Die Prägnanz des Dunklen: Gnoseologie – Ästhethik – Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder 9783787330454, 9783787309610

Die folgende Untersuchung ist eine Antwort auf die Frage nach dem Ort des 'Irrationalisten' Johann Gottfried H

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German Pages 187 [202] Year 1984

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Die Prägnanz des Dunklen: Gnoseologie – Ästhethik – Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder
 9783787330454, 9783787309610

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HANSADLER Die Prägnanz des Dunklen

STUDIEN ZUM ACHTZEHNTEN JAH R HUNDERT Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts Band 13

FELIX MEINER VERLAG

·

HAMBURG

HANS ADLER

DIE PRÄGNANZ DESDUNKLEN Gnoseologie -Ästhetik Geschichtsphilosophie bei J ohann Gottfried Herder

FELIX MEINER VERLAG

·

HAMBURG

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-0961-0 ISBN E-Book: 978-3-7873-3045-4 © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1990. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany.  www.meiner.de

Meiner Frau Brigitte

INHALT

Vorwort ............................................................................................................................... IX I.

Ästhetik als Desiderat der Gnoseologie .. ... . .. . A. Gottfried Wilhelm Leibniz .. . . . . . . B. Christian Wolff . . . . . .. . . . C. Alexander Gottlieb Baumgarten . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Herders Ästhetik-Kritik . . . ..... .. . .... .. . . . ... . .. ... A. Herders Kritik der Philosophie der "Wortwelten" .. .......... ........... ... ..... . ... B. Herders Auseinandersetzung mit Baumgarten .. .. .. .. . .. ........ .... .. 1. Die Aisthesis als Ausgangspunkt ... . .... . . . .. ... .. . .... . . 2. Herders Kritik der "Meditationes" Baumgartens ......................................... 3. Herders Kritik der "Aesthetica" Baumgartens .............................................. a) Ästhetik als Logik ......................................................................................... b) Ästhetik als "bloße Metapher" .................................................................... c) Ästhetik als 'bloße Theorie der schönen Wissenschaften' ... . ......

49 49 63 63 70 73 74 78 82

III. Herders Ästhetik-Entwurf ......................................................................................... A. Zum Konzept der Prägnanz . ... .... . . . ... .. .... . .. . ... .. .. .. . . . . .. B. Haptik und Skulptur, Optik und Malerei . . .. . . . .. . . .. . . . ....... C . Poesie - Phantasie und Dichtungsvermögen .....................................................

88 90 101 125

IV. Herders Entwurf einer Geschichtsphilosophie ...................................................... A. Der Status der Geschichtsphilosophie ............................................................... 1 . Isaak Iselin .......................................................................................................... 2 . Voltaire ... ... ........ . ... . . ......... . . . . . . . .. ....... ... .. . ..... B. Aisthesis und Geschichte . . ..... . . . . . . . . . .. .... .. .. ....... 1 . Geschichtsphilosophie: Von der Faktizität der Fakten . . ..... .. .. ..... 2. Geschichtsphilosophie: Von der Erfahrung der Menschheit . . . . ...

150 150 151 157 162 162 165

Siglen und Abkürzungen .................................................................................................. Zur Zitierweise . . . Bibliographie ...................................................................................................................... Quellen Forschungsliteratur ........................................................................................................... Namenverzeichnis . . . ... . . . . . .... . .. ........ . . . .. . . . . .. .. .. .... .. . . . ..

1 73 173 175 175 178 184

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VORWORT

Die folgende Untersuchung ist eine Antwort auf die Frage nach dem Ort des 'Irra­ tionalisten' Johann Gottfried Herder innerhalb des Kontinuums der Aufklärung. Die Schulphilosophie hatte in ihrer systematischen Ausprägung durch Christian Wolff einen Grad der Präzision erreicht, der entweder nur systemverträgliche Komplettie­ rungen im Detail gestattete oder aber die Problematisierung der eigenen Grundlage hervortrieb, wobei, wie gezeigt werden wird, die Komplettierung selbst durchaus als eine Form der - nicht intendierten - Paradigmenrevision sich erweisen kann. Die Diskussion um die Ratio der Rationalität stellt sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht als Problematisierung eines Diskurses durch einen ihm hete­ rogenen dar, sondern ist Bestandteil ein und derselben Bewegung. Die Erkenntnis­ lehre - seinerzeit unter dem Terminus "Gnoseologie" geläufig - war die Instanz, an der Rationalität sich zu bewähren oder auszubilden hatte, wenn sie im Anspruch aufklärerisch und wissenschaftlich sein wollte. Unsere Darstellung nimmt also ihren Ausgang vom gnoseologischen System der Aufklärung. Das hierarchische System der Erkenntnisarten und -grade - von der dunklen bis zur intuitiven Erkenntnis - erwies sich schon in seinen unteren Stufen der Differen­ zierung als problematisch dann, wenn es auf den erkennenden Menschen bezogen wurde. Der Versuch, die Diskrepanz in einer komplementären Psychologie oberer und unterer Erkenntnisvermögen aufzufangen, offenbarte seine Unzulänglichkeit ab dem Zeitpunkt, zu dem als Antwort auf den Dualismus cartesianischer Prägung die Frage nach der Einheit des Menschen gestellt wurde. Aus dieser Problemlage heraus entsteht die Ästhetik als Desiderat der Gnoseo­ logie. Sie ist in ihren Anfängen diejenige Disziplin der Philosophie, die jene mensch­ lichen Erfahrungsbereiche philosophisch zu verarbeiten sucht, welche die Schul­ philosophie als ihren nicht weiter eruierbaren Ausgangspunkt oder als ihre Peri­ pherie zwar zu benennen, nicht aber zu verarbeiten imstande war. Ästhetik als Desi­ derat der Gnoseologie ist also anfangs der Versuch einer Wissenschaft von der Er­ fahrung, von den Sinnen, von dem, was dem Intellektualismus der Schulphilosophie 'verworren' und 'dunkel' war. Sie ist nicht originär Kunstlehre oder Lehre vom Kunstschönen, wenngleich das Schöne und die Künste - als Domänen der 'sinnlichen' Erkenntnis - ihre prominenten Gegenstände sind. In diese Problemkonstellation tritt Herder ein mit einer Gnoseologiekonzeption, die an der schulphilosophischen Vorgabe ihr Profil gewinnt, um sich gegen sie - und später gegen den Kritizismus - zu wenden. Herder richtet seine Aufmerksamkeit ganz auf den kruden Bereich der menschlichen Erfahrung und entwirft eine Erkenntnislehre des Dunklen, die das gnoseologisch Kompakte nicht als das peri­ phere Unzugängliche, sondern als das in seiner Komplexität Prägnante, Erkenntnis­ und Gewißheitsträchtige begreift. Herders Erkenntnislehre ist eine Gnoseologie der Prägnanz, die sich des ganzen Menschen annimmt und Zugang zu allen Erfahrungs­ bereichen des Menschen nach Maßgabe seiner Erkenntnisfähigkeiten sucht. Die Äs­ thetik in weiterer Bedeutung findet daher seine besondere Aufmerksamkeit, und

X

Vorwort

Kunst und Literatur sind für ihn Manifestationen menschlicher Praxis mit exemplarischem Charakter. Der gnoseologischen Prägnanz korrespondiert bei Herder die historische. Die Vergangenheit ist 'zukunftsschwanger', und Geschichte wird als zeitliches Phänome­ non der Entwicklung Gegenstand einer Geschichtsphilosophie, die der Prinzipien der allgemeinen Ästhetik bedarf. Die Adäquanz dieses 'ästhetischen' Zugangs ergibt sich für Herder aus der anthropologischen Konstitution. Der Mensch ist eine unauf­ lösliche Einheit von Leib und Seele, und er ist 'verhüllter sichtbarer Gott', dessen na­ türlicher Zweck die entelechische Entfaltung ist. Geschichte der Menschheit ist dementsprechend für Herder die anschauliche Entwicklung der Phänomena, deren Zusammenhang durch die Annahme einer sie hervorbringenden 'Kraft' als ihres Or­ ganisations- und Bewegungsprinzips gewährleistet ist. Sie ist Geschichte der Menschheit und Geschichte für die Menschheit, insofern nämlich, als sie den menschlichen Erkenntnisfähigkeiten zugänglich ist. Diese Verbindung von Gnoseologie, Ästhetik und Geschichtsphilosophie ist Herders eigener, aufklärungskritischer Beitrag zur Aufklärung, den wir in seinen Entwürfen bis zu dem Punkt vorstellen, an dem die Geschichtsphilosophie als Integrationsebene einer Philosophie der Erfahrung - eben der Ästhetik im weiteren Sinne - deutlich wird. So sind die Begriffe des Untertitels dieser Untersuchung- "Gnoseologie- Ästhetik - Geschichtsphilosophie" - in dieser Reihenfolge als Hinweis auf deren Fundie­ rungsverhältnis in der Abfolge ihrer Bedeutung bei Herder und der Gewichtung in unserer Darstellung in den nachfolgenden Ausführungen zu lesen. Das Zentrum ist die Gnoseologie Herders, die als ästhetische im weiteren Sinne seine Ästhetik im engeren Sinne und seine Geschichtsphilosophie begründet, so daß letztere als eine "genetische Ästhetik der Humanität" (H.J. Schrimpf) lesbar wird. Diese Gewichtung und die Absicht, dieses Konzept im Kontext der rationalistischen Philosophie in Deutschland an seinem polemisch bestimmten Ort aufzusuchen, bedingen eine Enttäuschung von Lesererwartungen, die traditionell im Zusammenhang mit dem Namen Herders geweckt zu werden pflegen. Nicht die Produkte, sondern deren generierendes Prinzip im Denken Herders ist vorzustellen. In dieser Hinsicht ist die vorliegende Untersuchung geschlossen. Nicht die Provenienz von Elementen Herdersehen Denkens ist vorrangig Thema der Arbeit, sondern seine Konsistenz im Ausgangspunkt und in der beharrlichen Beibehaltung. Und: Nicht die Aspekte einer aesthetica specialis Herders, etwa als Poetik im eingeschränkten Sinne, kommen für sich zur Sprache, sondern nur inso­ fern, als sie exemplarisch - von Herder - zur Vorstellung des thematisierten Zusam­ menhanges herangezogen werden. Schließlich: Um deutlich werden zu lassen, daß die Vernunft der Schöpfung dem menschlichen Modus der ästhetischen Vernunft für Herder grundsätzlich sympathetisch denkbar ist, kommen Haptik und Optik in ihrer genetischen Konkurrenz, nicht aber akustischer Sinn und mit ihm die Sprache zentral ins Bild1• Der vielberufenen Widersprüchlichkeit und der diffusen Irrationalismus·

1 Vgl. die jüngst erschienene, gründliche und -wie uns scheint - mit unseren Intentionen verträgliche Ar­ beit von Ulrich Gaier: Herdcrs Sprachphilosophie und Erkenntniskritik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1988 ( Problemata 118). =

Vorwort

XI

Zuschreibung kann nur dann begegnet werden, wenn den 'Widersprüchen' auf der Ebene je konkreter Texte Herders eine text- und situationsübergreifende Integrati­ onsebene zugeordnet wird. Entscheidender Gesichtspunkt ist also durchgängig der Versuch des Aufweises, daß Gnoseologie, Ästhetik und Geschichtsphilosophie aus der Perspektive eines gnoseologischen Anthropozentrismus in einem plausiblen Verhältnis zueinander ste­ hen, nicht aber, wie im einzelnen sich dieser Zusammenhang in der Ausformulierung der Texte der Diskurse artikuliert. Das mag, auf dieser Grundlage, weiteren Unter­ suchungen mit präziser philologischer Unterfütterung vorbehalten sein. Insofern ver­ steht sich diese Untersuchung als eine grundlegende Skizze zu einer neuen Er­ schließung von Herders Werk und - damit - als Beitrag zur erneut virulent gewor­ denen Diskussion der Ratio der Rationalität. In dieser Hinsicht ist die folgende Untersuchung offen. Die Tatsache, daß Herder länger als ein Jahrhundert mehr oder weniger das Schattendasein des ungenannten 'Anregers', des falschverstandenen 'Huma­ nitätsphilosophen' und des 'Vaters des Sturm und Drang' geführt hat, hat wohl im wesentlichen zwei Gründe. Der eine ist - schlicht - in nur oberflächlicher Ver­ trautheit mit dem Werk Herders gegeben. Der Fragmentcharakter vieler seiner Schriften und sein Präferieren der Um- statt der Ausarbeitung liefern nur scheinbar ein Argument für die Ansicht vom unsystematischen 'Rhapsodisten'. Die prinzipielle, von Herder immer wieder begründete, systematische Verbindung von gnoseo­ logischer, ästhetischer und geschichtsphilosophischer Reflexionsebene ist ein roter Faden durch das gesamte Werk. Der andere Grund für die Marginalisierung Herders ist darin zu sehen, daß die Wissenschaftsgeschichte ihn in der Regel deshalb über­ sieht, weil - im Licht der Kritischen Philosophie und ihrer Nachfolger - Herder als Theoretiker strikter Observanz nicht gelten konnte. (Aus beiden Gründen sehen wir davon ab, die Forschungsliteratur Revue passieren zu lassen, um uns auch in dieser Hinsicht auf das für unser Vorhaben Relevante beschränken zu können.) Herders ästhetisch fundierte Reformulierung rationalistischer Theorie ist gleichwohl als Pro­ blem - nicht nur der ideengeschichtlichen Konstellation des 18. Jahrhunderts - noch nicht abgegolten. Dieses Problem kann - abgekürzt und im Bewußtsein der riskanten Oszillation beider Begriffe - mit der Opposition von Reduktionismus und Holismus bezeichnet werden. Es mag sein, daß diese Virulenz Herders mit ein Grund für eine in den letzten Jahren deutlich beobachtbare quantitative Zunahme der Beschäfti­ gung mit Herder ist - unsere Untersuchung versteht sich als ein sachlicher Beitrag dazu. Diese Untersuchung ist im Dezember 1987 von der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum als Habilitationsschrift angenommen worden. Den Gut­ achtern danke ich für ihre Mühe und die wohlwollenden Anregungen, die ich in der Endfassung berücksichtigen konnte. Der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts und dem Verlag Felix Meiner danke ich für die Aufnahme in die Reihe "Studien zum achtzehnten Jahrhundert". Großen Dank schulde ich meinem Freund und Kollegen Heinrich Clairmont, der mit seinem umfassenden Wissensfundus und in seiner kritischen Präzision mich unermüdlich und selbstlos unterstützt hat.

XII

Vorwort

Von der ersten Idee an bis zur Vertretung in den Gremien hat Hans Joachim Sehrimpf diese Arbeit begleitet, gefördert und an ihrem Entstehen als Freund und Lehrer intensiv teilgenommen. In seiner Abschiedsvorlesung definierte er, tongue-in­ cheek: "Ein Lehrer ist ein Mensch, der dazu beiträgt, daß es seinen Schülern gelingt, ihn wesentlich zu fördern." Es würde mich freuen, wenn ich ihm in diesem Sinne meinen Dank abstatten könnte. Für mich nicht zu überschauen ist, was ich meiner Frau Brigitte im Zusammen­ hang mit der Entstehung dieses Buches verdanke. Ihr ist es gewidmet.

I. ÄSTHETIK ALS DESIDERAT DER GNOSEOLOGIE

Wir gehen davon aus, daß die Ästhetik im achtzehnten Jahrhundert als neue philo­ sophische Disziplin nicht eine Summe von Theorien verschiedener Künste und auch nicht eine Kunstlehre ist, sondern daß sie an der Peripherie der Erkenntnislehre ent­ steht. Dementsprechend ist nicht nachzuzeichnen, was im 18. Jahrhundert und früher an theoretischen Äußerungen zu den Künsten im einzelnen fixiert worden war, zumal hierzu eine breite Forschungsliteratur vorliegt. Unsere Absicht ist vielmehr, aufzuzeigen, wie - von Descartes über Leibniz und Wolff bis hin zu Baumgarten- die Rolle der Sinnlichkeit am Rande der Begriffs- und Erkenntnislehre an Gewicht ge­ winnt und wie diesem Zuwachs an Bedeutung theoretisch Rechnung getragen wor­ den ist. Es ist zur Rechtfertigung dieses Vorgehens wichtig, darauf hinzuweisen, daß das, was ab 1 735 mit dem Begriff "Ästhetik" bezeichnet wird, keineswegs auf den Be­ reich der Künste eingeschränkt war. Die Leistung der Sinne hat in ihrer Anerkennungsgeschichte den Weg vom Störfaktor über den des Problems bis hin zu einem der konstitutiven Elemente des Humanitätskonzepts durchlaufen. Das ist in seinen weiten Ausmaßen aber nur faßbar, wenn mit dem Begriff der "Ästhetik" das anthropologische Datum der Aisthesis mitgedacht wird. Eben dieses ist der Fall bei den Erkenntnislehren, von denen die Rede sein wird. Weil es um den Weg der Ästhetik von der Peripherie der Gnoseologie in Richtung auf deren Zentrum geht, ist es wichtiger, den Ort der Aisthesis in den Metaphysiken aufzusuchen, als etwa de­ tailliert die von Baumgarten in Teilen ausgearbeitete "Aesthetica" selbst zu analy­ sieren, zumal auch hierzu zum Teil Vorzügliches aus der Forschung vorliegt. Herder als Teilnehmer an der Diskussion um die Ästhetik war zwar auch intensiv mit Problemen der Künste befaßt, aber doch immer so, daß er die Künste im Rahmen der Artikulationsmöglichkeiten des Menschen überhaupt zu situieren bestrebt war. Auch ihm als Zeitgenossen der noch recht frischen Auseinandersetzungen um die Ästhetik im weiteren Sinne war an einer eigenen und eigenständigen Entwicklung seiner Vorstellungen von der Rolle der Sinnlichkeit gelegen. Wie bei vielen anderen Gegenständen, die ihn beschäftigt haben, so kann man auch hier den Eindruck ge­ winnen, daß er die "Aesthetica" Baumgartens nicht als Werk sich zur Analyse vorge­ nommen hat, sondern den allgemeinen Zuschnitt des Werkes zum Anlaß für seine Kritik und eigene Fortentwicklung nahm. Dieses Vorgehen Herders ist nicht nur pragmatisch der ihm eigenen produktiven Ungeduld zuzuschreiben, es ist auch ein deutlicher Hinweis darauf, daß die Ästhetik für ihn weniger als System, sondern mehr als Problem interessant war, das er im allgemeinen Rahmen, der weit über die Kunst und Kunstphilosophie hinausreicht, einer Lösung zuführen wollte. Anders ge­ sagt: Herder geht wie Baumgarten das Problem der Aisthesis, wenn nicht mit glei­ chen Voraussetzungen und Intentionen, so doch mit einem vergleichbaren Interesse an. Die Frage, die sich für ihn, wie für viele seiner Zeitgenossen stellte, lautete: Was trägt die Sinnlichkeit zur Erkenntnis bei und wie bestimmt sie den Menschen?

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Ästhetik als Desiderat der Gnoseologie

A. Gottfried Wilhelm Leibniz Descartes hatte für die Erkenntnislehre grundsätzliche Vorgaben gemacht, die die weitere Diskussion geprägt haben. In seinem "Discours de la Methode" stellte er die allgemeine Regel auf, "que les choses que nous conceuons fort clairement et fort di­ stinctement, sont toutes vrayes."1 Klarheit und Deutlichkeit einer Vorstellung als Wahrheitskriterium sind eine spe­ zifische Leistung des Verstandes. Nur dieser vermag Sicherheit über die Dinge und Sachverhalte zu geben. Wiederholt und mit Nachdruck warnt Descartes vor den trü­ gerischen Leistungen der Sinne und der Einbildungskraft, die nur der Vermittlung verworrener und dunkler Ideen fähig seien: " ... nous ne nous deuons iamais laisser persuader qu'a l'euidence de nostre raison. Et il est a remarquer que ie dis, de nostre raison, & non point, de notre imagination ni de nos sens."2 Klarheit und Deutlichkeit definiert Descartes an anderer Stelle folgendermaßen: "I'appelle claire celle [sc. connaissance] qui est presente & manifeste a vn esprit attentif [ ... ]. Et distincte, celle qui [ ... ] est tellerneut precise & differente de toutes !es autres, qu'elle ne comprend en soy que ce qui paroit manifesterneut a celuy qui Ia considere comme il faut. "3 Da Gott nicht die Ursache für die Irrtümer der Menschen ist4 und alles, was wir deutlich erkennen, auch wahr ist, ist die Vernunft als Erkenntnisinstanz der Wahr­ heit in ihren Leistungen evident. Die Regel, daß alles klar und deutlich Erkannte wahr sei, "n'est assure qu'a cause que Dieu est ou existe, & qu'il est vn estre parfait, & que tout ce qui est en nous vient de Juy. D'ou il suit que nos idees ou notions, estant des choses reelles, & qui vienent de Dieu, en tout ce en quoy elles sont claires & distinctes, ne peuuent en cela estre que vrayes. En sorte que, si nous en auons as­ sez souuent qui contienent de Ja faussete, ce ne peut estre que de celles, qui ont quelque chose de confus & obscur, a cause qu'en cela elles participent du neant, c'est a dire qu'elles ne sont en nous ainsi confuses, qu'a cause que nous ne sommes pas tous parfaits.''5 Descartes' Erkenntnislehre findet ihre eigene Begründung im theologischen Rahmen, und es ist nicht zufällig, daß Fragen der Erkenntnis bei ihm eng im Zu­ sammenhang mit dem Gottesbeweis abgehandelt werden, so eng, daß die Erkennt­ nislehre selbst Bestandteil des Gottesbeweises ist6, denn die Idee Gottes ist "Ia plus vraye, Ja plus claire & la plus distincte de toute celles [sc. idees] qui sont en mon es­ prit.'0 Nachdem im Jahre 1683 Antoine Arnaulds Schrift "Traite des vraies et fausses idees" erschienen war, griff Leibniz die Frage nach der Wahrheit der Ideen auf und 1 Descartes: Discours de Ia Methode (1637). In: D.: Oeuvres. Publiees par Charles Adam et Paul Tannery. Bd. 6. Paris 1902, S. 33. 2 Descartes: Discours, S. 39. 3 Descartes: Les Principes de Ia Philosophie [1647; lat. Version 1644) . In: D.: Oeuvres. Publiees par Charles Adam et Paul Tannery. Bd. 9 (2. Teil]. Paris 1904, S. 44. Hervorh. von mir; HA. 4 Vgl. Descartes: Les Principes, S. 37f. s Descartes: Discours, S. 38. 6 Vgl. Descartes: Les Principes, S. 38. 7 Descartes: Meditations ( 1647; lat. Version 1641). In: D.: Oeuvres. Publiees par Charles Adam et Paul Tannery. Bd. 9 (l.Teil]. Paris 1904, S. 39.

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Gottfried Wilhelm Leibniz

faßte seine Überlegungen in dem kurzen, stark konzentrierten Aufsatz "Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis" {1684) zusammen8• In einem einzigen Satz gliedert Leibniz Stufen der Erkenntnis auf, die, soweit sie sich nicht gegenseitig ausschließen, eine Abfolge gradueller Vervollkommnung der Erkenntnis darstellen: "Est ergo cognitio vel obscura vel c/ara, et clara rursus vel con­ fusa vel distincta, et distincta vel inadaequata vel adaequata, item vel symbolica vel intuitiva: et quidem si simul adaequata et intuitiva sit, perfectissima est."9 Bis zu diesem Punkt lassen sich gegenüber Descartes zwei Veränderungen fest­ stellen. Zum einen vermehrt Leibniz die Zahl der unterscheidenden Merkmale der Erkenntnis. Waren es bei Descartes vier {klar, deutlich, dunkel, verworren), so sind es nun bei Leibniz acht. Zum anderen definiert Leibniz alle acht Termini, während bei Descartes nur zwei explizit definiert worden waren. Prinzipiell aber unterscheidet sich das Schema Leiboizens von den Ausführungen Descartes' dadurch, daß eine Ab­ stufung von der klaren bis zur intuitiven Erkenntnis vorgenommen wird. In diesem Sinne ist das cartesische Modell durch Diskontinuität, das Leibnizsche durch Konti­ nuität gekennzeichnet. Da der oben zitierte Satz Leiboizens sehr komprimiert und inexplizit ist und da diese Gliederung der Erkenntnisgrade und -arten für die weitere Argumentation bis hin zu Herder (und über ihn hinaus) wichtig ist, soll er- Leiboizens eigenen Ausfüh­ rungen folgend - ausführlicher erläutert werden. Im folgenden ist zunächst grundsätzlich von einem zusammengesetzten Gegen­ stand der Erkenntnis die Rede. Dieser zusammengesetzte Gegenstand ist ein Gan­ zes, das aus Teilen besteht. Diese Teile können wiederum zusammengesetzte Ganze sein, die ihrerseits aus Teilen bestehen, bis zu dem Grenzfall der einfachen, nicht weiter analysierbaren Teile. Ein Teil eines Ganzen ist in der Terminologie Leib­ nizens ein "Merkmal" (nota) oder ein "Element". Ein Merkmal eines Ganzen ist also in zweifacher Hinsicht 'Teil' eines Ganzen: es ist Teil des Ganzen insofern, als es die Konstitution des Ganzen bedingt und insofern, als es selbst innerhalb des konstitu­ ierten Ganzen bedingt ist. Diese Unterscheidung bestimmt das Leibnizsche Modell 8 Leibniz' Schriften werden zitiert nach: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leib­ niz. Hrsg. von C.J. Gerhardt. 7 Bände. Hildesheim, New York 1978 (Nachdruck der Ausgabe Berlin 1875-1890). Im folgenden wird abgekürzt zitiert: G mit Angabe der Bandzahl in römischer Ziffer. Leibniz: Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis (1684). In: G IV, S. 422-426. Daß die Leib­ nizschen "Meditationes" von grundlegender Bedeutung für die weitere Entwicklung der Erkenntnislehre (und von daher auch für die Ästhetik) waren, ist vielfach hervorgehoben worden. Vgl. z.B. Ernst Cassi­ rer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. 2. Bd. Darmstadt 1974 ( Nachdruck der 3. Aufl. 1922), S. 131 und 140. - Alfred Baeumler: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft (1923 u.d.T. "Kants Kritik der Urteilskraft. Ihre Geschichte und Systematik. l.Bd.). Darmstadt 1975 ( Reprografischer Nach­ druck der 2., durchgesehenen Auflage 1967), S. 198. - Gerold Ungeheuer: Sprache und symbolische Er­ kenntnis bei Wolff. In: Christian Wolff. 1679-1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Mit einer Bibliographie der Wolff-Literatur. Hrsg. von Werner Schneiders. Harnburg 1983 ( Studien zum achtzehnten Jahrhundert. Bd. 4), S. 89. - Louis Couturat: La Logique de Leibniz d'apres les documents inedits. Nachdruck der Ausgabe Paris 1901. Hitdesheim 1961, S. 197. - Joachim Krueger: Christian Wolff und die Ä sthetik. Berlin 1980 geht allzu vage davon aus, daß Leibniz die auf Descartes zurückgehende Unterscheidung von klarer, deutlicher, dunkler und verworrener Erkenntnis "übernom­ men' habe (S. 36). Bereits der erste Satz der "Meditationes" macht programmatisch klar, daß eine ' Übernahme' für Leibniz grundsätzlich nicht in Frage kommen konnte. 9 Leibniz: Meditationes, G IV, S. 422. =

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Ästhetik als Desiderat der Gnoseologie

von der zweiten Differenzierung seiner Erkenntnisstufen an. Die Berücksichtigung der Unterscheidung ist unerläßlich zur präzisen Bezeichnung der Analyseebenen. Leibniz nennt denjenigen 'Begriff (notio) dunkel {obscura), der nicht zureicht, ein Ganzes als Ganzes zu erkennen und von anderen Ganzen zu unterscheiden. Dementsprechend wäre auch die Erinnerung daran derart vage, daß der Gegenstand nicht wiedererkannt werden könnte. Leibniz führt diese Art von 'Erkenntnis' nicht weiter aus. Klar {clara) nennt Leibniz hingegen diejenige Erkenntnis (cognitio), die derart genau ist, daß ein Ganzes als Ganzes erkannt und wiedererkannt und somit auch von einem anderen ähnlichen Ganzen unterschieden werden könnte. In bezug auf die Ideen schreibt Leibniz später in seinen "Nouveaux Essais" unter Berufung auf seine "Meditationes": "Je dis donc qu'une Idee est claire lorsqu'elle suffit pour reconnoistre Ia chose et pour Ia distinguer...''10• Diese Art von Erkenntnis führt Leibniz weiter aus. Eine klare Erkenntnis heißt verworren (confusa) dann, wenn ein Ganzes als Gan­ zes erkannt, unterschieden und wiedererkannt werden kann, und zwar "simplici sen­ suum testimonio, non vero notis enuntiabilibus"n. Handelt es sich - wie Leibniz spä­ ter ausgeführt hat - um sinnliche Qualitäten äußerer Objekte, so sind die Ideen da­ von - als innere Objekte des Denkens- verworren und da "Nostre connoissance ne va pas au dela de nos idees [ .. . ] ny au dela de Ia perception de leur convenance ou dis­ convenance"12, ist auch sie verworren, genauer: klar (in bezug auf das Ganze) und verworren (in bezug auf die Teile des Ganzen). Diese Verworrenheit ist - mit nicht Leibnizschem Wort gesprochen - anthropologisch bedingt, weil sie aus der Beschaf­ fenheit der "notions des sens particuliers"13 resultiert, die mit den klaren und deutli­ chen Vorstellungen des "sens commun" im "sens interne [ ...] qu'on appelle l'imagination" vereint sind.14 Dieser verworrenen Erkenntnis als der sinnlichen Spezi­ fikation der klaren Erkenntnis kommt nach Leibniz - das ist gegenüber Descartes festzuhalten- eine ihr eigentümliche Leistung zu15.

