Reformierte Morallehren und deutsche Literatur von Jean Barbeyrac bis Christoph Martin Wieland [Reprint 2011 ed.] 9783110940558, 9783484365759

Max Weber referred to Reformed religion and life-style as 'interior asceticism'. With reference to Francophone

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German Pages 315 [316] Year 2003

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Table of contents :
I. Einleitung
II. Gemeinwohl, Gewissensfreiheit und Toleranz: ›einfaches Christentum‹ um 1700
III. Glückseligkeit als oberster Zweck: Wolffianismus ab 1730
IV. Christliche Glückseligkeit: die Gegner der Skepsis von 1730 bis 1775
V. Glückseligkeit als Fiktion? Widerlegungen des Kynikers von 1750 bis 1775
VI. Schluß
VII. Literaturverzeichnis
VIII. Namenregister
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Reformierte Morallehren und deutsche Literatur von Jean Barbeyrac bis Christoph Martin Wieland [Reprint 2011 ed.]
 9783110940558, 9783484365759

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Sandra Pott

Reformierte Morallehren und deutsche Literatur von Jean Barbeyrac bis Christoph Martin Wieland

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2002

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-36575-7

ISSN 0934-5531

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Linsen mit Spektrum, Kirchentellinsfurt Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Buchbinderei Heinr. Koch, Tübingen

Inhalt I. Einleitung

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1. Reformierte Morallehren und deutsche Literatur 2. Glückseligkeit als Ziel 3. Von Jean Barbeyrac bis Christoph Martin Wieland: Morallehren und Literatur zwischen >Papisten< und >Libertins
Hohes Lied der Liebe< für die Refugies und ihre Retter 2. Morallehren des >Common sensejournalistes< gegen die >philosophes< EXKURS. Berlinische Bibliothek (1747-1750) a) Die Journale Jean Henri Samuel Formeys: Journal litteraire (1741-1743), Nouvelle Bibliotheque Germanique (1746-1759) und Bibliotheque impartiale (1750-1758) b) Die Journale Johann Christoph Gottscheds: Neuer Büchersaal (1745-1750) und Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit (1751-1762) 2. Verteidigung der moralischen Glückseligkeit gegen Julien Offray de La Mettrie a) Jean Henri Samuel Formeys Systesme du vrai bonheur (1751) . . . b) Louis de Beausobres Essai sur le bonheur (1758)/ Gedanken über die Glückseligkeit (1759) c) Johann Georg Sulzers Versuch über die Glückseligkeit verständiger Wesen (1754 und 1773) 3. Irdische Güter oder jenseitiges Heil? Albrecht von Hallers Glaubensüberzeugungen a) Jean Pierre de Crousaz: Examen du Pyrrhonisme (1733) in der Kurzfassung Prüfung der Secte die an allem zweifelt (1751) von Jean Henri Samuel Formey und Albrecht von Haller

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b) Usong (1771), Alfred (1772), Fabius und Cato (1774): Geschichten für eine »christliche Gesellschaft« c) Briefe über die Wahrheit der Offenbarung (1772): die Lehre des Waldensermönchs als Fortsetzung des Usong V. Glückseligkeit als Fiktion? Widerlegungen des Kynikers von 1750 bis 1775

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1. Verlust des >Endzwecks< für die Morallehren? Tugend und >schöne Wissenschaftern im Ausgang von Jean-Jacques Rousseaus Discours qui a remportee le prix ä l 'academic de Dijon en l'annee 1750 198 a) Johann Christoph Gottsched: Vertheidigung der Gelehrsamkeit (1752) im Mittel der Rhetorik 199 b) Rezensionen und Jean Henri Samuel Formeys Examen philosophique (1755): vermittelnde Rezeptionen des Diskurses . . 201 EXKURS. Jean-Jacques Burlamaqui als Prinzenerzieher in seiner Korrespondenz mit Prinz Friedrich von Hessen-Kassel (1733-1740) 205 2. Widerlegungen gefährlicher Bücher< im Namen des Gemeinwohls: Jean-Jacques Rousseaus Emile (1762) als >schöne Literatur< 206 a) Jean Henri Samuel Formey Anti-Emile (\16?>)IAnti-Aemil (1763) und Emil chreüen (1764) 210 b) Johann Jacob Brechter Briefe über den Aemil des Herrn Rousseau (1773) 216 c) Christoph Martin Wieland Beyträge zu einer geheimen Geschichte der Menschheit (1770) 221 3. Die unglückliche Wirkung von Institutionen in den Erfurter Romanen Christoph Martin Wielands 231 a) Der goldne Spiegel oder die Könige von Scheschian (1772): philosophische »Zubereitungen« 235 b) Geschichte des weisen Danischmend und der drei Kalender (1775): philosophische »Linderungsmittel« 254 VI. Schluß

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VII. Literaturverzeichnis

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1. Quellen a) Ungedruckte Quellen b) Gedruckte Quellen 2. Forschungsliteratur

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VIII. Namenregister

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I. Einleitung* Als »moralistes modernes« bezeichnet die Encyclopedic Hugo Grotius, Samuel Pufendorf, Richard Cumberland, John Tillotson, William Wollaston, Jean Barbeyrac, Pierre Nicole und Jean La Placette.1 Diese eigentümliche Versammlung illustrer Gelehrter bedarf der Erklärung. Einige der genannten »auteurfs] sur la morale«,2 darunter Grotius (1585-1645), der reformierte Gelehrte, und der Lutheraner Pufendorf (1632-1694), vertreten ein >modernes< Naturrecht. Andere, der Jansenist Nicole (1625-1695), die Reformierten La Placette (1639-1728) und Barbeyrac (1674-1744) orientieren sich an der französischen Moralistik.3 Cumberland (1632-1718), der protestantische Theologe, der Philosoph Wollaston (1659-1724) und der anglikanische Prediger Tillotson (1630-1694) bemühen sich - vorsichtig an die umstrittenen >Cambridge Platonists< anknüpfend - um eine universelle und >einfache< Morallehre. Streng genommen verbindet all diese Gelehrten nur die Beschäftigung mit der condiüo humana, freilich in unterschiedlichen Ausrichtungen. Der Blick Für Hinweise und Diskussionen danke ich Dr. Garsten Behle, Prof. Dr. Lutz Danneberg, Dr. Joris van Ejnatten, Andreas Flick, Dr. Roland Kany, PD Dr. Martin Mulsow, Viia Ottenbacher, Prof. Dr. Siegfried Scheibe, Wilhelm Schernus, Dr. Michael Schlott, Prof. Dr. Jörg Schönen, Prof. Dr. Friedrich Vollhardt und PD Dr. Simone Zurbuchen. [Louis de Jaucourt:] »Moraliste«. In: Encyclopedic, ou Dictionnaire raisonne des sciences des arts et des metiers. Hgg. v. Denis Diderot u. Jean le Rond d'Alembert. Bd. 10. Stuttgart-Bad Cannstatt 1966 (Nachdruck Paris 1772), S. 702. Über den Artikel siehe auch Louis van Delft: Le moraliste classique - Essai de definition et de typologie. Geneve 1982 (Histoire des idees et critique litteraire 202); Frank Wanning: Diskursivität und Aphoristik. Untersuchungen zum Formen- und Wertewandel in der höfischen Moralistik. Tübingen 1989 (Mimesis 6), S. 12; im Anschluß an Wanning Kai-Ulrich Hartwich: Untersuchungen zur Interdependenz von Moralistik und höfischer Gesellschaft am Beispiel La Rochefoucaulds. Bonn 1997 (Abhandlungen zur Sprache und Literatur 113), S. 49. [Jaucourt:] »Moraliste«; Wanning: Diskursivität und Moralistik (wie Anm. 1), S. 12; Hartwich: Untersuchungen zur Interdependenz von Moralistik und höfischer Gesellschaft (wie Anm. 1), S. 49. Wanning kommentierte nur knapp: »Die Aufzählung von Namen überrascht, denn die aufgeführten Personen sind nicht nur Literaten, sondern vornehmlich Historiker und Staatsrechtler.« Ders.: Diskursivität und Moralistik (wie Anm. 1), S. 12; ähnlich wie Wanning Hartwich: Untersuchungen zur Interdependenz von Moralistik und höfischer Gesellschaft (wie Anm. 1), S. 49. Weder Wanning noch Hartwich charakterisierten die Autoren genau.

in einzelne Werke gibt Aufschluß darüber, wie sich diese verschiedenen Ausrichtungen ergänzen, wie einzelne der genannten »moralistes modernes« aufeinander wirken. Einige von ihnen kennen einander, suchen den Austausch und beglaubigen sich wechselseitig ihre philosophische Autorität. Was sie für wegweisend halten, kommentieren und edieren sie. Aufgrund der vielfältigen Verflechtungen lassen sich die literarischen Traditionen, in denen sie stehen, nicht immer voneinander unterscheiden. Dennoch möchte ich versuchen zu ordnen, wovon die Encyclopedic unter dem Lemma »moralistes modernes« verallgemeinernd spricht. Die naturrechtlich denkenden »moralistes« beschreiben den Menschen in drei Pflichtenkreisen, wie sie schon aus der augustinischen Liebesethik als caritas ordinata-Lehre bekannt sind:4 hinsichtlich der Pflichten gegenüber sich selbst, der Pflichten gegenüber dem anderen und gegenüber der Gemeinschaft. Dieser Pflichtenlehre liegt zumeist eine optimistische Anthropologie zugrunde, die auf einen universalen moralischen Fortschritt zielt. Die Politik zählt als Teil des dritten Pflichtenkreises zum Naturrecht.5 Darüberhinaus wird im Anschluß an Pufendorf und Christian Wolff gefragt, ob auch die natürliche Theologie in das Naturrecht eingegliedert werden soll. Zwar gehört das Naturrecht zum Wissensbestand aller frühneuzeitlichen Disziplinen.6 Es steht der Jurisprudenz aber besonders nahe, weil es sich durch eine more geometrico entwickelte rechtliche Systematik auszeichnet.7 Demgegenüber ist die Moralistik bloß durch einen »esprit de Systeme« (Jean le Rond d'Alembert) ausgewiesen, durch Beobachtungen und sentenzhafte Lehren in

Zur Unterscheidung von Naturrecht und Liebesethik, wie sie von Thomasius eingeführt wird, Werner Schneiders: Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius. Hildesheim u. New York 1971; Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001 (Communicatio 26), S. 35-37. Merio Scattola: Geschichte der politischen Bibliographie als Geschichte der politischen Theorie. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 20/1 (1995), S. 1-37; ders.: Die politische Theorie in Deutschland zur Zeit des aufgeklärten Absolutismus. In: Fördern und Bewahren. Studien zur europäischen Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. FS anläßlich des zehnjährigen Bestehens der Dr. Günther Findel-Stiftung zur Förderung der Wissenschaften. Wiesbaden 1996 (Wolfenbütteler Forschungen 70), S. 119133. Merio Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des >ius naturae< im 16. Jahrhundert. Tübingen 1999 (Frühe Neuzeit 52). Wolfgang Röd: Geometrische Geist und Naturrecht. Methodengeschichtliche Untersuchungen zur Staatsphilosophie im 17. und 18. Jahrhundert. München 1970 (Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Abhandlungen NF 70); Horst Denzer: Samuel Pufendorf Naturrecht im Wissenschaftssystem seinerzeit. In: Samuel von Pufendorf 1632-1982. Ett rättshistoriskt symposium i Lund 15-16 januari 1982; Rättshistorika Studier 11/12). Hg. v. Kjell A. Modeer. Stockholm 1986, S. 17-30; Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit (wie Anm. 4), S. 5, Anm. 2.

Form moralischer Maximen.8 Im Blick auf die Umgangs- und Verhaltensweisen des Hofes wird in der Moralistik eine pessimistische Anthropologie entwickelt,9 die zumeist in Klugheitslehren mündet. Diese werden zwar auch von den reformierten »moralistes« wahrgenommen, um die es hier gehen soll, aber für die Reformierten ist die Lex Naturae schon aufgrund ihrer föderaltheologischen Tradition bedeutender als die Moralistik.10 Als Hugenotten (im engen Sinne) kämpfen die Angehörigen der französisch-reformierten Kirche gegen den katholischen Klerus um Anerkennung im französischen Heimatland." Waldenser und andere schismatische Gruppierungen (Hugenotten im weiten Sinne) werden als >arme Kirche< schon lange vor der Reformation verfolgt. Als Refugies verschiedener Generationen finden die Reformierten in den Ländern Mitteleuropas Aufnahme. 12 In der Schweiz spaltet sich die reformierte Kirche früh. Ein >rechtgläubiger< Klerus herrscht auch über irenisch denkende Protestanten.13 So vielfältig wie

Mit einem Forschungsüberblick Hartwich: Untersuchungen zur Interdependenz von Moralistik und höfischer Gesellschaft (wie Anm. 1), S. 15-66. Zum Vergleich mit deutschen Aphorismen Harald Fricke u. Urs Meyer: Nachwort. In: Abgerissene Einfalle. Deutsche Aphorismen des 18. Jahrhunderts. Hgg. v. dens. München 1998 (Bibliothek des 18. Jahrhunderts), S. 251-263. Karlheinz Stierle beschrieb diesen Aspekt in Anlehnung an die >negative Theologie< als »negative Anthropologie« und bezeichnete damit »die verborgene, sich entziehende Wirklichkeit des Menschen« - eine irreführende Beschreibung, betrachtet man die konkreten Darlegungen der menschlichen Natur durch die Moralisten. Ders.: Sprache und menschliche Natur in der klassischen Moralistik Frankreichs. Konstanz 1985 (Konstanzer Universitätsreden 151), S. 23. Zum Zusammenhang von Föderaltheologie und Moral lehre Christoph Strohm: Zur Eigenart der frühen calvinistischen Ethik. Beobachtungen am Beispie des Calvin-Schülers Lambert Daneau. In: Archiv für Reformationsgeschichte 90 (1999), S. 230-254, bes. S. 241f. Für die Begriffserklärungen siehe Johannes E. Bischoff: Lexikon deutscher HugenottenOrte mit Literatur- und Quellen-Nachweisen für ihre evangelisch-reformierten RefugiesGemeinden von Flamen, Franzosen, Waldensern und Wallonen [und 7 Karten von Eberhard von Harsdorf]. Bad Karlshafen 1994 (Geschichtsblätter des Deutschen Hugenotten-Vereins e.V. 22), passim. Der Begriff »Refugies« gehört bereits zum zeitgenössischen Vokabular. Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, Welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. [...] Bd. 30. Leipzig u. Halle 1741, Sp. 1697. Es handelt sich bei den Refugianten nicht um >vertriebene< Anhänger der reformierten Religion aus Frankreich, sondern um Glaubensflüchtlinge. Denn die reformierte Religion wurde mit dem Revokationsedikt (18. Oktober 1685) in Frankreich verboten. Bischoff: Lexikon deutscher Hugenotten-Orte (wie Anm. 11), S. 5. Vgl. auch das Standardwerk von Erich Haase: Einführung in die Literatur des Refuge. Der Beitrag französischer Protestanten zur Entwicklung analytischer Denkformen am Ende des 17. Jahrhunderts. Berlin 1959; vgl. schließlich die Definition bei Thomas Höpel u. Katharina Middell (Hgg.): Refugies und Emigres. Migration zwischen Frankreich und Deutschland im 18. Jahrhundert. Leipzig 1997 (Comparativ: Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung 7/5,6). Unter >Irenik< verstehe ich »l'effort de surmonter dans un esprit pacifique les diversites et les oppositions entre eglises (et etats)« nach Hans Posthumus Meyjes: Tolerance et

das Schicksal der »internationale[n] Bekenntnisfamilie«14 sind ihre Morallehren. Einerseits fördert die Gelehrtenrepublik noch bis in das achtzehnten Jahrhundert hinein den Austausch unter Gläubigen der verschiedenen Konfessionen, andererseits bildet sich längst eine eigene Kultur der Reformierten aus, die sich nicht nur durch die französische Sprache auszeichnet. Reformierte Denker regen darüberhinaus deutsche Gelehrte an, denn bestimmte Reformierte versuchen, das Naturrecht als universale und optimistische Morallehre weitgehend innerweltlich zu beschreiben (Grotius). Doch wird das so angelegte Naturrecht nicht einmal unter den Reformierten akzeptiert: Im Zuge der Dordrechter Synode (1618-1619) legt die >Orthodoxie< ihre Glaubensbrüder auf eine - verkürzt gesagt - partikularistische und pessimistische Lehre fest.15 Konflikte innerhalb der »Bekenntnisfamilie« sind die Folge. Irenisch-unionistische Unternehmungen finden fortan unter erschwerten Bedingungen statt, doch läßt sich für das achtzehnte Jahrhundert von einem regen multi-konfessionellen Zusammenspiel sprechen. Zu den Denkmustern reformierter Morallehren gehört also nicht nur eine optimistische, sondern auch eine pessimistische Anthropologie - und diese lassen sich nicht miteinander vermitteln. Nach der Revokation des Ediktes von Nantes (1685), nach dem Verbot der reformierten Religion in Frankreich, werIrenisme. In: The Emergence of Tolerance in the Dutch Republic. Hgg. v. Christiane Berkvens-Stevelinck, Jonathan Israel u. dems. Leiden, New York u. Köln 1997 (Studies in the History of Christian Thought 76), S. 63-73, hier S. 65. J.F. Gerhard Goeters: Genesis, Formen und Hauptthemen des reformierten Bekenntnisses in Deutschland. Eine Übersicht. In: Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland - Das Problem der »Zweiten Reformation«. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1985. Hg. v. Heinz Schilling. Gütersloh 1986 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 195), S. 44-59, hier S. 45; die Beiträge in W. Fred Graham (Hg.): Later Calvinism. International Perspectives. Michigan 1994 (Sixteenth Century Essays & Studies 22). »Eine wissenschaftlich hinreichende Geschichte des deutschen Reformiertentums fehlt«. Goeters: Genesis, Formen und Hauptthemen des reformierten Bekenntnisses in Deutschland (wie Anm. 14), S. 44, Anm. l. Zu den klarsten und übersichtlichsten Darstellungen für die Morallehre der Reformierten zählen immer noch Alexander Schweizer: Die Entwicklung des Moralsystems in der reformirten Kirche. In: Theologische Studien und Kritiken. Eine Zeitschrift für das gesammte Gebiet der Theologie l (1850), S. 5-79, 288580; ders.: Die protestantischen Centraldogmen in ihrer Entwicklung innerhalb der refomirten Kirche. Bde. l, 2. Zürich 1854/1856; Paul Wernle: Der schweizerische Protestantismus im 18. Jahrhundert. Bde. 1-3. Tübingen 1923-1925. Während das achtzehnte Jahrhundert nur schwach erfaßt wurde, wurde das ausgehende sechzehnte kontrovers debattiert. Heinz Schilling: Die »Zweite Reformation« als Kategorie der Geschichtswissenschaft. In: Die reformierte Konfessionalisierung. Hg. v. dems. (wie Anm. 14), S. 387437; dazu kritisch Wilhelm Heinrich Neuser: Die Erforschung der »Zweiten Reformation« - eine wissenschaftliche Fehlentwicklung. In: ebd., S. 379-385. Im Anschluß daran auch für das siebzehnte Jahrhundert die Beiträge in Meinrad Schaab (Hg.): Territorialstaat und Calvinismus. Stuttgart 1993 (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg; Reihe B: Forschungen 127).

den diese Morallehren aber in besonderer Weise herausgefordert:16 Flüchtlinge strömen in die Länder des Refuge, beanspruchen Hilfe, Lohn und Brot. Vor diesem Hintergrund nehmen zahlreiche reformierte Gelehrte naturrechtliche Denkmuster auf, weniger more geometrico als vielmehr historisch-beobachtend. Gewappnet mit den jüngsten Erkenntnissen der Rechtswissenschaft, der Moralphilosophie, der Kirchen- und der Philosophiegeschichte, wenden sie sich gegen die Orthodoxie der eigenen Kirche und zugleich gegen die Skeptiker >im eigenen Lagermittleren Weg< zwischen den streitenden Parteien.17 Um Konflikte und Chancen für eine protestantische Union in den Ländern des Refuge aufzuspüren, widmen sich gelehrte Reformierte den literarischen Märkten dieser Länder. Was von naturrechtlichem oder konfessionellem Belang ist, wird rezensiert. Zu aufgeklärten Theologen, Naturrechtlern, Philologen und Historikern sucht man Kontakt und bildet Koalitionen.18 Schon Herbert Schöffler (1925) bemerkte, daß sich Reformierte zusehends von der Dogmatik auf moralische Fragen verlegen,19 daß der Witz eines Pierre Bayle und eines Jean Le Clerc sogar die Pfarrersöhne um Johann Jakob Bodmer mit der literarischen Krankheit< infiziert.20 Klaus Garber zog den Wirkungskreis der Refomierten noch weiter als Schöffler und wies - vor allem im Blick auf Martin Opitz und Johann Christoph Gottsched - auf ihre Bedeutung für die »Symbiose« von Konfessionspolemik und Sprachpolitik hin (l.). 21 Denn einer vermittelnden und aufklärerischen Morallehre ist jedes Darstellungsmittel recht. Für Gläubige aller Konfessionen soll sie das »gemeine Beste« oder den »bien public« fördern. Reformierte Morallehren (der irenischen Variante) finden mit dem vagen Ziel ihr Hauptthema (2.). Unter den Auspizien einer »allgemeinen Glückseligkeit« beginnt die literarische Tätigkeit der mo16

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Nach ihrer frühen Bayle-Studie noch einmal Elisabeth Labrousse: Conscience et conviction. Etudes sur le XVIIe siecle. Paris u. Oxford 1996. Jean-Paul Pittion: Notre maitre ä tous. Aristote et la pensee reformee fa^aise au XVIIe siecle. In: De l'Humanisme aux Lumieres, Bayle et le protestantisme. Melanges en l'honneur d'Elisabeth Labrousse. Hgg. v. Michelle Magdelaine, Maria-Cristina Pitassi, Ruth Whelan u. Anthony McKenna. Paris u. Oxford 1996, S. 429^44. Johan Christian Laursen beklagte für diesen Zusammenhang ein Forschungsdefizit. Ders.: Introduction. In: New Essays on the Political Thought of the Huguenots of the >Refugevernünftige< Leser aufbereitet.38 Die genannten reformierten und andere Glaubensflüchtlinge sind von der französischen, nierländischen, schweizerischen und deutschen Literatur beeinflußt - und sie beeinflussen diese wieder. Sie nehmen in besonderer

Laursen: Introduction. In: New Essays. Hg. v. dems. (wie Anm. 18), hier S. 7. Zu den historisch-politischen Zusammenhängen des Refuge Rudolf von Thadden u. Michelle Magdelaine (Hgg.): Die Hugenotten 1685-1985. München 1985; die Beiträge von Eckart Birnstiel, Edgar Mass u. Jürgen Voss in: Deutsche in Frankreich, Franzosen in Deutschland: 1715-1789; institutionelle Verbindungen, soziale Gruppen, Stätten des Austausches/ Allemands en France, Frangais en AHemagne. Hgg. v. Jean Mondot, Jean-Marie Valentin u. Jürgen Voss. Sigmaringen 1992 (Beihefte der Francia 25). Für zwei vielseitige und aktive Vermittler im Refuge Jens Häseler: Ein Wanderer zwischen den Welten. Charles Etienne Jordan (1700-1745). Sigmaringen 1993 (Beihefte der Francia 28); Martin Mulsow: Die drei Ringe. Toleranz und clandestine Gelehrsamkeit bei Mathurin Veyssiere La Croze (1661-1739). Tübingen 2001 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 16); des weiteren die Beiträge in der Reihe »Vie des Huguenots«, geleitet von Antony McKenna. Paris 1997ff. Anne Goldgar: Impolite learning. Conduct and community in the Republic of Letters 1680-1750. New Haven u. London 1995; Hans Bots u. Fran?oise Waquet (Hgg.): Commercium litterarium. La communication dans la republique des lettres/Forms of Communication in the Republic of Letters 1600-1750. Conferences des colloques tenus ä Paris 1992 et a Nimegue 1993/Lectures held at the Colloquia Paris 1992 and Nijmegen 1993. Amsterdam u. Maarssen 1994 (Etudes de l'Institut Pierre Bayle/Studies of the Pierre Bayle Institute 25). Ein ambitioniertes Projekt für die Erschließung der ungedruckten Schriften wurde bereits gegründet: La Communication manuscrite en Europe ä Pepoque moderne, 1685-1789. Proposition de Reseau scientifique europeen presentee par Hans Bots, Eric-Olivier Lochard et Antony McKenna [Manuskript 1999]. Sieglinde C. Othmer: Berlin und die Verbreitung des Naturrechts in Europa. Kultur- und sozialgeschichtliche Studien zu Jean Barbeyracs Pufendorf-Übersetzungen und eine Analyse seiner Leserschaft. Berlin 1970 (Veröffentlichungen der historischen Kommission zu Berlin 30). Kritisch zu Othmer Klaus Luig: Zur Verbreitung des Naturrechts in Europa. In: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis/Revue d'Histoire du Droit 40 (1972), S. 539557; Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit (wie Anm. 4), S. 5, Anm. 2; Zurbuchen: Naturrecht und natürliche Religion (wie Anm. 23), S. 177. Othmer: Berlin und die Verbreitung des Naturrechts in Europa (wie Anm. 36); Luig: Zur Verbreitung des Naturrechts in Europa (wie Anm. 36), S. 540f.; Zurbuchen: Naturrecht und natürliche Religion (wie Anm. 23), S. 70-75. Othmer: Berlin und die Verbreitung des Naturrechts in Europa (wie Anm. 36), S. 43.

Weise am aufklärerischen Projekt der Verbreitung moralischen Wissens teil. Emphatisch versuchen sie, sich von der >Vielwisserei< und von den >dunklen Begriffen< der Scholastik zu lösen; sie setzen auf die Herleitung philosophischer Prinzipien aus der Vernunft und fordern die praktische Anwendbarkeit der Philosophie:39 Gelehrtes Wissen soll nicht mehr nur den Latein-Kundigen zugänglich sein, sondern allgemein verständlich werden.40 Interpreten wie Barbeyrac erklären naturrechtliche Werke zu autoritativen Texten, mit denen sich gleichwohl eklektisch umgehen läßt. Sie werden in Fußnoten und Kommentaren reich annotiert41 - zu einem einzigen Zweck: der Beschreibung einer entkonfessionalisierten und entkonfessionalisierenden Morallehre,42 mit der die Union der Protestanten befördert werden soll. Gerade deshalb verzichtet die (reformierte) »Ecole romande du droit naturel«43 nicht auf eine religiöse Begründung ihrer Morallehren.44 Zwar bestehen die drei zentralen Streitigkeiten zwischen den protestantischen Kirchen noch fort. Gemeint sind die Streitigkeiten über die Prädestinationslehre, über die Eucharistie bzw. über das Abendmahl und über die Person Christi. An ihre Stelle soll aber als Zielvorstellung treten, was alle Gläubigen und Mitglieder der Gesellschaft als gemeinschaftliche Glückseligkeit begreifen können. Dieser Auffassung sind zumindest die naturrechtlich geschulten Vertreter eines >einfachen< und undogmatischen Christentums.

2. Glückseligkeit als Ziel Der Begriff der >Glückseligkeit< allerdings weckt zahlreiche Assoziationen, die es zu begrenzen gilt. Allenfalls am Rande geht es dabei um jene EudämonieDiskussion, wie sie in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts be39

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Auch für die »Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache« (Eric A. Blackall) gilt, daß Arbeiten der Refugianten Vorbildcharakter haben. Eine umfassende Untersuchung darüber liegt noch nicht vor; hier kann sie nur in bezug auf einzelne Quellen geleistet werden. Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 3), S. 423-454. Am Beispiel Le Clercs Anthony Grafton: Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote. Berlin 1995,5.215. Zurbuchen: Naturrecht und natürliche Religion (wie Anm. 23), S. 6. Alfred Dufour: Die Ecole romande du droit naturel - ihre deutschen Wurzeln. In: Humanismus und Naturrecht in Berlin-Brandenburg-Preußen. Ein Tagungsbericht. Hg. v. Hans Thieme. Berlin u. New York 1979 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 48), S. 133-143. Dufour führt diese These in späteren Arbeiten weiter. Ders.: Pufendorfs Ausstrahlung im französischen und im anglo-amerikanischen Kulturraum, S. 96-119; Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit (wie Anm. 4), S. 5, Anm. 2; Dufour: Droits de l'homme, droit naturel et histoire. Paris 1991 (Leviathan); Zurbuchen: Naturrecht und natürliche Religion (wie Anm. 23), S. 1. Zurbuchen: Naturrecht und natürliche Religion (wie Anm. 23).

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ginnt.45 Denn der »bonheur« ist in den hier untersuchten Schriften - darin können die Reformierten an Christian Wolff anknüpfen - weniger eudämonistisch als metaphysisch gemeint.46 Er bezeichnet die Beförderung einer gemeinschaftlichen Wohlfahrt im Rahmen (mehr oder minder) metaphysischer Spekulationen. Nur zu oft enden solche Spekulationen in Gemeinplätzen: Wird der Name Epikurs genannt, so steckt oft nicht viel dahinter. Was sich im einzelnen als »bonheur« ausweisen läßt, bleibt fraglich. Aus diesen Gründen gebrauche ich den Begriff nicht in systematisierender Absicht, sondern nur als Bezugspunkt für die historische Studie. Inwiefern er als Bezugspunkt taugt, läßt sich erst im >Gang der Geschichte< erweisen. Dennoch möchte ich dafür eine These vorausschicken: Im (deutschen) Naturrecht ist das >Glück< der societas civilis vor allem auf die »salus publica« festgelegt, auf eine profane Bedeutung mit rechtlichen und politischen Konnotationen.47 Ganz anders ist es um den »bonheur« in reformierter Tradition bestellt. Hier gilt letztlich - mit Thomas von Aquin - Gott als »summum bonum«.48 Einem vollkommenen Jenseits entspricht ein zu verbesserndes Diesseits,49 in dem das >oberste Gut< als gemeinschaftliches Heil aus tugendhaften Handlungen entsteht. Hinzu kommt der Einfluß von Seiten einer weltlichen Moralistik, die Klugheitsregeln zur Beförderung eines »bonum individuale« erfindet.50 Entsprechend weicht die Wort- und Begriffsgeschichte des französisch-reformierten »bonheur« von derjenigen des »gemeinen Besten« im (deutschen) Naturrecht ab. Die Begriffsfelder sollen daher in einer Zusammenschau des lateinischen, französischen und deutschen Sprachgebrauchs angedeutet wer-

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Vgl. dazu Frank Grunert: Die Objektivität des Glücks. Aspekte der Eudämonismusdiskussion in der deutschen Aufklärung. In: Aufklärung als praktische Philosophie. FS für Werner Schneiders. Hgg. v. Friedrich Vollhardt u. Frank Grunert. Tübingen 1998 (Frühe Neuzeit 45), S. 351-368; Friedrich Vollhardt: Ueber Eigennutz und Undank. Knigges Beitrag zur moralphilosophischen Diskussion der Spätaufklärung. In: Zwischen Weltklugheit und Moral: Der Aufklärer Adolph Freiherr Knigge. Hg. v. Martin Rector. Göttingen 1999 (Knigge-Archiv 2), S. 45-67, hier S. 47, Anm. 6. Clemens Schwaiger: Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolffs. Eine quellen-, begriffs- und entwicklungsgeschichtliche Studie zu Schlüsselbegriffen seiner Ethik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995 (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung; Abt. II: Monographien 10), S. 27f. Peter Miller: Defining the common good. Empire, religion and philosophy in eighteenthcentury Britain. Cambridge 1994 (Ideas in Context). Peter Leisching: Der Begriff des bonum commune bei Thomas von Aquino. In: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht NF 11 (1961), S. 15-26. Walter Sparn: Perfektibilität. Protestantische Identität »nach der Aufklärung«. In: Theologie und Aufklärung. FS für Gottfried Hornig zum 65. Geburtstag. Hgg. v. Wolfgang Erich Müller u. Hartmut H.R. Schulz. Würzburg 1992, S. 339-357. Hans-Ulrich Thamer: Soziale Semantik von »Bonheur«. Von der aufklärerischen Reflexion zur politischen Agitation. In: Aufklärung und historische Semantik. Interdisziplinäre Beiträge zur westeuropäischen Kulturgeschichte. Hg. v. Rolf Reichardt. Berlin 1998 (Zeitschrift für Historische Forschung; Beiheft 21), S. 171-188, hier S. 173.

