Ausgangsbefund der Vermischung abgelöst wird, vgl. vor allem den Aufsatz von Hans-Werner Goetz, „Die ‚Deutschen Stämme‘ als Forschungsproblem“ in diesem Band, S. 229-253. In der Herderforschung siehe Birgit Nübel, „Zum Verhältnis von ‚Kultur‘ und ‚Nation‘ bei Rousseau und Herder“ (Goethezeitportal: 29.01.2004). Zur Komplexität des Nationenbegriffs in den „Briefe[n] zu Beförderung der Humanität“ (1794) vgl. S. 5; vgl. S. 5f., die „‚epochale Wirkung‘“, die Reinhart Koselleck dem Eintreten von Volksfür Nationenbegriff (bei Herder) attestiert. Anne Löchte stellt den Nationenbegriff in den Rahmen von Herders Kulturtheorie. Anne Löchte, Johann Gottfried Herder. Kulturtheorie und Humanitätsidee der Ideen, Humanitätsbriefe und Adrastea, Würzburg, 2005, bes. „Dritter Teil: Kulturen und Nationen“, S. 75-99. Eine Zusammenfassung zum Thema gibt Endre Hárs, „Herder und die Erfindung des Nationalen“ (2008), s. Lit.-Verz.
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Andererseits spielen die „Deutschen Völker“ eine führende Rolle in der Herausbildung der einheitlichen Verfassung Europas: „[…] die erste Reichsverfassung eines Deutschen Volks […]“ setzt sich bezeichnender Weise außerhalb „Deutschland[s]“ durch (777)62, lässt sich dann kaum mehr umgehen, wodurch „[…] in Europa endlich ein politisches System Deutscher Art errichtet worden ist, an welches sich mit Güte oder Gewalt andre Völker zuletzt knüpfen mußten.“63 (778) Obgleich Mittel und Wege der Ausführung beanstandet werden, „[…] die Idee der Deutschen Völkerverfassung“ (804) praktisch erprobten Modifikationen unterliegt, wertet der Text deren Unumgänglichkeit und Durchsetzung letztlich positiv – als Meilenstein der Entstehung eines modernen Europa. „Aus allem erhellet, daß die Idee der Deutschen Völkerverfassung, so natürlich und edel sie an sich war, auf große, zumal eroberte, lange Zeit kultivierte oder gar römisch-christliche Reiche angewandt, nichts anders als ein kühner Versuch sein konnte, dem viele Mißbräuche bevorstanden; sie mußte von mehrern Völkern voll gesunden Verstandes in der nörd- und südlichen Welt lange geübt, mannigfaltig geprüft und ausgebildet werden, ehe sie zu einiger Bestandheit kommen konnte. In kleinen Munizipalitäten, beim Gerichtshandel, und allenthalben wo lebendige Gegenwart gilt, zeigt sie sich unstreitig als die beste.“ (804)
Trotz zwischenzeitlicher Turbulenzen, welche sich dem Beharren auf dem (durchweg geschmähten) Prinzip dynastischer Herrschaft schulden, bot „[…] in der Geschichte der Welt die Gemeinverfassung germanischer Völker gleichsam die feste Hülse [...], in welcher sich die überbliebene Kultur vorm Sturm der Zeiten schützte, der Gemeingeist Europa’s entwickelte und zu einer Wirkung auf alle Weltgegenden unsrer Erde langsam und verborgen reifte.“ (805) Laut Pross reagieren diese Einlassungen auf Gibbons „[…] Analyse der germanisch-fränkischen Rechtsverfassung“.64 Weshalb der Text den Erfolg der deutschen Verfassung (überdeutlich) ausstellen mag – zweifelsohne wertet er sie als Vorbild und historischen Entwicklungsfaktor. Dies fällt umso mehr ins Gewicht, als Herder die Idee vereinter deutscher Völker zurückweist. Einförmigkeit wächst sich nicht nur zum Problem aus, der Text erkennt die kulturelle Divergenz heterogener Gruppen durchgängig an (778), weshalb Praxisbezug die deutsche Verfassung auszuzeichnen hat. Sie kann „geübt“ und speziellen Erfordernissen angepasst werden, sie ist zugleich Medium sowie
62 Seitenangaben zu den „Ideen“ weiter in Klammern im Fließtext. 63 Vgl. Herder, Ideen, a. O., S. 778, vgl. meinen Text, S. 532. 64 Vgl. Pross, Herder, Ideen, Kommentar, a. O., S. 857. Schätzt Herder die Bedeutung Karls des Großen ein, ergeben sich, je nach Schrift, positive Urteile wie in den „Ideen“, aber auch negative Bezüge, vgl. bei Pross S. 851f. Seitenangaben zu den „Ideen“ weiter im Fließtext in Klammern.
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Produkt „lebendige[r] Gegenwart“ (804). Die situative, auf den Fall gemünzte Variabilität soll sich als Modell durchsetzen. Den doppelten Diskurs des Mittelalters lädt eine gesteigerte Inspiration auf: Die Errichtung der menschlichen Gesellschaft als Kunstwerk. „Wenn Einrichtungen der Gesellschaft das größeste Kunstwerk des menschlichen Geistes und Fleißes sind“ (798), münden sie am Ende in eine Verfassung, welche einen festen Rahmen verleiht. Im Falle solcher „Einrichtungen“ haftet dem befestigten Gebäude („politischen Bauwerken“, 807) eine Nachträglichkeit an, welche es als brauchbare Metapher praktisch entwertet. Obgleich die deutsche Verfassung solide angelegt ist (804, 805, „[…] Zeugen vom hellen und billigen Geist der Deutschen“, „groß und edel“), entzieht sie sich als Grundriss vorheriger Planung, da sie einzig durch „lebendige Gegenwart“ (804), beim Bauen selbst, umgestaltet wird. Deshalb gilt für die deutsche Verfassung, was Herder für die Erbauung Roms in Anschlag bringt: „Man ist gewohnt, dem was ein Gebäude geworden ist, schon vor seiner Entstehung einen Entwurf des Baues zum Grunde zu legen; selten aber trifft dies bei den politischen Bauwerken ein, die nur die Zeiten vollführt haben.“ (807) Speziell der Austausch zwischen germanischem und römischem Rechtssystem schafft Grundlagen weiterer Modifikationen, indem beide sich aneinander abarbeiten. Im neunzehnten Buch nimmt die Abfolge der „Ideen“ wiederum eher die Perspektive des römischen Kulturkontaktes mit den Germanen ein. Das „politische[ ] Bauwerk[ ]“ (807) rückt zum „größeste[n] Kunstwerk“ (798) auf, das sich gerade nicht oder nur schlecht planen lässt. Im Ergänzen oder Herausnehmen einzelner Teile, durch konzeptionelle Beratung sowie Reorganisation „von mehrern Völkern voll gesunden Verstandes“ (804) entsteht das Gebaute Zug um Zug. Die mittelalterliche Vorliebe für architektonische Gebilde (gotischen Baustil sowie das ihn veredelnde Ornament) nimmt eine neue Wendung, insofern Detailarbeit sich als immanentes Merkmal der Verfassungsbildung herauskristallisiert. Meine Deutung knüpft an die vorigen Überlegungen zum doppelten Diskurs des Mittelalters an – dessen Semantik des mittleren Alters Ausschlag gibt –, erschöpft unter Umständen die Kategorie der Dauer. Allerdings überschlagen die „Ideen“ die Völkerwanderungszeit bis zur Herrschaft deutsch-römischer Kaiser (seit Karl dem Großen) als kontinuierlichen Zeitraum, der mit dem „[…] Aufbruch der Hunnen in der Tatarei [376] […]“ einsetzt („Ideen“, 764) und bis zur relativen Autonomie Deutschlands führt: „Endlich kann sich Deutschland, sobald es ein eignes Reich ward, großer, wenigstens arbeitsamer und wohlwollender Kaiser rühmen, unter welchen Heinrich, Otto, und die beiden Friedrichs wie Säulen dastehn.“ (798) Mit Friedrich II. reicht diese Zeitspanne bis 1250 heran. Beliebig lässt sich Karl der
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Große (vgl. 786, 788) als Bezugspunkt dazwischen schalten, falls er als historische Figur nicht selbst im Fokus steht (wie 778-782).65 Insoweit folge ich einer Vorgabe, welcher der Text untersteht. Trotz Divergenzen und Perspektivwechseln stützt er sich wiederholt auf tragende Säulen der von ihm entwickelten Historie, sie sind für ihn konstitutiv. Je nach zugewiesenem Kontext legen sie Gleichzeitigkeit oder Ungleichzeitigkeit an. Entweder kann Karl der Große neben anderswo ansässigen Herrschern eingefügt werden – nachgestellte Jahreszahlen gewährleisten dann das Auseinanderstreben des Gleichzeitigen – oder als Rückprojektion bzw. Ausblick dienen, um gleichförmige politische Konstellationen zu beleuchten (Ungleichzeitigkeit der Übereinstimmung). Eine dritte Option bietet die Annahme von Konstanz oder Genese, die ihn als Einsatz- oder Endpunkt einer Entwicklung fixiert. Jahreszahlen treten ab S. 756 auf. Zuvor springt der Text bereits zwischen Orten, Zeiten und Personen. Die Lektüre (des dritten, vierten Teils) erlaubt es, relativ problemlos zu springen: ein Strukturmerkmal, dem sich meine Deutung verdankt. Sicher ließe sich das Interesse am Detail, das die Gotik verfolgt, als streng geplanter Bau oder kontinuierlicher Umbau der Romanik und nicht als sukzessive, 65 Vgl. Herder, Ideen, in: FHA 6, S. 680; in Bezug auf „Slavische Völker“ (S. 696), „Schon unter Karl dem Großen gingen jene Unterdrückungskriege an“ (S. 697f.); (S. 767), „und statt Karls des großen ein Theoderich die Verfassung Europa’s [...] hätte bestimmen mögen.“ (eine der wenigen Stellen der „Ideen“, die Karl kritisch hinterfragen); (S. 771); (S. 775) wird Karl in die Riege der fränkischen Herrscher eingereiht, „[486]“ beginnend; (S. 784), „und wenn sich Karl an den Sachsen, wenn sich die Angeln an den Britten und Kymren grausam vergangen hatten“; (S. 786), „Hundert Jahre nach Karl dem großen war er in einem glücklicher Weise beschränkteren Kreise vielleicht größer als Er“; (S. 787), „und als von den Fränkischen Königen, am meisten von Karl dem großen die Eroberung Nordwärts verbreitet ward“; (S. 788), „In Irland ließen sie sich schon zu Karls des großen Zeiten nieder [795]“, „Die französische Küsten beunruhigten sie seit dem sechsten Jahrhundert; und die böse Ahnung Karls des großen, daß seinem Lande durch sie viele Gefahr bevorstehe“, „[…] teils noch von den Römern, teils von Karl herrührten“; (S. 793), „Schon Karl der große war bemüht, die Dänen wie die Sachsen zu taufen“; (S. 795), „Sofort nach des Riesen Tode“; S. 796, „der mit Karls Krone zu Aachen gekrönt war“; (S. 809), nun die Geschichte des römisch-katholischen Christentums betreffend: „Endlich ward Karl der große römischer Kaiser; und nun hieß es: Ein Rom, Ein Kaiser, Ein Papst!“; (S. 856), „[...] auch, wenn mehrere Theodorichs, Karl und Alfrede gelebt hätten“; (S. 866), „In jenem Erdstrich nämlich, den bis zum Ebro Karl der große den Arabern abgewann“ (gehört zum Kapitel „Rittergeist in Europa.“); (S. 868), Eingang realhistorischer Begebenheiten in „Heldensagen“, „Der Zug Karls des großen gegen die Saracenen“; (S. 894f.), „Nach Theodorich, Karl dem großen und Alfred wollen wir also vorzüglich die Asche Kaiser Friedrichs des zweiten ehren“.
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praktisch erprobte Modifikation verstehen. Bis heute weiß man nicht genau, wie die gotischen Baumeister ihre überdimensionierten Werkstücke – weithin ohne Kenntnisse moderner Statik – konstruierten.66 Die Analogisierung der Verfassung mit dem „politischen Bauwerk[ ]“ (Herder, „Ideen“, 807)67 löst die sonst so stabile Konstruktion der Gebäudemetaphorik auf, prägt einen Begriff der Kunst, die im Austausch „lebendige[r] Gegenwart“ (804) zur Form gerinnt. Dass die deutsche Verfassung im modernen Europa gedeiht, überrascht insofern, als Einförmigkeit und Unbehülflichkeit sich in der (mangelhaften) Überlieferung kultureller Er-Zeugnisse niederschlagen. „Leider können wir Deutsche von unsern alten Sprachschätzen nicht viel aufzeigen“. (695) Dennoch hapert es der deutschen Kultur nicht an Orientierung: „Indessen dörfen wir uns doch, wenigstens brüderlich, jenes entfernten Schatzes der deutschen Fabellehre freuen, der sich am Ende der bewohnten Welt, in Island, erhalten oder zusammengefunden, und durch die Sagen der Normänner und christlichen Gelehrten augenscheinlich bereichert hat, ich meine der Nordischen Edda. Als eine Sammlung von Urkunden der Sprache und Denkart eines deutschen Volksstammes ist sie allerdings auch uns höchst merkwürdig.“ (694)
Höchst „merkwürdig“ verfährt Herders Zuordnungsmechanismus. Ob man sich als zugehörig begreift, hängt von der Interpretation des „höchst merkwürdig[en]“, im Gedächtnis zu verwahrenden, Merkmals ab.68 Als unzureichende Quelle „von unsern alten Sprachschätzen“ (695) nennt Herder Johann Schilters dreibändigen „Thesaurus Antiquitatum Tevtonicarum, Ecclesiasticarum, Civilium, Litterariarum“ (1727/28)69, der im zweiten Band Rechtsbegriffe und Urkunden zur Rechtsgeschichte, darunter den Sachsenspiegel, verzeichnet (darüber informiert dessen ausführlicher Titel). Band drei enthält ein Glossar zu fränkischen sowie alemannischen 66 Trotz antiker literarischer Grundlagen, etwa des Archimedes, war eine Statik im heutigen Sinne nicht entwickelt. Vgl. Günther Binding, Bautechnik, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. I, Aachen bis Bettelordenskirchen, München/Zürich, 1980, S. 1689-1692, S. 1690; Wilbur Knorr, Statik, in: Lexikon des Mittelalters, Bd.VIII, Stadt (Byzantinisches Reich) bis Werl, München, 1997, S. 64-66. 67 Seitenangaben zu Herders „Ideen“ weiter in Klammern im Fließtext. 68 Wenngleich das Grimmsche Wörterbuch für Immermann bereits die heutige pejorative Bedeutung verzeichnet. Jacob u. Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Leipzig, 18541961, Bd. 12, Sp. 2108. 69 Vgl. Herder, Ideen, a. O., S. 695, die FN, s. a. Pross, Herder, Ideen, Kommentar, S. 795. Es geht zu weit, die umfassenden lateinischen Titel hier zu zitieren, sie sind über den Bibliothekskatalog Erfurt/Gotha mühelos einsehbar (Suche über: Schilter, Thesaurus). Seitenangaben zu Herders „Ideen“ weiter in Klammern im Fließtext.
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Dialekten, Band eins nimmt unter die Schriftzeugnisse u. a. Ottfrieds „Evangelienbuch“, Notkers „Psalter“, eine Fassung der Benediktinerregel sowie des Hohelieds Salomo auf. Anders als an „Sprachschätzen“ mangelt es nicht an Zeugnissen, welche die „deutschen Verfassungen“ betreffen. Verglichen mit dem Pendant zur Literaturgeschichte könnte Schilters Band zur Rechtsgeschichte eventuell ausreichend Bezugspunkte bieten. Herders Text suggeriert, dass die „wilde[n] Vorspiele eines Systems“ („Ideen“, 692) über einen Subtext verfügen, der sich nötigenfalls entwickeln ließe. Auf den Subtext verweist die Fußnote, darunter fällt Justus Mösers „Osnabrückische Geschichte“ (1774-86). Was realisierbar wäre, die Verfassungsgeschichte, entpuppt sich als zwecklos („ohne Zweck“) – dass die Quellen nur mehrfach vermittelt auftreten, kümmert Herder in diesem Kontext ohnehin wenig. Dabei handelt es sich bei der editorischen Notiz um einen intervenierenden Entschluss des Erzählers. Der zwecklosen (oder zweckfreien) historischen „Schilderung“ hält die Fußnote historische Emanation („sich zeitig gnug zeigen wird“) entgegen: „Eine ausführliche Schilderung der deutschen Verfassungen, die nach Zeiten, Stämmen und Gegenden sehr verschieden waren, wäre hier ohne Zweck, da, was sich von ihnen in die Geschichte der Völker gepflanzt hat, sich zeitig gnug zeigen wird. Nach den zahlreichsten Erläuterungen des Tacitus, hat Möser von derselben, [...], eine Beschreibung gegeben, [...].“ (Herder, „Ideen“, 692)
Weil es sich bei Urkunden zur Rechtsgeschichte außerdem um „Sprachschätze[ ]“ handelt – eine zulässige Deutung, sofern man rechtliche Sachverhalte früh in Schriftstücken verewigte – liegt eine Asymmetrie der Zeugnisse vor. Der Sonderfall „deutsche[r] Verfassungen“ bereitet das spätere Argument vor, „[…] ein politisches System Deutscher Art […]“ zu errichten (778, vgl. auch 804f.), das sich, ohne Ausbreitung der Quellen „zeitig gnug zeigen wird.“ (692) Erweist sich die Auseinandersetzung mit den Quellen deutscher Verfassung, die Vorübung der politischen Ordnung Europas, als entbehrlich, muss die „Geschichte der nordischen Reiche“ (792) mit ihrer „Mythologie“ für die übrigen „Sprachschätze[ ]“ (695) eintreten – ein erstaunlicher Befund, der von der Güte der Überlieferung abhängt. „Die bis zum achten Jahrhundert dunkle Geschichte der nordischen Reiche hat vor den Geschichten der meisten Europäischen Länder den Vorzug, daß ihr eine Mythologie mit Liedern und Sagen zum Grunde liegt, die ihre Philosophie sein kann. Denn in ihr lernen wir den Geist des Volks kennen, [...]; eine Philosophie der Geschichte, wie sie uns, außer der Edda, nur die griechische Mythologie gewähret.“ (792)
Die geographische Abgeschiedenheit („von keinen fremden Völkern feindlich besucht wurden: denn welche Nation hätte, nach dem großen Zuge in die mittäglichen
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Gegenden, diese Weltgegend besuchen wollen?“), welche „die Einfalt Deutscher Ur-Sitten“ „[w]ie in einer nördlichen Schweiz […]“ (792) abschirmt, besiegelt die unermüdliche Ursprünglichkeitsvision. Die Ausgangssituation gestaltet sich der griechischen Historie analog, erzeugt dennoch keine Äquivalenz, die Unterschiede nivelliert (vgl. dazu die Diskussion auf 694f., „sehr vergeblich wäre es aber, einen Homer oder Oßian unter diesen Skalden zu erwarten. Bringet die Erde allenthalben Einerlei Früchte hervor?“), sondern unterliegt einer strukturellen Übereinstimmung (dem Selbsterhalt), der realgeschichtlich in der abgesonderten geophysikalischen Lage verankert wird. Kulturgeschichtlich erfolgt eine Kondensierung, welche die Konzeption von Kulturstufen (z. E. Hegels) ablehnt. So obliegt es nicht der Philosophie, die Mythologie abzulösen, in höhere Begriffe zu überführen, sondern die Mythologie hält eine eigenständige „Philosophie der Geschichte“ bereit. Sie realisiert sich nicht in abstrakten, dunklen mythischen Motiven, sondern in „Liedern und Sagen“ (792) – Philosophie mutet als recht konkrete literarische Produktion an. Der Zusammenfall von poetischer Umsetzung, Geschichte und Philosophie, den Griechenland verkörpert, wiederholt sich in der nordischen Mythologie, der Edda, welche stellvertretend die „Geschichten der meisten Europäischen Länder“ ersetzt. Ihre Überlegenheit äußert sich im Zusammenfall, der nicht nur konservatorische Vorzüge birgt (da nur eine Gattung Text aufzubewahren ist), sondern die historische Mitteilung vielsagend umkreist.70 7.5 Roman und „Rittergeist“ Während die „Ideen“ die Erforschung des Ursprungs sowie die Genese der Artussage als Abenteuer ausweisen, romantische Motive und Romanstoff in die Geschichte verweben, indem sie Romane und deren Erzählgewohnheiten umschreiben, so kulminieren ihre kulturgeschichtlichen Ausführungen zum „Rittergeist in Europa“ in der These des Synkretismus, welche das Romanhafte zum Zeugnis des Zeitgeschmacks („allgemeinen Geschmack des Zeitalters“, „Ideen“, 868)71 erhebt. Im gleichnamigen Kapitel findet eine Verschaltung von realhistorischem (869, „Denn wenn wir aus dem Gebiet der Fabel ins Land der Geschichte treten, in welchem Reich Europa’s hat sich die Blüte der Ritterschaft schöner als in Frankreich gezeiget?“, s. a. 862-865) und literarischem „Rittergeist“ statt (867f., 866f.). Beide Momente, insbesondere die literarische Genese des Motivs zum Roman, hängen radikal vom Kulturkontakt mit den Arabern ab. Die Verquickung von nord-südlichem 70 Vergleiche das Zitat in Herder, Ideen, in: FHA 6, S. 555f., in dem die lebendige literarische Produktion der Griechen zur Grundlage des Historischen erklärt wird, dessen (ästhetische) Anlage das philosophische Potential zugleich in sich beschließt, meine Analyse auf S. 481ff. 71 Seitenangaben zu den „Ideen“ weiter im Fließtext in Klammern.
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Rittertum schlägt sich nicht nur als realhistorisch neues Phänomen in Europa nieder, sondern ihr Zusammenfluss, die Übersättigung, treibt den „Roman“ als neue Gattung hervor. „Was die Araber von Süden anfingen, dazu trugen von Norden aus die Normänner in Frankreich, England und Italien noch mächtiger bei. Als ihr romantischer Charakter, ihre Liebe zu Abenteuern, Heldensagen und Ritterübungen, ihre nordische Hochachtung gegen die Frauen, mit dem feineren Rittertum der Araber zusammentraf, so gewann solches damit für Europa Ausbreitung und Haltung. Jetzt kamen die Sagen, die man Romane nennet [...].“ (867)
Deren Grundlage schafft die Heldendichtung („denn von jeher hatten alle Deutsche Völker das Lob ihrer Helden gepriesen“, 867), deren Überlieferung (sogar oder just) in „[…] der tiefsten Dunkelheit an den Höfen der Großen, ja selbst in Klöstern […]“ gesichert gewesen sei. Die Motive und Ziele der Heldendichtung entstammen daher einer Zeit „vor den Kreuzzügen“, deren Begegnung mit dem Orient sie modifiziert. Erneut bekräftigt der Text die Geschichtsvergessenheit des Christentums, die verschulde, dass neuartige oder andere Gattungen historiographische Funktion übernehmen: „ja je mehr die echte Geschichte verschwand, desto mehr hatten sich die Köpfe der Menschen zur geistlichen Legende oder zur Romansage geformet.“ (Zitate: 867) Die Romanstruktur wird eingeübt, multipliziert sich, setzt sich in den Köpfen der Menschen fest, wird zum Modephänomen, ohne dessen Gestaltungselemente Erzählungen nicht mehr gehört und geglaubt werden. „[...] findet man daher diese Übung der menschlichen Einbildungskraft mehr als jede andre in Gange, zuerst auf Griechisch-Afrikanische, mit der Zeit auf Nordisch-Europäische Weise; Mönche, Bischöfe und Heilige hatten sich ihrer nicht geschämet; ja es mußten Bibel und wahre Geschichte selbst Roman werden, wenn man sie anhören sollte.“ (867/868)
Der Durchbruch des Romans erfolgt auf breiter Grundlage und setzt ein mehr als gesamteuropäisches Dichtungsexperiment in Gang. Philologisch korrekt sucht Herder die einzelnen Sagenstoffe höfischer Romane aus ihren real- bzw. kulturhistorischen Kontexten herauszulösen und literarhistorisch zu situieren. So bietet die Vita Caroli „Eine Richtung“, der Artusstoff eine „zweite Richtung“, nach welcher die Romane gestaltet sein können (868). „Der Zug Karls des großen gegen die Saracenen, mit allen Abenteuern, die in den Pyrenäen geschehen sein sollten, war die Eine Richtung; was sich im Lande der Normänner, in Bretagne, an alten Sagen von König Artus vorfand, war die andre.“ (868) Das Repertoire „provenzalische[r] Dichtkunst“, ein Durchbruch der Volkssprache, reichert die Sagen um Karl den Großen bereits früh(er) an, wobei sowohl „Personen und Begebenheiten“ als auch Orte motivische Anschlüsse gewähren, so wie der Artusstoff eine Tendenz zur Ausschmückung und Idealisierung, eine Neigung zum „Wunderbaren“, „[…] eine eigne Gat-
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tung des Wunderbaren […]“ (868), ausprägt. Die Ursage, deren historischer Kern schon nicht mehr zu isolieren ist, spinnt sich „in ein utopisches Land“ fort. Zwar wird diese Verlagerung zunächst geographisch „[…] über das Meer hin nach Cornwallis“ rückgebunden, über die Utopie, welche eine neue Gattung erzeugt, jedoch als literarisch ausgewiesen. Durch die Erzählungen um Artus, in denen „[d]er Spiegel der Ritterschaft […] hell polieret [ward]“, vermittelt tritt demnach eine Gattung hervor, welche es in dieser Form früher nicht gegeben hat. Sie reiht sich neben die alten Heldenlieder ein, versetzt das Setting an einen gesellschaftlich exklusiven Ort, den Hof („Hofstaat“) (868). Äußerst weitläufig wird der Kreis des Erzählbaren abgesteckt, da dem Artusroman das „Wunderbare[ ]“ zu Gebote steht, ihm außerdem historisch-geographische Breite „[…] in einer so alten Zeit und unbeschränkten Welt“ eingeräumt wird (868f). Ob prähistorische oder gar mythische Zeiten gemeint sind, bleibt offen. Für den Grad historischer Tiefe „einer so alten Zeit“ (868f.) spielt diese (qualitative) Differenz womöglich keine Rolle mehr. Insofern zollt der Text der realen historiographischen Komplikation Beachtung, dass Sagen einzig in ihrer Gestalt – ohne parallel aufgezeichneten Hintergrund – existieren oder spielt darauf an, dass Wissensordnungen Bestand hatten, die diese Unterscheidung nicht kannten bzw. anders werteten. Die fortlaufende Genese des Romans erfolgt als Vermischung beider Stränge, so „[…] entstand aus beiden eine dritte Gattung der Romane“ (869), welche sich vorwiegend aus der Erweiterung um „[…] Ritter und Szenen zum Schauplatz […]“ speist. Bei den hinzukommenden Schauplätzen handelt es sich indes häufig um ältere oder älteste Sphären, die an frühere Sagen oder literarische Werke des „Altertum[s]“ selbst anschließen. Zweifelsfrei ist nicht mehr zu belegen, ob es sich bei Neuerungen um Altbestände handelt, da Quellen asymmetrischer Zeitspannen und geographischer Breiten zusammenfinden: „denn die Unwissenheit des Zeitalters und die Gestalt, in welcher damals die Geschichte des Altertums erschien, erlaubte ja gebot diese Mischung aller Zeiten und Länder.“ (869) „Französische und Spanische Provinz[en]“ verknüpfen sich mit „Troja und Griechenland, Jerusalem und Trapezunt, was man in neuen Gerüchten hörte, oder von alten wußte, floß zur Blume der Ritterschaft zusammen, [...].“ (869) Der Text breitet das motivische Spektrum des höfischen Romans aus, das vom Artusroman über die Chansons de geste (u. a. Karlssagen) bis zur Adaption des Antikenromans reicht.72 Darüber hinaus scheint mir bemerkenswert, dass die Umgestaltungen des Romans – der erst im Artusroman das Prädikat des Ritterromans gewinnt – als je originelle Gattungen gefasst werden. Ob die „dritte Gattung“ die Adaptionen aus dem Antikenroman selbst meint oder auf spätmittelalterliche Liebes- und Abenteuerro72 Und entspricht damit heute üblichen Einteilungen. Vgl. etwa Horst Brunner, Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters im Überblick, Stuttgart, 2000, S. 263-266.
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mane vorausdeutet, die alle drei Richtungen von neuem vermischen und umdisponieren, bleibt vage. Damit vollzöge die „dritte Gattung“ den Schritt in Richtung des modernen Romans, der künftig auf Ritterehre, aber nicht auf Kavaliersabenteuer verzichten kann. Obgleich der Text eine mehrstufige Genese suggeriert, entfaltet er die drei Motive eher parallel, indem er den Wechsel und die Wiederaufnahme eines Motivs und dessen Anreicherung um ein zusätzliches Stoffreservoir darlegt. Nach der sauberen Differenzierung in erste und zweite „Richtung“ erfährt die Karlssage vorab ihre Erweiterung um die „provenzalische Dichtung“, welche ihr chronologisch vorangeht. Der Ausbau beider „Richtungen“ um den Stoff der Antikenromane müsste als Verkettung gedacht werden, der Antikenroman Karlssage sowie Artusroman vorausschickt. Als Austragungsorte werden die „Französische und Spanische Provinz“ kommentarlos an antike Schauplätze gebunden, was die Zeitordnung außer Kraft setzt. Die der „Unwissenheit des Zeitalters“ geschuldete Verwirrung überträgt sich vom Mittelalter bruchlos in die retrospektive Literaturgeschichte. Im Zuge einer vorgeschobenen Genese arbeitet jene daran, die Abfolgen zu verwischen (869). Der doppelte Diskurs spitzt sich schließlich im 84. Humanitätsbrief Herders73 zu, der das mittelalterliche Leben insgesamt im Abenteuer kulminieren lässt: „Sie konnten nicht zugrunde gehen, weil diese Völker (wenn mir der Ausdruck erlaubt ist) abenteuerlich dachten und entweder gar nicht oder im Abenteuer lebten.“ Was der 84. Humanitätsbrief in Bezug auf den romanhaften Hang zum Abenteuer einräumt, der sich zum Epochenmerkmal auswächst, billigen die „Ideen“ der „Sprache“ zu, ohne die Literarisierung des Zeitalters konsequent zu vollziehen: „daher auch die Sprache des Mittelalters so Zeremonienreich, fest und förmlich daher tritt, daß sie sich in einem ehernen Panzer um zwei oder drei Gedanken, gleichsam selbst ritterlich, zu bewegen scheinet.“74 7.6 Arabien als „underplot“ der Geschichte In der Frühschrift bahnt sich ein metahistorischer Einfall an, der aus dem eurozentrischen „‚Gang Gottes über die Nationen! […]‘“ ausbricht, aus der Reihung Morgenland, (Phönizien), Griechenland, Rom, Norden herausfällt, und dennoch nebenbei Erwähnung findet. Dabei verschiebt sich das Raum- zum Zeitgefüge, der Norden wird in Mittelalter und Renaissance unterteilt. Mitten im dritten Abschnitt hat der „Beitrag“ Nationen- und Epochenabfolge bereits verlassen, um sich – mehr oder minder zielgerichtet – der Gegenwartskritik zu widmen. Der komplette dritte Ab73 Johann Gottfried Herder, Briefe zu Beförderung der Humanität, 84. Brief, Drittes Fragment, in: FHA 7, hg. v. Hans Dietrich Irmscher, Frankfurt am Main, 1991, S. 466-474, S. 469: „Dabei aber [...].“ 74 Herder, Ideen, a. O., S. 864.