10 Leibniz: Nouveaux Essais sur l'Entendement humain (1704 abgeschlossen, 1765 zuerst publiziert). In: G V, S. 39-509, hier: S. 236. Eine "Idee" wird definiert als "un objet immediat interne, et ( ... ) cet objet est une expression de Ia nature ou des qualites des choses." (S. 99). Eine "Idee" ist also nicht "Ia fonne de Ia pensee" (ebd.). Erkenntnis wird bestimmt als "Ia perception de Ia Iiaison et convenance ou de l'opposition et disconvenance, qui se trouve entre deux de IZOS idees" (S. 337), wobei Erkenntnis im enge­ ren Sinne, nämlich als "connoissance de Ia verite" (a.a.O., S. 338), mehr als zwei Ideen umfassen kann und über die Beziehung zwischen den Ideen hinaus deren Widerspruchsfreiheit, d.h. deren Möglichkeit miteinbeziehen muß. - Vgl. im übrigen hierzu die präzisen Ausführungen von Rudolf Zocher: Leibniz' Erkenntnislehre. Berlin 1952 ( Leibniz zu seinem 300. Geburtstag 1646-1946. Hrsg. von E. Hoch­ steUer. Lieferung 7.), besonders S. 5f. 11 Leibniz: Meditationes, G IV, S. 422. 1 2 Leibniz: Nouveaux Essais, G V, S. 356. 1 3 Leibniz an die Königin Sophie Charlotte von Preußen. Lettre touchant ce qui est independanl des Sens et de Ia Matiere (1702). In: G VI, S. 501. 14 Ebd. 15 " ... dans ce sens Ia confusion qui regne dans !es Idees, pourra estre exemte de bläme, estant une imperfection de nostre nature ... ", sagt Theophile/Leibniz in den "Nouveaux Essais" (G V), S. 237. - In anderer Perspektive und terminologisch abweichend behandelt Leibniz die klare Erkenntnis getrennt von der verworrenen in seiner "Theodicee". Vgl. Leibniz: Essais de Theodicee sur Ia bonte de Dieu, Ia liberte de l'homme et l'origine du mal (1710). In: G VI, S. 288 f. - Vgl. auch Cassirers Kritik an Lotze, der bei Leibniz eine "Nichtachtung dessen, was Gefühl und Wille Eigenthümliches besitzen", finden zu =

Gottfried Wilhelm Leibniz

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Deutlich (distincta) heißt ein klarer Begriff (notio) dann, wenn ein Ganzes als Ganzes erkannt, unterschieden und wiedererkannt werden kann, zusätzlich aber die dieses Ganze von anderen Ganzen unterscheidenden Merkmale als Ganze auf­ gezählt werden können. Mit dieser Aufzählung von Merkmalen ist eine Nominalde­ finition gegeben, die zwar gestattet, zwei Dinge qua Aufzählung von Merkmalen voneinander zu unterscheiden, nicht aber gestattet, eine Aussage über deren Mög­ lichkeit zu machen. Hier lag der eigentliche Anlaß für Leibniz, mit seinen "Medita­ tiones" der Behauptung Descartes', daß alles, was klar und deutlich erkannt werde, auch wahr sei, entgegenzutreten. Da die klare und deutliche Erkenntnis allein nichts über die Wahrheit des Erkannten aussagt, müssen die Klarheit und Deutlichkeit so durch Kriterien ergänzt werden, daß auch die Realität des Erkannten verbürgt ist. Das geschieht mit der Bestimmung der adäquaten und der intuitiven Erkenntnis, denen aber noch die inadäquate und die symbolische Erkenntnis vorausliegen. Es ist im Zusammenhang mit der klaren und deutlichen Erkenntnis hier noch notwendig, hervorzuheben, daß die Gewinnung der unterscheidenden Merkmale ein Analy­ seprozeß ist, mit anderen Worten: um die Stufe der klaren und deutlichen Erkenntnis zu erreichen, bedarf es einer gewissen Zeit, und es muß eine gewisse Gedächtnislei­ stung erbracht werden. Im Unterschied zu den bisher beschriebenen Erkenntnisstufen geht es bei den drei folgenden Stufen nicht mehr um die Beziehung zwischen einer Sache als Ganzer und den Merkmalen als ihren Teilen, sondern - die klare und deutliche Erkenntnis des Ganzen und seiner zureichend kennzeichnenden Merkmale ihrerseits als Ganze vorausgesetzt - um die Relation der Merkmale als Ganze zu den sie konstituierenden Merkmalen. In einer Art rekursiver Regelanwendung tauchen die Grade der Er­ kenntnis einer Sache als Ganze auf der Ebene der Merkmale wieder auf, und zwar so, daß der Grad der Erkenntnis des Ganzen als zusammengesetztes Ganzes ge­ steigert wird. Eine klare und deutliche Erkenntnis heißt dann inadäquat (inadaequata), wenn Merkmale selbst - jetzt als zusammengesetzte betrachtet - klar, aber verworren er­ kannt werden. Hier wird sehr deutlich, daß das Modell Leibnizens ein Stufenmodell ist. Obwohl die klare und deutliche Erkenntnis eine analytisch, rational-diskursiv ge­ wonnene Erkenntnis ist, kann in ihr - und das ist bei der menschlichen Erkenntnis nach Leibniz die Regel16 - ein Anteil verworrener und dunkler Erkenntnis enthalten sein17• Später, in seinen "Nouveaux Essais", hat Leibniz in anderem Zusammenhang können meinte. Ernst Cassirer: Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen. Unverän­ derter fotomechanischer Nachdruck der 1. Auflage Marburg 1902. Bildesheim 1%2, S. 460. 16 Vgl. z.B. Leibniz: Meditationes, G IV, S. 423: ... cujus [sc. cognitionis adaequatae) exemplum perfeeturn nescio an homines dare possint ... 1 7 Zocher: Leibniz' Erkenntnislehre, S. 6f. moniert - zu Unrecht, wie ich meine -, daß Leibniz auch die inadäquate Erkenntnis als Grad der deutlichen Erkenntnis ansetze, denn, so Zocher, ein Ver­ worrenes dürfe es "bei eigentlicher Gliederung des Nurdistinkten" (S. 6) nicht geben. Hier wird deutlich, warum die oben vorgenommene, nachdrückliche Unterscheidung der Analyseebenen - Ganzes als Gan­ zes, Ganzes als aus Teilen als Ganzen bestehend, Teile als Ganze usw. - wichtig ist. Zochers Miß­ verständnis beruht darauf, daß er 'das' Deutliche schon als gegeben annimmt, wenn nur das Ganze deutlich ist. Diese Annahme ist aber zweideutig, weil das Deutliche von Leibniz, wie oben dargelegt, in zweierlei Hinsicht gradualiter betrachtet wird. So können im deutlichen Ganzen sehr wohl verworrene Teile enthalten sein. Diese Verworrenheit auf der Ebene der Merkmale ist wiederum zweideutig. Merk"

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diese graduelle Abstufung offensiv in einem weiteren Rahmen vertreten, offensiv insofern, als er im philosophischen Zusammenhang ein Bild vom Menschen skizziert, das die gesamte Spanne von den unmerklichen Perzeptionen bis zu den klarsten Er­ kenntnissen als anthropologisch konstitutiv auffaßt. Auf die Frage Philalethes', der, als Sprachrohr l..o ckes', wissen möchte, wie man denn gewiß sein könne, daß die Seele immer 'denke', antwortet Theophile: "Je ne say s'il ne faut pas plus de con­ fiance pour nier qu'il se passe quelque chose dans l'ame, dont nous ne nous apperce­ vions pas; car ce qui est remarquable doit estre compose de parties qui ne le sont pas, rien ne sauroit naistre tout d'un coup, la pensee non plus que le mouvement."18 Das hier ironisch dem Gegner vindiziert'! "größere Vertrauen" ist natürlich dem Sprecher Theophile selbst zuzusprechen, da er in diesem Zusammenhang gegen die These argumentiert, daß keine anderen als nur die wahrgenommenen Perzeptionen in der Seele seien. Es ist also die inadäquate Erkenntnis menschlich in dem Sinne, daß physiologische und psychologische Fakta und die metaphysisch begründete Un­ vollkommenheit ihr Grenzen setzen.19 So ist schon diese Stufe der Idee keine ad­ äquate "expression de la nature ou des qualites des choses"20, und insofern kann man sagen, daß die inadäquate Erkenntnis hinter der "Gegenstandsgemäßheit"21 zurück­ bleibt. Adäquat nennt Leibniz eine klare und deutliche Erkenntnis dann, wenn das Ganze und seine Teile klar und deutlich erkannt werden. Sie ist Resultat der "analy­ sis ad finem usque producta"22, die bis zu den "notions primitives"23 reicht. Dieser Grad der Erkenntnis geht einerseits über die Nominaldefinition hinaus, da die so weit vorgetriebene Analyse nicht nur die Konstitution der Teile, sondern auch deren Konstellation zueinander erfaßt. Die Konstellation der Teile zueinander muß aber auf dieser Erkenntnisstufe die Konstellation des Erkenntnisgegenstandes der Idee abbilden. Das heißt, Widerspruchsfreiheit und Möglichkeit der Vorstellung, und so­ mit die Wahrheit der Idee, sind in der adäquaten Erkenntnis mitenthalten. Da alle Elemente klar und deutlich erkannt werden, wird darüber hinaus die Möglichkeit nicht a posteriori, sondern a priori erkannt. Denn: "perducta enim analysi ad finem, si nulla apparet contradictio, utique notio possibilis est."24 Nun sind aber die ersten Möglichkeiten "ipsa absoluta Attributa DEI"25• Für die menschliche Erkenntnis bezweifelt Leibniz die Möglichkeit der vollkommenen Ad­ äquatheit. Wir, so meint er, begnügten uns vielmehr damit, "notionum quarundam male können - bezogen auf das begrenzte Erkenntnisvermögen des Menschen - notwendig verworren sein, nämlich dann, wenn sie nur dem einfachen Zeugnis der Sinne zugänglich sind. Und sie können vorläufig oder willkürlich verworren gehalten werden, nämlich dann, wenn sie grundsätzlich einer weitergehenden rational-diskursiven Analyse zugänglich sind. 8 1 Leibniz: Nouveaux Essais, G V, S. 107. 1 9 Es ist klar, daß der im vorigen Zitat dargelegte Sachverhalt über die Stufe der inadäquaten Erkenntnis hinausgeht. "' Vgl. oben, Anm. 10. 21 Zocher: Leibniz' Erkenntnislehre, S. 6. 22 Leibniz: Meditationes, G IV, S. 423. Zl Leibniz: 'Discours de Metaphysique' (1686; 1846 zuerst publiziert. Der Titel entstammt einem Brief Leibnizens], G IV, S. 449. "' Leibniz: Meditationes, G IV, S. 425. 21 Ebd.

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realitatem experientia didicisse, unde postea alias componimus ad exemplum natu­ rae."26 Wenn die klare und deutliche Erkenntnis der Elemente Widerspruchsfreiheit und Verträglichkeit aufweist, dann ist die in Rede stehende Idee wahr, genauer: dann haben wir überhaupt eine Idee im engeren Sinne. Denn: zwar kann über Un­ mögliches geredet werden, etwa in figmenta utopica, eine Idee davon gibt es aber nicht27• Es gibt noch einen pragmatischen, beziehungsweise anthropologischen Grund da­ für, daß die adäquate Erkenntnis - zusammengesetzter Dinge - dem Menschen kaum zugänglich ist. Die Analyse der einzelnen klaren und deutlichen Elemente braucht Zeit, gleichzeitig müßte auch, um die Klarheit und Deutlichkeit einer einfacheren Stufe nachzuweisen, die Deutlichkeit der komplizierteren Stufen präsent gehalten werden. Menge und Art der Elemente müßten also im Verlauf der Analyse gegen­ wärtig sein28• Die Menge der Merkmale und die zeitliche Dauer des Analyseprozes­ ses als Überforderung des Geistes und des Gedächtnisses veranlaßt Leibniz zur Einsetzung zweier weiterer Stufen der Erkenntnis. Eine klare und deutliche Erkenntnis nennt Leibniz symbolisch (symbolica) dann, wenn bestimmte zusammengesetzte Merkmale oder Merkmalkomplexe nicht - wie bei der adäquaten Erkenntnis - bis zur Stufe der einfachen, unanalysierbaren Ele­ mente zerlegt werden. In heutigen Termini könnte man von diesen Komplexen als "black boxes"29 sprechen. Der Unterschied zur inadäquaten Erkenntnis besteht darin, daß diese unanalysiert beibehaltenen Komplexe analysiert werden könnten, dieses aber aus Zeitgründen und aus Gründen der Überschaubarkeit, beziehungsweise des begrenzten Fassungsvermögens des menschlichen Gedächtnisses unterbleibt30• Man kann die symbolische Erkenntnis als pragmatische oder als anthropologisch bedingte Abbreviatur31 der adäquaten Erkenntnis auffassen. Das Problem dieses Erkenntnis­ grades liegt darin, daß statt der Ideen Symbole, zum Beispiel Worte oder Zahlzei­ chen, in die Analyse eingehen und somit das Risiko zum Irrtum gegeben ist32• Jeden­ falls ermöglicht die Abbreviatur der symbolischen Erkenntnis bei komplizierten Sachverhalten, das Ganze im Auge zu behalten. 26

Ebd. " ... l'art des descriptions peut Iomber ( ... ] sur !'impossible." Leibniz verweist in diesem Zusammen­ hang auf Romane, Märchen, Groteskes in der Malerei u.a. Leibniz: Nouveaux Essais, G V, S. 338. - An anderer Stelle schreibt Leibniz: '' ... il est manifeste que nous n'avons aucune idee d'une notion quand eile est impossible." Leibniz: 'Discours de Metaphysique', G IV, S. 450. 28 Vgl. dazu, bezogen auf "Beweise": Leibniz: Nouveaux Essais, G V, S. 340. 29 Leibniz nennt diese Erkenntnisstufe auch "cognitio caeca", blinde Erkenntnis. Vgl. Leibniz: Medi­ tationes, G IV, S. 423. 30 In seinem sogenannten 'Discours de Metaphysique' unterscheidet Leibniz nicht zwischen einem bezogen auf das begrenzte Fassungsvermögen des Menschen - notwendig in distinkten Vorstellungen enthaltenen Anteil verworrener Erkenntnisse und einem willkürlich eingesetzten Anteil verworrener Erkenntnisse. Er spricht dort von "connoissances suppositives", nicht von symbolischer Erkenntnis. Vgl. G IV, S. 450. 31 Bezogen auf seine eigens eingeführte Terminologie mißverständlich, spricht Leibniz von Worten, "quorum sensus obscure saltem atque imperfecte menti obversatur". Leibniz: Meditationes, G IV, S. 423. "Obscure" ist hier offenbar eher 'umgangssprachlich' verwendet worden. 32 Vgl. zum Verhältnis Wort - Idee - Wahrheit: Leibniz: Nouveaux Essais, G V, S. 377f., sowie Leib­ niz: Dialogus (1677], G VII, S. 190-193. Zum Verhältnis Idee - Bild vgl. Nouveaux Essais, G V., S. 242 bis 244. v

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Intuitiv (intuitiva) schließlich heißt bei Leibniz diejenige Erkenntnis, die das Ganze, alle seine Merkmale und deren Teile klar und distinkt simultan präsent hält. Während der Begriff der "adäquaten Erkenntnis" den Prozeß der Analyse, das heißt auch die Zeitdauer mitberücksichtigt, ist dieses beim Begriff der "intuitiven Erkennt­ nis" nicht der Fall. Formulierungen wie "simul"33, a Ia fois"34, "d'abord"35 oder "d'un coup d'oeil"36 und "tout d'un coup"37 machen den Sachverhalt deutlich38• Da die sonst zur Erkenntnis erforderliche Dauer der Analyse entfällt, ist der Prozeß dieser Er­ kenntnis selbst ein anderer. Das rational-diskursive Procedere wird komprimiert auf einen leichten Augenblick, dem nicht mehr die Mühe der Analyse und die Schwere des Beweisganges anhaftet39• Diese Leichtigkeit ist Resultat der Unmittelbarkeit der intuitiven Erkenntnis. Unmittelbar erkannt ist dasjenige, "qu'on ne sauroit [ ..] prou­ ver par quelque chose de plus certain"40: die ursprünglichen Vernunftwahrheiten und die ursprünglichen Tatsachenwahrheiten41, die Axiome im engeren Sinne und die "experiences immediates internes"42• Es bedarf keiner Zeichen, keiner vermittelnden Ideen und keiner Sinne, um diese Erkenntnis ins Werk zu setzen. Die intuitive Erkenntnis ist keine quantitative Steigerung der adäquaten Erkenntnis, sie ist eine qualitativ andere Art von Erkenntnis - soweit sie sich auf zusammengesetzte Ge­ genstände der Erkenntnis bezieht. "Dieu seul", so sagt Theophile in den "Nouveaux Essais", "a l'avantage de n'avoir que des connoissances intuitives."43 Gott erkennt alles, Einfaches wie Zusammenge­ setztes, klar, deutlich und simultan, weil er der Grund zu allem ist44• Einfache Wahr.

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Leibniz: Meditationes, G IV, S. 423. Leibniz: 'Discours de Metaphysique', G IV, S. 449. 35 Leibniz: Nouveaux Essais, G V, S. 347. 36 A.a.O., S. 472. 37 Leibniz: 'Monadologie' [1714; Titel von Heinrich Köhler (1720)]. In G VI, S. 617. "' Die Definition der "cognitio intuitiva" durch Leibniz hat mit späteren Begriffsbestimmungen des 'Genies' die Simultaneität der Präsenz des Ganzen und seiner Teile gemeinsam. So ist etwa bei Diderot zu lesen: "Le gout est souvent separe du g e n i e. [ ... ] ce qu'il [sc. Je genie] produit est l'ouvrage d'un moment; Je gout est l'ouvrage de l'etude & du tems ... ". Aus dieser Schnelligkeit und Spontaneität resultiere freilich auch, daß eine vom Genie geschaffene Sache "negligee" und d'un "air irregulier, escarpe, sauvage" sei. Das philosophische Genie "observe rapidement un grand espace, une multitude d'etres." " ... il part d'un point & s'elance vers Je but [ ... ] il estp r i m e-s a u I i e r, pour me servir de l'expression de Montagne." Diderot: Artikel "Genie". In: Encyclopedie ou Dictionnaire raisonne des sciences, des arts et des metiers, par une societe de gens de Iettres. Tome VII. Paris 1757, S. 582b und S. 583b (Hervorhe­ bungen durch Kursivierung von mir; HA.). - Jakob Michael Reinhold Lenz schreibt 1774: "Wir nennen die Köpfe Genies, die alles, was ihnen vorkommt, gleich so durchdringen, durch und durch sehen, daß ihre Erkenntnis denselben Wert, Umfang, Klarheit hat, als ob sie durch Anschaun oder alle sieben Sinne zusammen wäre erworben worden." Wenig vorher heißt es: " ... so viel ist gewiß, daß unsere Seele von ganzem Herzen wünscht, weder sukzessiv zu erkennen, noch zu wollen. Wir möchten mit einem Blick durch die innersie Natur aller Wesen dringen, mit einer Empfindung alle Wonne, die in der Natur ist, aufnehmen und mit uns vereinigen." Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Schriften I. Hrsg. von Britta Titel und Hellmut Haug. Stuttgart 1966 , S. 336 und S. 334f. (Hervorhebungen von mir; HA.). 39 Vgl. zum 'Aufwand' der nicht-intuitiven Erkenntnis z.B. Leibniz: Nouveaux Essais, G V, S. 342f. sowie S. 472. 40 A.a.O., S. 348. 41 Vgl. a.a.O., S. 343. 42 A.a.O., S. 347. - Vgl. zu den Axiomen im engeren Sinne: S. 156. 43 A.a.O., S. 472. Um die Darstellung nicht über Gebühr zu belasten, sei zum Gottesbeweis in diesem Zusammen­ hang aus Dieter Henrichs konziser Darstellung zitiert: "Gottes Wirklichkeit ist der Grund dafür, daß 34

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heiten sind freilich auch der Intuition des Menschen zugänglich, und so sind, weil "Je fonds [sc. des choses] est par tout Je meme, ce qui est une maxime fondamentale chez moy [sc. Theophile/Leibniz] et qui regne dans toute ma Philosophie'145, zum einen der Zusammenhang und die Ordnung des Ganzen gewährleistet. Zum anderen geht die intuitive Erkenntnis der einfachen Wahrheiten durch den Menschen als Voraus­ setzung ein in alle distinkten Erkenntnisse. Damit wäre - unter Einbeziehung der bisher ausgesparten einfachen Sachverhalte - der Kreis zwischen intuitiven und di­ stinkten Erkenntnissen geschlossen.46 Berücksichtigt man nun noch, daß Leibniz auch die sinnliche Erkenntnis als dem Menschen vorbewußte Art der prinzipiell di­ stinkten Erkenntnis auffaßte47, so wird das Erkenntnissystem als ganzes geschlossen. Die Begeisterung über die Einsicht in die Geschlossenheit dieses Systems, das sei am Rande vermerkt, hat Theophile zur Annahme seines Namens bewegt48• Ernst Cassirer hat in der von Artur Buchenau übersetzten deutschsprachigen Aus­ gabe der "Hauptschriften" seiner Verwunderung darüber Ausdruck gegeben, daß Leibniz mit dem letzten Absatz seiner "Meditationes" "eine metaphysische Streit­ frage mitten in den Zusammenhang seiner methodischen Erörterungen stellt"49, und er sah offenbar keine andere Möglichkeit als die einer pragmatischen Erklärung. Der letzte Absatz der "Meditationes" sei eine Art Appendix, der keinen systematischen Zusammenhang mit dem vorhergehenden Text aufweise, sondern sich dem "äußeren Anlaß"50 der Streitschrift Arnaulds gegen Malebranche verdanke. Davon kann in die­ ser Ausschließlichkeit keine Rede sein. Es ist vielmehr so, daß gerade dieser letzte Absatz den Gesamttext der "Meditationes" als eine umfassende Erkenntnislehre in nuce deutlich macht, indem ihr ein Platz in einer metaphysischen Gesamtkonzeption zugewiesen wird. Das sei abschließend kurz skizziert. Die Frage, ob wir, Malebranches Behauptung zufolge, alles in Gott schauen, oder ob wir eigene Ideen haben, hält Leibniz für falsch gestellt. Ideen seien nicht gege-

überhaupt etwas möglich ist. Deshalb kann auch in Gott kein Unterschied zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit sein. Alle Möglichkeit hängt von seiner Wirklichkeit ab. [ ... ) Ist Gott unmöglich, so ist es unmöglich, daß irgend etwas anderes möglich ist. Deshalb ist Gott ein notwendiges Wesen." Dieter Henrich: Der ontologische Gottesbeweis. Sein Problem und seine Geschichte in der Neuzeit. 2., unver­ änderte Auflage. Tübingen 1967, S. 46. 45 Leibniz: Nouveaux Essais, G V, S. 473. 46 Vgl. Leibniz: Meditationes, G IV, S. 423: "'Notionis distinctae primitivae non alia datur cognitio, quam intuitiva .. . . 47 Z.B.: " ... les plaisirs meme des sens se reduisent a des plaisirs intellectuels confusement connus. La Musique nous charme, quoyque sa beautt ne consiste que dans les convenances des nombres, et dans Je compte dont nous ne nous appercevons pas, et que l'ame ne laisse pas de faire, les battements ou vibra­ tions des corps sonnans, qui se reneoutreut par certains intervalles. Les plaisirs que Ia vue trouve dans les proportions, sont de Ia meme nature; et ceux que causent les autres sens, reviendront a quelque chose de semblable, �-jque nous ne puissions pas l'expliquer si distinctement." Leibniz: Principes de Ia Nature et de Ia Grace, fondes en raison [1714), G VI, § 17, S. 605f. 48 Vgl. Leibniz: Nouveaux Essais, G V, 65. 49 Gottfried Wilhelm Leibniz: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Übersetzt von Art ur Buchenau. Durchgesehen und mit Einleitungen und Erläuterungen hrsg. von Ernst Cassirer. Bd. I. Harnburg 3 1966 ( Philosophische Bibliothek. Bd. 107), S. 29, Anmerkung 15. - Vgl. auch Cassirers Ausführungen zu Leibniz' Metaphysik in: Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem. 2. Bd., S. 174ff. Sehr plausibel zum letzten Abschnitt der "Meditationes" dagegen ist die Einleitung zu G V, S. 3ff. "" Leibniz: Hauptschriften, S. 29, Anmerkung 15. '"

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bene Worte, Bilder oder Zeichen ("icunculae quaedam"51), sondern "affectiones sive modificationes mentis nostrae, respondentes ad ipsum quod in DEO percipe­ remus"52. Die Bewegung der Affektion und Modifikation gehe aber im Geist immer vor sich. Selbst nicht aktuelle Ideen seien latent oder potentiell vorhanden, "ut figura Herculis in rudi marmore"53. Nur in Gott ist der Unterschied zwischen Latenz und Aktualität aufgehoben. Entscheidend ist aber in unserem ZusammeTihang, daß prin­ zipiell eine latente Idee in eine aktuelle überführbar ist. Daß Leibniz auch hier den Dualismus der Cartesianer kritisch im Visier hat, ist deutlich54• Die graduelle Abstu­ fung der Erkenntnis hat bei Leibniz nicht die Funktion, die 'unvollkommenen' Stufen zu eliminieren, sondern die, deren Ort im geschlossenen Modell zu bestimmen und somit deren Notwendigkeit aufzuzeigen. Gemessen an der cognitio adaequata er­ scheint die cognitio confusa zwar als ein defizienter Modus, die cognitio confusa ist aber sub specie facultatum hominis ein anthropologisch nicht hintergehbares Datum: " ... ce qui leur [sc. aux choses] reste d'imperfection, vient de Ia Iimitation essentielle et originale de Ia creature."55 Diese humanspezifische Erkenntnisbeschränkung zeigt Leibniz auf, indem er einen umfassenden metaphysischen Rahmen entwirft, in den die schon mehrfach beobachteten 'zweierlei Hinsichten' durch die gleichzeitige Teil­ habe am Dunklen und am Intuitiven eingebracht sind. Sowohl die Tatsache, daß die­ ser Rahmen überhaupt entworfen werden kann, als auch die, daß der menschliche Zugang zur intuitiven Erkenntnis via Hypothese56 möglich ist, ist Beleg für die Gott­ ebenbildlichkeit des Menschen und für deren Einschränkung als ein Fundament seiner Eigentümlichkeit. Durch die Situierung dieser (sub specie dei) defizitären Ei­ gentümlichkeit wird die scheinbare Bedrohung der Ordnung des Ganzen in seiner prästabilierten Konstitution aufgehoben - als konstitutiver Bestandteil des Ganzen: "il n'y a rien d'inculte, de sterile, de mort dans l'univers, point de Chaos, point de 51

Leibniz: Meditationes, G IV, S. 426. Ebd. 53 Ebd. Es geht Leibniz darum, ein Bild für die eingeborenen Ideen zu fmden. In den "Nouveaux Es­ sais" unterscheidet er zwischen geädertem Marmor, in dem die Figur gewissermaßen 'vorgezeichnet' sei ( idea innata) und 'indifferentem' Marmor, der gleichwohl das Material zur Figur abgeben könnte ( tabula rasa). Vgl. Leibniz: Nouveaux Essais, G V, Preface, S. 45. Vgl. auch Galileo Galilei: Dialogo so­ pra i due massimi sistemi del monde [1632]: "Die Kunst, in einem Marmorblock eine herrliche Statue zu entdecken, hat das Genie Buonarottis hoch über die gemeinen Geister gestellt." (Zit. nach Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Bd. I. München 1977, S. 33). "' Vgl. z.B. " ... c'est faute de cette distinction [sc. zwischen 'Perzeption' und 'Apperzeption'], que !es Cartesiens ont manque, en comptant pour rien !es perceptions dont on ne s'appercoit pas .. .". Leibniz: Principes de Ia Nature, G VI, § 4, S. 600 . Vgl. auch Leibniz: 'Monadologie', G VI, § 14, S. 608f. ss Leibniz: Principes des Ia Nature, G VI, § 9, S. 603. Vgl. auch Leibniz: 'Monadologie': "Ce n'est pas dans l'objet, mais dans Ia modification de Ia connoissance de l'objet, que !es Monades sont bornees. Elles vont toutes confusement a l'infmi, au tout, mais elles sont limitees et distinguees par !es degres des perceptions distinctes." (G VI, § 60, S. 617) - Von hier aus wird auch deutlich, daß der letzte Satz des er­ sten Absatzes der "Meditationes" mit einer stillschweigend vorgenommenen Ergänzung gelesen werden muß. Er lautet bei Leibniz: "et quidem [sc. cognitio] si simul adaequata et intuitiva sit, perfectissima est." Da die cognitio adaequata dem Menschen kaum, die cognitio intuitiva nur für einfache Sachverhalte zu­ gänglich ist, ist hier ein Zusatz wie ganz vollkommen im Rahmen der menschlichen Unvollkommen­ heit" mitzudenken. Da die cognitio intuitiva des kosmischen Ganzen, wie oben ausgeführt, eine andere Art von Erkenntnis ist, in der die cognitio adaequata aufgehoben ist, kann sich die einfache Summe bei­ der (adaequata + intuitiva perfectissima) nicht auf Gott beziehen. 56 Vgl. Cassirer: Erkenntnisproblem. 2. Bd., S. 182. S
A.a.O., § 195. zro Vgl. die Paraphrase dieses gesamten Sachverhalts bei Meier: Vernunftlehre, § 164, S. 207f.: "Uns Menschen ist es unmöglich, eine Erkentniß zu erlangen, die ganz klar ist; ein solches blendendes und durchdringendes Licht kan, unsere blöde Erkentnißkraft, nicht vertragen. Wir müsten von einer Sache, deren Erkentniß in uns mit einer gänzlichen Klarheit erleuchtet wäre, alle Merkmale klar erkenen, alle Verhältnisse, alle Verbindungen derselben mit andern Dingen, alle Aehnlichkeiten, alle zufällige Beschaffenheiten, Eigenschaften und wesentliche Stücke derselben, alle ihre Gründe und Folgen. Wenn man nun bedenkt, daß alle mögliche Dinge in einer allgemeinen Verbindung unter einander stehen, und daß ein iedes der Grund oder die Folge aller übrigen Dinge ist; so ist leicht zu begreiffen, daß wir alle mögliche Dinge klar erkennen müsten, wenn wir auch nur von einer einzigen Sache alle Merkmale und Verbindungen derselben klar erkennen wollen. Und müsten wir alsdenn nicht allwissend werden? Ein iedes mögliches Ding enthält demnach unendlich viel in sich, und wir müssen uns begnügen, daß wir nur etwas von einer Sache klar erkennen. [ ... ) In einem ieden Gegenstande bleibt uns allemal noch unend· lieh vieles dunkel und unentdeckt." - Vgl. auch oben, S. lOf. und Anm. 55. 271 Vgl. oben, S. 4. 272 Vgl. oben, S. 16f. und S. 24f. 273 Baumgarten: Metaphysica, § 511. 274 Ebd., Anmerkung.