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den:51 Unter den Gemeinwohl-Begriff fallen die Begriffe »gemeiner Nutzen«,52 »gemeines Wohl«, »Gemeingut« und auch der Begriff der »Wohlfahrt« in der Tradition Wolffs,53 wie er als allumfassende Tätigkeit zur Beförderung der Glückseligkeit verstanden wird.54 In der französischsprachigen Literatur ist ein trennscharfer Gebrauch des Begriffs selten. Die Rede ist von einem »bien commun«, einem »bien collectiv«, einem »bien publique« und einem »bien individuel«, einem »bonheur commun«, einem »bonheur collectiv« und einem »bonheur publique«.55 Auch lassen sich ein »bien materiel«, ein »bien etemel« sowie ein »bonheur materiel« und ein »bonheur eternel« unterscheiden. Der »salut commun« verweist auf eine Nähe zu den Begriffen des Heils und der Seligkeit. In bezug auf den »bonheur« wie auf den »bien« lassen sich Überlappungen mit den Begriffen »plaisir«, »beatitude«, »fortune«, »felicite« und »joie« feststellen. Auch die zeitgenössische deutsche Sprache erlaubt eine Rede vom »gemeinschaftlichen Glück«, das vom »individuellen« zu unterscheiden ist. Überlagerungen übergeben sich auch hier für die Begriffe »Glück«, »Zufriedenheit« und »Seligkeit«. Die eudämonistische Unterscheidung von »Glücklichsein« und »Glücksfall« wird weitgehend vernachlässigt. Es gilt wie für den Begriff des »bien«: kommt es zu einer Differenzierung der Begrifflichkeit, dann interessiert vor allem der Begriff des Glücklichseins, der andauernden Glückseligkeit.56

Zur Kennzeichnung des Wortfeldes vgl. Mohammed Rassem: Wohlfahrt, Wohltat, Wohltätigkeit, Caritas. In: Geschichtliche Grundbegriffe 7. Hgg. v. Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck. Stuttgart 1992, S. 595-636, hier S. 595. Brita Eckert: Der Gedanke des gemeinen Nutzens in der Staatslehre des Johannes Ferrarius. In: Jahrbuch der hessischen kirchengeschichtlichen Vereinigung 27 (1976), S. 157-209; Winfried Schulze: Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Normenwandel in der ständischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit. In: Historische Zeitschrift 243 (1986), S. 591-626. Rassem: Wohlfahrt, Wohltat, Wohltätigkeit, Caritas (wie Anm. 51); Peter Hibst: Gemeiner Nutzen. Begriffsgeschichtliche Untersuchungen zur politischen Theorie vom 5. vorchristlichen bis zum 15. nachchristlichen Jahrhundert. In: Archiv für Begriffsgeschichte 23(1990), S. 60-95. Doch ist dies nur eine der von Wolff mit dem Begriff abgedeckten Bedeutungen. Vgl. Hans-Martin Bachmann: Die naturrechtliche Staatslehre Christian Wolffs. Berlin 1977 (Schriften zur Verfassungsgeschichte 27), S. 124; siehe auch Schwaiger, der die genannte Bedeutung als entscheidende hervorhob. Ders.: Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolffs (wie Anm. 46). Robert Mauzi: L'idee du bonheur dans la litterature et la pensee fransaises au XVIIIe siecle. Paris 21994 (Bibliotheque de l'Evolution de l'Humanite). Bernard Plongeron bezweifelte, daß Mauzis These von der »mondanisation du christianisme« hinsichtlich des »bonheur«-Begriffs zutrifft und spricht von einer »nouvelle apologetique apres 1760«. Ders.: Bonheur et civilisation chretienneBesitz von Gütern< (»possession des biens«) und als >Besitz der Weisheit< (»possession de la sagesse«).58 Bei den Reformierten findet sich beides. In erster Linie zählt das >moralische Gut< aber als effiziente Ursache. Weil von einem Fortwirken des status integritatis nicht ausgegangen werden kann, weil die Menschen vielmehr schon als Sünder auf die Welt gekommen sind, muß >Weisheit< erst erlernt werden: Menschen sind nicht als Philosophen geboren, sondern als Wesen, die in erster Linie darauf bedacht sind, sich selbst zu erhalten. Daraus ergibt sich ein Problem: Gemeinwohl und Einzelwohl können auseinandertreten. Während dieses Problem im Naturrecht noch mit Hilfe einer als ausgeglichen gedachten Teil-Ganzes-Beziehung gelöst wird, nach der das Teil dem Ganzen sinnvoll unterzuordnen ist, nimmt unter den Anhängern Wolffs die Ansicht zu, daß das >Teil< ein eigenes Recht beansprucht und tendenziell mit dem >Ganzen< in Konflikt gerät. Die Teil-Ganzes-Beziehung wird neu bestimmt. Demgegenüber halten Physiokratie, Kameralistik und Policeywissenschaft an einem Begriff von der Glückseligkeit als Staatszweck fest, der sich allerdings im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts von absolutistischen zu liberalen (individualistischen) Auffassungen weiterentwickelt.59 Der tradierte, vage und deutungsoffene Staatszweck der »salus publica« allerdings führt - nach Diethelm Klippe! - zu einer unüberschaubaren Fülle von Herrschaftsaufgaben, [...] die einerseits die Legitimation für die Reformtätigkeit des Reformabsolutismus abgab, andererseits theoretisch zunehmend auf Widerspruch stieß und praktisch kaum zu verwirklichen war.60 57

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»Ainsi la diversite des sentimens des philosophes sur le bonheur, regarde non sä nature, mais sä cause efficiente.« »Bonheur«. In: Encyclopedic (wie Anm. 1), S. 322 [Hervorhebung im Original]. Ebd. Ulrich Engelhardt: Zum Begriff der Glückseligkeit in der kameralistischen Staatslehre des 18. Jahrhunderts (J.H.G. v. Justi). In: Zeitschrift für Historische Forschung 8 (1981), S. 3779; Peter Preu: Polizeibegriff und Staatszwecklehre. Die Entwicklung des Polizeibegriffs durch die Rechts- und Staatswissenschaften des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1983. Diethelm Kuppel: Der liberale Interventionsstaat - Staatszweck und Staatstätigkeit in der deutschen politischen Theorie des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Recht und Rechtswissenschaft im mitteldeutschen Raum. Symposion für Rolf Lieberwirth. Hg. v. Heiner Lück. Weimar u.a. 1998, S. 77-103; zu den limitierenden und expansiven Tendenzen in der Lehre vom Staatszweck Christoph Link: Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit. Grenzen der Staatsgewalt in der älteren deutschen Staatslehre. Wien u.a. 1979 (Wiener Rechtsgeschichtliche Arbeiten 12), bes. Kap. VII, S. 132-157. Link zufolge ist die Staatszwecklehre der Versuch, die »salus publica« in ihrer normativen Bedeutung zu konkretisieren, um den vagen Begriff für juristische Aufgaben nutzbar zu machen. Vgl. ebd., S. 133.

13 Ist die »salus publica« auch als Staatszweck und oberstes Gesetz den »limites naturales« für die Herrschaftstätigkeit zugeordnet, so erlaube sie es nicht, >Herrschaft< auf bestimmte Ziele zu begrenzen.61 Gleichwohl will Barbeyrac genau dies tun - wie seine Vorläufer, deren Denken unverkennbar in der monarchomachischen Tyrannislehre wurzelt. 62 Dort gilt - unter den Bedingungen des französischen Absolutismus - als wesentlich, was zu einer Vermittlung zwischen Herrscher und Volk beitragen soll: Die wechselseitige Verpflichtung< (mutua obligatio) beider Parteien ist als Grundidee entwickelt und soll institutionell durch die Einrichtung von Magistraten festgelegt werden. Solche Vorstellungen bleiben auch im achtzehnten Jahrhundert erhalten, und zwar zur kritischen Beförderung reformabsolutistischer Herrschaft und für die Auseinandersetzung mit den Gegnern derselben.

3. Von Jean Barbeyrac bis Christoph Martin Wieland: Morallehren und Literatur zwischen >Papisten< und >Libertins< Zwei Gegner provozieren den Unmut nicht nur der reformierten Aufklärer: die >PapistenLibertinsFreydenkerPyrrhonistenSkeptikerKyniker< und >Atheisten< beschimpft werden.64 Während die erste Grup61

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Ebd., S. 78. Von der moralrechtlichen Theorie führt in der Frühen Neuzeit nur selten ein Weg zur Formulierung und Durchsetzung von Gesetzen. Jürgen Schlumbohm: Gesetze, die nicht durchgesetzt werden - ein Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates? In: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 646-663; Milos Vec: Alles halb so wild. Frühneuzeitliche Staatsräson: Die besten Gesetze sind die, die nicht durchgesetzt werden. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung; Geisteswissenschaften, 11. Februar 1998, S. N6. Jürgen Dennert (Hg.): Beza, Brutus, Hotman. Calvinistische Monarchomachen. Übers, v. Hans Klingelhöfer. Köln 1968 (Klassiker der Politik NF 78); Günter Stricker: Das politische Denken der Monarchomachen. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Ideen im 16. Jahrhundert. Heidelberg Univ. Diss. 1967; zu den deutschen Monarchomachen Horst Dreitzel: Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft: Semantik und Theorie der Einherrschaft in Deutschland von der Reformation bis zum Vormärz. 2 Bde. Köln 1991, hier Bd. 2, S. 529-546; Max Engammare: Calvin monarchomache? Du 5 ä l'argument. In: Archiv für Reformationsgeschichte 89 (1998), S. 207-226. Eine umfassende Sichtung der >papistischen Seite< fehlt. Für die Bedeutung derselben im Blick auf das aufklärerische Naturrecht Thomas Ahnert: Christian Thomasius' Theory of Natural Law in its Religious and Natural Philosophical Context. Erscheint: Tübingen (Frühe Neuzeit) [i.V.]. Zur Entwicklung der Aufklärung aus der Polemik gegen die >Papisten< Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 129). Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1986, S. 191 passim. Für diesen Zusammenhang hat sich unter dem Stichwort der >Clandestina< eine hochdifferenzierte und quellennahe Forschung etabliert. Siehe Winfried Schröder: Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998 (Quaestiones

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pierungen nur zu oft von der Obrigkeit gefördert wird,65 stimmen Aufklärer und Herrscher überein, was die Geringschätzung der zweiten Gruppe anbelangt.66 Doch tragen die beiden befehdeten Gruppen mehr oder minder ex negativo zur Beförderung einer toleranten Morallehre bei:67 Eine geeinte protestantische Religion soll den Glauben und die societas civilis festigen. Die Folge ist ein »theologischer Synkretismus«, nämlich der Versuch, in »Religions-Sachen [...] Friede, Einigkeit und Freundschafft zu stifften.«68 Apologien einer >einfachen< christlichen Religion im Gewand der Morallehre sollen gegen die orthodoxen >Eitelkeiten< und Sophismen der >Papisten< ebenso wirken wie gegen die heterodoxe und bloß subjektive Wahrheitssuche der >Libertinswahren Christentum< und seinen Trägern. Sie stellt sich für die Kirchengeschichte des siebzehnten und frühen achtzehnten Jahrhunderts und führt zu einer protestantischen Lehre, die - noch der eigenen Kirche verhaftet - Argumente für einen consensus gentium prüft.69 Es gilt, die Ursprünge des >wahren< Glaubens zu ermitteln und

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11); zu den Merkmalen clandestiner Literatur Martin Mulsow: Das clandestine »De l'invention des choses politiques« (1715): eine frühe Kritik neuzeitlicher Modernisierung? In: Zur Verwendung soziologischen Wissens. Ulrich Beck zum fünfzigsten Geburtstag. Hgg. v. Gerlinde Müller u. Angelika Schacht. Göttingen 1994, S. 67-78. Siehe hierzu die Diskussionen über den >Philippismus< und die Ausbildung der Hofprediger in Brandenburg-Preußen bei Rudolf von Thadden: Die Brandenburgisch-Preußischen Hofprediger im 17. und 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte der absolutistischen Staatsgesellschaft in Brandenburg-Preußen. Berlin 1959 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 32), S. 100-104. Einen repräsentativen Überblick über die Entwicklung des Skeptizismus geben die Beiträge in Richard H. Popkin u. Charles B. Schmitt (Hgg.): Scepticism from the Renaissance to the Enlightenment. Proceedings of a conference held at the Herzog-August-Bibliothek, February 22-25 1984. Wiesbaden 1987 (Wolfenbütteler Forschungen 35). Für die Innovation durch die Skeptiker Richard Tuck: The >modern< theory of natural law. In: The Languages of Political Theory in Early-Modern Europe. Hg. v. Anthony Pagden. Cambridge u.a. 1987 (Ideas in Context), S. 99-119, hier S. 108f. »Syncretismus (Theologischer) Theologische Syncretisterey«. In: Grosses vollständiges Universal-Lexicon (wie Anm. 12). 4L Bd. Leipzig u. Halle 1744, Sp. 787-968, hier Sp. 787. Hans-Martin Barth: Atheismus und Orthodoxie. Analysen und Modell christlicher Apologetik im 17. Jahrhundert. Göttingen 1971 (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 25), S. 183-196; Fran9ois Laplanche: L'evidence du Dieu chretien. Religion, culture et societe dans l'apologetique protestante de la France classique (15761670). Strasbourg 1983 (Association des publications de la Faculte de theologie protestante de Strasbourg); Maria-Cristina Pitassi (Hg.): Apologetique 1680-1740. Sauvetage ou naufrage de la theologie? Actes du colloque tenu ä Geneve en juin 1990 sous les auspices de l'Institut d'histoire de la Reformation. Geneve 1991 (Publications de la Faculte de Theologie de l'Universite de Geneve 15); für die Konfessionspolemik Sandra Pott: »Critica perennis«. Zur Gattungsspezifik gelehrter Kommunikation im Umfeld der »Bibliotheque Germanique« (1720-1741). In: Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit. Hgg. v. Helmut Zedelmaier u. Martin Mulsow. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 64), S. 249-273.

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diesen als allen christlichen Religionen gemeinsam auszuweisen. Zum anderen stellt sich - eng verbunden mit dem kirchengeschichtlichen Interesse - die Frage nach dem Ursprung des Bösen in der Welt.70 Aus skeptischer Sicht scheitert zuletzt jede christliche Religion an der Frage, wie ein christlicher Gott seine Schöpfung zum Jammertal verkommen lassen könne. Die dualistische Tradition hält auf diese Herausforderung des Christentums eine einfache Antwort bereit, indem sie von einem guten und einem bösen Prinzip, einem Reich des Lichts und einem Reich der Dunkelheit ausgeht.71 Eine wahrhaft christliche Religion kann aber nur ein Prinzip akzeptieren, aus dem alles andere hervorgeht. Entsprechend bemüht man sich, die Güte des einen Gottes zu erweisen:72 La Placette etwa - ganz Reformierter - spricht noch von einem willkürlich handelnden Gott, der aber doch auf die Glückseligkeit der Gläubigen sinne. Mit seinem Essai de Theodicee sur la bonte de Dieu, la liberte de komme et l'origine du mal (1710) schafft Gottfried Wilhelm Leibniz eine umstrittene Diskussionsgrundlage für das angesprochene Problem.73 Was die Zeitgenossen überzeugt, ist seine Lehre von der >besten aller Weitem. Was insbesondere den Reformierten als problematisch scheint, ist der Determinismus, der seinem System innewohnt. Weil tugendhaftes Handeln nur aus freiem Entscheiden erwachsen könne, empören sich aber nicht nur reformierte

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Ralph Hafner: Jacob Thomasius und die Geschichte der Häresien. In: Christian Thomasius (1655-1728). Neue Forschungen im Kontext der Friihaufklärung. Hg. v. Friedrich Vollhardt. Tübingen 1997 (Frühe Neuzeit 37), S. 141-164; ders.: Die Fässer des Zeus. Ein homerisches Mythologem und seine Aufnahme in die Manichäismusdebatte in Deutschland am Beginn des 18. Jahrhunderts. In: Scientia Poetica l (1997), S. 35-61. Über die Aufnahme solcher Vorstellungen im frühneuzeitlichen Denken Ralph Hafner: Die Präsenz des Origenes in Jean Bodins »Colloquium heptaplomeres«. In: Jean Bodins »Colloquium Heptaplomeres«. Hgg. v. Günter Gawlick u. Friedrich Niewöhner. Wiesbaden 1996 (Wolfenbütteler Forschungen 67), S. 73-97; ders.: Johann Lorenz Mosheim und die Origenes-Rezeption in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Johann Lorenz Mosheim (1693-1755). Theologie im Spannungsfeld von Philosophie, Philologie und Geschichte. Hgg. v. Martin Mulsow, dems., Florian Neumann u. Helmut Zedelmaier. Wiesbaden 1997 (Wolfenbütteler Forschungen 77), S. 373-399; ders.: Die Geisterlehre Jean Bodins und der literarische Stil des »Colloquium heptaplomeres«. In: Bodinus polymeres. Neue Studien zu Bodins Spätwerk. [Vorträge, gehalten anläßlich eines Arbeitsgespräches vom 28. bis 29. Oktober 1996 in der Herzog-August-Bibliothek]. Hg. v. dems. Wiesbaden 1999 (Wolfenbütteler Forschungen 87), S. 179-196. In der Selbstsicht der Zeitgenossen [Fran9ois Andre Adrien Pluquet:] »Manicheisme«. In: ders., Memoires Pour Servir ä l'histoire des Egaremens de l'Esprit Humain par Rapport ä la Religion Chretienne: Ou Dictionnaire des Heresies, des Erreurs et des Schismes [...]. Paris 1764,5.278-321. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Von der Apologie zur Kritik. Der Rezeptionsrahmen der Theodizee. In: Beiträge zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von Gottfried Wilhelm Leibniz. Hg. v. Albert Heinekamp. Stuttgart 1986 (Studia Leibnitiana; Supplementa 26), S. 168-176; Stefan Lorenz: De mundo optimo. Studien zu Leibniz' Theodizee und ihrer Rezeption in Deutschland (1710-1791). Stuttgart 1997 (Studia Leibnitiana; Supplementa 31).

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Denker gegen die Begrenzung menschlicher Freiheit, wie sie das System des deutschen Gelehrten nahelegt. Eine für alle Protestanten verbindliche Morallehre gibt es folglich nicht. Zwar wurde sie in Verlauf des achtzehnten Jahrhunderts zunehmend propagiert, doch wurde das Ziel einer Union der Protestanten nicht erreicht. Im Zusammenspiel mit deutschen Gelehrten verbreiten Reformierte in Berlin, der Westschweiz und den Niederlanden dieses moralische Plädoyer (II.). Um 1730 bilden sich im Umfeld der Berliner Akademie aufklärerische Allianzen, die ein solches Plädoyer auf den Namen Wolffs beziehen. Im engen Kontakt mit den Berliner Zirkeln bemüht sich das Ehepaar Gottsched mit erheblichem Aufwand um die Verbreitung des >Wolffianismuspapistischen< Gegner zu rechnen. Vielmehr gewinnen gotteslästemde Skeptiker die Überhand. Der Mediziner und Schriftsteller Albrecht von Haller wendet sich im Angesicht dieser Bedrohung mit besonderem journalistischen Eifer dem Reformiertentum zu. In der Hoffnung, von Gott erwählt zu werden, prüft er sein Gewissen (IV.).79 Nicht nur für Haller spielen die Beiles Lettres dabei eine besondere Rolle; sie gelten ihm - und anderen - als Möglichkeit, aufklärerisch-reformiertes Denken in einer angenehmen Einkleidung zu präsentieren: Bereits Le Clerc und Barbeyrac zählen zu den vorzüglichsten Stilisten ihrer Zeit. Auch Jean Henri Samuel Formey, der reformierte Prediger, Akademiesekretär und Philosophieprofessor, weiß sich der Beiles Lettres zu bedienen: für eine Überprüfung der Wolffschen Philosophie im Mittel eines äußerst innovativen »Roman philosophique«. Literatur wird hier als >Laboratorium< für Experimente mit aufklärerischem Wissen gebraucht.80 Sie ist mehr als ein »Umschlagplatz«81 von Erziehungs- und Bildungswissen und auch mehr als eine »philosophische Maske[]«.82 Sie läßt sich für die Philosophie gewinnen, denn sie stellt diese im Mittel einer phantasievoll dargebotenen >Empirie< in Frage. Der spielerische Umgang, den die Refugianten mit der Literatur pflegen, findet auch bei Christoph Martin Wieland Anklang. Noch vor dem Hintergrund der aufgeklärten Gelehrsamkeit eröffnet er dem Leser einen amüsanten Zugang zum Wissen seiner Zeit. Wieland, der mit den Positionen der Reformierten zu den jüngsten Morallehren, zur natürlichen Philosophie< Rousseaus vertraut ist,

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Erste Ansätze finden sich in: Herbert Jaumann, Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius. Leiden u.a. 1995 (Brill's Studies in Intellectual History 62), vornehmlich S. 176-180. Vor allem aberders.: Der Refuge und der Journalismus in Deutschland um 1700. In: The Berlin Refuge 1680-1780. Hgg. v. Pott, Mulsow u. Danneberg (wie Anm. 30). Heinz D. Kittsteiner hob in ähnlichem Zusammenhang die »Verrechtlichung der Toleranz hervor. Ders.: Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt/M. 1995, S. 230. Zur »Laboratoriumswirklichkeit« bei Wieland Jan-Dirk Müller: Wielands späte Romane. Untersuchungen zur Erzählweise und zur erzählten Wirklichkeit. München 1971, S. 195. Zur Problematik der >Aufklärungsphilosophie in der Literatur< Lutz Danneberg, Michael Schlott, Jörg Schönert u. Friedrich Vollhardt: Germanistische Aufklärungsforschung seit den siebziger Jahren. In: Das achtzehnte Jahrhundert. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 19 (1995), S. 172-192, hier S. 191f. Karl Richter, Jörg Schönert u. Michael Titzmann: Literatur - Wissen - Wissenschaft. Überlegungen zu einer komplexen Relation. In: Die Literatur und die Wissenschaften 1770-1930. FS für Walter Müller-Seidel zum 75. Geburtstag. Hgg. v. dens. Stuttgart 1997, S. 9-36, hier S. 31. Christiane Schildknecht: Philosophische Masken: literarische Formen der Philosophie bei Platon, Descartes, Wolffund Lichtenberg. Stuttgart 1990.

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verdichtet die moralischen Positionen des Jahrhunderts zu Romanfiguren.83 Dabei geht es mir mit dem Hinweis auf die Rezeption der reformierten Morallehren durch Wieland nicht um »griffiges Interpretationskalkül« für seine Romane.84 Vielmehr bleibt die lebensphilosophische Neigung Wielands ebenso unbestritten wie der direkte Einfluß Jean-Jacques Rousseaus auf Wieland auch dann, wenn seine Einwände gegen Rousseau mit denjenigen reformierter Denker vergleichbar sind. Hier soll aber gezeigt werden, daß die Konfessionspolemik, wie sie das Wechselverhältnis von reformierten Morallehren und deutscher Literatur auszeichnet, bei Wieland - im Zeichen der Aufklärung ironisch gebrochen wird (V., VI.).

Darüberhinaus bedient sich Wieland als Herausgeber des »(Neuen) Teutschen Merkur« auch der »Ware Lafontaine«, der Bestseller des Hugenotten-Nachfahren August Lafontaine (1758-1831), um sein Journal für ein breites Publikum attraktiv erscheinen zu lassen. Dirk Sangmeister: August Lafontaine oder die Vergänglichkeit des Erfolges. Leben und Werk eines Bestsellerautors der Spätaufklärung. Tübingen 1998 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 6), S. 260. Zu dieser methodischen Vorentscheidung Alexander Kosenina: Ernst Platners Anthropologie und Philosophie. Der philosophische Arzt und seine Wirkung auf Johann Karl Wezel und Jean Paul. Würzburg 1989 (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften; Reihe Literaturwissenschaft 35), S. 10.

II. Gemeinwohl, Gewissensfreiheit und Toleranz: einfaches Christentum< um 1700 Gemeinwohl, Gewissensfreiheit und Toleranz: alle drei Begriffe stehen für Anliegen der reformierten Glaubensflüchtlinge um 1700.' Sophismen, Kirchenkulte, kirchliche Hierarchien und Eingriffe in den Glauben seitens der weltlichen Ordnungsmächte werden zugunsten eines >paulinischeneinfachen< und undogmatischen Christentums ausgeblendet. Es beruht - sola scriptura - auf der Heiligen Schrift und - sola fide - auf dem als einzig wahr empfundenen inneren Kult der Gläubigen. In reformatorischer Tradition wenden sich die Vertreter dieses Christentums gegen die vermeintliche vera ecclesia, gegen die katholische Kirche in ihren als bedrohlich empfundenen Verstrickungen mit den weltlichen Mächten und schließlich gegen den Klerus der eigenen Kirche. Gewissenhaftes Handeln stiftet für sie nicht nur die Grundlage der Nächstenliebe, der sie im Refuge so sehr bedürfen.2 Sie sehen sich in Abhängigkeit von anderen, von den Bürgern und Regierungen derjenigen Länder, in denen sie Zuflucht suchen. Auch aufgrund dessen streben reformierte Anhänger des einfachen Christentums nach einer Einigung der Protestanten. Die Eheleute Madelaine de Gelly und Antoine Barbeyrac (t 1691), die in die Westschweiz flüchten, zählen zu diesen unionistisch gesinnten Französisch-Reformierten. Von Antoine Barbeyrac stammt eines der wohl bedrückensten Zeugnisse des Refuge. In einer Predigt, die er kurz nach der Revokation hält, entfaltet er jenes einfache Christentum als moralische und religiöse Basis für die Gemeinde der Flüchtlinge ebenso wie für die Bürger der Stadt Lausanne (L). Jean Barbeyrac, der Sohn dieser Eheleute, wächst in Frankreich auf. Er studiert in Deutschland und der Schweiz. Dort findet er vor, was als gelehrtes Fun-

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Zum Zusammenhang von Toleranz und Gewissensfreiheit - allerdings ohne Bezug auf die Refugies - Horst Dreitzel: Toleranz und Gewissensfreiheit im konfessionellen Zeitalter. Zur Diskussion im Reich zwischen Augsburger Religionsfrieden und Aufklärung. In: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. In Verbindung mit Barbara BeckerCantarino, Heinz Schilling u. Walter Sparn, hg. v. Dieter Breuer. Teil II. Wiesbaden 1995 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 25), S. 115-128. Bona conscientia< meint im paulinischen Sinne, ein Bewußtsein über gute Handlungen auszubilden und umzusetzen. Denken und Handeln sollen wahrhaftig gut, also gottgemäß sein. Auf diese Weise wird die >bona conscientia< zur Voraussetzung der Nächstenliebe. Ruth Lindemann: Der Begriff der conscience im französischen Denken. Jena u. Leipzig 1938 (Berliner Beiträge zur romanischen Philologie VIII,2), S. 17 passim.