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schnitt ist mit „Zusätze“ überschrieben, kündet davon, dass er ein akkumulatives Sammelsurium enthält, ohne auf ein Finale zuzulaufen. Der frühere Text richtet sich auf ein Außen, das dem Hauptstrang supplementär bleibt, in den „Ideen“ indessen zum Herzstück des doppelten Diskurses gedeiht. Dabei handelt es sich um ein inneres Außen oder äußeres Innen, das entscheidend an der Modifikation der Menschheitsgeschichte mitwirkt. Allerdings verbirgt das dezisive Moment sich im Untergrund, läuft unbemerkt nebenbei ab und tritt erst später in den Fokus. Dem realhistorischen Phänomen ordnet der Text literaturtheoretische Begrifflichkeit zu, klassifiziert es metahistoriographisch, hebt zudem darauf ab, es in diesem Modus zu schildern. Der abwegige Gedanke verknüpft sich dem fragwürdigen Wiederaufblühen Griechenlands, dessen jugendliche Kultur sich der schöngeistigen Jugend aller Epochen empfiehlt (die Analogie oder Allegorie der Lebensalter stellt Äquivalenz zwischen stofflicher Aufbereitung und Empfängnisbereitschaft her). Zweifellos negiert der Text ungebrochene Wiederholbarkeit („zum zweitenmal wecken wollte“).75 Rom drängt sich zwischen Griechenland und „Norden“ (86), der von Griechenlands Lebens-Art profitieren soll. Temporal erfüllt Rom vermittelnde Funktion („[…] Mittelzeit der Härtung des Kerns [….]“, 86), „Italien“ trägt die räumliche Basis einer „Brücke“ (86). Translatio studii vollzieht sich über Rom nur maskiert („[…] im Römerkleide, nach Römerart, in Römersprache“, 85), sodass der griechische Kern bloß mühsam herauszuschälen ist. Eine zweite Prägung Europas scheint vorgesehen, lässt sich rückblickend aufspüren, wirkt sich dagegen mittelbar, selektiv aus und lenkt den Blick aufs Kontrafaktische. „Selbst, da Griechenland zum zweitenmal auf Europa würken sollte, konnts nicht unmittelbar würken: Arabien ward der verschlämmte Kanal – Arabien der under plot zur Geschichte der Bildung Europa’s.“ (86) „Arabien“ hält Auswahl samt Speicher bereit. Durch die Auswahl wird die Speicherung abgesichert, das nicht Ausgewählte konserviert. Einzig die aristotelische Scholastik verbreitet sich über den „Kanal“ bereits im Mittelalter, da sich „[...] aristotelische Spitzfindigkeit und mohrischer Geschmack so wohl mit dem Geiste der Zeiten vertrug“. (86) Die Übernahme einiger arabischer oder arabisch vermittelter Kulturgüter schuldet sich dem Geschmack des Mittelalters (diese Tendenz unterstellt Herder schon dem gotischen Ornament). Seinerseits hat der arabische Geschmack die Selektion aristotelischer Schriften zu verantworten („die arabische Religion und Nationalkultur haßte diese Blumen“, 86).76 Demnach handelt es sich um eine Laune der Überlieferung, wenn „[…] Plato, Homer, die Dichter, Geschichtschreiber, Redner […]“ (86) vorerst auf der Strecke 75 Herder, Auch eine Philosophie, a. O., S. 85. Seitenangaben zur Frühschrift in Klammern im Fließtext. „,Gang Gottes […]‘“ usw. a. O., S. 88. 76 Zur Begegnung mit den griechischen Kunstformen vgl. ferner Herder, Ideen, a. O., S. 846. Seitenangaben zur Frühschrift in Klammern im Fließtext.
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bleiben. Der Zeitengeschmack nimmt einen zweifachen Um- oder Abweg, der potentielle Tradierung ausspart und verzögert. Um diesen Sachverhalt poetologisch zu greifen, führt Herder überraschend den Terminus „under plot“ ein, den der Kommentar dem „Metaphernfeld der Dramentheorie“77 zuordnet. Dessen metaphorischer Gebrauch tritt meines Erachtens in den Hintergrund. Die Metapher ist zum Terminus verschliffen, als Metaphorik ohnehin schwach ausgeprägt. Kaum verkennbar nutzt Herder allerdings ein Fremdwort, das er dem englischen Sprachschatz entlehnt. Samuel Johnsons „A Dictionary of the English Language“ verzeichnet folgende Definition für „underplot“: „1. A series of events proceeding collaterally with the main story of a play, and subservient to it.“ Als Bezugsstelle für jene erste Bedeutung führt das Dictionary „Dryden’s Dedication to Juvenal“ an: „In a tragicomedy, there is to be but one main design; and though there be an underplot, yet it is subservient to the chief fable.“ Die zweite Bedeutung, „2. A clandestine scheme“ belegt ein Auszug aus Addisons „Spectator“ (Nr. 170 vom 14.9.1711): „The husband is so misled by tricks, and so lost in a crooked intrigue, that he still suspects an underplot.“ (Der Abschnitt hält ein Plädoyer gegen die Eifersucht misstrauischer Ehemänner.)78 Seinem Einsatz im Text zufolge richtet sich der „under plot“ an der Semantik Drydens aus: erläutert sie doch die strukturelle Eigenheit einer Geschichte, die zwar im Verborgenen abläuft, jedoch kein Misstrauen provozieren soll. Die im „Dictionary“ zitierte Dryden-Passage findet sich in der „Dedication to the Earl of Dorset“ zu den „Translations from Juvenal“. „As in a play of the English fashion, which we call a tragi-comedy, there is to be but one main design: and though there be an underplot, or second walk of comical characters and adventures, yet they are subservient to the chief fable, carried along under it, and helping to it; so that the drama may not seem a monster with two heads.“79 77 Herder, Auch eine Philosophie, in: FHA 4, S. 891 (Kommentar). 78 Samuel Johnson’s: A Dictionary Of The English Language: In Which The Words are deduced from their Originals, And Illustrated in their Different Significations By Examples from the best Writers. To Which Are Prefixed, A History of the Language, And An English Grammar. By Samuel Johnson, A. M. In Two Volumes, Vol. II., London, 1755 (unpag.), s. Eintrag: „Underplot“. 79 John Dryden, Translations from Juvenal, Dedication to the Earl of Dorset, in: The Miscellaneous Works of John Dryden, Esq; Containing all his Original Poems, Tales, And Translations, In Four Volumes. Volume The Fourth, London, 1767, S. 193f. Zuerst vmtl. in.: The Satires Of Decimus Junius Juvenalis. Translated into English Verse. By Mr. Dryden, And Several other Eminent Hands. Together with the Satires of Aulus Persius Flaccus. Made English by Mr. Dryden. With Explanatory Notes at the end of each Satire. To which is Prefix’d, a Discourse concerning the Original and Progress of Satire. Dedi-
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Mit dem Terminus rekurriert Herder somit auf die Gestaltung des Dramas, genauer der „tragi-comedy“, der im deutschen Sprachraum (mit Verzögerung) am ehesten die „rührende Komödie“ oder das „Rührstück“ entspricht.80 Da er von der „chief fable“ abhängt, sich ihr unterordnet und zuarbeitet, ist der „under plot“ zulässig, aber nur begrenzt auszureizen. Unterhaltsam, gleichwohl dienstfertig, soll er im Zaum gehalten werden, damit die Gewichtung beider Erzählstränge nicht aus den Fugen und das Drama zum doppelköpfigen Monster gerät. Ob das Nebengeschehen nebenher (zur Belustigung oder Auflockerung) abläuft oder der Haupthandlung untergründig zuspielt, sie eventuell subversiv untergräbt, untersucht die Frühschrift nicht näher. Die „Ideen“ verstärken den Erzählstrang des „under plot“, insofern er eine unerläßliche – in der Frühschrift noch zufällige, umwegige – Nebenhandlung darstellt, ohne die sich die mittelalterliche Kulturgeschichte nicht als doppelter Diskurs erzählen ließe.81 Schon früh bereiten Lage, „Stolz“ und „Lebensart“ Arabien auf seine „Rolle“ vor, die es als Vermittler (in) der Menschheitsgeschichte spielt: „dies alles schien den Arabern eine Rolle vorzubereiten, die sie auch, da ihre Zeit kam, weit anders als jene nördlichen Tataren, in dreien Weltteilen gespielet haben.“ („Ideen“, cated to the Right Honourable Charles Earl of Dorset, &c. By Mr. Dryden, London, 1693. 80 Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt, Neue vermehrte zweyte Auflage, Erster Theil, Leipzig, 1792, Artikel „Comödie“, S. 486-572, S. 504 („Tragi-comedy“), S. 569 („Tragicomedies“). Christian Fürchtegott Gellert, Pro Comoedia Commovente Commentatio/Des Hrn. Prof. Gellerts Abhandlung für das rührende Lustspiel, in: Christian Fürchtegott Gellert, Gesammelte Schriften. Bd. V: Poetologische und Moralische Abhandlungen. Autobiographisches, hg. v. Werner Jung, John F. Reynolds u. Bernd Witte, Berlin/New York, 1994, S. 145-173. Lessing ordnet diesen Doppelcharakter nun Prolog und Epilog englischer Stücke zu, insofern der satirische Ton des Epilogs beim „Trauerspiele“ eine zweite Ebene einzieht. „Dryden ist es, der bei den Engländern Meisterstücke von dieser Art gemacht hat, die noch itzt mit dem größten Vergnügen gelesen werden, nachdem die Spiele selbst, zu welchen er sie verfertiget, zum Teil längst vergessen sind. Hamburg hätte einen deutschen Dryden in der Nähe; und ich brauche ihn nicht noch einmal zu bezeichnen, wer von unsern Dichtern Moral und Kritik mit attischem Salze zu würzen, so gut als der Engländer verstehen würde.“ Hier könnte Lessing auf Gerstenberg anspielen. Gotthold Ephraim Lessing, Hamburgische Dramaturgie, in: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 6: 1767-1769: Minna von Barnhelm, Hamburgische Dramaturgie, Wie die Alten den Tod gebildet, hg. v. Wilfried Barner u. a., Frankfurt am Main, 1985, Siebendes Stück, 22. Mai 1767, S. 181-694, S. 217-221, S. 221. 81 Herder, Ideen, a. O., S. 864f. Seitenangaben zu den „Ideen“ im Fließtext in Klammern.
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831, s. a. 843, „[…] große Wirkung auf Völker dreier Weltteile.“) In den „Ideen“ sind „Tataren“ oder „tatarisch“ negativ konnotierte Begriffe, die mitunter auf nordische Völker appliziert werden. Arbeiten die Verfassungen deutscher Völker grundlegend der politischen Gestaltung des modernen Europa zu, so unterläuft ihnen hier ein konstitutioneller Fehltritt, der dynastische Herrschaft und Lehenssystem der mißverstandenen „Staatsfiktion“ halber als „tatarisch“ ausweist: „[…] ein barbarischer Prachtaufzug dieser Art, der zwar in das Tafelzelt eines tatarischen Chans, nicht aber in den Palast eines Vaters, Vorstehers und Richters der Nation gehörte, die Grundverfassung jedes germanischen Reichs in Europa.“ (801/802) Ihre vorübergehend „tatarische Reichsverfassung“ (802) lässt es zu, auch deutsche Völker, ihr „Deutsch-Römische[s] Chaos“, als tatarisch oder gar barbarisch zu bezeichnen, was im Gegenzug den weltumspannenden Einfluss der kultivierten Araber herauskehrt. Arabiens Geschichte selbst lässt sich zügig abhandeln82, während dessen Vermittlerrolle (842f.) breit entfaltet wird, die ich in der Fußnote zusammenfasse, um mich auf den doppelten Diskurs zu konzentrieren.83 Sprache und Dichtkunst entwickeln sich zu Erfolgsmomenten arabischer Geschichte. Arabische Dichtkunst übt – im Gegensatz zur Religion – eine Art gewaltloser Kolonialisierung aus, die den romantischen Rittergeist des Mittelalters erst stiftet. Sprache fungiert als zentraler Bezugspunkt von Identität. Insofern bleibt die Beziehung der Araber ihrer Sprache gegenüber einmalig.
82 Eine „schnelle[ ]“ „Revolution“ (Herder, Ideen, a. O., S. 839) bei konstitutionellen Mängeln in der Organisation des arabischen Reichs (S. 840), auf die schnelle „Blüte“ und schnelles Ende erfolgen (S. 841). 83 In Bezug auf Handelswege: „daher vieles Arabisch hieß, was aus Indien kam und Arabien selbst Indien genannt ward.“ (Herder, Ideen, a. O., S. 842)/„Im innern Afrika hatten sich die Araber des Gold- und Gummihandels bemächtigt“ (S. 842)/„band sich mit der westlichen die äußerste Ostwelt“ (S. 842); „nach Tsina hatten sie frühe, Teils in Karawanen, Teils nach Kanfu (Canton) über das Meer gehandelt.“ (S. 842f.)/Erfindungen, Wissenschaften: „[…] die von ihnen zuerst bearbeitete Chemie […]“ (S. 843)/„Auch die Kenntnis des Porzellans, vielleicht auch des Schießpulvers kam aus Tsina durch sie nach Europa.“ (S. 843)/„Eine Reihe Städte, [...] waren berühmte Schulen, deren Wissenschaften sich auch den Persern, Indiern, einigen tatarischen Ländern, ja gar den Sinesen mitgeteilt haben und bis auf die Malayen hinab das Mittel worden sind, wodurch Asien und Afrika zu einiger neueren Kultur gelangte.“ (S. 845)/„Dichtkunst und Philosophie, Geographie und Geschichte, Grammatik, Mathematik, Chemie, Arzneikunde, sind von den Arabern getrieben worden, und in den meisten derselben haben sie als Erfinder und Verbreiter, mithin als wohltätige Eroberer auf den Geist der Völker gewirket.“ (S. 845).
526 │S UBTEXTE DER M ENSCHHEITSGESCHICHTE „Vorteilhaft ist einer weitverbreiteten blühenden Nation ein solches gemeinschaftliches Ziel der Rede- und Schreibart. Wenn die germanischen Überwinder Europa’s ein klassisches Buch ihrer Sprache, wie die Araber den Koran gehabt hätten; nie wäre die lateinische eine Oberherrin ihrer Sprache geworden, auch hätten sich viele ihrer Stämme nicht so ganz in der Irre verloren. [...], was Mohammeds Koran noch jetzt allen seinen Anhängern ist, ein Unterpfand ihrer alten echten Mundart, durch welches sie zu den echtesten Denkmalen ihres Stammes aufsteigen, und auf der ganzen Erde ein Volk bleiben.“ (844)84
Eng an die Religion gebunden trägt „[…] die Sprache des Koran das siegende Panier der Arabischen Weltherrschaft […]“ (844) vor sich her. Im Gegensatz zur Durchsetzung der Dichtkunst, die aufsingt, verläuft die Kolonialisierung über das Sprachrohr der Religion nicht gewaltfrei. Unabhängiger, freier schätzt Herder die „Dichtkunst“ ein. Sie wird von der Religion, welche er aller Identitätsstiftung zum Trotz skeptisch beäugt, entbunden, soweit sie als früheres, ihr vorangehendes Phänomen gedeutet und in den doppelten Diskurs integriert wird: „Die Dichtkunst war ihr altes Erbteil, eine Tochter nicht der Kalifengunst, sondern der Freiheit. Lange vor Mohammed hatte sie geblühet, denn der Geist der Nation war poetisch, [...]. [...]. Kein Volk kann sich rühmen, so viele leidenschaftliche Beförderer der Poesie gehabt zu haben, als die Araber in ihren schönen Zeiten; [...].“ (845f.)85
Behutsamer drängt sich die freiere „feinere“ Poesie auf. Kolonialisierung erfolgt nach dem Modell des Aufsingens, dem Eingang durchs Ohr, dem man sich kaum zu widersetzen vermag. „Die gaya ciencia der Limosinischen oder Provenzal-Dichtkunst ist diesen von ihren Feinden, den nachbarlichen Arabern gleichsam aufgedrungen und aufgesungen worden; und so bekam allmählich, aber sehr rauh und langsam, Europa wieder ein Ohr für die feinere lebendige Dichtkunst.“ (846)
Nicht zu unterschätzen ist das Einwirken der Araber auf die Kultur- und Literaturgeschichte Europas. Sie erstatten Europa einen verlorenen Standard, der unmöglich reflexiv wiederzugewinnen wäre, sondern in den man sich allein passiv hineinhören 84 „Wie aber auch diese Religion sei, so ward sie durch eine Sprache fortgepflanzt, die die reinste Mundart Arabiens, der Stolz und die Freude des ganzen Volks war“ (S. 844), „[...] noch jetzt knüpft sie in mehreren Dialekten ein Band des Verkehrs und Handels zwischen so vielen Völkern der Ost- und Südwelt, als nie eine andre Sprache geknüpft hat.“ (S. 845). 85 Der poetische Volksgeist geht meines Erachtens nicht in der poetischen Anlage der Morgenländer auf, da es sich hier um ein handeltreibendes, hoch technisiertes Volk handelt.
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kann. Diese Sensibilisierung erfolgt, ohne dass griechische Formen übernommen würden (vgl. 846). Das poetische Prinzip lässt sich nur erhören, über fortgesetzte Rezeption verfeinern. Unmittelbar verbinden sich „Märchen“ (846) und „Philosophie der Araber“ der poetischen Einstellung. Die Märchen betreffend rivalisieren Perser und Araber miteinander, was Vermischungen provoziert, die für „[…] die Romane der mittleren Zeiten Europa’s […]“ Relevanz entfalten, „ein neues Muster“ für Europa abgeben, das sowohl Märchen im „Fabelgewand[e]“ als auch die ihnen entspringende Gattung des Romans betrifft. Zwar hängt die Philosophie, welche „[…] durch den übersetzten Aristoteles nur eine wissenschaftliche Form erlangt hat.“, von Religion und religiöser Literatur („über dem Koran gebildet“, Zitate: 847) ab, dennoch prägt sie sich stark mystisch, metaphysisch aus. Ihre Bindung an die Dichtung geht über die Mystik nie ganz verloren („so ist [...] die Mystik der Scholastik stets zur Seite gegangen“, 848). Dass „[…] mehrere arabische Philosophen zugleich Dichter waren“ (848), resultiert aus der Überlappung der Wissensfelder. Insofern begreift Herder arabische Dichtung als Vorübung der Scholastik („[…] eine feine Kritik der reinen Vernunft übten, ja der Scholastik mittlerer Zeiten kaum etwas übrig ließen“, 847). Die scholastische Ausrichtung mittelalterlicher Philosophie geht auf den arabisch interpretierten Aristoteles zurück („[…] ganz nach arabischer, nicht nach griechischer Sehart […]“, 848). Somit prägt die Rezeptionsentscheidung der Araber die gesamte mittelalterliche Philosophie, deren scholastische Anlage Herder tendenziell zurückweist. Als Dienst an ihrer hochgeschätzten Sprache betreiben die Araber Grammatik. Wie in der Metaphysik schließen sich ihnen darin die Juden an, so wie die Perser mit ihrer Dichtkunst konkurrieren. Kulturkontakte, Überschneidungen veranschlagen die „Ideen“ fortwährend mit. In Bezug auf die Qualität arabischer Philosophie und Geschichtsschreibung äußert der Text sich verhalten, während technische oder naturwissenschaftliche Errungenschaften in den Vordergrund rücken. Wie in Bezug auf Griechen und Römer dargelegt wurde, hängt die Möglichkeit der Historiographie vom Grad politischer Organisation ab (erst seit der griechischen Demokratie ist sie in ihrer charakteristischen Form durchführbar).86 Ihre Vorliebe für die Chronik teilt die christliche mit der arabischen Geschichtsschreibung, generell weist sie (wie die Philosophie) einen Hang zum Poetischen auf, es besteht die „[…] Gefahr in dichterisches Lob [...] auszuschweifen.“ Im Gegensatz dazu konkretisiert sich die historische Schreibweise als „Styl“. Demnach handelt es sich beim „gleichmütige[n], historische[n] Styl“ (848) um eine Variante des Schreibens, wel86 „Im Vortrage der Geschichte sind die Araber nie so glücklich gewesen, als Griechen und Römer, weil ihnen Freistaaten, mithin die Übung einer pragmatischen Zergliederung öffentlicher Taten und Begebenheiten fehlte.“ (a. O., S. 848); „ihre Geschichten sind Poesie, oder mit Poesie durchwebet“; vgl. mein Kapitel zu „Episode und Hauptschauplatz“.
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che neben poetische Fassungen tritt, jedoch keine selbstvermittelte (unmittelbare) Authentizität der Sprache (Dinge) vorgibt. Mit den Arabern setzt zunehmende Verwissenschaftlichung ein, was sich bereits an vortrefflichen „[…] Chroniken und Erdbeschreibungen von Ländern, die sie kennen konnten“, und die weiterhin Aktualität besitzen („für uns noch nutzbar sind“, 848f.), abzeichnet. Poetischer Hang und gelungene geographische Deskription („Erdbeschreibungen“ bleibt als Begriff relativ unscharf, die Fußnote bedauert aber den Verlust jener „Nachrichten“) schließen sich keinesfalls aus. Ausführlich legt Herder die Vorreiterrolle (bisweilen die Vermittlerrolle) der Araber in praktischen sowie empirischen Wissenschaften dar und weist sie als „Lehrer Europa’s“ aus. Um das Spektrum, das er in seiner Würdigung arabischer Wissenschaft aufzeigt, anzureißen, schließe ich ein ausführliches Zitat Herders an: „Die entschiedensten Verdienste der Araber endlich betreffen die Mathematik, Chemie und Arzneikunde, in welchen Wissenschaften sie mit eignen Vermehrungen derselben die Lehrer Europa’s wurden. Unter Al-Mamon schon wurde auf der Ebne Sanjar bei Bagdad ein Grad der Erde gemessen; in der Sternkunde, [...], wurden von den Arabern Himmelscharten, astronomische Tafeln und mancherlei Werkzeuge mit vielem Fleiß gefertigt und verbessert, [...]. Die Astronomie wurde auf die Erdkunde angewandt; sie machten Landcharten, und gaben eine statistische Übersicht mancher Länder, lange vorher, ehe daran in Europa gedacht ward. Durch die Astronomie bestimmten sie die Zeitrechnung, und nutzten die Kenntnis des Sternlaufs bei der Schiffahrt; viele Kunstwörter jener Wissenschaft sind arabisch, und überhaupt steht der Name dieses Volks unter den Sternen mit dauerndern Charakteren geschrieben, als es irgend auf der Erde geschehen konnte. Unzählbar sind die Bücher ihres mathematischen, insonderheit astronomischen Kunstfleißes; die meisten derselben liegen noch unbekannt oder ungebraucht da; eine ungeheure Menge hat der Krieg, die Flamme, oder Unachtsamkeit und Barbarei zerstöret. Bis in die Tatarei und die mogolischen Länder, ja bis ins abgeschlossene Tsina drangen durch sie die edelsten Wissenschaften des menschlichen Geistes; in Samarkand sind astronomische Tafeln verfaßt, und Zeitepochen bestimmt worden, die uns noch jetzo dienen. Die Zeichen unsrer Rechenkunst, die Ziffern, haben wir durch die Araber erhalten; die Algebra und Chemie führen von ihnen den Namen. Sie sind die Väter dieser Wissenschaft, durch welche das menschliche Geschlecht eine neuen Schlüssel zu den Geheimnissen der Natur, nicht nur für die Arzneikunst, sondern für alle Teile der Physik auf Jahrhunderte hin erlangt hat.“ (849/850)
Die „Väter“ der Wissenschaften und „Lehrer Europa’s“ bilanziert der Text leicht einschränkend als „[…] Bewahrer, Fortpflanzer, und Vermehrer, [...] hie und da Verfälscher […].“ Insofern er fortlaufend Positionswechsel inseriert, gehört diese Ablösung zu den Kompositionsprinzipien der „Ideen“ selbst. Erfolg in praktischen Wissenschaften schließt nicht aus, dass sie sowohl angemessenen als auch unange-
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messenen Zwecken dienen (wie etwa die Sternenkunde Navigation sowie Aberglauben befördert). Obgleich sich die Resonanz der Dichtung positiv auf den Geschmackssinn Europas auswirkt, findet arabischer Stil an einigen Orten wenig Anklang. Zwar erkennt der Text den Aufschwung der Wissenschaften an, stößt sich hingegen am „[…] morgenländische[n] Geschmack, in welchem sie von ihnen getrieben waren“, und berichtet von einer mühsamen Sonderung. Die eingehend untersuchte Gotik wird nun als arabisches Erbe ausgestellt. „Auch in einigen Künsten, z. B. der Baukunst, ist Vieles von dem, was wir gothischen Geschmack nennen, eigentlich arabischer Geschmack“. (Zitate: 850) Sämtliche Geschmacksübertragungen durchdringen die Geschichte Europas und gestalten sie – selbst wenn nur einige aufgegriffen und beispielsweise als Gattungsgeschichte fortgesetzt werden. So knüpft der Text zwar an die Modifizierung des Romans, nicht aber der Gotik an. Ein Element dieser Romangeschichte bildet der „Rittergeist“, der für das globale Dichtungsargument beansprucht wird. Europa ist ihm gegenüber nicht allein empfänglich, erlaubt die umstandslose Vermischung zweier Tendenzen, sondern der „Rittergeist“ emaniert, als unterläge er keinen kompositorischen Entscheidungen. „Endlich sollten wir noch von dem glänzenden und romantischen Rittergeist reden, den ohne Zweifel auch sie zu dem Europäischen Abenteuergeist mischten; es wird sich dieser aber bald selbst zeigen.“ (850) Abschließend ist festzuhalten, dass die europäische Literaturgeschichte – die Genese der Dichtung allgemein und des Romans im Besonderen – auf den Charakter oder Volksgeist der Araber zurückgeführt wird. „Den Arabern ist ihrem Stammes- und Landescharakter nach von jeher ein irrendes Rittertum, mit zarter Liebe gemischt, gleichsam erbeigentümlich gewesen.“ (864) Während sich im europäischen Rittertum umgehend historische Elemente und literarische Klischees verschränken, die (drei) Stränge der Romangeschichte nicht von ihm zu trennen sind (das wahre Rittertum nicht aus ihnen hervorzuschälen ist), liest sich die Realgeschichte im Fall der Araber (des sarazenischen Erzählstrangs) als Roman.87 Romantische Einschläge drücken keine (literari87 „so wurden in Spanien zur Zeit der Araber ritterliche Feste in Gegenwart der Damen, z. B., das Schießen mit dem Wurfrohr nach dem Ringe innerhalb der Schranken, und andre Wettkämpfe mit vielem Glanz und Aufwande gefeiert. Die Schönen munterten den Kämpfer auf, und belohnten ihn mit Kleinod, Scherpe oder einem Kleidungsstück von ihrer Hand gewirket: denn ihnen zur Ehre wurden diese Lustbarkeiten gefeiert und das Bild der Dame des Siegers hing vor allen Augen, mit den Bildern der von ihm besiegten Ritter umhänget, da. Farben, Devisen und Kleider bezeichneten die Banden der Kämpfenden, Lieder besangen diese Feste, und der Dank der Liebe war der schönste Gewinn des Siegers.“ (a. O., S. 865); zu den Begriffen Roman, romantisch, vgl. Pross, Herder, Ideen, Kommentar, a. O., S. 892; er verweist auf Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander
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sche) Projektion, sondern pure Natur aus. „Offenbar sind also von Arabern die feinern Gebräuche des Rittertums nach Europa gebracht worden; was bei den schwergerüsteten Nordhelden Handwerkssitte ward oder bloße Dichtung [sic!] blieb, war bei jenen Natur, leichtes Spiel, fröhliche Übung.“ („Ideen“, 865) Roman und romanhafte, spielerische Realität sind nicht auseinanderzuhalten. Hinter der Schilderung von Sitten und Gebräuchen, die einem Ritterroman entstammen könnten, verbirgt sich kein anderes authentisches Szenario mehr. Anders gesagt, wirkt die Realität, welche sich dem Roman annähert, nicht weniger authentisch. Herder unterfüttert seine Aussagen zu Arabien mit zahlreichen Quellen, mit denen englische, deutsche und französische Übersetzungen arabischer Geschichtsschreiber selbst vorliegen.88 Zudem rekurriert er auf ein literarhistorisches Zeugnis des unterschätzten Arabisten „Reiske“ („Ideen“, 849, FN), das die Übersetzung eines arabischen Gedichts vorlegt, der eine provisorische arabische Literarhistorie angefügt ist.89 Dem von der Dichtung beseelten arabischen Volksgeist gemäß, reihen sich Literatur und Literaturhistorie bruchlos in die professionelle Historie ein, die politische oder territoriale Ereignisse umfassen kann. An dieser Schnittstelle offenbart sich, dass der doppelte Diskurs Klischees perpetuiert, hingegen die Spezifik literarhistorischer Zeugnisse berücksichtigt, insofern aufzubehaltende Literatur sich über ihre formale Gestalt speichert. Ein Volk, das zur Dichtung neigt, wird sie trotz
folgenden, Artikeln abgehandelt, Neue vermehrte zweyte Auflage, Vierter Theil, Leipzig, 1794, S. 110-112, Artikel „Romanhaft.“, „Romanze.“; s. zum „Abentheuerliche[n]“, zur Annäherung von „Roman[ ]“ und „wahre[r] Geschichte“, zur Nähe von „Romanze“ und „Roman“. Die „Theorie“ und Gattungsgeschichte „der Romanze“ kann Blanckenburgs Zusatz (a. O., ab S. 112) freilich nur anreißen bzw. initiieren. 88 Vgl. die Vorrede zu Georg Lorenz Bauer, Des Gregorius Abulfaradsch kurze Geschichte der Dynastien oder Auszug der allgemeinen Weltgeschichte besonders der Geschichte der Chalifen und Mogolen. [...], 2 Bde., Leipzig, 1783/85, [vgl. Herder, Ideen, Kommentar, in: FHA 6, S. 1140f.]; es fällt auf, welchen Aufwand der Übersetzer betreibt, um die Übersetzung zu rechtfertigen, indem er die historische sowie kulturelle Bedeutung der Araber heraushebt. Vgl. ferner die Vorrede zu Denis-Dominique Cardonne, Geschichte von Afrika und Spanien unter der Herrschaft der Araber, 3 Bde., Nürnberg, 1768-1770 (s. Pross, Herder, Ideen, Kommentar, a. O., S. 883, S. 892). Deutsche Übersetzung Cardonnes von J. C. Fäsi. Vgl. die erste (!) Vorrede (IV) des „Verfassers“ und das „Verzeichniß der Arabischen Handschriften, [...].“ (XII) Da es sich um eine deutsche Übersetzung einer französischen Fassung handelt, die zudem aus dem Arabischen übersetzt, lassen sich die Vorreden von „Verfasser[ ]“ (IV) und „Uebersetzer[ ]“ (XIII) nicht ohne Weiteres zuordnen. 89 Vgl. Herder, Ideen, in: FHA 6, S. 1140 (Kommentar). Seitenangaben zu den „Ideen“ weiter in Klammern im Fließtext.