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tisch wie Wolff an275, ohne dessen - im Grunde noch cartesianische276 - Perspektive und Wertung277 in toto mit zu übernehmen. Für Wolff waren die "tenebrae" nur ein "defectus" oder eine "privatio", das heißt ein Negatives in dem Sinne, daß er das Dunkle ausschließlich als Verlust von Licht deutete. Für Baumgarten ist das Dunkle in gnoseologischer Hinsicht ein Differenzierbares, tendenziell Positives278, das, unter der Voraussetzung seiner Neubewertung der Sinne, eine Bereicherung darstellt. Das ist nicht zu verwechseln mit einem Plädoyer für die Äquivalenz von cognitio obscura - nach wie vor ist obscuritas (absoluta) "Defectus et oppositum lucis"279 - und cognitio clara und ihren Spezifikationen, wohl aber eines für deren wechselseitige Bestim­ mung innerhalb der Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit In Termini der Lichtmetaphorik ausgedrückt: zu helles Licht macht ebenso blind wie zu große Fin­ sternis280. Anders: Die menschliche Erkenntnis ist eine 'mittlere Erkenntnis'. In seiner Aufwertung des fundus animae geht Baumgarten so weit, daß er ihn als Gegenstand ästhetischer Analyse zwar ausschließt, gleichwohl aber annimmt, daß sowohl "perfectiones" wie "imperfectiones cognitionis sensitiuae" in ihm enthalten seien281• Schweizer hat in diesem Zusammenhang moniert, daß es inkonsequent sei, auch "von 'Vollkommenheiten' der sinnlichen Erkenntnis, die uns 'dunkel' bleiben müssen", zu sprechen282• Baumgarten meint aber solche 'Vollkommenheiten', die "vel omnino nobis obscurae maneant, vel non nisi intelligendo possimus eas intueri"283, also solche Vorstellungen, die entweder im ganzen dunkel bleiben, das heißt gar nicht als Ganze vorgestellt werden, oder aber als cognitio obscura metasprachlich benennbar, nicht aber objektsprachlich beschreibbar sind. Daß eine dunkle Vorstel­ lung metasprachlich beschrieben werden können muß, ist eine grundlegende (tri­ viale) Voraussetzung für eine rationale Gnoseologie und insofern kein Problem. Daß aber der gesamte Bereich des fundus animae als artikulierter behauptet wird, ist aus der metaphysischen Annahme des nexus rerum und der harmonia universalis erklär­ bar. Baumgarten spricht an dieser Stelle weniger als Ästhetiker, sondern eher als Metaphysiker, der die Grenzen der Disziplin 'von außen' ziehen will. Und es geht nicht um, wie Hans Rudolf Schweizer meint, "vorerst" dunkle Erkenntnisse, die "im Zustand der Latenz verharren, bis sie vom 'Ästhetiker' ans Licht geholt werden"284, sondern um eine systematische Grenzziehung. Die Vorlesungsnachschrift ist hier m

Vgl. a.a.O., § 514. Vgl. Wolff: Psychologia empirica, § 30ff. Vgl. oben, S. 2, Descartes' Aussage zum Verworrenen und Dunklen als Teilhabe des Nichts. Vgl. dazu meinen Aufsatz: Fundus Animae - der Grund der Seele. Zur Gnoseologie des Dunklen in der Aufklärung. In: DVjs 62 (1988), S. 197-220. m Vgl. dazu Franke: Kunst als Erkenntnis, S. 46f. m Vgl. hierzu vor allem die Abschnitte 38 bis 40 der "Aesthetica". Baumgarten stellt hier obscuritas "kat' aisthesin" und "kata noesin" (§ 631) einander gegenüber. Die ästhetische Dunkelheit differenziert er in "CALIGO AESTHETICA" und "VMBRA AESTHETICA" (§ 634) und wertet den 'Schatten' po­ sitiv als Gestaltungsmittel, dem er einen eigenen Abschnitt (§ 654-655) widmet. 279 Baumgarten: Aesthetica, § 631. Vgl. zu obscuritas absoluta vs. comparativa (relativa), a.a.O., § 634. 210 Vgl. Baumgarten: Aesthetica, § 120f., wo Baumgarten die Ober- und Untergrenze des "ästhetischen Horizonts" festlegt. "'' Baumgarten: Aesthetica, § 15f. 282 Schweizer: Ästhetik, S. 37; gemeint ist dort der § 15. 2&1 Baumgarten: Aesthetica, § 15. ",. Schweizer: Ästhetik, S. 37. m

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hilfreich ausführlich: "Die Vollkommenheiten oder Unvollkommenheiten der sinn­ lichen Erkenntnis gehen den Ästhetiker nur insofern an, insofern er sie als schön oder häßlich erkennet. Wann ihm eine Vollkommenheit unbekannt285 wäre, so wird er sich nicht bemühen, sie zu vermeiden. Wie ein Baumeister vielleicht ein Loch in­ wendig im Marmor nicht weiß, für das Äußere aber, was in die Sinne fällt, sorget, so muß der Ästhetikus auch für das, was die Sinne rührt, sorgen, sobald aber die Ver­ nunft als Vernunft etwas einsieht, so gehöret es nicht mehr für den Ästhetiker."286 Irrtümlicherweise hat Wolfgang Proß die Stelle der "Metaphysica", an der Baum­ garten über das Verhältnis von dunkler und klarer Erkenntnis spricht, so ausgelegt, daß "Baumgarten in der Metaphysik und Ästhetik ständig darauf beharre, daß das 'Feld des Lichts' das 'Feld der Dunkelheit' umgreift."287 Der in diesem Zusammen­ hang zentrale Paragraph der "Metaphysica" insistiert aber gerade auf der Koexistenz der beiden 'Felder'. Es heißt dort: "Totum repraesentationum in anima PERCEP110 TOTALlS est, eiusque partes PERCEPTIONES PARTIALES, & harum quidem obscurarum complexus CAMPVS OBSCVRITATIS (tenebrarum), qui est fundus animae, §. 5 1 1 . complexus clararum, CAMPVS CLARITATIS (lucis) est, comprehendens CAMPOS CONFVSIONIS, DISTINCTIONIS, ADAEQUATIO­ NIS, etc."288 • Wie aus dem zuvor Gesagten hervorgeht, ist es nicht nur nicht so, daß in der menschlichen Erkenntnis die klare Erkenntnis prinzipiell die dunkle 'umgriffe', das heißt letzten Endes dominierte, sondern so, daß die dunkle Erkenntnis an der klaren teilhat, und zwar so, daß der Anteil des Dunklen, gemessen am gnoseologisch Men­ schenmöglichen, überwiegt. Baumgarten geht von einer gegenseitigen Durchdrin­ gung und Profilierung beider aus, die in einem Spiel wechselnder Dominanzen zum Ausdruck kommt: "Repraesento rnihi quaedam ita, vt aliqui eorum characteres clari sint, aliqui obscuri. Eiusmodi perceptio, qua notas claras, distincta est, qua obscuras sensitiua [ .. . ]. Hinc est distincta, cui aliquid admixtum est confusionis & obscuritatis, & sensitiua, cui aliquid distinctionis inest."289 In seinen "Meditationes" zieht Baumgarten entschieden eine untere Grenze für den Bereich des Poetischen, indem er bestimmt, daß "c/arae repraesentationes magis poeticae [ ... ) , quam obscurae", was er deutlich im Scholium erläutert: "Hinc eorum refutatur error, qui quo obscurius & et intricatius effutire possunt, hoc in se loqui sornni ant poetikotesos. "290 Rufen wir uns nun noch einmal das oben zur Harmonie und zum 'Verhältnis' Ge­ sagte in Erinnerung, so ergeben sich zwei Gründe für die prinzipielle Inhärenz des Dunklen in jeder menschlichen Erkenntnis nicht-einfacher Dinge und Sachverhalte. Zum einen ist es der bekannte anthropologische Grund des mangelnden Fassungs,.. Vgl. das unten, S. 42 zu cognitio obscura vs. ignorantia Gesagte. 286 Poppe: Vorlesungsnachschrift, § 15, S. 80f. § 15 und 16 sind hier zu einem Paragraphen zu­ sammengefaßt worden. m Wolfgang Proß: Anmerkungen [zu Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769). In: J.G. Herder: Werke. Hrsg. von W.P. Bd. I. München, Wien 1984, S. 810. Im folgenden zit. als HW I. 288 Baumgarten: Metaphysica, § 514. Meier faßt zur Verdeutlichung in seiner Übersetzung die Para­ graphen 511 und 514 zu einem Paragraphen zusammen. Vgl. Baumgarten: Metaphysik [ Übersetzung von G.F. Meier], § 378. 280 Baumgarten: Metaphysica, § 522. 290 Baumgarten: Meditationes, § 13, Scholium.

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vermögens menschlicher Erkenntnis und zum andern die Perspektivität jeder menschlichen Erkenntnis. "Ex positu corporis mei in hoc vniuerso cognosci potest, cur haec obscurius, illa clarius, illa distinctius percipiam [ . ] i.e. REPRAESENTO PRO POSITV CORPORIS mei in hoc vniuerso."291 Nicht nur sind also der menschlichen Fähigkeit, das Einzelne, den Zusammen­ hang der Einzelnen und das Ganze zu erkennen, Grenzen gesetzt, auch die Um­ stände, unter denen Erkenntnis gewonnen wird, die Determination durch Raum und Zeit292, schränken - bezogen auf die Sinne - die Möglichkeiten der Vergegenwärti­ gung der Dinge ein. Je entfernter, je näher an der Peripherie des Wahrnehmungsbe­ reichs der Gegenstand liegt, desto weniger klar ist dessen Erkenntnis. Die Perspekti­ vität der Wahrnehmung macht also auch deutlich, daß die dunkle Erkenntnis etwas anderes ist, als die Unwissenheit (ignorantia), die Baumgarten als "defectus cog­ nitionis"293 bestimmt. Die Unwissenheit ist, wie der Irrtum, ein Negatives; jede Form der Erkenntnis dagegen ist ein Positives, und die dunkle Erkenntnis ist eine Perzep­ tion ohne Apperzeption. Die Ästhetik erweist sich als Wissenschaft der gnoseologischen Gratwanderung zwischen sinnlicher und verstandes- und vernunftgemäßer Erkenntnis. Im Gegen­ stand der Ästhetik 'konfundieren' sozusagen Leistungen der Sinne, des Verstandes und der Vernunft. Die Steigerung der logisch gelenkten Wahrheitserkenntnis sieht Baumgarten in Übereinstimmung mit der Tradition durch Verfeinerung der Merk­ malanalyse gegeben. Je klarer einzelne Merkmale und je mehr Merkmale einer Sa­ che klar erkannt werden, desto deutlicher wird die Sache erkannt. Es ist darauf zu achten, daß Baumgarten zur Charakterisierung dieses Sachverhalts den Komparativ vorzieht: "CLARITAS claritate notarum maior, INTENSIVE [ . ] MAJOR dici po­ test."294 Die Tendenz (Komparativ) zur eingehenden Analyse, zur "analysis usque ad fi­ nem", wie Leibniz sich ausdrückte295, schreibt Baumgarten dem "tiefen"296 Verstand zu. Die Fähigkeit, viele dieser Merkmale mit größerer Klarheit erkennen zu können, macht den "reinen"297 Verstand aus, dem gegenüber Baumgarten, wie bereits er­ wähnt298, Reserven anzubringen sich genötigt sah. Die Fähigkeit, Anzahl und Art der klaren Merkmale zu erhöhen, nennt Baumgarten "INTELLECTVS PVLCRITVDO", was er selbst mit "ein schöner Verstand"299 übersetzt. Gilt dieses für das obere Erkenntnisvermögen, so ist Entsprechendes für das untere Erkenntnisvermögen anzusetzen. Baumgarten definiert folgendermaßen: "CLARITAS [ . . ] multitudine no..

..

.

29 1 Baumgarten: Metaphysica, § 512. Baumgarten übersetzt das Hervorgehobene mit "Meine Vor­ stellungen richten sich nach der Stelle meines Leibes." - Vgl. auch Wolff: Psychologia rationalis, § 62f. 292 Vgl. Baumgarten: Metaphysica, § 85 (positus), § 281 (locus, aetas), § 284 (situs). 293 Vgl. a.a.O., § 515. Meier schreibt in seiner 'Vernunftlehre': "Wer ganz unwissend in Absicht auf eine Sache ist, der hat gar keine Vorstellung von derselben, wer aber eine dunkele Erkentniß von dieser Sache hat, der stell (sie] sich doch dieselbe vor." (§ 159, S. 195) 294 Baumgarten: Metaphysica, § 531, S. 185. ""' Vgl. oben, S. 6. 296 Baumgarten: Metaphysica, § 637, Anm. 1. m Ebd., Anm. 2. 2911 Vgl. oben, S. 38. 299 Baumgarten: Metaphysica, § 637 und Anm. 3.

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tarum [maior], EXTENSIVE MAIOR dici potest"300, und er nennt die extensiv kla­ rere Vorstellung "eine lebhafte Vorstellung"301• Den Begriff der extensiv größeren Klarheit hatte Baumgarten in seinen "Medita­ tiones" neu eingeführt302, worauf er in seiner Antrittsvorlesung explizit hinweist: "man wird auch in klaren Vorstellungen einen neuen Unterscheid mercken können, der von der Menge derer Kennzeichen herrühret. Wo sich dieser mercklich findet; da ist die Vorstellung lebhafft"303• Wenn allein die Menge der Merkmale einer Sache deren Klarheit vergrößert, ohne daß die Sache dadurch deutlich würde, dann können diese Merkmale dem Verstand nur dunkel sein. Den Sinnen dagegen müssen sie klar sein, da sonst das Ganze vollends ohne Kontur bliebe. Die extensiv größere Klarheit ist also ein Spezifikum der sinnlichen Erkenntnis. Von der Baumgarten-Forschung ist das Konzept der extensiv größeren Klarheit für sich ausführlich behandelt worden304• Hier interessiert uns das Verhältnis von Konkretion und Abstraktion. Das Ganze der cognitio sensitiva ist einer rationalen Analyse allenfalls um den Preis seiner Zerstörung zugänglich. Das "novum aliquid ens", das durch die Mischung der Farben Gelb und Blau entsteht305, könnte natürlich analysiert werden, wäre dann aber nicht mehr das Grün der cognitio sensitiva. Ebenso könnte der Homerische Ka­ talog der Schiffe in der "Ilias"306 äbstrahiert zum Ausdruck "Flotten" zusammengefaßt werden, wäre dann aber gleichfalls der cognitio sensitiva entzogen. Worum es Baum­ garten mit seinem neuen und zentralen Begriff der extensiv größeren Klarheit geht, ist die irreduzible Leistung der sinnlichen Erkenntnis, die in der reich detaillierten, konkreten Anschaulichkeit besteht. Die durch Anhäufung von - für den Verstand dunklen Merkmalen anwachsende Bestimmung eines Ganzen ist dessen Konkretion in der Anschauung, und das vollständig Bestimmte ist ein Individuum. Wolff hatte in seiner Logik den herrschenden Sprachgebrauch aufgegriffen, als er schrieb: "Quicquid sensu percipimus, sive externo, sive interno, aut imaginamur, id singulare quid est, soletque Individuum appellari."307 Von dieser Grundlage ausgehend, bestimmte er die "Species" als die Ähnlichkeit der Individuen308 und die Ähnlichkeit der Spezies als "Genus"309, dessen Ähnlichkeit mit anderen seiner Ebene das "Genus ( ... ] superius"310 bildet. Die Definition des In­ dividuums lautet bei Wolff so: "Individuum esse ens omnimode deterrninatum"311• Hier setzt Baumgarten in seinen "Meditationes" an, indem er diese Definition übernimmt (§ 19) und die logische Vorkommensform des Individuums in die sinnli300

A.a.O., § 531, S. 185. 30 1 A.a.O., S. 186, Anm. (c). 302 Vgl. Baumgarten: Meditationes, § 16. 303 Baumgartell.: Vom Vernünfftigen Beyfall, § 6, S. 19, Anmerkung*. 304 Vgl. unter anderen Baeumler: Irrationalitätsproblem, S. 199ff.; Riemann: Meditationes, S. 35, 38; Schweizer: Ästhetik, S. 78; Paetzold: Ästhetische Rationalität, S. 13ff. Vgl. auch Paetzolds Einleitung zu seiner Ausgabe der Baumgartensehen "Meditationes", S. Vllff., bes. S. XVII-XXII. JOS Vgl. oben, S. 11. 306 Vgl. Baumgarten: Meditationes, § 19, Scholium. "" Wolff: Logica, § 43. 308 A.a.O., § 44. 309 A.a.O., § 45. 3 1 0 A.a.O., § 46. 3 11 A.a.O., § 74.

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ehe transponiert312, in der die Menge der Bestimmungen als extensiv größere Klar­ heit erscheint: "Quo magis res determinantur, hoc repraesentationes earum plura complectuntur; quo vero plura in repraesentatione confusa cumulantur, hoc sit ex­ tensiue clarior [ ... ] magisque poetica [ ... ] . Ergo in poemate res repraesentandas quan­ tum pote, determinari poeticum"313• Mit schwindender Abstraktheit wächst die 'Ästhe­ tizität' der Vorstellungen, oder anders gesagt: Logik und Ästhetik verfahren gegen­ läufig in dem Sinne, daß die Logik von dem Individuum abstrahierend zur Spezies usw., die Ästhetik konkretisierend, das heißt nach Baumgarten "in mehrerer Be­ stimmung betrachtet"314, zum Individuum tendiert. Er stellt dieses Verhältnis in sei­ ner "Aesthetica" so dar: "Si genus cogitandi logicum et scientificum obiecta sua pri­ maria, ne exceptis ipsis quidem indiuiduis, vbi caetera paria sint, lubentius in ab­ stracto considerat: pulcre cogitaturus analogo rationis suas materias praecipuas non in concreto solum, sed etiam in detenninatissimis, in quibus potest, hinc in singulari­ bus, suppositis, personis, factis, quoties datur, lubentissime contempletur"315• Wäh­ rend also die Logik auf die mehreren Individuen zukommenden, gleichen Merkmale achtet, um aus der Menge der Gleichen die Spezies zu bilden, achtet die Ästhetik auf die möglichst reichhaltige Menge von Merkmalen, die das Eigentümliche und nicht Vergleichbare ausmacht. Baeumler nennt sie treffend eine "Logik des Individuel­ len"316. Die Ästhetik ist an Qualitäten interessiert, die Logik an der quantifizierenden Vergleichbarkeit. Dieser extensiv größeren Klarheit, deren internen und externen Zusammenhängen und deren Gewichtung sind die Abschnitte von der "ubertas aesthetica"317 und von der "magnitudo aesthetica"318 als prima und secunda cura der Ästhetik gewidmet. Die Ausführung dieser Teile nimmt die Hälfte des ersten Teils der "Aesthetica" in Anspruch. Nun ist aber sowohl das Vorgehen der Logik als auch das der Ästhetik tnit einem Verlust verbunden. Die Konzentration auf das Vergleichbare in der Logik bringt einen materialen Verlust durch Absehen vom Unvergleichbaren mit sich. Der vielzi­ tierte, "monumentale Ausruf'319 Baumgartens: "Quid enim est abstractio, si iactura non est?"320, meint den Verlust an Individuellem, Nicht-Vergleichbarem, 'Anderem', der die logisch gelenkte Analyse begleitet. Daß Abstraktion als Verlust beschrieben wird, statt, wie es in traditionaler Sicht einleuchtend gewesen wäre, die fort­ schreitende Analyse als Erkenntnisgewinn zu kennzeichnen, ist nicht als Plädoyer für die Abschaffung der Logik zu lesen, sondern als ein Aufzeigen der ihr eigenen Gren3 1 2 Vgl. Schwitzke: Aesthetik und Metaphysik, S. 54ff. 3 1 3 Baumgarten: Meditationes, § 18. 3 14 Baumgarten: Metaphysica, § 149, Anmerkung 1. 3 15 Baumgarten: Aesthetica, § 752, S. 507. 3 16 Baeumler: Irrationalitätsproblem, S. 212. 3 17 Vgl. Baumgarten: Aesthetica, § 115-176. 3 1 8 Vgl. a.a.O., § 177-422. 3 19 Baeumler: Irrationalitätsproblem, S. 202. 3"' Baumgarten: Aesthetica, § 560. - Jean Baptiste Robinet schrieb 1753: "La verite abstraite n'est que Ia negation de toute verite reelle, n'est point l'idee universelle de Ia verite." Jean Baptiste Robinet: De Ia nature. Bd. 2 [1753). Amsterdam 1768, S. 25. Zit. nach Giorgio Tonelli: La question des bornes de l'entendement humain au XVIII 0 siede et Ia genese du criticisme kantien, particulierement par rapport au problerne de l'infmi. In: Revue de Metaphysique et de Morale. 64 (1959), N" 4, S. 396-427, hier: S. 407.

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zen, um für die Ästhetik Raum im Ensemble der Philosophie zu schaffen und zugleich, um am Mangel der Logik den Gewinn durch die Ästhetik deutlich zu ma­ chen. Leibniz hatte zur Veranschaulichung der im Geiste vorhandenen, latenten Ideen das Bild von der "figura Herculis in rudi marmore"321 verwendet. Baumgarten zieht ein ähnliches Bild - die Marmorkugel, die aus dem Marmorblock herausge­ hauen wird - als veranschaulichenden Vergleich dafür heran, daß die Herstellung von Form einen Verlust an Material nach sich zieht322• Anders gesagt: die Überfüh­ rung von latenter Form in aktuelle Gestalt zerstört Material und somit auch Disposi­ tionen zu anderen Formen. Dieser Verlust stellt sich aber für Logik und Ästhetik als Wissenschaften gleichermaßen ein, da beide im Vollzug der Aktualisierung ihrer 'Gegenstände' vom Nicht-lntendierten absehen - abstrahieren - müssen und somit, gemessen an der ihnen übergeordneten metaphysischen Wahrheit323, humanspezi­ fisch defizitäre Formen der Wahrheit hervorbringen. Die metaphysische Wahrheit ist die 'volle', dem Menschen nicht erreichbare Wahrheit; ratio und intellectus können keine volle (plena), wohl aber eine vollständige (completa) Wahrheit, nämlich eine, "quae ornne m oppositi formidinem excludat"324, erreichen; die ästhetische Wahrheit ist die "veritas quatenus sensitiue cognoscenda est."325 Sie ist - nach ubertas und ma­ gnitudo aesthetica - die tertia cura der "Aesthetica". Terminologisch unterscheidet Baumgarten die metaphysische Wahrheit von ihrer Vorstellung durch den Menschen, indem er erstere als "veritas obiectiua" und letz­ tere als "SUBIECTIVA [ . ] VERITAS"326 bezeichnet. Die subjektive Wahrheit ist die "obiectiue verorum repraesentatio in data anima"327• Und wieder setzt Baumgarten an, die Ästhetik als Teil der "logica sensu generaliore"328 zu rechtfertigen, indem er die subjektive Wahrheit - an den Sprachgebrauch anschließend - eine logische nennt, sie aber dann - den Sprachgebrauch verlassend - als eine logische Wahrheit im weite­ ren Sinne versteht329• Damit subsumiert Baumgarten nicht, wie Schweizer meint, die Ästhetik unter die Logik, denn die subjektive Wahrheit ist nicht die ästhetische al­ lein. Der entscheidende Unterschied zwischen objektiver und subjektiver Wahrheit ist der Unterschied zwischen der Wahrheit in der Sache und der Wahrheit in der Vorstellung von der Wahrheit in der Sache. Die Gesamtheit der menschlichen Vor­ stellungen zu lenken, hatte Baumgarten einer Logik im weiteren Sinne anheimge­ stellt, die - im Falle der klaren und deutlichen Vorstellung - als (traditionelle) Logik im engeren Sinne, als Logik des oberen Erkenntnisvermögens, und - im Falle der ..