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dament für Toleranz und Gewissensfreiheit dienen soll: das Naturrecht in der Form, wie es Pufendorf und andere Gelehrte im ausgehenden siebzehnten und beginnenden achtzehnten Jahrhundert entwickelten. Bei dem schweizerischen Mathematiker und Philosophen Jean Pierre de Crousaz (1663-1750) studiert Barbeyrac Pufendorfs De officio hominis et civisjuxta legem naturalem (1693). Früh lernt er John Locke kennen.3 Doch drohen Barbeyrac auch in Anbetracht dieser Verbindungen und Interessen Auseinandersetzungen mit den Oberen der eigenen Kirche. Sie verübeln dem Anwärter auf das Amt des Theologen die Nähe zum Naturrecht - zumal Pufendorf nicht gerade als ein Befürworter des Calvinismus gilt.4 Barbeyrac wird als Sozinianer angeklagt.5 Die im Zuge dieser Prüfung erlittenen Unbilden können ihn nicht daran hindern, Pufendorfs umstrittenes De iure naturae et gentium (1672) zu übersetzen,6 kritisch zu annotieren und mit einem langen Vorwort über die Geschichte der Morallehre zu versehen. So vielschichtig wie die Edition selbst, die doch für einen größeren und ungelehrten Leserkreis gedacht sein soll, erweist sich auch ihre Wirkungsgeschichte:7 Barbeyracs Edition popularisiert und kommentiert das Naturrecht auf bislang unbekannte Weise. Doch schätzen deutsche Gelehrte das Werk unterschiedlich ein. Manchem gehen die Anmerkungen zu weit (Johann Franz

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Barbeyracs Verhältnis zu Locke ist gut untersucht. Siehe Ross Hutchinson: Locke in France 1688-1734. Oxford 1991 (Studies on Voltaire and the eighteenth Century 290), S. 42-85; J0rn Sch0sler: John Locke et les philosophes frangais. La critique des idees innees en France au dix-huitieme siecle. Oxford 1997 (Studies on Voltaire and the eighteenth Century 353), S. 18f. Pufendorf ist der Ansicht, der Calvinismus sei eine überflüssige Neuerung. Denn das Luthertum halte hinsichtlich des Verhältnisses von Gottesdienst und Staat eine hervorragende Lösung bereit. Detlef Döring: Untersuchungen zur Entwicklung der theologischen und religionspolitischen Vorstellungen Samuel von Pufendorfs. In: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. In Verbindung mit Becker-Cantarino, Schilling und Spam hg. v. Breuer (wie Anm. II., 1), Teil II, S. 873-882, hier S. 877. Othmer: Berlin und die Verbreitung des Naturrecht in Europa (wie Anm. L, 36), S. 68-90; Goldgar: Impolite learning (wie Anm. L, 35), S. 208, 315, Anm. 193; Pott: »Critica perennis« (wie Anm. L, 69). Umstritten ist Pufendorf zwar weniger in Berlin-Brandenburg. Aber schon im nahegelegenen Wittenberg, dem Hort der lutherischen Orthodoxie, verbietet man Vorlesungen zu Pufendorfs Kompendium »De officio«. Detlef Döring: Druck und Zensur der Schriften Samuel von Pufendorfs in Kursachsen im 17. Jahrhundert. In: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 6 (1996), S. 171-196. Luig: Zur Verbreitung des Naturrechts in Europa (wie Anm. I., 36), S. 540; Klaus Malettke: Das Heilige Römische Reich und seine Verfassung in der Sicht französischer Juristen und Historiker des 17. Jahrhunderts. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte NF 124 (1988), S. 455-476, hier S. 476. Die Rezeption Pufendorfs in Frankreich ist gut untersucht. Dufour: Pufendorfs Ausstrahlung (wie Anm. L, 43), S. 97 passim; Robert Derathe: Jean-Jacques Rousseau et la science politique de son temps. Paris 21995 (l. Aufl. 1950), S. 78-84; Catherine Larrere: L'invention de economic au XVIIIe siecle. Du droit naturel ä la physiocratie. Paris 1992 (Leviathan), Helena Rosenblatt: Rousseau and Geneva. From the »First Discourse« to the »Social Contract«, 1749-1762. Cambridge 1997 (Ideas in Context).

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Budde), manchem nicht weit genug (Christian Thomasius), was allerdings mehr die Erwartung der Leser als den Text selbst charakterisiert (2., 3.)· Bald nach den Konflikten in Berlin nimmt Barbeyrac einen Ruf als Professor für Naturrecht nach Lausanne an. Er zieht in die Stadt, in der sein Vater kurz nach der Revokation predigte. Doch auch hier gerät Barbeyrac mit dem Klerus und den Landesherren aneinander, weil er sich nicht dem verschreiben will, was beide fordern: die Anerkennung einer von Barbeyrac als unmenschlich betrachteten Gnadenlehre (4.). In der Zwischenzeit erhält er einen Ruf nach Groningen, der ihm aufgrund der Umstände gelegen kommt. Er will das Naturrecht mit seinen Kommentaren verfeinern: für die aufgeklärten Geister, die Flüchtlinge und gegen überkommene Dogmen. Doch soll die Morallehre der Natur nicht für alle gelten. Unvernünftige und unbelehrbare Menschen werden ausgeschlossen, der »Sens Commun« dient als Kriterium für Ausschluß oder Einbezug. Wem aber kommt >Vernunft< zu und wie läßt sie sich denken? Diese Fragen, die das Naturrecht nicht in zufriedenstellend beantwortet, bieten den Gegnern Anlaß zum Angriff. Einem anonymen Autor geben solche Angriffe noch in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts Gelegenheit, das Naturrecht als angemessene Morallehre zu verteidigen. Seine Verteidigung bezieht sich auf das, was Antoine Barbeyrac predigt und auf das, was Jean Barbeyrac schreibt: auf das einfache Christentum mit dem Ziel gemeinschaftlicher und individueller Glückseligkeit (5.).

l. Nach der Revokation des Ediktes von Nantes (1685). Antoine Barbeyracs Predigt Les trois vertus chretiennes (1686): ein >Hohe Lied der Liebe< für die >Refugies< und ihre Retter Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei;/ doch am größten unter Ihnen ist die Liebe. (Korinther I, 13,13)

Antoine Barbeyrac geht im Jahr 1645 nach Genf, um dort Theologie zu studieren.8 Vor der Revokation ist er Pastor der reformierten Kirche im französischen Bezier und in Montagnac. Im September 1687 wird er zum Präsidenten der »Compagnie ou Direction des refugies ä Lausanne« gewählt.9 Kaum in Lausanne angekommen, hält er am 3. Januar 1686 vor der großen Refugies-Versammlung eine eindrucksvolle Predigt. Pierre Mortier, den skrupellosen und geschäftstüchtigen Amsterdamer Buchhändler,10 bewegt die Predigt so sehr, daß er sich in einem flammenden Vorwort zum Druck des Predigttextes für

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Zu Antoine Barbeyrac Eugene Haag u. Emile Haag: La France protestante. Paris 18461858, hier Bd. 1. Paris 21877, Sp. 783f. Ebd., Sp. 784. Haase: Einführung (wie Anm. L, 12), S. 411.

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Barbeyracs Anliegen engagiert: »[...] dans l'Esperance que j'ai qu'il poura servir encore ä la consolation de ceux qui souffrent pour la cause de Dieu.«" Nicht mehr und nicht weniger als das Wohlergehen der Anhänger des >wahren< Glaubens steht auf dem Spiel. Es geht nicht um bemitleidenswerte Einzelschicksale, sondern um den beispielhaften Ausdruck für das Leiden aller nunmehr in Mitteleuropa verstreut lebenden Refugies. Sie sind auf ihre Nächsten angewiesen: auf die Bürger der Länder, in denen sie um Aufnahme bitten. Über genau diese Situation predigt Antoine Barbeyrac. In ihrer dramatischen Zuspitzung erweist sich die Predigt nicht nur als Appell an die christlichen Tugenden aller Gläubigen, sondern auch als Dank an die Stadt Lausanne. Für den reformierten Prediger wird Lausanne zu einer späten Form der Korinther-Gemeinde. Paulus gründete diese frühchristliche Gemeinde; von den Schwierigkeiten der Gründung, von den Nöten des noch ungeregelten Gemeindelebens, von Parteibildungen, von Lieblosigkeit zeugen die beiden Korintherbriefe. Gegen die Mißstände in der jungen Gemeinde wird die neue christliche Lehre ins Feld geführt. Sie gipfelt im >Hohen Lied der Liebeeinfachen< christlichen Lehre gibt Barbeyrac in einem einleitenden Teil Auskunft. Danach enthalte der Glaube die religiösen Lehren, die Liebe hingegen die Sitten. Die Hoffnung auf Erlösung, auf ein ewiges Heil wird als letztes Ziel von Glaube und Liebe verstanden.13 Als entscheidende Tugend wird die Liebe aber deshalb hervorgehoben, weil erst sie das Herz eines jeden Gläubigen mit dem >göttlichen Feuer< (»divin feu«) entflamme und zur Einheit mit dem Heiland führe.14 Aus der beschriebenen Notlage heraus formuliert Barbeyrac eine fast aller dogmatischen Streitigkeiten des Jahrhunderts entledigte Lehre, die Gläubige einer Konfession, aber doch unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher religiöser Prägung einigen soll: ein Vorhaben, das inner-konfessionelle Auseinandersetzungen erahnen läßt. Durch die Anfeindungen der Reformierten von katholischer Seite hat diese

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[Pierre Mortier:] L'Imprimeur au Lecteur. In: [Antoine Barbeyrac,] Les trois vertus chretiennes. Appliquees ä Fusage des Persecutions que l'Eglise souffre. Ou Sermon sur ces Paroles de St. Paul contenües dans la I Epit. Aux Corint. Chap. 13. V. 13. [Or maintenant ces trois choses demeurent, la Foi, l'Esperance, & la charite: mais la plus grande d'elles est la Charite.] Par Mr. Barbeirac. Pronoce ä Lauzane le 3. de Janvier, 1686. Amsterdam 1686, unpag. [)(v]. »Quand je descendois du troisieme Ciel avec St. Paul [...]. C'est ici abrege de toute la Religion Chretienne. C'est ici toute nötre theologie & nötre morale.« Barbeyrac: Les trois vertus chretiennes, S. (6.). Ebd. Ebd. u. ebd., S. (15.).

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Lehre aber Aussicht auf Erfolg. Die Schrecken der Revokation könnten - wider Erwarten - im Refuge Einheit stiften. Zu diesem Zweck jedenfalls entfaltet Barbeyrac seine Predigt als »legon de Theologie«.15 Seine Argumentation weist immer wieder auf zentrale dogmatische Streitigkeiten hin, deren Sprengkraft er mit dem Hinweis zu kontrollieren sucht, daß es sich bei seinen Lösungen der Streitigkeiten um seine Privatmeinungen handele. Gleichwohl beansprucht er für diese eine Allgemeingültigkeit, die er aus der Polemik gegen eine angeblich dekadente katholische Kirche gewinnt. 16 Vor dem Hintergrund dieser Polemik wird die Hierarchie der Gnadengaben zunächst am Beispiel erläutert und schließlich systematisch hergeleitet: Glaube und Hoffnung zielten nur auf den »propre bien«, demgegenüber wende sich die wesentliche Tugend, die Liebe, dem »bien du prochain« zu und stelle das eigene Interesse in wahrhaft christlicher Weise zurück.17 Entsprechend trage die aus der Liebe motivierte Sittenlehre am meisten zu einem >einfachen< Christentum bei: »[...] eile [la Charite] represente Dieu dans le bien moral qui est le plus excellent de tous.«18 Das >moralische Gut< (»bien moral«), das Ziel der Sittenlehre, und damit das höchste Ziel des Christentums, kann nun als Maßstab auf die bedrohlichen Umstände angewendet werden.19 Im Ergebnis erscheinen die Anhänger der römischen Kirche - in erster Linie der Klerus - so, als gehorchten sie nur einem einfachen Wunsch nach Glück< (»simple desir de la felicite«).20 Ein solch primitiven Wunsch wird der christlichen Liebestätigkeit der Refugies und vor allem ihrer Beschützer entgegengestellt. Doch mildert Barbeyrac diese Aussage im Blick auf die menschlichen Schwächen der Peiniger. Gegen solche Schwächen will er nicht wettern. Im Gewand einer Predigt über den letzten Vers des ersten Korintherbriefes formuliert er eine Kritik an den institutionellen Machenschaften der katholischen Kirche, die er mit Hilfe des >einfachen< Christentums begründet. Es dient damit aber zugleich als religiöse Basis für eine Verständigung unter den Refugies und ihren Beschützern. Daß diese irenischpolemische Lehre mehr und mehr Züge einer innerweltlich begründeten Moral erhält, erweist sich für die Zeit als typisch. Gerade die Refugianten stehen für eine solche Morallehre ein. Für Antoine Barbeyrac stellt sie das geistige Kapital dar, das die reformierten Flüchtlinge in die Länder mitbringen, die ihnen Zuflucht gewähren.21 15

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Ebd., S. (8.). Ebd., S. (15.)-(18.). Ebd., S. (34.)f. Ebd., S. (35.)f. Vgl. ebd., S. (40.).

Ebd., S. (42.)-(71.). »Vous n'aurez rien ä craindre, II vous obtiendront la victoire, non par des armes charnelles: mais par des armes spirituelles, non par la gloire materiel: mais par l'epee de l'Esprit [...].« Ebd., S. (79.) [Hervorhebungen im Original].

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Um Barbeyracs Eigenwahrnehmung zu bestätigen, sei auf einen anderen reformierten Theologen eingegangen: Unter den Predigern, die nach der Revokation aus Frankreich fliehen, befindet sich auch La Placette, zunächst Prediger am Berliner Hof und schließlich engagierter Vorstand der reformierten Gemeinde in Kopenhagen.22 Mit seinen Essais de morale (\69\)/Versuch einer Geistlichen Morale oder Sitten-Lehre (1719) legt La Placette eine christliche Klugheitslehre vor.23 Er will das Anliegen von Nicoles Essais de morale (16701695) für die Glaubenslehren der Reformierten gewinnen. La Placette kritisiert Nicole aber, weil er weltliche und geistliche Moral trenne.24 Demgegenüber will La Placette beide Bereiche der Moral zusammenführen, um den Weg zur >Seeligkeit< (»salut«) jenseits jeder Kontroverstheologie zu beschreiben und für die christliche Lehre zu retten.25 Christliche und weltliche Klugheit teilen aus

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La Placette wird am 19.1.1639 in Pontacq geboren, studiert in Montauban und wird im Jahr 1660 Pfarrer in Orthez. 1664 tritt er eine Pfarrstelle in Nay an, wo er Jacques Abbadie begegnet. Mit königlicher Genehmigung wandert er vor der Revokation im Jahr 1685 nach Brandenburg aus und erhält schon im Jahr 1686 durch die Vermittlung der dänischen Königin Charlotte-Amelie eine Pfarrstelle in Kopenhagen. Aus Überzeugung sucht La Placette immer wieder den Kontakt zu seiner Gemeinde; ein Lehrangebot der irischen Universität Kilkenny lehnt er ab. Er stirbt am 25.4.1718 in Utrecht. Haag u. Haag: La France protestante (wie Anm. II., 8), Bd. 6, S. 314-318. Auguste Schaffner: Essai sur la vie et oeuvre de Jean La Placette. Paris 1885. Ein Schriftenverzeichnis enthält bereits Gottlieb Stolle: Kurtzer Nachricht von den Büchern und deren Urhebern in der Stollischen Bibliothec. Jena 1733, C. CLXXXIL, §§ I.-IV., S. 444-447. Zu Abbadie Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit (wie Anm. L, 4), S. 136-159. La Placette korrigiert und erweitert die erste Edition seiner »Essais.« Die deutsche Übersetzung der erweiterten Fassung (1716) erscheint im Jahr 1719 und später unter dem Titel: Versuch Einer Geistlichen Morale Oder Sitten-Lehre [...] Dessen sonderbahrer Fürtrefflichkeit wegen ins Deutsche übersetzet, Und mit eben des Avctoris Christlichen Gedancken über etliche wichtige Materien der Sitten-Lehre statt des Siebenden Theils vermehret Von M. Gottfried Christian Lentnern Nebst einer Vorrede Herrn Gottlieb Stollens Von dem Unterschiede der Morale der alten und heutigen Christen. Zweyte mit einem vollständigen Register verbesserte Auflage. Jena 1728. Die Texte Nicoles »[...] roul[e]nt d'ordinaire sur les hypothese de la Religion qu'il professe, sont souvent inutiles, & toujours suspectes aux Protestans [...]«. La Placette: Essais de morale. Seconde Edition revüe, corrigee & augmentee considerablement par l'Auteur. Bd. 1. Amsterdam 1716, Preface, S. XIII. Vgl. zu Nicole unter dem Aspekt der weltlichen Moral als einer »antitrinity« Dale van Kley: Pierre Nicole, Jansenism, and the Morality of Enlightened Self-interest. In: Anticipations of the Enlightenment in England, France, and Germany. Hgg. v. Alan Charles Kors u. Paul J. Korshin. Philadelphia 1987, S. 79-85; zu Nicole siehe Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit (wie Anm. L, 4), S. 99. Gleichwohl zeige sich La Placette als geschickter Kontroverstheologe. Schaffner: Essai sur la vie et l'oeuvre de Jean La Placette (wie Anm. II., 22), S. 62-64; Haase: Einführung in die Literatur des Refuge (wie Anm. L, 12), S. 352. Siehe auch La Placette: Essais (wie Anm. II., 23), S. 173. Zur Entwicklung der »morale« bei Nicole, La Placette und Abbadie unter dem Aspekt der christlichen Apologie Albert Monod: De Pascal ä Chateaubriand. Les defenseurs fransais du Christianisme de 1670 ä 1802. [These principale de Doctoral] Paris 1916, S. 245; im Anschluß an Monod Antony McKenna: De Pascal ä Voltaire. Le role des »Pensees« de Pascal dans l'histoire des idees entre 1670 et 1734. 2 Bde. Oxford 1990 (Studies on Voltaire and the eighteenth century 276), hier Bd. 2, S. 193-197.

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der Sicht La Placettes maßgebliche Annahmen. 26 Doch ist es vor allem die christliche »science morale«, die den »salut« des Menschen befördert, was sie - verglichen mit der weltlichen Lehre - als wertvoller erscheinen läßt.27 Dem moralischen Ziel des »salut« sind spezifische Güter zugeordnet. La Placette unterscheidet - anders als Nicole - zwischen >ewigen< und >weltlichen Gütern< (»bien etemels« und »bien temporels«), die zur >ewigen< und zeitlichen Glückseligkeit (»bonheur eternel« und »bonheur temporel«) führen. 28 Weltliche Güter, weltliches >Glück< (»plaisir«) und weltlicher >Genuß< könnten der Empfindung des »salut« aber hinderlich sein.29 Weil die >Frömmigkeit< (»pitie«) für La Placette das höchste Gut darstellt, wird seine Morallehre auch in Deutschland wohlwollend aufgenommen.30 Christian Thomasius warnt seine Schüler in seiner im Jahr 1710 erschienenen lateinischen und in der deutschen Fassung der Höchstnöthigen Cautelen (1713) zwar vor christlichen Sittenlehren.31 Aber dennoch widmen sich die Thomasischen Schulmänner Gottfried Christian Lentner 32 und Gottlieb Stolle33 La

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Beispielsweise erlauben beide die Lüge, sofern sie niemandem schadet - eine für einen Reformierten ungewöhnlich offene Überlegung. La Placette: Du mensonge, des equivoques, & des restrictions, ou reservations mentales. In: ders., Divers traites sur des matieres de conscience. Amsterdam 1695, S. 1-73, hier S. 10. La Placette bestimmt den »salut« - die deutsche Fassung übersetzt den Begriff mit »Gottseeligkeit« - als: »[...] eine glückliche melange oder Vermischung der kindlichen Furcht beydes des respects als der precaution mit der Liebe des Verlangens und der Gewogenheit und macht hieraus diesen Schluß/ daß die Heiligkeit des Lebens/ Unschuld der Sitten/ Absagung der Sünde/ Inachtnehmen der Christen-Pflichten etc. entweder Stücke/ oder unzertrennliche Folgen der Gottseeligkeit abgeben.« Ders.: Nouveaux Essais de Morale. Premiere Partie/Neuer Versuch einer Morale. Der Erste Theil. In: Neu-eröffnete Moralisten Bibliothec, Oder Die Engeländische, Frantzösische, Holländische, Deutsche Italienische, Griechische und Lateinische Schafften erläuterte Geistliche Morale oder Sitten-Lehre, nach allen Tugenden und Lastern/ [...J.Viertes-Sechstes Stück. Leipzig 1715, hier Viertes Stück, VI., S. 477f. La Placette: Essais (wie Anm. II., 24), Bd. 2, S. 7 passim. La Placette: Nouveaux Essais (wie Anm. II., 27), S. 381 u. 388. Ebd., S. 305f. Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit (wie Anm. I., 4), S. 177f. Lentner wird am 27.7.1690 in Breslau geboren und stirbt dort am 28.11.1724. Er gibt die zehn-bändige »Moralisten Bibliothec« sowie die »Evangelien-Früchte« heraus, übersetzt Sacys »Traktat über die Freundschaft« und auch La Placettes »Morale«. Christian Gottlieb Jöcher (Hg.): Allgemeines Gelehrten-Lexicon [...]. Theile 1-4. Hildesheim 1962 (Nachdruck Leipzig 1750-1751), Zweyter Theil, Sp. 2367. Dazu das »Leben des Verfassers.« In: Gottlieb Stolles [...] Anleitung zur Historic der Juristischen Gelahrtheit, [...]. Jena 1745, S. 3-94. Geboren wird Stolle in Liegnitz am 3.2.1673; er stirbt dort am 4.3.1744. Um 1700 besucht er die Akademie in Halle, erhält 1709 den Magister und wird 1713 Adjunctus der philosophischen Fakultät. 1714 wird er Direktor und Professor primarius am Gymnasio Hildburgshausen, 1717 Professor der Politik in Jena, 1730 Aufseher der deutschen Gesellschaft. Unter dem Namen Leander von Schlesien schreibt er Gedichte. Jöcher: Allgemeines Gelehrten-Lexicon (wie Anm. II., 32), Vierter Theil, Sp. 856f; Allgemeine Deutsche Biographie. 63. Bd., S. 408f.

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Placettes Schrift.34 Für die Schulmänner erscheint die christliche Klugheitslehre als anziehend - vielleicht, weil sie konkrete und einprägsame Regeln für die Erlangung des »salut« vorgibt. Für einen Juristen wie Jean Barbeyrac spielt die Klugheitslehre La Placettes gleichwohl nur eine marginale Rolle. Sie kann nicht mit dem konkurrieren, was Barbeyrac dem naturrechtlichen Denken seiner Zeit entnimmt. La Placette ist für Barbeyrac infolgedessen nur interessant, insofern er sich dem Naturrecht zuwendet.

2. Morallehren des »Sens Commun«: Jean Barbeyrac und das Naturrecht Die Geschichte von der Geburt des frühneuzeitlichen Naturrechts aus der Gegnerschaft zur Scholastik ist ein Gründungsmythos.35 Wie von einem Gründungsmythos zu erwarten, trägt er zur Wirkung und zur Weiterentwicklung des Naturrechts bei. Mit den Schriften von Grotius und Pufendorf beginne das Naturrecht, so ist fast einstimmig in der Literatur der Zeit zu lesen. Auf verständliche Art und Weise wird dieses Naturrecht in Pufendorfs Lehrbuch De officio hominis et civis juxta legem naturalem (1673) aufbereitet,36 das Barbeyrac so früh studiert. Unzählige Kommentare bezeugen die Bedeutung dieses Werkes.37 Pufendorf etabliere, so Jean Le Clerc, nicht nur mit großer Klarheit Prinzipien für Politik und Recht, sondern auch für eine vernünftige »morale«.38 Barbeyrac führt diesen Ansatz Pufendorfs mit Le Clerc fort.39 Für die »morale«, für die Lehre von der Erkenntnis des Guten als Teilgebiet des Naturrechts,40 setzt Bar34 35 36

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Wie Emile und Eugene Haag anmerken, wird La Placette auch von Lutheranern akzeptiert. Dies.: La France protestante (wie Anm. II., 8). Bd. 6, S. 314. Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht (wie Anm. L, 6). Zum Einfluß von Pufendorf vgl. Detlef Döring: Pufendorf-Studien: Beiträge zur Biographie Samuel von Pufendorfs und zu seiner Entwicklung als Historiker und theologischer Schriftsteller. Berlin 1992 (Historische Forschungen 49), S. 214-266. Zur Kommentarliteratur Friedrich Vollhardt: Die Grundregel des Naturrechts. Definitionen und Konzepte in der Unterrichts- und Kommentarliteratur der Frühaufklärung. In: Aufklärung als praktische Philosophie. Hgg. v. Grunert u. dems. (wie Anm. L, 45), S. 129-147. [Jean Le Clerc:] Pensees sur la necessite et sur la maniere d'etudier pour les personnes qui ne font pas profession de Lettres. In: Parrhasiana ou Pensees diverses sur des Matieres de critique, d'histoire, de morale et de politique, par Theodore Parrhase. 2 Bde. Amsterdam 1699-1701 (1. Aufl. 1699), hier Bd. 2, S. 54-137, bes. S. 117f.; dazu der nachstehende Exkurs. Rosenblatt: Rousseau and Geneva (wie Anm. II., 7), S. 95f. »Das Recht der Natur wird auf unterschiedene Art genommen. Einige verstehen dadurch den Inbegriff der gantzen Morale. Andere die Pflichten gegen andere Menschen, oder auch zugleich gegen GOtt. Nach der neuesten Bedeutung ist es eine Lehre, welche alle diejenigen Handlungen verbiethet, wodurch der äusserliche Friede nothwendig gestöhret wird.« Gottlieb Stolle: Anleitung zur Historic der Gelahrtheit denen zum besten, so den Treuen Künsten und der Philosophie obliegen, in drey Theilen. Nunmehr zum drittenmal, verbessert und mit neuen Zusätzen vermehret. Jena 1727, dritter Theil, II. Cap., L, S. 628.

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beyrac neue Akzente. Beispielsweise bestimmt er einen letzten Zweck oder ein oberstes Gut für alle Bereiche moralischen Denkens und Handelns. Mit den Forderungen nach Gewissensfreiheit und Toleranz will er außerdem den »bonheur individuel« und die »salus publica« absichern. Beides gehört für ihn unauflöslich zusammen. Mit Aristoteles und Pufendorf hält Barbeyrac darum gegen Hobbes - daran fest, menschliche Leidenschaften durch ein normsetzendes Handlungsziel zu begrenzen.41 Ein vielgelesenes Kompendium über das Naturrecht wie dasjenige Adam Friedrich Glafeys hält für diese Vorstellung zunächst eine Unterscheidung bereit:42 Republiken sind auf das gemeine Wohl, Vernunftgesetze - also der Bereich, unter den auch die Moral fällt - auf die zeitliche Glückseligkeit und »christlichen Präcepte« auf die ewige Glückseligkeit hin angelegt.43 Noch im Zedlerschen Universal-Lexicon werden all diese bereichsspezifischen Ziele und Zwecke mit Hilfe der aristotelischen Ursachenlehre konzipiert.44 Dabei gibt der »Endzweck« allen Handlungen eine Norm - »dergestalt, daß man an den Zweck dasjenige, was man zur Erlangung desselben zu tun hat, erkennen kan.«45 Strenggenommen wird der >Endzweck< aber nie erreicht. Der von Pufendorf gebrauchte Begriff der »salus publica«, die Barbeyrac mit dem »bonheur individuel« vermitteln will, steht im Kontext der Diskussion über den >Endzweck< - allerdings nicht über den >Endzweck< des Naturrechts, sondern über den >Endzweck< der societas civilis, wie er im Gesell-

Aristoteles: Ethica Nicomacheia. Ed. v. Ingram By water. 19. Aufl. Oxford 1986, II, 6; Gerald Härtung: Anmerkungen. In: Samuel von Pufendorf, Gesammelte Werke 2. De officio. Hg. v. Härtung. Berlin 1997, S. 233-257, hier S. 236, Anm. 22. Das im achtzehnten Jahrhundert mehrfach aufgelegt Kompendium wird nach der zweiten Ausgabe zitiert. Adam Friedrich Glafey: [...] Recht der Vernunfft, So wohl unter einzelnen Menschen als ganzen Völkern/ Worinnen die Lehren dieser Wissenschafft auf feste Gründe gesetzet, und nach selbigen die in Welt-Händeln, auch unter denen Gelehrten vorgefallene Streitigkeiten erörtert werden, Nebst einer Historic des vemiinfftigen Rechts, worinnen das Leben und die Lehren eines jeden Haupt-Scribenten im Jure Naturae angezeigt und untersucht werden, samt einer Bibliotheca Juris Naturae et Gentium [...] Andere Auflage/Aufs neue durchgegangen und allenthalben gebessert, [...]. Franckfurt und Leipzig 1732, II. Buch, I. Cap., §. 240 [Hervorhebungen im Original]. Ebd. Eine Vielzahl von nochmals gestaffelten Möglichkeiten für die Einteilung des >Endzwecks< ist im Zedlerschen »Universal-Lexicon« notiert - auch Glafeys weitere Einteilung in »particular Fines«, »Fines ulteriores« und »Fines proximiores« taucht dort auf. Vgl. »Endzweck«. In: Grosses vollständiges Universal-Lexicon (wie Anm. L, 12). Bd. 8, Sp. 1166-1170. »Endzweck«. In: ebd.; »Natur-Recht«. In: ebd. 23, Sp. 1192-1205. Die Frage nach dem höchsten Ziel des Naturrechts wird hinsichtlich der normierenden Wirkung mit der Frage nach dem obersten Prinzip des Naturechts verglichen: mit der Frage, was als Quelle für die Ableitung des Naturrechts fungieren kann. Insofern der >Endzweck< des Naturrechts das oberste Prinzip zu beeinflussen vermag, sei dieser bedeutsamer als das oberste Prinzip. Umgekehrt hat das oberste Prinzip auf den >Endzweck< keinen Einfluß. Vollhardt: Die Grundregel des Naturrechts (wie Anm. II., 37), S. 133f. »Endzweck« (wie Anm. II., 44) [Hervorhebungen im Original].

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Schaftsvertrag festgelegt ist.46 Auch aus der Sicht Pufendorfs gilt: >Das öffentliche Wohl ist das oberste Gesetz< (»salus publica suprema lex est«). Die »salus publica« wird als oberstes Gesetz für den Souverän und für die Bürger, also als >Endzweck< für die societas civilis verstanden. Im Ergebnis werden oberste Güter und Ziele hierarchisiert, was Barbeyrac in typischer Weise kommentiert (a), und zwar vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Kritik an Pufendorf, wie sie Thomasius und sein Schüler Gottlieb Gerhard Titius äußern (b). Welche Bedeutung Barbeyracs Pufendorf-Edition in diesem Zusammenhang zukommt, wird in naturrechtlichen Kompendien, in den De officioKommentaren (c), und schließlich in einem bedeutenden Journal des Refuge deutlich (d). a) »Bonheur individuel« in der »salus publica«: Jean Barbeyracs Edition von Samuel Pufendorf Le droit de la nature et des gens (1706-1734) Philippe Meylans im Jahr 1937 erschienene Barbeyrac-Monographie blieb für lange Zeit die einzige Publikation zu diesem Denker der >zweiten Reiheverortete< Barbeyrac in diesem Sinne zwischen der Skepsis Bayles und dem Rationalismus Le Clercs.50

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Zwar wird mit diesen >Endzwecken< zunächst auf ganz Verschiedenes gezielt. Sie überlappen aber insofern, als daß sowohl das Naturrecht als auch der Gesellschaftsvertrag das »gemeine Beste« eines Gemeinwesens befördern sollen. Ihr >oberster Zweck< ist - bei aller Bereichsspezifik der >Endzwecke< - identisch. Entsprechend wird derselbe Begriff gebraucht, um ihn auszuzeichnen. Außerdem sind beide >Endzwecke< in ihrer teleologischen Struktur gleich angelegt. Vgl. für den »Endzweck der Republiken« bzw. den Staatszweck Zurbuchen: Naturrecht und natürliche Religion (wie Anm. L, 23), S. 47-51. Ebd., passim. Pierre Laurent: Pufendorf et la loi naturelle. Paris 1982, S. 64-69. Simone Goyard-Fabre: Barbeyrac, Jean de, 1674-1744. In: Dictionnaire des philosophes. Hg. v. Denis Huisman. Bd. 1. Paris 1984, S. 214. Vor diesem Hintergrund auch die Einschätzung des liberalen Protestantismus< von Sgard u.a.: Dictionnaire des journalistes (wie Anm. L, 77), S. 20. Tim J. Hochstrasser: Conscience and reason. The natural law theory of Jean Barbeyrac. In: The Historical Journal 36/2 (1993), S. 289-308.