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erblicher Oralität zu verschriftlichen suchen. Somit fallen Zeugnisse ersten Ranges an, die späterer Chronologisierung vorausgehen. Neben das dichterische Potential arabischer Kultur treten die Entwicklung, Speicherung und Übermittlung positivistischer Kenntnisse in den Naturwissenschaften (neuartige [Mess-]Instrumente, Materialien etc.). Zum Großteil erschöpft sich die Darstellung arabischer Geschichte in der aufzählenden Akkumulation dieser Objekte und Daten (vgl. 849, 850), die zunehmender Vermessung von Welt und Kosmos entspringen. Der letzte Teil der „Ideen“ vor der „Schlussanmerkung“ (897f.) widmet sich „Anstalten und Entdeckungen in Europa.“90, und setzt das materialistische Muster fort. Bei „Entdeckungen in Europa“ handelt es sich vorwiegend um materielle Erfindungen oder Manifestationen technischer Errungenschaften wie „Magnetnadel“, „Glas“, „Schießpulver“ (895), „[…] andre chemische Erfahrungen“, u. a. „Branntwein[ ]“ sowie „Papier“. Allen erwähnten Materialien wohnt ein „chemische[s]“ Moment inne, da es deren Herstellungsprozesse auslöst. Alle Materien werden durch sie in Gang gesetzten Prozessen zugeordnet und erzeugen somit neue Narrative. So revolutioniert das „Schießpulver“ die Art der Kriegsführung, nimmt effektiveren Einfluss auf die politische Ordnung als die exekutive Gewalt selbst: „Unglaublich viel hängt im neuen Zustande von Europa von dieser Erfindung ab, die den Rittergeist mehr als alle Konzilien besiegt, die Gewalt der Regenten mehr als alle Volksversammlungen befördert, [...], und der Kriegsart, die sie hervorbrachte, auch selbst Schranken gesetzt hat.“ (896)
Das Narrativ, das das Ausgangsprodukt verändert, geht von der „chemische[n] Erfahrung[ ]“ (ihren Elementen) aus und setzt ein historiographisches Experiment in Gang. Im narrativen Verlauf modifizieren sich die Triebkräfte (oder: Medien) der Geschichte und erfordern eine anderslautende Metaerzählung. Das chemische Moment manifestiert sich bereits als „chemische Erfahrung[ ]“, und integriert sich dem die mess- und beobachtbare Chemie umspannenden Wissensfeld. Die „chemische Erfahrung[ ]“ läutet nicht nur einen Paradigmenwechsel ein, sondern markiert eine epochale Zäsur. „Sie und andre chemische Erfahrungen, vor allen des mörderischen Branntweins, der durch die Araber als Arznei nach Europa kam und sich als Gift nachher auf die weite Erde verbreitet hat, machen in der Geschichte unsres Geschlechts Epochen.“ (896) Die Agenten der Geschichte wandeln sich. Wurden sie zuvor durch Völker, Welt-Reiche und Regenten vertreten und modifizierten sich im Zuge räumlicher Verschiebungen (ausufernden Völkerwanderungen), so strebt das mechanische Detail, die „Magnetnadel“ („mit ihr war den Europäern gleichsam die 90 Herder, Ideen, IV 20, V, S. 891-896, „Anstalten“ bilden „Städte“, „Zünfte“, „Universitäten“.
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Welt gegeben“), das zum hochempfindlichen technischen Gerät ausgefeilte Material – „Glas“: „[…] ein Werkzeug, das einst Millionen himmlischer Welten entdecken, die Zeit und Schiffahrt ordnen, [...]“ (895) – zum epochalen Akteur auf, den es zu benennen und künftig zu beobachten gilt. Herders Interesse an der Abwechslung (Verschiebung) von Weltreichen innerhalb eines weitläufigen, europäisch kodifizierten Raumes oder an der Institutionalisierung der europäischen Verfassung lässt nach. Mit der Einrichtung von „Städte[n]“, „Zünfte[n] sowie „Universitäten“ klingt der Institutionalisierungsprozess vorläufig aus, wenngleich diese „Anstalten“ organisatorisch das Mittelalter beerben. An die erfolgreiche Institutionalisierung knüpft die materialistisch geprägte Geschichte des modernen Europa an. Zwar bleibt es nach wie vor möglich, auf Institutionalisierung oder territoriale Verteilung zurückzukommen und einzelne Nationengeschichten weiterzuschreiben.91 Der Fragmentcharakter der „Ideen“ hält diese Option neben der angedachten Mündung in die Materialgeschichte offen. Jene knüpft an Arabien an, sofern es die Quelle oder den Kanal der Materie abgibt, die (dieses Mal) aus Asien überliefert wird. Sobald der Text wieder an der Quelle Asien angelangt ist, das der zweite Teil abschließend zur ersten „Bildungsstätte“ und zum „Wohnsitz der Menschen“92 erklärte, schließt sich der doppelte Kursus.93 Aus der Reihe fallen Techniken, die sich nicht nur artifiziellen Errungenschaften verdanken, sondern Kunstformen ausprägen. Dazu gehören „die musikalischen Noten, die Guido von Arrezo erfand“, und „die Ölmalerei, eine alte Deutsche Erfindung“ (896). Das Ende errichtet die Basis für ein erneutes Aufgreifen des doppelten Diskurses, der Italiens musikalisches Talent sowie den deutschen Hang zu bildhafter Fixierung und monumentaler Ausgestaltung betont. Es spielt kaum eine Rolle, ob die revolutionäre „Ölmalerei“ den van Eycks zugeschrieben wird94 oder auf das „Straßburger Manuskript“ zurückgeht. Dennoch treten die Erfindungen neben die ältesten asiatischen und arabischen Überlieferungen und bilden (Herders Darstellung zufolge) diesmal keine ihnen entspringenden Modifikationen. Ohne dass „[…] die beiden großen und reichen Welt91 Vgl. dazu den „Plan zum Schlußbande“, Herder, Ideen, a. O., S. 1152f. (Kommentar). 92 Vgl. Herder, Ideen, Teil II, zehntes Buch, II. 93 Zur Materialgeschichte: „Die Magnetnadel, [...], kam wahrscheinlich durch die Araber nach Europa“; „Das Glas, eine frühe Ware der Asiaten“; „Das Schießpulver, [...], kam auch durch die Araber, entweder schon im Gebrauch oder wenigstens in Schriften nach Europa.“; „[...] Branntwein[ ], der durch die Araber als Arznei nach Europa kam [...]“; „Zu jenem gaben wahrscheinlich die Araber mit dem Baumwollen- und Seidenpapier, das sie aus Asien brachten, Anlaß“; „Die Rechnungsziffern der Araber, [...], die Uhren, die gleichfalls aus Asien kamen“; Zitate: Herder, Ideen, a. O., S. 895-896. 94 Wie Pross’ Kommentar annimmt. Pross, Herder, Ideen, Kommentar, a. O., S. 908. Seitenangaben zu den „Ideen“ weiter im Fließtext in Klammern.
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teile, Asien und Afrika […]“ („Ideen“, 897) an die „ärmere, kleinere Schwester“ Europa vererben, entstehen neue Kulturtechniken im europäischen Raum. Zwei im modernen Europa entwickelte Erfindungen treten singulär neben die revolutionären mechanischen Überlieferungen, womit sich deren Stellenwert für die kommende Kulturgeschichte Europas (und ihren doppelten Diskurs) abzeichnet. Selbst die „Schlussanmerkung“ fügt diesem Ausblick nichts Wesentliches hinzu, sondern bestätigt Vorangegangenes. Abermals hebt der Text die spezifische Lage Europas hervor, wobei er geographische Alternativgeschichten anreißt, um die Reichweite der „Ströme und Meere“ (897) einzutragen, die in Teilen (wie ich gezeigt habe) zur Geschichte des Fließens und Strömens gerät. Ließ der Text sich vorab über die Irrationalität bzw. manipulative Struktur des Christentums (Papsttums) aus, so ist es nun an der Zeit, dessen Unverzichtbarkeit für den Verlauf der Historie Europas zuzugestehen. Den Abschluss bildet der Ausblick auf die Zukunft Europas, der verhaltenes Vernunftsvertrauen Zeit einräumt. Wenn man dem Entwurf zum fünften Teil der „Ideen“ Glauben schenken darf, er Orientierungsfunktion besitzt, bleibt Europa im Zentrum, das sich bedarfsweise den übrigen Weltgegenden zuwendet. Im Fragmentcharakter der „Ideen“ spiegelt sich historiographische Nachträglichkeit, da ihre Geschichte schon mehr ‚weiß‘, als sie in progressiver Annäherung an die Gegenwart verschriftlichen können. Im Gegenzug schreiben sie Gegenwartskritik und anachronistische Deutungsmuster der Vergangenheit ein.
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8. „ DISIECTI
MEMBRA POËTAE “
Bereits im Kontext der Naturgeschichte rufen die „Ideen“ den Hintergrund der Dichtungstheorie auf, legen die Fährte des doppelten Diskurses an einer Stelle, wo es vorderhand um analogische Bezüge geht. Gerade der Rückgriff auf den ästhetischen Gattungs-Diskurs sprengt meines Erachtens die schlicht analogische Lesart und hebt auf eine untergründige Struktur (der Poetik) ab. Im betreffenden Passus geht es um „das zweite Hauptgesetz“, demzufolge eine „Hauptform“ die „Organisation“ (73) aller Wesen auf der Erde „nach Einem Hauptplasma“ bestimme. Jedoch formuliert der Text das „Hauptgesetz“ im Konjunktiv: „alle Lebendigen unserer Erde nach Einem Hauptplasma der Organisation gebildet zu haben scheine.“ (73) Dennoch gibt diese (heuristische) Annahme ein Instrument an die Hand, das gleichermaßen als Mittel (Modus Operandi) und Ziel der Erkenntnisabsicht, sodass „Ein Exemplar das andre erkläre“ (73), zu fassen wäre. Aus der Disproportion des Analogisierten, welche das Mittel markiert, speist sich die potentielle Vergleichbarkeit. „Was die Natur bei diesem Geschöpf als Nebenwerk hinwarf, führte sie bei dem andern gleichsam als Hauptwerk aus; sie setzte es ins Licht, vergrößerte es und ließ die andern Teile, obwohl immer noch in der überdachtesten Harmonie, diesem Teil jetzt dienen.“ (73) Jene Akzentverschiebung stärkt oder schwächt gesonderte Teile des Ganzen zugunsten anderer, die somit in den Vorder- oder Hintergrund treten. Nicht zufällig erinnert jenes Kompositionsverfahren an das Einfügen des „under plot[s]“ in übergreifende Narrative, aus denen er partiell herausfällt, bzw. von denen er sich abhebt und Nebenwege sichtbar macht. Dass dieses Verfahren einen gattungstheoretischen Rückbezug birgt, suggeriert ein Horaz-Zitat, das „disiecti membra poëtae“ (74), „‚[z]erstückte poetische Glieder‘“1 in den Text einstreut. Der Kommentar interpretiert sie als „[…] aus der metrischen Form gerissene Dichterworte“, für deren Zerstückelung diejenige des Orpheus im elften Buch der Metamorphosen (1-84) mythologisch (synekdochisch) eintritt. Sowohl durch ihren apologetischen Bezug auf mehrere Dichter als auch auf den Vater aller Sänger (Dichter), Orpheus, bereits doppelt metapoetisch konnotiert, wird die Horazstelle2 durch Herders Gebrauch ihrerseits als metapoetischer Kommentar eingebracht. Herder selbst zerstückt die poetischen Glieder, indem er sie ihrem Kontext bei Horaz entnimmt und als losgelöste Ausschnitte seinem naturhistorischen Regelwerk integriert. „Anderswo herrschen wiederum diese dienenden Teile und alle Wesen der organischen Schöpfung erscheinen also als disiecti membra poëtae. Wer sie studieren will, muß Eins im
1
Herder, Ideen, in FHA 6, S. 959 (Kommentar).
2
Horaz, Satiren I 4, Vers 62, vgl. den Kommentar zu: Herder, Ideen, ebd.
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MEMBRA POËTAE “
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Andern studieren; wo dieser Teil verhüllt und vernachlässigt erscheinet, weiset er auf ein andres Geschöpf, wo ihn die Natur ausgebildet und offen darlegte.“ („Ideen“, 73f.)
Meines Erachtens dient das Aufrufen des Zitats weniger der Zementierung einer integren Schöpfung, welche sich mannigfach (unendlich) ausgestaltet, wie es der Kommentar3 vorschlägt. Sofern diese Deutung zutrifft, präferiert sie die letztlich wiederhergestellte Ganzheit auf Kosten des rekombinatorischen Gebrauchs, den die zerstreuten poetischen Glieder erfahren und den sie performativ vorführen. Ihre Variabilität rekurriert weniger auf die Verfasstheit der Schöpfung (selbst wenn sie einen theologischen Topos bestätigt, den Herder häufig aufgreift), sondern auf die Eigenschaft der Dichtung, aus ihrem Rahmen entnommen und in neue Kontexte inseriert werden zu können. Dabei lösen sich die Worte nicht allein aus Semantik und Syntax heraus, sondern verlieren ihr Metrum, die ihre Gattung regulierende Form. Dennoch büßen dichterische Worte mit ihrer Form nicht zeitgleich ihren (poetischen) Gehalt ein, sondern sind weiterhin als Zitate einer anderen Gattung (innerhalb der Naturgeschichte) lesbar. Eine Parallelstelle aus Herders Hamann-Replik „Dithyrambische Rhapsodie über die Rhapsodie kabbalistischer Prose“ bestätigt diese Lesart, insofern die zerstückten poetischen Glieder dort in die Historiographie überführbar werden. „Und warum wollen wir poetische zerstückte Glieder zum Körper bauen wollen; lasset uns sie sammlen als Gelehrte, und als Philosophen auslegen, um eine Geschichte zu schreiben: wie aus der Poesie Prose, aus Malerei Schrift, aus Gesang Deklamation aus dem Tanz ein Schrittmaß geworden ist; damit wir aufhören zu dichten, malen, singen, tanzen [...].“4
Trotz Umwandlung in prosaische Historie liegt ein kulturgeschichtliches Interesse vor, das zudem durch die (von Herder ausgestaltete) rhapsodische Form, zerstückte poetische Glieder aufzugreifen, durcheinander zu mischen und miteinander zu verschalten, konterkariert wird – ähnlich wie in Horaz’ „Satiren“, die die erwähnten Dichter selbst als Glieder im (des) Text(es) durcheinanderwürfeln.5 Im Zusammenhang der „Satiren“ spielt die Frage der Gestaltung vielfältiger (literarischer) Gat3
Ebd.
4
Johann Gottfried Herder, Dithyrambische Rhapsodie über die Rhapsodie kabbalistischer Prose, in: FHA 1, S. 30-39, S. 33f., s. a. Herder, Ideen, a. O., Kommentar, S. 897. Zur Rhapsodie zwischen Hamann und Herder vgl. Andre Rudolph, „Kontinuum der Rhapsodie: Herder – Hamann – Shaftesbury“, in: Der frühe und der späte Herder: Kontinuität und/oder Korrektur. Beiträge zur Konferenz der Internationalen Herder-Gesellschaft Saarbrücken 2004, hg. v. Sabine Groß u. Gerhard Sauder, Heidelberg, 2007, S. 269-284.
5
Vgl. besonders Herder, Dithyrambische Rhapsodie, a. O., S. 34; Horaz, Satiren, I 4, Vers 1-62.
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tungen eine hervortretende Rolle, der Bezug auf den Sprecher greift die Wahl seiner Sprechweise zwischen Poesie und Prosa auf.6 Dem Zitat aus den „Satiren“, das das Potential eines Kontinuums von Gattungen ausschöpft, ineinander überzugehen (insofern nebensächlich ist, welche sprachliche Form, ob Poesie oder Prosa, ihnen zugrunde liegt), stelle ich eine leise HorazAndeutung an die Seite. Die Passage aus den „Ideen“ weist nicht direkt auf die „Ars Poetica“ hin, sondern jene Brücke schlägt ein anderer kanonischer Text, dem unsichere oder zweifelhafte Stellen eingeschrieben werden. Ein Indiz dieser Unbestimmtheit gibt die dazugehörige Aufschlüsselung beider „Ideen“-Kommentare (sowohl der Klassiker- als auch der Pross-Ausgabe) ab, die für denselben Bezugstext (mit einigem Recht) abweichende Fundorte angeben. Die „Ideen“ betten jene Überlagerung in die Diskussion der politischen (monarchischen) Ordnung ein, welche eine Parallele zu Kant herstellt, der ebenfalls nach passenden bzw. unpassenden Metaphern der Monarchie sucht (vgl. mein Kapitel zu „Metapher oder Metonymie?“). „Nichts scheint also dem Zweck der Regierungen so offenbar entgegen, als die unnatürliche Vergrößerung der Staaten, die wilde Vermischung der Menschen-Gattungen und Nationen unter Einen Szepter. Der Menschenszepter ist viel zu schwach und klein, daß so widersinnige Teile in ihn eingeimpft werden könnten; zusammengeleimt werden sie also in eine brechliche Maschine, die man Staats-Maschine nennet, ohne inneres Leben und Sympathie der Teile gegen einander. Reiche dieser Art, die dem besten Monarchen den Namen Vater des Vaterlandes so schwer machen, erscheinen in der Geschichte, wie jene Symbole der Monarchien im Traumbilde des Propheten, wo sich das Löwenhaupt mit dem Drachenschweif und der Adlersflügel mit dem Bärenfuß zu Einem unpatriotischen Staatsgebilde vereinigt.“ (Herder, „Ideen“, 369-370)
Der künstlichen Staatsmaschine setzt Herder das Konzept eines natürlichen Staates entgegen: „Die Natur erzieht Familien; der natürlichste Staat ist also auch Ein Volk, mit Einem Nationalcharakter.“ (369) Allerdings wendet sich der Passus, dem diese Reflexionen entstammen, dem Problem rein hypothetisch zu, ohne historische Vorkommnisse zu berücksichtigen, bevor der dritte Teil der „Ideen“ sich den konkreten Ausformungen der Regierungen widmet. Ferner scheint es, als würde die Emphase
6
Vgl. Horaz, Satiren, Vers 42-62. Siehe die zeitgenössische Wielandübersetzung: Christoph Martin Wieland, Horazens Satiren aus dem Lateinischen übersetzt und mit Einleitungen und erläuternden Anmerkungen versehen von C. M. Wieland, Neue verbesserte Ausgabe, Erster Theil, Leipzig, 1804 [Erstausgabe 1786], ab S. 128-134.
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MEMBRA POËTAE “
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des Natürlichen in dem Passus primär bemüht, um die Widernatürlichkeit der erblichen Regierung herauszustellen (vgl. 370f.). An dieser Stelle konzentriere ich mich auf die „wilde Vermischung“ „widersinnige[r] Teile“, die grob „zusammengeleimt“ keinen dauerhaften Verbund bilden, sondern von vornherein zerbrechlich wirken. Gleichfalls handelt es sich hier um „disiecti membra poëtae“, die sich dagegen nicht ohne Weiteres in neue Kontexte einbringen lassen. Zunächst widme ich mich den verstreuten Gliedern der Quellen, die Herder über den Intertext aufruft. Mit dem „Traumbilde des Propheten“ rekurriert der Text unumwunden auf die Bibel. Nun führt Pross in seinem Kommentar zu den „Ideen“ das Buch Daniel 2.31-45, „[d]ie Deutung des Traumes von Nebukadnezar […]“7, als biblische Referenz an und unterschlägt damit, wie es in Herders Text nach dem Komma weitergeht, insofern der Relativsatz den Inhalt des Traumes schildert. Pross ist gezwungen, diesen Part auszulassen, da es sich keineswegs um den Traum des Nebukadnezar (und dessen Deutung durch Daniel), sondern um Fragmente aus der Offenbarung des Johannes handelt.8 Kapitel 12.14 der Bibel wäre allerdings zu ergänzen, um die Motive des Nebensatzes auszufüllen. In der Offenbarung kann man unter Kapitel 13.1-2 „Die beiden Tiere“ nachlesen: „Und ich sah ein Tier aus dem Meer steigen, das hatte zehn Hörner und sieben Häupter und auf seinen Hörnern zehn Kronen und auf seinen Häuptern lästerliche Namen. Und das Tier, das ich sah, war gleich einem Panther und seine Füße wie Bärenfüße und sein Rachen wie ein Löwenrachen. Und der Drache gab ihm seine Kraft und seinen Thron und große Macht.“
Von den verstreuten Gliedern der verschiedenen – in den „Ideen“ genannten – allegorischen Tiere kommen an dieser Stelle nur drei vor, der Adler fehlt hier, stellt seine Flügel jedoch im Kapitel zuvor einer flüchtenden Frau zur Verfügung (Off. 12.13-14 „Die Frau und der Drache“): „Und als der Drache sah, dass er auf die Erde geworfen war, verfolgte er die Frau, die den Knaben geboren hatte. Und es wurden der Frau gegeben die zwei Flügel des großen Adlers, dass sie in die Wüste flöge an ihren Ort, wo sie ernährt werden sollte eine Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit fern von dem Angesicht der Schlange.“
Das Verweissystem der Lutherbibel stellt zwar die Verbindung zum Buch Daniel her, nimmt indes auf andere Kapitel als Pross Bezug, nämlich auf Daniel 7.3-7 sowie 7.21.
7
Vgl. Pross, Herder, Ideen, Kommentar, a. O., S. 543.
8
Der Kommentar der Klassiker-Ausgabe gibt Offenbarung 13.2 als Bezugspunkt an. Vgl. Herder, Ideen, in: FHA 6, S. 1031.
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In Kapitel sieben – „Daniels Vision von den vier Tieren und dem Menschensohn“ – repräsentieren die „[…] vier großen Tiere [...] vier Königreiche, die auf Erden kommen werden.“ (7.17) Zu Beginn von Kapitel sieben ist auch der Querverweis auf Dan. 2.1-49 verzeichnet, die Fußzeile nimmt den bereits zitierten Abschnitt aus Off. 13.1-2 auf. Beide „Ideen“-Kommentare lassen jene Querverweise jedoch ungenutzt links liegen. Die motivische Verbindung zu Dan. 2.1-49 (das Kapitel, das Pross auswählt) stiftet sich nicht über die Tierallegorie, sondern über die vier wechselnden Reiche, zu denen Kapitel sieben die ausdrückliche Verbindung schaffen würde. Nebukadnezars Traum von den vier Weltreichen figuralisiert sich nicht über vier Tiere oder deren Körperteile, sondern über fünf (bzw. sechs) Metalle (Minerale): Gold, Silber, Kupfer, Eisen, Ton (sowie Stein). Hier liegt ein Bild(nis) vor, eine Figuralisierung (ob Mensch oder Tier lässt sich nicht am Text ablesen), dessen Glieder, Haupt, Brust und Arme, Bauch und Lenden sowie Schenkel und Füße aus den genannten Materialien gebildet sind: und zwar von den edleren Teilen – ein Haupt aus Gold – absteigend zu den weniger edlen und instabileren Materialien (Füße aus Ton, vgl. 2.31-35). Die Metaphorisierung staatlicher Organisation als Körper aus ungleich vornehmen Teilen erinnert freilich an das Modell der Aufgabenteilung in Platons Staat. Was Daniel nun zu deuten hat, betrifft die sukzessive Zerstörung der Königreiche, deren abnehmende Stabilität die Komponenten metaphorisieren. Die sowohl aus Eisen als auch Ton zusammengesetzten Füße erhellen, was Pross zur Auswahl dieser Bibelstelle bewogen hat: greift Herder das Motiv des instabilen Tons doch am Ende des Absatzes, der die Hybridisierung der animalischen Glieder leistet, auf: „Aber die Geschichte zeigt gnugsam, daß diese Werkzeuge des menschlichen Stolzes von Ton sind und wie aller Ton auf der Erde zerbrechen oder zerfließen.“ (Herder, „Ideen“, 370, mit den Werkzeugen sind „Maschinen“ und „Staatskunst“ gemeint) Die „Ideen“ nutzen im analysierten Passus die Querverbindungen der Bibel, ohne sie eigens auszuweisen. Das hybridisierte Tier könnte der Eindruck erzeugen, Herder zitiere ungenau, da das Glied des Adlerflügels fehlt. Das in den „Ideen“ geschilderte Tier taucht in der Bibel nicht exakt so auf. Nun ist es abwegig anzunehmen, Herder sei beim Auszug der Bibelstellen ein Irrtum unterlaufen. Im Gegenteil liegt ein Akt künstlerischer Freiheit in der Bibelnutzung vor, der ihre eigentümliche Verweisstruktur ausreizt und beide Kommentatoren auf abweichende (gleichermaßen berechtigte) Fährten führt. Demnach dürfen die „disiecti membra poëtae“ der Bibel zum neuen Kontext zusammengestückelt werden, der eines ihrer hervorstechenden Motive, das hybride (Staats-)Gebilde, aufnimmt. Beim Thema, das er zu den schwierigsten zählt, den Regierungsformen9, greift Herder auf die biblische Autorität zurück. Das bilderspendende Potential der Bibel, lauter „disiecti membra poëtae“ bereitzuhalten, führt einerseits die erlaubte Zerstreuung und Rekombination 9
Herder, Ideen, a. O., S. 907f. (Kommentar).
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MEMBRA POËTAE “
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einzelner Elemente vor, deren Vorrat der Text unkommentiert ausschöpft, um andererseits an den Grenzen dieser Hybridisierung zu operieren. Denn das vielgliedrige von der Bibel inspirierte Tier wächst sich zunehmend zur Monstrosität aus. Somit erreichen wir eine Schnittstelle, welche die legitime, Horaz entlehnte Verknüpfung der „disiecti membra poëtae“ als begrenzbar und als zu begrenzen ausweist. Jene Schnittstelle besetzt einen weiteren, im Rahmen meiner Studie konstitutiven Übergang: den von Dichtung zu Gemälde. „Wollte zum Kopf eines Menschen ein Maler den Hals eines Pferdes fügen und Gliedmaßen, von überallher zusammengelesen, mit buntem Gefieder bekleiden, so daß als Fisch von häßlicher Schwärze endet das oben so reizende Weib: könntet ihr da wohl, sobald man euch zur Besichtigung zuließ, euch das Lachen verbeißen, Freunde? Glaubt mir, Pisonen, solchem Gemälde wäre ein Buch ganz ähnlich, in dem man Gebilde, so nichtig wie Träume von Kranken, erdichtet, so daß nicht Fuß und nicht Kopf derselben Gestalt zugehören. ‚Und doch hatten Maler und Dichter seit je gleiche Freiheit, zu wagen, was sie nur wollen.‘ Ich weiß das, und diese Gunst erbitte ich selbst und gewähre sie andren, aber nicht so, daß sich Grimm mit Sanftmut verbindet, nicht so, daß Schlangen mit Vögeln sich paaren und Lämmer mit Tigern.“10
Das berühmte Horaz-Zitat thematisiert legitime wie illegitime Verschränkungen von „Gliedmaßen“ respektive Gattungen, die sich, bei Überschreitung vage angeschnittener Gattungsgesetze („aber nicht so, daß sich Grimm mit Sanftmut verbindet“) zu Monstrositäten ausweiten. Gleich drei (Typen von) Abweichungen annehmbarer Darstellung werden genannt: das Häßliche („so daß als Fisch von häßlicher Schwärze endet das oben so reizende Weib“), das Lächerliche („könntet ihr da wohl, [...], euch das Lachen verbeißen, [...]?“) sowie das Wahnsinnige, Wahnbildhafte des Fiebertraumes: „solchem Gemälde wäre ein Buch ganz ähnlich, in dem man Gebilde, so nichtig wie Träume von Kranken, erdichtet“. Die plausible Legitimation künstlerisch limitierter Gattungen, die nicht „von überallher zusammengelesen“, sucht der Text über (reproduktive) Begrenzungen (in) der Natur abzusichern: „nicht so, daß Schlangen mit Vögeln sich paaren und Lämmer mit Tigern.“ Die scheinbar naturgesetzliche Gewissheit begleitet allerdings bereits das Bewusstsein ihrer ästhetischen – gemalten – Formation: „Wollte zum Kopf eines Menschen ein Maler den Hals eines Pferdes fügen und Gliedmaßen, von überallher zusammengelesen, [...].“ Von vornherein bewegen sich die Überlegungen zur Gattungsbegrenzung innerhalb des künstlerischen Gattungsdiskurses: Die Operationen der Zusammenstellung, des Verschnitts werden einem Maler zugeschrieben. Der Rückgriff auf un-mögliche 10 Quintus Horatius Flaccus, Ars Poetica. Die Dichtkunst, Lateinisch/Deutsch, übers. u. hg. v. Eckart Schäfer, Stuttgart, 1997, S. 5.
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Formationen der Natur erfolgt daher nicht analog, was widernatürliche Kreuzungen sowohl in der Natur als auch in der Kunst gleichermaßen sanktionieren würde. Sondern auf übergeordneter Ebene kommen Kompositionsprinzipien zum Tragen, die vermeiden, gröbste Widersprüche im selben Werk zu vereinigen („Grimm mit Sanftmut“). Die Reflexionen zur Vereinbarkeit motivischer, aber auch strukturaler (wie überzogene Klimax) Elemente des Kunstwerks erstrecken sich auf die Gattungen Malerei und Dichtung selbst. Das Zitat diskutiert, was sie überhaupt darstellen dürfen, und ob sie darin „je gleiche Freiheit“ haben, womit freilich die Frage nach der möglichen Verschränkung beider Künste sowie ihrer je eigenen Praktiken angerissen würde (und so wurde Horaz ja auch zum Teil rezipiert).