321 Vgl. oben, S. 10. 322 Vgl. Baumgarten: Aesthetica, § 560. 323 "VERITAS METAPHYSICA (realis, obiectiua, materialis) est ordo plurium in vno, VERITAS in essentialibus et attributis entis, TRANSCENDENTALIS." Baumgarten übersetzt "veritas transcenden­ talis" mit "die nothwendige metaphysische Wahrheit". Baumgarten: Metaphysica, § 89. 324 Baumgarten: Aesthetica, § 480. 325 A.a.O., § 423. 326 A.a.O., § 424. ... die Begriffe 'objektiv' und 'subjektiv' wendet er [sc. Baumgarten] in der 'Aesthe­ tica' wohl als erster im heute gebräuchlichen Sinne an." Schweizer: Ästhetik, S. 39. Vgl. auch Schweizers Anmerkung 61 in seiner Ausgabe von Baumgartens "Theoretischer Ästhetik", S. 214, mit dem Hinweis, daß der Gebrauch von 'subiectum, subiectivus' bei Baumgarten noch nicht einheitlich ist, das heißt, 'Subjekt/Objekt' auch noch als Synonyme für 'Gegenstand' verwendet werden. 327 Baumgarten: Aesthetica, § 424. 328 Baumgarten: Meditationes, § 115. 329 Vgl. Baumgarten: Aesthetica, § 424. "

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klaren und verworrenen Vorstellungen - als Ästhetik, als Logik des unteren Er­ kenntnisvermögens ins Spiel kommt. Beides aber, die Logik im engeren Sinne und die Ästhetik, lenkt die Konstitution der subjektiven Wahrheit. Die subjektive Wahr­ heit des analogon rationis ist die ästhetische Wahrheit, dies besagt der Paragraph 424 der "Aesthetica"330. Ein Stemma aus der Vorlesungsnachschrift verdeutlicht das Ge­ sagte: �itas

----- · subiectiva

----M etap hys. obiectiva

0

I ' 1 logica aesthetica I

I

I

veritas aestheticologica331 Die grundsätzliche332 Mischung von Elementen aus oberem und unterem Er­ kenntnisvermögen in der subjektiven Wahrheit faßt Baumgarten in dem Begriff der "VERITAS AESTHETICOLOGICA"333 und macht deutlich, daß die Ästhetik sich mit der Hinsicht des analogon rationis auf die metaphysische Wahrheit befaßt. Damit ist klar, daß auch für die 'ästhetische Seite' der Wahrheit die principia catholica der Metaphysik - das Prinzip der Widerspruchsfreiheit und das des zureichenden Grun­ des334 - gelten. Da - metaphysisch - gilt: "omne ens est vnum transcendentale"335, ist die in die Erscheinung tretende Einheit336 der der Ästhetik zugängliche Aspekt der Wahrheit. Diejenige in die Erscheinung tretende Einheit, die tendenziell durchge­ hend bestimmt ist, das Individuum als phaenomenon, kommt in seiner materialen Fülle der metaphysischen Wahrheit am nächsten337• Das Verhältnis zwischen meta­ physischem ens und ästhetischem phaenomenon ist also isologisch, und man kann Schwitzke zustimmen, wenn er sagt, daß der "Gedanke des 'analogon metaphysikon' [ ... ] der Hauptgedanke der Aesthetik" sei338• Die Schönheit ist in dieser Hinsicht der Ästhetik die sinnlich faßbare Vorkommensqualität von geordneter Vielfalt in der Er­ scheinung, in Baumgartens Worten: "Perfectio phaenomenon, s. gustui latius dicto obseruabilis, est PVLCRITUD0"339• Da die so definierte Schönheit an die observabilitas gebunden ist, ist der Erkennt­ nisprozeß mit dem Erkenntnisresultat derart verknüpft, daß das eine nicht ohne das 3JIJ Vgl. dagegen Schweizers irrtümliche Annahme, Baumgarten widerspreche sich an dieser Stelle (in: Baumgarten: Theoretische Ästhetik, Anmerkung des Hrsg. 61, S. 214). Die Bemerkung Schweizers kommt überraschend, da er zuvor (in: Schweizer: Ästhetik, S. 60: "Der Begriff des Logischen tritt also auf zwei Ebenen auf...") den Sachverhalt klar analysiert hatte. 33 1 Poppe: Vorlesungsnachschrift, § 424, S. 215. 332 Vgl. oben, S. 38. 333 Baumgarten: Aesthetica, § 427. Vgl. dazu treffend Paetzold: Ästhetische Rationalität, S. 37. 334 Vgl. Baumgarten: Metaphysica, § 92, 7, 22. 335 A.a.O., § 73. 336 "obiectorum VNITAS, quatenus phaenomenon sil, AESTHETICA". Baumgarten: Aesthetica, § 439 (Hervorh. in Kursive von mir; HA.). Vgl. dazu: Schweizer: Ästhetik, S. 44. 337 Vgl. Baumgarten: Aeslhetica, § 441. 338 Schwitzke: Aesthetik und Metaphysik, S. 25. Vgl. auch S. 64f., 75. 339 Baumgarten: Metaphysica, § 662. -

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andere existiert. Die Vollkommenheit der Phänomene ist an die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis, eben die subjektive ästhetische Hinsicht, gebunden. Das meint Baumgartens Satz: "Aesthetices finis est perfectio cognitionis sensitiuae, qua talis [ ... ]. Haec autem est pulcritudo"340• Wir wollen es mit dieser Situierung der Ästhetik im metaphysischen Rahmen an dieser Stelle bewenden lassen. Mit der Herausarbeitung der gnoseologischen Genese der Ästhetik und deren Verhältnis zur Metaphysik der Schule dürfte deutlich gewor­ den sein, daß das Kunstwerk nur einen, wenn auch einen gewichtigen Sonderfall aus der Reihe der für die Ästhetik relevanten Objekte darstellt. Die frühe philosophische Ästhetik ist, es sei noch einmal hervorgehoben, nicht eine Kunstwissenschaft, son­ dern sie ist konzipiert als Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis. Für ihr Entstehen kann nun nicht allein ein 'fachinternes' Ungenügen an der Er­ kenntnislehre verantwortlich gemacht werden. Die Revision der Gnoseologie ist vielmehr die Folge der Feststellung eines Mißverhältnisses zwischen Hu­ manitätskonzept und Philosophie. Daß die Entwicklung der Ästhetik als philosophi­ sche Disziplin auch mit einer Veränderung und Erweiterung des Menschenbildes und des Humanitätskonzepts zusammenhängt, ist schon angesprochen worden341• Die Forschungsliteratur betont mehrfach, daß die "Aesthetica" Baumgartens als Komplement und Korrektur der herkömmlichen Logik vom 'ganzen' Menschen aus­ gehe und ihn auch zum Ziel habe342• Keiner aber hat den Zusammenhang zwischen Erkenntnislehre und Ästhetik Baumgartens mit dem Humanitätskonzept in der Ten­ denz treffender herausgestellt, als Ernst Cassirer, der an dieser Stelle abschließend zu Wort kommen soll. In "Freiheit und Form" heißt es: "innerhalb des Rationalismus selbst ergibt sich nun die kühne und unerwartete Folgerung: daß die absolute Voll­ kommenheit der logischen Erkenntnis selbst nicht den einzigen und ausschließlichen Maßstab im Ganzen des geistigen Lebens bedeutet. Sie ist die Norm des unendli340 Baumgarten: Aesthetica, § 14. Schweizer schreibt treffend zu diesem Sachverhalt: " ... diese in der ästhetischen Aktivität Gestalt gewinnende Erkenntnis steht dem 'phaenomenon' nicht als subjektive Ausprägung eines Wahrnehmungsvorganges gegenüber, sondern sie 'ist' selbst das 'phaenomenon' ... ". Schweizer: Ä sthetik, S. 85. 34 1 Vgl. oben, S. 33. 342 Schasler: Ästhetik 1,1, S. 339 schreibt, es gehe Baumgarten "weniger um eine Erforschung des Gebiets des Schönen und der Kunst als um eine Theorie menschlichen Empfindens und Vorsieliens ... ". - Baeumler: Irrationalitätsproblem, S. 208: ''Bildung des ganzen Menschen ist der Grundgedanke der 'Aesthetica'". - Schwitzke: Aesthetik und Metaphysik, S. 22: " ... wenn die Logik eine Methodenlehre des Denkens ist, so muß die Aesthetik eine Methodenlehre der Erfahrling werden. Die Begründung einer Aesthetik in diesem Verstande schließt jedoch die Begründung einer Theorie der Kunst noch nicht ohne weiteres ein .. .". - Riemann: Meditationes, S. 34: "Dieser letzte Teil der Ästhetik [gemeint ist Baumgar­ tens Plan zu einer ästhetischen Empirik] zeigt uns deutlich, wie weit Baumgarten noch den Begriff der Ästhetik als der Wissenschaft von der sensitiven Erkenntnis faßt ... ". - Schweizer: Ästhetik: " Nicht mit einer Philosophie der Kunst, sondern mit der Frage nach den Möglichkeiten sinnlicher Erkenntnis be­ ginnt also die Ä sthetik innerhalb der deutschen Philosophie .. ." (S. 18) . " ... nicht erst in der Kunst be­ ginnt die ästhetische Aktivität. Jeder Akt des Sehens und Hörens vermittelt Erkenntnis und hat einen bestimmten Ausdrucksgehalt Daher ist der 'felix aestheticus', der im ganzen Werk ständig belehrt und angeregt wird, der Mensch überhaupt." (S. 95). - Franke: Kunst als Erkenntnis, S. 65: " ... man muß aus Baumgartens trockenen Begriffsbestimmungen das Pathos des Ideals der Bildung des ganzen Menschen heraushören ... ". - Vgl. jetzt auch Roman Gleissner: Die Entstehung der ästhetischen Humanitätsidee in Deutschland. Stuttgart 1988, S. 29: Baumgartens Ästhetik sei "das erste große Manifest der ästhetischen Humanitätsidee der deutschen Aufklärung."

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chen, des göttlichen Verstandes; aber das Ideal des Menschen wird durch sie nicht bestimmt und erfüllt. Und hierin liegt nun die tiefste Tendenz der neuen Wissen­ schaft, daß sie diesem Ideal eine . eigene unverlierbare und durch nichts anderes er­ setzbare Bedeutung gibt. Die Auflösung der Gesamtheit unseres Vorstellungslebens in deutliche Begriffe würde die Logik vollenden, indem sie unser Menschentum ver­ nichtete: denn der Mensch ist, was er ist, nur in der Einschränkung seiner Erkenntniskräfte. In dieser seiner eigensten Sphäre sucht ihn die Ästhetik auf."343

343 Ernst Cassirer: Freiheit und Form [1916]. Darmstadt 4 1975, S. 77.

II. HERDERS ÄSTIIETIK-KRITIK

A. Herders Kritik der Philosophie der 'Wortwelten " "Manchmal quälte er sich stundenlang, zu versuchen, ob es möglich sei, ohne Wolfe zu denken. Und dann stieß ihm der Begriff vom Dasein als die Grenze alles menschlichen Denkens auf da wurde ihm alles dunkel und öde - " Kar! Phitipp Moritz1 •

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Für die Intellektuellen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist die rationalistische Erkenntnislehre, zumindest im Grundriß, Gemeingut. "Klar", "deutlich", "dunkel" und die anderen einschlägigen Begriffe sind in dieser Zeit Termini, die nicht völlig unbefangen verwendet werden können. Daß sie indes nicht bei jeder Verwendung strikt abgeleitet werden mußten, beruhte freilich nicht nur auf dem stillschweigenden Konsens einer semantischen Kodifizierung, sondern auch darauf, daß ihre Herkunft aus der Lichtmetaphorik eine gewisse Freiheit in der Verwendung gestattete. Anders gesagt: Die metaphorische Provenienz der gnoseologischen Termini ermöglichte eine 'Aufweichung' des Systems, die ihrerseits aus neueren Tendenzen in der Psychologie und aus der Umgestaltung des Humanitätskonzepts ihre argumentative Grundlage beziehen konnte. Der junge Herder verfolgte diese in der bürgerlichen Öffentlichkeit geführten Diskussionen wachsam, um dann, als erst Zwanzigjähriger, auf hoher Ebene ins Gespräch einzutreten, in dem er dann einer der gewichtigen Partner werden sollte. Vom August 1762 bis zum November 1764 hält Herder sich in Königsberg auf. Während dieser Zeit macht er sich neben seinem Broterwerb intensiv mit der zeitgenössischen Philosophie vertraut. Hier legt er Grund für seine eigene gno­ seologische Position, die er in ihren wesentlichen Zügen beibehält und von der aus er seine Ästhetik, Geschichtsphilosophie und sein Humanitätskonzept entwirft. Herder war in Königsberg ein sehr aufmerksamer Hörer Kants, zu dem er auch in gewissem Rahmen in persönlichen Kontakt treten konnte. Die vorkritische Philoso­ phie Kants konnte der Achtzehn- bis Zwanzigjährige also an Ort und Stelle aufnehmen. Über das persönliche Verhältnis Herders zu Kant ausführlicher zu han­ deln, besteht in unserem Zusammenhang keine Notwendigkeit. Es ist aber er­ forderlich, deutlich zu machen, in welchem Rahmen sich Herders philosophischer Ausgangspunkt aus der durch Kant vermittelten philosophischen Tradition heraus entwickelt. Mit Blick auf unsere Annahme, daß die Ästhetik sich einem gnoseo­ logischen Desiderat verdankt, das durch einen Wandel des Humanitätskonzepts initi­ iert wurde, ist zunächst und vor allem ein Text Herders aus der Königsherger Zeit von Bedeutung, sein "Versuch über das Sein".

1 Kar! Phitipp Moritz: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman [1785-1790]. Mit Textvarianten, Erläuterungen und einem Nachwort hrsg. von Wolfgang Martens. ( RUB 4813) Stuttgart 1979, S. 254f. =

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Der "Versuch über das Sein" ist wahrscheinlich in der Zeit von 1763 bis 1764 entstanden2_ Der Text wurde 1936 zum ersten Mal aus den Handschriften des Nachlasses transkribiert und gedruckt_ Diese von Gottfried Martin besorgte Version ist unzuverlässig3• Eine zweite, zuverlässigere Fassung besorgte Gerhard Lebmann 1970". Auf dieser Fassung beruht die bisher letzte, nach genauem Vergleich mit der Handschrift verbesserte, von Ulrich Gaier 1985 besorgte Ausgabe5• Ein Vergleich dieses Abdrucks mit der Handschrift läßt sie uns als die plausibelste erscheinen. Während Rudolf Haym den "Versuch über das Sein", der ihm in der Handschrift vorlag, nur als weiterführenden Kommentar Herders zu Kant auffaßte6, sind sich Ulrich Gaier und Wolfgang Proß in ihren neuesten Herder-Ausgaben einig darüber, daß dieser Text von herausragender Bedeutung für Herders Werk ist7• Wir schließen uns dieser Einschätzung an. Anzumerken ist aber, daß weder Gaier noch Proß bei der Kommentierung des Textes sich ausgiebiger der Nachschriften, die Herder von Kants Vorlesungen angefertigt hatte, bedienen und die Hans Dietrich Irmscher 19648 in einer ersten und Gerhard Lebmann 1968, 1972 (Metaphysik)9, 1979 (Praktische Philosophie)10 und 1980 (Mathematik, Physik)11 in einer zweiten, zuverlässigeren und umfangreicheren Version vorgelegt hat12• Auch das sogenannte 'blaue Studienbuch', in dem sich eine mehr oder minder komplette Disposition und Teilausarbeitungen finden, wurde von Gaier und Proß nicht zur Texterläuterung herangezogen13• Die skizzierte Textgeschichte deutet an, daß der "Versuch" einen Beitrag zur Korrektur des Herder-Bildes liefern könnte, ein Bild, das Herder verzerrt darstellt als philosophischen Dilettanten, dem überdies die Trennung zwischen poetischem und philosophischem Diskurs nicht gelungen sei. Wenn von Diskursinterferenzen dieser Art überhaupt die Rede sein kann, so ist vor einer Wertung nach einer Begründung für diesen Sachverhalt zu suchen. Daß Herder Kant nicht in dessen 2 Vgl. Nachlaß, XXV 52. Vgl. auch FHA I, S. 844f. ' Vgl. Herder als Schüler Kants. Aufsätze und Kolleghefte aus Herders Studienzeit. Hrsg. von Gott­ fried Martin. In: Kant-Studien 41 ( 1936) , S. 294-306. - Dieser Version folgt Proß in: HW I, S. 575-587. Warum ProB diese Vorlage gewählt hat, ist nicht ersichtlich. 4 Versuch über das Sein. In: Kant AA 28, 2,1, S. 947-961. Diese Fassung wird von ProB mit keinem Wort erwähnt. s Versuch über das Sein. In: FHA I, S. 9-21. Gaier hat einige, zum Teil nicht unerhebliche Korrektu­ ren gegenüber der Ausgabe von Lebmann vornehmen können. Ich zitiere nach Gaiers Ausgabe. 6 Vgl. Haym I, S. 32, 38. 7 Gaier: "Die in dem Aufsatz erarbeitete Position hat die weitreichendsten Folgen für Herdcrs Den­ ken". (FHA I, S. 848.). - ProB: "Herders 'Versuch über das Sein' gehört zu den wesentlichsten Doku­ menten der theoretischen Grundlagen seines Denkens". (HW I, S. 844. ) - Vgl. jetzt auch Klaus Schaller: Herder und Comenius. Ein Lehrstück zur Aufklärung der Aufklärung mit Johann Gottfried Herders 57. Humanitätsbrief. ( Schriften zur Comeniusforschung. Bd. 17. ) Sankt Augustin 1988, insbesondere s. 48ff. 8 Immanuel Kant. Aus den Vorlesungen der Jahre 1762-1764. Auf Grund der Nachschriften Johann Gottfried Herders. Hrsg. von Hans Dietrich Irmscher. ( Kantstudien. Ergänzungshefte. 88) Köln 1964. 9 Kant AA 28, 1, S. 1-166 (sog. 'Metaphysik Herder'); AA 28, 2,1, S. 839-946 (sog. 'Metaphysik Herder', 2. Hälfte nach dem Original und Nachträge aus dem sogenannten 'blauen Studienbuch'). 1° Kant AA 27, 1, S. 1-89 (sog. 'Praktische Philosophie Herder'). 11 Kant AA 29, 1,1, S. 47-66 (sog. 'Mathematik Herder') und S. 67-71 (sog. 'Physik Herder'). 12 Vgl. zur Geschichte der Handschriften: Gerhard Lehmann: Einleitung [zum Anhang zu Kant AA 28]. In: Kant AA 28, 2,2, S. 1348-1356. 13 Vgl. Kant AA 28, 2,1, S. 933-946, insbesondere 5.937-941. =

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Version der kritischen Philosophie gefolgt ist, diese Feststellung allein reicht als Grund nicht zu, Herders eigene Position nicht auf ihre Validität und Konsistenz zu überprüfen. Herders Nichtvollzug der kritischen Wende an sich zum Grund für eine Verurteilung zu machen, widerspräche zum einen der Kritik als Methode und gäbe zum anderen bestenfalls über die ideologische Durchsetzungskraft des Kantschen kritischen Paradigmas Auskunft, nicht über dessen Validität (die im übrigen hier nicht zur Debatte steht): In der "Zuschrift" zum "Versuch über das Sein" bezeichnet Herder sich selbst als "Epimetheus", der dem Angesprochenen den folgenden "Versuch" zueignet. Geht man, wie Gaier und Proß das zu Recht getan haben14, davon aus, daß Kant der Adressat ist, so führt Herder sich - in der Tradition des Bescheidenheitstopos - als Nachdenker des Vordenkers "Prometheus"/Kant ein: "Ich übergebe Ihnen, hier einige Gedanken ein metaphysisches Exercitium, von denen die Prämissen in ihren Worten liegen."15 Gaier liest den Text des "Versuchs" vor allem als Widerlegung der Karrtsehen Schrift "Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes" (1763)16; Proß bezieht ihn auf mehrere bis 1764 gedruckt vorliegende Schriften Kants sowie auf Texte Lamberts und Mendelssohns17• Nach der oben skizzierten Textsituation ist aber zu überlegen, ob Herders Bezugnahme auf die "Worte" Kants nicht doch ernster zu nehmen ist. Die Nachschrift Herders zu Kants Metaphysik-Vorlesungen ist die ausführlichste und sauberste, die uns bisher vorliegt. Rudolf Hayms Hinweis, daß Herder als "Lieblingsschrift" Kants "Betrachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen" bevorzugt habe, "ge­ rade die [Schrift], welche von Metaphysik nichts enthält18 insinuiert ein Herder-Bild, auf dem Herder als Bewunderer Kants, weniger aber als verständiger und kritischer Rezipient der Philosophie erscheint. "So kreuzten sich in der Seele des Jünglings Poesie und Philosophie"•• - zu ergänzen ist: zu Lasten der Philosophie. Die Qualität der Herdersehen Vorlesungsnachschriften einerseits und die gnoseologische Präzision des Ästhetikbegriffes bei Herder sprechen eine andere Sprache. Daß Herder "philosophischer Dilettant" und "empiristischer Skeptiker mit idealistischen Bedürfnissen" gewesen sei, was, so Haym, in den "Ideen" immer noch deutlich sich zeige, ja, Herders Position bis zu seinem Lebensende charakterisiere, ist ein Urteil, das den Versuch einer eigenständigen Beurteilung Herders von vornherein schwer belastet. Zudem wird deutlich, daß bei diesem Urteil eher Kants Rezension der "Ideen"20 denn eine einläßliche Textanalyse Pate gestanden hat. Schließlich: Warum 14 Vgl. FHA I, S. 844 und HW I, S. 846. IS FHA I, s. 9. 16 Vgl. a.a.O., S. 845. 1 7 Vgl. HW I, S. 846. 1 8 Haym I, S. 35. 19 A.a.O., S. 33. "' Vgl. dazu jetzt Hans Dietrich Irmscher: Die geschichtsphilosophische Kontroverse zwischen Kant und Herder. In: Hamann - Kant - Herder. Acta des vierten Internationalen Hamann-Kolloquiums im Herder-Institut zu Marburg/Lahn 1985. Frankfurt/M. (u.a.) 1987 ( Regensburger Beiträge zur deut­ schen Sprach- und Literaturwissenschaft. Bd. 34), S. 111-192. Vgl. auch meine Skizze: Humanität - Au­ tonomie - Souveränität. Bedingtheit und Reichweite des Humanitätskonzepts J. G. Herders. In: Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Bd. 8. Tübingen 1986, S. 161-166, hier: S. 163f. =

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Herder "in der Hauptsache [ ... ] ein Kantianer vorn Jahre 1765"21 gewesen und geblieben sein soll, ist eine undurchsichtige Behauptung Hayrns, da Herder schon 1764 Königsberg verlassen hatte und außer der Vorlesungsankündigung für das Wintersernester 1765/66 in diesem Jahr keine andere Schrift Kants erschienen war. All das ist mit Skepsis und auf der Grundlage der nunmehr verbesserten Textlage zu prüfen. Ernil Adlers Hinweis gibt einen Schlüssel dazu: "Auf der Herderforschung lastete der Makel, daß die ersten großen Herdermonographien aus der Feder bedeutender Anhänger Kants, wie Hayrn, Kühnemann und Kronenberg karnen"22• Denkbar ist also durchaus, daß das "metaphysische Exercitiurn" sich unmittelbar an Herders Vorlesungsnachschrift und an das blaue Studienbuch anschließt. Viele Hinweise sprechen dafür. Die Annahme Gaiers und Proß', daß Herder gedruckt vorliegende Texte Kants beigezogen hat, ist deshalb nach wie vor nicht auszuschließen, zurnal das bis dahin von Kant Veröffentlichte in den Metaphysik­ Vorlesungen präsent war. Ein Unterschied in der Einordnung des "Versuchs über das Sein" ergibt sich aber dann, wenn berücksichtigt wird, daß Kant seinen Metaphysik-Vorlesungen die "Metaphysica" Baumgartens in der Version der vierten Auflage zugrundegelegt hat23• Was Herder da in den Vorlesungen gehört hat, ist also Kants Auslegung der Baumgartensehen Metaphysik, wobei natürlich Wolff, Crusius und andere mit herangezogen wurden. Wie bei Herders Arbeitsweise aber offenbar die Regel, so ist auch die Vorlesungsnachschrift keine rein reproduzierende, sondern es handelt sich um "Urnarbeitungen"24, in denen die Reproduktion des Gehörten, Kommentar, Anmerkungen und eigene Reflexionen des Hörers Herder sich vermi­ schen. Da es in unserem Zusammenhang nicht um eine Rekonstruktion der Vorlesungen Kants, auch nicht um eine präzise Datierung der Nachschrift Herders gehen kann, ist nur soviel festzuhalten, daß der Text der Vorlesungsnachschrift erstens ein wichtiges Dokument für Herders damalige philosophische Position ist und zweitens, daß dieser Text eine wichtige Beurteilungsgrundlage für den "Versuch über das Sein", aber auch für andere Texte Herders abgibt. Kurz: Kants kritische Darstellung der rationalistischen Metaphysik, gebrochen durch die Optik Herders, das ist die sogenannte "Metaphysik Herder". Der zentrale Satz im "Versuch über das Sein" lautet: "Das Realsein ist der erste absolute Begriff ... "25• Er ist keiner Demonstration, das heißt keinem logischen Be­ weis zugänglich. Seine Gewißheit ist sprachlich allenfalls als tautologische Formulie­ rung faßbar in dem Satz: "quidquid est, illud est"26• Baumgarten hatte in seiner 21

Haym I, S. 41. 22 Emil Adler: Herder und die deutsche Aufklärung [zuerst 1965]. Wien [u.a.] 1968, S. 57. - Vgl. auch Robert T. Clark: Herder. His life and thought. Berkeley and Los Angeles 1955, S. 2. 23 Es ist die vierte, nicht die erste Auflage, wie Irmscher, Kantvorlesungen, S. 49, 1964 und Gaier 1985 (FHA I, S. 1233) noch annahmen. Vgl. auch Hannsjörg A. Salmony: Die Philosophie des jungen Herder. Zürich 1949, S. 116. - Die Unterschiede zwischen den beiden Auflagen sind beträchtlich. Vgl. für Beispiele oben, S. 36f., Anm. 244, 246, 249, 252, 256. 24 So Lebmann in Kant AA 28, 2,2, S. 1354. 25 FHA I, S. 16. 76 A.a.O., S. 19. Proß scheint anzunehmen, daß diese Formulierung zum ersten Mal im "Versuch über das Sein" auftaucht. Vgl. aber die sog. 'Metaphysik Herder': "principium identicum, alias: quidquid est, illud est". (Kant AA 28, 1, S. 8). Vgl. auch a.a.O., S. 11. - Gaier verweist zu Recht auf Kants Formu­ lierung von 1755 (FHA I, S. 867); vgl. den Wortlaut im folgenden Zitat. - Eindeutig auf Kants "Nova

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"Metaphysica" mit Bezug auf das Mögliche (possibile) geschrieben: "Omne possibile A est A, seu, quicquid est, i/lud est [ ... ]. Haec propositio dicitur principium positionis, seu, identitatis"27, und Kant merkte dazu an: "drükt propositiones tavtologicas aus."28 In der "Nova Dilucidatio"29 von 1755 hatte Kant die Grundprinzipien der metaphysischen Erkenntnis einer Kritik unterzogen, und er bot für das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch eine neue Formulierung an. Sein zweiter Satz im (logischen) ersten Teil lautete: "Veritatum omnium bina sunt principia absolute prima, alterum veritatum affirmantium, nempe propositio: quicquid est, est, alterum veritatum negantium, nempe propositio: quicquid non est, non est. Quae ambo simul vocantur communiter principium identitatis."30 Die tautologische Formulierung entspricht der Forderung, daß die ersten Prinzipien in allgemeinsten Ausdrücken (termini generalissimi) vorzutragen sind. Es ist also in der allgemeinsten Formulie­ rung zum Ausdruck zu bringen, daß das Prädikat dem Subjekt inhärent oder mit diesem identisch ist, anders gesagt: auf dieser allgemeinsten Ebene ist das Prinzip der Identität als Evidenz zu formulieren, wenn es um das Datum des Seins, nicht aber um den Nachweis des Datums in einer bestimmten Vorkommensform geht. Das ist der Fall, in dem das Objekt einer Position nicht mehr zergliederbar ist. "Ein bejahender Satz ist unerweislich, wenn die identitas [sc. von Prädikat und Subjekt] nicht mehr deutlich gemacht werden kann'o31. Die Frage, die sich Herder stellt, lautet: Wenn die Seins- und Existenzgewißheit evident ist, welche Instanz verbürgt dann dem Subjekt die Gewißheit? Da das Sein unzergliederbar ist, scheidet die analytische Philosophie aus, denn sie setzt ja erst da an, wo ein ihr zugängliches Analysandum auffindbar ist. Ihm, als Subjekt im modernen Sinne, als Ich32, bietet diese Philosophie nur den "elenden Trost zur Deutlichkeit"33, womit er gleichzeitig seine polemische Haltung wie auch seine existentielle Betroffenheit zum Ausdruck bringt. Die Metaphysik grenzt das Subjekt aus, oder anders: die Metaphysik findet wegen ihrer Reduktion des Subjekts auf ein intelligibles Konstrukt, das als nur Partiales Realität hat, am empirischen Subjekt, gedacht als ein ganzheitliches, ihre Grenzen. Der intellektualistische Erkenntnisprozeß schreitet vom Komplexen zum abstraktiv gewonnenen Einfachen fort, und Herder lenkt seine Aufmerksamkeit gerade nicht auf den Gewinn, den diese Abstraktion erbringt, sondern auf den mit zunehmender Präzision ein­ hergehenden Verlust all dessen, von dem 'abgesehen' wird. Radikaler als Baumgarten bürstet Herder die Gnoseologie gegen den Strich, indem er den Preis der Präzision in Größenordnungen subjektiven Verlusts an Gewißheit beziffert: "Ich ziehe sie [ sc. die Begriffe] ab, verfeinige sie vom Sinnlichen, bis dieses sich nicht Dilucidatio" (siehe unten, Anm. 29) gehen die kurzen Exzerpte Herders zurück, die als Anhang der 'Metaphysik Herder' beigegeben sind. Es heißt dort u.a.: "2) Es gibt 2. principia prima catholica: quid­ quid es4 i/lud est - quod non est, non est . Kant AA 28, 1, S. 53. n Baumgarten: Metaphysica, § 11. 28 Kant AA 17, S. 25 (Refl. 3489). 29 Kant: Principiorum primarum cognitionis metaphysicae Nova Dilucidatio ... In: Kant AA 1, S. 385 bis 416. 30 Kant AA 1, S. 389. 3 1 Kant AA 28, 1, S. 8. 32 Vgl. oben, S. 45, Anm . 326. 33 FHA I, S. 11. -"