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Skepsis oder Rationalismus, Absolutismus oder Widerstandstheorie, Offenbarung oder natürliche Religion - so lauten die Gegensätze, mit denen das Werk Barbeyracs auch hier erfaßt werden soll. Mir geht es aber um die philologischen Grundlagen für solche Zuweisungen, die Barbeyrac mit seiner kritischen Exegese naturrechtlicher (und theologischer) Schriften selbst schafft. Der Blick auf diese Grundlagen soll Auskunft über ein Thema geben, das Barbeyrac als zentral gilt: die >zivile Toleranz in religiösen Zusammenhängen (»Tolerance civile en matiere de Religion«) als Bedingung für die Gewissensfreiheit des einzelnen und damit für den »bonheur individuel«. 51 Barbeyrac behandelt dieses Thema immer wieder, besonders aber in drei Editionen, deren Anmerkungen zu einem engmaschigen Netz von Verweisen gewebt sind: in der De officio-Edition Les devoirs de komme et du citoien (1707),52 in der Edition von Grotius De jure belli ac pacis/Le droit de la guerre et de la paix (1720) und schließlich in der berühmten Edition des >großen< Pufendorfs. Gemeint ist De jure naturae et gentium/Le droit de la nature et des gens (1706).53 Um seine Kommentare und Übersetzungen dem jeweils aktuellen Stand der Wissenschaft anzupassen, bezieht Barbeyrac alle ihm zugänglichen Ausgaben

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Jean Barbeyrac: Avertissement sur cette cinquieme Edition. In: Pufendorf, Le droit de la nature et des Gens, ou Systeme general des principes les plus importantes de la morale, de la jurisprudence, et de la politique. Traduit du latin par Jean Barbeyrac [...]. 2 Bde. Amsterdam 1734/1735, S. XVII. Aus arbeitspragmatischen Gründen werde ich in der Regel nach der vierten Edition (1732) zitieren, die ohne Barbeyracs Einwilligung von einem Baseler Verleger gedruckt wurde. Sie enthält den Text der dritten Auflage: Pufendorf, Le droit de la nature et des gens, ou Systeme general des principes les plus important de la morale, de la jurisprudence, et de la politique. Traduit du latin de feu Mr. Le Baron De Pufendorf, par Jean Barbeyrac [...]. 2 Bde. Quatrieme Edition. Caen 1987 (Bibliotheque de Philosophie politique et juridique, Nachdruck Basel 1732). Besonders wichtige Änderungen in der Folge der Ausgaben werden aber angemerkt insbesondere im Blick auf die fünfte Edition (1734), für die Barbeyrac nach einem brieflichen Austausch mit Gershom Carmichael manches neu schreibt. Dazu Thomas Mautner: Carmichael and Barbeyrac: The lost correspondance. In: Samuel Pufendorf und die europäische Frühaufklärung. Werk und Einfluß eines deutschen Bürgers der Gelehrtenrepublik nach 300 Jahren (1694-1994). Hgg. v. Fiammetta Palladini u. Gerald Härtung. Berlin 1996, S. 190-208. Zu den verschiedenen Ausgaben die kommentierende Bibliographie von Ernst Ludewig Rathlef: Geschichte jetztlebender Gelehrten, als eine Fortsetzung des jetztlebenden Gelehrten Europa [...]. Erster Theil. Zelle 1740, S. 27-30. Eine vollständige, aber unkommentierte Liste der Ausgaben legt Zurbuchen vor. Dies.: Naturrecht und natürliche Religion, S. 177f. Knapp kommentiert Barbeyrac seine Ausgaben. Ders.: Avertissement. In: Pufendorf, Les devoirs de rhomme et du citoyen [...]. Tels qu'ils lui sont presents par la loi naturelle. Traduits du latin par Jean Barbeyrac. 2 Bde. Caen 1984 (Bibliotheque de Philosophie politique et juridique, Nachdruck Londres 1712), S. I-XVH. Mit Kommentar zu den »De jure«-Editionen vgl. Rathlef: Geschichte jetztlebender Gelehrten (wie Anm. II., 52), S. 23-27; für die vollständige Liste Zurbuchen: Naturrecht und natürliche Religion (wie Anm. L, 23), S. 177.

30 des jeweiligen Originaltextes sowie die Kommentarliteratur ein.54 Für Les devoirs notiert Barbeyrac:55 J'ai travaille sur l'Onsieme Edition, qui a paru en MDCCV. Par les soins d'un Professeur de Giessen; mais ensorte que j'ai eu perpetuellement devant les yeux la premiere Edition de l'Auteur meme, qui fut publiee ä Lunden en Suede, l'an MDCLXXIII. & qui, pour l'impression, est la plus correcte de toutes. Je n'aurois pas eu besoin de me servir de l'autre posterieure, si eile ne contenoit une longue addition, & quelque changemens, que peut regarder comme fails par l'Auteur meme. Quelqu'un [angespielt wird auf Gottlieb Gerhard Titius und seine Observationes (1703)] a voulu s'inscrire en faux centre ces reparations, que le Professeur de Giessen avoit deja faites dans une des Editions precedentes: mais on en a appelle [gemeint ist das Vorwort von Immanuel Weber] & ä des Lettres de Mr. de Pufendorf, oü il a approuve la liberte de l'Editeur; & au temoignage d'un Professeur de Leipsic [Adam Rechenberg], qui S9avoit lä-dessus les sentimens de l'Auteur; & ä la Preface de la Version Allemande de cet Abrege publiee du vivant de notre Auteur, oü avoit declare que c'etoit avec son consentement qu'on y avoit fait les reparations qui ont etc depuis transporters dans l'Original Latin.56 Das Zitat belegt zum einen die Bedeutung, die Barbeyrac den Veränderungen des Ausgangstextes zuspricht; zum anderen gibt es Auskunft über die Leistung, die Barbeyrac in den eigenen Pufendorf-Ausgaben sieht: Die selbst besorgten Editionen dienen ihm als Maßstab für alle anderen Pufendorf-Editionen.57 Allerdings ist Barbeyrac kein >Originalautor< und auch kein besonders origineller Denker. Er will es auch nicht sein. Doch sieht er sich ebensowenig als >Diener< seiner Lehrer auf dem Gebiet des Naturrechts. Das editorische Verdikt Louis de Sacys, »[que] tout Traducteur paie ä son Original le tribut de preference,«5* bedeutet ihm nichts. Im Gegenteil: Barbeyrac nimmt für sich nicht

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Siehe für Barbeyracs Bibliothek der Pufendorf-Kommentare und -Editionen den erhaltenen [!] Bibliothekskatalog Barbeyracs: Bibliotheca Barbeyraciana [...]. MF Be 66; HAB Wolfenbüttel o.D. (Groningae 1744), passim. Verglichen mit der Erstausgabe von 1672 enthält die zweite Ausgabe aus dem Jahre 1684 Änderungen, die die Grundsätze des Naturrechts betreffen. Zum Einfluß Cumberlands auf Pufendorf in diesem Zusammenhang Fiammetta Palladini: Samuel Pufendorf discepolo di Hobbes. Per una reinterpretazione del giusnaturalismo modemo. Bologna 1990, S. 200; vgl. auch Kari Saastamoinen: The Morality of the Fallen Man. Samuel Pufendorf on Natural Law. Helsinki 1995 (Societas Historicas Finlandiae; Studia Historica 52), S. 70f.; Vollhardt: Die Grundregel des Naturrechts (wie Anm. II., 37), S. 133. Jean Barbeyrac: Preface. In: Pufendorf, Les devoirs (wie Anm. II., 52), S. XV-CXXXII, hier S. XXXf. Die englische Übersetzung - vermutlich ist diejenige von J.[...] Spavan gemeint - schätzt er schon wegen ihrer >dunklen< Sprache nicht. Barbeyrac: Avertissement. In: Le droit (l 734) (wie Anm. II., 51), S. XII. Zur Rezeption der Edition Pufendorf's Law of Nature: Abridg'd from the Original. In which the Author's entire Treatise (de Officio Hominis & Civis) that was by himself design'd as the Epitome of his larger Work is taken. The whole compar'd with the respective last editions of Mr. Barbeyracs French translations, and illustrated with his notes. 2 Bde. London 1716. Mautner: Carmichael and Barbeyrac, S. 203 (wie Anm. II., 51). Barbeyrac: Preface. In: Pufendorf, Les devoirs (1712) (wie Anm. II., 52), §. XXXI [Hervorhebungen im Original].

31 mehr und nicht weniger als >die Funktion des Interpretern (»la fonction d'Interprete«) in Anspruch.59 Interpretiert wird historisch und kritisch, im Blick auf den Kontext der Geschichte, und zwar unter Berücksichtigung der Kriterien der >Gleichgültigkeit< oder der >Unvoreingenommenheit< (»indifference«) und der >Unparteilichkeit< (»impartialite«) gegenüber den zu interpretierenden Texten.60 Daß eine gewisse >Treue< (»fidelite«) zum Original unabdinglich und die >Klarheit< (»clarte«) für den Kommentar nicht zu vernachlässigen seien, sind für Barbeyrac selbstverständliche Forderungen. Ihn interessieren - um die >Rhetorik des Neuen< zu verstärken, mit der er seine Ausgabe einführt - die >Freiheiten< (»libertez«), die er sich nimmt, und die am Original vorgenommenen >Verbesserungen< (»reparations«). Diese befinden sich in den Anmerkungen und teilweise auch im Text: Pufendorf zitiere häufig falsch, auch gebe er die Gedanken anderer Autoren nicht immer exakt wieder. Beides bedürfe gleichermaßen der Korrektur.61 Denn Bücher seien, so meint der reformierte Editor, ebenso unvollkommen wie die übrigen menschlichen Belange.62 Aus diesem Grund gelte es gerade, nicht an ein wahres Original zu glauben, sondern abstrakt bestimmbare Maßstäbe wie diejenigen der >Unvoreingenommenheit< und der >Unparteilichkeit< vorzugeben, um das Ausgangsmaterial darzustellen. In diesem Sinne betont Barbeyrac hinsichtlich der Systematik von De jure (wie von De officio) die vielschichtige Anlage des obersten naturrechtlichen Prinzips in einem Dreigestirn von >SoziabilitätEigenliebe< und >Religiositätweltliche< Tradition will Barbeyrac aber die Unterteilung in einen irdischen und einen jenseitigen Rechtsbereich eingeschränkt wissen. Gerald Härtung merkte daher an, daß Barbeyrac im menschlichen Gewissen bzw. in der natürlichen Vernunft die »Konvergenz« von Jenseits Vorstellung und Naturrechtsdenken erblicke.64 Diese Einsicht ist richtig, bleibt aber in bezug auf Anlage, Herkunft und Ziele des Naturrechts unklar. Handelt es sich für den reformierten Gelehrten um ein natürliches Recht, das das ius divinum bloß ergänzt? Ob sich diese Frage beantworten läßt, wird später zu ermitteln sein. Deutlich ist zunächst eine schrittweise Veränderung. Sie bezieht sich auf die Anlage des >EndzwecksEndzwecks< verfolgt

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Ebd. Ebd. Ebd., §. XXXIII. Außerdem hebt Barbeyrac hervor, dem Leser einige kleine editorische Hilfen gegeben zu haben - wie etwa die Anführung der Kapiteltitel am oberen Rand der Seiten. Ebd., §. XXXI. Zurbuchen: Naturrecht und natürliche Religion (wie Anm. L, 23), S. 93. Dieser Aspekt wird auch von der »Bibliotheque raisonnee« des Jahres 1733 herausgestellt. Ebd., S. 537, hier S. 14. Siehe auch Vollhardt: Die Grundregel des Naturrechts (wie Anm. II., 37). Härtung: Anmerkungen (wie Anm. II., 41), S. 234, Anm. 7.

32 Barbeyrac einen hohen Anspruch. Der Vorteil des Naturrechts gegenüber spekulativen Wissenschaften sei, so notiert Barbeyrac - wie in anderem Zusammenhang La Placette -, die Festlegung der »Science des moeurs« auf den >Endzweckx.65 In seinem Discours sur l'utilite des lettres et des sciences par rapport au bien de l'etat (1714) hebt Barbeyrac dies hervor. Für alle Wissenschaften - für die Philosophie, für die Sprachlehre, für die Medizin und für die Rechtsgelehrtheit - weist der Naturrechtler einen positiven Einfluß auf »das Beste des gemeinen Wesens« nach.66 Doch befördere im besonderen die »morale« den »bonheur«, weil sie unmittelbar auf die Sitten der Menschen wirke. Eine solche Sicht der »morale« wirkt auf die Zeitgenossen. Die Vielzahl der positiven Besprechungen und die drei französische Ausgaben des Discours zeigen das große Interesse an den Fragen nach dem >Endzweck< der Morallehre an.67 Allerdings werden zur gleichen Zeit Stimmen gegen den Discours und sein Anliegen laut. Vor der Vorstellung einer bloß aus vernünftigen Gelehrten bestehenden Republik, die man in Barbeyracs Vorstellungen vom Sinn und Zweck des Naturrechts walten sieht, wird gewarnt. In seiner Rezension des Discours im Neuen Bücher-Saal der gelehrten Welt oder ausführliche Nachrichten von allerhand neuen Büchern und ändern zur heutigen Historie der Gelehrsamkeit gehörigen Sachen (1715) betont Gottlieb Krause die Schwierigkeiten, die solche Vorstellungen mit sich bringen:68 Zwar sei die Rede Barbeyracs von großer Bedeutung für die Wissenschaft, zwar solle dem Leser seines Neuen Bücher-

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»Comme les Sciences Spekulatives sont toutes inutiles, si on les considere en elles-memes, & que les Hommes ne sont pas nez pour s'attacher ä de tels objets; il ne faut pas etre surpris de voir que tout le monde n'est pas capable de s'appliquer avec succes ä ces sortes de Sciences, & que bien des gens meme ne sauroient seulement en comprendre les premiers Elemens.« Barbeyrac: Preface. In: Pufendorf, Le droh (1732) (wieAnm. II., 51), §. I [Hervorhebungen im Original]. Rathlef: Geschichte jetztlebender Gelehrten (wie Anm. II., 52), S. 48. »Mr. Barbeyrac montre tres-bien, dans celui-ci, qu'il est d'une grande utilite de s'instruire de l'Art de raisonner juste, de la Morale, tiree de ses Principes Philosophiques, de l'Histoire, & des sentimens de Antiquite, puisez dans les Originaux, qui nous en restent; de la Medecine, des Mathematiques, & de tout ce qui en depend, &c. II etale d'un cöte, le mal, qui est arrive aux Peuples, pour n'avoir pas ete instruits ces Sciences: & de l'autre, les grandes lumieres, que en tire.« Bibliotheque ancienne et moderne 2 (1715), S. 169-171, hier S. 171. Vgl. auch das Lob von Stolle: Anleitung zur Historie der Juristischen Gelahrtheit (wie Anm. II., 33), §. X., S. 14. Vgl. Gottlieb Krause: Neuer Bücher-Saal, 5. Jahr (1715), LII. Oeffnung, V., S. 297-308. Krause rezensiert u.a. Werke von Barbeyrac, Noodt und Le Clerc, argumentiert aber anders als die nationalistischem Reformierten im Sinne einer frömmelnden Skepsis. Den Rezensionen des Bücher-Saal[s], die allgemein über das gelehrte Leben informieren sollen, sind gleichwohl fünf Maßstäbe zugrunde gelegt, mit denen an die Tradition der reformierten Journale angeknüpft werden kann: erstens die Ausführlichkeit, zweitens die Ermächtigung des Lesers zum eigenen Urteil, drittens die Unparteilichkeit, viertens die Reinheit des Stils und fünftens die Deutlichkeit. Krause: »Geneigter Leser!« In: ebd., l.Jahr.unpag., [)C-)(V].

33 Saals das Urteil über diese vorbehalten bleiben, gleichwohl müsse er darauf hinweisen, daß ein im platonischen Muster gedachter Philosophenstaat nicht bestehen könne. Das Vernunftrecht sei fraglos notwendig und wünschbar, aber Barbeyrac vergesse - wie zuvor Platon - die Bedürfnisse und Leidenschaften der Menschen, welche eine Umsetzung der vernünftigen Regeln nur zu oft verhinderten.69 Auch vernachlässige er in seiner Betrachtung die Beredsamkeit und die Poesie. Beide Wissenschaften sprächen jedoch die Empfindungen des Menschen an, die unentbehrlich seien, um den >Endzweck< zu erreichen.70 Nach Krause hegt der Autor des Discours völlig falsche Vorstellungen nicht nur von der societas civilis, sondern auch vom Menschen als Teil derselben. Barbeyrac wehrt sich gegen solche Kritiken. Denn Gott allein habe das moralische Ziel für alle Menschen festgelegt,71 nämlich die >Glückseligkeit< (»felicite«). Alle Handlungen werden damit auf den »souverain bien« ausgerichtet:72 Le but de toutes les Actions Humaines, c'est le Bien', & il y a un Souverain Bien, un Bien par excellence, apres lequel toutes les Ames soöpirent. Ce Souverain Bien doit etre parfait, seul süffisant par lui-meme, & tel, que quiconque le connoit en recherche ardemment la possession, sans se soucier d'aucune autre chose, que de celles qui sont perfectionnees par les Biens qui y ont quelque rapport. Or cela ne peut se trouver que dans Etre inßni, qui est le Pere & la Cause de tous les Etres, qui donne non seulement aux choses connues tout ce qu'elles renferment de Verite, & aux Etres Intelligenz lafaculte de les connoitre, mais qui est encore l'auteur de leur Existence & de leur Essence, etant lui-meme au dessus de Essence, & par rapport au terns, & par rapport a la puissance. Sans la connoissance & la possession de ce Bien, toutes les autres choses sont inutiles.73

Gott sei die erste und einzige Ursache aller Dinge. Daher strebe alles dem »souverain bien« zu, der Gott sei. Naturrecht und ius divinum fallen also in gewisser Weise zusammen. Ein solches Verständnis der Rechtsbereiche kann auf eine lange Tradition zurückblicken: Auch für Calvin ist das Naturrecht Resultat göttlichen Willens. Es stimmt mit dem ius divinum überein, das sich im Dekalog und in den Weisungen der Propheten offenbart.74 Darüberhinaus läßt sich

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Ebd., S. 306. Ebd., S. 304. »En effet, on ne sauroit raisonnablement douter que chacun n'ait besoin pour se rendre heureux, de regier sä conduite d'une certaine maniere; & que Dieu, comme Auteur & Pere du Genre Humain, ne prescrive ä tous les Hommes sans exception, des Devoirs qui tendent ä leur procurer la Felicite, apres laquelle ils soupirent. Or de lä il s'enfuit necessairement, que les Principes naturels de cette Science doivent etre faciles ä decouvrir, & proportionnez ä la portee de toutes sortes d'Esprits, ensorte qu'il ne soil pas besoin, pour en etre instruit, de monier au Ciel, ou d'avoir lä-dessus quelque Revelation extraordinaire.« Barbeyrac: Preface. In: Pufendorf, Le droit (1732) (wie Anm. II., 51), §. I [Hervorhebung im Original]. Ebd., §. XX. Ebd. [Hervorhebungen im Original]. Josef Bohatec: Das Naturrecht und innerweltliche Ordnung nach Calvin. In: Publicaties van de Reunisten-Organisatie 8 [o.O. 1936], passim.

34 dem Bild eines vollkommenen Jenseits dasjenige für ein erträgliches Diesseits entnehmen. Erst Gott habe die Menschen in ihren Eigenschaften und in ihren Handlungen so angelegt, daß die irdische Glückseligkeit eben nur ein Abbild der jenseitigen sei. Der irdische »bonheur« entstehe aus dem Besitz eines Gutes, einem schwachen Äquivalent des jenseitigen höchsten Gutes.75 Barbeyrac will mit dieser Überlegung zeigen, daß die »morale« für irdische Belange andeute, was erst die Religion einlöse.76 Religion und Morallehre entstammen aber derselben Quelle, nämlich Gott. Darüberhinaus ist die Morallehre aus der Ähnlichkeit zur Religion entwickelt - zur natürlichen Religion allerdings. Denn Barbeyrac geht in bezug auf das Naturrecht nicht länger von einer Offenbarungsreligion aus. Erst eine Religion, die nicht mehr auf die Offenbarung angewiesen sei, könne für die einzelnen Konfessionen ebenso wie für die Moralwissenschaft grundlegend werden.77 Die Anbindung an ein göttliches >Sein< ist aber gerade aus einem Grund unerläßlich, der auch in der »morale« La Placettes immer wieder eine Rolle spielt: Eine societas civilis könne - so La Placette und Barbeyrac - nicht bestehen, wenn die Religion dort keine Rolle spiele.78 Erst sie sei in der Lage, das Herz der Menschen so zu rühren, daß sie moralisch handelten. Der >rationalistische< Zug des Naturrechts, der von Krause als Entwurf eines >Gelehrtenstaates< kritisiert wird, wird von Barbeyrac also zugunsten einer religiösen Herzensbildung abgemildert. Recht und Pflicht sind zwar im Mittel der Vernunft einsehbar, ihre Anwendung aber wird erst durch die im Herzen des Menschen angelegte Furcht vor Gott garantiert:79 ein Überbleibsel des alttestamentari-

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»Tout le Bonheur auquel il est possible d'arriver ici-bas, se reduit ä la jouissance d'un Bien, qui n'est qu' une production & une emanation du Souverain Bien, ou quelque chose qui lui ressemble le plus [...].« Barbeyrac: Preface. In: Pufendorf, Le droit (1732) (wie Anm. II., 51), §. XX [Hervorhebungen im Original]. Ebd., §.VI. »Sans la Divinite, le Devoir, {'Obligation, le Droit, ne sont, ä dire vrai, que de belies idees, qui pourront plaire ä l'Esprit, mais qui ne toucheront gueres le Coeurs, & qui par ellesmemes ne sauroient imposer une necessite indispensable d'agir ou de ne pas agir d'une certaine maniere. [...] pour donner ä ces idees [l'ordre, la convenance, la conformite avec la Raison] toute la force qu'elles peuvent avoir, pour les rendre capables de tenir bon contre les passions & l'interet particulier; il faut un Etre Superieur, un Etre plus puissant que nous [...], en un mot, qui nous mette dans une Obligation proprement ainsi nommee de suivre les lumieres de notre propre Raison. Cette crainte d'une Divinite, qui punit le Vice & recompense la Vertu, a une si grande efficace [...]. Mais faites le plus beau Systeme du monde, si la Religion n'y entre pour rien, ce ne sera gueres, pour ainsi dire, qu'une Morale Speculative [...].« Ebd., §. VI [Hervorhebungen im Original]. Ebd., §. XVI. Hochstrasser: The Claims of Conscience. Natural Law Theory, Obligation, and Resistance in the Huguenot Diaspora. In: New Essays. Hg. v. Laursen (wie Anm. I., 18), S. 15-52, hier S. 45. Unter diesem Aspekt spielt auch die Auseinandersetzung Barbeyracs mit Leibniz' Einwänden gegen Pufendorf eine Rolle. Doch läßt sich Barbeyracs Position hinsieht-

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sehen Zwangselementes, das sich im Calvinismus findet. Gott habe den Menschen auferlegt, ihre wechselseitigen Pflichten zu erfüllen. Ohne die Erfüllung dieser Pflichten könne eine Gesellschaft nicht bestehen;80 von ihrer Erfüllung hänge letztlich auch die >Glückseligkeit< ab.81 Dabei gilt die Umsetzung der Moralwissenschaft als durch die Empfindungsfähigkeit des Menschen gewährleistet. Alle Menschen hätten schließlich ein Herz, nicht unbedingt aber eine ausgebildete Vernunft. Alle Menschen verfügten außerdem über eine gemeinsamste Lebenserfahrung< (»l'experience la plus commune de la Vie«), die zu einer Kenntnis des gottgegebenen Naturrechts führen könnte, wenn sie mit >ein wenig Reflexion über sich selbst< und über das >Umfeld< (»un peu de reflexion sur soi-meme & sur les objets qui nous environnent«) verbunden sei.82 Erkannt würden zunächst >die generellen Ideen des Naturgesetzes und die wahren Gründe aller unserer Pflichten< (»les idees generates de la Loi Naturelle, & les vrais fondemens de tous nos Devoirs«).83 Auch die einfachsten Menschen verstünden ein solches Naturrecht schließlich gehe es nicht um spekulative Wahrheiten, sondern um Grundlagen für das tägliche Leben.84 Weil alle Menschen das Naturrecht erfassen könnten, sei es ihnen auch nahezubringen, um den von Gott vorgesehenen >Endzweck< des Naturrechts und der Gesellschaft Wirklichkeit werden zu lassen: J'ai eu dessein de rendre service ä deux sortes de personnes. Les premiers, ce sont les Jeunes Gens, qui se destinent aux Emplois, tant Ecclesiastiques, que Politiques. [...] l'autre sorte de personnes dont il s'agit, ce sont les Gens sans Lettres, ou les Gens du Commun, parmi lesquels il ne faut pas s'etonner s'il regne une si grande ignorance en matiere des choses contenues dans ce Livre [...]. Je sais par experience, que le mot meme de Droit Naturel leur est aussi inconnu, que les Terres Australes f...].85

Der implizite Leser der Pufendorf-Editionen Barbeyracs kann demnach auch ungelehrten Bevölkerungsgruppen angehören. Sogar ein Desinteresse an naturrechtlichen Themen sei für die Verbreitung derselben nicht hinderlich. Es über-

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lich der Furcht nicht vollständig klären. Er will in der Auseinandersetzung mit Leibniz zeigen, daß moralische Verpflichtung nicht aus Furcht entstehe. Grund der Verpflichtung sei, so Barbeyrac, Gott. Gegen Leibniz betont er daher den Unterschied zwischen der Begründung der Pflicht und zwischen den Motiven für die Befolgung dieser Pflicht. Vgl. Zurbuchen: Naturrecht und natürliche Religion (wie Anm. L, 23), S. 39f.; Jerome B. Schneewind: Barbeyrac and Leibniz on Pufendorf. In: Samuel Pufendorf und die europäische Frühaufklärung. Hgg. v. Palladini u. Härtung (wie Anm. II., 51), S. 181-189. Vgl. zum Konzept der moralischen Verpflichtung bei Barbeyrac aus der Kritik an Pufendorf Palladini: Pufendorf discepolo di Hobbes (wie Anm. II., 55), S. 59f.; zustimmend zu Palladini Saastamoinen: The Morality of the Fallen Man (wie Anm. II., 55), S. lOlf., 106f.; Vollhardt: Die Grundregel das Naturrechts (wie Anm. II., 37), S. 133. Barbeyrac: Preface. In: Pufendorf, Le droit (1732) (wie Anm. II., 51), §. I. Vgl. ebd., §. II. Ebd. Ebd.,§. I. Ebd., §. II. Ebd., §. XXXII [Hervorhebung im Original].

36 zeuge durch Wahrheit und durch eine klare, dem »Sens Commun« einsichtige Systematik: zwei Vorteile, die das Naturrecht vor anderen Morallehren auszeichneten. In dieser Einschätzung stimmt Barbeyrac mit den meisten Vertretern und Sympathisanten des (deutschen) Naturrechts überein. Prominent wird eine solche Ansicht auch in Gottscheds Journalen vertreten, die bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts einen repräsentativen Einblick in die literarische Produktion der deutschen Länder geben. Noch im Jahr 1746 genießt Barbeyracs weit zurückliegende Pufendorf-Edition größtes Ansehen. Sie stehe weit über dem, was mittlerweile unter dem Titel >Naturrecht< erscheine, so ist in einer Rezension über den Essai sur les Principes du Droit et de la Morale (1743) von Frangois Richer d'Aube (1686-1752), dem Neffen Fontenelles, in Gottscheds Neuem Büchersaal der schönen Wissenschaften zu lesen.86 In d'Aubes Essai werde - so die Rezension - erstmals versucht, das Naturrecht für die gelehrte Auseinandersetzung im absolutistischen Frankreich zu gewinnen.87 Während der Chevalier d'Aube dasselbe aber - typisch französisch - in nur unsystematischer und flüchtiger Weise abhandele, nähere sich Barbeyrac den naturrechtlichen Autoritäten in systematischer Absicht, so lobt der Rezensent: Barbeyrac hat diese beyden großen Männer herausgegeben, übersetzt und erläutert; doch, wie er bescheiden sagt, nur für junge, und für unstudirte Leute gearbeitet. Man kann ihm aber zugestehen, er habe auch selbst für die Gelehrten gearbeitet. Er hatte einen philosophischen Kopf, und man möchte wünschen, daß er nach jenen Ausgaben und Erläuterungen selbst ein eigenes Werk davon unternommen haben möchte, darinn alles aus guten Gründen hergeleitet, und durch genauere Folgerungen verbunden wäre. Da er es nicht gethan hat, so muß man hoffen, daß es sonst jemand thun wird: und wenn das geschieht, so wird folgender Nutzen daraus erwachsen. 1) Unstudirte Leute werden, wenn sie nur ein wenig ihre Vernunft brauchen können, sich sehr leicht von ihren Pflichten unterrichten können. 2) Junge Studirende werden dadurch geschickt werden, in der Rechtsgelahrtheit, der Sittenlehre und der Staatskunst viel weiter zu kommen. 3) Die Regenten werden aus der Grundwahrheit: daß man nach dem, was das Recht ist, die Regel machen müsse, durch Ueberlegung der ersten Quellen alles dessen, was Rechtens ist, viel leichter neue Gesetze geben, ja ganz vollständige Rechtsbücher machen können. Endlich 4) würden auch alle Staatsstreitigkeiten viel leichter zu entscheiden seyn, wenn ein solches Buch jemals zu Stande kommen könnte.88

Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften, Leipzig 1745-1750; hier ebd. 6/5 (1746), S. 385-399; Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit (wie Anm. I., 4), Anm. 3, S. 6; ders.: Naturrecht und »schöne Literatur« im 18. Jahrhundert. In: Naturrecht - Spätaufklärung Revolution. Hgg. v. Dann u. Klippe! (wie Anm. L, 25), S. 216-232, hier S. 220. Auch der Chancelier Henri-Francois d'Aguesseau hat sich kritisch zu Pufendorf geäußert. D'Aguesseau hält Grotius für das größere Genie von beiden, weil Pufendorf umständlich schreibe. Die Kritik an Pufendorf ist aber vor allem eine stilistische. Siehe: Oeuvres de M. le Chancelier d'Aguesseau. Bd. 3. Yverdon 1763, S. 5-239, hier S. 103f.; zu d'Aguesseau und d'Aube Dufour: Pufendorfs Ausstrahlung (wie Anm. L, 43), S. 105f. Neuer Büchersaal 6/5 (1746) (wie Anm. II., 86), S. 390-392 [Hervorhebungen im Original].