9. L ESSINGS L AOKOON Zwei weitere Passagen der „Ideen“ nehmen das Verhältnis von Malerei bzw. bildender Kunst und Dichtung auf, die eng an Lessing angelehnt sind, und besonders die Hierarchie oder Genese beider Kunstformen betreffen. Im Kapitel zur Allegorie wurde schon Herders (überraschende) These entfaltet, weshalb es im Grunde keine bildende Allegorie geben könne und daher die dichtende der bildenden Allegorie vorangehe. Die erste Passage entspringt Herders Aisthesis (und damit Anthropologie) des Gefühls (diesmal des Gehörs). Anders gesagt, mündet die Aisthesis, sofern sie über den Hörsinn verläuft, unmittelbar in Anthropologie, da sie den Menschen als mitfühlendes Wesen ausweist – über die Gefühlsbindung sogar über den Menschen hinausgeht.1 „Sonderbar ists, daß das Gehör so viel mehr als das Gesicht beiträgt, dies Mitgefühl zu erwecken und zu verstärken. Der Seufzer eines Tiers, das ausgestoßne Geschrei seines leidenden Körpers zieht alle ihm ähnlichen herbei, die, wie oft bemerkt ist, traurig um den Winselnden 1
Joachim Gessinger, „‚Das Gefühl liegt dem Gehör so nahe‘: The Physiological Foundations of Herder’s Theory of Cognition“, in: Johann Gottfried Herder. Academic Disciplines and the Pursuit of Knowledge, hg. v. Wulf Koepke, Columbia, SC, 1996, S. 32-52. Zur elementaren Aisthesis des Tastsinns, des Gefühls bei Herder vgl. Ulrike Zeuch, Umkehr der Sinneshierarchie. Herder und die Aufwertung des Tastsinns seit der frühen Neuzeit, Tübingen, 2000 [Communicatio 22]. Inka Mülder-Bach, „Ferngefühle. Poesie und Plastik in Herders Ästhetik“, in: Herder im Spiegel der Zeiten. Verwerfungen der Rezeptionsgeschichte und Chancen einer Relektüre, hg. v. Tilman Borsche, München, 2006, S. 264277. Dies., Im Zeichen Pygmalions, Das Modell der Statue und die Entdeckung der ‚Darstellung‘ im 18. Jahrhundert, München, 1998, II, Darstellung fürs Gefühl: Herders Theorie der Plastik, S. 49-102.
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stehn und ihm gern helfen möchten. Auch bei den Menschen erregt das Gemälde des Schmerzes eher Schrecken und Grausen als zärtliche Mitempfindung; sobald uns aber nur ein Ton des Leidenden ruft, so verlieren wir die Fassung und eilen zu ihm: es geht uns ein Stich durch die Seele. Ists, weil der Ton das Gemälde des Auges zum lebendigen Wesen macht, also alle Erinnerungen eigner und fremder Gefühle zurückbringt und auf Einen Punkt vereinet? Oder gibt es, wie ich glaube, noch eine tiefere organische Ursache? Gnug, die Erfahrung ist wahr und sie zeigt beim Menschen den Grund seines größern Mitgefühls durch Stimme und Sprache.“ (Herder, „Ideen“, 157)
Mitgefühl erzeugt sich über die Wahrnehmung des „Ton[s]“, den der Leidende von sich gibt, während sein „Gemälde“ „eher Schrecken und Grausen“ beim (Zu-) Schauenden provoziert. Im Impuls herbeizueilen („und eilen zu ihm“) steckt ein Fünkchen Hilfsbereitschaft, die das sympathetische Tier jedoch nicht in die Tat umsetzen kann (dessen Artgenossen nur „traurig um den Winselnden stehn und ihm gern helfen möchten“). An dieser Textstelle interessiert mich der dem „Ton“ verbundene Verlebendigungsvorgang – „[i]sts, weil der Ton das Gemälde des Auges zum lebendigen Wesen macht“ –, der auf sinnlich-mnemorativem Effekt beruht, (vergangene) Gefühle zu evozieren und zu vereinigen. Dieser Effekt verdanke sich, ohne dass Herder diesbezüglich näher ins Detail geht, „Stimme und Sprache.“ Das „Gemälde“, um das es geht, kündet von potentiellen Gattungsdifferenzen gegenüber Formen, die maßgeblich durch „Stimme und Sprache“ gestaltet werden. Die doppelt aufgerufene Szene des (mitleidigen) Zuschauens verweist schon auf dramatische Ausgestaltungen dieser Naturszene. Welches Potential birgt das Gemälde in diesem Zusammenhang? Oder inwiefern tritt es hinter andere Darstellungsformen zurück? Jene Überlegungen zur Ästhetik tragen ihrerseits einen moralischen Index, da sie die Kunst als Mittel humanistischer Bildung einpassen und insofern als Medium der Menschheitsgeschichte positionieren. Zunächst gehe ich jedoch einen Schritt zurück und widme mich einem (groben) Abgleich von Herders Thesen mit Lessings „Laokoon“. Die überzogene Darstellung des körperlichen Affektes weist Lessing ähnlich wie Herder als (moralisch) unwirksam aus: „Denn man reiße dem Laokoon in Gedanken nur den Mund auf, und urteile. Man lasse ihn schreien, und sehe. Es war eine Bildung, die Mitleid einflößte, weil sie Schönheit und Schmerz zugleich zeigte; nun ist es eine häßliche, eine abscheuliche Bildung geworden, von der man gern sein Gesicht verwendet, weil der Anblick des Schmerzes Unlust erregt, ohne
542 │S UBTEXTE DER M ENSCHHEITSGESCHICHTE daß die Schönheit des leidenden Gegenstandes diese Unlust in das süße Gefühl des Mitleids verwandeln kann.“2
Für den bildenden Künstler erweist sich speziell die Auswahl des fruchtbaren Moments als Problem, da er nicht wie der Dichter die Reihe der Ereignisse erzählen kann, sondern aufgrund der räumlichen Simultaneität seines Mediums und der daraus resultierenden Beschränkung auf ein zusammenhängendes Motiv nur einen Ausschnitt (sukzessiver Zusammenhänge) darzustellen vermag. Andernfalls wüchse sich seine Darstellung ins räumlich Unendliche aus. Freilich lassen sich formale Übergangslösungen zwischen Bildlichkeit, Sukzession und Narration vorstellen, die einzelne Stationen der Geschichte auf Gesteinsfriesen oder parallel (angebrachten) gemalten Szenen festhielten. „Kann der Künstler von der immer veränderlichen Natur nie mehr als einen einzigen Augenblick, und der Maler insbesondere diesen einzigen Augenblick auch nur aus einem einzigen Gesichtspunkte, brauchen; sind aber ihre Werke gemacht, nicht bloß erblickt, sondern betrachtet zu werden, lange und wiederholtermaßen betrachtet zu werden: so ist es gewiß, daß jener einzige Augenblick und einzige Gesichtspunkt dieses einzigen Augenblickes, nicht fruchtbar genug gewählet werden kann. Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir darzu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben. In dem ganzen Verfolge eines Affekts ist aber kein Augenblick, der diesen Vorteil weniger hat, als die höchste Staffel desselben. Über ihr ist weiter nichts, und dem Auge das Äußerste zeigen, heißt der Phantasie die Flügel binden, [...].“ (22f.)
Nicht allein die Darstellung des momenthaften, über alle Maßen gesteigerten Affekts, dessen Gehalt die Einbildungskraft übertrumpft, sie aus ihrem Metier verdrängt, sondern die zeitliche Struktur des Augenblicks selbst gerät zur diffizilen Aufgabe. Sein dynamisches Moment, das einen Übergang anzeigt und der Einbildungskraft den Horizont der Narration eröffnen müsste, prägt eine höchst unnatürliche, ja paradoxe Zeitstruktur aus. „Erhält dieser einzige Augenblick durch die Kunst eine unveränderliche Dauer: so muß er nichts ausdrücken, was sich nicht anders als transitorisch denken läßt.“ (23) So verbietet sich bereits eine erste mögliche Lösung des Dilemmas, die das Veränderliche, Einschneidende der Szene präsentiert, das Anschlüsse gewährt. Der Affekt, in dem sich die schmerzliche Szene ausdrückt, darf nicht künstlich verlängert werden: „Wann also auch der geduldigste 2
Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. Mit beiläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte, mit einem Nachwort v. Ingrid Kreuzer, Stuttgart, 1987, Kap. II, S. 20. Seitenzahlen zu Lessings „Laokoon“ im Folgenden im Fließtext in Klammern.
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standhafteste Mann schreiet, so schreiet er doch nicht unabläßlich.“ (24) Durch die Auswahl jener Szene geht die Vorgeschichte des tugendhaften Charakters verloren, welche für die Erregung des Mitleids im Moment seines Schmerzes einsteht. Da sie sich nicht auf einen Augenblick beschränken muss, geht die Schilderung dem Dichter leichter von der Hand als dem bildenden Künstler. Er vermag die Geschichte des tugendhaften Protagonisten voranzuschicken, sodass „[w]ir [...] sein Schreien nicht auf seinen Charakter, sondern lediglich auf sein unerträgliches Leiden [beziehen].“ (27) Demnach gelten für dichtende und bildende Darstellungen abweichende Gesetzmäßigkeiten, die stets der Prämisse unterliegen, dass sie dem Zweck der Schönheit dienen (vgl. S. 19f.): „wenn der Künstler wohl tat, daß er den Laokoon nicht schreien ließ, so tat der Dichter ebenso wohl, daß er ihn schreien ließ?“ (27) Seine Fassung in „Stimme und Sprache“ gestattet dem Ton der Dichtung, schreien zu lassen – es klingt trivial, dass der (tonlosen) Malerei diese Option nicht offensteht. Was man (nicht) hört, kann die bildliche Darstellung nicht substituieren, sie kann ihm kein Äquivalent in gleichzeitiger, räumlich gerahmter Form darbieten. Die Trivialität schwächt sich ab, wenn man berücksichtigt, dass Dichtung zwar in „Stimme und Sprache“ verfasst ist, hingegen nicht zwangsläufig direkte Rede – hier: direktes Schreien – vorstellt. Sie schildert indirekt (beschreibend) und kann nur über Attribute (Adjektive) und fortgesetzte Beteuerungen vermitteln, dass wohl kein Schrei markerschütternder und herzzerreißender erklungen sei. Herder referiert mit der gedoppelten Szene herbeieilender Zuhörer auf einen zusätzlichen Aspekt, und auch Lessing hat die Differenz von direkter und indirekter Rede im Blick, wenn er ergänzt: „Aber Virgil ist hier bloß ein erzählender Dichter. Wird in seiner Rechtfertigung auch der dramatische Dichter mitbegriffen sein? Einen andern Eindruck macht die Erzählung von jemands Geschrei; einen andern dieses Geschrei selbst. Das Drama, welches für die lebendige Malerei des Schauspielers bestimmt ist, dürfte vielleicht eben deswegen sich an die Gesetze der materiellen Malerei strenger halten müssen. In ihm glauben wir nicht bloß einen schreienden Philoktet zu sehen und zu hören; wir hören und sehen wirklich schreien. Je näher der Schauspieler der Natur kömmt, desto empfindlicher müssen unsere Augen und Ohren beleidiget werden; denn es ist unwidersprechlich, daß sie es in der Natur werden, wenn wir so laute und heftige Äußerungen des Schmerzes vernehmen. Zudem ist der körperliche Schmerz überhaupt des Mitleidens nicht fähig, welches andere Übel erwecken.“ (Lessing, „Laokoon“, 27-28)
Neben der Entsprechung kündet sich indessen eine Differenz zu Herder an, der den Ausdruck körperlichen Schmerzes allein für mitleidensfähig hält, ohne dass eine
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beigefügte Narration uns der Tugendhaftigkeit des Helden versichern müsste.3 „Ton“ darf dem eingangs zitierten Passus der „Ideen“ zufolge in seiner naturhaften, unmodifizierten Form zum Einsatz kommen (gleichwohl könnte dessen getreue Reproduktion auf der Bühne eine verfremdete Darbietung vermitteln). Zwar bekennt Lessing, dass der „Theorie“ allezeit „das Widerspiel durch die Tat […]“ (29) entgegensteht – prinzipiell wäre diese Opposition zwischen Lessing und Herder vorerst festzuhalten. Sowohl in Lessings „Laokoon“ als auch in Herders Reflexionen über Gattungskontinuität und -differenz spielt der Rückbezug auf griechische (römische) Muster eine zentrale Rolle. Nicht zuletzt erkennt Herder in Gerstenbergs „Ugolino“ den Versuch, „Der Simplizität der Griechen am nächsten [zu] kommen“, wie der gleichnamige Aufsatz Alefelds darlegt. Die Reminiszenz an das ut pictura poiesis des Horaz konzentriert sich bei Herder vorwiegend auf die Genese der Kunstformen, die einer Hierarchie Ausdruck verleiht. „Da aber bei den Griechen ihre Götter durch Gesang und Gedichte eingeführt waren und in herrlichen Gestalten darinnen lebten; was war natürlicher, als daß die bildende Kunst von frühen Zeiten an eine Tochter der Dichtkunst ward, der ihre Mutter jene großen Gestalten gleichsam ins Ohr sang? Von Dichtern mußte der Künstler die Geschichte der Götter, mithin auch die Art ihrer Vorstellung lernen; daher die älteste Kunst selbst die grausendste Abbildung derselben nicht verschmähte, weil sie der Dichter sang. Mit der Zeit kam man auf gefälligere Vorstellungen, weil die Dichtkunst selbst gefälliger wurde und so ward Homer ein Vater der schöneren Kunst der Griechen, weil er der Vater ihrer schönern Poesie war. [...]. Nach den Verwandtschaften der Götter in den Erzählungen ihrer Dichter kamen auch bestimmtere Charaktere oder gar Familienzüge in ihre Bilder, bis endlich die angenommene DichterTradition sich zu einem Kodex der Göttergestalten im ganzen Reich der Kunst formte.“ (Herder, „Ideen“, 530-531)
Das Abstammungsverhältnis der Künste – „daß die bildende Kunst von frühen Zeiten an eine Tochter der Dichtkunst ward“ – wird als einlinig und „natürlich[ ]“ ausgewiesen. Ihm schuldet sich die grobe Anstößigkeit „grausendste[r]“ malerischer sowie plastischer Darstellungen, da die vorbildliche Dichtkunst alles aufs Tableau bringt, was sie darzustellen vermag. Die Grenze, welche Lessing zu befestigen 3
Dies zeichnet sich auch an der Diskussion um Gerstenbergs „Ugolino“ ab. Vgl. YvonnePatricia Alefeld, ‚Der Simplizität der Griechen am nächsten kommen‘ – Entfesselte Animalität in Heinrich Wilhelm v. Gerstenbergs Ugolino (Goethezeitportal: 20.12.2005), vgl. S. 5-8. Als (weiteres) Indiz dafür, dass Gerstenbergs „Ugolino“ einen Hintergrund von Herders Auseinandersetzung mit Lessing abgeben könnte, werte ich das Beispiel in Herder, Ideen, a. O., S. 157 unten: „Die Väter, die von Not und Hunger gezwungen, ihre Kinder dem Tode opfern“.
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strebt, wird hier noch nicht eingezogen. Dass Herder sie befürwortet, lässt sich jedoch an der frühen (griechischen) Genese der Kunstformen auseinander ablesen. Als Gattung nobilitiert, empfiehlt die Dichtung ihre Gegenstände – mögen sie für die Darstellung in anderen Medien noch so ungeeignet erscheinen. Bei der Dichtung handelt es sich schon um eine lebendige Darstellung („[…] in herrlichen Gestalten darinnen lebten“), die sich natürlich und ungebrochen weitervermittelt („gleichsam ins Ohr sang“). Die bildende Kunst übernimmt nicht nur ihre Protagonisten, die „Geschichte der Götter“, von der Dichtung, sondern muss sich auch an der „Art ihrer Vorstellung“ ausrichten, von „Dichtern“ „lernen“ (alle 530). Eine Kunstform imitiert den Modus der anderen, erprobt sich in deren Feld. Trotzdem findet die plastische Darstellung nicht aus sich selbst heraus zu einer ihr gemäßen Form, indem sie die Mimesis poetischer Gegenstände abkupfert, sondern ist auf die Modifikation ihres Vorbilds verwiesen, das „gefälliger wurde“ (531). Zum exemplarischen Zeugen eines solchen Widerstandes – rauhen Kontrastes zwischen Plastik und Dichtkunst – erklärt Herder Heynes Untersuchung „[…] über den Kasten des Kypselus […]“ (530), auf dem widerstrebende poetische Motive plastisch umgesetzt vorlägen. Damit spielt er bereits auf eine Forschungstradition bzw. Überlieferungsgeschichte an, mit der Heyne sich auseinanderzusetzen hatte, und die auch in den aktuellen Altertumswissenschaften nicht an Attraktivität eingebüßt hat. Umso bezeichnender ist es, dass ein weiteres Mal auf eine durch ihre Plastizität doppelt ausgestellte Überlieferung rekurriert wird, von der nichts außer Schrift, außer ihrer ekphrastischen Beschreibung, überliefert ist. Pausanias’ „Reisen in Griechenland“ (in Olympia) dienen bis heute als Hauptquelle, die um andere (Schrift-) Zeugnisse ergänzt wurde. Anhand der Zeugnisse und der aus ihnen generierten Untersuchungen entspinnt sich eine bis in die Gegenwart anhaltende rege Forschungsdiskussion, die mit der Gestalt(ung) der Lade befasst ist.4 Der Verlust des authentischen Gegenstandes treibt seine literarische (ekphrastische) Rekonstruktion an, die sich archäologischer Technik bedient. An den Vorlagen literarischer Beschreibungen orientiert, sucht das geschulte Auge nach erhaltenen bildlichen Überresten (auf
4
Vgl. Elfriede Brümmer, Griechische Truhenbehälter I 4.5, in: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts, Bd. 100, Berlin, 1985, S. 1-168, S. 85-86, gibt Dion Chrysostomos (XI 45f.) sowie Pausanias (V 17, 5-19, 10) als Quellen an. Johannes Adolf Overbeck, Über die Lade des Kypselos, in: Abhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften., zehnter Band, Leipzig, 1865, darin: Abhandlungen der Philologisch-Historischen Classe [...], Vierter Band, Leipzig, 1865, S. 589-676.
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Vasen, Friesen etc.), deren Motive (als Kopie, zweidimensionale Reproduktion) auf dem Papier zum möglichen Kasten (oder Zylinder) zusammengestückelt werden.5 Im Vergleich mit der Überführung antiker griechischer Dichtung in die (bildlich-bildende) Plastik, beschreiten die archäologischen Fragmente einen entgegengesetzten Weg. Dennoch sind sie auf Fragmente der Dichtung angewiesen, um als architektonische, in Stein gemeißelte Fragmente überhaupt aufgesucht werden zu können. Das (neue) Bild der Kypseloslade erstellt sich demnach in einem fortlaufenden literarischen Prozess, der über sich hinausgreifend versucht, auf Bildlichkeit bzw. Plastizität Bezug zu nehmen. Die Voraussetzung dafür stiftet der Wiedererkennungswert des Bildlichen, der sich anhand der Ekphrasis einstellen muss (selbst wenn sie lange zurückliegt). Greift nun Herders Gemäldediskussion auf dieses Potential der Ekphrasis zurück? Liegen mit seinen Beschreibungen lange feststehende Verbildlichungen vor, die man beliebig wiederaufrufen kann, da sie wie archäologische Funde in den Museen der Welt aufgereiht anzutreffen sind? Räumt der hierarchische Vorrang der Dichtung alle Zweifel aus, welche Art Bilder vorliegen? Obliegt es dem kreativen Leser, die Dichtung in (innere) plastische Vorstellungen zu übersetzen (was rezeptionstheoretisch konventionell gedacht wäre)? Oder vollzieht die dichtende Ekphrasis die komplexere künstlerische Operation, die (das) wirkliche Gemälde ohnehin aussticht? Lessing diagnostiziert die Übertragung der Dichtung in Malerei und Plastik betreffend den Hang zur Allegorisierung, auf welche die Dichtung verzichten könne. „Wenn der Dichter Abstrakta personifieret [sic], so sind sie durch den Namen, und durch das, was er sie tun läßt, genugsam charakterisieret. Dem Künstler fehlen diese Mittel. Er muß also seinen personifierten Abstraktis Sinnbilder zugeben, durch welche sie kenntlich werden. Diese Sinnbilder weil sie etwas anders sind, und etwas anders bedeuten, machen sie zu allegorischen Figuren. [...]. Die Sinnbilder dieser Wesen bei dem Künstler hat die Not erfunden.“ (Lessing, „Laokoon“, 87f.)
Auch Herder moniert künstliche Allegorisierung, und konfrontiert ihr die natürliche griechische Allegorie, die auf Allegorese verzichten kann, da sie für sich selbst spricht (vgl. den Exkurs zur Allegorie). Lessing zufolge steht der Name, etwa der Justitia, in der Dichtung für die abstrakte Bedeutung der Personifikation ein (bereits ohne vertiefenden Kontext). Greifbarer erfüllt die Justitia zugeschriebene Handlung erläuternde Funktion, die der bildenden Darstellung fehlen muss (solange keine namensgebende Bildunterschrift einspringt). Für sprechende Namen und Handlungen treten in Malerei und Bildhauerei Attribute ein, deren Art und Gebrauch Les5
Rüdiger Splitter, Die ‚Kypseloslade‘ in Olympia. Form, Funktion und Bildschmuck. Eine archäologische Rekonstruktion mit einem Katalog der Sagenbilder in der korinthischen Vasenmalerei und einem Anhang zur Forschungsgeschichte, Mainz, 2000.
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sing zweifach zu unterscheiden weiß. Eine Gebrauchsweise sei natürlicher, komme dem Prinzip des Poetischen näher und sei deshalb der anderen vorzuziehen. „Doch gibt es unter den Attributen, mit welchen die Künstler ihre Abstrakta bezeichnen, eine Art, die des poetischen Gebrauchs fähiger und würdiger ist. Ich meine diejenigen, welche eigentlich nichts Allegorisches haben, sondern als Werkzeuge zu betrachten sind, deren sich die Wesen, welchen sie beigeleget werden, falls sie als wirkliche Personen handeln sollten, bedienen würden oder könnten. Der Zaum in der Hand der Mäßigung, die Säule, an welche sich die Standhaftigkeit lehnet, sind lediglich allegorisch, für den Dichter also von keinem Nutzen. Die Wage in der Hand der Gerechtigkeit, ist es schon weniger, weil der rechte Gebrauch der Wage wirklich ein Stück der Gerechtigkeit ist. Die Leier oder Flöte aber in der Hand einer Muse, die Lanze in der Hand des Mars, Hammer und Zange in den Händen des Vulkans, sind ganz und gar keine Sinnbilder, sind bloße Instrumente, ohne welche diese Wesen die Wirkungen, die wir ihnen zuschreiben, nicht hervorbringen können. Von dieser Art sind die Attribute, welche die alten Dichter in ihre Beschreibungen etwa noch einflechten, und die ich deswegen, zum Unterschiede jener allegorischen, die poetischen nennen möchte. Diese bedeuten die Sache selbst, jene nur etwas Ähnliches.“ (Lessing, „Laokoon“, 88f.)
Der instrumentelle Gebrauch hebt die allegorische Funktion auf, womit es sich nicht mehr um allegorische, sondern um poetische Attribute handelt. Instrumentalisiert stößt das Attribut eine Handlung an, die sich poetisieren, narrativ entwickeln, lässt (wobei die Waagschale der Justitia eine eigentümliche Zwischenstellung einnimmt, als Beispiel vage bleibt). „Die Sache selbst“ gewinnt Attribut samt Narrativ, das nicht zwingend entfaltet werden muss, sich dem Leser indes automatisch aufdrängt. In den „Ideen“ führt Herder die griechische Allegorie ebenfalls als sehr sparsame, reduzierte Form auf, der ein „Wort“ genügt. Insofern handelt es sich schon um eine progressive Modifizierung der alten „griechische[n] Mythologie“, deren fortschreitende Anthropomorphisierung zu beobachten ist („[…] und sangen dafür menschlichere Gegenstände zum menschlichen Gebrauche“). „Glücklicher Weise hatten die alten Theogonien-Erzähler in die Stammtafeln ihrer Götter und Helden so treffende, schöne Allegorien, oft nur mit Einem Wort ihrer holden Sprache, gebracht, daß wenn die späteren Weisen die Bedeutung derselben nur ausspinnen und ihre feinern Ideen daran knüpfen wollten, ein neues schönes Gewebe ward.“6
Anders als in meinem Allegoriekapitel dargelegt, führt weitere Exegese diesmal keine Degeneration durch Allegorese mit sich, sondern wird als fortgesetzte Kultivierungsleistung begrüßt. Das „Wort“ Herders übernimmt eine ähnliche Funktion
6
Zu den vier vorangehenden Zitaten vgl. Herder, Ideen, a. O., S. 524.
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wie Lessings sprechende „Namen“ der Dichtung (Lessing, „Laokoon“, 87)7 bzw. die bildender Kunst beigegebenen „Werkzeuge“ (89). Die Notlösung, welche der Künstler bemüht (88, „Die Sinnbilder dieser Wesen bei dem Künstler hat die Not erfunden.“), das „Werkzeug“, entspricht dem „Namen“, dem „Wort“. Die mediale Überführung gelingt, sofern das poetische Mittel der Malerei (bildenden Kunst), das „Werkzeug“, dem allegorischen vorgezogen wird: Die Malerei poetisiert, beginnt, eine Narration anzudeuten. Nun identifiziert Lessing das transitorische Moment als heikel bei der Auswahl des fruchtbaren Augenblicks in Malerei und Bildhauerei. Jener Augenblick darf keinen affektiven Höhepunkt beschreiben, um die Phantasieleistungen des Betrachters nicht zu untergraben. Man könnte vermuten, dass die Überzeichnung des Moments die Narration anhält, zum symbolischen Moment gerinnt. Zieht Lessing die poetische der allegorischen Darstellung vor, deren Auslegung ebenfalls narrative Momente enthält, bedeutet dies keine Privilegierung des Symbols. Im Gegenteil differenziert Lessing sich vom Abstraktionsmoment und sucht die Essenz in der Konkretion des Attributs. Die Allegorie übernimmt als Mitteilungsmedium (der Griechen) begriffliche Funktion. Jene beruht allerdings nicht auf Abstraktion, sondern auf der Konkretion von Bedeutung. Begrifflichkeit prägt sich im idiosynkratischen und dennoch kollektiven Moment auf Kunst basierender Ausdrucksformen aus, welche sich zudem dem doppelten Diskurs einschreiben. „Jede Nation hat in allgemeinen Begriffen ihre eigene Sehart, die meistens in den Formen des Ausdrucks, kurz in der Tradition ihren Grund hat und da bei den Griechen die Philosophie aus Gedichten und Allegorien entstanden war: so gaben diese auch ihren Abstraktionen ein eigentümliches, ihnen nicht undeutliches Gepräge. Selbst noch bei Plato sind seine Allegorien nicht bloße Ziererei; ihre Bilder sind wie klassische Sprüche der Vorzeit, feinere Entwickelungen der alten Dichter-Traditionen.“ (Herder, „Ideen“, 549)
Anders gesagt, taucht kein Begriff ohne konkreten, experimentellen und somit künstlerischen Ausdruck auf, aus dem er sich, seiner Ausgestaltung nachgelagert, als Abstraktum extrahieren ließe. Aber selbst die Begriffsbestimmung, die analytische Zerlegung oder Definition wäre als Allegorese zu beschreiben, der auf einen Schlag erfassende Unmittelbarkeit fehlt. Die Re-Allegorisierung des Begriffs, die anhand eines Wortes oder Werkzeugs erfolgt, ereignet sich im Idealfall als poetische und indexikalische Operation, welche allen Anschein der Allegoristerei von sich weist.
7
Seitenangaben zu Lessings „Laokoon“ weiter in Klammern.
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10. M EDIENTHEORIE Herders Texte bergen eine ambitionierte Medientheorie, die sich durchaus an modernen Medientheorien messen lässt. Dennoch behandelt dieses Kapitel das Thema nicht erschöpfend, sondern knüpft an Überlegungen an, die bereits im Kontext der Schrift „Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele“ erfolgten. Eine ihrer Einsichten (Thesen) bestand darin, dass jedes zum Medium des jeweils anderen werden kann, ohne binäre Oppositionen oder feste hierarchische Relationen auszubilden (dies zeigte sich vorwiegend im Zusammenhang der Erkenntnistheorie). Als Medium der Menschheitsgeschichte agiert vor allem das Klima, unter dessen Titel sich recht heterogene Phänomene vereinigen, die ihm weitestgehend zurechenbar sind (Fauna, Flora, Geologie, Geographie – besonders geographische Lage usw.). Das Medium kennt nicht nur materielle Erscheinungsformen, sondern bewegt sich gleichfalls in einer Sphäre des Geistigen, die nicht von ihrer materiellen Dimension zu trennen ist. Als Figuration jenes Doppelcharakters dient die „Luft“, welche einen (im)materiellen Träger des Materiellen sowie Immateriellen („[w]ie der elektrische und magnetische Strom […]“, „Ideen“, 38)1 zur Verfügung stellt. Das alles Körperliche durchmessende Medium wird als „Medium der Empfindung“ gefasst, das jedoch auf physiologischen Bindungen aufruht, aus ihnen emergiert – eine Vorstellung, welche die Metaphorik einer zunehmenden Verfeinerung bis zur Verflüssigung speist: „Die Empfindsamkeit des Nervensystems wird sodenn die dritte höhere Art derselben Kraft sein, ein Resultat aller jener organischen Kräfte; da der ganze Kreislauf des Bluts und aller ihm untergeordneten Gefäße dazu zu gehören scheint, das Gehirn als die Wurzel der Nerven mit dem feinen Saft zu befeuchten, der sich als Medium der Empfindung betrachtet, über Muskel- und Faserkräfte so sehr erhebet.“ (86)
Das Medium durchläuft wechselnde Aggregatzustände zwischen (mehr oder minder) fest (fein) – „Faser“, „Fiber“ und „Muskel“ (86) –, flüssig („feine[r] Saft“) und ätherisch. Der Ausfluss des Saftes, „[…] die dritte höhere Art derselben Kraft […]“, mündet als Empfindungsvorgang ins Ätherische, insofern die Kraft sich von ihrem Träger, dem „Saft“, ablöst (86f.). Abhängig von ihrem Träger, aber auch in Wechselwirkung mit dem zu Übertragenden, wird Medialität (als) variabel gedacht und unterliegt selbst beständigem Transfer. Das Medium zählt zur (ist) Botschaft, da Medium und Mediatisiertes unauflöslich verknüpft sind, dennoch nicht vereint in einem Meta-Äther schweben.
1
Seitenangaben zu Herders „Ideen“ weiter in Klammern im Fließtext.