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mehr zerfeinigen34 läßt, der grobere Klumpen bleibt übrig siehe das war un­ zergliederlich."35 Es ist - um das Bild Leibnizens und Baumgartens vom Marmorblock aufzugreifen36 - der Marmorblock in seiner materialen Fülle und potentiell unendlich großen Formlatenz, an dem Herder interessiert ist. Anders gesagt: Die Kritik an der herkömmlichen Gnoseologie hat bei Herder ihren Ursprung im Bedauern über den Verlust der Ganzheit, formuliert als Desiderat komplementärer Rationalitäten. Herder ist kein 'Irrationalist' sans phrase, sondern Gegner des reduktionistischen Rationalismus, sofern dieser das Ganze zu erfassen behauptet. Bei Wolff, Baumgarten und auch bei Kant sieht er diese Tendenz vertreten, und er kritisiert sie in dieser Hinsicht, ohne für deren Verdienste, die er aus seiner Sicht durchaus zu würdigen weiß, blind zu sein. Die allgemeinste Formulierung seiner Reduktionismuskritik im "Versuch über das Sein" lautet: "- ja wenn wir ganz Philosophen ohne Menschen wären'm. Diese Position behält Herder zeitlebens bei. Daß nun "sinnlich und unzergliederlich [ . . ] Synonyma"38 seien, ist zu jener Zeit ein von Herder auf die obscuritas zugespitzter philosophischer locus communis, den wir bereits auf dem Weg von Descartes bis zu Baumgarten verfolgt haben. Hatte Descartes die Sinnlichkeit aus der Philosophie ausgegrenzt, hatte Leibniz mit der Sinnlichkeit den Grenzbereich der Philosophie markiert und ihr Erkenntnisqualitä­ ten zugesprochen, die aber nicht 'ausbaufähig' seien - ein Standpunkt, den Wolff genauer ausgeführt hatte -, und hatte Baumgarten der Sinnlichkeit, insofern sie zur klaren und verworrenen Erkenntnis die Möglichkeit bietet, mit seiner Ästhetik einen festen Platz in der Philosophie gesichert, so geht Herder einen entscheidenden Schritt weiter. Herder rückt die Sinnlichkeit von der Peripherie philosophischer Aufmerksamkeit in deren Zentrum, was zur Folge hat, daß er zu einer anderen Konzeption von Gnoseologie und Philosophie gelangt, die - vor dem Hintergrund dessen, was als 'Philosophie' damals anerkannt ist - tiefgreifende Legitimations­ probleme mit sich bringt. Und noch eine Schwierigkeit verursacht diese Verschiebung: Im "Versuch über das Sein" folgt Herder weitgehend philosophischem Argumentationsusus und traditioneller Argumentation, so daß seine Innovation im Gewand der Tradition nur bedingt zum Ausdruck kommen kann. Das Verwirrende dieses Befundes wird klarer, wenn man sich vor Augen führt, daß Herder hier Ernst macht mit der Vorstellung vom 'ganzen Menschen', der "Zwittermenschheit"39, der ein neuer, ganzheitlicher philosophischer Diskurs entsprechen solle. Der "Versuch über das Sein" ist die erste Spur einer holistischen Philosophie. Um die Gewißheit der Sinnlichkeit plausibel zu machen, bedient Herder sich der Unterscheidung zwischen Überzeugung und Beweis, die in etwa der Baumgar­ tenseben Unterscheidung von "PERSVASIO" und "CONVICTIO'o40 entspricht. In der .

34 Gaier liest "verfeinigen". Ebd. 36 Vgl. oben, S. 10 und 45. 37 FHA I, S. 11. 38 Ebd. " Ebd. "' Baumgarten: Metaphysica, § 531: "Conscientia veritatis est CERTITVDO (subiectiue spectata ( ... J). Certitudo sensitiua est PERSVASIO, inteUectualis CONVICTIO." (S. 185). 35

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Vorlesungsnachschrift zum Paragraphen 53 1 der "Metaphysica" Baumgartens heißt es: "Persuasio ist sinnlich - aus unzureichenden Gründen - ja die man vor zureichend hält .. .'"'1, und es scheint so, als sei der Zusatz - "ja die man vor zureichend hält" - be­ reits ein Zweifel an dem exklusiven Anspruch des intellektualistischen Paradigmas, den Herder nachträglich zum in der Vorlesung Gehörten anbringt. Die sinnlichen Begriffe wirken nach Herder durch "Überzeugungskraft" in mindestens dem Maße, wie die zergliederten Begriffe durch ihre "Beweiskraft'"'2 Gewißheit erzeugen, mit dem Unterschied, daß die sinnlichen Begriffe subjektive, die zergliederten Begriffe (vom Anspruch her) objektive Gewißheit verschaffen. Die beiden Pole - die subjektive, sinnliche, unzergliederliche Gewißheit auf der einen, die (vom Anspruch her) objektive, intellektuale, qua Analyse gewonnene auf der anderen Seite - bezeichnen als Komplemente die Spanne menschlicher Erkennt­ nismöglichkeiten. Die Extremform der subjektiv-sinnlichen Erkenntnis hat ihr Erkenntniskorrelat im völlig Unzergliederlichen, 'Indemonstrablen', in dem "einen allersinnlichsten Begriff143, dem "Begriff des Seins'14 4• Er ist die "Eins", das 'einfachste Wort' für das allem Vorkommenden Gemeinsame, das 'Maß der Vielheit'45• Daß diese 'Eins' nun der sinnlichste Begriff sein soll, ist auf den ersten Blick eine erstaunliche Behauptung, die sich wohl nur vor dem Hintergrund der Gnoseologie erläutern läßt, denn der Begriff des Seins als notwendige Anna hme der Einheit alles Vorkommenden ist alles andere als 'sinnlich'. Die Vorlesungsnachschrift bietet hier eine Brücke. Im Paragraphen 632 seiner "Metaphysica" handelte Baumgarten vom Verständnis einer Sache, und er schloß mit dem Satz: "omne possibile est in se con­ ceptibile'146. In Herders Nachschrift findet sich dazu folgendes: "alles mögliche conceptibel - aber ein einfacher begriff, der nicht notas partiales hat: kan auch nicht deutlich sondern blos klar verstehen [sie] : selbst das höchste Wesen, das diese be­ griffe blos klar hat hat sie doch nicht verworren, denn nicht alles waz nicht deutlich

4 1 Kant AA 28, 2,1, S. 850. 42 FHA I, S. 11. 4 3 A.a.O., S. 12. 44 Ebd. 45 In Herders Vorlesungsnachschrift zu Kants Mathematik-Vorlesung heißt es: "Das Maa.r der Größe (Vielheit) ist die Einheit, oder Eins." Kant AA 29, 1,1, S. 49. - Gaiers Hinweis (der sich auf die Ausgabe von 1753 zu beziehen scheint), daß Herder "Eins" wie Crusius verwende, ist unklar (vgl. FHA I, S. 857). Crusius unterscheidet (in der Ausgabe von 1745) drei Arten der Begriffsverwendung: 1) "man setzt eins den mehrem von eben der Art entgegen" oder, 2) "man setzt eins denjenigen Dingen entgegen, welche nicht vereiniget sind", oder 3) "man nennet [ ... ) dasjenige Eins [ ... ), welches nur einmal existirt". Christian August Crusius: Entwurf der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten, wiefern sie den zufälligen entgegen gesetzet werden. Leipzig 1745 (Reprographischer Nachdruck [ Chr. A. Crusius: Die philosophischen Hauptwerke. Hrsg. von Giorgio Tonelli. Bd. 2) Hildesheim 1964), § 90, S. 155f. Herders Begriff der/des "Eins" läßt sich nicht eindeutig bei Crusius verorten. Zwar schreibt Crusius zu seiner erstgenannten Verwendung: "In der ersten Bedeutung, da das Eins den mehrem entgegen gesetzet wird, ist der Begrifl der Einheit gantz einfach, und kan also durch Zergliederung nicht definiret, sondern er muß aus den Exempeln abstrahiret werden." (A.a.O., § 91, S. 156), dennoch ist dies nicht mit Herders Begriflsverwendung identisch, da es zum Sein nicht 'mehrere von eben der Art' gibt. - Vgl. zum 'ein­ fachsten Wort': Kants "Nova Dilucidatio": " ... terminerum affirmantium simplicissimus est vocula est . .". Kant AA 1, S. 390. 46 Baumgarten: Metaphysica. 4. Aufl., § 632, zit. nach Kant AA 15, 2,1, S. 35. In der 7. Auflage steht fälschlicherweise "inconceptibile". �

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ist ist verworren: das Zusammengesetzte wohl, aber das einfache nicht: das lste principium wird also indemonstrabel seyn E.[xemplum:] Seyn ... "47• Das Entscheidende, schon bei Leibniz Thematisierte, ist das von der rationa­ listischen Gnoseologie geschaffene Faktum, daß das Einfache, nicht Zusammenge­ setzte nur auf einer Stufe erkannt werden kann. Das zureichend von anderem Un­ terschiedene heißt bekanntlich klar erkannt; das von anderen unterschiedene Einfa­ che wäre also nur klar erkennbar. Weil aber - so hatte Leibniz diesen speziellen Sachverhalt ausgelegt - das klar erkannte Einfache eben wegen seiner Einfachheit (notio primitiva) nicht analysierbar, gleichwohl aber ganz erkennbar ist, so ist in die­ sem Falle nur eine Erkenntnis, und zwar die höchste, möglich: die intuitive48• Herder hat Leibnizens "Meditationes" wohl erst später gelesen und exzerpiert49, festzuhalten ist, daß er sich bei der Fundierung von Ontologie und Gnoseologie genau für den Punkt interessiert, an dem vollständige und vor-reflexive Erkenntnis koinzidieren. Weil nun keine Teile oder Merkmale gegeben sind, kann sich aber auch keine Verworrenheit einstellen. Nach Baumgartens Definition der cognitio sensitiva ist ein Einfaches also nicht ästhetisch perzipierbar. Und dennoch spricht Herder vom Sein als dem "allersinnlichsten Begriff', und er kann so sprechen, weil er vom Sein als er­ fahrener Voraussetzung aller Reflexion und Erkenntnis ausgeht, das heißt von einem Seinsbegriff, der der gnoseologischen Analyse vorausliegt Dieses Sein ist der Null­ punkt, die ontologische Origo für Herders Philosophieren und für seine Erkenntnis­ lehre. Die Gewißheit dieses Seins ist subjektiv durch die Empfindung verbürgt, so daß die Ich-Konstitution kein rationaler, sondern ein sinnlicher Akt ist, der reflexiv nicht hintergehbar ist. Das Sein ist "die Grundlage alles unseres Denkens [ ... ) und das Element, mit dem wir umhüllt sind.''50 Die erste reflexive Objektivation ist dem­ zufolge die Konstatation des Seins, das, weil unzergliederlich, einfach, sprachlich die Form der Tautologie annehmen muß. Die Tautologie ist in Herders Perspektive der sichtbare Offenbarungseid der analytischen Philosophie, die grundlegende Seinser­ fahrung ist das "Ende der Philosophie"5\ wie er sich ausdrückt. Und es ist bei diesem 'Ende' an lateinisch "finis" in seiner Doppeldeutigkeit - Ende und Grenze - zu den­ ken. Mit Verve polemisiert Herder gegen "unsere Orthodoxen", die sich der Grenz­ verletzung schuldig gemacht haben, indem sie zu beweisen suchten (demonstrare), was nur gezeigt (indigitare) werden kann. An Baumgartens Ontologie führt Herder exemplarisch den illegitimen Übergriff der Philosophie auf das Datum der Seinsgewißheit vor. Baumgarten war vom Nichts als dem Widerspruch, das heißt vom Unmöglichen, ausgegangen und hatte die Auf­ hebung des Nichts als Generierung des Etwas, des Widerspruchsfreien, also Mög­ lichen, behaupte�2• Damit scheint durch logische Operation Realität auf der 47 Kant AA 28, 2,1, S. 870 . .. Vgl. oben, S. 9f.

49 Irmscher/Adler setzen für Herdcrs Exzerpt von Leibniz' "Meditationes" ca. 1768 an. Vgl. Nachlaß, XXV 88. - Hans-Detlef Bänsch: Semiologische Paradoxien in Goethes Sprach- und Dichtungsverständ­ nis. Essen 1986 ( Germanistik in der Blauen Eule. Bd. 5), S. 141 streicht die grundlegende Bedeutung der Leibnizschen "Meditationes" für Herdcrs Sprachursprungsschrift heraus. "' FHA I, S. 14. SI FHA I, s. 13. » Baumgarten: Metaphysica. "Nihil [.. ] est A & non-A." (§ 7). - "Nonnihil est ALIQVID." (§ 8). Vgl. Kant AA 28, 1, S. 7-11 und AA 28, 2,1, S. 916. =

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Grundlage des Widerspruchsprinzips kausalgenetisch erklärt worden zu sein. Der Fehler liegt nach Herder darin, daß das (logisch) Mögliche mit dem (real) Existie­ renden vermischt worden ist. Zudem liege in der Ableitung des Etwas aus dem Nichts eine petitio principii vor, denn: das Nichts ist nur als Privatives, nicht als Ne­ gatives denkbar. Die Privation setzt aber schon ein Etwas, von dem etwas genommen wird, voraus53• Diese Operation kann also jeweils nur die Prädikate eines Subjekts, nicht das Subjekt selbst betreffen54, und sie bezieht sich nur auf zusammengesetzte (prädizierte), nicht auf einfache Dinge. Das einfache Reale kann von der logischen Analyse also gar nicht tangiert werden. Diese nicht-beweisbare Gewißheit des Seins ist der ontologische Ausgangspunkt Herders. Die Empfindung als Instanz, die diese erste Gewißheit verschaffe, ist Herders primäre gnoseologische Option. Ersteres hat er mit Kant gemeinsam, letzteres trennt Herder von Kant. Die sich im "Versuch über das Sein" anschließende Prüfung, ob der Begriff des Seins als Realsein nicht doch aus einer ihm vorausliegenden Möglichkeit zu erklären sei, die Prüfung also, ob das Sein Grund oder Folge sei, ergibt, daß das Realsein originär ist. Das überrascht nicht, interessant aber, weil für Herder charakteristisch, ist, wie er bei dieser Überprüfung vorgeht. Er schreibt: "Der Begriff des Seins ist subjektiv ohne Zweifel eher gewesen, als der von der Möglichkeit und die Realmög­ lichkeit eher als die logische da Menschen eher gewesen sind als Philosophen.''55 Herder versucht, wie er selbst sagt, den "Ursprung dieses Begriffs" aufzusuchen, um Aufklärung zu erhalten. Das Verfahren ist schlüssig und verblüffend zugleich. Da dem Begriff des Seins kausalgenetisch nicht beizukommen war, weil das einfache Reale als Origo der analytischen Philosophie dieser selbst entzogen ist, macht Herder einen Ansatz zum Wechsel in eine historisch-genetische Erklärung, deren Ausgangspunkt das undifferenzierte Reale als Datum ist. Die absolute Position sei vor der Möglichkeit, das heißt der Möglichkeit zur Wahl zwischen mindestens zwei und weil in der Mehrzahl, nicht absoluten - Positionen gewesen. Subjektiv sei der Begriff des Seins eher gewesen, weil die Erfahrung ihrer eigenen Reflexion voraufgehe56, denn die Philosophie sei eine späte Erscheinung in der Entwicklung der Menschheit. Spezialisierung, Ausdifferenzierung und zunehmende Abstraktheit sind Herders Kriterien zur Erkenntnis des historisch Späteren. Das als historisch früher Behauptete bekommt nun bei Herder als solches argumentative Kraft, und Herder erstellt eine kleine Skizze, aus der ersichtlich wird, daß die Opposition 'Mensch versus Philosoph' als Resultat historischer Entwicklung vom "sinnlichen Menschen"57 zum abstraktiv Denkenden gedacht wird. Da die Abstraktion des Real­ seins als primärer Erfahrung nicht habhaft werden kann, der Begriff des Seins aber

53 Vgl. zum nihil negativum und nihil privativum Kant AA 28, 1, S. 7. Kant zieht dort offenbar die Pa­ ragraphen 7 und 54 aus Baumgartens "Metaphysica" zusammen. Vgl. auch Kant: Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen. In: Kant AA 2, S. 165-204, hier: S. 171f. 54 " ... bei der logischen Remotion [wird) das Subjekt behalten und Prädikat blos verneint ... ". Kant AA 28, 2,1, S. 916. 55 FHA I, S. 15. so Das logische Sein sei eine "Kopie" des Realseins, schreibt Herder kurz vorher. Vgl. FHA I, S. 12. Vgl. auch Herders Skizzen im blauen Studienbuch, in: Kant AA 28, 2,1, S. 936f. 5:7 FHA I, S. 15. ,

Herders Ä sthetik-Kritik

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die Voraussetzung auch für die Philosophie ist, ist der 'Philosoph' in diesem emphatischen Sinne für Herder eine Art Schwundstufe des ganzen Menschen. Nun könnte aus Herders Überlegungen zum Begriff des Seins der Schluß gezogen werden, daß er für die Abschaffung der Philosophie plädiere, um so zum Klischee vom 'Irrationalisten' Herder zu gelangen, der Rationalität durch - wie auch immer verstandene - 'Einfühlung' zu substituieren trachte. Diese Vorstellung vom 'lrratio­ nalisten' Herder ist falsch. Nicht nur frühe Schriften belegen diese Feststellung, son­ dern auch die späteren, großen Abhandlungen. Im "Versuch über das Sein" jedenfalls läßt Herder sich auf vorgegebene philosophische Positionen ein und geht deren ei­ genen Argumentationen nach, um mit ihren eigenen Mitteln deren Wider­ sprüchlichkeit und falsche ontologische Fundierung aufzuzeigen. Dadurch, daß er die Aporien aufzeigt, die sich durch den Übergriff der Logik auf die Seinsgewißheit er­ geben, macht Herder sich die Grenzen der Philosophie klar, ohne die Notwendigkeit und Leistung der Philosophie zu bezweifeln. Die Erklärung des logischen Wesens, "ohne doch das Realwesen berührt zu haben", das sei "ja das einzige Geschäfte der Philosophen - ja! und muß es auch sein, nur daß sie nicht Schlüsse von diesem logisch Möglichen auf das Realsein machen, daß sie glauben, das Realsein erklärt zu haben, wenn sie den ganz verschiednen Begriff des logisch Möglichen weit auskramen, und mit jenem vermischen."58 Den "Versuch über das Sein" bis zu diesem Punkt zusammenfassend, kann festge­ halten werden, daß Herder den philosophischen Diskurs als den Diskurs der "will­ kürlich[en] szientifische[n] Begriff[e]"59 bestimmt, dem die subjektive Seinserfahrung als das mit den Mitteln dieses Diskurses nicht Begreifbare vorausliegt An die Überlegungen zur subjektiven Seinserfahrung und zum Sein als Begriff schließt Herder Gedanken über die objektive Gewißheit des Seins an, indem er - vor allem an Kants "Einzig möglichen Beweisgrund" anknüpfend - vom "Sein als dem Glied eines Satzes" handelt. Descartes hatte von der Möglichkeit als Grund auf die Existenz Gottes als deren Folge geschlossen. Kant, der im "Einzig möglichen Beweisgrund" eine "quasi mathematische Demonstration"60 des ontologischen Gottesbeweises vorlegt, schließt um5ekehrt von der Möglichkeit als Folge auf die Existenz Gottes als deren Grund61• Herder nimmt nun Anstoß daran, daß das Realsein bewiesen werden soll. Sowohl das Realsein als unzergliederliches Einfaches, als auch Gott als Einziges, Ewiges und Unendliches kann nicht prädiziert werden, da Existenz das Subjekt ist: "Existentialpropositionen [ .. . ] fehlet offenbar ein Prädikat"62• Eine grammatische Prä­ dikation vom Typus "Ein Gott ist: ein Gott ist exsistent"63 ist noch keine logische Prä­ dikation, weil dem Subjekt im logischen Sinne nichts 'hinzugefügt', das heißt als "' A.a.O., S. 16. ,. Ebd. - Vgl. auch Kant AA 28, 2,1, S. 938.

60 Josef Schmucker: Kants vorkritische Kritik der Gottesbeweise. Ein Schlüssel zur Interpretation des theologischen Hauptstücks der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft. Wiesbaden 1983 ( Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der geistes- und sozialwissen' schaftliehen Klasse. Jg. 1983. Nr. 2), S. 35. 61 Vgl. Kant AA 2, S. 91, 1 16, 127, 156, 160, 162. 62 FHA I, S. 17. 63 Ebd. =

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Herders Kritik der Philosophie der "Wortwelten"

Eigenschaft zugesprochen wird. Anders gesagt: Gott (Sein) kann nicht bewiesen werden, weil das Realsein gar nicht im Bereich logischer Verfügbarkeil liegt, wie zuvor gezeigt wurde. Und Herder wiederholt sein Credo: "Der gemeine Sinn werde hier unser Lehrer: Keinen Erfahrungsbegriff sucht man a priori zu beweisen"64, womit er gegen Kants "Einzig möglichen Beweisgrund" Stellung bezieht65• Beweisbar sind also nach Herder Beziehungen (respectus, relationes66} zwischen Termen, deren 'Position', nicht aber die Existenz der Terme und die Existenz selbst. Im zweiten Abschnitt seines zweiten Kapitels resümiert Herder: "Das Sein unerweislich - Kein Dasein Gottes erweislich. [ ... ) alle Exsistentialsätze, der größte Teil der menschlichen Erkenntnis nicht zu beweisen - o alles ungewiß, nein nicht ungewiß, auch nicht im Erweise ungewiß: sondern gewiß und gar nicht zu erweisen. [ ... ) Diese Gewißheit [sc. des Seins] ist uns angeboren."67 In einer "Schlußbetrachtung" geht Herder dann auf die ontologischen und gnoseologischen Konsequenzen seiner Annahme von der indernonstrahlen und subjektiven Seinsgewißheit ein. Was Herder hier formuliert, ist nichts geringeres als ein neues philosophisches Programm. Der Ausgangspunkt ist die Forderung nach einer Veränderung der Extension der Philosophie. Die rationalistische Philosophie war bis dahin im wesentlichen auf die Gewinnung klarer und deutlicher Erkenntnisse ausgerichtet, so daß ihr Procedere als eine zentripetale Bewegung von der Peripherie des hetero­ klitischen68, komplexen und dunkel perzipierten 'Materials' zum Zentrum der artikulierten, abstraktiv reduzierten und deutlich erkannten Begriffe beschrieben werden kann. Herder nennt diese Philosophie "objektiv"69• An ihr kritisiert er zur.I einen Verfahrensfehler - den Übergriff der Logik auf das real Existierende -, zum anderen aber, und vor allem, die Relevanzkriterien, anband derer die Entscheidung über die philosophische Dignität der Gegenstände überhaupt getroffen wird. Dies ist ein zentraler Punkt der Kritik Herders, auf den wir noch öfters zurückkommen werden. Mit Bezug auf das Ansehen des historischen Wissens im 18. Jahrhundert hat Hayden White aus, wie er es nennt, "metahistorischer" Perspektive formuliert: "It is true that eighteenth-century historical thinkers tended to overvalue the irrational as a causal factor in the historical process and to undervalue it as a possible source of

64 Ebd. 65 Vgl. die einschlägigen Abschnitte der Vorlesungsnachschrift in: Kant AA 28, 2,1, S. 912ff. 66 Vgl. oben, S. 39 (zu Relationes). li Die Simplizi­ tät des philosophischen Modells mit der unendlichen Polymorphie der komplexen hi­ storischen Gestalten in der synthetisierten Disziplin der Geschichtsphilosophie zusammenzuführen, wirft in der Konsequenz die Frage nach dem Verhältnis beider Elemente dieser Disziplin zueinander auf. Iselin geht mehrfach darauf ein. Seine Antwort ist eindeutig. 'Geschichte' ist erst dann 'Geschichte der Menschheit', wenn alle erreichbaren Data und Fakta einer perspektivischen Betrachtung unterzogen worden sind. Anders gesagt: über das, was die Geschichte der Menschheit ausmacht, entscheidet die philosophische Grundlegung. Die Geschichte muß ''von der Fackel der Philosophie beleuchtet"7 werden, mit dem Anspruch, daß "jede Stelle der Ge­ schichte, ein jedes Volk, ein jeder einzelne Mensch [ ... ] Instanzen zu diser Induction dar[biete]"8, wobei die "Induction" nicht von den einzelnen Fakta als Vorgefundenen ausgeht, sondern von Fakten, die erst durch den Bezug auf die philosophische Grundlegung zu solchen gemacht worden sind, indem sie für das induktive Verfahren präpariert wurden. Beide, Philosophie und Geschichte, sind aufeinander angewiesen: 4 [Isaak Iselin:] Ueber die Geschichte der Menschheit. 2 Bde. Frankfurt und Leipzig 1764. Bis 1791 erschienen 7 Auflagen des Werks. 5 Vgl. Ulrich Im Hof: Isaak Iselin und die Spätaufklärung. Bern und München 1967, S. 85. • [Iselin:] Geschichte der Menschheit I, "Zuschrift" (ohne Seitenzählung). 7 A.a.O., S. 100 . 8 A.a.O., S. 94.