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Barbeyracs Werke zeichnen sich für den Rezensenten in zweierlei Hinsichten vor denen d'Aubes aus: zum einen beherrsche Barbeyrac die naturrechtliche Tradition, zum anderen verfolge er ein pädagogisches Unternehmen; er wolle nämlich das Naturrecht verbreiten. Die Aussicht auf eine praktische Wirkung dieses Unternehmens wird als groß betrachtet. Abschließend verweist der Rezensent auf den Zusammenhang zwischen dem individuellem Wohl als Teil eines übergeordneten Ganzen, des gemeinschaftlichen Wohls, den aber auch der Chevalier erkannt habe. Daher lohne es doch, den Essai des Chevalier zu verbreiten, schließt der Rezensent. D'Aube stehe in einer guten Tradition, so sein Argument. Am Beginn dieser Tradition sieht er Grotius und Pufendorf. Würdig fortgeführt werde sie aber in erster Linie durch den »philosophischen Kopf« Barbeyrac. Was Barbeyrac zu dieser Tradition beiträgt, bezieht sich neben den religiösen Fragen auf den gelehrten Umgang mit dem bereits erarbeiteten System des Naturrechts. Grotius De jure belli ac pads und Pufendorfs De jure naturae et gentium gelten Barbeyrac als autoritative Texte, die er interpretiert und mit missionarischem Anspruch verbreitet.89 Pufendorfs De jure und De officio werden dabei die moralisch wertvollen Eigenschaften zugeschrieben, das Gemeinwohl zu befördern, und zwar, indem Barbeyrac das Anliegen Pufendorfs gegen diejenigen von Hobbes und Machiavelli abgrenzt: gegen den Vertreter des Krieges aller gegen alle< und gegen denjenigen, der die Religion bloß für Staatsinteressen gewinnen wolle.90 Fiammetta Palladini deutet solche Verfahren der Ab- und Aufwertung an, indem sie Barbeyracs Kritik an Hobbes und die daran geknüpfte Aufwertung Pufendorfs für die Absichten Barbeyracs skizziert. Barbeyrac trenne das Pufendorfsche Naturrecht von demjenigen des verachteten Hobbes, indem er enthusiastisch für Pufendorf Partei nehme und eine entsprechende Historiographie vorlege.91 Mit Barbeyrac erreicht die Abwertung von Hobbes und Machiavelli ihren Höhepunkt. In beiden sieht Barbeyrac Vertreter einer bloß das Partikularwohl des Herrschers befördernden und mehr oder minder skeptischen Klugheitslehre. Von dieser >verachtenswerten< Tradition läßt sich die >vorbildliche
großen< Pufendorf verlegt habe, wünsche aus der Hand des Übersetzers von »De jure« eine Ausgabe des Lehrbuchs, so notiert Barbeyrac zu seiner »De officio«-Edition. Barbeyrac: Preface. In: Pufendorf, Les devoirs (1712) (wie Anm. II., 52). Barbeyrac: Preface. In: Pufendorf, Le droit (1732) (wie Anm. II., 51), §. XXII. »Messa in atto da Barbeyrac per separare le sorti del suo beniamino da quelle di Hobbes consiste nello sposare entusiasticamente la teorizzazione ehe del proprio posto nella storia dell'etica aveva dato Pufendorf, codificandola in un topos storiografico. Si veda sia la >Preface< alia traduzione dell'opera maggiore di Pufendorf, ehe quclla alia traduzione del >De iure belli ac pacis< di Grozio.« Palladini: Samuel Pufendorf discepolo di Hobbes (wie Anm. II., 55), S. 275-278 [Hervorhebung im Original].

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abheben, die, so die Darstellung Barbeyracs, mit Grotius' Annahme eines guten Naturzustandes beginne und von Pufendorf fortgesetzt werde. Diese optimistische Tradition des Naturrechts ziele auf ein innerweltliches und gemeinschaftliches Wohl und beruhe auf einer vernünftigen Verbindung von Recht, Moral und Religion:92 On avoue neanmoins, que nos deux Philosophes Modernes [Grotius und Pufendorf] ont travaille dans le dessein d'etre utiles ä la Societe, & qu'Us ont presque tout rapporte au bonheur de l 'Homme considere selon le Civil. Voilä qui est bien different des Systemes de Machiavel & d'Hobbes; & meme terns pour la bonte des autres Systeme oü presque tout se rapporte au bonheur de l'Homme considere selon le Civil.93

Mit dieser Abgrenzung ist angesprochen, was fast die gesamte deutsche >Gelehrtenrepublik< eint: Ziel des Naturrechts ist die Beförderung der individuellen Glückseligkeit. Sie ist dem Gemeinwohl aber immer unterzuordnen. Barbeyracs Gemeinwohl-Begriff entspricht einer solchen Sicht, wie sie auch Pufendorf vertritt, aber nur bedingt. Zwar verteidigt Barbeyrac - mit Pufendorf - die Annahme einer natürlichen Geselligkeit des Menschen gegen Hobbes.94 Für den reformierten Gelehrten aber läßt sich Regierungshandeln am Gemeinwohl· messen. Das monarchomachische Schrifttum gegen die >Tyrannis< wirkt noch nach, doch gilt es im »Reformabsolutismus« nicht mehr viel. Es hat sich überlebt, weil sich die Regierung nicht tyrannisch verhält. Systematisch wird die Frage nach dem Gemeinwohl im Gesellschaftsvertrag behandelt.95 Bei Pufendorf ist der Vertrag dreistufig angelegt: auf der er-

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Richard Tuck versuchte, Grotius für die pessimistische Sichtweise zu gewinnen. In seinen Argumentationen gegen die Skeptiker Montaigne und Charron wende Grotius ein, so Tuck, daß es natürliche Rechte gebe, die durch das Selbstinteresse des Individuums gerechtfertigt seien. Grotius wird damit für Tuck zum >Hobbesianer vor HobbesEndzweck< für die Einrichtung des Staates ein umfassend gedachtes Gemeinwohl angestrebt wird. >Die allgemeinste Regel für die höchste Regierung ist: Das Wohl des Volkes ist das oberste Gesetz. Platon De Rep[ublica] Buch I. Niemand ist herrschend in irgendeiner Regierungsposition, wie lange er auch Regent ist, damit er sich bespricht, überlegt oder vorschreibt, sondern damit er untertänig seine Arbeit übernimmt und alles, was er sagt, was er tut, zu seinem Nutzen und Ruhm sagt und tut. Denn die Regierung ist ihnen in der Absicht übertragen worden, daß durch sie für die Erreichung des Zweckes gesorgt werde, um dessentwillen die Staaten gegründet worden sind. Daher müssen sie daran glauben, daß nichts ihrem Privatem diene, was nicht zugleich dem Staat dient.< Samuelis Pufendorfii De Jure Naturae et Gentium libri octo. Londoni Scanorum 1672 [Hervorhebungen im Original]. >Die allgemeinste Regel für die höchste Regierung ist: Das Wohl des Volkes ist das oberste Gesetz. Denn die Regierung ist ihnen in der Absicht übertragen worden, daß durch sie für die Erreichung des Zweckes gesorgt werde, um dessentwillen die Staaten gegründet worden sind. Daher müssen sie daran glauben, daß nichts ihrem Privatem diene, was nicht zugleich dem Staat dient.< Pufendorf: De officio (wie Anm. II., 41), L. II, c. XI, §. III [Hervorhebungen im Original]. Pufendorf: Le droit (1732) (wie Anm. II., 51), II, L. VII, c. IX, §. III. [Hervorhebungen im Orginal].

40 In Les devoirs verändert er die eigene Übersetzung geringfügig: Le Bien du Peuple est la Souveraine Loi; c'est aussi la maxime generate que les Puissances doivent avoir incessamment devant les yeux, puisqu'on leur a confere l'Autorite Souveraine, quafin qu'elles s'en servent pour procurer & maintenir l'Utilite Publique qui est le but naturel de l'etablissement des Societez Civiles. Un Souverain ne doit done rien tenir pour avantageux ä lui-meme, s'il ne Fest aussi ä l'Etat. Mais disons quelque chose de plus particulier."

Für die De o^zczo-Übersetzung kommentiert Barbeyrac diesen Paragraphen nicht - umso mehr ist der Hintergrund des De jMre-Kommentars mit zu berücksichtigen. Im Vergleich zur Übersetzung von De jure werden in Les devoirs drei Begriffe verwendet, mit denen der Gemeinwohl-Begriff verstärkt und >utilitaristisch< gewendet wird. Anders als zuvor ist nun von den >Mächten< (»Puissances«) statt von den Prinzen die Rede, die am Maßstab des Gemeinwohls beurteilt werden. Zugleich ist der Maßstab nun als >gemeiner Nutzem (»Utilite Public«) und nicht mehr als >gemeines Gut< (»bien public«) ausgewiesen. Die Mächtigen sollen den ihnen gesetzten Maßstab nicht mehr nur >immer< (»toujours«) vor Augen haben; sie sollen sich >unaufhörlich< (»incessament«), daran erinnern. Dabei bleibt Barbeyracs Übersetzung nahe am Original. Die Veränderung betreffen den Gemeinwohl-Maßstab, der als besonders bedeutsam hervorgehoben wird. Nach Barbeyracs Übersetzung gilt, daß der »Bien du Peuple«, der »Bien public« oder die »Utilite Public« nicht nur >geschaffen< (»procurer«), sondern auch >erhalten< (»maintenir«) sein will - für die Bewahrung und Mehrung von Gutem wie denjenigen der Freiheit, der Ruhe, des Eigentums und des Lebens.100 Die societas civilis ist für Barbeyrac nicht nur zum Zweck des Gemeinwohls eingerichtet, sondern das Gemeinwohl gilt ihr schon als >natürliches Ziel< (»but naturel«). Darüberhinaus ergänzt Barbeyrac den Originaltext in einer Weise, daß er im Sinne der reformierten Tradition umgedeutet wird. Es soll nicht bei der allgemeinen Verpflichtung auf das Gemeinwohl bleiben - geht es doch gerade darum, diesen Maßstab genauer zu fassen und anwendbar zu machen, und zwar auch gegen den Souverän und für ein auf das Gemeinwohl gegründetes, wenn auch kaum greifbares Recht auf Widerstand. Diese freie Ergänzung und Umdeutung des Originals ist typisch für Barbeyracs >Interpretation< der >AutoritätEndzweck< der Glückseligkeit zu begründen sucht und ihn zugleich als Zweck der eigenen Arbeit bestimmt. Weber beschränkt sich demgegenüber darauf, den Leser zu überzeugen. Hinsichtlich der Wirkung stuft er seine Übersetzung bescheidener ein als Barbeyrac. Es geht dem Gießener Gelehrten nicht um ein großes Publikum; auch fehlt ihm der missionarische Eifer, mit dem sich die Notwendigkeit der naturrechtlichen Lehre für das menschliche Zusammenleben beteuern ließe. Weber übersetzt Pufendorf, weil es sein Amt als Universitätsprofessor verlangt, nicht weil es das irdische und weltliche Heil möglicher Leser fordert.103 Ein solches Verständnis von der Tätigkeit des Übersetzers bringt eine ganz andere Fassung des Gemeinwohl-Paragraphen von De qfficio hervor: Diß soll aller hohen Regenten General-regel seyn/ daß sie sich des Volcks Wohlfahrt vor allen Dingen angelegen seyn lassen. Denn zu dem Ende ist ihnen die Regierung anvertrauet/ daß sie dadurch den Zweck/ dessentwegen alle Republiquen angeleget seyn/ erhalten sollen. Und dannenhero müssen sie feste beglaubet seyn/ daß sie an keinem Dinge einigen Privat-Vortheil haben können oder dürffen/ wenn solcher nicht zugleich den gemeinen Staats-Nutzen befördert.104

Weber spricht erstens nicht wie Barbeyrac vom Gemeinwohl als eines Zustandes, der zum Maßstab für Regierungshandeln wird, sondern von >Wohlfahrtgerechte Befehle< begreift - keine >inhaltliche< Bestimmung der »salus publica« also, sondern ein bloßes Regelwerk für die Sanktionierung von abweichendem Verhalten. Unklar bleibt dabei aber, was dem >Heil des Gemeinwesens< zuträglich sein soll. Es wird vorausgesetzt und nicht definiert. Ergänzend zu dieser politischen Beschreibung< der »salus publica« wird ihre moralische Tragweite angesprochen, und zwar charakteristischerweise durch energische Hinweise auf die Selbstverpflichtung des Fürsten.108 Barbeyrac bekräftigt, wie wichtig es sei, >Herrschaft< am Nutzen des Volkes auszurichten. Ratschläge geschickter und weiser Menschen sollten zu diesem Zweck unbedingt berücksichtigt werden. Sie sollen helfen, die vielfältigen Umstände zu erfassen, in denen politische Entscheidungen fallen. Solche Entscheidungen werden damit nicht länger auf einen Herrscher allein zurückgeführt, sondern wie etwa bei Beza und bei anderen monarchomachischen Autoren -109 in einen umfassenden politischen Rahmen eingebettet, der noch ständischen Ursprungs ist. Im Vergleich mit manchem monachomachischen Traktat wirken Barbeyracs Verweise auf die institutionellen Hinsichten der »salus publica«, auf die Fragen der Sanktionierung und auf die moralische Selbstverpflichtung des Herrschers verhalten. Barbeyrac beläßt es bei unkommentierten Zitaten über die Herrscher- und Bürgerpflichten aus Platon und Cicero.

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Weber: Zuschrifft (wie Anm. II., 103), S. 95; Härtung: Einleitung. Samuel Pufendorf und die Verbreitung der Naturrechtslehre in Europa. In: Pufendorf, De officio (wie Anm. II., 41),S.VII-XV, hier S. X. Marcus Tullius Cicero: De legibus. Ed. v. Konrat Ziegler. Heidelberg 21963, III, 3; Pufendorf: Le droit (1732) (wie Anm. II., 51), II, L. VII., c. IX, §. III. Pufendorf: Le droit (1732) (wie Anm. II., 51), II, L. VII, c. IX, §. III. Neben Marc Anton, auf den sich Barbeyrac hier vor allem bezieht, führt Barbeyrac die Pflichtenkataloge an, wie sie aus Platon und Cicero überliefert sind. Siehe Marcus Tullius Cicero: De officiis. Ed. v. Carl Atzert. Leipzig 1958, I, 15. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch der Verweis auf Pierre Charron: De la sagesse. Paris 1604, III, 2, §.4; Härtung: Anmerkungen (wie Anm. II., 41), S. 253, Anm. 141. Dazu die Einleitung dieser Untersuchung.

43 Doch ist Barbeyrac wesentlich darum bemüht, Pufendorfs Text für jene moralische Tradition zu gewinnen, deren Feindbilder Machiavelli und Hobbes heißen. Auch an dieser Stelle erhält die moralwissenschaftliche Vermittlung religiöser und politischer Gegensätze eine entscheidende Bedeutung: zum einen merkt Barbeyrac an, daß die Maximen einer guten Politik mit denjenigen des Naturrechts und der natürlichen Religion einhergehen, wie Pufendorf schon in De concordia verae Politicae cum Religione Christiana (1675) gezeigt habe. Pufendorf bemühe sich - wie der aufgeklärte Theologe Johann Franz Budde (1667-1729) - um das gemeinsame Projekt< des Protestantismus, dessen Gegner in der scholastischen Theologie< zu finden seien. Daher fordere Pufendorf eine neue Theologie, die sich - einem einfachen Protestantismus< gemäß - auf die Bibel rückbesinne und sich gegen die >katholische Tyrannis< wende. Besondere Aufmerksamkeit gebühre - so Barbeyrac mit Pufendorf - in diesem Zusammenhang der Kirchengeschichte, weil sie Sprengstoff für konfessionelle Konflikte enthalte.110 Zum anderen deutet Barbeyrac mit einem langen Zitat aus Pierre Charrons De la sagesse (1604) daraufhin, daß Prinzen tugendhaft seien müßten, um eine dem Gemeinwohl förderliche Politik zu betreiben: »[...] la pratique en est infiniment plus difficile, & il y a peu de Princes, qui se tiennent ici dans de justes bornes.«1" Mit der skeptischen Schlußbemerkung über die Moral des Prinzen verweist Barbeyrac zustimmend auf Bayle und bekennt sich damit - ausnahmsweise - zu dessen Position. Die politischen Konfliktlinien im Refuge sind bekannt: Pierre Jurieu wirft Bayle vor, den französischen Absolutismus zu verteidigen. Doch steht dieser Vorwurf im Gegensatz zu jenen Artikeln in Bayles Dicüonnaire historique et critique (1696/1697), die sich mit der Tyrannis befassen. Ein Widerspruch folgt daraus dennoch nicht: Mit dem Dicüonnaire schlägt Bayle eine politische Strategie der Toleranz vor.112 Diese könnte es allen konfessionspolitischen Gruppen erlauben, ihre Interessen zu wahren, um

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Für Pufendorf Döring: Untersuchungen zur Entwicklung der theologischen und religionspolitischen Vorstellungen Samuel von Pufendorfs (wie Anm. II., 4), S. 879-881. Barbeyrac bezieht sich auf die französische Moralistik, und zwar vornehmlich auf Montaigne und Charron. Zu den übergreifende Mustern der Bezugnahme läßt sich nicht mehr sagen, als daß Barbeyrac - nicht nur im oben angeführten Beispiel - zustimmend auf beide zurückgreift. Die Bezugnahme bezieht sich allerdings nicht auf die Beförderung individueller Egoismen, wie Montaigne sie nahelegt, sondern vielmehr auf eine Mischung von Gerechtigkeit und Klugheit. Zur Charron-Rezeption in diesem Sinne Miller: Defining the common good (wie Anm. L, 47), S. 71 f., Anm. 228. Pierre Retat: Le Dictionnaire de Bayle et la lütte philosophique au XVIIIe siecle. Paris 1971 (Bibliotheque de la Faculte des Lettres de Lyon 28); Ruth Whelan: The Anatomy of superstition. A study of the historical theory and practice of Pierre Bayle. Oxford 1989 (Studies on Voltaire and the eighteenth Century 25); eine Vielzahl der Beiträge in: The Emergence of Tolerance. Hgg. v. Berkvens-Stevelinck, Israel and Posthumus Meyjes (wie Anm. I., 13), S. 141-153.

44 eine Wiederkehr der religiösen Kämpfe voriger Jahrhunderte zu vermeiden.113 Damit ist das zentrale Problem bezeichnet, das Barbeyrac mit Hilfe der naturrechtlichen Systematik beantwortet: Herrschermacht soll dadurch eingeschränkt werden, daß das Naturrecht auf die gemeinschaftliche Glückseligkeit bzw. auf das Gemeinwohl festgelegt wird. Für die reformierte Tradition läßt sich also gegen die Einsicht, das Naturrecht sei ein Recht im Sinne und zugunsten des Herrschers,114 einwenden, daß Barbeyracs Gemeinwohl-Begriff dazu dient, eine - wenn auch unspezifische Grenze der Gehorsamspflicht für die Untertanen anzugeben und die Willkür des Souveräns im Sinne des Gemeinwohl-Zwecks zu begrenzen."5 Darüberhinaus wird der Despot nicht nur am ethischen Verdikt der >verdorbenen Absicht< (intentio corrupta) gemessen.116 Durch die »salus publica« ist er an die Normen des Gesellschaftsvertrags gebunden. Sind die Grenzen für eine angemessene Machtausübung auch nicht einklagbar, so bestehen sie doch zumindest als Idee von einem gemeinnützigen Zusammenspiel von Volk und Herrscher. In diese Richtung weisen etwa auch Barbeyracs Ansichten zur Erbmonarchie; sie soll den »bien public« garantieren: Ob die Erbmonarchie über >die Gesetze< (»les loix«) oder über den >Brauch< (» Usage«) eingeführt sei - immer gehe sie vom ursprünglichen >Willen der Völker< (»la volonte des Peuples«) aus, das Gemeinwohl als Ziel der Gesellschaft zu sichern."7 Wenn der Herrscher aber 113

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Ich folge dem Argument, das Sally L. Jenkinson im Gang der Lektüre durch den »Dictionnaire« entfaltet. Dies.: Nourishing Men's Anger and Inflaming the Fires of Hatred: Bayle on Religious Violence and the >Novus Ordo SaeclorumSelbsterhalts< (»conservatio sui«) als oberstes Gesetz - allerdings nur hinsichtlich des von Gott den Menschen vorgeschriebenen und von Velthuysen nicht weiter spezifizierten >EndzwecksDe Cive< de Hobbes (1651-1680). Traduit et presente par Catherine Secretan. Caen 1995 (Bibliotheque de Philosophie morale et politique, Textes et documents), S. 46, 58f. u. 66f. Glafey: [...] Recht der Vemunfft (wie Anm. II., 42), I, c. III., §. 80. Gegen die Thomasius-Schüler Andreas Adam Hochstetter und Dietrich Hermann Kemmerich wendet Glafey mit Thomasius ein: »[...] daß man den von GOtt in der Schöpffung intendierten Zweck nicht allemahl wisse.« Ebd., L, c. III., §. 75. Zu Hochstetter und Kemmerich unter dem Aspekt des >Endzwecks< Hinrich Rüping: Die Naturrechtslehre des Christian Thomasius und ihre Fortbildung in der Thomasius-Schule. Bonn 1968, S. 126f. u. 170f. »It is noted that he [Cumberland] derives the origins of civil society from the human instincts of parental love and the impulse to acquire property.« Linda Kirk: Richard Cumberland and Natural Law. Secularisation of Thought in Seventeenth-Century England. Cambridge 1987, S. 109.

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körpers.123 Durch ihre Fähigkeit zur Erkenntnis dieses »Bien Commun« zeichnen sich nach Cumberland alle vernünftigen Menschen aus: D'oü, pour le dire en passant, je puis conclure avec raison, que chercher le Souverain Bien des Etres Raisonnables, c'est chercher le bien & l'ordre de tout le Systeme du Monde; & que la moindre observation de la determination des mouvemens naturels, fait naitre dans nötre Esprit quelque idee d'ordre & de dependance; idee, qui, lors qu'elle a pour principe le jugement d'une Ame Raisonnable, est proprement designee par le mot de Gouvernement [a Regimen]. Or nous sommes convaincus de cette subordination par experience de ce qui se passe au dedans de nous; & l'usage naturel de nos Sens nous montre, que la meme chose arrive hors de nous. Done c'est de la Nature, que nous tenons idee de l'Ordre, & du Gouvernement.124

Nicht die Vernunft, sondern ein natürliches und gottgegebenes Gefühl überzeuge - so Barbeyrac über Cumberlands De legibus naturae (I612)/Traite philosophique des loix naturelles (1744) - die Menschen von den in der »Bienveillance Universelle« eingeschlossenen Rechten, von der Notwendigkeit der Staatenbildung und der Unterordnung zum Ziel der Erreichung des »bonum commune«.125 Wolf gang Röd bezeichnete diese Position treffend als »konservative Naturrechtsmetaphysik«.126 Ähnlich wie Barbeyrac befürwortet Glafey die Ableitung des Naturrechts aus der »socialitas«, wie Pufendorf sie vorgelegt - allerdings, ohne das oberste Prinzip Pufendorfs wie Barbeyrac religiös zu deuten. Hinsichtlich des >Endzwecks< argumentiert Glafey aber fast wie Barbeyrac. Wie der reformierte Gelehrte kritisiert er, daß Hobbes und Machiavelli nur auf den Privatvorteil des Regenten achteten.127 Der >Endzweck< der Gesetze sei aber die »salus publica«. 123

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Ich folge Barbeyracs Edition von Cumberlands »De legibus naturae« (1672)/»Traite philosophiques des loix naturelles« (1744). »The account was thin, but sound enough, and Barbeyrac is thanked for his excellent work.« - So lautet das Urteil der Zeitgenossen über diese Edition. Ebd., S. 111. Kirk erscheint die Übersetzung als konventionell. Ebd., S. 126. Ganz anders urteilen die Zeitgenossen; sie rühmen Barbeyracs Übersetzung und Kommentar als eigenständige Leistung, die dem Werk auch auf dem Kontinent Geltung verschaffen soll. Bibliotheque Britannique 25/2 (1744), S. 205-213; zu Cumberlands »De legibus« Jon Parkin: Science, religion and politics in restoration England. Richard Cumberland's De legibus naturae. Woodbridge u.a. 1999 (Royal Historical Society studies in history, New series). Les Loix de la Nature, expliquees par le Docteur Richard Cumberland, depuis Eveque de Peterborough. Ou recherche et etablit, par la nature des choses, la forme de ces Loix, leurs principaux Chefs, leur Ordre, leur Publication & leur Obligation: on y refute aussi les Elemens de la Morale & de la Politique de Thomas Hobbes. Traduits du Latin, par Monsieur Barbeyrac. Leiden 1757, §.VIII [Hervorhebung im Original]. »Barbeyrac reduit les Raisonnemens de son Auteur sur ce sujet [...].« Bibliotheque Britannique 25/2 (1744), S. 345f. [Hervorhebung im Original]. Röd: Geometrischer Geist und Naturrecht (wie Anm. L, 7), S. 60-66, hier S. 66; zu Cumberland auch Hans-Peter Schneider: Justitia Universalis. Quellenstudien zur Geschichte des »christlichen Naturrechts« bei Gottfried Wilhelm Leibniz. Frankfurt/M. 1967 (Juristische Abhandlungen VII), S. 186-195; Kirk: Richard Cumberland and Natural Law (wie Anm. II., 122). Glafey: [...] Recht der Vemunfft (wie Anm. H., 42), II., c. I, §. 215.