550 │S UBTEXTE DER M ENSCHHEITSGESCHICHTE „Auch die Verschiedenheit der Menschen, so wie aller Produkte der Erdkugel muß sich also nach der spezifischen Verschiedenheit des Mediums richten, in dem wir wie im Organ der Gottheit leben. Hier kommt es nicht bloß auf Einteilung der Zonen nach Hitze und Kälte, nicht bloß auf Leichtigkeit und Schwere des drückenden Luftkörpers; sondern unendlich mehr auf die mancherlei wirksamen, geistigen Kräfte an, die in ihr treiben, ja deren Inbegriff eben vielleicht alle ihre Eigenschaften und Phänomene ausmacht.“ (38, eine andere Formulierung lautet, der Mensch sei ein „Zögling der Luft“)
Als Gegenmodell ruft die mediale Ausdifferenzierung den Gedanken eines übergreifenden Zusammenhangs auf, der bisweilen „analogisch“ gedacht wird. Die organische (materielle) Gestaltung richtet sich am Medium aus, ist nicht in der Lage, es zu manipulieren. „Die Verschiedenheit der Ausbildung nämlich ist überall nach dem Medium eingerichtet, für welches die Geschöpfe gemacht sind; bei diesen zwo Klassen also der Luft- und Wassergeschöpfe muß im innern Bau dieselbe Analogie sichtbar werden, die sich zwischen Luft und Wasser findet.“ (408)
Der Schluss auf „Eine organische Bildung auf unserm Planeten […]“ (408) erfolgt unter Berücksichtigung medialer Differenzierung keineswegs zwingend, bildet aber eine (scheinbar unverzichtbare) theologische Klammer des Textes.2 Laut Zitat liegt Gleichförmigkeit von Medium und Vermitteltem vor: eine These, die auch die Schrift „Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele“ vertritt. Stets befindet man sich im Medium und greift nicht von außen darauf zu. Dennoch übersteigen die in der Welt vorfindbaren Medien die menschlichen Fähigkeiten. Jedes Medium setzt eine entsprechende Empfänglichkeit voraus, die vermutlich in seinem Rahmen entstanden ist, auf es zugeschnitten wurde. „Es mögen viel Medien in der Schöpfung sein, von denen wir nicht das mindeste wissen, weil wir kein Organ zu 2
Die Verortung der Theologie Herders innerhalb seines (philosophischen, ästhetischen, kulturhistorischen) Werks kann meine Arbeit nicht leisten. Ich verweise hierzu auf Daniel Weidner, „Secularization, Scripture, and the Theory of Reading: J. G. Herder and the Old Testament“, in: New German Critique, No. 94 (2005), S. 169-193, Martin Keßler u. Volker Leppien (Hg.), Johann Gottfried Herder. Aspekte seines Lebenswerkes, Berlin/New York, 2005 [Arbeiten zur Kirchengeschichte 92] und Claas Cordemann, Herders Christlicher Monismus, Tübingen, 2010 [Beiträge zur historischen Theologie 154], Christoph Bultmann, Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung. Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes, Tübingen, 1999 [Beiträge zur historischen Theologie 110]. Nach einer Einheit des herderschen Werkes, die Cordemann in dessen Theologie gründet, zu suchen, birgt angesichts ihres kontroversen Charakters die Gefahr, Herders Schriften einseitig zu vereinnahmen.
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ihnen haben; ja es müssen derselben viel sein, da wir fast bei jedem Geschöpf Wirkungen sehen, die wir uns aus unsrer Organisation nicht zu erklären vermögen.“ („Ideen“, 88, „Organ“ meint nicht unbedingt ein organisches, körperinneres Organ.) Wie nahe diese Äußerungen der kantischen Transzendentalphilosophie stehen, in der die Verfassung menschlicher Erkenntniswerkzeuge den Weltzugang (auf eben den einen, menschlichen Zugang) limitiert, so nehmen sie dem Problem gegenüber eine andere Perspektive ein. Der Mensch fügt sich in das Mediensystem der Welt – wenn von einem System und nicht besser von einem Konglomerat zu sprechen wäre – und schaltet sich dort in konkrete Gefüge ein, wobei ihn andere Medien durchkreuzen mögen, die keine Resonanz finden. Somit fokussieren die „Ideen“ die Einbettung des Menschen in Zusammenhänge, aus denen sich seine fühlende sowie intellektuelle Welterkenntnis erhebt, während Kants transzendentalphilosophische Reflexionen den subjektzentrierten Fokus auf die Welt richten – ein Philosophiekonzept, das sich mit Vorliebe der (kat)opt(r)ischen Metapher bedient. Demgegenüber positionieren die „Ideen“ die Menschen als empfängliche Wesen in der Welt und bevorzugen auditive anthropologische Konzepte. Obwohl ich mir dessen bewusst bin, dass die Transzendentalphilosophie nicht mit der Anthropologie zusammenfällt, halte ich diese Kontrastierung für vertretbar, da eine auf den Menschen ausgerichtete Transzendentalphilosophie (und eben keine Metaphysik) vorliegt.3 Die Zerstreuung der Medien widerspricht nicht dem Ansinnen, zugleich ein durchgängiges Medium, eine alles übergreifende Mediatisierung, anzusetzen – meines Erachtens handelt es sich um ein theologisches Zugeständnis Herders. Jedoch taucht dieses eine Medium jedes Mal als Verschiebung (Spaltung) in andere Medien auf und setzt daher die Verlagerung der Metaphernfelder in Gang. Als Schlüssel zur Welt lässt es sich nie benennen, sondern treibt den Vorgang sprachlicher Konkretisierung, genauer der Zerstreuung, unermüdlich an. „Und sollte uns die sich immergleiche Natur nicht schon einen Wink über das Medium gegeben haben, in dem alle Kräfte der Schöpfung würken? In den tiefsten Abgründen des Werdens, wo wir keimendes Leben sehen, werden wir das unerforschte und so wirksame Element gewahr, das wir mit den unvollkommenen Namen Licht, Äther, Lebenswärme benennen und 3
Herder, Ideen, a. O., vgl. S. 174f. Mülder-Bach zitiert in ihrem Aufsatz „‚Eine ‚neue Logik für den Liebhaber‘ […]“ (S. 344, S. 349) in diesem Zusammenhang Herders beabsichtigte „[…] ‚Einziehung der Philosophie auf Anthropologie‘“. Inka Mülder-Bach, „Eine ‚neue Logik für den Liebhaber‘. Herders Theorie der Plastik“, in: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, hg. v. Hans-Jürgen Schings, Stuttgart/Weimar, 1994, S. 341-370. Das Zitat stammt aus: Johann Gottfried Herder, Wie die Philosophie zum Besten des Volks allgemeiner und nützlicher werden kann (1765), in: FHA 1, S. 101-134, vgl. S. 132, S. 134.
552 │S UBTEXTE DER M ENSCHHEITSGESCHICHTE das vielleicht das Sensorium des Allerschaffenden ist, dadurch er alles belebet, alles erwärmet. In tausend und Millionen Organe ausgegossen, läutert sich dieser himmlische Feuerstrom immer feiner und feiner: durch sein Vehikulum wirken vielleicht alle Kräfte hienieden [...]. Vielleicht ward unser Körpergebäude auch eben deswegen aufgerichtet, daß wir, selbst unsern gröbern Teilen nach, von diesem elektrischen Strom mehr an uns ziehen, [...]; und in den feinern Kräften ist zwar nicht die grobe elektrische Materie aber etwas von unserer Organisation selbst verarbeitetes, unendlich feineres und dennoch ihr Ähnliches das Werkzeug der körperlichen und Geistesempfindung. Entweder hat die Wirkung meiner Seele kein Analogon hienieden; [...] oder es ist dieser unsichtbare himmlische Licht- und Feuergeist, der [...] alle Kräfte der Natur vereinigt.“ (Herder, „Ideen“, 173f.)
Das „Medium“ wird zum „unerforschte[n] und so wirksame[n] Element“ substantialisiert, mit „unvollkommenen Namen“ wie „Licht, Äther, Lebenswärme“ versehen, zum „Sensorium des Allerschaffenden“ erhoben, als „himmlische[r] Feuerstrom“ (de-)materialisiert, physikalisch zum „elektrischen Strom“ naturalisiert, als „grobe elektrische Materie“ dagegen nötiger Verfeinerung (im menschlichen Erkenntnisprozess) unterworfen. Abschließend verknüpfen sich zwei just gefundene und neu zusammengesetzte Metaphernkomposita zur variierten Wendung („dieser unsichtbare himmlische Licht- und Feuergeist“), was wie ein Rückschritt der metaphorischen Feinarbeit anmutet, das geheimnisumwölkte Unbestimmte auszumachen. Herders Text setzt dieses Spiel potentiell unendlich fort und verfährt dabei Kants metonymischen Verschiebungen analog, wie sie das Kapitel „Metapher oder Metonymie?“ mit Paul de Man fasste. Schreibstil und Epistemologie gehen eine enge, nicht mehr auseinander zu dividierende Verbindung ein. Die Suche nach einer Sprache für das (unsagbare) Objekt der Erkenntnis wird innerhalb der Sprache (als Begriffsfindungsprozess), genauer auf der Bühne der Sprache metaphorisch ausgetragen – als ständiges Ringen um das richtige Wort, das zwischen Abstraktions- und Konkretionsversuchen hin und her schwankt.
Zum Schluss
„H OCUSPOCUS “
IN DER
M ETAKRITIK
Schon die Vorrede zu Herders „Metakritik“1 wirft die Frage auf, worum es sich bei diesem Eingang zum Text handelt. Sie präsentiert eine aberwitzige, mit polemischen Andeutungen gespickte kurze Erzählung, ja Szene, die der Auslegung bedarf. Sich selbst als „Traum“ markierend, räumt sie sich gewissermaßen Narrenfreiheit ein, überwindet jedoch – vergleichbar mit Wielands Traumgebrauch im „Traumgespräch mit Prometheus“ – die engen Grenzen rationaler und empirischer Wahrscheinlichkeit und darf ein ganz abwegiges Gedanken-, besser Fabulierexperiment wagen. Insgesamt würde ich vorschlagen, dass die Erzählung u. a. durch das Zitat aus der „nordische[n] Chronik“ (305), der entscheidende, die Neugier des philosophischen Lesers provozierende „Blätter“ „fehlen“ (308), einen wielandischen Ton annimmt. Auffällig ist vor allem die Anlehnung an quasi mythologische Figuren, die jedoch vom griechischen in ein anderes, ein nordisches Setting versetzt werden, denen der wissbegierige „[a]uf seiner Reise ins Tal der akademischen Weisheit [...] ermattete[ ] Jüngling“ (305) begegnet. Man könnte demnach behaupten, schon die Vorrede lege eine Allegorie vor, die das wie im Traum ersonnene Folgende einklammert. Die Klammer wird tatsächlich nicht aufgelöst, insofern die Fortsetzung der Erzählung, „[w]as der erwachende Jüngling getan habe“, in der in Aussicht gestellten „Vorrede“ zur „Metakritik zur Kritik der Urteilskraft“ (309) nicht eingelöst wurde. Ohne eine vollständige Allegorese der Erzählung bereitstellen und den Bezug der Vorrede zum Hauptteil der ersten „Metakritik“ herstellen zu können oder zu wollen, möchte ich doch Anmerkungen versammeln, die verdeutlichen, dass sie 1
Herder, Metakritik, in: FHA 8, S. 303-640, S. 305-313. Seitenzahlen in Klammern im Fließtext. Der vorliegende Abschnitt wird kontextualisiert in: Kristina Kuhn, ‚Hocuspocus‘ in Johann Gottfried Herders Metakritik, in: Herder Jahrbuch XII (2014), hg. v. Rainer Godel, Karl Menges u. Johannes Schmidt, S. 85-97.
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traumwandlerisch Motive und Versatzstücke vereinigt, die in der vorangehenden Arbeit bei allen drei Autoren von Bedeutung gewesen sind. Gleich zu Beginn wird die Figur der Anmut, die die angemessene theoretische Einstellung vermitteln könnte, ironisiert. Die „Gesichtsbildung“ wird zum physiognomisch sichtbaren Kennzeichen jugendlicher Redlichkeit, die sich auratisch mitteilt: „und als er die redliche Gesichtsbildung des Jünglings ersah; (die Wünsche seiner Eltern umschwebten ihn) sprach der vielerfahrene Wandersmann also: [...].“ (305). Die Strahlkraft anmutiger Mitteilung wird als Projektion (der Eltern) enttarnt, die dem „vielerfahrene[n] Wandersmann“ dennoch als verlässliches Identifikationsmerkmal dient. Nicht etwa der an einem Ort verbleibende Gelehrte, sondern der „vielerfahrene Wandersmann“ weiht den das „Tal der akademischen Weisheit“ Bereisenden in die Verlockungen und „Verführungen“, vor denen er warnt, bevorstehender Erkenntnisse ein und gibt ihm Verfahrensregeln an die Hand. Dabei macht die nordische Fiktion Anleihen bei der biblischen Erzählung, deren „Baum der Erkenntnis“ (305) zum Baum „mit lockenden bittersüßen Früchten“ umgedeutet wird. Aber auch die Wanderung durchs – helle oder finstere? – Tal gemahnt an die Bibel – das Zusammentreffen mit „Hugo“, der den Jüngling „väterlich“ mit „mein Sohn“ (306) anredet, wäre selbst als Begegnung mit dem Göttervater lesbar, der Adam über den Baum der Erkenntnis ermahnend in Kenntnis setzt. Der zweite zu befolgende Grundsatz des „Hugo“ basiert zudem auf dem Sinn des Gehörs, der auch in der Sündenfallerzählung eine maßgebliche Funktion übernimmt. Der „Baum der Erkenntnis“ wird jedoch als Ziel „[…] nebst vielen Reizen und Verführungen“ (305) vorgestellt. Wie der Baum in der Bibel hält er bittersüße Überraschungen bereit, die der Erkenntniswille hier jedoch in Kauf zu nehmen hat, welche keineswegs die Verbannung aus dem paradiesischen Tal nach sich ziehen. Die Verfahrensregeln, die nach dem Paradigma der Wanderschaft oder Reise erteilt werden, richten sich empirisch aus, fordern ein eingehendes Kennenlernen des Erkenntnisgegenstandes im Vorfeld seiner Beurteilung und heben die sinnliche, gefühlsvermittelte Leistung des Gehörs2 hervor, erinnern an die Etymologie der „Vernunft“ vom „Vernehmen“.3 Letztlich fügen sie sich in die Klammer der (dritten) Einforderung eines Selbstdenkens, das von Autoritätspersonen und falschen Freunden Abstand nimmt. Genau aus diesem Grund kann der Terminus Selbstdenken in diesem vertrauten Umfeld der „Wortgeister“4 auch nur pejorativ zur selbsterfüllen2
Vgl. Gessinger, ‚Das Gefühl [...]‘, a. O., S. 41f.
3
Vgl. Marion Heinz, „Vernunft ist nur Eine. Untersuchungen zur Vernunftkonzeption in Herders ‚Metakritik‘“, in: dies. (Hg.), Herders ‚Metakritik‘. Analysen und Interpretationen, Stuttgart-Bad Cannstatt, 2013, S. 163-194, S. 172.
4
Herder, Metakritik, a. O., S. 306, Seitenangaben aus der „Metakritik“ weiterhin in Klammern.
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den Prophezeiung verkommen, denn „[w]ider ihren Willen sind alle Selbstdenker Despoten; sie drängen, was sie dachten, mit Macht auf.“ (305) Das Spiel mit „Wortgeister[n]“, „Wortschälle[n]“ und „Schatten“ (306) knüpft an die Sprachfindungsmetaphorik der „Ideen“5 an. Trotz aller Skepsis gegenüber Altbekanntem nähert sich das Diktum „Lernen ist Übung“ (305) der kantischen Schulung der Urteilskraft. Dem reisenden Empiriker wird ein historistischer Standpunkt anempfohlen, der „Trümmer der Zeit“ (306) als solche entlarvt und sich vorurteilsfrei an die Dinge herantastet. Nach aller Zurückweisung von „Wortgeister[n]“ und „Wortschälle[n]“ scheint es mir aber gerade um ebenjene zu gehen. Nachdem eingangs eine knappe Etymologie zu „Hugo“ gegeben wurde, tritt nun „seine böseste Feindin“6, „Hägsa“ (306), auf den Plan, die etymologisch indes nicht so leicht abzuhandeln ist. In der Fußnote (306f.) haberechtet Herder mit Kant über den „Ursprung“ des Wortes „Hexe“. Man könnte vermuten, dass die „kritische Philosophie“ nun endgültig ihren Geltungsbereich überschritten hat, sodass der Sprachforscher und – mit Fragen des Übersinnlichen betraute – protestantische Theologe Herder sich als Experte in seinem Fach zur Korrektur gezwungen sieht. Nicht ohne einen ironischen Seitenhieb gegenüber der „kritische[n] Philosophie“, die er ausgerechnet aus ihrer „Anthropologie“ zitiert, macht sich die Fußnote daran, Kants Definition aufzulösen und eine alternative Fassung in Anschlag zu bringen. Dem bösen, religionskritischen Gedanken Kants, der auf christliche Riten, die „[…] Anfangsworte[ ] der Meßformel bei Einweihung der Hostie […]“, zurückgreift, um die Etymologie des Wortes „Hexe“ aufzuklären, setzt Herder eine Erläuterung aus dem Bereich der Kunst entgegen, hält sogar zwei Möglichkeiten oder Varianten der Herleitung offen. Die erste Variante degradiert Kant selbst zum Hexer, der es versteht, was er „[…] im Sinn führ[t], in Gedanken heg[t]“, zu nutzen, um „die Macht im Stillen zu behexen“ zu entfalten. Positiv gewendet, „[…] [heißt] Hag, Häg, Hägr [...] ein gewandter, in Ausrichtung seines Werks geschickter Künstler.“, dessen „Schnelligkeit“ den Rezipienten vermutlich ebenso leicht bestrickt. Man könnte also behaupten, dass die Sprachkunst Kants, sein sprachliches Geschick, hier in den Vordergrund rückt, indem Herder sein etymologisches Verfahren imitiert. Die Fußnote deutet ferner auf den „Hocuspocus“, den „Hägsa“ aufführt, voraus, den ich dem Leser hier zugunsten der „Schnelligkeit“ meines Arguments ersparen möchte. Ich würde jedoch behaupten, dass die lenkende Vorausdeutung auf den dann im Haupttext folgenden oder wiedereinsetzenden Argumentationsgang ein hervortretendes Merkmal der mitunter sehr langen Fußnoten bei Kant bildet (u. a. in „Das Ende aller Dinge“).
5
Herder, Ideen, in: FHA 6, S. 349, s. meinen Text S. 460ff.
6
Herder, Metakritik, a. O., S. 307; Seitenangaben zur „Metakritik“ in Klammern.
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Zum Abschluss ihres „Hocuspocus“ schenkt „Hägsa“ dem Jüngling ein „philosophische[s] Messer“ (308), das eine weitere Fußnote hegt, die Kant diesmal aus den „Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können“ zitiert, und die auf die Frage künstlerischen Geschicks oder Berufs zurückgreift. Das Kant-Zitat, das „Meißel und Schlägel“ sowie „Radiernadel“ gegeneinander führt, erhält im Haupttext das Pendant dreier Anti-Grazien, die „Jungfrauen“ – „Huldinnen“ – „Ungemüt“, „Modesucht“ und „Kabale“, die den Jüngling in sein „Buchstabenhaus“ (309) führen sollen. Insofern bleibt fraglich, ob die scharfkantige Klinge des philosophischen Messers (Occam’s Razor) graziöses Philosophieren befördert. Vielmehr scheint auch Kant die spitze (spitzzüngige) „‚Radiernadel‘“ gröberen Werkzeugen zu bevorzugen. Jedoch steht die „‚Radiernadel‘“ nicht allein als Metapher des „‚spekulative[n]‘“ Verstandes ein, sondern knüpft zudem die Verbindung zum künstlerischen Bereich, zum zur Malerei gehörigen Kupferstich, der den zurechtstauchenden Hilfsmitteln der Bildhauerei, „‚Meißel und Schlägel […]‘“, die hier allerdings lediglich „‚[…] dazu dienen, ein Stück Zimmerholz zu bearbeiten, […]‘“, als positives Bild entgegengesetzt wird. Die Fußnote hält den Raum der „‚Radiernadel‘“ (309), des Kupferstichs, frei, um auf alternative Gestaltungsmöglichkeiten des Wissens, etwa Gemälde, zu verweisen. Herder weiß es nicht einfach besser als Kant. Aber er hat einen Blick für Kants bestrickendes etymologisches Interesse und ahmt dessen Funktionalisierung der Fußnoten überzeichnend, überspitzend nach – führt damit vor, wie sie „die Macht im Stillen zu behexen“ (307) ausprägen. Ein Blick in den Anmerkungsapparat zur Vorrede der „Metakritik“ klärt damit auch darüber auf, dass die meisten (etymologischen) Verweise und Zitate sowohl Kants als auch Herders missing links ausbilden oder nur schwammige Quellenangaben geben.7 Zum Abschluss der „Vorrede“ hat eine erneute epistemologische Rahmung statt, die Verfahrensregeln angibt. Sie weist eine autorschaftszentrierte Lektüre zurück, da einzig die auf Textlektüre basierende Auslegung der sowohl kritischen als auch metakritischen Wende gerecht werden kann (310), die zudem auf redliches Zitieren verpflichtet. Sicher nimmt Herder der „Kritik der reinen Vernunft“ ihren Denkmalscharakter als „Buchstabendichtung“, welche den philosophisch-poetologischen Regeln der „Ordnung“, „Kürze“, „Bündigkeit und Klarheit“ (310) folgt, kaum ab. Dennoch schließt gerade die Polemik der „Buchstabendichtung“ ganz unpolemisch an Herders Überlegungen zur kreativen Sprachschöpfung und der Übergängigkeit von philosophischer und dichtender Sprache im Aufsatz „Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele“8 an. Die neue Rahmung adressiert auch die 7
Herder, Metakritik, Kommentar, in: FHA 8, S. 1143f. Seitenangaben zur „Metakritik“
8
Herder, Vom Erkennen und Empfinden, a. O., S. 330, 356; vgl. mein Kapitel „Über die
weiter in Klammern im Fließtext. Sprache der Theorie“.
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Empfänger der Metakritik um: „Männer[ ] und Jünglinge[ ]“, die sich nun weniger für die „kritische Schule“ als die „Nation“ begeistern. Sie werden zur Prosopopoiia ihrer selbst, ihr „Verstand“ adressiert sie und teilt sich zugleich durch sie mit.9 Nachdem sich die „kritische Philosophie“ überholt hat, formuliert sich somit ein politischer, zeitgebundener Appell, der das Kulturgut, das Zitat anderer Nationen (das elisabethanische England, die Traditionskritik eines Montesquieu und die Vorzeigephilosophen der Antike) als Gegenmodelle in sich einbettet (311f.). „The charm’s wound up.“ Das wiederholte Shakespeare-Zitat nimmt nochmals auf das „[B]ehexen“ Bezug, dem nun ein Ende gesetzt werden soll. Das Ende setzt mit der Einforderung verständlichen Schreibens ein, dem Herder sich – „[ü]berzeugt, daß jeder spekulative Begriff verständlich gemacht werden könne […]“ – auf dem Grundsatz der Redlichkeit beharrend verpflichtet. Seine Gegenspielerin ist eine die Sprache verunreinigende Dialektik (313), verkünstelte Sprache ein nationales Übel, da sie eigentlich als „Werkzeug ihrer Vernunft“ dienen sollte. „The charm’s wound up.“ Um dieses Motto abschließend zu bestätigen und das verhexende Verfahren zu negieren, stiftet Herder ein letztes Mal eine nicht mehr allzu gewagte Etymologie, die „Protestantismus“ von „protestier[en]“ ableitet – nutzt sie allerdings uneigentlich, indem er der „Metakritik“ des anhaltend skeptischen Protests allegorisch die „dialektischen Nebelkünste der Hägsa“ entgegensetzt.
ALLEGORIE
UND
M ETASCHEMA
Die Begriffe Allegorie und Metaschema stehen sich in Herders Aufsatz „Über Bild, Dichtung und Fabel“ sehr nahe. Dies scheint mir bedeutsam, insofern das Verb „metaschematisieren“ („metaschematisieret“) in Herders Schriften nur zwei Mal vorkommt, von einem „Begriff des Metaschematisierens“ nur bedingt gesprochen werden kann, da keine ausgereifte oder vertiefende Begriffsbildung (bei Herder) erfolgt.10 Seine Prominenz verdankt der Terminus primär seiner Anschließbarkeit an Kant, da „[...] sich der polemische Einspruch gegen Kants Schematismus-Begriff
9
Herder, Metakritik, a. O., S. 310f. Seitenangaben zur „Metakritik“ weiter in Klammern im Fließtext.
10 Vgl. Ulrich Gaier, Ralf Simon (Hg.), Vorwort zu: Zwischen Bild und Begriff. Kant und Herder zum Schema, München, 2010, S. 7-18, S. 8. In der Form „metaschematisieren“ taucht es in Herders Abhandlung „Über Bild, Dichtung und Fabel“ auf; vgl. Herder, FHA 4, S. 635; ferner in: Verstand und Erfahrung. Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft. Erster Teil. (1799), in: FHA 8, S. 418 („metaschematisieret“).
558 │S UBTEXTE DER M ENSCHHEITSGESCHICHTE
ablesen [lässt].“11 Das Vorwort sowie Gaiers Aufsatz im Band „Zwischen Bild und Begriff. Kant und Herder zum Schema“ informieren über die Vorgeschichte des Schematismus-Begriffs bei Herder, die allerdings nur bei wenigen Belegen einzuhaken vermag.12 Der biblische Bezug (auf Paulus) ist als begriffsgeschichtlicher Hintergrund hilfreich und für Herders Begriffsverwendung sicher einschlägig. Dennoch halte ich die terminologische Umgebung des Begriffs in „Über Bild, Dichtung und Fabel“ für wegweisend und zitiere den besagten Passus ausführlich: „Unser ganzes Leben ist also gewissermaßen eine Poetik: wie sehen nicht, sondern wir erschaffen uns Bilder. Die Gottheit hat sie uns auf einer großen Lichttafel vorgemalt; wir reißen sie von dieser ab und malen sie uns durch einen feinern, als den Pinsel der Lichtstrahlen in die Seele. Denn das Bild, das sich auf der Netzhaut deines Auges zeichnet, ist der Gedanke nicht, den du von seinem Gegenstande dir zueignest; dieser ist bloß ein Werk deines innern Sinnes, ein Kunstgemälde der Bemerkungskraft deiner Seele. [...] Hieraus ergibt sich, daß unsre Seele, so wie unsre Sprache, beständig allegorisiere. Indem sie nämlich Gegenstände als Bilder sieht oder vielmehr nach Regeln, die ihr eingeprägt sind, solche in Gedankenbilder verwandelt; was tut sie anders, als übersetzen, als metaschematisieren? Und wenn sie diese Gedankenbilder, die bloß ihr Werk sind, jetzt durch Worte, durch Zeichen fürs Gehör sich aufzuhellen und anders auszudrücken strebet; was tut sie abermals anders, als übersetzen, als alläosieren?“13
In erster Linie versucht der Text, Synonyme für denselben (oder ähnlich operierenden) Modus zu finden, um einen transitorischen Vorgang durch wechselnde Wörter vergleichbar treffend auszudrücken. Dabei erfolgt eine Verschiebung von einem Wort (Begriff) zum nächsten – ein Vorgang, den Herder zudem als epistemologisches Modell erläutert und für den er die begriffliche Klammer des Übersetzens entwirft. Von begrifflicher Klammer wäre insofern zu sprechen, als „übersetzen“ zweifach eingefügt wird, um die Varianten miteinander zu verschalten. Mit kunsttheoretischen Begriffen gesättigt, überträgt sich der doppelte Diskurs im zitierten Passus auf die Epistemologie, die nicht mehr von der „Poetik“ zu unterscheiden ist. Dennoch urteile ich nicht darüber, ob Epistemologie von neuem indirekt bezeichnet (umschrieben) oder substantiell als Poetik bestimmt wird. Das Zitat deutet eine differentielle Hierarchie von „Bild“ und „Gemälde“ an, sofern das bildende Vermögen auf die Erschaffung eines „Kunstgemälde[s]“ abzielt. Sowohl „Bild“ als auch „Kunstgemälde“ fungieren als Metaphern eines innerseeli11 Gaier, Simon, Zwischen Bild und Begriff, Vorwort, a. O., S. 8. 12 Ulrich Gaier, „Metaschematisieren? Hieroglyphe und Periodus“, in: Zwischen Bild und Begriff. Kant und Herder zum Schema, hg. v. Ulrich Gaier u. Ralf Simon, München, 2010, S. 19-53, s. S. 19-23. 13 Herder, Über Bild, Dichtung und Fabel, a. O., S. 635f.
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schen Prozesses, gedankliche Gemälde oder „Gedankenbilder“ zu erzeugen, der sich nicht in der perfektionierten, modifizierten oder schematisierten Darstellung vor dem inneren Auge erschöpft. Der innerseelische Vorgang wird nicht als schlichtes (natürliches) Abbildungsverhältnis vorgestellt, sondern über die künstlerische Metaphorik als artifizieller, mehrschrittiger, komplexer Sachverhalt ausgewiesen. Innerhalb des kunsttheoretischen Netzes übernehmen die Begriffe „Poetik“ sowie „allegorisiere[n]“ global steuernde Funktion (vgl. dazu die Parallelstellen im Allegorie-Kapitel und in Herders Schrift „Über das Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele“). Die „Poetik“ tritt – vornehmlich mit Rücksicht auf ihren regelgeleiteten Charakter – als Metapher des Lebens ein, während die Allegorie im Text „Plastik“ als Modus bildender Kunst („Ich kann sagen, dass bildende Kunst eine beständige Allegorie sei, denn sie bildet Seele durch Körper, [...].“)14 ausgewiesen, in der „Adrastea“ schließlich als Medium des Menschlichen hypostasiert wird: „Die Ausdruckvolleste Allegorie, die wir kennen, ist der Mensch.“15 Sowohl „Seele“ als auch „Sprache“ „allegorisiere[n]“ „beständig“ – wie es in „Über Bild, Dichtung und Fabel“ heißt – somit wird das Wesen des Menschen über Seelenvermögen sowie „Sprache“ charakterisiert. Demnach taucht die Allegorie in mehreren Texten (Kontexten) auf, erfüllt die Rolle eines Meta-Begriffs. Geraten „Poetik“ und „Leben“ in „Über Bild, Dichtung und Fabel“ zu austauschbaren Begriffen, geschieht dies in der „Adrastea“ mit der Verschaltung von „Allegorie“ und „Mensch“. Dem Terminus „metaschematisieren“ geht das allegorisierende Vermögen der Seele (im Text) voran, das der Modalsatz näher erläutert. Die funktionale Bestimmung der Allegorie nimmt eine erste Einschränkung vor, die übereilter Konkretion vorbaut. Die Seele „[sieht] Gegenstände als Bilder […] oder [verwandelt] vielmehr nach Regeln, die ihr eingeprägt sind, solche in Gedankenbilder […]“. Der Text richtet sich auf die Regelkonformität seelischer Aktivität, weshalb das ganze Leben als „Poetik“ umschrieben wird. Über das (mögliche) Ergebnis dieser Tätigkeit erfahren wir wenig. Allerdings enthüllt sich (auf anderer Ebene), worin Nähe und Konjunktion zu Kant bestehen. So könnte man argumentieren, in der Ausrichtung nach Regeln – und nicht in der konkreten, wie auch immer gestalteten Abbildung – verfahre die Seele schematisch – oder eben metaschematisch. Die Leistung der Seele, „in Gedankenbilder [zu] verwandel[n]“, wird doppelt umformuliert: „was tut sie anders, als übersetzen, als metaschematisieren?“ Es schließt eine weitere Erläuterung an, welche über die ominösen Gedankenbilder hinausgeht, sofern sie deren Transposition in ein Zeichensystem vornimmt: „[…] diese Gedankenbilder, [...], jetzt durch Worte, durch Zeichen fürs Gehör sich aufzuhellen und andern auszudrücken strebet“. Unabhängig davon, ob ein gradueller oder kategorialer Unterschied zwischen 14 Herder, Plastik, in: FHA 4, S. 319. 15 Herder, Adrastea (II. Bd., 4. Stück von 1802), a. O., S. 306.