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Herders Entwurf einer Geschichtsphilosophie

"Dise [sc. die Philosophie] ist immer sehr schwach, wenn sie nicht von jener [sc. der Geschichte] unterstützet ist, und jene ist meistens unnütz, und oft schädlich, wenn sie nicht von diser erleuchtet wird."9 Nach Erscheinen der ersten Auflage seiner Geschichtsphilosophie hat Iselin in ei­ nem Brief dann sehr deutlich über seine Konzeption Auskunft gegeben. Es heißt dort: "mon [ ... ] Iivre ne doit contenir que Ia metaphysique de l'histoire, Je resultat des faits interessants et de leur principes. II ne doit pas traiter l'histoire meme."10 Philo­ sophie liefert also das Schema der Wahrnehmung dessen, was 'Geschichte' in einem 'ernsthaften' Sinne sich zu nennen nun beanspruchen darf. Für diese Geschichte ist nicht alles von Belang, wenngleich ihr Konzept den An­ spruch stellt, daß alles Geschehene sich ihm grundsätzlich fügen müsse, so daß das Syntagma der Geschichte gleichsam paradigmatisiert wird - ein Vorhaben, das Peter Hanns Reill treffend als "metahistory"11 bezeichnet hat. Dementsprechend ist zu unterscheiden zwischen 'Menschheit' in quantitativer und in qualitativer Bedeutung. Meint 'Menschheit' im quantitativen Sinne alle Menschen in Vergangenheit, Gegen­ wart und Zukunft, so ist mit 'Menschheit' im qualitativen Sinne der Mensch, sein 'Wesen' gemeint. Iselins "Geschichte der Menschheit" ist eine Geschichte des "wah­ ren Menschen"12, in der die emphatische Betonung der Paradigmatisierung (des 'wahren Menschen') die Grundlage zur Bewertung von Geschichte abgibt. Das Paradigma, welches Iselin der Geschichte unterlegt, ist das der rationalisti­ schen Gnoseologie und Vermögenspsychologie, flankiert von und in Konkurrenz zu Montesquieus Klimatheorie13• Zwar führt er auch Sulzer, Mendelssohn, Pouilli, Adam Smith, Hutcheson und Horne als Gewährsleute an, der wichtigste aber ist Baumgarten. Es dürfte dessen "Metaphysica" gewesen sein - und aus dieser wiederum die "Psychologia" -, der Iselin im wesentlichen die Grundlegung seiner Schrift ent­ nimmt. Das erste der insgesamt sechs Bücher ist eine "Psychologische Betrachtung des Menschen", auf die im weiteren Verlauf der Darstellung nicht nur immer wieder Bezug genommen wird, sondern die auch die Gesamtdarstellung strukturiert. Anders gesagt: Iselins "Geschichte der Menschheit" ist ein geschichtsphilosophischer Versuch in dem Sinne, daß das Paradigma der Psychologie auf das Syntagma der Geschichte projiziert wird14• Das Paradigma ist also nicht nur der systematische Fundus für die • A.a.O., S. 82. 10 Iselin an Jean Rodolphe Frey, 28.6.1768. Zitiert bei Im Hof: Iselin und die Spätaufldärung, S. 77. 1 1 Peter Hanns Reill: The German Enlightenment and the Rise of Historicism. Berkeley [u. a.] 1975, S. 69. 1 2 Iselin: Geschichte der Menschheit I, S. 81. 1 3 Die Klimatheorie bekommt bei Iselin, der sich hierbei auf Machiavellis 'Discorsi' und Strabo beruft, eine 'aktive' Variante dadurch, daß er den Zusammenhang zwischen Klima und Bodenkultivierung be· tont, Klima also ein Kulturfaktor im Sinne des Wortes wird. Vgl. a.a.O., S. 34ff. 14 In der Ausgabe von 1784 zitiert Iselin in einer dem Buch vorangestellten "Anekdote über die Ge· schichte der Menschheit" aus einem Brief Hornes, der präzise die Stellung von Iselins Projekt zu Mon· tesquieu beleuchtet. Es heißt darin: 'Er [sc. Montesquieu] hat alle Ursachen erschöpfet, welche aus der Natur der Verfassung, aus der Verschiedenheit des Clima, aus der Stärke oder der Schwäche eines Vol· kes, aus der Dienstbarkeit etc. entstehen können. Aber er hat diejenigen Ursachen nicht entwickelt, welche aus der menschlichen Natur selbst, aus unsern Leidenschaften, und aus den natürlichen Triebfe· dern unsrer Handlungen fliessen; und sie werden doch, mein Freund! empfinden, daß die menschliche Na/Ur selbst einen grösem {sie] Einfluß in die Einführung von Gesetzen und Gewohnheiten habe, als alle

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Kohärenzierung von Geschichte, sondern seine Struktur selbst wird auf die Ge­ schichte abgebildet. Diese zweideutige Beziehung zwischen Philosophie und Ge­ schichte war Iselin offenbar bewußt, denn er sieht sich genötigt, von eher "phi­ losophischen Hypothesen als historischen Wahrheiten"15 zu sprechen. Da, wo Quel­ len und Dokumente den 'Einblick' (cognitio historica) in die Geschichte versagen, wird zur 'Einsicht' (cognitio philosophica) die 'Natur des Menschen' als hypotheti­ sches Substitut herangezogen. Die Arten und Grade der Erkenntnis werden vom sy­ stematischen Zusammenhang in eine Abfolge, verstanden als Geschichte der Menschheit, umgedeutet, so daß Geschichte der Entwicklungsprozeß vom Dunklen des fundus animae16 zum Klaren und Deutlichen und damit zu Tugend und Glückse­ ligkeit erscheint. Das im gnoseologischen Schema Elaborierteste wird bei Iselin nicht nur zum Ziel der Geschichte, sondern auch zu ihrem Maßstab. Logische, psycho­ logische und historische Genese werden theoretisch synchronisiert und aufgrund der behaupteten Entwicklungsrichtung evaluativ nutzbar: das Vergangene ist, gemessen am Gegenwärtigen, grundsätzlich defizitär. Es überrascht bei der methodologischen Anlage dieses Werkes deshalb nicht, daß es über lange Passagen hinweg nicht eine Geschichte der Menschheit, sondern eine Auseinandersetzung mit konkurrierenden Schriften ist. Insbesondere polemisiert Iselin gegen Rousseaus Annahme des Naturzustandes. Dabei ist hervorzuheben, daß Iselin sich des hypothetischen Charakters des 'Naturzustandes' bewußt ist17, daß er also zu Rousseau nicht auf der Ebene historischer Fakten, sondern auf der Ebene der Modelle18 in Konkurrenz tritt. Der Ursprung der Geschichte liegt für Iselin in einem zwielichtigen Dunkel. Einer­ seits geht er von der tabula-rasa-Vorstellung aus: "Von allen Kräften entblösset be­ tritt der Mensch den Schauplatz, der seiner Wirksamkeit bestimmet ist."19 Anderer­ seits ist da der Schöpfungsbericht der Bibel, der die ersten Menschen - Iselin spricht im Plural - von vornherein mit einer gewissen Ausstattung versieht. Gegen die Rous­ seausche Annahme eines ursprünglichen 'Standes vollkommen einfältiger Sitten' führt Iselin die Genesis an - in einem signifikant verquer formulierten Satz, der sich möglicherweise der theologischen Brisanz der Frage verdankt. Er lautet: "Es ist wahrscheinlich, daß sich die menschlichen Vermögen allmählig so geäussert haben würden, wenn nicht die unmittelbare Hand der Vorsehung die ersten Menschen so­ gleich in einen vollko mmn ern Stand versetzet hätte."20

andem Ursachen, welche Montesquieu ausführet." Isaak Iselin: Über die Geschichte der Menschheit. 1. Bd. Karlsruhe 1784, S. XIV. 15 Iselin: Geschichte der Menschheit I, S. 161. 16 Vgl. a.a.O., S. 10. Iselin verweist in einer Fußnote ausdrücklich auf Baumgartens Begriffsprägung. 17 Vgl. a.a.O., S. 89. 1 8 Im Hof meinte Iselin der "heutigen durch den Historismus geprägten Haltung" plausibler machen zu können, indem das erste (methodologisch grundlegende) Buch an den Schluß des Werkes gestellt werde. Vgl. Im Hof: Iselin und die Spätaufklärung, S. 78. Erstens widerspräche solches Vorgehen prin­ zipiell dieser Art von Geschichtsphilosophie (wobei übrigens noch fraglich wäre, was sich durch eine solche Umstellung überhaupt änderte), und zweitens geht es nicht um die Reihenfolge der Abschnitte, sondern um deren Verhältnis zueinander. Das erste Buch ist Iselin Fundament für die übrigen fünf. 19 Iselin: Geschichte der Menschheit I, S. 47. "' A.a.O., S. 161.

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Der Versuch, Rousseau mit dem Schöpfungsbericht zu widerlegen, ist aber nicht nur in der Formulierung widersprüchlich, sondern er deckt auch auf, daß bei Iselin selbst philosophische Hypothese und Genesis in Konkurrenz treten. Das gnoseologi­ sche Modell verlangte die Entwicklung vom Dunklen zum Klaren und Deutlichen; die Genesis setzt aber schon später als beim Dunklen an. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Asynchronizität von logischer und historischer Genese durch einen alogischen und ahistorischen Eingriff - die Vorsehung - zu plausibilisieren. Für Iselin ist "Geschichte der Menschheit" also grundsätzlich philosophisch nicht ganz zu erschließen. Seine Fundierung der Geschichtsphilosophie in der 'Psychologie' und die Umdeu­ tung der Systemhierarchie der Erkenntnisarten und -grade zu einer Hierarchie von Werten gestattet es Iselin, eine Typologie zu entwerfen, mit der er die Menschheit in "zwo Hauptclassen"21 einteilt. Da sind einerseits diejenigen Menschen, die vom unte­ ren und andererseits diejenigen, die vom oberen Erkenntnis- und Begeh­ rungsvermögen beherrscht werden. Die Einteilung in die unteren und oberen Ver­ mögen kommt hier deutlich evaluativ zur Anwendung, und zwar in vierfacher Hin­ sicht: auf das Individuum, auf Gruppen, in synchronischer und in diachronischer Hin­ sicht. Die typisierende Zuordnung des Individuums zu einer der beiden Klassen überträgt Iselin auf "ganze Völker"22• In synchronischer Hinsicht dient dieser Trans­ fer vom Typus auf Gruppen der Gewinnung reduktionistischer Aussagen von der Art zeitgenössischer völkerpsychologischer Klassifizierungsversuche. In diachronischer Hinsicht werden Aussagen über die Geschichte des Menschen gewonnen, indem die Individualentwicklung als metonymisches Modell der Gattungsentwicklung aufgefaßt wird23• Damit ist methodologisch ein Verfahren erschlossen, Menschheitsgeschichte bis in die Frühgeschichte am Individuum nach Maßgabe der 'Psychologia empirica' anschaulich, gegenwärtig werden zu lassen. Die Lebensalteranalogie ist die Entspre­ chung in der Darstellung. Es ist freilich eine Frage, die nicht nur Iselin betrifft, ob diese Analogie Geschichte oder ob sie nicht vielmehr eine geschichtsphilosophische Annahme veranschaulicht. Eben deshalb, weil mit dem gnoseologischen Schema und der Vermögenspsychologie eine 'wissenschaftliche' Grundlage gegeben war, ist die Lebensalteranalogie nicht mehr Allegorie im engeren Sinne, sondern dem Anspruch nach die zur Anschauung gebrachte Verifikation dieser Annahmen. Das Individuum fungiert hier als Ex­ emplum für ein Prinzip der Geschichte. Auch dieses ist ein Aspekt der Pa­ radigmatisierung der Geschichte durch Iselin. Iselins Versuch, der Geschichte mit philosophischen Mitteln habhaft zu werden, rückt die Frage nach den Quellen zwar in die zweite Reihe24; gleichwohl stellt sie sich. Es ist auffällig, daß er - neben den alten Historikern, natürlich, - eine große Zahl von

21 A.a.O., S. 74. 22 A.a.O., S. 76. 23 Vgl. z.B. a.a.O., S. 205 und 208, wo vom "kindischen Zeitpunct der Menschheit" die Rede ist. Vgl. auch die maximenartige Formulierung: "Ehe der Mensch ein Mensch wird, muß er durch den Stand der Kindheit hindurch gehen" (a.a.O., S. 238). "' Reills Kritik an Iselins dilettantischer Auswahl und an seinem Umgang mit den Quellen scheint mir dem Projekt Iselins nicht angemessen zu sein. Vgl. Reill: German Enlightenment, S. 66.

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Reiseberichten und ethnographischen Schilderungen25 heranzieht. Die Wahl beider Quellentypen folgt aus der Anlage des Projekts und aus der eurozentrischen Per­ spektive Iselins. Die Vergangenheit der Menschheit ist am entlegenen Ort auffind­ bar, so daß die Schilderungen von 'Primitiven' und Fremdem den Status der Dar­ stellung von am eigenen Ort Überwundenem bekommen. Descartes hatte das Ge­ spräch mit anderen Jahrhunderten dem Reisen gleichgesetzt26• Für Iselin sind Reisen ins Entlegene der Erde Reisen in die Geschichte der Menschheit. Die Annahme, daß die Entwicklung der Menschheit am eigenen Ort am weitesten gediehen sei, gestattet den wertenden Rückblick, dem die Exotisierung des geographisch Entlegenen ent­ spricht. Aber nicht nur in der Ferne ist die Vergangenheit als Wildheit oder 'Natur­ stand' gegenwärtig, sondern auch 'unten', am Boden der zivilisierten Gesellschaften. "Wir finden noch sehr viele Beyspiele davon [sc. von Elementen des 'Naturstandes'] nicht nur bey Wilden, sondern auch unter den nidersten Classen der policierten Völ­ ker."27 Neben das geographisch Exotische tritt das sozial Exotische28 als Material zur Veranschaulichung der Vergangenheit der Menschheit, zugleich aber auch als Auf­ gabe der Integration in den historischen Prozeß, der Iselin sich ja mit seiner Schrift zu stellen versucht. Die implizite Topik in Iselins Schrift macht auch unausgesprochen den Ort des Ge­ schichtsphilosophen deutlich: Er schreibt vom Zentrum aus, vom - in Termini der Lichtmetaphorik Licht her, ausstrahlend bis in die Peripherie. Und er schreibt von der Höhe aus, vom Standpunkt der Gesittung, Kultur und 'Policirung'. Schließlich liegt der Ort, von dem aus Iselin schreibt, 'vom', an der Spitze der geschichtlichen Entwicklung und Bewegung, zu der er selbst beiträgt: "Auf das höchste befindet sich Buropa nun in einer blühenden, in einer ausgelassenen Jugend, und reifet seinen männlichen Jahren und bessern Zeiten entgegen."29 Mit dem erreichten Stand der 'natürlichen' Entwicklung des Menschen ist die Ge­ schichte der Menschheit nicht an ihrem Ende angelangt, sie ist aber "seit einem hal­ ben Jahrhundert"30 in das Stadium der Aufklärung getreten, das es gestattet, Vergan­ genes als defizitär zu beurteilen. Das philosophische Jahrhundert31 bereitet das Mannesalter der Menschheit vor, dessen Entwicklung zu einer "Grösse" führen könne, ''von deren [sie] wir dermals uns keine Begriffe machen können."32 Vom er­ reichten Stand der Geschichte aus gesehen, erscheinen das Einfache und der Ur-

25 Vgl. die Zusammenstellung der ethnographischen Quellen bei Im Hof: Iselin und die Spätaufklärung,

s. 247-251.

26 Vgl. Descartes: Discours de Ia Methode, S. 129. v Iselin: Geschichte der Menschheit I, S. 121. 28 Nicht nur das geographisch sondern auch das sozial Exotische wird im 18. Jahrhundert durch 'Reise· berichte' erschlossen. Vgl. z.B. Krist.[ian) Heinr.[ich] Spieß: Meine Reisen durch die Höhlen des Un­ glücks und Gemächer des Jammers. 4 Teile. Leipzig 1796-1798. Auch Christian Gotthilf Salzmann: Carl von Carlsberg oder über das menschliche Elend. 6 Teile. Leipzig 1783-1788 ist ein Reiseroman. Im 19. Jahrhundert ist dann die Exotisierung vielfach Vehikel zur romanhaften Präsentation der 'sozialen Frage' geworden, indem das Exotische zum "Geheimnis" wird. Vgl. etwa Eug�ne Sue: Les Myst�res de Paris. (1842/43), ein Roman, der eine Fülle von sogenannter 'Mysterien'-Literatur nach sich zog. Vgl. dazu: Erich Edler: Eug�ne Sue und die deutsche Mysterienliteratur. Phil. Diss. Teildruck. Berlin 1932. 29 Iselin: Geschichte der Menschheit II, S. 285. 30 A.a.O., S. 283. 3 1 Vgl. a.a.O., S. 261. 32 A.a.O., I, S. 238.

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sprung negativ. In einer seit der Renaissance typischen Verkehrung der Epo­ chencharakterisierung wird das goldene Zeitalter dementsprechend als Zukunft ge­ dacht, und selbst die Zeit der Griechen ist in Iselins Sicht mit dem Makel der Bar­ barei behaftet33• Zwar seien die "schönen Wissenschaften und Künste" bei den Grie­ chen auf dem Wege zur Vollkommenheit gewesen, zwar habe das Epos "den höchsten Grad der Vortrefflichkeit erreichet" und sei die "Schaubühne der Alten [ . .. ] die erhabenste Schule ihrer politischen Tugend"; auch stellt Iselin "die edle Einfalt und die erhabne Grösse der Griechen" in ihren Dramen den neuern Dichtern als nachahmenswert vorl"; aber all diese Leistungen im Bereich der 'schönen Wissen­ schaften und Künste' sind für Iselin nur zu rasch zur Blüte gekommene Produkte der Einbildungskraft. "Die eigentlichen Wissenschaften hingegen sind Früchte des auf­ geheiterten Verstandes. Sie erfordern eine mühsame und geübte Erfahrung"35• Somit sind für Iselin auch die im Medium von Kunst und Philosophie der Antike vorgetra­ genen Tugenden "keine wahren Tugenden"36• Und Iselin resümiert: "Es fällt also ein grosser Theil des Werthes von den so gepriesnen Tugenden des Alterthumes weg'137, weil die Tugenden nicht um ihrer selbst willen, sondern zweckbestimmt, regional be­ schränkt und aus mangelnder Erfahrung im Umgang mit den Lastern entwickelt und gepflegt wurden. Es fehlen den Griechen zur Vorbildhaftigkeit die Grundlagen der Freiheit, Gerechtigkeit und des Kosmopolitismus38• Methode und Systematik lassen Iselin hier als dezidierten Vertreter der 'modernes' und als Gegner des - vornehmlich politisch inspirierten - kontemporären Philhellenismus erscheinen. Generell lassen die skizzierten Charakteristika der "Philosophischen Mutmaßun­ gen" einen Grundzug erkennen: ein dogmatisches Verhältnis zur Alterität. Der aus­ wählende Eingriff der Philosophie in die Geschichte fa4$onniert die Ereignisse nach Maßgabe des 'Interesses' des Geschichtsphilosophen. Da der aufgeklärte Philosoph 'im Zentrum' steht, erscheint das Ferne - nicht zwangsläufig, aber in Iselins Fall mindestens suspekt. Nicht anders ergeht es dem zeitlich Zurückliegenden, das der 'vorn' stehende Philosoph als weniger aufgeklärt ansieht. Daß - um noch einmal die Iichtmetaphorik zu bemühen - das licht des Aufklärers selbst zu schwach sein könnte oder prinzipiell nur einen begrenzten Bereich auszuleuchten vermöchte, 33 Vgl. dazu: Bodo Gatz: Weltalter, goldene Zeit und sinnverwandte Vorstellungen. Hildesheim 1967 ( Spudasmata. Bd. XVI). 34 Im Hof: Iselin und die Spätaufklärung, S. 201, weist darauf hin, daß Iselin zu diesem Zeitpunkt Win­ ckelmann noch nicht gekannt habe. Man wird dem entgegenhalten dürfen, daß das auf Pseudo­ Longinos' "Peri Hypsous" zurückgehende Diktum seit Boileaus Übersetzung (1674) "ein gängiger Slogan" war. So Max L. Baeumer: Klassizität und republikanische Freiheit in der außerdeutschen Winckelmann-Rezeption des späten 18. Jahrhunderts. In: Johann Joachim Winckelmann. 1717-1768. Hrsg. von Thomas W. Gaethgens. Harnburg 1986 ( Studien zum achtzehnten Jahrhundert. Bd. 7), S. 195-219, hier: S. 204. Vgl. auch Wolfgang Stammler: "Edle Einfalt". Zur Geschichte eines kunsttheoretischen Topos. In: Worte und Werte. Bruno Markwardt zum 60. Geburtstag hrsg. von Gustav Erdmann und Alfons Eichstaedt. Berlin 1961, S. 359-382. 35 Iselin: Geschichte der Menschheit II, S. 116. 36 A.a.O., S. 145. � A.a.O., S. 147. 38 Vor diesem Hintergrund ist es einigermaßen unverständlich, wenn Proß behauptet, daß Iselin "per­ manent" in seiner "Geschichte der Menschheit" darauf hinweise, "daß der in Sinnlichkeit und Phantasie verstrickte Mensch der Frühzeit nicht mit den Begriffen einer modernen 'Moral' eines veredelten Men­ schentums gemessen werden dürfe." HW I, S. 720. =

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kommt als Problern nur insofern zur Sprache, als das geschichtsphilosophische Kon­ strukt als Hypothese ausgewiesen wird. Zeit und Alterität des Gewesenen werden reduziert auf das für positiv befundene Intelligible. Iselins Satz, ''J'airne !es choses in­ telligibles"39, ist die auf den ersten Blick unverdächtige Formulierung dieser Be­ schränkung.

2. Voltaire

Unter dem Pseudonym "Abbe Bazin" erschien 1765 in Arnsterdarn die Schrift "La Philosophie de l'histoire" von Voltaire40• 1769 stellte er diese Schrift seinem "Essai sur !es rnoeurs et l'esprit des nations" als Einleitung voran. Mit dem Titel "La Philo­ sophie de l'histoire" prägte Voltaire den neuen Begriff11 • Die ersten Sätze der Schrift machen deutlich, was der Verfasser von einer Philosophie der Geschichte erwartet: "Vous voudriez que !es philosophes eussent ecrit l'histoire ancienne, parce que vous voulez Ia Iire en philosophe. Vous ne cherchez que des verites utiles, et vous n'avez guere trouve, dites-vous, que d'inutiles erreurs. Tächons de nous eclairer ensernble; essayons de deterrer quelques rnonurnents precieux sous !es ruines des siecles.'"'2 Die bisherigen, unphilosophischen Geschichtsdarstellungen, insbesondere zur Frühgeschichte, haben fast nur 'nutzlose Irrtümer' ans Licht gebracht. 'Nutzlos' deshalb, weil sie keinen praktischen Bezug auf die Gegenwart haben, 'Irrtümer' deshalb, weil ein nachweislich falscher Umgang mit den Fakten vorliegt. Die doppelte Aufgabe läßt wieder den Anspruch der Philosophie, Geschichte zu strukturieren und einen sinnvollen historiographischen Diskurs zu ermöglichen, erkennen. Der Nutzen geschichtsphilosophischer Reflexion besteht darin, daß Vergangenes im Licht gegenwärtigen philosophischen Wissens sich eindeutig als geschichtsfunktional oder dysfunktional ausweisen läßt. Über diese Zuordnung wird aber nicht arn Ort des Geschehens entschieden, sondern arn Schreibtisch von Fernay. Rückblickend schrieb Voltaire über seine Ausgangsfrage: "D'ou put venir cette conformite d'orgueil et de folie entre tant d'hommes separes par Ia distance des ternps et des lieux, si ce n'est de Ia nature hurnaine, partout orgueilleuse, partout rnenteuse, et qui veut toujours en irnposer? Ce fut dorre [sc. in seiner "Philosophie de l'histoire"] en consultant Ia nature que nous tächärnes de porter quelque faible lumiere dans le tenebreux chaos de l'antiquite.''43 Da die menschliche Natur zwar im allgerneinen immer sich gleich gewesen ist44, die Geschichte der Menschheit aber keinen Anlaß zu einem vertrauensvollen Opti­ mismus in die Selbstwirksamkeit dieser Anlage gibt, hat die Philosophie der Ge" Zitiert bei Im Hof: lselin und die Spätaufklärung, S. 209. 40 La Philosophie de l'histoire. Par feu I'Abbe Bazin. Amsterdam 1765. Im folgenden zitiert nach: The Complete Works of Voltaire/Les Oeuvres completes de Voltaire. Hrsg. von Theodore Besterman [u.a.). Bd. 59, hrsg. von J.H. Brumfitt. Second edition, revised. Genf und Toronto 1969, S. 83-275. 4 1 Vgl. U. Dierse/G. Scholtz: "Geschichtsphilosophie". In: HWP III, Sp. 416-439, insbes. Sp. 416f. 42 Voltaire: Philosophie de l'histoire, S. 89. 43 Voltaire: Fragment sur l'histoire generale (1773). In: V.: Oeuvres completes. Hrsg. von Louis Moland. Bd. 29. Paris 1879 (Nachdruck Nendeln/Liechtenstein 1967), S. 223-283, hier: S. 255. Zu achten wäre in dem Zitierten auf die 'grenzüberschreitende' Lichtmetaphorik. 44 Vgl. Voltaire: Philosophie de l'histoire, S. 111.

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schichte die Aufgabe, die Vergangenheit kritisch zu beurteilen. Diese Beurteilung setzt den Bezug eines Standpunktes voraus. Die Richtigkeit der Beurteilung geschichtlicher Sachverhalte und deren Nutzen ergibt sich, wenn Standpunkt und Sachverhalt in ein verträgliches Verhältnis zueinander gesetzt werden. Im morali­ schen Bereich nimmt Voltaire eine allen Menschen gemeinsame Selbstliebe an, die sich in der Familie und den eigenen Werken widerspiegelt45• Im übrigen ist jeder 'na­ türlichen' Gesetzen unterworfen, die allen Menschen von Nutzen seien. Diese natu­ ralisierten Axiome der Soziabilität verbieten, seinen Nächsten zu bestehlen, zu töten, Ehebruch zu begehen und zu lügen. Sie gebieten, seine Eltern zu achten und seinen Mitmenschen so zu helfen, wie man will, daß einem selbst geholfen werde.46 Den so­ zialen Bereich sieht Voltaire durch zwei in jedem Menschen vorhandene Gefühle begründet: "Nous avons tous deux sentiments qui font Je fondement de Ia societe, Ia commiseration et Ia justice."47 Die allen Menschen gemeinsame Erkenntnisgrundlage schließlich ist ein von Gott verliehenes, de facto autarkes "principe de raison uni­ verselle'o48. Von diesen Konstanten aus urteilt Voltaire über Geschichte, verstanden als Pro­ greß natur- und kulturwissenschaftlichen Wissens. Da es in der Geschichte außer den immer geltenden, mathematisch formulierbaren Naturgesetzen nur "immerwährende Veränderung'"'9 gibt, findet jeder naturwissenschaftliche Fortschritt Voltaires unge­ teilte Anerkennung, sei es das heliozentrische Weltbild der BabylonierSO oder die präzise Chronologie der Chinesen51• Die moralische Integrität der Inder und deren Lehre von der Metempsychose, die eine "allgemeine Barmherzigkeit"52 zur Folge habe, anerkennt Volt aire, sie läßt ihn sogar über Schattenseiten dieser Kultur hin­ wegsehen, mit dem verallgemeinernden Hinweis, daß Fanatismus - der etwa im Ge­ brauch der Witwenverbrennung zum Ausdruck komme - und Widersprüchlichkeit mit der menschlichen Natur verknüpft seien53• Alle 'Abweichungen' seien Erschei­ nungen an der Ober läche, die trotz ihrer historischen Wirksamkeit nichts an der Vernunft als Grundl age änderten. Eben deshalb ist es für Voltaire sinnvoll, ge­ schichtsphilosophisch e Reflexionen anzustellen, weil im Prinzipiellen gegründete Kritik negative Oberflächenerscheinungen zu entlarven vermag. Voltaires Geschichtsphilosophie unterscheidet sich von der Iselins vor allem da­ durch, daß sie nicht allgemein gegen das Widervernünftige gerichtet ist, um optimi­ stisch auf die heilend ! Wirkung der Kritik zu vertrauen. Voltaire polemisiert im Ge­ wande der Geschicht sphilosophie vor allem gegen die Institution der Kirche. Weil das Wirken Gottes das Vermögen der menschlichen Vernunft übersteigt, beschränkt sich Voltaire auf das Faßbare, "ce que Je Createur du monde aura daigne nous ap­ prendre lui-meme."54 "II est vrai que notre faible entendement ne peut concevoir 45 Vgl. a.a.O., S. 112. 46 Vgl. a.a.O., S. 274, auch S. 151. 47 A.a.O., S. 11 4 . 48 Ebd. 49 A.a.O., S. 168. so Vgl. a.a.O., S. 121. " Vgl. a.a.O., S. 153. 52 A.a.O., S. 148. "' Vgl. ebd. " A.a.O., S. 135.