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Erst dann, wenn die Gesetze im Sinne der »salus« entwickelt und umgesetzt würden, könnten sie als verbindlich gelten:128 »Des Fürsten Privat-Interesse muß dem bono publico nachgehen.«129 Erst dann, wenn sich der Prinz am Gemeinwohl orientiere, könne ein Volk dem Gesellschaftsvertrag zustimmen. Nicht anders als Barbeyrac hebt Glafey das Gemeinwohl als Maßstab hervor, und zwar als Maßstab für die »souverainefn] Prinzen«. Diese [...] lassen sich nicht nach denen Justinianischen Gesetzen richten, sondern wollen die zwischen ihnen sich hervorthuenden Irrungen nach denen Lehren der Vemunfft beurtheilet wissen [...].130

Naturrecht ist »Herrscherrecht«, um an Klippeis Argumentation zu erinnern 131 aber auch, so meinen einige wenige aufgeklärte Zeitgenossen, um über das Handeln desselben urteilen zu können und nicht nur zum Zweck der Beförderung des herrschaftlichen Privatinteresses.'32 Mit seinen Übersetzungen der naturrechtlichen Standardwerke in die französische Sprache gestaltet Barbeyrac diesen Gedanken für ein französisch-reformiertes Publikum. Das Naturrecht soll wirken und politische Effekte entfalten. Nicht anders sieht es der Buchhändler Friedrich Knoch, der eine deutsche Ausgabe von Immanuel Webers Edition des De jure verlegt. Die Edition bietet eine unvollständige Synopse der Kommentare des Gießener Juristen Johann Nicolaus Hertius und desjenigen von Barbeyrac.133 Im Vorwort hebt Knoch den Nutzen des Naturrechts hervor.134 Zwei Lesergruppen wolle er mit seiner Aus-

Ebd., §. 219. Ebd., §.213 [Hervorhebungen im Original]. Ebd., V. Cap., §. 9. Siehe Abschnitt 2. der Einleitung. Ebd. Hertius wird im Jahr 1652 in der Nähe von Gießen geboren und stirbt am 19.9.1710. Von der Gießener Akademie wird er zum Professor Juris primarius, zum Professor Politices und Juris extraordinarius, zum Professor Juris Ordinarius und schließlich zum Professor primarius ernannt. Einige Jahre vor seinem Tod beruft man ihn als Professor juris publici nach Straßburg. Vom französischen König wird ihm für seine Dienste eine ungewöhnlich hohe Pension in Aussicht gestellt. Jochen Allgemeines Gelehrten-Lexicon (wie Anm. II., 32), ZweyterTheil, Sp. 1561-1562. Friedrich Knoch: »Dem Durchlauchtigsten Fürsten und Herrn Georg Ludewig, Herzogen von Braunschweig und Lüneburg«. In: Herrn Samuels Freyherrn von Pufendorff/ Acht Bücher/ Vom Natur- und Völcker-Recht/ Mit des Weitberühmten Jcti. Johann Nicolai Hertii, Johann Barbeyrac, und anderer Hoch-Gelehrten Männer außerlesene Anmerckungen erläutert/ und in die Teutsche Sprach übersetzet. Hildesheim 1998 (Nachdruck Franckfurt am Mäyn/ Im Verlag von Friedrich Knochen Buchhändlern 1711): Der Autor der Schrift habe »[...] nicht nur bey der gelehrten Welt schon vor langer Zeit einen unsterblichen Nahmen erworben/ sondern auch dem gemeinen Wesen einen sehr nützliche und grossen Dienst gethan und weil darmit nicht etwa auff ein oder andere Nation/ sondern auf alle Völcker abgeziehlet ist einer fast in der ganzen Welt unter den Gelahrten üblichen Sprache sich dabey bedienet hat/ damit aber doch insoweit den Zweck noch nicht völlig erreichen können/ weil sowohl unter hohen Häuptern und fürnehmen Standes-Persohnen als auch unter Adelichen und ändern Ehrlichen Privat-Leuten, die das

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gäbe des Pufendorf-Textes in den Blick nehmen: erstens das Fürstenhaus, damit die Herrscher, indem sie sich und den Untertanen das Natur- und Vokerrecht ins »Hertz« legen, »[...] in kurtzer Zeit die Erde in einen Himmel verwandeln könten.«135 Als zweite Gruppe werden die Untertanen genannt, die häufig über die Justiz in Deutschland klagten und »deren böse Administration [...] beseuffzen,«136 aber nichts gegen die als falsch empfundenen Urteile tun könnten. Natur- und Völkerrecht könnten diesem Zustand abhelfen: Natur- und Völkerrecht seien die »rechte[] Quelle für Rechte aller Art.«137 Aus dieser Überlegung folgen praktische Konsequenzen. Das Recht soll nicht nur von Richtern und Advokaten gelernt werden, um die Zunft zu sichern: Sonsten thut man ja Ungelehrten groß unrecht/ wann man sie nach solchen Gesetzen/ die sie nicht haben verstanden/ noch verstehen sollen/ urtheilen und straffen will.138

Mit dem Versuch, den Ungelehrten das Naturrecht nahezubringen, kann sich der Verleger auf Barbeyrac berufen. Anders als Barbeyrac nimmt er aber wesentlich rechtliche Probleme in den Blick, wie sie sich aus seiner Sicht aus dem Wissensvorsprung der Gelehrten ergeben. Das Problem des Wissensvorsprungs interessiert Barbeyrac nicht. Ihm geht es um viel mehr - und zwar durchaus spekulativ - um die Wahrheit des Naturrechts, die sich im Blick auf den »Sens Commun« aller Menschen erweisen lassen soll. Zu seinen Gesprächspartnern zählen dabei Refugianten und deutsche Juristen. Ihren Debatten entnimmt Barbeyrac Ansätze für seine Kritik an der Autorität Pufendorfs. b) Gottlieb Gerhard Titius Observationes (1703), Christian Thomasius und Jean Barbeyracs Kritik an Pufendorf Ein Rezensent der Bibliotheque raisonnee hebt hervor,139 daß Barbeyrac zahlreiche Pufendorf-Kommentare kenne.140 Der Pufendorf-Interpret bezieht sich

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Glück und ihre guten Qualitäten ins Regenten-Amt bey Höfen/ auch fürnehmen Reichs und anderen Städten erhoben/ es statliche Subjecta giebet/ die/ ob Sie gleich eben der Lateinischen Sprache nicht kundig/ dennoch mit einem schönen Judicio und natürlichen guten Verstand von Gott begäbet sind/ die sich sonsten dieses Buches mit grossem Nutzen bedienen könten. Gleichwie nun alles/ was gut und insonderheit dem gemeinen Wesen nützlich ist/ ein jeder soviel er kann zu befördern schuldig und verbunden; Also habe ich dem lieben Vatter-Lande Teutscher Nationen zum besten/ aus auffrichtigem Patriotischem Gemüthe/ dieses gemeinnützige Werck/ welches in Lateinischer Sprache auffgeleget ist/ nunmehro auch in unser Mutter-Sprache/ mit vielen gelehrten Anmerckungen/ auf Einrathen fürnehmer Rechts-Gelehrten/ zumahlen nach dem Exempel anderer Nationen heraußzugeben/ kein Bedencken getragen [...].« Ebd., unpag., [)(v]. Ebd. Ebd., »Nach Standes-Gebühr/Höchst-Hoch- und Vielgeehrter Leser.« Unpag., [)()("]. Ebd. Ebd. Bibliotheque raisonnee 11 (1733), S. 5-36, hier S. 22-28. Erwähnt werden Johann Heinrich Boeder und Hermann Conring. Barbeyrac: Preface. In:

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jedoch nur auf wenige davon positiv -141 darunter an erster Stelle die Observationes, adSamuelis Pufendorfii, de Ojficio hominis et civis (1703) von Gottlieb Gerhard Titius,142 dem Juristen, dessen Name sich vor allem mit dem protestantischen Kirchenrecht verbinden läßt. In Eine Probe Des Deutschen Geistlichen Rechts (1701) leitet er das Kirchenrecht aus naturrechtlichen Grundsätzen ab. Weiträumige historische Darstellungen rahmen die Ableitungen, begleitet von der Kritik am Papismus, wie sie schon von Titius' Lehrer Thomasius her be-

Pufendorf, Ledroit(1732)(wieAnm. II., 51), §. XXX. Aber auch über diese hinaus sucht Barbeyrac Verbindungen zu deutschen Juristen, etwa zu Gottfried Mascow. Vgl. loannes Barbeyracius: Viro Clarissimo et Eruditissimo Gottfried Mascow [Dabam Gröningae, Nov. 1725]. In: Memoria Gottfridi Mascovii/ avctore !.[...] L.E. Püttmanno [...]. Lipsiae 1771,5. 91f. Kritik trifft Webers Ausgabe des »De jure«, weil Barbeyrac nicht mit dem wenig angesehenen Kommentator Hertius verglichen werden will. Barbeyrac notiert: »Je m'etois d'abord flatte de trouver une riche moisson dans les Notes Latines qu'un autre Jurisconsulte de la meme Nation publia sur FOuvrage meme de mon Auteur, ä l'occasion d'une Edition de lOriginal qui parut ä Francfort en MDCCVL [...]. Mais comme chacun a son goüt & ses vues, & que d'ailleurs feu Mr. Hertius, Auteur de ces Notes, semble les avoir compilees ä la häte, pour faire plaisir au Libraire, qui vouloit donner du relief a son Edition par quelque accompagnement qu'on ne trouvät pas dans les precedentes: je n'ai vü lä que tres-peu de choses qui püssent m'accomoder: & il y auroit eu souvent dequoi critique plutöt que matiere ä eclaircir nötre Auteur commun, si j'avois voulu grosser inutilement mes Notes; comme on le verra par quelques echantillons que j'en ai dommez. Je ne sai pas trop bien l'usage qu'en peut avoir fait celui qui vient de donner une Traduction Allemande de mon Original. Mais s'il en faut juger par la maniere dont il a use ä l'egard de mes Notes, il [gemeint ist Weber] promet dans le titre beaucoup plus qu'il ne tient: car, quoi, qu'il m'ait fait l'honneur d'y joindre mon nom ä celui de Mr. Hertius, comme s'il avoit traduit mes Notes, il n'en a pris que tres-peu & de plus courtes: pour celles qui sont un peu longues, il se contente de mettre un simple renvoi aux Notes Fran9oises, ou de rapporter en un mot le resultat de ce quelles contiennent [...].« Barbeyrac: Avertissement. In: Pufendorf, Le droit (1732) (wie Anm. II., 51), S. XI [Hervorhebung im Original]. Aufschlußreich ist in der Tat die Art und Weise, wie Webers Ausgabe kommentiert ist: Gundling merkt dazu an, die Noten von Hertius seien ohne Fleiß gemacht. In der Tat erläutert und ergänzt Hertius den Ausgangstext nur, während Barbeyrac Widersprüche und Ungenauigkeiten hervorhebt sowie Sachverhalte in ihren Zusammenhang einordnet. Weber korrigiert beide Kommentatoren. Gottlieb Gerhard Titius: Observationes in Samuelis L.B. de Pufendorf De officio hominis et civis juxta legem naturalem. Libros 2, quibus pleraque certius definiuntur, ac supplementa iacienda, maxime necessaria videbantur. Lipsiae 1703. Zur Biographie des Thomasius-Schülers Titius: Stolle: Anleitung zur Historic der Juristischen Gelahrtheit (wie Anm. II., 33), S. 138; ders.: Anmerckungen (wie Anm. II., 101), S. 449f.: Titius wird am 5. Juni 1661 in Nordhausen geboren. Er studiert Philosophie bei Alberti, Jacob Thomasius und Seeligmann, dem er nach Rostock folgt. 1688 erhält Titius den Grad des Doktors der Rechte; im Jahr 1720 wird er auf eine ordentliche Professur berufen und verstirbt kurz darauf am 10.4.1720. Allgemeine Deutsche Biographie. 38. Bd., S. 379f. Titius hält im wesentlichen an Pufendorf fest, verhilft im Strafrecht aber den Ansätzen seines Lehrers Thomasius zum Durchbruch. Hinrich Rüping: Gottlieb Gerhard Titius und die Naturrechtslehre in Deutschland um die Wende von 17. zum 18. Jahrhundert. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte; Germanistische Abteilung Bd. 87, S. 314-136, hier S. 318 u. 324f.

50 kannt ist.143 Doch auch Thomasius wird von Barbeyrac wohlwollend bedacht. Dieses Wohlwollen erstreckt sich auf die Staatslehre oder die Politik. Es gilt jedoch - noch vor Thomasius - zuerst für Titius, was Zufall sein kann: Bereits in seiner ersten Auflage eines Le droit erwähnt Barbeyrac Titius; von Thomasius ist dort noch keine Rede.144 Entscheidende Fragen für den »bonheur commun« beantwortet Barbeyrac nicht mit Blick auf die reformiert-monarchomachische Tradition. Vielmehr will er sie mit Hilfe der Observaüones von Titius erfassen.145 Seine Kritik an Pufendorf wird zum wichtigen Bezug für ein von der Autorität abweichendes Verständnis von Konstellationen des Souveräns und des »bonheur commun«. Vier Aspekte will ich für eine Kritik Barbeyracs an Pufendorf hervorheben. Erstens wendet Barbeyrac gegen die Gleichsetzung von societas civilis und Souverän durch Pufendorf ein, daß der negative Einfluß von Hobbes auf Pufendorf daran noch abzulesen sei. Titius stelle demgegenüber klar heraus, so lobt Barbeyrac, daß die societas civilis ein >Körper< (»Corps«) sei, dem der Souverän als »Chef« über die Untertanen vorstehe.146 Zweitens stimmt Barbeyrac mit Titius hinsichtlich der Konzeption für die Entstehung des Staates überein: Pufendorf und Thomasius vertreten die Ansicht, die Furcht habe die Vorväter zur Staatenbildung bewegt.147 Titius hingegen ist der Auffassung, daß die Furcht nicht so groß gewesen sein könne. Viel-

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Zur Thomasischen Kritik an den >KatholikenanschlußfähigNutzen des anderem (»alterius utilitatem«)166 übersetzt Teissier mit »faire du bien aux autres, & de procurer leur avantage f...],«167 Barbeyrac notiert wiederum originalgetreu »l'utilite d'autrui.«168 Anders als die frühen Berliner Rezipienten des Naturrechts rechtfertigt Barbeyrac seine Ausgabe des De jure mit Blick auf einen für die Erziehungsforderung der »morale« grundlegenden Essay von Le Clerc. Der Verlust theologischer Begrifflichkeit bei Barbeyrac kann nicht zuletzt mit diesem Essay erklärt werden. In der deutschen Aufklärung interessieren schließlich gerade diese weitgehend >theologie-freien< Interpretationen und die historiographischen Leistungen des reformierten Gelehrten. c) Die Wahrnehmung Jean Barbeyracs in Deutschland Barbeyrac verbessert und aktualisiert seine eigenen Pufendorf-Ausgaben - so als gelte es, den Gemeinwohl-Zweck immer wieder neu zu formulieren. Selbst stilistische Korrekturen werden mit Hilfe des Gemeinwohl-Anspruchs begründet, aus dem folge, daß den Lesern ein immer besserer Zugang zu dem Text ermöglicht werden solle.169 Ziel sei es, die Schriften für einen großen Leserkreis nützlich und >angenehm< (»agreable«) zu machen, um den Geschmack der Leser für die >schöne< Wissenschaft zu wecken.170 Gleichwohl zeigt sich Barbey162

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Samuel von Pufendorf: Les Devoirs des Hommes et des citoyens, suivant la loi naturelle. Ouvrage compose en Latin par Mr. Le Baron de Puffendorf. Et mis en Francois par Antoine Teissier [...]. Berlin 1696. Pufendorf: De officio (wie Anm. II., 41), L. I, c. VIII. Pufendorf: Les Devoirs (übers, v. Teissier, 1696) (wie Anm. II., 162), S. 123. Pufendorf: Les devoirs (übers, v. Barbeyrac, 1712) (wie Anm. II., 52), L. I, c. VIII. Pufendorf: De officio (wie Anm. II., 41), L. I., c. VIII, §. 1. Pufendorf: Les Devoirs (übers, v. Teissier, 1696) (wie Anm. II., 162), S. 124. Pufendorf: Les devoirs (übers, v. Barbeyrac, 1712) (wie Anm. II., 52), L. I, c. VIII, §. I. (a). »[...] le respect que j'ai pour le Public, & le desir de rendre utiles de plus-en-plus des Ouvrages, dont les Editions reiterees, quelques-unes memes sans ma participation, montrent assez que bien de gens ont cru en tirer quelque profit.« Barbeyrac: Avertissement. In: Pufendorf, Les devoirs (1712) (wie Anm. II., 52), S. II. Ebd., S. IX.

54 rac erstaunt über den Erfolg seines >großen< Pufendorfs:171 Durch ihr stetiges Anwachsen zeichne die Leserschaft seine Edition als lesenwert aus.172 Trotz der Kritik des orthodoxen Klerus' an der Verwendung einer »langue vulgaire« sei auch das Handbuch Les devoirs sehr positiv aufgenommen worden, behauptet Barbeyrac.173 In den Moral- und Naturrechts-Kompendien sowie auch in den Kommentaren zu De officio wird Barbeyrac selbst zur neuen Autorität: zur Autorität in Fragen der Übersetzung wie der Interpretation. Als Autorität wird Barbeyrac zum nachahmenswerten Vorbild, was ihm eine herausgehobene Position in der zeitgenössischen Kompendienliteratur sichert. Dort wird die neue Darstellungsstufe für das Naturrecht hervorgehoben, die mit Barbeyracs Bearbeitungen erreicht ist. Stolle wünscht beispielsweise, daß die über Pufendorf erschienenen Streitschriften in einer Ausgabe herausgegeben werden sollen. Barbeyracs Leistung würdigt er in diesem Zusammenhang besonders: [...] denn die Nachwelt wird sonst kaum glauben, daß man dem ehrlichen Pufendorffe, dem man von seine nützliche Schrifften so grossen Danck schuldig, so schändlich umgesprungen sey. Doch er hat obsiegt, und die Ehre, welche ausser Grotio wenig Scribenten begegnet, nehmlich daß gelehrte Männer, unter welchen Mr. Barbeyrac gewiß nicht der geringste ist, nicht nur seine Schrifften in andere Sprachen übersetzet, sondern auch durch ihre Commentaria und Anmerckungen dieselbe erläutert haben.174

Unter den anderen Pufendorf-Kommentatoren schätzt Stolle aber erstaunlicherweise diejenigen, die sich an »[...] ihres Autoris principia gebunden haben.«175 Namentlich erwähnt werden Immanuel Weber, Immanuel Proeleus, Gottlieb Gerhard Titius, Andreas Adam Hochstetter, Dietrich Hermann Kemmerich und Gottlieb Samuel Treuer. Zwar bemerkt der Theologe, Historiograph und Biograph Ernst Ludwig Rathlef (1709-1768), daß Barbeyracs Lehre von derjenigen Pufendorfs in einigen Punkten abweiche,176 doch wird nicht auf die Veränderung des Pufendorf Bildes durch Barbeyrac geachtet. Zum anderen wird Barbeyracs >universeiler< Anspruch der Beförderung des »gemeinen Besten« für den Schulzusammen-

»[...] l'accueil favorable que le Public a fait a la premiere Edition du Pufendorf Francois, me donne beaucoup plus de plaisir par cet endroit-lä, qu'ä cause que j'ai quelque lieu d'en inferer que mon travail n'a pas etc juge inutile.« Ebd., S. IXf. [Hervorhebung im Original]. »Et la derniere [revision] etoit d'autant plus necessaire, que la petitesse du Volume la fait lire d'un plus grand nombre de gens.« Ebd., S. XII. Barbeyrac: Traite de la Morale des Peres d'Eglise: Oü en defendant und Article de la Preface sur Pufendorf, contre »Apologie de la Morale des Peres« de P. Ceillier, Religieux Benedictin de la Congregation de St. Vanne et de St. Hydulphe, on fait diverses reflexions sur plusieurs matieres importantes. Amsterdam 1728, S. III [Hervorhebungen im Original]. Stolle: Kurtzer Nachricht (wie Anm. II., 22), Cap. CXXX, S. 319. Stolle: Anleitung zur Historic der Gelahrtheit (wie Anm. II., 40), Cap. II, XVI. Rathlef: Geschichte jetztlebender Gelehrten (wie Anm. II., 52), S. 27.

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hang verkürzt dargestellt: Der implizite Leser ist nurmehr Student oder Schüler; er ist der angehende Gelehrte oder derjenige, der schon den Status des Gelehrten erreicht hat. Nur wenige deutsche Barbeyrac-Rezipienten loben den reformierten Kommentatoren Pufendorfs aber so sehr, wie Christoph Friedrich Ayrmann in seinem Vorwort zu Nicolaus Hieronymus Gundlings Pufendorf-Kommentar:177 Barbeyracs Übersetzung sei sogar verständlicher als das Original und müsse auch verglichen mit Gundling - entsprechend gewürdigt werden.178 Für Glafey zählt Barbeyrac über seine Rolle als Kommentator hinaus zu den wichtigsten »Scriptures Historiae Jure Naturae«.179 Er schätzt Barbeyrac - wie Thomasius - wesentlich als Historiographien: [...] so sind auch die Vorreden, welche Thomasius vor den teutschen Grotium, und Barbeyrac vor seine Übersetzung des Puffendorfßschen J.N. & G. gemacht, nicht zu vergessen; sintemahl beyde viel feine historische Nachrichten, das vernünfftige Recht betreffend, ertheilet.180

Mit dem Vergleich von Thomasius und Barbeyrac bestätigt Glafey die Abgrenzung des >wahren< Naturrechts gegen die Hobbes-Anhänger, wie Barbeyrac sie prägte. Daß dieser Vergleich nicht in jeder Hinsicht trägt, betont Thomasius selbst. In den Anmerkungen zu den Cautelae (1710) und in der deutschen Fassung Höchstnöthige Cautelen (1713) verweist Thomasius lobend auf Barbeyracs Vorwort und auf die Anmerkungen zu Pufendorfs De jure. Über die für Thomasius bedeutenden Leistungen des Reformierten gibt aber erst die deutsche Fassung seines Lehrbuchs Auskunft. 181 Barbeyrac biete in der französischen Pufendorf-Edition eine fleißige Aufarbeitung der »Sittenlehre«182 - einer

Der Historiker Ayrmann wird am 3.3.1693 in Leipzig geboren und verstirbt am 25.3.1747. Im Jahr 1721 wird er in Gießen zum Professor der Historic ernannt. Johann Christoph Adelung: Fortsetzung und Ergänzung zu Christian Gottlieb Jöchers allgemeinem Gelehrten-Lexico [...] Angefangen von [...] Adelung und vom Buchstaben K fortges. Von Heinrich Rotermund (bis Romulus). Bde. 1-7. Leipzig 1784-1897, hier l. Bd., Sp. 676; Allgemeine Deutsche Biographie. 1. Bd., Sp. 711. Christoph Friedrich Ayrmann. In: D. Nicol[aus] Hierfonymus] Gundlings [...] Erläuterung über Samuelis Pufendorfi zwey Bücher De Officio hominis & civis secundum legem naturalem, aus dessen Academischen Discoursen ehedem von einem Gundlingschen Zuhörer aufgezeichnet, und nunmehro zum Drucke befördert von Christoph Friedrich Ayrmann [...]. Hamburg 1744, S. 13. Glafey: [...] Recht der Vernunfft (wie Anm. II., 42), »Vorbereitung«, §. 22. Ebd., §. 25 [Hervorhebungen im Original]. Vgl. die knappen Verweise auf Barbeyrac in Christian Thomasius: Cautelae circa praecognitajurisprudentiae in usum auditorii Thomasiani. Halae 1710, § 6, Anm. l, § 12, w;§25, n. »Mons. Barbarac hat die Historic der Sittenlehre mit sonderbahren Fleiß undjudicio zusammen getragen in der Vorrede über die Frantzösische Version des Puffendorffs.« Christian Thomasius: [...] Höchstnöthige Cautelen Welche ein Studiosus Juris, Der sich zu Erlernung Der Rechts-Gelahrheit Auf eine kluge und geschickte Weise vorbereiten will/ zu beobachten hat. Nebst einem dreyfachen und vollkommenen Register. Halle 1713, C. 14, § 6, l [Hervorhebung im Original].

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»Sittenlehre«, derer sich Thomasius für die Zurückweisung der Autorität des Aristoteles bedient. Barbeyrac habe im historischen Rückblick gezeigt, daß es nicht sinnvoll sei, Aristoteles den »ändern heydnischen Philosophen« vorzuziehen.183 Außerdem habe Barbeyrac statt der vier in der Nikomachischen Ethik dargelegten Haupttugenden elf Tugenden konzipiert (»la Liberalite«, »la Magnificence«, »la Magnanimite«, »qui a pour objet les honneurs mediocres«, »la Douceur«, » 'Affabilite«, »la Candeur ou la Sincerite«, »VHumeur commode et agreable dans les divertissements et dans les conversations enjouees«, »\aJustice«, »la Vertu Intellectuelle«, »TAmitie«):>M Sonst aber hat er eben die irrige Meinung wie Plato und die ändern/ daß er das summum bonum theoreticum das ist die speculirung Göttlicher Dinge dem summo bono practice fürziehet.185

Barbeyrac wendet zweierlei gegen Aristoteles ein: erstens verkenne der griechische Philosoph die Bedeutung der natürlichen Gleichheit; zweitens berücksichtige er die Religion nicht. Anders als Thomasius, der in den Überlegungen zum höchsten Gut eine bloß spekulative Moral erblickt,186 hält Barbeyrac gerade eine solche Moral für spekulativ, die auf diese Überlegungen verzichtet. Denn eine solche >nicht-spekulative< Moral könne die Empfindungen der Menschen nicht erreichen. Demnach legt Barbeyrac zwar eine profane Morallehre vor, die Thomasius bezeichnenderweise in einem Lehrbuch der Jurisprudenz behandelt. Anders als Thomasius steht Barbeyrac mit der religiösen Begründung der Morallehre aber noch in scholastisch-metaphysischer Tradition.187 Was Thomasius mißfällt, wird aber von vielen anderen Reformierten begrüßt, wie zahlreiche Rezensionen über Texte Barbeyracs zeigen.

d) Jean Barbeyrac und das Naturrecht im Urteil der Bibliotheque misonnee (1728-1741) Aus der Vielzahl von Barbeyracs Werken und aus seiner weitläufigen journalistischen Tätigkeit wurde der Vorwurf einer schon verschwenderischen Gelehrsamkeit abgeleitet: Seit 1697 verfaßt er Beiträge für ein Berliner Journal, für die Ephemerides gallicae berolinenses. In den Nouvelles de la Republique des Lettres (1702), der Bibliotheque choisie von Le Clerc (1709) und dem Journal des sqavants (1712-1714) sind einige seiner Dissertationen abgedruckt.188 183 184

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Ebd., C. 14, § 17 [Hervorhebungen im Original]. Ebd., e); vgl. Barbeyrac: Preface. In: Pufendorf, Le droit (1732) (wie Anm. II., 51), §. XXIV. [Hervorhebungen im Original]. Thomasius: Höchstnöthige Cautelen (wie Anm. II., 182), C. 14, § 17. Thomasius kritisiert auch die aus seiner Sicht an Platon angelehnte Spekulation zum »gemeinen Besten« einer Republik. Ebd., C. 14, § 15. c). Dazu die einleitenden Bemerkungen im ersten Kapitels dieser Arbeit. Ein Verzeichnis der Beiträge enhält Philippe Meylan: Jean Barbeyrac et les Debüts de l'Enseignement du Droit. Lausanne 1937, S. 247f.

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Auch der zwanzigste und der einundzwanzigste Band der Bibliotheque britannique enthalten Artikel Barbeyracs.189 Gemeinsam mit dem umtriebigen Literaten Pierre Desmaizeaux und mit Armand de La Chapelle, dem Herausgeber der Bibliotheque angloise, ist Barbeyrac einer der wichtigsten Redakteure der Bibliotheque raisonnee des ouvrages des savants de Europe (17281753).190 Hier sollen Rezensionen aus der Bibliotheque raisonee im.Vordergrund stehen, und zwar mit Blick auf die Gesamtanlage des Journals.191 Die Morallehre stellt eines der wesentlichen Themengebiete der Bibliotheque raisonnee dar. Fast jeder der 52 erschienen Bände enthält einen Beitrag zu einem moralischen Werk. Weil Barbeyrac in den Jahren von 1728 bis 1741 an der Bibliothek mitarbeitet, konzentriere ich mich auf diesen Zeitraum. In einer späten Ausgabe aus dem Jahr 1744 erscheint allerdings noch eine in diesem Zusammenhang bedeutsame Rezension, nämlich diejenige von Barbeyracs Übersetzung von Cumberlands Tratte philosophique des loix naturelles.192 Zu den Merkmalen - und Problemen - der Bibliotheque raisonnee gehören die Anonymität der Beiträger und die freie Beurteilung von Texten.193 Den Selbstbeschreibungen der Bibliotheque raisonnee ist eine Programmatik entnehmbar, die sich am öffentlichen Interesse< (»interet public«) orientiert: an der >Nützlichkeit< (»utilite«) des Journals sowie am >Geschmack< (»gout«) der Leser.194 Betont wird der Begriff der Nützlichkeit. Er ist an die Definition des Schönen geknüpft, wie Crousaz sie vorlegt: II y a peu d'apparence, & l'on voit ainsi de quelle utilite seroit un Journal universel, oü feroit entrer ce qui se produit de meilleur dans toute l'Europe, tant pour les Arts que pour les Sciences. II y auroit au moins cette Unite variee qui fait par tout le Beau, selon la definition de Mr. de Crousaz.195

Nützlich sei das Journal vor allem deshalb, weil es das Beste aus den Wissenschaften und Künsten ganz Europas aufnehme und als universelles Journal· (»Journal universel«) gedacht sei, d.h. als ein solches Journal, das einem internationalen französischsprachigen Publikum zugänglich ist.196 Auf diese Weise soll es die nationalen Vorlieben zugunsten der Beförderung des moralisch >Gu189

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Um 1743 scheint er außerdem seine Mitarbeit an der »Nouvelle Bibliotheque« versprochen zu haben. Sgard u.a.: Dictionnairedesjournalistes (wie Anm. I., 77), S. 21; Meylan: Jean Barbeyrac (wie Anm. II., 188), S. 247f. 52 Bände der »Bibliotheque raisonnee« erscheinen von 1728 bis 1753 in Amsterdam. Zur Gesamtanlage des Journals im Blick auf seine Journalisten Bruno Lagarrigue: Un temple de la culture europeenne (1728-1753). L'Histoire Externe de la »Bibliotheque Raisonnee des Ouvrages des Savants de l'Europe.« [Proefschrift 1993] Nijmegen 1993. Bibliotheque raisonnee, Janvier, Fevrier, Mars (1744), S. 141-162 und Bibliotheque raisonnee, Avril, Mai, Juin (1744), S. 310-372. Ebd., S. 7-18. Avertissement des Libraires. In: Bibliotheque raisonnee l (1728), S. VIII. Ebd., S. X [Hervorhebungen im Original]. Ebd. Zum universellen Charakter und zum Vergleich mit den Journalen Le Clercs Lagarrigue: Un temple de la culture (wie Anm. II., 191), S. 7-18.