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beiden – einmal innerseelischen, einmal lautlich ausgedrückten – Fassungen besteht, wird die Operation, welche den Transformationsprozess antreibt, erneut mit „übersetzen“ angegeben und begrifflich modifiziert: „was tut sie abermals anders, als übersetzen, als alläosieren?“16 Nun klärt Ulrich Gaier darüber auf, dass „alläosieren“ eine Fehlbildung darstelle, Herder „allöosieren“ hätte prägen müssen, um dem griechischen Wortstamm „verändern, anders machen“ zu entsprechen. Mehr am Rande weist Gaier auf die exponierte Stellung der Allegorie hin: „Alle drei Schritte, eine Schematisierung, eine Metaschematisierung, eine Alloiosis, sind Allegorien.“17 Die Allegorie wächst sich zum Meta-Modell epistemischer Prozesse aus, und wird zudem als funktionaler Modus der Sprache, eins ins andere zu übersetzen, vorgeführt. Unablässig stellt der Prozess der Episteme die komplexe Übertragung von innen nach außen, von Seele zu Körper, dem leisesten (gehauchten) körperlichen Ausdruck, zur Diskussion. Die Allegorie avanciert überdies zum Modell bildender Kunst, sofern sie jenes diffizile Verhältnis zwischen Körper und Seele auf mehreren Ebenen auszutragen sucht. Im Kontext der Schrift „Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele“ wurde das Problem des Übergangs, des commercium, ausführlich behandelt. Im Aufsatz „Über Bild, Dichtung und Fabel“ löst sich die fehlende Überbrückung im Zuge der argumentativen Verschiebung der Vorgänge ineinander auf: Seelische Verläufe werden über körperliche Bezüge („innigstes Sehen und Hören“) erläutert, körperliche Ge- oder Begebenheiten in seelische Mechanismen überführt (Sinneswahrnehmung wie sprachliche Kommunikation gedacht), indem die Metaphorik des je anderen Bereichs ausgeborgt wird (Mechanismus ließe sich daher bruchlos als seelische Metapher anwenden).18 Dass die chiastische Verschränkung der Metaphernfelder ausgereizt wird, erzeugt im Bereich der Episteme zunehmend den Eindruck, dass die Übergänge gradueller Natur sind, Seele und Körper sich nicht substantiell voneinander unterscheiden. Der Gedanke, verschiedene Sinne könnten voneinander borgen, sich gegenseitig ausprobieren oder einander einüben19, gehört zum epistemologischen Repertoire 16 Zitate: s. Herder, Über Bild, Dichtung und Fabel, a. O., S. 635f. 17 Gaier, Metaschematisieren?, a. O., S. 23. 18 Vgl. S. 309f. im Herder-Teil dieser Studie, das beispielhafte Zitat aus: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele: „So wie diese äußere Medien [Licht, Schall, K.K.] für ihre Sinne würklich Sprache sind, die ihnen gewisse Eigenschaften und Seiten der Dinge vorbuchstabieren: so, glaub’ ich, mußte Wort, Sprache zu Hülfe kommen, unser innigstes Sehen und Hören gleichfalls zu wecken und zu leiten.“ Herder, Vom Erkennen und Empfinden, a. O., S. 357f. 19 „Das Gesicht borgt vom Gefühl, und glaubt zu sehen, was es nur fühlte. Gesicht und Gehör entziffern einander wechselseitig: der Geruch scheinet der Geist des Geschmacks, oder ist ihm wenigstens ein naher Bruder.“ A. O., S. 349.
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der programmatischen Schrift über die menschlichen Seelenvermögen. Im Rahmen ihrer Synästhesie gehen die Sinne, handfeste oder bis zum Ätherischen geläuterte Sinnlichkeit und Geistiges ineinander über – unter allen erkenntnistheoretischen Paradoxien, die einer solchen Konzeption entspringen.20 Wie verträgt sich nun jene universale Synästhesie oder Übersetzbarkeit der Seele in Herders Aufsatz „Über das Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele“ mit den ihrem Metaschematisieren oder Allegorisieren angegliederten Ausschlüssen? „Der Gegenstand hat mit dem Bilde, das Bild mit dem Gedanken, der Gedanke mit dem Ausdruck, das Gesicht mit dem Namen so wenig gemein, daß sie gleichsam nur durch unsre Wahrnehmung, durch die Empfindung eines viel-organisierten Geschöpfs, das durch mehrere Sinne Mehreres auf Einmal empfindet, an einander grenzen.“21
Fungiert Synästhesie unter dem Losungswort „Mehreres auf Einmal“ als Lösung einer Wahrnehmungsstruktur, die in mehrere Schritte oder Aspekte der Erkenntnis zerfällt? Herder zufolge ließe sich der Zerfall im Grunde nicht denken, weil er ein künstliches Abstraktions-Produkt der Episteme darstellt, woher sein Versuch rühren könnte, jene Wechselbeziehungen innerhalb der Kunst zu denken. Das Zitat setzt zwei Pole in Relation, die sich in nichts gleichen (in keinem Analogieverhältnis stehen). Dabei scheint je einer seelischen Form, einer Form der Innerlichkeit, eine korrespondierende Ausdrucksform (der „Gegenstand“ dem „Bild“, das „Bild“ dem „Gedanken“, der „Gedanke“ dem „Ausdruck“, das „Gesicht“ dem „Namen“) zu entsprechen. Die parataktische Verkettung würde erlauben, eine Stufenfolge der Erkenntnis (oder deren Zerlegung in mehrere Schritte) herauszulesen. In diesem Falle wäre das „Bild“ als Netzhautbild lesbar, das der „Gegenstand“ dem Sinnesorgan vermittelt, und das zunehmend vergeistigt wird (wie das geschieht, weiß Herder nicht anzugeben). Am anderen Ende, dem innersten Punkt höchster Vergeistigung, 20 Vgl. meine Überlegungen auf S. 317. „Epistemologische Aufklärung funktioniert hier als Verschieben der Sinnesorte, der Überführung der Sinne ineinander – was streng genommen epistemologische Widersprüche provoziert. Probieren lernwillige Sinne den operativen Modus der jeweils anderen Sinne aus? Somit speiste sich deren Bezug zueinander nicht nur über den Gedanken der Reziprozität. Übt das Sehen das Tasten, übt es sich am (im) Tasten? Wie kann ein Sinn sich so (an)fühlen wie ein anderer Sinn oder den anderen Sinn gar ausprobieren? Die Überführung der Sinne ineinander scheint lediglich an Darstellungen nachvollziehbar. Die Illusion eines Füreinander-Eintretens authentischer Sinneseindrücke wird in der Kunst ausdrücklich. Für jenes epistemologische Experiment könnte eine Formel gemäß des ut pictura poiesis eintreten – der Modus der Darstellung oder Beschreibung orientiert sich an der bestimmte Sinnesallianzen entfaltenden künstlerischen Gattung.“ 21 Herder, Über Bild, Dichtung und Fabel, a. O., S. 636.
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„dem Gedanken“, schlägt der Prozess nochmals eine entgegengesetzte Richtung ein und wendet sich der Veräußerung, dem „Ausdruck“ durch die Sprache, zu. „Gesicht“ und „Namen“ gäben einer Konvention Ausdruck, die von der logischen (propositionalen) Struktur der Sprache abhängt, welche durch das Wort ist komplexe übergreifende Zusammenhänge benennt. Obgleich diese Lesart möglich ist, setzt sie sich nicht zwingend durch. Im Gegenteil suggerieren unmittelbarer Kontext und thematische Korrespondenz mit dem Aufsatz zum Erkennen und Empfinden, dass Ausdrucksformen, deren Quellen bzw. Resonanzen austauschbar sind, das „Bild“ als Netzhautbild, aber auch als Gedankenbild, zu adressieren wäre. Die Verkettung lässt sich jederzeit umkehren, wodurch rezeptive sowie (im Sinne der Aisthesis) konstitutive bzw. rezeptive und produktive (produktionsästhetische) Operationen in einem Zug erfasst würden (das „Bild“ als Produkt der Gegenstandswahrnehmung, der „Ausdruck“ des „Gedanken“ in der Dichtung usw.). Deren Gemeinsamkeit reguliert sich über ein Aneinander-Grenzen (dem kein gesondertes Zentrum zugeordnet ist), stiftet sich nicht über den gezielten Bezug vom einen zum anderen (so als ob das „Bild“ beispielsweise die allgültige Übersetzung des „Gegenstand[s]“ bereitstellen würde). Durch das Zusammenspiel der Operationen im „Geschöpf[ ]“ wird die Nähe, das Aneinander-Grenzen, gewährleistet. Die Nähe steuert den Konnex der Übersetzungsprozesse. Da eins mit dem anderen „so wenig gemein“ hat, können diese nicht als Vorgänge der Analogiebildung beschrieben werden, in denen die Äußerung ein analoges Moment des Gegenstandes, Bildes oder Gedankens aufnähme oder der Gegenstand ein Analogon in der Seele erzeugte. Unendliche Übersetzbarkeit oder Übertragung ist Herders Allegoriebegriff zufolge zwar gegeben. Sie erfolgt jedoch nicht über die (substantielle) Krücke des Analogons als Strohhalm optimistischer realistischer Erkenntnistheorie, sondern über das Modell der Allegorie, das metonymisch vorgeht. Das Verfahren der Allegorie bildet also das Metaschema der Episteme. Spiegelt sich das, was man der Sprache als Modell der Wirklichkeitserfassung zutraut, in deren Fassungen der Epistemologie wieder? Ohne die Auslotung der Sprache, der Übergänge zwischen philosophischem und poetischem Sprechen, lassen sich keine Aussagen zur Funktionsweise von Erkenntnis treffen. Hat man sich (so wie Kant) für ein sprachliches Register entschieden, entschlüpft man längst nicht dem allegorischen Modus der Sprache, der sich als Metaschema, als Verfahrensregel – hier sind wir Kant wiederum sehr nahe – über oder unter die Erfassung der Wirklichkeit legt und sich in Formulierung und Formelhaftigkeit der Theorie einschleicht.
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„ AN
DER
ANMUT K ETTE “
Am Laokoondiskurs entzündet sich die Frage nach der spezifischen Qualität des Tastsinns bzw. wird die Hierarchie der Sinne neu verhandelt. Aber nicht nur der Tastsinn, auch das Gehör wird als Welt bzw. ästhetische Qualitäten vermittelnder Sinn aus der synästhetischen Wahrnehmung des anmutigen, bewegt-unbewegten schönen Gegenstandes herausgefiltert. Bei Herder treten Stimme und Gehör als Medien des Sängers bzw. Dichters zunächst einmal zurück, um als sympathetische Träger eines dem Mitleid ähnlichen, aber eben körperlichen, mitreißenden moralischen Gefühls gewürdigt zu werden.22 Sowohl Tastsinn als auch Gehör stellen nun Sinne der Innerlichkeit zur Verfügung, die der distanzierten Abstraktion des Sehsinns entgegengesetzt werden. Insoweit lässt sich erklären, dass der Begriff des Gefühls bei Herder in der Forschung als doppeldeutig wahrgenommen wurde, als Tastsinn und inneres Gefühl.23 Folgt man der Argumentation Inka Mülder-Bachs24, dann kann Herder diese Differenzierung in eins fallen lassen, da die „imaginäre sinnliche Praxis“, das imaginäre Ertasten, das visuell, schließlich eingebildet nachzuvollziehen, zu reproduzieren sucht, was das Auge dem Gefühl zuvor abspenstig gemacht hat, eine „‚neue Logik […]‘“ in Gang setzt, die Tasten und Imagination, behände Rezeption und Produktion, letztlich „Kunst und Leben“, eigentümlich ineinander verkehrt. Das imaginative Ertasten, eigentlich eine sekundäre, künstlich hervorgerufene Erfahrung, stellt die „ursprüngliche Fühlerfahrung“ wieder her, die sich durch „Lebendigkeit“ auszeichnet. Am Kunstwerk, genauer bei Anblick und Umgang (mit) der Plastik, werden die Sinne dazu angeregt, einander auszuprobieren, den jeweils anderen Modus (wenn nötig im Geiste) zu erproben. Mülder-Bach umschreibt zunächst die konkret zu denkende „parasitär[e]“25 Nachahmung des tastenden Modus durch das Auge, das etwa versuchen könnte, mithilfe der Bewegung im Raum seinen Gegenstand zu umrunden: eine kulturelle Leistung, die gleichwohl verstellt.
22 Vgl. Joachim Gessinger, Auge & Ohr. Studien zur Erforschung der Sprache am Menschen 1700-1850, Berlin/New York, 1994, S. 77f. Meine Beobachtungen zu Herder bette ich an anderer Stelle in übergreifende Reflexionen zur Kulturwissenschaft ein. Vgl.: Kristina Kuhn, „‚an der Anmut Kette‘ – Allegorie und Gemälde als Medien in Johann Gottfried Herders historiographischer Epistemologie und Poetologie“, in: J. G. Herder: From Cognition to Cultural Science/Von der Erkenntnis zur Kulturwissenschaft, hg. v. Beate Allert, Heidelberg, 2016, S. 333-344. 23 Vgl. Zeuch, Umkehr der Sinneshierarchie, a. O., S. 17ff. 24 Mülder-Bach, Eine ‚neue Logik für den Liebhaber‘, a. O., S. 359f. 25 A. O., S. 351.
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Die Rückübertragung oder Restitution erfolgt dann als imaginäre Übertragung, als Tasten im Geiste.26 In Kunstprodukten selbst, so verstehe ich Herder, liegt diese Verschränkung sich gegenseitig imitierender, erprobender Sinne immer schon in die Realität umgesetzt vor, weshalb ihr Studium einer Erforschung der Sinnlichkeit, potentieller Synästhesien gleichkommt, die ohne deren Konkretion im Kunstwerk nicht möglich wäre, obgleich dies mehr oder minder harmonische Zusammenspiel in der sinnlichen Anlage des Menschen ohnehin statthat. Herders Eingangsworte zu „Über Bild, Dichtung und Fabel“ paraphrasieren den synthetischen Charakter menschlicher Sinnlichkeit folgendermaßen: „Der Mensch ist ein so zusammengesetztes, künstliches Wesen, daß, Trotz aller Anstrengung, in ihm nie ein ganz einfacher Zustand möglich ist. Zu eben derselben Zeit, da er siehet, höret er auch und genießt unvermerkt durch alle Organe seiner vielartigen Maschine Einflüsse von außen, die zwar größtenteils dunkle Empfindungen bleiben, jederzeit aber auf die Summe seines ganzen Zustandes ingeheim mitwirken.“27
Der Dunkelheit widerspricht keineswegs, dass die Empfindungen als ganzheitlich, darüber hinaus als identitätsstiftende Selbsterfahrung wahrgenommen werden.28 Beide Sinne, Gefühl und Gehör, lassen sich gewissermaßen nicht verschließen, weil sie unmittelbar an der Körpergrenze statthaben bzw. durch ein Loch in der Oberfläche des Körpers in diesen hineinführen. Die durch sie vermittelten Sinneseindrücke drängen sich auf und vergegenwärtigen jedes Mal die Peripherie – im Falle des Tastens die Grenzlinie – des eigenen Körpers, der sich über die Sinnesorgane sozusagen in die Welt fortsetzen, verlängern lässt. Die Trennung von innen und außen könnte insofern als kontig, räumlich, zudem als übergängig, begriffen werden. Sowohl für die Ästhetik als auch für die Epistemologie des achtzehnten Jahrhunderts generell stellt die (glaubwürdige) Vermittlung von innen und außen ein maßgebliches und unüberwindliches Problem dar. Aufgrund seines holistischen, am Sein orientierten epistemischen Konzepts beharrt Herder im Gegensatz zu Lessing bei aller Diversität und Ausdifferenzierung ihrer Sphären auf der Übersetzbarkeit der Künste ineinander. Eine solch gemeinsame Basis nimmt auch Kant an, sofern seine die schönen Künste betreffenden Ordnungsversuche weniger von Hierarchisierungen als von Vermischungen anheben. Obgleich die ehrliche Poesie bei ihm letztlich die ranghöchste Stellung einnimmt, avanciert die Malerei zur heimlichen Heldin seiner Kunstordnung: als Prinzip, das mehrere Künste übergreift, in ihnen wieder auftaucht. 26 A. O., S. 359. 27 Herder, Über Bild, Dichtung und Fabel, a. O., S. 633. 28 Mülder-Bach, Eine ‚neue Logik für den Liebhaber‘, a. O., S. 349.
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Jeder Übersetzungsversuch zwischen Künsten kann einzig als Experiment, als ein Ausprobieren, gedacht werden, das nie alle Merkmale des einen Mediums in die des anderen überführt, da Erkenntnis generell nur als Abstimmen der Sinne aufeinander, als wechselseitige Mitarbeit aller Sinne, gedacht werden kann. Meines Erachtens verkörpert oder metaschematisiert das Allegoriemodell diese und andere Übersetzungsleistungen, eine Feststellung, die Herder zudem selbst mehrfach trifft. Im Bereich der Aisthesis respektive der Kunst diskutieren seine Texte zur Allegorie insbesondere die Übersetzbarkeit zwischen Text und Bild, genauer: Beschreibung und Gemälde. Sie stellen die nicht völlig zu verwirklichende Parallelität der beiden fest und her, setzen deren Übertragung zudem experimentell vielfältig um: siehe dazu die inserierten Epigramme in der „Adrastea“, die sowohl „Allegorien der Rede“ als auch „Allegorien der Kunst“ vorführen, und speziell letztere im Medium der Schrift als einen „Hayn“ aufzustellen suchen (vgl. meinen Exkurs zu „Analogie oder Allegorie?“) oder auch den Versuch ornamentaler, adjektivischer Reihenbildung zur Evozierung des un-sichtbaren Parrhasischen Demos. Es handelt sich dabei (auch das lässt sich am Text vorgeführt entnehmen) anders als bei Symbol oder Analogie um eine Art gleichberechtigte, zurückübersetzbare Übertragung, die sich allezeit weitertreiben lässt, selbst wenn der Text das Medium Schrift letztlich nicht überwinden kann. Dass er versucht, sich selbst durch Anzitierung des Gemäldes zu übersteigen, haben die zahlreichen Illustrationen zu und aus den Reisebeschreibungen gezeigt, die mein Kapitel „Gemälde-Metaphorik“ unter veränderten medialen Bedingungen dem Text als Hyperlink inserieren konnte (und auch Kant schwebten diese vor dem inneren Auge vor). Während die Analogie als Verfahren, zwei Dinge29 in Bezug zu setzen, oder das Symbol als kondensierte und dennoch konkretisierte Essenz des Gegenstandes eine Seite der Übertragung, die ‚ursprüngliche‘ oder intellektuelle, bevorzugen, bestätigt gerade die Flüchtigkeit, der Wankelmut, der allegorischen Bedeutung Flexibilität und semiotische Toleranz allegorischer Verfahren. Ich weise darauf hin, dass meine Charakterisierung des Symbols unzureichend ist und die Diskussion des Symbolbegriffs im Kapitel zur Allegorie zumindest etwas näher ausgeführt wird. Ich vermute, dass die Verwechslung oder Vertauschung von Allegorie und Symbol in der Diskussion um 1800 dem Versuch entspringt, eine positive Symboldefinition zu formulieren, deren affirmative Eigenschaften Herder tatsächlich eher in der traditionellen, auf Allegorese verzichtenden, Form der Allegorie verwirklicht sieht. Das Prinzip allegorischer Reziprozität, unhierarchischer wechselseitiger, verwechselnder, vertauschender Übertragung, entspricht Wielands maßgeblichem Kompositionsprinzip in den
29 Allerdings häufig über eine vierstellige Matrix, vgl. Rudolph, Figuren der Ähnlichkeit. Johann Georg Hamanns Analogiedenken im Kontext des 18. Jahrhunderts, Tübingen, 2006, S. 26-30 [Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 29], S. 26-30.
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„Beyträge[n]“, das den Zustand zwischen Offensichtlichem und Verborgenem in der Schwebe hält. Die artistische, sensualistische (sensitive) Individualität bei gleichzeitiger Zusammenstimmung, die sich nicht aufhebende Parallelität von beidem, prägt auch Herders Konzept der Menschheitsgeschichte, das Übersetzbarkeit, vielmehr Allegorisierbarkeit, bei allen Dissonanzen predigt. Die Kunstgeschichte des doppelten Diskurses entfernt die Kunstgattungen, die verschieden ausdifferenzierten Vermögen entsprechen, voneinander, begrenzt sie räumlich und zeitlich, behauptet deren irreduzible Einzigkeit, während sie die Gattung Mensch demgegenüber zusammenführt, ihren Sinnesapparat im Ganzen adressiert, wenngleich ein Sinn manchmal nicht weiß, was der andere tut, einer den anderen verdeckt, ausblendet. Für den kunstsinnigen, die Menschheitsgeschichte bereisenden Wanderer bedeutet das: „Er passiert durch das Tor eines andern Sinnes und bekommt nach andrer Landesart und zu anderm Gebrauch auch ein anderes Gepräge.“30 Ohne die Analogie diesmal zu weit treiben zu wollen, scheint mir die Frage der Übersetzbarkeit bei allen Dissonanzen tatsächlich den Kern von Herders Entwürfen zur Menschheitsgeschichte sowie der Ästhetik zu betreffen. In der Menschheitsgeschichte manifestiert sich besonders der repräsentative Gebrauch wandelbarer „[…] Gestalten der Malerei, die eine Tafel der Zeit sind“, während die ertast- und erfühlbare „Skulptur“ ewige, da ursprüngliche Geltung herstellt.31 Die Passage zum Parrhasischen Demos32 wirft die Frage auf, wie die mannigfaltige, widersprüchliche Vielfalt eine Gruppe bilden könne, sie aufzureihen sei – ich erinnere daran, dass sowohl Herder als auch Winckelmann das Problem der Gruppenbildung die Allegorie betreffend aufnehmen33: Wie Wielands „Idee zu einem allegorischen Gemälde“ suggeriert, liegt die Auflösung immer schon in einer Mischung von Text, Bild, Ekphrasis und Zeichenanleitung bereit. Der Aufhebung der Innen-Außen-Differenz, der Übertragbarkeit sensualistischer Theorie – möglicherweise dem Verfahrensmodus der Allegorie – korrespondiert das Wirkungskonzept der Anmut, das einen zwar ungewissen, dafür umso vehementer eingeforderten Konnex stiftet, zudem eine Darstellungsweise entwickelt, die das schwer Verständliche, vorausgesetzte Unbewusste erleichtert, verständlich herüberbringt (so löst die Anmut die Pflicht theoretischer Verständigung im Falle Kants ein). Die Anmut gewährleistet im Idealfall nicht allein moralische, sondern auch epistemische Integrität, insofern eine Entsprechung von innen und außen, ihr 30 Herder, Über Bild, Dichtung und Fabel, a. O., S. 636. 31 Herder, Plastik, a. O., S. 276. 32 Herder, Ideen, a. O., S. 537. 33 Herder, Plastik, a. O., S. 324, vgl. meinen Text, S. 402f., zu Winckelmann s. meinen Text, S. 405f.
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Zusammenfall in der anregenden Darstellung, im ungezwungenen Auftreten (das natürlich keiner womöglich verstellenden Darbietung mehr bedarf) erreicht wird. Die Einheit von Darstellung und Dargestelltem, das auf jegliche Auslegung verzichten kann, stiftet sich freilich im Ideal ursprünglicher (griechischer) Allegorie, die uns nicht mehr zugänglich ist.34 Während jene Unzugänglichkeit in der „Plastik“ und der „Adrastea“ theoretisch, d. h. poetologisch, betont wird, versucht der Text sich poetisch in der Aufhebung jener Differenz: „O wer den Ring, den Ring der Göttin hätte, Der jeden Wahn verscheucht, der freundlich trüget, Vor dem der falschen Kunst, der Gorgonette, Die Larv’ entfällt, die schädlich uns vergnüget, Den Ring, in dem sich an der Anmut Kette, Das Innigste zum Innigsten sich füget; Er würde, frei von Dunst und Zauberbinden, Nur Wahrheit schön, nur hold die Güte finden.“
35
„[A]n der Anmut Kette“ hängt nicht etwa nur die regelgeleitete, die Episteme umschweifende Sprachschöpfung, „ – deren Ring durch Ein Gedankenpaar vertraulich keusch vermählt oft tausende gebar.“
36
sondern das ästhetische Verfahren allegorischer Vermittlung generell.
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Die folgende Anekdote, die sich aus einem Briefwechsel zwischen Iffland, Wieland und Böttiger entspinnt, beleuchtet den prekären Status der Allegorie als Repräsentationsmedium an der Epochenschwelle des ausgehenden 18. Jahrhunderts. An ihr lassen sich nicht nur die sich wandelnden poetologischen Grundlagen der „Allegorie“ aufzeigen, sondern diese verknüpfen sich subtil mit der politischen Diskussion der Allegorie. Als Ausblick verhandelt die Analyse das Bedeutungsspektrum der Allegorie im 18. Jahrhundert mit, indem sie Differenzen bzw. Überschneidungen zwischen Wielands und Herders Allegorieverständnis aufnimmt. Die Form anekdo34 Vgl. Herder, Plastik, a. O., S. 321f. 35 Herder, Adrastea, a. O., S. 294f. 36 Herder, Vom Erkennen und Empfinden, a. O., S. 356.
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tischer Aufarbeitung selbst spiegelt dabei die durch ihre Protagonisten in Umlauf gebrachten Ausformungen der Allegorie wider, die sich an der Differenz von bildender und literarischer Allegorie abarbeiten, insofern sie deren repräsentationale Reichweite ausloten. Am 16. März 1800 wendet sich August Wilhelm Iffland, Direktor des damaligen Berlinischen Nationaltheaters, mit folgendem Anliegen an Christoph Martin Wieland: „Der König bauet uns ein schönes großes Schauspielhaus. Nach meinem Wunsche, [...], wage ich es Sie zu bitten, daß ihr Genius, das // Gemälde uns schenken möge, was den großen Vorhang zieren soll!“37 Als ausgewiesenen Experten für mythologisches Bildmaterial – so scheint es – adressiert Iffland Wielands gestalterische Fähigkeiten, um an der Illustrierung des Vorhangs mitzuwirken. Beim monarchischen Spender der neuen Kulturstätte handelt es sich um Friedrich Wilhelm III., der den Auftrag zum Vorgängerbau des berühmten Gebäudes von Karl Friedrich Schinkel am Gendarmenmarkt an Carl Gotthard Langhans (architektonisch verewigt im Brandenburger Tor) vergibt. Nicht gerade begeistert über dieses Ansinnen, konsultiert Wieland den Theaterkritiker Karl August Böttiger und erhofft sich dessen „Bedauren“ und Rat. „Warum muß ich doch in meinen alten Tagen immer bald auf diese bald jene Art [...] aufgestört und in Dinge verwickelt werden, die mich nichts // angehen und für die ich weder Talent noch die übrigen Requisiten habe? Bedauren Sie mich und rathen Sie mir.“38 Die Hoffnung auf konzeptionellen Rat speist sich aus einem ganz grundsätzlichen Bedenken bezüglich der (allegorischen) Repräsentation des Herrscherpaares Friedrich Wilhelm III. und seiner (auch im neunzehnten Jahrhundert noch kultisch verehrten) Gattin Luise von Preußen. „Ich sehe leicht voraus, daß man sich zu Berlin an der nicht zu läugnenden Unfüglichkeit, einen jungen König der ganz und gar keinem antiken Götter u Menschen Vater ähnlich sieht, und eine junge Königin, welche besser eine Hebe oder eine der Grazien vorstellen könnte, als Jupiter u Juno aufzustellen, mächtig stoßen, und daß schon dieser einzige Umstand das Ganze inacceptabel machen wird. Ich glaube, aus mancherley Gründen, Hundert gegen Eins wetten zu können, daß die beiden Majestäten selbst [...] sich diese Apotheose, aller Antiken und Antiquarien ungeachtet, sehr verbitten werden. Was ist also zu thun?“39
37 Wielands Briefwechsel, hg. v. d. Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Siegfried Scheibe, Fünfzehnter Band, Erster Teil, Juli 1799-Juni 1802, Berlin, 2004, S. 171f. (Nr. 140). Titelgebendes Zitat: Nr. 168, S. 203. 38 A. O., Brief vom 1./2. Mai 1800, S. 196-198 (Nr. 164). 39 A. O., S. 196f.