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dans Dieu une autre sagesse, une autre justice, une autre honte que celle dont nous avons l'idee; mais enfin, il a fait ce qu'il a voulu; ce n'est pas a nous de Je juger; je m'en tiens toujours au simple historique."55 Auch hier ist das Historische das Intelligible, kein Wunder ist für Voltaire in den Rahmen einer Geschichts- oder geschichtsphilosophischen Darstellung integrierbar, weil es das rationale Fassungsvermögen des Menschen übersteigt. Voltaire akzep­ tiert Wunder als Glaubensartikel solange, bis nachweisbar ist, daß sie rational auf Charlatanerie oder mentale Defizite derer, die sie akzeptieren, reduzierbar sind. In diesem Sinne schreibt er über Vorurteile, Engel, Teufel, vor allem aber über die Ge­ schichte der Juden, so wie sie das Alte Testament darstellt. Die Geschichte des aus­ erwählten Volkes ist in seinen Augen irrelevant, weil sie keine menschliche Ge­ schichte, sondern nur eine Anhäufung von Wundern ist: "Chaque peuple a ses prodi­ ges; mais tout est prodige chez Je peuple juif; et cela devait etre ainsi, puisqu'il etait conduit par Dieu meme. II est clair que l'histoire de Dieu ne doit point ressemhier a celle des hommes. C'est pourquoi nous ne rapporterons aucun de ces faits surnatu­ rels dont il n'appartient qu'a !'Esprit-Saint de parler. Encore moins oserons-nous ten­ ter de !es expliquer."56 Man muß sich dabei vor Augen führen, daß noch 1775 ein auf­ wendiger Artikel zur Verteidigung des Wunderglaubens im "Dictionnaire philoso­ phique de Ia Religion" erschien57• Entgegen seinem Wort, nicht über diese 'Geschichte Gottes' zu schreiben, räumt er ihr dennoch erheblichen Raum ein, indem er sie förmlich nachrechnet und so das Mirakulöse als Befremdliches entlarvt, das gegen den gesunden Verstand allemal verstoße58• Um direkte Kollisionen mit der Kirche zu vermeiden, stellt der Deist Vol­ taire klar, daß Wunder grundsätzlich gegen die Naturgesetze verstoßen, daß aber ''wahre Wunder"59 anerkannt werden müßten. Auch die des Alten Testaments seien nach dem Willen der Kirche - dazuzuzählen, eine Erklärung Voltaires, deren Ironie aus der Diskrepanz von Darstellung - 'Berechnung' der Wunder und Konfrontation mit den Regeln des "bons sens" - und Bekenntnis - credo quia absurdum - entsteht. Zu Recht spricht Brumfitt von Voltaires "tongue-in-cheek declaration of belief in Christian miracles•t60. Die Kritik an der Geschichte der Juden ist das Vehikel für Vol­ taire, um die Kirche zu kritisieren, indem er deren Tradition einer rationalen Ana­ lyse unterzieht. Die Kritik der Geschichte aus der Sicht des Rationalismus des Schreibzeitpunktes bringt es mit sich, daß Voltaire der Quellenkritik besondere Aufmerksamkeit wid55

A.a.O., S. 214. A.a.O., S. 222f. - Nicht Voltaires methodisches Vorgehen ist dabei originell (erinnert sei etwa an Spi­ nozas "Tractatus Theologico-Politicus" und dessen subkutane Wirkung), sondern die geschichtsphiloso­ phische Dimension unter den Auspizien der praktischen Philosophie - und der Mut zur Publikation sei­ ner Theoreme, die im deutschsprachigen Raum (man denke an die ähnlich operierende 'Apologie' von Reimarus) von potenzierter Brisanz gewesen sein dürfte. � Vgl. Dictionnaire philosophique de Ia Religion, Ou l'on etablit tous les Points de Ia Religion attaques par les lncredules, & ou l'on repond ä toutes leurs objections. Par I'Auteur des Erreurs de Voltaire. Nouvelle Edition. Tome 3•. 0.0. 1775, S. 59-115. 58 Vgl. dagegen etwa Gatterers Bemühungen, die biblischen Altersangaben zu rechtfertigen. Zit. bei Reill: German Enlightenment, S. 78f. "' Voltaire: Philosophie de l'histoire, S. 200 . 60 J.H. Brumfitt in seinem Kommentar, S. 306. 56

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met, was ihn in hohem Maße von Iselins Verfahren scheidet. Um überlieferte Ge­ schichten auf ihren Dokumentationswert hin zu untersuchen, warnt Voltaire immer wieder vor Mythen und poetisch eingekleideten Geschichten. Nicht nur solle der Hi­ storiker auf der Hut sein vor Mythen und Fabeln, Voltaire gibt auch einen Grund für die Erfindung solch unzuverlässiger Texte an: "La Superstition invente des usages ri­ dicules, et l'esprit romanesque en invente des raisons absurdes."61 Das Bedürfnis nach 'romanhafter' Geschichte sei Resultat einer unersättlichen Begierde: "[L'homme] n'aime que l'extraordinaire; et cela est si vrai que sitöt que le beau, le sublime est commun, il ne paralt plus ni beau ni sublime. On veut de l'extraordinaire en tout genre; et on va jusqu'a !'impossible. L'histoire ancienne ressemble a celle de ce chou plus grand qu'une maison, et a ce pot plus grand qu'une eglise, fait pour cuire le chou."62 Wie die Wunder verdunkeln poetische Darstellungen das historische Ereignis. So ist Poetizität und Fiktion in der Darstellung von Geschichte für Voltaire kein brauchbares Vehikel zur Vermittlung, sondern behindert Erkenntnis. In diesem Sinne wendet Voltaire sich speziell gegen Allegorien63 wegen ihrer 'unseriösen' Viel­ deutigkeit. Wie - veränderliche - Riten und Gebräuche die Menschheit trennen, wäh­ rend die - unveränderliche - Moral sie eint64, so verhalte sich die Erzählung der Ge­ schichte zum Ereignis der Geschichte. Anläßlich Xenophons "Kyropädie" schreibt Voltaire: "Le fond de son histoire est tres vrai; les episodes sont fabuleux: il en est ainsi de toute histoire. "65 Die Möglichkeit der Mythen- und Sagenexegese interessiert Voltaire nicht, weil diese Darstellungsart in seinen Augen dem rational rekonstruierten Geschichtsfak­ tum in seinen Konstitutionsprinzipien widerspricht. Eine Erzählung, in der Wunder­ bares möglich ist, bedarf für Voltaire keiner historischen Interpretation, weil es in der Geschichte der Menschheit nichts Übernatürliches gibt, und die Attraktivität der Mythen erklärt er sich mit der Dummheit der Menschen, denen er unterstellt, sie hätten Mythen für Berichte aus der Erfahrungswelt genommen: "c'est que le gros du genre humain a ete tres longtemps insense et imbecile; et que peut-etre les plus in­ senses de tous ont ete ceux qui ont voulu trouver un sens a ces fahles absurdes, et mettre de Ia raison dans Ia folie."66

61 Voltaire: Philosophie de l'histoire, S. 131. 62 A.a.O., S. 200 . 63 Vgl. a.a.O., S. 256. 64 Vgl. a.a.O., S. 152. 65 A.a.O., S. 126. Hervorh. von mir; HA. 66 A.a.O., S. 105. Die Parameter praktischer Vernunft, an denen Voltaire Frühformen von Religiosität bemißt, verstellen ihm die Möglichkeit, die anthropologische Dimension der Phänomene zu erfassen, in prekärer Weise. Eine Geschichtsphilosophie, der die soziokulturellen Determinanten einer "Natural Hi­ story of Religion" (so der Titel von David Humes folgenreicher 'dissertation' aus dem Jahre 1757, bis 1777 in acht Auflagen verbreitet und bereits 1759 von F.G. Resewitz übersetzt) als mentale Defizite gar nicht erst in den Blick geraten, ist da, wo es um 'genetische' Erläuterung mythischer Rede geht, nicht konkurrenzfähig. Herder hat das Rumesche Konzept einer auf "Leidenschaft", "Einbildung" und "Phan­ tasie" aufruhenden Mythenbildung mannigfach genutzt und eigenen Vorstellungen eingepaßt - etwa im "Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst". Suphan datiert die Exzerpte aus der "Natural Hi­ story of Religion" auf den 1. bis 3.8.1766 (vgl. SWS XXXI I, S. 193ff.).

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Alles Überlieferte nicht nur im Lichte der, sondern vor allem der praktischen Ver­ nunft zu prüfen, das ist Voltaires Vorhaben67. Aus dieser Perspektive geht er auf Di­ stanz zu allen historischen Darstellungen, die ihm als Geschichten suspekt, als Do­ kumente von Elementen zur Geschichte aber unerläßlich und brauchbar sind. 1744 schrieb er: 'je regarde a present tous !es gros livres comme des dictionnaires. [ ... ] Je n'apprenais Ia que des evenements."68 Nicht Sammeln der Quellen, sondern deren Revision in philosophischer Perspektive ist die Maxime, unter der die alten Darstel­ lungen im neuen Licht überhaupt erst Quellencharakter erlangen. Deshalb ist die Geschichte für Voltaire keine Gedächtniswissenschaft, sondern eine philosophische, was er auch unter einem forschungsökonomischen Gesichtspunkt begründet, denn unreflektierte Tradition bewirke nur die Kompilation ins Unermeßliche: "Ce qui manque d'ordinaire a ceux qui compilent l'histoire, c'est l'esprit philosophique: Ia plupart, au lieu de discuter des faits avec des hommes, font des contes a des en­ fants."69 Neu, wahr und relevant müsse das Material des Geschichtsphilosophen sein, um für die Gegenwart Nutzen zu bringen70• Tendenziell ist das auch ein Plädoyer für die Entnarrativisierung von Geschichte, zugunsten einer Freilegung von Kausalzusam­ menhängen, nicht durch Erzählung, sondern durch Analyse. Daß "die Einsicht des Zeitalters zum Maßstab für Wahrheit oder Nicht-Wahrheit des Berichteten erhoben" wird71, ist zwar im Resultat ein Akt der Enthistorisierung des geschichtsphilosophi­ schen Maßstabes. Die Tatsache aber, daß die Vergangenheit an diesem Maßstab gemessen und in 'Unvernünftiges' und 'Vernünftiges' differenziert werden kann, ist ein grundlegender Akt der Historisierung der Vergangenheit durch den Bezug auf die Gegenwart als richtende Instanz - aus politischer Perspektive. Weischedels ab­ wegige Behauptung, daß Geschichte in 'der' Aufklärung "Gegenstand eines Spieles, das den Anschein des Ernstes besitzt"72, gewesen sei, daß die Befassung 'der' Aufklä­ rung mit Geschichte durch die "Freiheit der Unverbindlichkeit" charakterisiert sei, daß - schließlich - das Studium der Geschichte "aus den Bedürfnissen der Konversa­ tion erwachsen" sei, trifft weder 'die' Aufklärung im allgemeinen, noch Voltaire im besonderen. Voltaires strenge Maßstäbe - Neuheit, Wahrheit, Relevanz - verdanken sich nicht einer diffusen "Lust am Wissen"73, und schon gar nicht trifft auf ihn zu, daß er Geschichte salongerecht "mit der unbeteiligten Souveränität der geistreichen Ge­ sichtspunkte"74 zur Belebung witziger Konversation betreibe. Der Philosoph der Ge­ schichte, den Voltaire im Auge hat, versucht, vor dem Hintergrund der 'Natur des Vgl. zum folgenden: J.H. Brumfitt: Voltaire Historian. Oxford 1958 ( Oxford Modern Languages and Literature Monographs). 68 Voltaire: Nouvelles considerations sur l'histoire [1744). In: V.: Oeuvres completes. Hrsg. von Louis Moland. Bd. 16. Paris 1878 (Nachdruck Nendeln/Liechtenstein 1967), S. 138-141, hier: S. 139. "' Voltaire: Remarques sur l'histoire [1742). In: V.: Oeuvres completes. Hrsg. von Louis Moland. Bd. 16. Paris 1878 (Nachdruck Nendeln/Liechtenstein 1967) S. 134-137, hier: S. 136. 70 Dieses, die Herausarbeitung des "Geistes der Begebenheiten" fand Herdcrs Beifall . Vgl. FHA I, S. 158. 71 Wilhelm Weischedel: Voltaire und das Problem der Geschichte. In: Zeitschrift für philosophische Forschung. II (1947), S. 481-498, hier: S. 487. 72 A.a.O., S. 485. 73 A.a.O., S. 497. 74 Ebd. 67

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Menschen', Geschichte als Politik zu begreifen, um sie durch die Analyse für die Po­ litik der Gegenwart nutzbar zu machen. Der Geschichtsphilosoph begreift sich hier als kritischer Bürger. Gelegentlich seiner lnteressensbekundung für Bevöl­ kerungsstatistiken mit Trendaussagen schrieb er 1744: "Voila deja un des objets de Ia curiosite de quiconque veut Iire l'histoire en citoyen et en philosophe. [ ... ] Les chan­ gements dans !es moeurs et dans !es lois seront enfin son grand objet. On saurait ainsi l'histoire des hommes, au lieu de savoir une faible partie de l'histoire des rois et des cours. En vain je lis !es annales de France; nos historiens se taisent sur ces details. Aucun n'a pour devise: Homo sum, humani nil a me a/ienum puto. II faudrait donc, me sem­ ble, incorporer avec art ces connaissances utiles dans Je tissu des evenements. Je crois que c'est Ia seule maniere d'ecrire l'histoire moderne en vrai politique et en vrai philosophe."75

B. Aisthesis und Geschichte

1 . Geschichtsphilosophie: Von der Faktizität der Fakten

Für Herder ist Geschichtsphilosophie keine Disziplin, sondern ein Prinzip. Deshalb ist es auch tunlich, sie nicht nur in der sogenannten 'Bückeburger' und in der 'Wei­ marer' Geschichtsphilosophie aufzusuchen. Das Problem Herders ist, daß dieses Prinzip quer liegt zur etablierten Philosophie, und zwar sowohl zur Schulphilosophie als auch zur Kritischen Philosophie76• Diese prekäre Stellung bekam er wohl am deutlichsten zu spüren durch die Rezensionen, die Kant den "Ideen" widmete, mit denen ein Urteil über den Autor festgeschrieben wurde, das in Variationen bis heute wirksam ist. Es ist das Urteil über Herder als "poetischen Philosophen". Es "möchte wohl", schrieb Kant zu Beginn des Jahres 1785 in der neugegründeten Jenaer "All­ gemeinen Litteraturzeitung", "was ihm [sc. Herder] Philosophie der Geschichte der Menschheit heißt, etwas ganz Anderes sein, als was man gewöhnlich unter diesem Namen versteht: nicht etwa eine logische Pünktlichkeit in Bestimmung der Begriffe, oder sorgfältige Unterscheidung und Bewährung der Grundsätze, sondern ein sich nicht lange verweilender, viel umfassender Blick, eine in Auffindung von Analogien fertige Sagacität, im Gebrauche derselben aber kühne Einbildungskraft, verbunden mit der Geschicklichkeit, für seinen immer in dunkeler Ferne gehaltenen Gegen" Voltaire: Nouvelles considerations, S. 140. 76 Diese 'Schieflage' spürt Roman Gleissner in seiner jüngst erschienenen Untersuchung genau auf. Vgl. Roman Gleissner: Die Entstehung der ästhetischen Humanitätsidee in Deutschland. Stuttgart 1988, das Herder-Kapitel dort, S. 142-185. Trotz seines mutigen, komplexen Zugriffs unter Berücksichtigung des theologischen, philosophischen, anthropologischen und ästhetischen Aspekts auf den Humanitätsbegriff gelingt Gleissner nicht der Aufweis der Integration dieser Aspekte bei Herder. Immer wieder schlägt die Vorstellung vom 'widersprüchlichen' Herder durch (vgl. z.B. S. 155 u.ö.), was gewiß nicht zuletzt damit zusammenhängt, daß Gleissner, nach allzu knapper Exposition der gnoseologischen Dimension der Ästhetik (vgl. S. 20ff.), zu einer Bestimmung von 'Ästhetik' bei Herder gelangt, die Kunsttheorie und Anthropologie nicht in einem Fundierungs-, sondern in einem Komplementärverhältnis stehend denkt (vgl. z.B. S. 148). Der gnoseologische Anthropozentrismus als Origo Herders gerät dabei aus dem Blick. •

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stand durch Gefühle und Empfindungen einzunehmen, die als Wirkungen von einem großen Gehalte der Gedanken, oder als vielbedeutende Winke mehr von sich vermu­ then lassen, als kalte Beurtheilung wohl gerade zu in demselben antreffen würde.'177 Da rezensiert nicht mehr nur der Magister aus Königsberg seinen Adepten, son­ dern es spricht der Begründer der Kritischen Philosophie, und der läßt kein gutes Haar an seinem Autor. Auf eine Kurzformel gebracht, besagt die Kritik, daß Herder nicht unter die Philosophen zu zählen sei. Es fehle ihm schlicht an den Grundvoraus­ setzungen, die unerläßlich seien, um zu Aussagen zu gelangen, die den Status der Wissenschaftlichkeit beanspruchen könnten. Statt sich klarer Begriffsbestimmungen und eines begrenzten und wohldefinierten Sets von Grundsätzen zu bedienen, er­ fasse der flüchtig an der Oberfläche der Phänomene umherschweifende Blick Herders zwar vieles, nie aber das Wesentliche. Das aber, was er aufsammle, verbinde er nur analogisch, wobei er die Ähnlichkeiten der Phänomene in einer Art und Weise aufeinander beziehe, die nur als kühne Metaphorik zu bezeichnen sei. So ent­ stehe ein Gespinst der Einbildungskraft, hinter dem allenfalls dunkel der 'eigentli­ che' Gegenstand zu vermuten sei. Ein 'hitziger' Dichter, der, gemessen an der Lei­ stung des 'kalten' Philosophen, nicht zu den Dingen vorstoße, sondern nur Mut­ maßungen und Aussagen zu seinem Verhältnis zu den Dingen liefere, so präsentiere sich Herder in seinen "Ideen". Der "Skandal"78 dieser Rezension besteht, wie Ton und Art der Auswahl der Be­ legstellen79 aus den "Ideen" zusätzlich durchgängig deutlich machen, in der 'sachli­ chen Häme', mit der Herder hier ins Abseits gestellt wird. Um im Bild zu bleiben: die Regeln, nach denen Kant Herder disqualifiziert, gehören zu einem anderen 'Spiel'. Es sind die 'Regeln' der Kritischen Philosophie, die von den Bedingungen der Möglichkeit aller Erkenntnis, vor aller Erfahrung, ihren Ausgang nimmt. Herders Philosophie beginnt mit der Erfahrung, das heißt, Kant mißt die Geschichtsphi­ losophie Herders mit einem Maß, das ihr heteronom ist. Diese Kontroverse ist des­ halb grundsätzlicher Art, weil es nicht um eine Geschichtsphilosophie, sondern um die Möglichkeit von Philosophie, von WISsenschaft geht. Zu Recht hat Clairmont Herders spätere "Metakritik" und "Kalligone" "eher als Radikalisierung der Polemik denn als Anachronismus"80 gedeutet. Kants jovialer Hinweis auf Herders allzu leb­ hafte Einbildungskraft beleuchtet das Feld der Auseinandersetzung. Die Einbil­ dungskraft lebt von gehabten Erfahrungen, die durch die Dichtungskraft zu neuen 71

(Kant: Rezension der) Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 1. Teil. In: Kant AA 8, S. 43-55, hier: S. 45. 78 Heinrich Clairmont: 'Metaphysik ist Metaphysik'. Aspekte der Herdersehen Kant-Kritik. In: Idealis­ mus und Aufklärung. Kontinuität und Kritik der Aufklärung in Philosophie und Poesie um 1800 . Hrsg. von Christoph Jamme und Gerhard Kurz. Stuttgart 1988, S. 179-200, hier: S. 183. Sehr präzise belegt, arbeitet Clairmont die wissenschaftspolitische Bedeutung der Kant-Kritik heraus, so daß hinter der Dis­ kreditierung Herders dessen ernstzunehmende Gegenposition deutlich wird. "' Vgl. (Karl Leonhard Reinhold:) Schreiben des Pfarrers zu • • • an den H.(erausgeber) des T.(eutschen) M.(erkur) Ueber eine Recension von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: Der Teutsche Merkur No. 2 (1785), 1. Vierteljahr, S. 148-174. Abgedruckt in: Ein Jahrhundert deut­ scher Literaturkritik (1750-1850). Ein Lesebuch und Studienwerk. Bd. III. Der Aufstieg zur Klassik (1750-1795). Hrsg. von Oscar Fambach. Berlin 1959, S. 369-378. Kants Rezensionen und Teile des Kontextes sind hier, S. 357-397, dokumentiert. "' Clairmont: 'Metaphysik', S. 182.

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Gebilden kombiniert werden können, nicht zuletzt zu leeren Phantasmata, die der gewissen Grundlage - der "Möglichkeit des Gegenstandes selbst"81 - entbehren. Im Licht des Kritizismus ist Herder also nicht eigentlich 'Dichter', der "unter der strengen Aufsicht der Vernunft"82 Gebrauch von seiner facultas fingendi macht, sondern Schwänn er, der "leere Hirngespinste, statt der Begriffe von Sachen"83 vorführe. Was denn an einem Faktum das Faktische sei, darum geht es in dieser Auseinan­ dersetzung, die wir hier nur zur nochmaligen Profilierung der Herdersehen Frage­ stellung herangezogen haben, denn nicht erst 1785 taucht der Realitätsbegriff als Problem bei Herder auf, sondern vom "Versuch über das Sein" an, wie am Leitfaden der 'ästhetischen' Gnoseologie Herders aufzuzeigen war. Nach Erscheinen der ersten Rezension Kants umriß Herder gegenüber Wieland die für ihn fundamentale Geschiedenheit von 'Metaphysik' als in sich geschlossener Systemkonzeption und einer 'Philosophie über facta' und deren spezifischer Metho­ dik; dies übrigens nicht zuletzt, um den Herausgeber des "Teutschen Merkur" zu ei­ ner Replik zu veranlassen, was Reinhold dann auch übernahm. In dem Brief heißt es: "Wer glaubt, daß es keine Philos[ophie] über facta gebe: der scheide sich von mir, für ihn ist das Buch [sc. der 1. Teil der "Ideen"] nicht geschrieben. In Geschichte muß von Gesch[ichte] die Rede seyn - hier mußte ich also die Metaphys[ik] von mir ab­ lehnen. [ ... ] Nun musten meine Entwicklungen u. Beweise nur analogisch, ihre Ge­ wißheit nur historisch oder moralisch seyn etc. Eine Metaphysik der Geschichte hat nur der, bei dem alle Geschichte als schon vergangen daliegt. So ein Mann ist nun wohl H. Proqessor] Kant, so wohl in seiner Weltbürgeridee, als in seiner reinen Vern[unft] aber ich nicht."84 Und in einem Brief an den Mainzer Anatomen Thomas Soemmering hebt Herder noch einmal sein Anliegen hervor, daß auf dem "Wege der Beobachtung u. Analogie nach factis u. über facta relle Philosophie möglich sei." Das 'wichtigste Stück der Wissenschaften' sei ihm, "daß man von dem Wortgeschwätz der Philosophie weg auf Erfahrung u. facta komme."85 Darin ist Herder konsequent: Philosophie ist Philosophie aus Erfahrungen. Erfah­ rungen werden durch die äußeren Sinne gemacht und im inneren Sinn beurteilt. Ein 'Faktum' ist ein factum im Sinne des Wortes, ein Gemachtes, wie auch ein 'Datum' ein factum ist, insofern nämlich, als es nur nach Fa�on der Sinne für den Menschen existiert. Die Philosophie über facta ist eine Philosophie der Erfahrungen, und deren Grundlage ist die Aisthesis, die im gleichen Zuge die 'Eigensinnigkeit' jedes Einzel­ nen86 ebenso wie die 'Eigensinnigkeit' als das allen Menschen Gemeinsame begrün­ det, so daß jede Erkenntnis auch Selbsterkenntnis des Menschen ist. Herders ausge­ sprochen allergische Reaktion auf die Kantsche Rezension ist also auch bedingt da­ durch, daß er sie als eine Attacke auf seine Identität verstand - ein wohl ge­ wichtigerer Grund für seine Frontstellung gegen den Kritizismus, als Spekulationen über Herders 'psychische' Disposition herzugeben vermöchten. 81 KrV A 770. 82 Ebd. 83 Ebd. Vgl. Clairmont: 'Metaphysik', S. 183f. 84 Herder an Wieland, Weimar, Ende Januar 1785. HB 5, S. 103. 85 Herder an Soemmering, Weimar, 28.2.1785. HB 5, S. 112. 86 Vgl. SWS XXXI I , S. 23f.

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2. Geschichtsphilosophie: Von der Erfahrung der Menschheit

In einem frühen Fragment hatte Herder Philosophie und Geschichte provokativ in ein inverses Verhältnis zueinander gesetzt: "Wenn die Philosophie von der Ge­ schichte geführt, und die Geschichte durch Philosophie belebt wird: so wird sie dop­ pelt unterhaltend und nützlich."87 Das ist mehr als ein spielerischer Chiasmus mit syllogistischem Anstrich. Es ist eine Inversion der Konzepte 'Philosophie' und 'Geschichte', auf deren Grundlage Herder "über den Geist der Veränderungen in ver­ schiednen Zeitaltem"88 Betrachtungen anzustellen gedachte. Das Wissen unter den Primat der Erfahrung zu stellen, und die Erfahrung vom Wissen belebt zu sehen, das verdoppele 'ihren' Wert für den Menschen. Die Führungsrolle der Geschichte ist eine Provokation durch genaue Umkehrung des traditionellen Verhältnisses zwi­ schen Philosophie und Geschichte und damit - tendenziell - zwischen cognitio philo­ sophica und cognitio historica. Die 'Belebung' der Geschichte durch die Philosophie ist - auf den ersten Blick nicht ohne weiteres erkennbar - eine Poetisierung der Ge­ schichte, denn 'lebhaft' ist nach Baumgarten die extensiv klarere Vorstellung, und die ist charakteristisch für die poetische Darstellung89• Ist die cognitio philosophica eigentlich diejenige Erkenntnisart, die die intensiv klarere Vorstellung befördert, so tritt sie hier 'belebend' auf dadurch, daß sie dazu beiträgt, durch den Aufweis des Zusammenhangs der Einzelerfahrungen den 'Geist' des Einzelnen einsichtig zu ma­ chen. Daß Herder die Philosophie nicht in der intellektualistischen und rationalisti­ schen Variante der Schulphilosophie auffaßt, ist seit seinem "Versuch über das Sein" klar, und es wird auch in der vertrackten Formulierung oben deutlich. Denn die Herdersehe Philosophie, ausgehend von der Aisthesis, kann die 'Fakten' sehr wohl deshalb 'beleben', weil ihr nur das als wahr gelten kann, was dem menschlichen Er­ fahrungs- und Erkenntnisorganon zugänglich ist. Von daher ist wohl auch der letzte Satz als Allusion an das Horazische prodesse et delectare zu lesen - mit einer syntaktischen 'Nachlässigkeit', die aber ebenso gut als eine Finesse verstanden wer­ den kann, welche dem vorhergehenden chiastischen Spiel angemessen wäre. Das Subjekt der 'Conclusio' ist nämlich in seinem pronominalen Bezug undeutlich: be­ zieht es sich auf die Philosophie oder auf die Geschichte? Rein syntaktisch ist der Bezug auf die Philosophie wahrscheinlicher, der Zusammenhang läßt diese Frage aber in den Hintergrund treten, da Geschichte und Philosophie, sich gegenseitig durchdringend, zu einer neuen Einheit verbunden werden. Immerhin aber enthält auch die 'Conclusio' die provokatorische These, daß die historisch bestimmte Philo­ sophie, die die Geschichte belebt, 'poetisch' sein werde. Sicherlich ist Herders Bemerkung auch ein Beitrag zu der zeitgenössischen Dis­ kussion um das Verhältnis von Historik und Poetik90• Weniger aber geht es ihm um Fragen der Darstellung, die von der durch Aristoteles initiierten Problematisierung des Verhältnisses von Dichtung und Geschichtsschreibung über die Thematisierung der Wahrheit als Wahrscheinlichkeit hin zu Leibnizens Bestimmung führte, in der n

FHA I, S. 159 (Von der Veränderung des Geschmacks der Nationen). 88 Ebd. 89 Vgl. Baumgarten: Meditationes, § 112f. sowie in der "Metaphysica", § 531. 90 Vgl. dazu: Koselleck: "Geschichte, Historie", S. 659ff.