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ten und Schönem zu überwinden helfen; die >Literarisierung< des Journals ist bereits in der Programmatik angelegt.197 Die deutsche Literatur sei insofern von Interesse, weil - ähnlich argumentiert die Bibliotheque Germanique - das Naturrecht vornehmlich in Deutschland betrieben werde.198 Anlaß der Gründung der Bibliotheque raisonnee ist der als schmerzhaft empfundene Verlust vergleichbarer Journale in den Niederlanden.199 Vermutlich sind in diese Verlustrechnung an erster Stelle die Journale Le Clercs aufgenommen. Le Clerc läßt mehrere Journal-Projekte aufeinander folgen, deren Bedeutung an seine Person geknüpft ist.200 Bis in das Jahr 1727 erscheint seine Bibliotheque ancienne et moderne (1714-1727), die zu den unmittelbaren Vorbildern der neuen Bibliothek gehört. Le Clercs Journale geben bereits über die Bedeutung der Morallehre Auskunft. Die anonymen Journalisten der Bibliotheque raisonnee können sich Le Clerc nurmehr anschließen, indem sie die von ihm und seinen Rezensenten angelegten Urteile fortführen, ergänzen und neu begründen. Ein Vergleich der Rezensionen über Barbeyracs De officio durch die Bibliotheque ancienne et moderne sowie durch die Bibliotheque raisonnee dient dafür als Beleg. In Le Clercs Bibliotheque ancienne et moderne wird die dritte Ausgabe des Pufendorf-Lehrbuches in der Barbeyrac-Übersetzung aus dem Jahr 1715 besprochen. Barbeyracs Edition desselben wird in vielfacher Hinsicht gelobt: für die - verglichen mit den vorhergehenden Ausgaben - größere Genauigkeit der Verweise, für die Eigenständigkeit Barbeyracs im Blick auf seine Vorlage sowie für die Erklärung von Pufendorfs Ableitungen am konkreten Fall. Auch die

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Daß die »Bibliotheque raisonnee« dieses Unternehmen zwar zu erfüllen sucht, aber von Problemen der Gelehrtenrepublik gezeichnet ist, zeigt ein um die Jahrhundertmitte erschienener Beitrag: Problemes literaires proposes aux Savans. In: Bibliotheque raisonnee, Juillet, Aout, Septembre (1747), S. 201-215. Zu den Problemen der Gelehrtenrepublik gehört, daß aktuelle Informationen und Überblicke über das rege Geschehen unter den Gelehrten fehlen. In dem anonym erschienen Beitrag wird daher die Gründung eines »Bureau generale de la Republique des lettres« vorgeschlagen, das diese Notstände beiseitigen soll. »En Allemagne, on cultive beaucoup la jurisprudence, & les compilations y sont extremement ä la mode.« Ebd., S. IX. Avertissement des Libraires. In: Bibliotheque raisonnee l (1728), S. V-XVII, hier S. V. Mit Ausnahme der »Bibliotheque ancienne et moderne«, zu der keine separate Veröffentlichung vorliegt, wurden die Journale Le Clerc vorbildlich erschlossen. Siehe Guus N.M. Wijngaards: De »Bibliotheque choisie« van Jean Le Clerc (1657-1736). Een Amsterdams Geleerdentijschrift uit de Jaren 1703 to 1713. Amsterdam u. Maarssen 1986; Hans Bots, J.[...] Hillenaar, J.[...] Janssen, Jan van der Korst u. Lenie van Lieshout: De »Bibliotheque universelle et historique« (1686-1693). Een Periodiek als Trefpunt van Geletterd Europa. Amsterdam (Studies van het Instituut voor intellectuele Betrekkingen tussen de Westeuropese Landen in de zeventiende eeuw 7); Hans Bots: Jean LeClerc äs Journalist of the >Bibliothequesgefallen< dem Rezensenten.201 Dabei scheint es, als achte der Herausgeber Le Clerc darauf, daß immer gleich geurteilt wird: Die Rezension aus der Bibliotheque ancienne et moderne etwa richtet sich nach der schon in der Bibliotheque choisie erschienenen De officio-Besprechung.202 Dem hat auch die Bibliotheque raisonnee nichts Wesentliches hinzuzufügen. Es scheint, als verlasse sich der Rezensent auf die einmal von Reformierten gelegten Linien der Argumentation.203 Im vierzehnten Band der Bibliotheque raisonnee (1735) erscheint eine Rezension über Barbeyracs Edition von Pufendorfs De officio. Barbeyrac überarbeitete seine Edition im selben Jahr erneut.204 Kritik vermeidet der Rezensent des Textes gänzlich. Sein hohes Lob betrifft Neuerungen in der Ausgabe ebenso wie den schon als bekannt vorausgesetzten Inhalt. Notiert wird, was Barbeyrac selbst im Blick auf seine Neuausgabe betont: sie sei nützlicher als die vorhergehenden, weil sie stilistisch nochmals verbessert und um weitere Anmerkungen ergänzt sei. Der Rezensent hebt hervor, »[que] le Public ne peut qu'etre bien instruit de ce que contient un tel Ouvrage f...].«205 Ganz ähnlich verfährt die Bibliothek mit der sogenannten fünften Edition von Le droit.206 Bemerkt wird, was ergänzt ist, und zwar mit Hilfe von langen Zitaten aus dem zu rezensierenden Werk.207 Auch der verbesserte Stil wird gepriesen.208 Ebenfalls gelobt, aber stärker geprüft wird die Ausgabe von De officio durch Eberhard Otto,209 der die Observationes von Titius beigefügt sind. Schon, weil sie sich des etablierten Werkes von Pufendorf annimmt, wird die Ausgabe von Barbeyrac, der das Werk nachweislich selbst rezensierte, als begrüßenswert betrachtet.210 Wie von seinen eigenen Schriften sagt Barbeyrac über Ottos Werk, daß er das Original um einige Aspekte ergänze, die Pufendorf nicht bedenke -

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»II ne faut pas s'imaginer, qu'il n'ait fait en cela, que copier son Auteur, ou repeter ce qu'il avoit deja dit, dans le Traite >du droit de la Nature & des Gens-anatextkritischen< Erziehungsprogramm Le Clercs.252 Er kommentiert, übersetzt und ediert diejenigen Bücher, die Le Clerc als vorbildlich herausstellt. Wie Le Clerc es fordert, will er die Werke damit einer nichtgelehrten Öffentlichkeit zugänglich machen, um den »bonheur public« zu befördern. Doch wird im wesentlichen die gelehrte Welt angesprochen. Denn Le Clerc und Barbeyrac wollen in erster Linie die skeptischen Einwände zugunsten einer optimistischen Morallehre und für die gesamte res publica litteraria widerlegen. Unter den deutschen Gelehrten nimmt Thomasius die Parrhasiana

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»Je ne veux pas entreprendre de les refuter, & il n'est pas necessaire, parce qu'il n'y a que fort peu, ou point d'esprits qui soient engagez dans le Pyrrhonisme.« Ebd., S. 63. - Nach Barbeyrac lohne sich die Auseinandersetzung mit den »pyrrhoniens« demgegenüber. Golden: Jean LeClerc (wie Anm. II., 225), S. 131. Barbeyrac übersetzt in den Jahren 1708 bis 1716 auch die Gebete Tillotsons. Meylan: Jean Barbeyrac (wie Anm. II., 188), S. 245f. Ebd. Hochstrasser versuchte, einen solchen Bezug herauszustellen. Ders.: Conscience and reason (wie Anm. II., 50), S. 304. Golden deutete an, daß sich Le Clerc auf Lockes »Essay concerning human understanding« bezieht. Ders.: Jean LeClerc (wie Anm. II., 225), S. 131. Ein Bezug auf »Some thoughts concerning education« bleibt schon deshalb vage, weil sich Locke vornehmlich um die Kindererziehung bemüht und ein quasi-psychologisches Vorgehen beschreibt. Vgl. zu Locke John W. and Jean S. Yolton: Introduction. In: Some thoughts concerning education by John Locke. Hgg. u. eingel. v. dens. Oxford 1989, S. 1-78. Gabriel Bonno: Introduction. In: Lettres inedites de Le Clerc ä Locke. Ed. with an Introduction and Notes, by Gabriel Bonno. Berkeley and Los Angeles 1959 (University of California Publications in modern Philology 52), S. 1-25, hier S. 22. [Le Clerc:] Parrhasiana (wie Anm. II., 38), Bd. 2, S. 103. Siehe Abschnitt 1. dieses Kapitels. Maria Cristina Pitassi: Entre croire et savoir. Le probleme de la methode critique chez Jean Le Clerc. Leiden 1987 (Kerkhistorische Bijdragen 14).

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bezeichnenderweise begeistert auf; mit dem hier diskutierten Essay setzt er sich allerdings nicht auseinander.253 Dafür widmet sich Thomasius einer anderen Schrift Le Clercs ausführlich, nämlich der Unpartheischen Lebens-Beschreibung einiger Kirchen-Väter und Ketzer (1721), der immer wieder Barbeyracs Tratte de la Moralite des Peres de l'Eglise (1728) an die Seite gestellt wird. Barbeyrac beschreibe die Lebensgeschichte der Kirchenväter freier als Le Clerc, meint Thomasius.254 Neben dem Tratte wird Barbeyracs Vorwort zu Pufendorfs De jure gelobt, weil Barbeyrac mit diesem Vorwort eine exzellente Geschichte der »heydnischen Morale« vorgelegt habe. Die »heydnische Morale«, die all das umfaßt, was nicht unmittelbar zum Bezugsbereich katholischer Morallehren gehört, gilt als moralische und intellektuelle Herausforderung für die aufgeklärten Naturrechtler. In der »heydnischen Morale«, der antiken Philosophie sowie der frühen >SektenKirchenväter< erscheint Barbeyrac - mit La Placette als spekulativ, als wenig exakt, als methodisch unreflektiert - und damit als unbrauchbar. Aufgrund dieser Position gilt Barbeyracs »heydnische Morale« nicht nur Thomasius, sondern auch anderen deutschen Zeitgenossen als innovative und umfassend erarbeitete, sogar als erste und damit genre-begründende Geschichte derselben: Babreyrac habe, so Stolle in diesem Sinne, in seinem Vorwort zu Le droit [...] die Historic der Morale mit gebührender Freymüthigkeit und Unpartheyligkeit vorgetragen, welche auch bey allen, so die Sache gründlich verstehen ihr gehöriges Lob erhalten.256

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Thomasius bezieht sich allerdings vornehmlich auf den ersten Teil der »Parrhasiana«: »Des Clerici Parrhasiana und die Nachricht/ welche er daselbst im ersten Theil von der Historic/ und von der Kunst Historien zuschreiben giebet/ gefallen mir vor ändern am besten; absonderlich weil unter seinen Anmerckungen viel nützlicher Wahrheiten verborgen liegen/ welche ein unachtsamer Leser nicht wahr nimmt.« Thomasius: Höchstnöthige Cautelen (wie Anm. II., 182), C.5, § 61. Pott: »Le Bayle de l'Allemagne« (wie Anm. II., 144). Barbeyrac: Preface. In: Pufendorf, Le droit (1732) (wie Anm. II., 51), §. IX. Stolle: Kurtzer Nachricht (wie Anm. II., 22), I, S. 322. Tuck sah in Barbeyrac zwar nicht - wie die Zeitgenossen - den ersten, aber den vielleicht besten Vertreter einer solchen Moralgeschichte. Ders.: Natural rights theories. Their origin and development. Cambridge u.a. 1979, S. 174.

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Zu diesen >Verständigen< wird in erster Linie Thomasius gerechnet.257 Barbeyrac aber wird nicht nur gepriesen; im Gegenteil: Er habe die »heydnische Morale [...] mit sonderbarem Reiß und judicio zusammen getragen« und daher »von Orthodoxen Ärger bekommen,« so schreibt Stolle über die Examinierung Barbeyracs in Berlin.258 Denn Barbeyracs »heydnische Morale« und sein daran anknüpfender Tratte sur la morale des peres de l'Egüse zählen zu den bekanntesten und wohl auch »entschiedensten« Schriften gegen die >Moral der KirchenväterPflichten des Menschen und den speziellen Pflichten des Christen< (»Devoirs de l'Homme, & les Devoirs particuliers du Chretien«), nicht zwischen den >Prinzipien der bloß natürlichen und denen der christlichen Moral< (»Principes de la Morale purement Naturelle, & ceux de la Morale Chretienne«) unterscheiden.270 Gleichwohl stellten die Kirchenväter Mensch und Christ oft gegeneinander - als entsprechend schwer nachvollziehbar erwiesen sich ihre Moralvorschriften.271 Zweitens dienen Buddes Elementa Barbeyrac als Belegschrift für eine aufklärerische Gegnerschaft zur Scholastik, dem überkommenen Denksystem, das es mit Hilfe des Naturrechts zu überwinden gelte.272 Nur selten muß sich Budde Barbeyracs Kritik gefallen lassen. Meist betrifft sie Unbedeutendes, etwa Buddes Wertschätzung für die französische Übersetzung von Grotius De iure belli ac pads (\625)/Le Droit De La Guerre Et De La Paix (1687) durch den Reformierten Antoine Courtin. Offenkundig habe sich der doch so kundige Budde auf das Urteil eines anderen bezogen, oder er verstehe einfach besser Latein als Französisch: »II a trouve belle cette Traduction, dont Auteur [Courtin] parle Latin en Fran9ois.«273 Budde bezieht sich seinerseits auf Barbeyrac, allerdings nicht wegen der spitzen Bemerkung über möglicherweise mangelhafte Sprachkenntnisse. Lange nach Barbeyracs erster Pufendorf-Ausgabe erscheint Buddes Isagoge historica-theologlca (1727),274 »zwar nicht die erste, aber auf Jahre hinaus die meistgelesene theologische Enzyklopädie f...].«275 Um Erläuterungen ergänzt, ist die Isagoge streng genommen als ein »catalogue raisonnee der zugehörigen 270

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Barbeyrac: Preface. In: Pufendorf, Le droit (1732) (wie Anm. II., 51), §. IX., S. XLI. u. ebd., Anm. (h). Ebd. Ebd., §. XXVIII., S. CXV. u. Anm. (cc). - »La Morale des Scholastiques est un Ouvrage de pieces rapportees, un corps confus, sans ordre & sans principes fixes, un melange des pensees d'Aristote, du droit Civil, du droit Canon, des maximes de l'Ecriture Sainte, & de celles des Peres.« [Hervorhebung im Original]. Ebd., §. XXXI., S. CXXIII. u. Anm. (g). Barbeyrac zitiert nach der Erstauflage Johann Franz Budde: Isagoge historico-theologica ad theologiam universam singulasque eius partes. Lipsiae 1727. Vgl. auch den Bestand der Bibliotheca Barbeyraciana (wie Anm. II., 54), S. 8. Die postum erschienene zweite Auflage der »Isagoge« ist nur unwesentlich verändert, enthält aber bibliographische Nachträge aus den Jahren 1727-1729. Budde: Isagoge historico-theologica ad theologiam universam singulasque eius partes, novis supplementis auction M. e. Einl. v. Leonhard Hell. Hildesheim u.a. 2000 (Gesammelte Werke 8, Nachdruck Leipzig 21730). Dazu Leonhard Hell: Einleitung zum Nachdruck von Johann Franz Budde, Isagoge historicotheologica, S. 1-5, hier S. 5. Gert Hummel: Aufklärerische Theologiekonzepte im 18. Jahrhundert. In: Aufklärungen. Frankreich und Deutschland im 18. Jahrhundert. Hgg. v. Gerhard Sauder u. Jochen Schlobach. Bd. 1. Heidelberg 1985, S. 8-24, hier S. 15; Hell: Einleitung zum Nachdruck, S. 2; ders.: Entstehung und Entfaltung der theologischen Enzyklopädie. Mainz 1999 (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abteilung Abendländische Religionsgeschichte 176), S. 173.

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Literatur« angelegt.276 Die reichlich dargebotenen Angaben sind nach Fächern geordnet; freie Anleihen bei Autoren unterschiedlicher Konfessionen zeichnen das Werk aus.277 Wenn von der Isagoge auch kaum »grundstürzende Neuigkeiten« zu erwarten sind, so kann eines für Barbeyrac eine entscheidende Rolle spielen, nämlich der Umstand, daß Budde die Kirchengeschichte nicht als Teil der Theologie, sondern als Teil der Geschichte betrachtet.278 In der Isagoge nimmt Budde, nunmehr Theologe in Halle, auch zu den Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Benediktinerpater Remy Ceillier und Barbeyrac Stellung - knapp allerdings und nur in den einleitenden Büchern. Zwar ist diese Stellungnahme bekannt, doch wurde bislang versäumt, die Vorrede von Barbeyracs Tratte de la Moralite des Peres de l'Eglise (1728) als Antwort auf Budde zu deuten,279 der Barbeyrac für seine Kirchenväter-Kritik als einer der wichtigsten >Bundesgenossen< gilt. Ausführlich dargestellt sind bislang nur die Einwände Barbeyracs gegen die Apologie de la Morale des Peres de l'Eglise centre les injustes accusations du sieur J.B. (1718) von Ceillier.280 Der Pater habe ihn mißverstanden, so leitet Barbeyrac seinen Traktat ein. Sogleich fomuliert er jenes Anliegen, das dem Benediktinerpater kaum behagen kann: die Zerstörung der katholischen Autorität in Fragen der Moral und die »separation des Protestans d'avec l'Eglise Romaine.«281 Gregor von Nazianz dient Barbeyrac zur Illustration des zentralen Vorwurfs an Ceillier:282 Gregor verwechsele kirchliche mit ziviler Toleranz, komme also nicht zu einer sinnvollen Begründung einer natürlichen und toleranten Moral für

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Hell: Einleitung zum Nachdruck (wie Anm. II., 274), S. 2. Ebd.,S.2f. Ebd. Eine Darstellung des Bezugs von Barbeyrac auf Budde liegt allerdings vor. Walther Glawe: Die Hellenisierung des Christentums in der Geschichte der Theologie von Luther bis auf die Gegenwart. Aalen 1973 (Neue Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche 15, Nachdruck Berlin 1912), S. 146, Anm. 1). Ceillier wirft Barbeyrac vor, seine Argumente gegen die Moral der Kirchenväter nur aus der Lektüre der protestantischen Väterkritik (Le Clerc, Daille usf.) zu beziehen. Remy Ceillier: Apologie de la Morale des Peres de l'Eglise contre les injustes accusations du sieur J.B. Professeur en Droit & en Histoire, ä Lausanne. Par le R.P.D. Remy Ceillier, Religieux Benedictin de la Congregation de S. Vanne & de S. Hydulphe, Doyen de l'Abbaye de Moyenmoustier. Paris 1718. Karl Werner legt eine knappe Gegenüberstellung beider Schriften vor und weist auf eine Fülle von Texten hin, die - anders als Buddes »Isagoge« - aus der Feder von katholischen Gegnern Barbeyracs stammen. Ders.: Geschichte der apologetischen und polemischen Literatur der christlichen Theologie. Bd. 5. Osnabrück 1966 (Nachdruck der 1. Aufl. 1861-1867), §. 795. S. 40f. - Die angeführten Texte der katholischen Autoren Damiani, Griffini, Fassoni und Tobenz sind über den Leihverkehr der deutschen Bibliotheken nicht erhältlich. Ebenfalls zur Auseinandersetzung zwischen Ceillier und Barbeyrac - allerdings ohne Bezug auf Werner - Glawe: Die Hellenisierung des Christentums (wie Anm. II., 279), S. 145-147. Barbeyrac: Traite (wie Anm. II., 173), S. IV. Hier noch einmal mit Blick auf den Einfluß von Barbeyracs Lehrer Noodt van Ejnatten: Gerard Noodt's Standing (wie Anm. II., 157), S. 86.

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das menschliche Zusammenleben. 283 Um die Gegenposition anzudeuten, nimmt Barbeyrac noch einmal auf das bekannte Programm Bezug, das er in Le droit entwirft: die Herleitung einer allen Protestanten gemeinsamen »morale« aus dem »Sens Commun« für eine »Tolerance Civile« - und nicht für eine »Tolerance Ecclesiastique«.284 Budde soll für diesen »Humanisme le plus vulgaire« gewonnen werden.285 Kurz vor der Drucklegung des Tratte sei ihm Buddes Isagoge in die Hände gefallen, so Barbeyrac. Der Betroffene zeigt sich mit Buddes Urteil über seine »heydnische Morale« unzufrieden. Denn anders als Ceillier, der als »Aggresseur« ohnehin zur gegnerischen Fraktion gehört,286 schätzt Barbeyrac Budde als >moderaten< Theologen.287 Daher versucht Barbeyrac in demselben Traite, Budde gegen Ceillier für sich einzunehmen: Buddes >Aufrichtigkeit< und sein >gerechtes Urteil< sollen ihn in Anbetracht von Barbeyracs Ausführungen fraglos zu der Erkenntnis führen, »qu'il y avoit deja entre nous moins de difference d'opinion qu'il n'a peut-etre cru [,..].«288 Budde vertrete zum einen die Ansicht, daß die Kirchenväter in Fragen der Moral nicht fehlerlos seien; zum anderen nehme er an, daß sich solche Fragen im Rahmen einer Morallehre besser und genauer lösen ließen. Der Jenenser Theologe und Barbeyrac stimmen danach so weitgehend miteinander überein, daß sich nur im Detail und in der Anwendung der Kirchenväterkritik Streitfragen ergeben können.289 Budde wäre möglicherweise anderer Auffassung gewesen. Schließlich lobt er Barbeyrac noch in der zweiten Auflage seiner Isagoge (1730) zwar als Kommentator des >großen Pufendorfsscholastische< Moral, die dem Katholizismus als >Kanonenfutter< diene. Für beides zeichne letztlich der Bischof von Hippo, »[le] plus mauvais Interprete de l'Ecriture,«294 verantwortlich. Für seine entschlossene Verurteilung des >Scholastikers< Augustinus - und damit des Paters Ceillier - will sich Barbeyrac auf Buddes Isagoge stützen.295 Inwiefern Augustin als barbarischer Vater der katholischen Theologie verdammt werden soll, zeigt Barbeyrac selbst in einem der längsten Kapitel seines Tratte.296 Die Position des Augustin scheine schwer zu greifen: nicht nur, weil sie oft wechsele,297 sondern auch, weil er dunkel argumentiere, kaum ein klares Argument und erst recht keine einsichtigen Begriffsbestimmungen vorlege.298 Gegen diese strukturellen Momente im Denken des Augustin wendet sich Barbeyrac. Als zentral erweist sich der schon bekannte Einwand, mit dem er die gesamte Moral des Bischofs zu erschließen und zurückzuweisen sucht: Quelle seiner Moral sei eine fehlende Unterscheidung, die sich gerade aufgrund seiner Scheinargumente eingeschlichen habe, nämlich diejenige in »les Loix de la Justice [...] & celles de la Charite, de YHumanite, ou d'autres Vertus sembla293 294

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Barbeyrac: Preface. In: ders., Traite (wie Anm. II., 173), S. XXXVII. »Et neanmoins voilä cet homme, qui est le Pere de la Morale Scholastique, & aussi, chez bien des gens, le Pere de la Theologie moderne!« Ebd., S. XXXVIII. [Hervorhebungen im Original]. Die >Scholastiken hätten nicht nur die Moral als Gegenstand, sondern auch die >dunkle< Behandlung derselben von Augustinus übernommen - und damit dessen Fehler fortgeschrieben: die Verwechselung der Offenbarung mit der Vernunft, das ausufernde Traktieren diverser und oft merkwürdiger Fragen. Budde: Isagoge (1727) (wie Anm. 274), S. 636; Barbeyrac: Preface. In: ders., Traite (wie Anm. H., 173), S. XXXVI. Barbeyrac: Preface. In: ders., Traite (wie Anm. II., 173), C. XVI., S. 281-319. Ebd., S. XXXVIII.f., Anm. (1). Um die argumentativen Schwächen Augustins zu illustrieren, zieht Barbeyrac die von Le Clerc notierte Anekdote über die Titel der Psalme heran: Die frühen Kopisten hätten den ersten Psalm nicht eigens überschrieben, weil der als zweiter Psalm ausgewiesene auf ihn folge und die Stellung des ersten damit deutlich sei. Augustin aber habe selbst für diesen trivialen Sachverhalt »une raison bien plus mysterieuse« suchen wollen - und mit Hilfe eines Fehlschlusses gefunden. Ebd., C. XVI. §. XLIV, S. 315.

73 bles.«299 Unter erstere fielen solche Verpflichtungen, die im Zweifel durch Gewaltanwendung sanktioniert werden müßten; letztere umfaßten solche Verpflichtungen, über die nur das Gewissen der Individuen wachen könne.300 Für Augustin gebe es demgegenüber nur ein Recht, nämlich das göttliche. Diesem göttlichen Recht schreibe Augustin die furchtbare Prämisse zu, daß nur die Gerechten oder Gläubigen legitimerweise über ihr >Gut< (»bien«) verfügten, die Ungläubigen jedoch nicht.301 Damit wende er die Gesellschaftsordnung in einer Weise um, daß die Grundlage der societas civilis, das >Privateigenturm (»propre Bien«), gefährdet werde.302 In Anbetracht dessen sei vor allem zu fragen, wer über den wahren Glauben und damit über die Verteilung der Güter zu entscheiden habe.303 Da Eingriffe Gottes in das gesellschaftliche Leben nicht zu erwarten stünden, bleibe nach einer bestimmenden und ausübenden Gewalt zu suchen. Nach Augustin erfülle nur eine Institution die notwendigen Voraussetzungen für ein solche Aufgabe: Toute est ä la vraie Eglise de Jesus-Christ: V Eglise Romaine est cette vraie Eglise: le Pape en est le Chef, il est le Vicaire de Jesus-Christ: personne n'a done rien, qu'en son nom & son bon plaisir: pourquoi ne depouilleroit-il pas de leurs Biens ceux qui sont hors de son Eglise, fussent-ils Princes & Souverains? Pourquoi ne partageroit-il pas entre tels Peuples qu'il lui platt, les Biens & les Possessions des Inßdeles, dans les Pa'is connus ou inconnus, dans les Mondes nouvellement decouverts ou ä decouvrir? Aussi n'a-t'on pas oublie d'inserer avec soin dans le Droh Canonique ces beaux passages de St. Augustin, & autres semblables, qu'on a trouve si favorables au pretendu Vicaire de celui qui n'avoit pas meme oü reposer sä tete.m

Barbeyrac parodiert die katholische Apologetik, nämlich den zentralen Traktat über die vera ecclesia. Nur scheinbar handele es sich dabei um einen Syllogismus, also um eine logisch korrekte Form. Mit Barbeyracs Parodie des vermeintlichen Syllogismus' wird deutlich, worauf seine heftige und stark vereinseitigende Polemik gegen Augustin zielt: Der Bischof von Hippo zitiere nur noch einen Restbestand der logischen Form, um eine willkürliche, aber für die vera ecclesia effiziente Organisationsform als einzig richtige erscheinen zu lassen. Augustinus ist - folgt man dem reformierten Gegner - als intellektueller Ziehvater eines barbarischen Katholizismus entlarvt und mit den Mitteln der Parodie bloßgestellt. Für Barbeyrac reicht dies aus, um das von Augustin inaugurierte System in seine Bestandteile zu zerlegen. Als wichtiger Bestandteil des in der Nachfolge dieses Kirchenvaters weiterentwickelten scheinlogischen Systems erweise sich, so Barbeyrac weiter, das kanonische Recht, weil es die unbegründete Unrechtsordnung legitimiere. Auf der Grundlage die-

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Ebd., §. XVIII., S. 295 [Hervorhebungen im Original]. Ebd. Ebd., §. XIII., S. 290. Ebd., §. XVII., S. 294. Ebd., §. XVIII., S. 295. Ebd., §. XXVI., S. 301 [Hervorhebungen im Original].

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ser Unrechtsordnung werde - ganz nach Gutdünken des Klerus' - in Gut und Böse geschieden. Diese Unrechtsordnung befördere und rechtfertige die Verfolgung der >BösenSchuldigenals sein alter Kirchturmeinfachen Christentum< allerdings wenig. Nicht jedes weltliche Phänomen muß auf die göttliche Vorsehung zurückgeführt werden; nicht jede Handlung muß dem christlichen Tugendkatalog entsprechen: Das Glück im Spiel etwa gilt Barbeyrac als Ausnahme.363 Unverzeihlich aber sei es, gegen das Christentum Partei zu ergreifen. In einem Brief an den Hamburger Gelehrten Johann Albert Fabricius beklagt sich Barbeyrac daher über Bayle, »[qui] a malheureusement emploie son beau genie ä fournir des armes aux Ennemis de la Religion Chretienne.«364 Weit entfernt von skeptischen Positionen, ruht die naturrechtliche Lehre von der Wahrheit der Heiligen Schrift auf den Forderungen nach Toleranz, auf den mit Paulus geglaubten Tugenden der Nächstenliebe und der Gewissensfreiheit sowie auf den Zielen der gemeinschaftlichen und individuellen Glückseligkeit. Wie mit dem neuen und alten Gegner, dem Zweifel im mehr oder minder materialistischen Gewand umgegangen wird, soll im folgenden für den Berliner Refuge ab 1730 gezeigt werden.

Herrn Joh. Barbeyracs, [...], Tractat Vom Spiel, worinn die vornehmsten zum Recht der Natur und zur Sitten-Lehre gehörigen Puncte, so Beziehung haben mit dieser Materie untersuchet werden, Nach der ändern, revidirten und vermehrten Auflage aus dem Frantzösischen übersetzet, von Johann Wilhelm Lustig. Hamburg u. Bremen 1740, dort vor allem der »Discours des Verfassers, über die Natur des Lößes«, S. 685-782. Dazu John Dunkley: Gambling: a social and moral problem in France 1685-1792. Oxford 1985 (Studies on Voltaire and the eighteenth Century 235), passim. Jean Barbeyrac an Johann Albert Fabricius. A Berlin, le 19 Janvier 1709. Fabricius 104123,4° [Bl. 27V]. Det Kongelige Bibliotek; Kobenhagen. Zum Kontakt zwischen Fabricius und Barbeyrac Erik Petersen: Johann Albert Fabricius. En Humanist i Europa. Copenhagen 1998 (Danish Humanist Texts and Studies 18), vor allem S. 573.

III. Vervollkommnung und Glückseligkeit: Wolffianismus ab 1730 Über Europa verstreut wirken reformierte Denker des frühen achtzehnten Jahrhunderts auf nachfolgende Generationen. Diesen aber bedeutet die Glaubenszugehörigkeit immer weniger: Für die französischsprachige West-Schweiz gilt Barbeyrac nur noch als maßgeblicher Begründer einer Schule des Naturrechts.1 Die von Barbeyrac kommentierten naturrechtlichen Schriften dienen als Lehrbücher, die teils unter dem Einfluß von Thomasius, später auch unter dem Einfluß von Wolff von Charles-Loys de Bochat (1695-1754), Beat-Philippe Vicat (17151770) und der Cramer-Dynastie weitergeführt werden.2 Zu den Leistungen dieser schweizerischen Rechtsschule zählen die naturrechtliche Begründungen der Ökonomie und des Völkerrechts.3 Neben Emer de Vattel ist in diesem Zusammenhang vor allem Jean-Jacques Burlamaqui (1694—1748) zu nennen,4 dessen Schriften eng an Barbeyracs Editionen der Pufendorf-Texte angelehnt sind.5 Burlamaquis Lehrbücher befördern das naturrechtliche Studium in der Schweiz.6 Sie enthalten ganze Textpassagen aus Barbeyracs De jure-Edition - etwa das für die »salus publica« entscheidende Kapitel über den inneren Aufbau des Staates.7 Vermittelt über die Schriften Burlamaquis findet das Naturrecht in die französische Moralistik Eingang: Diderot etwa nimmt Burlamaquis Erklärung der »sociabilite« wörtlich in die Encyclopedic auf.8 Auch für Jean-Jacques Rousseau, den später zum Katholizismus konvertierten Bürger des reformierten Genf,

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Dufour: Die Ecole romande du droit naturel (wie Anm. L, 43). Ebd., S. 138-141. Daniel Brühlmeier: Natural Law and early economic thought in Barbeyrac, Burlamaqui, and Vattel. In: New Essays on the political thought of the Huguenots. Hg. v. Laursen (wie Anm. L, 18), S. 53-71. Bernard Gagnebin: Burlamaqui et le Droit Naturel. [These] Geneve 1944; Walther J. Habscheid: Jean-Jacques Burlamaqui (1694-1748) und seine Principes du Droit naturel. In: Staat und Gesellschaft. Festgabe für Günther Küchenhoff. Hg. v. Franz Mayer. Göttingen 1967,5.5-24. Larrere: L'Invention de economic au XVIIIe siecle (wie Anm. II., 7); Rosenblatt: Rousseau and Geneva (wie Anm. II., 7). Arthur Nussbaum: Geschichte des Völkerrechts in gedrängter Darstellung. München u. Berlin 1960, S. 181f.; Wilhelm G. Grewe: Epochen der Völkerrechtsgeschichte. BadenBaden 1984, S. 222-232. Dufour: Die Ausstrahlung (wie Anm. I., 43), S. 113. Ebd.