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Das junge Paar bevorzugte einen eher schlichten (bürgerlichen) Lebensstil, Friedrich Wilhelm III. richtete sich dezidiert gegen den höfischen Pomp seines Vaters Friedrich Wilhelm II. Nicht allein die Unähnlichkeit wächst sich zum Problem aus („Ein Jupiter ohne Chevelure u Bart ist kein Jupiter; und // Friedrich Wilhelm III. mit einem Jupitersbart u Haupthaar würde sich lächerlich travestiert glauben.“40), sondern Wielands Vorahnung rührt aus Friedrichs Umgang mit der antikisierenden Darstellung selbst. So verbannte Friedrich Wilhelm III. eine angesichts der jungen Luise und Friederike von Mecklenburg-Strelitz vom begeisterten Vater in Auftrag gegebene Plastik, die „Prinzessinnengruppe“ Johann Gottfried Schadows, in einen Nebenraum des Berliner Schlosses. Aus derselben Begeisterung heraus forcierte Friedrich Wilhelm II. auch die Hochzeit seiner Söhne mit den beiden Schwestern. Gerade an der graziösen Darstellung des Geschwisterpaares in natürlicher Haltung und üppiger, ihre weiblichen Formen ebenso verdeckender wie betonender Draperie nimmt der König Anstoß. Insbesondere nach der unehelichen Schwangerschaft der nach freudloser Ehe verwitweten neunzehnjährigen Friederike scheint das Bildnis ungezwungener Jugend nicht mehr tragbar. Dabei wäre es geradezu als Allegorie der Jugend oder des Frühlings (mit dem Attribut eines aus stilistischen Gründen zügig aus dem Entwurf eliminierten Blumenkorbs) lesbar. Gewand und Faltenwurf weisen beide gerade trotz ihrer Bekleidung als zwei Grazien aus, unter deren spärlicher Hülle die Leichtigkeit der Bewegung und Geschmeidigkeit der jungen Glieder sichtbar wird. Nicht von ungefähr zieht Wieland also die Grazie der Juno vor – so trugen Schönheit und die auf höfische Etikette verzichtende Grazie Luisens zu ihrer Beliebtheit beim Volk und ihrem anhaltenden Ruhm bei. Aus dem Notbehelf, eine Schwellung an Luisens Hals zu verdecken, ging zudem eine oft kopierte Modeerscheinung hervor; die Verehrung der Herrscherin lässt ein Detail (die Hals- oder Kinnbinde) zum modischen Vorbild werden (ein Detail übrigens, das der von Wieland zu Rate gezogene Böttiger kritisch verspottete, insofern es künstlerischer Idealisierung zuwiderlief). Nach einem weiteren Bedenktag und dem Vorschlag, „den König u die Königin ganz aus dem Spiel zu lassen, und eine Art von Minerva, als allegorische Personifikazion der Preußischen Regierung, [...], statt derselben, aufzustellen?“, da „man sich zu Berlin an dem allegorischen Götterpaar stoßen werde“, fordert Wieland nun Böttigers Expertise und Komplizenschaft ein, um das Problem der Unähnlichkeit und überzogenen Apotheose anzugehen. „Wie wenn Sie in einer apologetischen Note aus dem Schatz Ihrer antiquarischen Kenntnisse durch Beyspiele bewiesen, daß in der Idealischen Welt der Kunst die Könige nicht so wohl Repräsentanten der Götter // als die Götter Repräsentanten der Könige sind – In der Bildersprache der Kunst bezeichnet also Jupiter einen König, er sey jung oder alt, bärtig oder kahl, 40 A. O., S. 197.
570 │S UBTEXTE DER M ENSCHHEITSGESCHICHTE denn König ist König und als solcher weder alt noch jung: die Chevelures und der Bart hingegen sind wesentliche Attribute Jupiters. Sie können also, wenn Jupiter als Repräsentant eines Königs in einem allegorischen Gemählde gebraucht wird, zwar nicht weggelassen werden, bedeuten aber auch nichts weiter als sich selbst, nehmlich das Haupthaar u den Bart Jupiters nicht des Königs; oder, mit andern Worten: das Tertium comparationis, worauf sich die Repräsentierung eines Königs der Menschen durch den mythologischen König der Götter gründet, liegt lediglich u allein in der königlichen Würde, Majestät und Allgewalt, [...]. Sollte dieses als ein allgemein gültiges Kunst-Postulat angenommen werden können: so käme es hier bloß auf die Frage an: ob beygelegte Idee eines Gemähldes pp. in keinem Stücke gegen die Gesetze der allegorischen Kunst anstoße [...].“41
Obgleich Wieland seinem eigenen Urteilsvermögen in der Sache nicht zu trauen scheint, liegen mit diesen kurzen Einlassungen sowohl Überlegungen zur Herrscherrepräsentation in nachabsolutistischer Zeit (kurz nach Ende der französischen Revolution) als auch zur Theorie und Funktion der Allegorie vor, deren zwei Teile – ähnlich der Metapher – über ein „Tertium comparationis“ aneinander gebunden werden. Das „Tertium“ „in der königlichen Würde, Majestät und Allgewalt“ vermag die äußerliche Unähnlichkeit von Jupiter und Friedrich Wilhelm III. zu überwinden. Die Kunst-Theorie, die Regeln künstlerischer Darstellung („als ein allgemein gültiges Kunst-Postulat“), beugt politischen Verstrickungen, dem politischen Affront der Majestätsbeleidigung, vor. In dieser Absicht werden die poetologischen Reflexionen zur Allegorie angepasst, sie funktioniert metaphorisch – während Herder in seinen Überlegungen zur Allegorie erstens ihren historischen (einmalig griechischen und vergangenen) und in diesem Umfeld direkt bedeutenden Charakter sowie zweitens die Verfallsbewegung der Allegorese betont.42 Dennoch vermag die klassische, antikisierende Darstellung auch bei der aktualisierenden Anpassung nicht auf die Attribute Jupiters zu verzichten. Die Dissonanz der Darstellung scheint nicht allein in der Differenz von Alter und Jugend bzw. Haar- und Bartpracht begründet. Der Kunstgriff, demzufolge „die Götter Repräsentanten der Könige sind“, ihre Attribute hingegen „nichts weiter als sich selbst“ bedeuten und von der metaphorischen Nuance „königliche[ ] Würde, Majestät und Allgewalt“ ausgestochen werden, erzeugt wiederum eine merkwürdige Asymmetrie zwischen der Würde der Götter und des Herrschers, die es 41 Zitate a. O., S. 197f. 42 Vgl. Johann Gottfried Herder, Plastik, a. O., S. 321-322: „Diese Attribute waren so wenig Allegorie [...]; historische, individuelle Kennzeichen warens, [...]. Sie bedeuteten, aber keine Abstraktion; [...].“ „Es war meistens ein historischer Umstand, der dem Gott einen eignen Namen gab [...]. Je feiner meistens die Auslegung der Allegorie, desto unwahrer. – “ Vgl. auch: Herder, Kalligone, in: FHA 8, S. 958. Übrigens halte ich es keinesfalls für überzeugend, dass Herder Symbol und Allegorie miteinander verwechselt.
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weiter zu verfolgen gilt. Voller Zweifel gegenüber Böttiger und auf dessen Rat angewiesen, setzt Wieland nun an Iffland gerichtet „[…] dabey folgende Postulate, als Etwas worüber wir ohne Zweifel einverstanden sind, voraus: 1) Das Gemählde, das den großen Vorhang des neuen Königlichen Schauspielhauses zieren soll, muß nicht Historischen, sondern Allegorischen Inhalts seyn; // 2) Die Allegorie muß sich zunächst auf die Erbauung des Schauspielhauses, und vornehmlich auf den König als Freund und Beschützer der schönen und wohlthätigen Künste des Friedens (auch mit einiger Rücksicht auf den gegenwärtigen Zeitpunkt) beziehen;“43
Dabei hebt das zweite Postulat die Forderung des ersten auf, insofern die eingeforderte Allegorie auf ein konkretes historisches Ereignis („die Erbauung des Schauspielhauses“) gemünzt und zudem „mit einiger Rücksicht auf den gegenwärtigen Zeitpunkt“ als Widmung an den „König als Freund und Beschützer der schönen und wohlthätigen Künste des Friedens“ adressiert wird. Der Zusatz „des Friedens“ weist den Herrscher nicht allein als Kunstliebhaber44 aus, sondern lässt sich als zeitlich gebundener politischer Appell lesen, den Frieden im Land mithilfe der Kunst oder über die Kunst hinaus abzusichern. Die politische Neutralität Friedrich Wilhelm III., besonders Frankreich gegenüber, sicherte den Frieden Preußens tatsächlich nur in dieser frühen Phase seiner Regentschaft ab, und erwies sich im Anschluss als problematisch (dafür gibt der spätere Entwurf eines Standbildes, der Luise mit Napoleon in Tilsit zeigt, beredtes und verklärtes Zeugnis ab). Dass der Frieden Preußens kurz nach der französischen Revolution und der Machtübernahme Napoleons gefährdet schien, die Person Friedrich Wilhelms III. zudem (fälschlicherweise) als Hoffnungsträger eines gemäßigten (reformatorischen) Wandels einstand45, bindet die allegorische Widmung durch den Zusatz an die konkrete politische Situation zurück. Das dritte „Postulat“ wiederum lässt sich als poetologische allegorische Vorschrift lesen, die auf eine bereits von Iffland geltend gemachte Forderung46 Rücksicht nimmt und darin grob mit Herders Eckdaten zur Allegorie übereinstimmt: „3) Die Erfindung muß zwar auf eine edle Art einfach, das ist einen einzigen wahren Hauptgedanken verständlich bezeichnend und ohne überflüssige Parerga darstellend, aber doch auch – da der Vorhang 40 Fuß breit seyn wird, reich genug seyn, um einen gehörigen Theil einer so beträchtlichen Fläche auszufüllen.“ 43 Wielands Briefwechsel, a. O., S. 202-206 (Nr. 168), Brief vom 6. Mai 1800. 44 Der jedoch eher Gemälde Kaspar David Friedrichs als die antikisierende „Prinzessinnengruppe“ bevorzugte. 45 Das neugebaute Schauspielhaus wurde als Ort des Bürgertums verstanden, ein „Nationaltheater“, das 800 Plätze mehr als sein Nachfolgebau bot. 46 Wielands Briefwechsel, a. O., S. 194 (Nr. 161) vom 25. April 1800.
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Simplizität, aber auch ein praktisch begründetes rechtes Maß treten als Grundfesten der Allegorie ein (vgl. Herder, „klein, simpel, schmal umründet“)47, und insofern berücksichtigt auch Wieland die mediale Übereinstimmung von Darstellung und Medium auf beschränktem bzw. gut ausgenutztem Raum. Zugleich bieten die fokussierten Medien Gestaltungsbeispiele („Muster“), die auf die kultur- und kunsthistorische Herkunft der Allegorie zurückverweisen: „4) In Hinsicht auf Erfindung, Komposizion und Ausführung scheinen für Gemählde dieser Art die noch vorhandenen allegorischen Darstellungen auf antiken Denkmählern, Münzen, Gemmen, Bas-reliefs u. dergleichen vorzüglich aus der bessern Zeit der alten Römischen Kaiser, die schicklichsten Muster abzugeben.“
Bevor Wieland nun seine „Idee eines allegorischen Gemähldes“48 unterbreitet, hält er jedoch weitere Vorbemerkungen bzw. „einen kleinen Nachtrag“ für nötig. Obwohl er die Berücksichtigung seiner Angebote anheim stellt, beharrt er darauf, „die vorgeschlagenen Antiken Bilder zweckmäßig zu benutzen.“49 Neben den „Hauptgedanke[n]“ treten Verweise auf (anderswo vorfindliches) Bildmaterial.50 „Der Hauptgedanke, [...]: Dank der Musen und der Friedenskünste Ihrem königlichen Beschützer und Beförderer Friedrich Wilhelm III. und der Königin, [...] als Stiftern des neuen National-Schauspielhauses dargebracht. Die Scene des Gemäldes ist der oberste über die Wolken emporragende Teil des Olymps oder bestimmter eine Vorhalle des Palastes Jupiters mit einem dazu gehörigen großen offenen Platz. Unter der Vorhalle der König und die Königin der Götter, in antikem Kostüm auf einem Bisellium sitzend, als ob sie in dem Augenblick vor dem Momente, den das Gemälde darstellt, den gegenüber einen Reihentanz schließenden Grazien und Horen zugesehen hätten. […] [hier gibt Wieland einen Bildverweis, K.K.] Der Genius des Friedens oder der Friedenskünste mit zwei Kränzen, einen von Olivenblättern und einen von Myrten in den Händen, schwebt aus dem Äther herab gegen das Götterpaar, als ob er sie bekränzen wolle. Ein anderer Genius überreicht dem Götterkönig eine Tafel (oder halb 47 Herder, Plastik, a. O., S. 322: „Gemme“, „Münze, „Bas-relief“. Vgl. auch Herder, Adrastea, Zweiter Band, Viertes Stück (1802): II. Früchte aus den sogenannt-goldnen Zeiten des achtzehnten Jahrhunderts, a. O., ab S. 290, S. 298: „[…] im engen Cirkus einer Allegorie […]“, „vielmehr die Einfalt, [...], der Wink, [...], die Leichtigkeit, mit der sie, ohn’ Ein Überflüssiges, ein Weniges und das Wenigste zu jenem Punkt der Erinnrung ordnen, [...].“ 48 Zitate: Wielands Briefwechsel, a. O., S. 203. 49 A. O., S. 204. 50 Eine Strategie, die Herder zunehmend verfolgt, sofern er sich etwa in den „Ideen“ mit – zwischen Ekphrasis und tatsächlichem Bild changierenden – Gemälden aus Reisebeschreibungen auseinandersetzt.
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aufgeschlagene Rolle), worauf (in gehöriger Nähe) der Aufriß des neuen Schauspielhauses zu erkennen ist. [erneuter Bildverweis] Verschiedene kleine Genien, als schöne Kinder gebildet und die zur Schauspielkunst gehörigen darstellenden Künste bezeichnend, spielen auf den Wolken, die den hervorragenden Olymp umwallen, mit Larven und anderen Zubehörden der tragischen, komischen und lyrischen Musen. [Bildverweis] Dem Götterpaar gegenüber tanzen die Grazien, leichtbekleidet und rosenbekränzt, mit den Horen Hand in Hand einen edlen und zierlichen (ja nicht hüpfenden) Reihentanz.“
Zwischen die Beschreibung der Darstellung tritt das unsichtbare sichtbare Bildmaterial, auf das der Text nur verweisen kann. Es soll dem Maler im wahrsten Sinne des Wortes als Vorbild dienen. Die Beschreibung verweist auf einen Fundus und konkrete, bereits existierende Abbildungen, etwa der „Tischbeinschen Vasensammlung“ (die von Johann Heinrich Tischbein aufgearbeitete Antikensammlung von Sir William Hamilton) oder Winckelmanns „Monumenti Inediti“. Insgesamt wird auf sechs verschiedene Bildquellen verwiesen (es steht zu vermuten, dass sich jener Fundus den „antiquarischen Kenntnisse[n]“ Böttigers verdankt). Sie dienen dazu Plastizität zu erzeugen, die Teile der Gesamtszene zu illustrieren, die selbst aus einzelnen Szenen besteht. Dabei fungiert nicht nur die genaue Quellenangabe, sondern auch die Wiedergabe grober Züge der andernorts verzeichneten Bilder als Hilfsmittel, sie dort aufzufinden und zu identifizieren: „Die Scherzi der kleinen Genien wünschte ich nach den anmutigen Vorstellungen in den ‚Pitture d’Hercolano‘, Tom. I, tav. 30-38 (unter anderem auch die Nr. 1, tav. 24, wo ein Genius den anderen mit der Maske schreckt) [...] nachgeahmt zu sehen.“51 Somit gibt Wieland ein (neu zusammengesetztes) sprachliches Gemälde ebenso wie die Ekphrasis bereits umgesetzter Bilder wieder, durch deren Verbund die „Idee eines allegorischen Gemäldes“ in die Tat, d. h. auf die Leinwand umgesetzt werden soll. Einerseits verstehen sich die Quellenangaben als vorläufige schriftliche, imaginäre (und doch konkrete) Vorschläge eines Kunstkenners, der selbst nicht zu malen in der Lage ist. Dennoch begreift Wieland sich als Autor dieser Zusammenstellung oder schriftlichen Kollage, und fordert daher seinerseits den gemalten Entwurf (Skizze) ein, um sich von der zweckmäßigen Nutzung der „Antiken Bilder“ zu überzeugen. Trotz künstlerischer Freiheit, die er dem Maler gleichermaßen zugesteht, wie er sie von ihm einfordert („keine sklavischen Kopeyen“, „[…] mit gehöriger Freyheit u Geschmack so nachzuahmen zusammenzusetzen und zu behandeln wissen, daß sie unter seiner Hand und durch seinen Pinsel Geist und Leben erhal51 Le Pitture Antiche D’ Ercolano E Contorni Incise Con Qualche Spiegazione. Tomo Primo, Napoli, 1757. Es handelt sich um den dritten Bildverweis, zu sehen auf Pag. 181; Tafelzählung erfolgt nach römischen Ziffern. Zitate: Wielands Briefwechsel, a. O., S. 205f. Der erste Bildverweis schließt nochmals die entbehrliche Bemerkung ein, „daß die Götter ewig jung sind [...].“ A. O., S. 205.
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ten.“), bittet er sich die Kontrolle des Werks aus: „[...] bevor an das Werk selbst Hand angelegt werden sollte, eine leichte Esquisse von Selbigem mitgetheilt werde;“ Unter dem Deckmantel von „Verschönerung“ und „Vollkommenheit des Ganzen“ soll die Skizze Wieland dazu dienen, an der malerischen Umsetzung teilzuhaben (in sie eingreifen zu können), um zu kontrollieren, „wie Er eine Mahlerische Komposizion aus meiner Poetischen machen wird“.52 Insofern diese Bemerkung die Machtverteilung zwischen Maler und Poet auszutarieren sucht, greift sie den Komplex ut pictura poiesis auf, in dem die Allegorie (immer schon) als Zusammengesetztes von Schrift und Bild, Sprachgemälde, Ekphrasis und Bildverweis (ohne den auch Herder im Dickicht jener Verschränkungen nicht auskommt) auftaucht – während Herder den Schluss zieht, dass die bildende auf die dichtende Allegorie angewiesen sei.53 Jedoch sind die Bilder nicht in den Schriftwerken zu sehen, sondern kommen allenfalls als Beschreibung (Ekphrasis) vor. Damit eröffnet sich ein imaginäres, aber auch analytisches Potential der unsichtbaren Bilder, die über den Verweis aus dem Buch hinaus auf die Welt da draußen zielen (etwa über die Krücke von anzitierten Bildern aus Reisebeschreibungen in Herders „Ideen“). Nicht nur die Machtverteilung zwischen Maler und Poet, sondern auch diejenige zwischen Königen und Göttern steht in dieser kurzen Anekdote des Briefwechsels zur Disposition und kondensiert in der Frage: Wer repräsentiert wen? Nicht zuletzt gereicht das Herauswinden aus der Frage, ihre gezielte Lenkung zum Staatsstreich ästhetischer Diplomatie, um keine Eitelkeiten zu verletzen und ganz am Rande politischen Rat zu erteilen (oder zumindest politische Wünsche zu äußern). Das Medium Allegorie reüssiert anekdotisch sowohl als Gefahr als auch Rettung im politisch-ästhetischen Diskurs um 1800. Soweit zufrieden mit Wielands Vorschlag, sichert Iffland (in einem Brief vom 29. Mai 1800) zu, „das Projekt dem Herrn Geheimenrath Langhans zu übergeben, damit Herr Mahler Kimpfel, die Skizze entwerfe, welche sogleich Ihnen zugesendet werden wird.“54 Der Neujahr 1802 eingeweihte Neubau des „Nationaltheaters“ brannte bereits am 29. Juli 1817, „nach einer Probe zu Schillers ‚Räubern‘“, vollständig aus.55 52 A. O., S. 204. 53 Vgl. Herder, Adrastea, a. O., S. 303: „Dies um so mehr, da die Kunst selbst ihre bildliche Begriffe der Poesie allein zu danken hat und ohne sie ganz unverständlich spräche.“ „Nicht also von der zeichnenden oder bildenden Kunst empfängt die Dichtkunst Gesetze; [...].“ 54 Wielands Briefwechsel, a. O., S. 215 (Nr. 182). 55 Versucht man der Gestaltung des infragestehenden Vorhangs nachzuspüren, erhält man folgende Auskunft: „‚Der Vorhang, welcher das Theater umschließt und wie eine mit Hautelisse[ ]-Tapeten bekleidete Wand den Bogen der Ellipse durchschneidet, ergötzt das
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Auge durch die lichtgrünen, reich gewirkten Arabesken, welche das mittlere Gemälde dreier Musen gleichsam als ein Rahmen einfassen.‘“ Inwiefern Wielands Entwurf Verwendung fand, bleibt demnach fraglich. Karl Bachler, Gemalte Theatervorhänge in Deutschland und Österreich, München, 1972, S. 71.
Literatur- und Medienverzeichnis
P RIMÄRLITERATUR Ich zitiere im Falle Herders, soweit möglich, die Klassikerausgabe, durch FHA plus Band- und Seitenangabe abgekürzt. Kant zitiere ich aus der Akademieausgabe, durch KAA mit entsprechender Band- und Seitenangabe, Wielands Gesammelte Schriften durch WWA (Ausgabe der Weidmannschen Buchhandlung) mit Abteilungs- und Bandangaben. Kurztitel werden im Verlauf der Arbeit gesondert festgelegt, bezüglich Wielands „Beyträge[n]“ bitte die Erstnennung vergleichen, welche die Einzeltitel aufführt. Sofern andere Medien in Buchform (vor allem Gemälde und Kupferstiche) gedruckt vorliegen, werden sie in der Regel nicht gesondert aufgeführt, vgl. dazu dann die entsprechenden Fußnoten.
J OHANN G OTTFRIED H ERDER Herder, Johann Gottfried, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, in: Werke in 10 Bänden, Bd. 1: Frühe Schriften 1764-1772, hg. v. Ulrich Gaier, Frankfurt am Main, 1985, S. 695-810. — Adrastea, in: Werke in 10 Bänden, Bd. 10, hg. v. Martin Bollacher, Frankfurt am Main, 2000, Zweiter Band, Viertes Stück (1802), S. 285-374. — Adrastea, Neuntes Stück des fünften Bandes, erstes Stück, in: Sämmtliche Werke, Bd. 24, hg. v. Bernhard Suphan, Weidmannsche Buchhandlung, Berlin, 1886, S. 178-416, S. 229-246: I. Von der Natur und dem Ursprunge des Epos., ff. [Reprographischer Nachdruck 1967]. — Adrastea, Zweiter Band, Viertes Stück (1801/1802), in: Sämmtliche Werke, Bd. 23, hg. v. Bernhard Suphan, Weidmannsche Buchhandlung, Berlin, 1885, S. 325-329 [Reprographischer Nachdruck 1967]. — Älteres Kritisches Wäldchen, in: Werke in 10 Bänden, Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767-1781, hg. v. Gunther E. Grimm u. Martin Bollacher, Frankfurt am Main, 1993, S. 11-55.
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— Alte und neue Allegorie, in: Sämmtliche Werke, Poetische Werke, Bd. 5 [Bd. 29 der Gesamtausgabe], hg. v. Berhard Suphan, Weidmannsche Buchhandlung, Berlin, 1889, S. 51 [Reprographischer Nachdruck 1968]. — Anmerkungen über das griechische Epigramm [Anmerkungen über die Anthologie der Griechen, besonders über das griechische Epigramm], in: Werke in 10 Bänden, Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 17741787, hg. v. Jürgen Brummack u. Martin Bollacher, Frankfurt am Main, 1994, S. 499-548. — Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, in: Werke in 10 Bänden, Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774-1787, hg. v. Jürgen Brummack u. Martin Bollacher, Frankfurt am Main, 1994, S. 9-107. — Briefe zu Beförderung der Humanität, 84. Brief, Drittes Fragment, in: Werke in 10 Bänden, Bd. 7: Briefe zu Beförderung der Humanität, hg. v. Hans Dietrich Irmscher, Frankfurt am Main, 1991, S. 466-474. — 95. Brief, Siebentes Fragment: Schrift und Buchdruckerei, in: Werke in 10 Bänden, Bd. 7: Briefe zu Beförderung der Humanität, hg. v. Hans Dietrich Irmscher, Frankfurt am Main, 1991, S. 525-530. — Dithyrambische Rhapsodie über die Rhapsodie kabbalistischer Prose, in: Werke in 10 Bänden, Bd. 1: Frühe Schriften 1764-1772, hg. v. Ulrich Gaier, Frankfurt am Main, 1985, S. 30-39. — Entwurf zu einer Denkschrift auf A. G. Baumgarten, J. D. Heilmann und Th. Abbt, in: Werke in 10 Bänden, Bd. 1: Frühe Schriften 1764-1772, hg. v. Ulrich Gaier, Frankfurt am Main, 1985, S. 677-681. — Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: Werke in 10 Bänden, Bd. 6, hg. v. Martin Bollacher, Frankfurt am Main, 1989. — Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Text, in: Werke, Bd. III/1, hg. v. Wolfgang Pross, München/Wien, 2002. — Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Kommentar, in: Werke, Bd. III/2, hg. v. Wolfgang Pross, München/Wien, 2002. — Johann Winkelmann, in: Werke in 10 Bänden, Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767-1781, hg. v. Gunther E. Grimm u. Martin Bollacher, Frankfurt am Main, 1993, S. 677-689. — Journal meiner Reise im Jahr 1769, in: Werke in 10 Bänden, Bd. 9/2: Journal meiner Reise, Pädagogische Schriften, hg. v. Rainer Wisbert, Frankfurt am Main, 1997, S. 9-126. — Kalligone, in: Werke in 10 Bänden, Bd. 8: Schriften zu Literatur und Philosophie 1792-1800, hg. v. Hans Dietrich Irmscher u. Martin Bollacher, Frankfurt am Main, 1998, S. 641-964. — Kritische Wälder oder Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend, nach Maßgabe neuerer Schriften. Erstes Wäldchen Herrn Leßings
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Laokoon gewidmet, in: Werke in 10 Bänden, Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767-1781, hg. v. Gunther E. Grimm u. Martin Bollacher, Frankfurt am Main, 1993, S. 57-245. — Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume, in: Werke in 10 Bänden, Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774-1787, hg. v. Jürgen Brummack u. Martin Bollacher, Frankfurt am Main, 1994, S. 243-326. — Über Bild, Dichtung und Fabel, in: Werke in 10 Bänden, Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774-1787, hg. v. Jürgen Brummack u. Martin Bollacher, Frankfurt am Main, 1994, S. 631-677. — Ueber die vorstehenden Parabeln und die nachfolgenden Gespräche, in: Herders Werke. Funfzehnter Theil. Zerstreute Blätter. Hg. […] v. Heinrich Düntzer., Berlin, 1879, S. 245-252. — Verstand und Erfahrung. Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, in: Werke in 10 Bänden, Bd. 8: Schriften zu Literatur und Philosophie 1792-1800, hg. v. Hans Dietrich Irmscher u. Martin Bollacher, Frankfurt am Main, 1998, S. 303-640. — Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele, in: Werke in 10 Bänden, Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774-1787, hg. v. Jürgen Brummack u. Martin Bollacher, Frankfurt am Main, 1994, S. 327393, S. 327-363 („Erster Versuch“). — Wie die Philosophie zum Besten des Volks allgemeiner und nützlicher werden kann (1765), in: Werke in 10 Bänden, Bd. 1: Frühe Schriften 1764-1772, hg. v. Ulrich Gaier, Frankfurt am Main, 1985, S. 101-134.
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— Entwurf und Ankündigung eines Collegii der physischen Geographie, Anmerkungen v. Paul Gedan, in: Kants Werke, Anm. Bde. I-V, Bd. II, Berlin, 1977 [unveränderter photomechanischer Abdruck von: Kants gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, 1902], S. 455-458. — Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Kants Werke, Bd. VIII: Abhandlungen nach 1781, Berlin, 1968 [unveränderter photomechanischer Abdruck von: Kants gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VIII, Berlin, 1912/23] S. 15-31. — Kritik der reinen Vernunft, in: Kants Werke, Bd. IV: Kritik der reinen Vernunft (1. Aufl. 1781). Prolegomena. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften, Berlin, 1968 [unveränderter photomechanischer Abdruck von: Kants gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. IV, Berlin, 1903/11], S. 1-252. — Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe hg. v. Jens Timmermann. Mit einer Bibliographie v. Heiner Klemme, Hamburg, 2003. — Kritik der Urtheilskraft, in: Kants Werke, Bd. V: Kritik der praktischen Vernunft. Kritik der Urtheilskraft, Berlin, 1968 [unveränderter photomechanischer Abdruck von: Kants gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. V, Berlin, 1908/13], S. 165-485. — Kritik der Urtheilskraft, Anmerkungen, in: Kants Werke, Anm. Bde. I-V, Bd. V, Berlin, 1977 [unveränderter photomechanischer Abdruck von: Kants gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, 1902], S. 527-544. — Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, in: Kants Werke, Bd. VIII: Abhandlungen nach 1781, Berlin, 1968 [unveränderter photomechanischer Abdruck von: Kants gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VIII, Berlin, 1912/23], S. 107-123. — Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, Anmerkungen, in: Kants Werke, Anm. Bde. VI-IX, Bd. VIII, Berlin, 1977 [unveränderter photomechanischer Abdruck von: Kants gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, 1902], S. 481. — Recensionen von J. G. Herders ‚Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit.‘ Theil 1.2, in: Kants Werke, Bd. VIII: Abhandlungen nach 1781, Berlin, 1968 [unveränderter photomechanischer Abdruck von: Kants gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VIII, Berlin, 1912/23], S. 43-66. — Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie, in: Kants Werke, Bd. VIII: Abhandlungen nach 1781, Berlin, 1968 [unveränderter photomechanischer Abdruck von: Kants gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich
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Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VIII, Berlin, 1912/23], S. 157184. — Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie, Anmerkungen, in: Kants Werke, Anm. Bde. VI-IX, Bd. VIII, Berlin, 1977 [unveränderter photomechanischer Abdruck von: Kants gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, 1902], S. 487-491. — Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. I. Von dem Verhältniß der Theorie zur Praxis in der Moral überhaupt. (Zur Beantwortung einiger Einwürfe des Hrn. Prof. Garve*)., in: Kants Werke, Bd. VIII: Abhandlungen nach 1781, Berlin, 1968 [unveränderter photomechanischer Abdruck von: Kants gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VIII, Berlin, 1912/23], S. 273313; II. Vom Verhältniß der Theorie zur Praxis im Staatsrecht. (Gegen Hobbes.), S. 289-306. — Von den verschiedenen Racen der Menschen, in: Kants Werke, Bd. II: Vorkritische Schriften II 1757-1777, Berlin, 1968 [unveränderter photomechanischer Abdruck von: Kants gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. II, Berlin, 1905/12], S. 427-443.
C HRISTOPH M ARTIN W IELAND Wieland, Christoph Martin, Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit, in: Gesammelte Schriften, Abt. 1, Werke V (Bd. 7, 8/2): Verserzählungen, Gedichte und Prosaschriften, hg. v. Siegfried Mauermann, Hildesheim, 1986, S. 315483 [Nachdruck der Ausgabe der Weidmannschen Buchhandlung, Berlin, 1911/1937]. — darin: Vorbericht (1770), S. 315-316, Koxkox und Kikequetzel. Eine mexikanische Geschichte. Ein Beytrag zur Naturgeschichte des sittlichen Menschen (1769/70), S. 317-367, Betrachtungen über J. J. Rousseaus ursprünglichen Zustand des Menschen (1770), S. 367-392, Über die von J. J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche den wahren Stand der Natur des Menschen zu entdecken nebst einem Traumgespräch mit Prometheus (1770), S. 392-416, Über die Behauptung daß ungehemmte Ausbildung der menschlichen Gattung nachtheilig sey (1770), S. 417-438, Über die vorgebliche Abnahme des menschlichen Geschlechts (1777, S. 438-457, Reise des Priesters Abulfauaris ins innere Afrika (o. J.), S. 458-468, Die Bekenntnisse des Abulfauaris gewesenen Priesters der Isis in ihrem Tempel zu Memfis in Nieder-Ägypten. Auf fünf Palmblättern von ihm selbst geschrieben und aus des berühmten Evemerus Beschreibung seiner Reise in die Insel Panchäa gezogen. (o. J.), S. 468-483.