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Poesie und Geschichte funktional gleichgesetzt werden, um so von einem "Roman de la vie humaine, qui fait l'histoire universelle du genre humain"91 zu sprechen. Wenn die Schöpfung als eine Fiktion Gottes rezipierbar ist, so ist die Geschichte der Menschheit ein Teil davon, und die Geschichtsphilosophie ist deren 'Poetik'. Nicht der Topos des theatrum mundi kommt hier zum Zuge, sondern die Gnoseologie der Prägnanz, denn die Welt als Dichtung kann nur mit ästhetischem Organon begriffen werden, und von dem Implikat her, daß der Mensch selbst Bestandteil dieser 'Dich­ tung' sei, ist die "doppelte" Nützlichkeit und der "doppelte" Genuß von Philosophie und Geschichte zu verstehen. Der Mensch ist "verhüllt" und deshalb "sichtbar", wie alles, als Phänomenon "verhüllt", auf 'Kraft' verweist und ohne Hülle nicht Objekt der Aisthesis, also nicht erfahrbar sein kann. Die Reproduktion solcher Erfahrungen in der Einbildungskraft und die Operationen der Dichtungskraft, über dem Fundus der Einbildungskraft Neues zu schaffen, aber auch die Operation, allem der Aisthe­ sis Zugänglichen Plausibilität abzugewinnen, das ist das Gemeinsame von Dichtung und Philosophie, in denen beiden die von Shaftesbury vorbereitete Instanz des "se­ cond maker", des Prometheus als Schöpfer, als 'Poet', wirkt. Einen "verhülleten sichtbaren Gott"92 nannte Herder den Menschen, um im Scheinparadoxon präzise die Aisthesis als das ihm eigene Spezifikum zu bezeichnen. Weil nun aber die ästhetische oder ästheteriologische93 Adäquanz die Bedingung der Erkenntnis ist, ist jede Wahrnehmung und jede Erkenntnis prägnant. Ist die äs­ thetische Prägnanz zureichend als Vollkommenheit im Ausdruck bezeichnet, als Bändigung semantischer Vielfalt im anschaulichen Phänomenon, so ist die histori­ sche Prägnanz zu begreifen als die Syntagmatisierung der ästhetischen. Daß die "Gegenwart [ ... ] schwanger von der Zukunft•o94 ist, dynamisiert die Gegenwart und macht deutlich, daß der Umgang mit der Vergangenheit nicht in deren Vergegen­ wärtigung bestehen kann, weil die reproduzierte Gegenwart entbundene Prägnanz der Vergangenheit wäre und somit der vergegenwärtigten Vergangenheit nur anti­ quarisches Interesse entgegengebracht werden könnte. Herders Umgang mit der Vergangenheit besteht - im radikalen Unterschied zu Iselin und Voltaire - darin, daß er Vergangenheit als vergangene Gegenwart auffaßt. Die Fiktion der Vergangenheit als Präsenz bewahrt ihr die eigentümliche Prägnanz und gestattet es Herder, scharf zwischen Nachahmen und Nachbilden zu unterscheiden. Das Nachbilden besteht in der analogischen Produktion von Prägnanz, während Nachahmen nur die Reproduk­ tion abgearbeiteter Prägnanz bedeutet: Schlaube ohne Kern. Herders Bückeburger Geschichtsphilosophie von 177495 ist sein erster Versuch, die erarbeitete ästhetisch fundierte Gnoseologie auf das größtmögliche Gebiet 91

Leibniz: TModiree, § 149, G VI, S. 198. FHA I, S. 735 (Abhandlung über den Ursprung der Sprache). 93 Baumgarten defmierte im § 536 seiner "Metaphysica": "Partes corporis, quarum conuenienti motui sensatio externa coexsistit, sunt AESTHETERIA (organa sensuum)" . .. SWS XVII, S. 110 (Briefe zu Beförderung der Humanität. 2. Sammlung). Herder zitiert mit dieser Formulierung bekanntlich Leibniz (vgl. oben, S. 93). In seinen "Wahrheiten aus Leibniz" übersetzt Herder aus der Prfface der "Nouveaux Essais" wie folgt: "So ist die Gegenwart von der Zukunft voll, und voll von dem Vergangenen: sympnoia panta: Alles stimmt zusammen, und Gott liest in dem Klein­ sten der Substanzen die ganze Folge der Dinge der Welt." SWS XXXI I, S. 215. 93 Vgl. dazu: Haym I, S. 538ff. - Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus [1936). Hrsg. und eingeleitet von Carl Hinrichs. München 2 1965 ( Fr. M.: Werke. Bd. 3), S. 355-444. - Max Rouchf: La

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menschlicher Erfahrung zu applizieren. Daß die Phänomena eine historische Dimen­ sion haben und, um sie in dieser Dimension im zeitlichen und räumlichen Zusammenhang zu begreifen, geschichtsphilosophische Reflexion die gnoseologische zu stützen hat, das hatte Herder bereits im "Versuch über die Geschichte der lyribschen Dichtkunst" und in seinen Oden-Fragmenten vorgeführt, von den Frag­ menten-Sammlungen und seiner Sprachursprungsschrift zu schweigen. Bei ge­ nauerem Zusehen ist es geradezu so, daß nahezu alle Schriften Herders vor "Auch eine Philosophie ... ", in denen er genetische Erklärungen heranzieht, bereits mehr oder weniger explizit geschichtsphilosophisch fundiert sind. In der Bückeburger Geschichtsphilosophie nun tritt Herder polemisch (und anonym) an die Öffentlichkeit, um auf dem vergleichsweise neuen Terrain der Philo­ sophie der Geschichte sich einen Bereich zu sichern, denn auch hier konstatiert er die Blindheit der etablierten Philosophie, die er als "Maulwurfsauge dieses lichtesten Jahrhunderts"96 verspottet. Nicht "die Philosophie überhaupt wird von ihm verur­ theilt"97, wie Hayrn meint, sondern den 'blinden' Philosophien wird eine 'sehende' entgegengesetzt, eine 'menschliche', die mit den Erfahrungs- und Erkenntnismög­ lichkeiten die Geschichte menschlicher Manifestationen zu erfassen imstande ist, um letztendlich in der Geschichte nicht ein Abstraktum - den Menschen - aufzufinden, sondern Menschheit im qualitativen Sinne, das heißt, das Ensemble ihrer Möglichkeiten: das, was er in den "Ideen" "Humanität" nennt. Mit einem Zitat aus Paulus' erstem Brief an die Korinther beschließt Herder seinen Text. In der Luther­ Übersetzung heißt es: "Wir sehen jtzt durch einen Spiegel in einem tunekeln wort/ Denn aber von angesicht zu angesichte. Jtzt erkenne ichs stücksweise/ Denn aber werde ich erkennen gleich wie ich erkennet bin. Nu aber bleibt Glaube/ Hoffnung/ Liebe/ diese drey/ Aber die Liebe ist die grössest vnter jnen.'198 Die anthropologische Bedingtheit der Erkenntnis läßt nicht die Dinge, sondern cum grano salis - deren 'Abbilder', nicht die reine, sondern die sinnenfällige Wahr­ heit erscheinen, so daß der Umgang mit Gott nur im Glauben und Hoffen, und der Umgang mit den Menschen nur in der Liebe, die Herder als eine Form der Erkennt­ nis versteht, bestehen kann. Der Kontext des Korinther-Briefes, in dem das Zitat sich findet, hebt ab auf den Zugang zur und den Umgang mit der Wahrheit, und es wird hervorgehoben, daß dem Reden 'mit Zungen' das 'Auslegen' des Sinns vorzuziehen sei, weil es die Wahrheit verbreite, das heißt, sie der 'Gemeine' vermittle99• Die her­ meneutische Leistung sei der Prophetie vorzuziehen. Für Herder nun ist die Herme­ neutik der Geschichte der Menschheit die Geschichtsphilosophie, die von den Phä­ nomena ausgeht, um in deren Konstitution und Zusamme nhang am Fragment des ästhetisch Erkannten den Hinweis auf das Ganze zu finden. Der sektoralen Be­ schränkung der Aisthesis entspricht der Fragmentcharakter des Wahrgenommenen. Die Tatsache aber, daß das Wahrgenommene als Teil aufgefaßt wird, impliziert die Vorstellung von einem Ganzen, dessen isomorphe menschliche Entsprechung das =

Philosophie de l'histoire de Herder. Paris 1940 ( Publications de Ia Faculte des Leures de I'Universite de Strasbourg. Fascicule 93), S. 38-167. 06 HW I, S. 592 (Auch eine Philosophie). VI Haym I, S. 540. 98 1. Kor. 13, 12. Zit. nach: Luther: Biblia (1545). ND 1974, S. 2318. 99 Vgl. 1. Kor. 14ff. mit den Marginalien, a.a.O., S. 2319ff.

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angeschaute ganze Teil des Ganzen, etwa in Form der Shakespeareschen Dramen ist, der "Schattemiß einer dunkeln [ ... ] Symbole zur Theodicee! zur Rechtfertigung eines unendlichen Plans der Weisheit!"100 Das Wahrgenommene der Schöpfung gilt dementsprechend als "disiecti membra poetae".101 Die Auffassung der Schöpfung als Kunst und die Kunst als Schöpfung ist deren menschliches Analogon. "Alle Werke Gottes haben dieses eigen, daß sie ob sie gleich alle zu Einem unübersehlichen Gan­ zen gehören, jedes dennoch auch für sich ein Ganzes ist und den göttlichen Charak­ ter seiner Bestimmung an sich träget."102 Den naiven Optimismus Iselins, daß die Geschichte der Menschheit der Prozeß der Vervollko mmnung des Menschen sei, lehnt Herder ebenso grundsätzlich ab, wie dessen und Voltaires dogmatisches Verhältnis zur Vergangenheit als einer defizitä­ ren Vorstufe der Gegenwart. Daß jeder Schritt der Entwicklung ein "Vehikulum"103 gewesen, alles also, was sich ereignet hat, so und nicht anders notwendig gewesen sei, ist - in der Bückeburger Schrift noch eher programmatisch - die These Herders, die ihn immer wieder auf die Vorsehung als in den Erscheinungen angedeuteten Plan hinweisen läßt.104 Denn nur an der Wirkung ist die sie hervorbringende 'Kraft' wahr­ zunehmen, so daß jede Geschichtsphilosophie, die an die Geschichte mit einem vorformulierten System herantritt, von vornherein unangemessen, genauer: un­ menschlich ist - eine erschlichene (vitio subreptionis) Form der Offenbarung105, die vorgibt, in einem Akt hybrider Unmittelbarkeit die Wahrheit vor die Fakten setzen zu können, so daß die Fakten als Resultate des eigenen Systems erscheinen. Voltai­ res 'Berechnung' der alten Geschichte und seine Abrechnung mit ihr verurteilt Herder. "Allein von Würkung"106 sei vorerst zu reden, von den Erscheinungen in ihrer Eigenart. Das "Unterscheidende unterscheidend sagen"107, um das Individuelle einer jeden Erscheinung, das ens omnimode determinatum, zu erfassen, setzt Herder ge­ gen "die Schwäche des allgemeinen Charakterisierens"108• Das extensiv klare Individu­ elle wird aber nur Individuelles im Zusammenhang mit dem, von dem es sich unter­ scheidet, so daß statt eines 'matten halben Schattenbildes von Worten' das "ganze le­ bendige Gemälde"109 erforderlich ist. Nicht anders aber entsteht dieses 'lebendige Gemälde' und nicht anders kann es rezipiert werden als ästhetisch, denn Lebendig­ keit und Individualität sind Modi und Vorkommensformen von Ästhetizität. Es ist in Herders Augen Iselins und Voltaires Kardinalfehler, das V ergangene am Gegenwär­ tigen nicht nur wertend zu bemessen, sondern es im Maß der Gegenwart wahr­ zunehmen, und die Inadäquanz der Vergegenwärtigung zum Maßstab umzudeuten. 100 SWS V, S. 239 (Shakespear. 2. Entwurf). Vgl. G. Küntzel: Herder zwischen Riga und Bückeburg, S. 27. 1 0 1 SWS XIII, S. 68 (Ideen I). 1 02 A.a.O., S. 350. 1 .. HW I, S. 598 (Auch eine Philosophie). 1"' Vgl. zu "Vehikel", "Werkzeug", a.a.O., S. 598, 602, 605, 627f., 630-633, 637, 639, 648, 658ff., 663f., 674, 682. "" Der "Philosoph [ist) alsdenn am meisten Tier, wenn er am zuverlässigsten Gott sein wollte" (a.a.O., s. 658). 106 A.a.O., S. 611. 107 Ebd. 101 Ebd. "" A.a.O., S. 612.

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Das ist Geschichtsschreibung und -philosophie vom jeweiligen Endpunkt der Ge­ schichte her110• Herder sucht nach einer Lösung des Problems, wie je eigentümliche Individualität erkannt werden könne, und er findet sie, indem er die Gegenwart in der Vergangen­ heit aufsucht: "gehe in das Zeitalter, in die Himmelsgegend, die ganze Geschichte, fühle dich in alles hinein.''111 Was Herder hier für die Erkenntnis der Geschichte formuliert, ist die konse­ quente Anwendung seiner ästhetischen Gnoseologie. Das Andere ist nur insofern zugänglich, als es das Organon des Wahrnehmenden und Erkennenden affiziert. Damit löst sich nicht etwa das Objekt im Subjekt auf, wodurch die Existenz des Ob­ jekts im übrigen fraglich würde. Das Gegenteil ist der Fall. Das Subjekt der Aisthesis ist seiner sicher und erfährt alles außerhalb seiner selbst als das Andere, welches als Erfahrbares ein Ähnliches ist. Die Vergangenheit wird von Herder in ihrer Alterität belassen und für sich gewürdigt, indem der einzige, ihm denkbare Zugang zu ihr ge­ sucht wird: der über die Aisthesis und den Fundus ihrer Reproduktionen in der Ein­ bildungskraft, die durch Dichtungskraft Zusammenhänge herzustellen gestattet. Die Vergangenheit als vergangene Gegenwart zu erkennen gelingt Herder also über seine Gewißheit, daß die Aisthesis humanspezifisch über die Zeiten hinweg ist. Sein 'Einfühlen' beruht in der Tat, wie Meinecke annimmt, "auf dem Verstehen seiner selbst", ist aber nicht Resultat seiner "subjektivistischen Beschäftigung mit den Tiefen der eigenen Seele.''112 Der Unverbindlichkeit des psychologischen Subjektivismus ist bei Herder ein Riegel vorgeschoben dadurch, daß er seiner Gnoseologie nicht 'individualpsychologische' Annahmen zugrundelegt - das war auch bei den Psy­ chologien Wolffs und Baumgartens nicht der Fall -, sondern daß er seine Gnoseolo­ gie auf ein anthropologisches Fundament stellte, welches dem Subjekt einen promi­ nenten Platz einräumte - den des 'Exemplars', das unverwechselbar und reprä­ sentativ, das Zweck und Mittel zugleich ist. Die 'Verwandtschaft' zwischen Subjekt und Objekt ist die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis, der Grad der Sensibi­ lität bestimmt die Art der Erkenntnis, deren "conditio sine qua non" das "Selbstge­ fühl"113 ist. Es ist nicht so, daß eine "starre Scheidung von Subjekt und Objekt fiel"114, denn gerade Herders Beharren auf der je eigenen Qualität der Phänomena setzt diese Scheidung voraus. "Einfühlen" ist also bei Herder nicht ein irgendwie beliebi­ ger 'Gefühls'-Akt des Subjekts, sich andere Objekte oder die Vergangenheit anzu­ verwandeln, sondern eine im Rahmen der ästhetischen Gnoseologie bestimmte Er­ kenntnisform115. 11 0 Vgl. a.a.O., S. 658. m A.a.O., S. 612. 112 Meinecke: Historismus, S. 378. 113 SWS VIII, S. 200 (Vom Erkennen und Empfmden. 1778). Meinecke zitiert aus diesem Kontext. 1 14 Meinecke: Historismus, S. 378. 11 5 Mit Blick auf Meineckes auf 'Kunst' verengten Ästhetik-Begriff sei noch einmal auf die gnoseologi­ sche Dimension der Aisthesis bei Herder hingewiesen. Auch Formulierungen wie: die 'Liebe ist das edelste Erkennen' (SWS VIII, S. 200) verdanken sich nicht einer 'kühnen Metaphorik', sondern dem Wissen des Theologen Herder um die biblisch tradierte Kontamination von 'zeugen' und 'erkennen', wie sie noch in der Transformation des amor dei intellectualis Spinozas fortwirkt. Vgl. auch Grimm: Deut­ sches Wörterbuch, Bd. 3, Sp. 866 .

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Ist für Herder Geschichte als Gegenstand der Erkenntnis das Vorkommen prä­ gnanter Ereignisse, so ist Geschichte als Prozeß die Entbindung der Prägnanz in der Zeit. Als Geschichtsphilosoph, dem an der Kohärenz der Geschichte gelegen ist, legt Herder sich die Fragen nach dem Ort, von dem aus Geschichtsphilosophie betrieben werden kann und nach dem Prinzip der Geschichte vor, anband dessen eine Si nnzu ­ weisung stattfinden kann. Da dem Menschen der ''Allanblick"116 nicht möglich ist, muß er in der Rolle des Geschichtsphilosophen seinen Standpunkt117 beziehen. Dieser Ort liegt innerhalb der Geschichte, denn der Geschichtsphilosoph ist Teilnehmer an der Geschichte, dem die Vergangenheit als "Wunderbuch voll We!Ssagung"11 8 vorliegt - freilich "mit sieben Siegeln verschlossen", denn Geschichte spricht nicht, sie erschließt sich nur dem her­ meneutischen Akt. Der Geschichtsphilosoph des 18. Jahrhunderts soll ein "Sokrates der Menschheit"119 sein, derjenige Philosoph also, der den Zusammenhang der Ge­ schichte als Organon Gottes auf der Erde plausibel vorstellen kann. Seine Aufgabe ist es, die 'Geschichte auf die Erde zu holen', eine Aufgabe, die dadurch lösbar wird, daß Herder die Dimension der Geschichte als Geschichte der Menschheit deutlich macht. Alle Metaphorik, die Herder hier aufbietet, um die Kleinheit des Menschen zu zeigen, dient keineswegs der Formulierung eines Fatalismus, sondern dazu, den Ort menschlicher Geschichte in einem kosmischen Zusammenhang anzudeuten, der durch Extremvergleiche die Dimension des Erhabenen bekommt: "ich Nichts, das Ganze aber Alles."120 Der "Gang Gottes über die Nationen"121, der auch der "Gang der Vorsehung [ . . . ] über Millionen Leichname"122 ist, ist Herders Hommage an den nexus rerum universalis, in dem der Bereich der Geschichte der Menschheit zum Gegen­ stand des Wrssens werden kann. Hier nun liegt der große Unterschied zwischen der Bückeburger und der Weima­ rer Geschichtsphilosophie Herders. Das Wenige, so muß man angesichts der "Ideen" sagen, was Herder in "Auch eine Philosophie ... " an Wissen aus der Geschichte heran­ zieht, macht sehr deutlich, daß die Schrift ein vergleichsweise "armes Pamphlet"123 ist, das weniger eine Philosophie der Geschichte zum Ziel, sondern eher andere Ge­ schichtsphilosophien zum Gegner hat. Sein Wissensdefizit kompensiert Herder zum einen durch Übernahmen aus den Schriften der Kritisierten, zum anderen durch ex­ emplarische Vorgehensweise anband eines skizzierten Geschichtsverlaufs, und schließlich überspielt er 'Materiallücken' durch die Anwendung der wohl auch vom Gegner übernommenen Lebensalteranalogie. Denn diese Analogie, die ihn bereits in den poetologischen Konzepten zur 'Ode' und in den "Fragmenten" in die Schwierig­ keiten gebracht hatte, aus ihrem Verlaufsmodus eine positive Bestimmung kontern116 HW I, S. 660 (Auch eine Philosophie). 117 Vgl . dazu: Dietrich Walter Jöns: Begriff und Problem der historischen Zeit bei Johann Gottfried Herder. Göteborg 1956 ( Göteborger Germanistische Forschungen. 2), S. 89ff. Jöns freilich geht da­ von aus, daß nach Herder das Subjekt in der Erkenntnis und der Darstellung der Geschichte "völlig zu­ rückzutreten" habe (S. 89). 11 1 HW I, S. 662 (Auch eine Philosophie). 119 A.a.O., S. 668. 1 20 A.a.O., S. 682. 1 21 A.a.O., S. 665. 1 22 A.a.O., S. 674. 1ZI Herder an Johann Gottfried Eichhorn, Weimar, nach dem 3.10.1783. HB 5, S. 21. =

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porärer Kunstproduktion abzuleiten, läßt sich - bezogen auf menschliche Geschichte - nur auf die Geschichte als Prozeß des Verfalls beziehen. Die Aporie, daß erst in der Phase der Dekadenz und Schwäche das Ganze der Geschichte erfaßt werden können soll, obwohl das Konstitutivum der Erkenntnis - die Aisthesis - in eben dieser Endphase des gegenwärtigen Greisenalters von Reflexion und Spekulation völlig ge­ schwächt ist, macht Herders eigene Stellung als Geschichtsphilosoph zumindestens prekär. Als Instrument zur Destruktion der Gegenpositionen ist die Analogie indes geeignet. Als Grundlage oder metaphorisches Instrument zum positiven Entwurf ei­ ner eigenen Geschichtsphilosophie ist die Lebensalteranalogie untauglich. Vor allem widerspricht sie der zentralen Annahme der Bückeburger Schrift, die Herder so for­ muliert: "Das Menschliche Gefäß ist einmal keiner Vollkommenheit fähig: muß immer verlassen, indem es weiter rückt. "124 Dieses "Gefäß", der Körper, ist aber eben das, was die Geschichte erst zur menschlichen Geschichte macht. In diesem Punkt kommen Prinzip und Ort des Geschichtsphilosophen zusammen. Polemisch gegen Winckel­ manns Versuch eines "Lehrgebäudes der Kunst" streicht Herder 1777 die Data und Fakta heraus, ohne die Geschichte nicht geschrieben werden könne, von einer co­ gnitio philosophica der Geschichte ohne Data und Fakta ganz zu schweigen. Die Ve­ hemenz, mit der Herder auf dem Erfahrbaren insistiert, ist keine vorübergehende "seltsame Theorie"125 Herders, sondern wiederum der Rekurs auf die Aisthesis als Fundament der Gnoseologie, die auf das 'Sammeln' der cognitio historica angewie­ sen ist126• Programmatisch sehr deutlich hat Herder sich dazu 1769 gegenüber Moses Mendelssohn, anläßlich dessen "Phädon", geäußert: "Eine von Sinnlichkeit befreiete Seele, ist [ ... ) eine Mißbildung; diese Befreyung u. Entkörperung kann hier nicht Zweck seyn, da sie nicht Glückseligkeit ist. Es ist eine aufs disproportionirteste aus­ gebildete Menschliche Natur, es ist seiner Bestimmung nach, ein Monstrum.''127 Ge­ schichte ist für Herder nicht Vervollkommnung, sondern Ent-Wicklung, und diese selbst - als Prozeß - ist der Zweck des Menschen, dessen Genuß der Entwicklung Glückseligkeit ist. "Umzirkter, eingeschränkter Genuß innerhalb den Grenzen seines Wesens: Gebrauch aller seiner Kräfte u. Anlage: das ist unsre Bestimmung u. Glück! da sind wir alle gleich!"128 Das ist, jenseits aller Polemik, der Kern nicht nur der Bückeburger Geschichts­ philosophie, sondern der Punkt der Vermittlung von Gnoseologie, Ästhetik und Geschichtsphilosophie, von dem aus Herder den umfassenden Zugriff seiner 'menschlichen Philosophie' einer Bewährung in allen Erfahrungs- und Wissensbe­ reichen zuführt, wie er es dann, etwa in seinen "Ideen" und deren pragmatischem Sei­ tenstück, den "Briefen zu Beförderung der Humanität", extensiv vorgeführt hat. Den Ausgangspunkt vom Identitätssatz und die Entfaltung seiner Prägnanz sub specie

1 24 HW I, S. 608 (Auch eine Philosophie). 1 25 Vgl. SWS VIII, S. 466 . - Rudolf Stadelmann: Der historische Sinn bei Herder. Halle/Saale 1928, S. 16. Stadelmann übersieht den pragmatischen Zweck der Überzeichnung durch Herder. 1 .. Pierre Penisson: Die Palingenesie der Schriften: die Gestalt des Herdersehen Werks. In: HW I, S. 864-924, hier: S. 867f. unterstellt Herder zu Unrecht eine grundsätzliche Aversion gegen 'Sammlungen ' . m Herder an Mendelssohn, Riga, etwa Anfang April 1769. HB 1, S. 138. 121 A.a.O., S. 141.

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cognitionis humanae bringt Herder in einem Brief an Mendelssohn auf die knappste Formulierung: "ich werde, was ich bin!'129 Ein 'Wachtraum', den Herder in der zweiten Sammlung der Humanitätsbriefe no­ tiert, macht die umfassende Dimension dieser 'gnoseologischen Nuß' noch einmal eindrücklich anschaulich - als Über- und Ausblick: "Was ich sah, war die jetzige Welt und die Zukunft; ich glaubte, (so mischen wir im Traum die Dinge unter einander! ) mit physisch-moralischen Geist von der unmittelbarsten Gegenwart der Dinge auf ihre Folge zu schließen; oder vielmehr nicht zu schließen, weil in der wachenden Er­ scheinung Gegenwart und Zukunft nur Eins war. Es war die Blume in voller Gestalt; es war der Baum mit allen seinen Früchten. Ach, sprach ich zu mir selbst, Epheme­ ren, die wir glauben, mit uns gehe Himmel und Erde unter! Blinde, die so selten ge­ wahr werden, woran sie selbst arbeiten, und was sich vor ihnen entwickelt. Die Ge­ genwart ist schwanger von der Zukunft; das Schicksal der Nachwelt ist in unsrer Hand, wir haben den Faden geerbt, wir weben ihn, und spinnen ihn weiter.''130

'"' A.a.O., S. 139. 130 SWS XVII, S. 110.

SIGLEN UND ABKÜRZUNGEN

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HA Haym HB

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HW HWP Kant AA

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Nachlaß

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Johann Gottfried Herder: Frühe Schriften 1764-1772. Hrsg. von Ulrich Gaier. Frank­ furt/M. 1985 ( = J.G.H.: Werke in zehn Bänden. Bd. l. Bibliothek deutscher Klassiker 1). Leibniz: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz. Hrsg. von J.G. Gerhardt. 7 Bände. Hildesheim, New York 1978 ( = Nachdruck der Ausgabe Berlin 1875 bis 1890). Goethe, Johann Wolfgang: Werke. Hamburger Ausgabe. Hrsg. von Erich Trunz. 14 Bände. Harnburg (später München) 1948ff. u.ö. Haym, R.[udolf]: Herder nach seinem Leben und seinen Werken. 2 Bände. Berlin 1877 u. 1885. Herder, Johann Gottfried: Briefe. Bd. lff. Bearbeitet von Wilhelm Dobbek und Günter Arnold. Weimar 1977ff. ( = J.G.H.: Briefe. Gesamtausgabe. 1763-1803. Unter Leitung von Karl-Heinz Hahn hrsg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassi­ schen deutschen Literatur in Weimar [Goethe- und Schiller-Archiv)). Lessing, Gotthold Ephraim: Harnburgische Dramaturgie. 1. Bd. In: G.E.L.: Sämmtliche Schriften. Hrsg. von Kar! Lachmann. Dritte, aurs neue durchgesehene und vermehrte Auflage besorgt durch Franz Muncker. 9. Bd. Stuttgart 1893, S. 181-406. Herder, Johann Gottfried: Werke. Bd. I. Herder und der Sturm und Drang 1764-1774. Hrsg. von Wolfgang Proß. München, Wien 1984. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Grün­ der. Bd. lff. Basel 1971ff. Kant's Gesammelte Schriften. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wis­ senschaften [später Akad. der Wissenschaften der DDR/Akad. der Wissenschaften zu Göttingen ]. Bd. lff. Berlin 1900ff. Kant: Kritik der reinen Vernunft. Johann Gottfried von Herder's Lebensbild. Sein chronologisch geordneter Briefwechsel, verbunden mit den hierhergehörenden Mittheilungen aus seinem ungedruckten Nach­ lasse, und mit den nöthigen Belegen aus seinen und seiner Zeitgenossen Schriften. Hrsg. von seinem Sohne Dr. Emil Gottfried von Herder. 3. Bde. Erlangen 1846. Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte hrsg. von Carl Philipp Moritz. 10 Bände. Berlin 1783-1793. Faksimile­ druck Lindau 1978. Der handschriftliche Nachlass Johann Gottfried Herders. Katalog im Auftrag und mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften in Göttingen bearbeitet von Hans Diet­ rich Irmscher und Emil Adler. Wiesbaden 1979 ( = Staatsbibliothek Preussischer Kultur­ besitz. Kataloge der Handschriftenabteilung. Hrsg. von Tilo Brandis. Zweite Reihe: Nachlässe Band 1). Herder, Johann Gottfried: Sämtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. 33 Bde. Berlin 1877ff. Reprografischer Nachdruck. Hildesheim, New York 21978/1979. Goethes Werke. Hrsg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. 4 Abteilungen mit 133 Bänden ( in 143). Weimar 1887-1919.

Zur Zitierweise Die Zitate sind, wo nötig, grammatikalisch dem Kontext, in dem sie von mir verwendet werden, ange­ glichen worden. Hervorhebungen im Original, mit Ausnahme derjenigen durch Großbuchstaben, wer­ den durch Kursivierung wiedergegeben. Bei Zitaten nach Paragrapheneinteilungen werden Seitenzahlen zusätzlich dann angegeben, wenn der Text des Paragraphen sich über mehr als eine Seite erstreckt.

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