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— Beyträge zur Geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens. Aus den Archiven der Natur gezogen. (1770), in: Wielands Werke. Historischkritische Ausgabe, Bd. 9.1: Text, bearb. v. Hans-Peter Nowitzki, Januar 1770Mai 1772, hg. v. Klaus Manger u. Jan Philipp Reemtsma, Berlin/New York, 2008, S. 107-305. — Horazens Satiren aus dem Lateinischen übersetzt und mit Einleitungen und erläuternden Anmerkungen versehen von C. M. Wieland, Neue verbesserte Ausgabe, Erster Theil, Leipzig, 1804. https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=njp. 32101058322445;view=1up;seq=5, 26.1.18. — Lucians von Samosata Sämtliche Werke. Aus dem Griechischen übersetzt und mit Anmerkungen und Erläuterungen versehen von C. M. Wieland, Erster Theil, Weidmannische Buchhandlung, Leipzig, 1788. https://archive.org/details/luci ansvonsamos00wielgoog, 26.1.18. — Theorie und Geschichte der Red-Kunst und Dicht-Kunst, in: Gesammelte Schriften, Abt. 1, Werke III (Bd. 4): Prosaische Jugendwerke, hg. v. Fritz Homeyer u. Hugo Bieber, Hildesheim, 1986 [Nachdruck der Ausgabe der Weidmannschen Buchhandlung, Berlin, 1916], S. 303-420. — Von der Mahlerkunst überhaupt, ihre Verhältnisse mit der Bildhauerey, ihre Vorzüge vor der Poesie und von der Sphäre derselben, in: Gesammelte Schriften, Abt. 1, Werke III (Bd. 4): Prosaische Jugendwerke, hg. v. Fritz Homeyer u. Hugo Bieber, Hildesheim, 1986 [Nachdruck der Ausgabe der Weidmannschen Buchhandlung, Berlin, 1916], S. 640-644. — Wielands Briefwechsel, hg. v. d. Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Siegfried Scheibe, Fünfzehnter Band, Erster Teil, Juli 1799Juni 1802, Berlin, 2004. — zu: J. G. Forster, Reise um die Welt, in: Der Teutsche Merkur vom Jahre 1778, Zweytes Vierteljahr./Drittes Vierteljahr./Viertes Vierteljahr., Weimar, 1778.
Z EITGENÖSSISCHE /H ISTORISCHE Q UELLEN
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L EXIKA
Adelung, Johann Christoph, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Erster Theil, A-E, Wien, 1811. http://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/lemma/bsb00009131_3_1_1415, (Aggregat), Sp. 182-183, 5.2.18. http://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/lemma/bsb00009131_3_1_1767, (Amalgama), Sp. 243, 5.2.18. http://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/seite/bsb00009131_00747, (Dichtkunst), Sp. 1478, 5.2.18.
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— Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Zweyter Theil, F-L, Wien, 1811. http://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/lemma/bsb00009132_2_0_751, (Gegend), Sp. 482-483, 5.2.18. http://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/lemma/bsb00009132_3_1_1096, (Hauptgegend), Sp. 1013, 5.2.18. http://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/lemma/bsb00009132_4_0_45, (illuminiren), Sp. 1360, 5.2.18. — Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Dritter Theil, M-Scr, Wien, 1811. http://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/lemma/bsb00009133_2_0_701, (Nebenstrich), Sp. 454, 5.2.18. http://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/lemma/bsb00009133_2_0_881, (neutral, Neutralität), Sp. 482, 5.2.18. http://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/lemma/bsb00009133_6_0_729, (redlich), Sp. 1015-1016, 5.2.18. — Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Vierter Theil, Seb-Z, Wien, 1811. http://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/lemma/bsb00009134_2_3_3823; (Sympathie), Sp. 509-510, 5.2.18. http://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/lemma/bsb00009134_5_0_684, (verquicken), Sp. 1106, 5.2.18. http://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/lemma/bsb00009134_5_1_1037, (verwandeln), Sp. 1170-1171, 5.2.18. http://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/seite/bsb00009134_00590, (verwandt, Verwandtschaft), Sp. 1171-1172, 5.2.18. http://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/seite/bsb00009134_00797, (Witz), Sp. 1586-1587, 5.2.18. http://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/lemma/bsb00009134_6_2_2798, (Wollust), Sp. 1610-1611, 5.2.18. Anonymus, Anmerkungen über Ramsays Schrift von der Behandlung der Negersklaven in den Westindischen Zuckerinseln, in: Beiträge zur Völker- und Länderkunde, 5. Theil, hg. v. Matthias Christian Sprengel, Leipzig, 1786, S. 267292. Bauer, Georg Lorenz, Des Gregorius Abulfaradsch kurze Geschichte der Dynastien oder Auszug der allgemeinen Weltgeschichte besonders der Geschichte der Chalifen und Mogolen. [...], 2 Bde., Leipzig, 1783/85. http://books.google. de/books?id=qxk-AAAAcAAJ&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_ summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false, 26.1.18. Bergman, Torbern Olof, Physicalische Beschreibung der Erdkugel, 1766 (dt. 1780).
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von Blanckenburg, Friedrich, Versuch über den Roman (1774), Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774 mit einem Nachwort v. Eberhard Lämmert, Stuttgart, 1965. https://archive.org/details/versuchberdenro00blangoog, 26.1.18. Blumenbach, Johann Friedrich, Handbuch der Naturgeschichte. Mit Kupfern., 2 Bde., Göttingen, 1779/1780. — De generis hvmani varietate nativa [...], Goettingae, Rosenbvschii, 1775 (Dissertation). — Io. Frid. Blvmenbachii M. D. Et Prof. P.O. De Generis Hvmani Varietate Nativa Liber: Cvm Figvris Aeri Incisis. Editio Altera Longe Avctior Et Emendatior, Goettingae, Vandenhoek, 1781. — Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte, Leipzig,1798. http://ora-web.swkk.de/digimo_online/digimo.entry?source=digimo.Digitalisat_ anzeigen&a_id=2400, 26.1.18. Bonnet, Charles, Contemplation de la Nature, 2 tomes, Amsterdam, 1764. Breitinger, Johann Jacob, Critische Dichtkunst Worinnen die Poetische Mahlerey in Absicht auf die Erfindung Im Grunde untersuchet und mit Beyspielen aus den berühmtesten Alten und Neuern erläutert wird. Mit einer Vorrede eingeführet von Johann Jacob Bodemer, Zürich/Leipzig, 1740 [Reprint: Stuttgart 1966]. de Bry, Theodor, Warhafftige und eygentliche Abconterfeyung und Fürbildung aller fürnembsten Historien/seltzamen Art/Weise/Sitten unnd Ceremonien der Völcker [...] von welchen in diesem neundten Theil Americae oder der Weßt Indianischen Historien/gehandelt wird: Neben summarischen Innhalt und Beschreibung einer jeglichen Historien/den Kupfferstücken umb mehrers Verstands willen beygefügt und zu gesetzt/ Alles in Kupffer gestochen unnd an Tag gegeben/durch Dieterich de Bry seligen hinterlassene Wittbe/und zween Söhne, Franckfurt am Mayn, 1601. de Buffon, Georges Louis Leclerc, Allgemeine Historie der Natur nach allen ihren besondern Theilen abgehandelt: nebst einer Beschreibung der Naturalienkammer Sr. Majestät des Königes von Frankreich, Dritten Theils erster Band, Hamburg u. Leipzig, 1756. — Herrn von Buffons allgemeine Naturgeschichte. Eine freye mit einigen Zusätzen vermehrte Übersetzung nach der neuesten französischen Außgabe von 1769, übers. v. Friedrich Heinrich Wilhelm Martini, Berlin, bey Joachim Pauli, Buchhändler, 1771-1774. — „Theil“ 6: Herrn von Büffons allgemeine Naturgeschichte. Eine freye mit Anmerkungen vermehrte Uebersetzung. Sechster Theil, übers. v. Friedrich Heinrich Wilhelm Martini, bey Joachim Pauli, Berlin, 1774. http://daten.digitalesammlungen.de/~db/0007/bsb00078046/images/, 26.1.18. — Histoire Naturelle, Générale et Particulière. Par M. de Buffon [...]. Nouvelle Édition. Tome Cinquième, Paris, 1769. http://www.biodiversitylibrary.org/item/ 105214#page/10/mode/1up, 26.1.18.
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Cardonne, Denis-Dominique, Geschichte von Afrika und Spanien unter der Herrschaft der Araber, 3 Bde., Nürnberg, 1768-1770. http://menadoc.bibliothek.unihalle.de/ssg/content/titleinfo/354480, 26.1.18. Carteret, Philip, Voyage round the World, 1766-1769, 2 Volumes, ed. by Helen Wallis, Cambridge, 1965. Dryden, John, The Satires Of Decimus Junius Juvenalis. Translated into English Verse. By Mr. Dryden, And Several other Eminent Hands. Together with the Satires of Aulus Persius Flaccus. Made English by Mr. Dryden. With Explanatory Notes at the End of each Satire. To which is Prefix’d a Discourse concerning the Original and Progress of Satire. Dedicated to the Right Honourable Charles Earl of Dorset, &c. By Mr. Dryden, London, 1693. — Translations from Juvenal, Dedication to the Earl of Dorset, in: The Miscellaneous Works of John Dryden, Esq; Containing all his Original Poems, Tales, And Translations, In Four Volumes. Volume The Fourth, London, 1767. Forrest, Kapitän Thomas, Reise nach Neuguinea und den molukkischen Inseln in den Jahren 1774, 1775 und 1776. Auszug aus dem Englischen, in: Neue Sammlung von Reisebeschreibungen, Dritter Theil, hg. v. Christoph Daniel Ebeling, Hamburg, 1782. Forster, Georg, A Voyage round the World, in His Britannic Majesty’s Sloop, Resolution, commanded by Capt. James Cook, during the Years 1772, 3, 4, and 5. By George Forster, F. R. S. Member of the Royal Academy of Madrid, and the Society for promoting Natural Knowledge at Berlin. In two Volumes, London, 1777. — et al., Geschichte der See-Reisen und Entdeckungen im Süd-Meer welche auf Befehl Sr. Großbrittannischen Majestät George des Dritten unternommen worden sind. Aus den Tagebüchern der Schiffs-Befehlshaber und den Handschriften der Gelehrten Herren J. Banks Esq. Dr. Solander; Dr. J. R. Forster und Herrn G. Forster welche diesen Reisen als Naturkundiger beygewohnt haben herausgegeben. Aus dem Englischen übersetzt vom Verfasser Herrn Georg Forster Mitgl. der Gesellsch. der Wissensch. zu London und zu Madrid, […] mit Zusätzen für den deutschen Leser vermehrt und durch Kupfer erläutert, Haude und Spener, Berlin, 7 Bde., 1774-1788. — Bd. 1-3 verf. von Johann Hawkesworth und übers. von Johann Friedrich Schiller (abweichender Titel); Befehlshaber: John Byron, Samuel Wallis, Philipp Carteret, Jacob Coock; Gelehrter: Joseph Banks. Bd. 4-5 verf. und übers. von Georg Forster; Befehlshaber: James Cook; Gelehrte: Joseph Banks, Daniel Solander, Johann Reinhold Forster, Georg Forster. Bd. 6-7 verf. von James Cook und James King und übers. von Georg Forster (abweichender Titel); Befehlshaber: James Cook, Charles Clerke, John Gore, James King; Gelehrte: Joseph Banks, Daniel Solander, Johann Reinhold Forster, Georg Forster, George William Anderson.
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— 4./5. Bd.: Johann Reinhold Forster’s Doctor der Rechte [...] Reise um die Welt während den Jahren 1772 bis 1775 in dem von Seiner itztregierenden Großbrittannischen Majestät auf Entdeckungen ausgeschickten und durch den Capitain Cook geführten Schiffe the Resolution unternommen. Beschrieben und herausgegeben von dessen Sohn und Reisegefährten George Forster der Gesellsch. der Wissensch. zu London und Madrid [...] Mitglied [...], Haude und Spener, Berlin, 1778/1780. — Johann Reinhold Forster’s [...] Reise um die Welt, während den Jahren 1772 bis 1775 in dem von Sr. itztregierenden grosbrittanischen Majestät auf Entdeckungen ausgeschickten und durch den Capitain Cook geführten Schiffe the Resolution unternommen. Beschrieben und herausgegeben von dessen Sohn und Reisegefährten George Forster [...]. Vom Verfasser selbst aus dem Englischen übersetzt, mit dem Wesentlichsten aus des Capitain Cooks Tagebüchern und andern Zusätzen für den deutschen Leser vermehrt und durch Kupfer erläutert., 3 Bde., Berlin, 1784. — Noch etwas über die Menschenraßen (1786), in: Georg Forsters Werke, hg. v. der Akademie der Wissenschaften in Berlin [FAA], Bd. VIII: Kleine Schriften zu Philosophie und Zeitgeschichte, bearb. v. Siegfried Scheibe, Berlin, ²1991, S. 130-157. — Reise um die Welt (1. Teil), bearb. v. Gerhard Steiner, in: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hg. v. der Akademie der Wissenschaften in Berlin, Berlin, 1958ff., Bd. II (1965). — Streitschriften und Fragmente zur Weltreise, in: Georg Forsters Werke, hg. v. der Akademie der Wissenschaften in Berlin, Bd. IV, Erl. und Reg. zu Bd. I-IV, bearb. v. Robert L. Kahn u. a., Berlin, 1972. Forster, Johann Reinhold, Beobachtungen während der Cookschen Weltumsegelung 1772-1775. Gedanken eines deutschen Teilnehmers, d. i. Unveränderter Neudruck der 1783 erschienenen „Bemerkungen über Gegenstände der physischen Erdbeschreibung, Naturgeschichte und sittlichen Philosophie auf seiner Reise um die Welt gesammlet“, mit einer Einführung v. Hanno Beck, Stuttgart, 1981. — Tagebuch einer Entdekkungsreise nach der Südsee in den Jahren 1776-1780. unter Anführung der Capitains Cook, Clerke, Gore und King. Mit einer neuen verbesserten Karte und Kupfer nach der originellen Handschrift getreulich beschrieben. Eine Übersetzung nebst Anmerkungen von Johann Reinhold Forster, der Rechte, Medizin, und Weltweisheit Doktor, Professor der Naturgeschichte zu Halle. [...], Berlin, 1781. https://books.google.de/books?id=PgoPAAAAYA AJ&pg=PP1&lpg=PP1&dq=forster,+tagebuch+einer+entdekkungsreis#v=onep age&q=forster%2C%20tagebuch%20einer%20entdekkungsreis&f=false, 26.1.18.
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Gatterer, Johann Christoph, Abriß der Geographie, Göttingen, 1775 (recte 1778). http://books.google.de/books?id=1e1CAAAAcAAJ&printsec=frontcover&hl=d e&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false, 26.1.18. — Einleitung in die synchronistische Universalhistorie zur Erläuterung seiner synchronistischen Tabellen, Göttingen, 1771. http://books.google.de/books?id=7 9dOAAAAcAAJ&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&ca d=0#v=onepage&q&f=false, 26.1.18. Gellert, Christian Fürchtegott, Pro Comoedia Commovente Commentatio/Des Hrn. Prof. Gellerts Abhandlung für das rührende Lustspiel, in: Christian Fürchtegott Gellert, Gesammelte Schriften. Bd. V: Poetologische und Moralische Abhandlungen. Autobiographisches, hg. v. Werner Jung, John F. Reynolds u. Bernd Witte, Berlin/New York, 1994, S. 145-173. Georgi, Johann Gottlieb, Beschreibung aller Nationen des Rußischen Reichs, ihrer Lebensart, Religion, Gebräuche, Wohnungen, Kleidungen und übrigen Merkwürdigkeiten. Erste Ausgabe. Nationen vom Finnischen Stamm, St. Petersburg, 1776.http://dfg-viewer.de/v2/?set%5Bmets%5D=http%3A%2F%2Fwww.zvdd. de%2Fdms%2Fmetsresolver%2F%3FPPN%3DPPN332192865, 26.1.18. — Beschreibung aller Nationen des Rußischen Reichs, ihrer Lebensart, Religion, Gebräuche, Wohnungen, Kleidungen und übrigen Merkwürdigkeiten. Dritte Ausgabe. Samojedische, Mandshurische und ostlichste Sibirische Nationen, St. Petersburg, 1777. http://dfg-viewer.de/show/?set%5Bimage%5D=1&set%5Bzo om%5D=default&set%5Bdebug%5D=0&set%5Bdouble%5D=0&set%5Bmets %5D=http%3A%2F%2Fgdz.sub.uni-goettingen.de%2Fmets_export.php%3FPP N%3DPPN332193314, 26.1.18. — Kupfer zur Beschreibung aller Nationen des Rußischen Reichs. Erste Ausgabe. Nationen vom Finnischen Stamm, 1776. http://books.google.de/books?id= T3hNAAAAcAAJ&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r& cad=0#v=onepage&q&f=false, 26.1.18. — Kupfer zur Beschreibung aller Nationen des Rußischen Reichs. Dritte Ausgabe. Samojedische, Mandshurische und ostlichste Sibirische Nationen, 1779. http://books.google.de/books?id=VHhNAAAAcAAJ&printsec=frontcover&hl= de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false, 26.1.18 (verdrehte Seitenfolge). Gleim, Johann Wilhelm Ludwig, Lied an die Kayserin-Königin nach Wiedereroberung der Stadt Breslau den 19ten December 1757, in: Ausgewählte Werke, Bd. I, Anakreontische Gedichte, hg. v. Walter Hettche, Göttingen, 2003, S. 96f. Goethe, Johann Wolfgang, Allgemeines und Besonderes, in: ders., Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 13, Sprüche in Prosa. Sämtliche Maximen und Reflexionen, hg. v. Harald Fricke, Frankfurt am Main, 1993. Grimm, Jacob u. Wilhelm, Deutsches Wörterbuch, Leipzig, 1854-1961, Bd. 12.
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http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GM042 36, (merkwürdig), Sp. 2108, 5.2.18. — Deutsches Wörterbuch, Leipzig, 1854-1961, Bd. 13. http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mode=Gliederu ng&lemid=GN04877#XGN04877, (neutral, Neutralität), Sp. 689, 6.2.18. http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GO0221 1, (Organisation), Sp. 1340, 5.2.18. — Deutsches Wörterbuch, Leipzig, 1854-1961, Bd. 20. http://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemma=sympathisieren, (sympathisieren), Sp. 1409, 5.2.18. — Deutsches Wörterbuch, Leipzig, 1854-1961, Bd. 22. http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernetz ung&lemid=GT15192#XGT15192, (Typus), Sp. 1962, 5.2.18. — Deutsches Wörterbuch, Leipzig, 1854-1961, Bd. 25. http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GV0122 2, (Verflöszung), Sp. 342, 5.2.18. von Haller, Albrecht, Alfred König der Angel-Sachsen, Zweyte Auflage, Frankfurt/Leipzig, 1774. http://books.google.de/books?id=wZ4FAAAAQAAJ&prints ec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=f alse, Zugriff: 26.1.18. Harrington, James, The Common-Wealth of Oceana, London, 1656. Johnson, Samuel, A Dictionary Of The English Language: In Which The Words are deduced from their Originals, And Illustrated in their Different Significations By Examples from the best Writers. To Which Are Prefixed, A History of the Language, And An English Grammar. By Samuel Johnson, A. M. In Two Volumes, Vol. I., London, 1755. — A Dictionary Of The English Language: In Which The Words are deduced from their Originals, And Illustrated in their Different Significations By Examples from the best Writers. To Which Are Prefixed, A History of the Language, And An English Grammar. By Samuel Johnson, A. M. In Two Volumes, Vol. II., London, 1755. Klopstock, Friedrich Gottlieb, An Gleim, in: Werke und Briefe. HistorischKritische Ausgabe, Abt. Werke I, Bd. I, Oden, hg. v. Horst Gronemeyer u. Klaus Hurlebusch, Berlin/New York, 2010, S. 121-123. Kruse, Christian, Probe der Gattererschen Charten zur Geschichte der Völkerwanderung, in: Allgemeine Geographische Ephemeriden. XVI. Bandes, Viertes Stück, April 1805, hg. v. Friedrich Justin Bertuch u. Christian Gottlieb Reichard, Weimar, 1805, S. 377-399, „Charte“: S. 542. http://zs.thulb.unijena.de/receive/jportal_jparticle_00272020, 29.1.18.; http://zs.thulb.uni-jena.de/ rsc/viewer/jportal_derivate_00218198/Allg_geogr_Ephemeriden_1805_16_054 9.tif, 29.1.18.
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Wipperfürth, Susanne, Christoph Martin Wielands geschichtsphilosophische Reflexionen, Frankfurt am Main, 1995. Wirth, Uwe, Erzählen im Rahmen der Herausgeberfiktion, in: Wissen – Erzählen – Tradition. Wielands Spätwerk, hg. v. Walter Erhart u. Lothar van Laak, Berlin/New York, 2010, S. 121-138. Wölfel, Kurt, Zur Geschichte der Grazie, Konstanz, 2001. Wübben, Yvonne, ‚Ich bin alles, was da ist‘. Zur Auslegung der Isis-Inschrift bei Schiller und Reinhold, in: Krisen des Verstehens um 1800, hg. v. Sandra Heinen u. Harald Nehr, Würzburg, 2004, S. 135-152. Zammito, John H., Kant, Herder, and the Birth of Anthropology, Chicago/London, 2002. Zedelmaier, Helmut, Der Anfang der Geschichte. Studien zur Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert, Hamburg, 2003 [Studien zum achtzehnten Jahrhundert 27]. — ‚Historia Literaria‘. Über den epistemologischen Ort des gelehrten Wissens in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Das 18. Jahrhundert, 22,1 (1998): Enzyklopädien, Lexika und Wörterbücher im 18. Jahrhundert, hg. v. Carsten Zelle, S. 11-21. Zeuch, Ulrike, Umkehr der Sinneshierarchie. Herder und die Aufwertung des Tastsinns seit der frühen Neuzeit, Tübingen, 2000 [Communicatio 22]. Zymner, Rüdiger, ‚Parabel‘, in: Kleine literarische Formen in Einzeldarstellungen, Stuttgart, 2002, S. 174-190.
V ERZEICHNIS DER ABBILDUNGSLINKS ( NACH S TICHWORTEN ) De Bry, Theodor — Americae (Video) https://www.youtube.com/watch?v=E3X_h7PnNnU, 5.2.18. — Empfang Kolonisatoren https://www.google.de/imgres?q=de+bry+america&client=safari&sa=X&rls=en&bi w=1282&bih=706&tbm=isch&tbnid=blx_QerHPljEgM:&imgrefurl=http://ww w.bl.uk/onlinegallery/features/americanrevolution/enlarged/coloniestrade_lge.ht ml&docid=IcVrQxovfQ4spM&imgurl=http://www.bl.uk/onlinegallery/features/ americanrevolution/images/coloniestrade129kb.jpg, 2.2.18. — Massaker Jamestown http://commons.wikimedia.org/wiki/File:1622_massacre_jamestown_de_Bry.jpg, 31.1.18.
608 | S UBTEXTE DER M ENSCHHEITSGESCHICHTE
— Sugarslaves http://www.flmnh.ufl.edu/histarch/images/puertoReal/debry_sugarslaves.jpg, 31.1.18. Hodges, William — A Man with Long Hair http://commons.wikimedia.org/wiki/File:William_Hodges_-_A_Man_of_Tahiti_wit h_Long_Hair.jpg?uselang=de, 2.2.18. — Cape Stephens with Waterspout http://commons.wikimedia.org/wiki/File:HodgesA_View_of_Cape_Stephens_in_C ook%27s_Straits_New_Zealand_with_Waterspout_1776..jpg?uselang=de, 2.2.18. — Dusky Bay http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hodges_dusky-bay.jpg?uselang=de, 2.2.18. — Landing at Tanaa http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hodges_tana.jpg?uselang=de, 2.2.18. — Maiori Chieftain http://commons.wikimedia.org/wiki/File:William_Hodges_-_Portrait_of_a_Maori_ Chieftain.jpg?uselang=de, 2.2.18. — Resolution and Adventure, http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hodges,_Resolution_and_Adventure_in_ Matavai_Bay.jpg?uselang=de, 2.2.18. — Roi Otoo http://commons.wikimedia.org/wiki/File:William_Hodges_-_Otoo,_Roi_de_Otahei te.jpg?uselang=de, 2.2.18. — Tahiti revisited http:/commons.wikimedia.org/wiki/File:Hodges_Tahiti_Revisited.jpg?uselang=de, 2.2.18. — Tyanai-mai http://commons.wikimedia.org/wiki/File:William_Hodges_–_Portrait_of_Tynaimai,_Princess_of_Raiatea.jpg?uselang=de, 2.2.18. — Waterfall Tahiti http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hodges_waterfall-tahiti.jpg?uselang=de, 5.2.18. — Woman of St. Christina http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Woman_of_Santa_Christina_by_William_ Hodges.jpg?uselang=de, 2.2.18.
L ITERATUR -
UND
M EDIENVERZEICHNIS
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Niebuhr, Carsten — Kaffeeplantage http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kaffeplantage_i_Yemen.jpg?uselang=de, 2.2.18. — Kloster St. Katharina http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Saint_Catherine%27s_Monastery,_Carste n_Niebuhr,_1762.jpg?uselang=de, 2.2.18. — Kriegsübungen im Jemen http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Niebuhr_-_Kriegsübungen_der_Araber_in _Yemen.jpg?uselang=de, 2.2.18. — Sanaa http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Niebuhr-sanaa.jpg?uselang=de, 2.2.18. — Überblick 1 http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/niebuhr1772/0001/thumbs?sid=3f421e48a5a8 d80b7f774883e179319d#current_page, 2.2.18. — Überblick 2 http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/niebuhr1774abd1/0019/thumbs?sid=090f04f2 4bad321121d9871e578cedc3#current_page, 2.2.18. (nach) Parkinson, Sydney — A Woman and a Boy, Natives of Otaheite http://commons.wikimedia.org/wiki/File:A_woman_and_a_boy,_natives_of_Otahei te.jpg?uselang=de, 2.2.18. — Head of a Native of Otaheite http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Head_of_a_Native_of_Otaheite.jpg?usela ng=de, 2.2.18. — Heads of Natives of Otaheite, Huaheine and Oheiteroah http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Heads_of_Natives_of_Otaheite,_Huaheine _and_Oheiteroah.jpg?uselang=de, 2.2.18. — Natives of New Zealand http://southseas.nla.gov.au/journals/parkinson/158.html, 2.2.18. — Illustrationen, Überblick http://southseas.nla.gov.au/journals/parkinson/plates.html, 2.2.18. — Native of Otaheite http://commons.wikimedia.org/wiki/File:A_Native_of_Otaheite.jpg?uselang=de, 2.2.18. — Terra del Fuego http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Natives_of_Terra_del_Fuego.jpg?uselang =de, 2.2.18.
610 | S UBTEXTE DER M ENSCHHEITSGESCHICHTE
(nach) Webber, John — A Chief of the Sandwich Islands https://commons.wikimedia.org/wiki/File:John_Webber%27s_oil_painting_%27A_ Chief_of_the_Sandwich_Islands%27,_1787.jpg, 2.2.18. — A Man of the Sandwich Islands dancing http://commons.wikimedia.org/wiki/File:A_man_of_the_Sandwich_Islands_dancin g_by_John_Webber.jpg?uselang=de, 2.2.18. — A Native of Atooi http://commons.wikimedia.org/wiki/File:John_Webber_-_%27A_Native_of_Atooi %27,_ink_and_ink_wash_over_graphite,_1778.jpg?uselang=de, 2.2.18. — An Offering before Capt. Cook http://commons.wikimedia.org/wiki/File:An_offering_before_Capt._Cook,_in_the_ Sandwich_Islands._Drawn_by_J._Webber.jpg?uselang=de, 2.2.18. — Eaoo http://commons.wikimedia.org/wiki/File:FrauEaoo.jpg?uselang=de, 2.2.18. — Heiau at Waimea http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Heiau_at_Waimea_by_John_Webber.jpg? uselang=de, 2.2.18. — Kaneena http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Portrait_of_Kaneena,_a_chief_of_the_San dwich_Islands_in_the_North_Pacific.jpg?uselang=de, 2.2.18. — Man of Nootka Sound http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Man_of_Nootka_Sound.jpg?uselang=de, 2.2.18. — Poetua http://commons.wikimedia.org/wiki/File:%27The_Tahitian_Princess_Poedua%27,_ painted_by_John_Webber.jpg?uselang=de, 2.2.18. — Young Woman of the Sandwich Islands http://commons.wikimedia.org/wiki/File:A_Young_Woman_of_the_Sandwich_Isla nds._J._Webber_del._J.K._Sherwin_sc._(London,_G._Nicol_and_T._Cadell,_1 785).jpg?uselang=de, 2.2.18. White, John/de Bry, Theodor — Überblick zu s.u.: http://www.lib.unc.edu/dc/debry/about.html, 5.2.18. — Virtual Jamestown http://www.virtualjamestown.org/images/white_debry_html/jamestown.html, 5.2.18.
Dank
Ich danke der Universität Konstanz, dem Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“, für die finanzielle Förderung meiner Dissertation, meinen Kollegiaten und Kollegiatinnen aus dem Konstanzer Doktorandenkolleg „Zeitkulturen“ für den fruchtbaren interdisziplinären Austausch sowie Prof. Dr. Albrecht Koschorke und Prof. Dr. Ethel Matala de Mazza, deren Lehrveranstaltungen und Kolloquien vielfältige Anregungen für mich bedeutet haben. Ferner gilt mein Dank der Universität Erfurt, die meine Arbeit durch ein Stipendium gefördert hat, und den dortigen Kollegen und Kolleginnen der Kolloquien des Forums „Texte. Zeichen. Medien.“, deren offene und intensive Diskussionskultur ich sehr zu schätzen gelernt habe. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Rainer Godel von der Leopoldina Halle, der mir geholfen hat, den Blick für ‚das große Ganze‘ dieser Arbeit zu behalten, und Prof. Dr. Wolfgang Struck (Universität Erfurt), der beständig an mich und meine Arbeit geglaubt und mich unterstützt hat.
Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke
Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur März 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1
Götz Großklaus
Das Janusgesicht Europas Zur Kritik des kolonialen Diskurses 2017, 230 S., kart., z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4033-5 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4033-9
Elisabeth Bronfen
Hollywood und das Projekt Amerika Essays zum kulturellen Imaginären einer Nation Januar 2018, 300 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4025-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4025-4
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Literaturwissenschaft Yves Bizeul, Stephanie Wodianka (Hg.)
Mythos und Tabula rasa Narrationen und Denkformen der totalen Auslöschung und des absoluten Neuanfangs März 2018, 178 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3984-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3984-5
Michael Gamper, Ruth Mayer (Hg.)
Kurz & Knapp Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2017, 398 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3556-0 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3556-4
Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8. Jahrgang, 2017, Heft 2: Vielfältige Konzepte – Konzepte der Vielfalt. Zur Theorie von Interkulturalität 2017, 204 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-3818-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3818-3
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