90 spielt das Naturrecht Burlamaquis eine bedeutende Rolle - und zwar gerade insofern, als sich Rousseau von der naturrechtlichen Tradition abgrenzt.9 Auch ein Einfluß des eudämonistischen Naturrechts auf die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung läßt sich nachweisen. 10 Über die Lehrtätigkeit Burlamaquis gelangt das Naturrecht schließlich nach Deutschland zurück: 1732 studiert Prinz Friedrich von Hessen-Kassel, der künftige Landgraf Friedrich II., bei Burlamaqui in Genf. 1735 folgt ihm Burlamaqui für fast ein Jahr als Fürstenerzieher an den Kasseler Hof. Später führt der Naturrechtler den Unterricht brieflich weiter.11 Wie der ebenfalls für den Kasseler Hof tätige Crousaz wird Burlamaqui in Berlin hoch geachtet. Durch die Schriften beider wirkt Barbeyrac auf Berlin zurück: auf die zweite Generation des Refuge, auf die Reformierten, die schon außerhalb Frankreichs geboren werden. Barbeyrac selbst unterhält kaum Kontakt nach Berlin, beobachtet die Geschehnisse sowohl in Berlin als auch in Lausanne aber mit reger Anteilnahme. Er steht im brieflichen Austausch mit Crousaz, der 1737 nach Lausanne zurückkehrt, und läßt sich von anderen Briefpartnern über Ereignisse an der Berliner Akademie informieren. 1723 allerdings muß er nochmals in Berlin gewesen sein, über die weiteren Entwicklungen ist er nurmehr brieflich unterrichtet.12 Bald macht dort ein gewisser Jean Henri Samuel Formey (1711-1797) von sich reden; im Jahr 1740 löst er den im Refuge verehrten Mathurin Veyssiere La Croze (1661-1739) als Professor für Philosophie ab.13 Formey erscheint Barbeyrac aber auch aus einem ganz anderem Grund als interessant: aufgrund einer literarischen Neuerung für das Naturrecht, aufgrund des vieldiskutierten Romans La belle Wolfienne (1741-1743).14

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Derathe: Rousseau et la science politique (wie Anm. II., 7), S. 84-89; Zurbuchen: Naturrecht und natürliche Religion (wie Anm. I., 23), S. 88f., 109-120; Rosenblatt: Rousseau and Geneva (wie Anm. II., 7). Ray Forrest Harvey: Jean Jacques Burlamaqui: A liberal tradition in American constitutionalism. Chapel Hill 1937. Die »Burlamaquian tradition« zeichnete sich nach Harvey durch zwei Aspekte aus: Erstens sei sie eine Art >Pragmatismus vor dem Pragmatismus·«, eine »progressive theory containing the vitalizing principle of social justice as ist core«. Ebd., S. vii. Zweitens gehe es Burlamaqui und seinen Anhängern nicht nur um die Frage nach dem Ursprung des Staates, sondern auch um den Willen des Volkes und um die »happiness« aller Bürger. Ebd., S. 20f. Im Hessischen Staatsarchiv Marburg sind einige Briefe aus dieser Korrespondenz erhalten (StAM 4a/ Gef. 90.). Mit Hinweis darauf, aber ohne Auswertung Habscheid: JeanJacques Burlamaqui (wie Anm. III., 4). Ergiebig für Barbeyracs Interessen ist die »Correspondance de Charles de la Motte« mit Barbeyrac, 36 Briefe. Bibliotheque de la Societe de l'histoire du Protestantisme frangais. Ms295,[Bl. 68-1079]. Über La Croze Mulsow: Die drei Ringe (wie Anm. L, 34). Jean Barbeyrac an Charles de la Motte. In: Correspondance de Charles de la Motte (wie Anm. III., 12). Groningen, 6.2.1742, [Bl. 93V].

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Bis in die dreißiger Jahre hinein ist der Berliner Refuge aber im wesentlichen Teil der »Internationale des pasteurs« (Myriam Yardeni).15 Als Philosoph und Prediger führt auch Formey diese Tradition fort. Die Auseinandersetzung zwischen der Berliner Orthodoxie und Barbeyrac um 1700 scheint schon im Blick auf diese Tradition nicht als zufällig, sondern als eine Folge von rechtgläubigem Auffassungen im Berliner Refuge. Zwar gehört eine gewisse unionistische Neigung zu den Merkmalen des berlinerischen und des brandenburgpreußischen Spätcalvinismus:16 Die Confessio Augustana ist längst akzeptiert, der Einbezug in den Augsburger Religionsfrieden gewährleistet. 17 Doch der Blick in die kirchengeschichtlichen Schriften des Refuge läßt auf Grenzen der Toleranz schließen. In Berlin und Brandenburg-Preußen gehören Polemiken gegen die lutherische Orthodoxie des nahegelegenen Wittenbergs noch in den 1730er Jahren zum guten Ton.18 Mit Formey wird Altbekanntes auf niedrigerem Niveau fortgeführt.19 Formeys vielfältige und fast ein Jahrhundert umfassende Tätigkeiten erweisen sich hinsichtlich ihrer Inhalte als erstaunlich gleichbleibend: Ein einfaches Christentum< ist längst gegen konfessionspolemische Einwürfe durchgesetzt. Für eine sowohl weltlich orientierte als auch christlich abgesicherte »morale« beschreibt Formey immer wieder den Zweck des »bonheur«. Zusehends aber experimentiert er mit der Darstellungsform für die »morale«. Gebete, Rezensionen, Einführungen, philosophische Abhandlungen, Romane - all das gehört zu seinem Repertoire.20 Mit noch größerem missionarischem Eifer als etwa Barbeyrac legt Formey die »morale« auf einen Zweck fest - um das einmal etablierte moralische Modell zu schützen? Ob als Sekretär der Berliner Akademie

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Henri Duranton: La vie quotidienne des pasteurs du Refuge huguenot dans 1'Allemagne du Nord au temps de 1'Aufklärung. In: Bulletin de la Societe de l'histoire du Protestantisme fran9ais 130 (1984), S. 175-192; Pott: »Critica perennis« (wie Anm. L, 69). Peter-Michael Hahn: Calvinismus und Staatsbildung. Brandenburg-Preußen im 17. Jahrhundert. In: Territorialstaat und Calvinismus. Hg. v. Schaab (wie Anm. L, 15), S. 239269. Hans Leube: Kalvinismus und Luthertum im Zeitalter der Orthodoxie. Leipzig 1928, S. 39f.; von Thadden: Die brandenburgisch-preußischen Hofprediger (wie Anm. L, 65), S. 131. Pott: »Critica perennis« (wie Anm. L, 69). Zu Formey Haag et Haag: La France protestante (wie Anm. II., 8). Bd. 6, Sp. 616-630; ausführlich Rathlef: Geschichte Jetztlebender Gelehrten (wie Anm. II., 52), Anderer Theil, S. 293-311. Vgl. dazu Ern[st] Ludovficus] Rathlef an Jean-Henri-Samuel Formey. Langenhagae, Hannoverae [...], XVI Mattii, 1742. Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz. Acc. Darmst. 1919.277. Unter den -Bibliographien mit dem ausführlichsten Schriftenverzeichnis: »Formey, (Johann Samuel)«. In: Neuestes gelehrtes Berlin; oder literarische Nachrichten von jetztlebenden Berlinischen Schriftstellern und Schriftstellerinnen. Gesammelt u. hgg. v. Valentin Heinrich Schmidt [...] u. Daniel Gottlieb Gebhard Mehring [...]. Erster Theil A-L. Berlin 1795, S. 121-133.

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von 1746 bis zu seinem Tod im Jahre 1797,21 ob als Prediger der französischen Kirche in Berlin, ob als Enzyklopädist,22 ob als Korrespondent, der etwa 40 000 eigenhändig verfaßte Briefe hinterlassen hat,23 ob als Philosoph oder als Journalist -24 immer bindet Formey die »morale« an den »bonheur«.23 Doch folgt er damit nicht mehr dem Naturrecht von Grotius und Pufendorf. Mit Formeys mehr oder minder kritischem Bezug auf Wolff kündigt sich eine neue Phase der sich noch als reformiert verstehenden, aber zusehends >allge-

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Krauss: Ein Akademiesekretär vor 200 Jahren (wie Anm. L, 30), S. 53. David J. Adams: Formey continuateur de l'»Encyclopedie.« In: Recherches sur Diderot et sur l'Encyclopedie 13 (1992), S. 117-129; Anne-Marie Chouillet: Documents sur le projet d'»Encyclopedic reduite« de Formey. In: Recherches sur Diderot et sur l'Encyclopedie 16 (1994), S. 155-159; Eva M. Marcu: Un Encyclopediste oublie: Formey. In: Revue d'histoire litteraire de la France, juillet, septembre (1753), S. 290f.; Ute van Runset: Jean-Henri-Samuel Formey and the »Encyclopedic reduite.« In: The Encyclopedic and the age of Revolution. Hgg. v. Clorindo Donato u. Robert M. Maniquis. Massachusetts 1992, S. 63-67: Formey führt mehrere enzyklopädische Unternehmen nach dem Vorbild von Chambers »Cyclopsedia« durch - u.a. die »Encyclopedic reduite.« Sie entstand unabhängig von Diderot und d'Alembert. Im Jahr 1747 überantwortet Formey den beiden Hauptverantwortlichen der »Encyclopedic« ein Manuskript mit 81 Artikeln. Dazu Frank A. Kafker in collaboration with Serena L. Kafker: The Encyclopedists as individuals. A biographical dictionary of the authors of the »Encyclopedic.« Oxford 1988 (Studies on Voltaire and the eighteenth Century 257), S. 143f.; Frank A. Kafker (Hg.): Notable encyclopedias of the late eighteenth century. Eleven successors of the »Encyclopedic.« Oxford 1994 (Studies on Voltaire and the eighteenth Century 194). Einen aufschlußreichen Einblick in die literarischen Beziehungen gibt der Briefwechsel von Formey und dem Buchhändler Antoine-Claude Briasson. Correspondance passive de Formey, Antoine-Claude Briasson et Nicolas-Charles-Joseph Trublet, Lettres adressees a Jean-Henri-Samuel Formey (1739-1770). Hgg. v. Martin Fontius, Rolf Geissler u. Jens Häseler. Paris u. Geneve 1996 (Correspondance litteraires VI, 1). Margaret G. Smith: J.H.S. Formey, assiduous Journalist and discreet propagandist of new scientific discoveries and philosophical trends. In: Archives et Bibliotheque de Belgique 54/1^4·, S. 123-140. Formey gab nach Smith folgende Journale heraus: »Mercure et Minerve, ou Choix des nouvelles politiques et litteraires les plus interessantes pour l'annee 1738 Berlin 1738« - die letzten vier Ausgaben erscheinen unter dem Titel: »Amüsements litteraires, moraux et politiques Berlin 1739«; »Bibliotheque Germanique, ou Histoire litteraire de l'Allemagne, de la Suisse et des pays du Nord« (1720-1741) - mit dem 29. Band (1734) wird Formey Hauptredakteur der »Bibliotheque«. Anschließen wird die »Bibliotheque« als »Journal litteraire d'Allemagne, de Suisse et du Nord, ouvrage qui peut aussi servir de suite ä la Bibliotheque Germanique« (1741-1743); »Nouvelle Bibliotheque Germanique, ou Histoire litteraire de l'Allemagne, de la Suisse et des pays du Nord« von Formey und Perard weitergeführt (Januar 1746 bis September 1759). Es folgen das »Journal de Berlin, ou Nouvelles politiques et litteraires« (Juli 1740 bis Januar 1741) sowie die »Bibliotheque critique, ou Memoires pour servir ä l'histoire litteraire ancienne et moderne« (Berlin 1746), »L'Abeille du Parnasse« (Berlin 1750-1757) und die »Bibliotheque Impartiale« (Leiden Januar 1750 bis August 1758). Hinsichlich der Vielfalt seiner publizistischen Tätigkeiten, der eklektischen Philosophie und der Festlegung auf den >Endzweck< ist Formey auch mit Friedrich Nicolai vergleichbar. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Nicolai oder vom Altern der Wahrheit. In: Friedrich Nicolai 1733-1811. Essays zum 250. Geburtstag. Hg. v. Bernhard Fabian. Berlin 1983, S. 198-256, bes. S. 214-218.

93 mein-protestantischen< Morallehre an. Doch bedarf es - nach Formey - der bereits bei Barbeyrac vorgefundenen Muster des Umgangs mit den >großen Vordenkerndeutscher Bayle< so geschätzt wie geächtet, taugt aber schon deshalb nicht als Autorität, obwohl er doch eine traditionsfreundliche Aufklärung verspricht.28 Darüberhinaus liegt die Ursache dafür, daß sich Formey der Philosophie Wolffs nähert, auch in dieser selbst. Für den reformierten Denker ist eine metaphysische Begründung des Naturrechts unverzichtbar. Wolff löst diese Anforderung mit Hilfe des Begriffes der »perfectibilitas«, des Strebens nach Vervollkommnung, ein.29 Ebenso entscheidend wie problematisch ist aber die Rückführung Wolffs auf Leibniz, den Bayle-Gegner. So umstritten Leibniz gerade im Umfeld Formeys ist, so schlagend sind gleichwohl seine Argumente gegen den Skeptiker. Der Ansicht, der Ursprung des Bösen in der Welt lasse nicht auf einen guten Gott schließen, stellt auch Wolff eine optimistische Theodizee entgegen. Mit seiner umstrittenen Oratio de Sinarum philosophia (1721) knüpft Wolff nicht zuletzt an die Kardinalfrage an, die unter Reformierten zunächst mit dem Namen Zwingiis, später mit dem Namen Bayles belegt ist: ob Heiden tugendhaft sein können, sich also im Ergebnis moralisch ebenso gut verhalten wie Christen.

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Jean Henri Samuel Formey: Histoire abregee de la philosophic. Amsterdam 1760, S. 289293/Dt.: Kurzgefasste Historic der Philosophie von Herrn Formey. Berlin 1763; zu Formeys Übersetzung des Thomasius-Beitrags von Johann Jacob Brucker in der »Encyclopedic« Hartmut Haussen The Thomasius article in the »Encyclopedic.« In: Studies on Voltaire and the eighteenth century 81 (1971), S. 177-206; Pott: »Le Bayle de l'Allemagne« (wie Anm. II., 144). Des hochwohlgebohrenen Herrn, Christians, Freyherr von Wolff, Kon. Preuß. Geheimden Raths und Universitäts-Canzlers, u.s.w. rühmlichst geführtes Leben und erfolgtes seliges Ende. In: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, Mai 1754, S. 334-352, hier S. 340-342. Pott: »Le Bayle de l'Allemagne« (wie Anm. H., 144). Gottfried Hornig: »Perfektibilität.« Eine Untersuchung zur Geschichte und Bedeutung dieses Begriffs in der deutschsprachigen Literatur. In: Archiv für Begriffsgeschichte 24/2 (1980), S. 221-257, bes. S. 223.

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Die systematische Moralphilosophie Wolffs, seine Logik, seine Methodik und seine Vorstellung von der Philosophie als Möglichkeitswissenschaft widersprechen zwar den Ansätzen des Thomasius.30 Anders als für Thomasius und seine Schüler schließen sich die »durchgängig[]gewissen Wolffianismus< eingeschworen.34 Eine breite Wirkung Wolffs ist dabei zu Recht umstritten.35 Genannt wird der Name Wolffs, um auf eine philosophische Richtung hinzuweisen, die eine Vielzahl verschiedener Denk-Modelle verbindet. Daß eine christliche Philosophie im Korsett der >Leibniz-Wolffsehen Metaphysik< fortgeschrieben wird, ist aber kein Grund, die aus der »Aletophilie« entstehenden Texte als »seichtef]

Zur philosophischen Konzeption und Methodik von Wolff Tore Frängsmyr: Christian Wolff's mathematical method and its impact on the eighteenth century. In: Journal of the History of Ideas 36 (1975), S. 653-668; Hans Liithje: Christian Wolffs Philosophiebegriff. In: Kant-Studien 30 (1925), S. 39-63. Demgegenüber für die strengen Thomasianer Hans Werner Amdt: Erste Angriffe der Thomasianer auf Wolff. In: Christian Thomasius: 1655-1728. Interpretationen zu Werk und Wirkung; mit einer Bibliographie zur Thomasius-Literatur. Hg. v. Werner Schneiders. Hamburg 1989 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 11), S. 275-286, hier S. 286. Mass sah dies anders. Ders.: Die französische Presse im Deutschland des 18. Jahrhunderts (wie Anm. L, 77), S. 159. Manteuffel bildet als Ideengeber und Organisator das Zentrum der Gemeinschaft. Thea von Seydewitz: Ernst Christoph Graf Manteuffel Kabinettsminister Augusts des Starken. Persönlichkeit und Wirken. Dresden 1926 (Aus Sachsens Vergangenheit; Einzeldarstellungen dem sächsischen Volke dargeboten von der Sächsischen Kommission für Geschichte 5). Detlef Döring: Beiträge zur Geschichte der Gesellschaft der Aletophilen in Leipzig. In: Gelehrte Gesellschaften im mitteldeutschen Raum (1650-1820). Teil I. Wissenschaftliche Tagung der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, 18.-19. Februar 1998. Hg. v. dems. u. Kurt Nowak. Stuttgart u. Leipzig 2000 (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Philologisch-Historische Klasse 76/2), S. 95150. Notker Hammerstein notierte über den Wolffianismus, daß die »Auswirkungen zum Teil geringer waren als sie gemeinhin angegeben werden.« Ders.: Christian Wolff und die Universitäten. Zur Wirkungsgeschichte des Wolffianismus im 18. Jahrhundert. In: Christian Wolff 1679-1754. Mit einer Bibliographie der Wolff-Literatur. Hg. v. Werner Schneiders. Hamburg 1983 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 4), S. 266-277, hier S. 267.

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Aufklärungsschriftstellerei« gering zu schätzen.36 Gerade der >Leibniz-Wolffscher-Konsens< erlaubt verschiedene Ansätze und sichert den Bestand einer systematisch denkenden Aufklärung - vor dem Hintergrund moralischer Anforderungen an die Philosophie, wie sie schon von Barbeyrac her bekannt sind. Philosophiegeschichten, die von einer allgemeinen Dominanz des Systems von Wolff im Zeitraum zwischen 1720 und 1760 ausgehen,37 können in diesem Sinne umgedeutet werden (L). Die Arbeiten Formeys lassen sich vor diesem Hintergrund nicht nur als reformierte, sondern auch als >preußische Morallehre< ausweisen, der in der Schüler-Generation Wolffs ein »preußisches Naturrecht« entspricht.38 Denn für die an Wolff anknüpfende Morallehre erfüllt die französische Sprache weniger die Aufgabe, eine Glaubensgemeinschaft zu festigen.39 Vielmehr ist es >Mode< am preußischen Hof und an der Akademie, Französisch zu >parlierenneuwesentlich< einzustufen sei (»de neuf et d'essentiel«). Diese journalistisch-gelehrten Rezensionspraktiken bezog Rob van de Schoor auf den Berliner Hof: Er zeichne sich durch Toleranz aus und schaffe ein Milieu für synkretistische Initiativen.56 Über den Stellenwert synkretistischer Initiativen in Berlin läßt sich mit Blick auf die Ausnahmestellung des Hofes streiten. An der Akademie ging es in der Regel weitaus traditioneller zu. Wogen schlägt hier aber ein Versuch von Formey, der Philosophie Wolffs zum Durchbruch zu verhelfen. Er will sie mit Blick auf Barbeyrac in die Tradition der >Großen< das Naturrechts einreihen. Bevor ich auf die Einordnungsstrategien Formeys zu sprechen komme, will ich die Vorgeschichte seiner Übersetzung darstellen. Im Blick auf diese Vorgeschichte läßt sich zeigen, daß gerade die Morallehre ein entscheidendes Gebiet ist, auf dem sich Wolff - mit Hilfe von Formey behaupten will. Im Jahr 1740 beginnt Wolff mit der Abfassung seines Naturrechts, der Institutiones Juris Naturae et Gentium (1750). Er schließt dieses Projekt im Jahr 1748 ab. Formey vermerkt, im Jahr 1754 habe er selbst die dreibändigen Principes du droit de la nature et des gens (1758) zusammengestellt und seiner Übersetzung Wolffs Institutiones zugrundegelegt.57 Mit Wolff versteht er das 52 53

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Ebd., S. 126. Ebd., S. 130. Über Crousaz siehe Kapitel II., Abschnit 4. dieser Untersuchung. Formey: Dissertations sur les devoirs des Journalistes dans expose qu'ils donnent des Ouvrages, destines ä maintenir la liberte de philosopher. In: Nouvelle Bibliotheque Germanique 16 (1755), S. 363. Rob van de Schoor: La »Bibliotheque Germanique« et la cohabitation des catholiques et des protestants dans le Saint-Empire. In: Etudes Germaniques 52/2 (1997), S. 247-262. Formey: Preface. In: Wolff, Principes du droit de la nature et des gens. Caen 1990 (Nach-

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Naturrecht bzw. die »morale« als Anwendung der Philosophie.58 Dieses Verständnis entsteht vor einem bestimmten Hintergrund: Auf Betreiben des Hallenser Theologen Joachim Lange verbietet der Berliner Hof in einer »Kabinettsordre« vom 18. Mai 1727 den Verkauf und die Benutzung aller Wölfischen Schriften.59 Das Verbot erhöht aber Wolffs Bekanntheit. Stetig bessert sich das Urteil des Königs über den einst Verfemten.60 Der Wolff-Anhänger Probst Reinbeck verhandelt schließlich in den Jahren von 1738 bis 1740 mit Wolff, um ihn für die Berliner Akademie zu gewinnen. Wolffs erster Brief an Reinbeck vom 16. April 1738 führt ins Zentrum des Naturrechts. Der Buchhändler Ambrosius Haude, der in Deutschland entstehende französischsprachige Bücher und ab 1740 alle Beiträge der Akademie verlegt,61 habe ihm, Wolff, von einem Anliegen des Probstes berichtet. Reinbeck solle in der neuen Auflage von Wolffs Politik etwas über Testamente und Kirchengüter lesen wollen - über jene juristischen Materien, die Theologen interessierten. Wolff vertröstet Reinbeck auf die schriftliche Abfassung seines Naturrechts, das er in einem weiteren Sinne begreifen wolle, als üblich.62 Denn er erkläre es gerne zu seinem Ziel, daß die »Theologi in alle Rechte ein gutes Einsehen erlangen« sollen.63 Infolge dieses Zugeständnisses scheint sich ein wohlwollender und wirkungsvoller Briefwechsel zwischen Wolff und Reinbeck zu entwickeln. Am 7. März 1739 verordnet Friedrich Wilhelm I. allen Studenten der Theologie, sich mit der vorbildlichen Philosophie Wolffs auseinanderzusetzen.64 Der Brief-

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druck Bibliotheque de philosophic politique et juridique, Amsterdam 1758), Bd. l, S. IXXVI, hier S. III. »La Philosophie pratique universelle, & le Droit de la nature & des gens. La premiere fournit une theorie generate des regies suivant lesquelles les actions libres doivent etre determinees; & la Morale n'est autre chose que l'application de ces regies.« Ebd., S. III. Dazu auch Formeys Aussagen zur praktischen Philosophie. In: ders., Introduction. In: ders., Principes de la morale, deduits de l'usage, S. XXI. Hans Droysen: Friedrich Wilhelm L, Friedrich der Große und der Philosoph Christian Wolff. In: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte; Neue Folge der »Märkischen Forschungen« des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg 13 (1910), S. 1-34; vgl. außerdem Bruno Bianco: Freiheit gegen Fatalismus. Zu Joachim Langes Kritik an Wolff. In: Zentren der Aufklärung I. Halle. Hg. v. Hinske, S. 111-155. Droysen: Friedrich Wilhelm L, Friedrich der Große und der Philosoph Christian Wolff (wieAnm. III., 59), S. 16. Das Verlagswesen ist unter diesem Aspekt erst wenig erforscht. Für Haude & Spener siehe Konrad Weidling: Die Haude und Spenersche Buchhandlung in Berlin in den Jahren 1614-1890. Berlin 1902, S. 36 u. 54. Zum Verhältnis von Politik und Naturrecht bei Wolff Frank Grunert: Absolutism. Necessary Ambivalences in the Political Theory of Christian Wolff [Manuskript 1999]. Frank Grunert danke ich für die Überlassung des Manuskriptes. Wolffan Reinbeck, Marburg, den 16. April. 1738. Biblioteka Jagiellonska, Krakau. Sammlung Autographa. acc. ms., [4 Bl., hier Bl. l f.]. Droysen: Friedrich Wilhelm L, Friedrich der Große und der Philosoph Christian Wolff (wieAnm. III., 59), S. 17.

100 Wechsel zwischen Reinbeck und Wolff mündet in dem Versuch des Frohstes, Wolff aus dem Marburger Exil nach Berlin zu holen. Wolff weigert sich in einem Brief vom 27. Juni 1740 mit der gebotenen Höflichkeit, läßt dem neuen König, also Friedrich II.,65 seinen Dank ausrichten und schützt die hohen Kosten eines Umzugs vor. Er bittet im Gegenzug um eine »Vocation« nach Halle,66 ohne die Umzugskosten erneut zu erwähnen. Die tatsächliche Begründung für seine Bitte versteckt er im Postscriptum: Hingegen getraue ich mir auch demonstrativisch zu erweisen (welches [sie] bloß im Vertrauen schreibe), daß Se[iner] Majestät d[ie] ruhmwürdigste Intention mit der Academic des Sciences [sie] nicht erreichen werden. Die bisher vocirten Personen sind mir gar wohl bekannt, und weiß ich [sie] eine jede nach ihrem Werthe zu sesthimieren; man kan sie auch wohl bey einer nach dem Pariser Fuß eingerichteten Academic des Sciences gebrauchen, um die Societal der Wißenschaften in gleiches Ansehen mit ändern zusetzen, allein da er seine Academiciens zum Docieren gebrauchen wil, [sie] damit die Menschen vernünftig werden und vernünftige principia faßen [...],67 so verlange er von seinen Akademie-Mitgliedern das Gegenteil dessen, was diese leisteten. Im Zweifel füge er sich bei aller Abneigung gegen die »Academiciens« aber selbstverständlich in die göttlich-königliche Vorsehung, so Wolff ergeben. Der neue König erhört seine Bitte, läßt die Bedingungen für die Rückkehr nach Halle von Reinbeck aushandeln, übermittelt im August 1740 einen »Cabinets Entwurff zur Vocation« und befiehlt dem »Departement der Geistlichen] Sachen«, also Reinbeck, ihn Wolff zukommen zu lassen.68 Reinbeck bespricht noch im selben Monat alles weitere mit Wolff, der zu bedenken gibt, ob es nicht »nöthig« wäre seine Königliche Majestät [...] untertänigst zu ersuchen, dem Hrn. D. Lange mit Ernst anzubefehlen, daß er seinen alten Haß gegen mich fahren ließe und weder directe, noch indirecte wieder mich etwas vornähme. Denn meine Intention ist mit ihm friedlich und im guten Verständnis zu leben, daß er so wohl, als ich alle alte[n] Beleidigungen und was etwan wiedriges vorgefallen vergeße. Dieses ist meiner Philosophie gemäß, wie Euer Hochwürden aus dem ersten Theile meinefs] Juris Naturae ersehen, und der andere Theil von meiner Philosophia practica fordert, daß Lehre und Werke mit einander übereinstimmen, denn ein wahrer Philosophus muß nicht nur mit Worten, sondern auch mit der That lehren. Daß es auch christlich sey, wißen euer Hochwürden beßer als ich, und ich bin auch versichert, daß dieses der allergnädigste Wille Se.[iner] K.[öniglichen] M.fajestät] ist.69

Friedrich Wilhelm I. verstarb am 31.5.1740. Wolffan Reinbeck, Marburg, den 27. Juni 1740. Biblioteka Jagiellonska, Krakau. Sammlung Autographa. acc. ms., [2 Bl., hier Bl. 2]. Ebd. - Möglicherweise schreckt ihn auch die Berufung Leonhard Eulers nach Berlin ab. Dazu Eduard Winter: Einleitung. In: Die Registres der Berliner Akademie der Wissenschaften 1746-1766. Dokumente für das Wirken Leonhard Eulers in Berlin. Zum 250. Geburtstag. Hg. in Verbindung m. Maria Winter u. eingeleitet v. Eduard Winter. Berlin 1957, S. 1-91, hier S. 21f. Friedrich an Reinbeck, Ruppin d. 12. Aug. 1740. Biblioteka Jagiellonska, Krakau. Sammlung Autographa. acc. ms., [2 Bl., hier Bl. 2]. Wolff an Reinbeck, Marburg, den 17 Aug. 1740. Ebd., [Bl. 1-3],

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Wolff will sich einer problemlosen und würdigen Aufnahme in Halle sicher sein; er kommt zu diesem Zweck noch einmal auf seine Morallehre zu sprechen: auf das Naturrecht, das er zugleich als seine private Moral, als Leitlinie für sein Handeln versteht. Daß diese Morallehre und das aus ihr folgende Handeln praktisch und christlich seien, will Formey mit seiner Übersetzung derselben noch unterstreichen. Auf Formeys Plan liegt zwar keine Beweislast, doch könnte eine Übersetzung des Naturrechts Wolffs >Moralität< zu hohem Ansehen verhelfen. Wie sehr Wolffan einem Projekt gelegen ist, das sich der Verbreitung seines moralischen Werks in die weithin beliebte französische Sprache der »Academiciens« annimmt, bezeugt sein Briefwechsel mit Formey. In den Jahren von 1748 bis 1753 verfaßt Wolff sechzehn Brief an den Philosophen und Sekretär der Berliner Akademie. Der nunmehr nach Halle zurückberufene Wolff zeigt sich temperamentvoll, oft spöttisch; dem scherzhaft-poetischen Beiwerk gilt seine besondere Vorliebe. So entsteht ein reger und regelmäßiger Austausch - offenkundig zum Wohl beider Briefpartner. Besprochen werden die »Nouvelles Litteraires«, der Tratsch und Klatsch der res publica litteraria, der zumeist den Wolff-Gegner Leonhard Euler trifft,70 und die neuesten Rezensionen. Wolff und Formey bestärken einander in ihren Vorhaben - auch über die Konfessionsgrenzen hinweg: Wolff ergreift im Streit Formeys mit Kardinal Angelus Maria Quirini entschieden für Formey Partei. Denn der Kardinal äußert sich in einem Schreiben an die Berliner Akademie, deren Mitglied er war, despektierlich über Luthers Bibel-Übersetzung und über Calvins Lebenswandel. Als Sekretär der Akademie antwortet Formey dem Kardinal, indem er beide verteidigt.71 In einem Brief vom sechsten Mai 1749 berichtet Wolff über den Fortgang seiner Institutiones Juris Naturae et Gentium. Zwei Themen interessieren Wolff dabei besonders: der tugendhafte Mann< 72 und das gottgeschaffene »Gesetz der Natur«.73 Bereits am sechzehnten August desselben Jahres stellt er den Abschluß der Arbeit an den Institutiones in Aussicht. Er will sie dem preußischen König widmen.74 Im September ist die Schrift fertiggestellt. Wolff schickt sie

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Wolff an Formey, Halle, den 7. May 1748 und ebd., d. 9 Märt. 1749. Ebd. Sammlung Varnhagen. Sendschreiben des Herrn Samuel Formey [...] an S. Eminenz, den Hochwürdigsten Herrn, Herrn Angelus Maria Quirini, [...] in welchem erwiesen wird, daß D. Luther gelehrter und tugendhafter und folglich zur Besserung der Kirche tüchtiger gewesen sei, als die Cardinäle seiner Zeit, mit einem Vorberichte des Herrn Formey, als einer Einleitung und neuen Zugabe in dieser Streitigkeit, auf Verlangen ins Teutsche übersezt von Johann Jakob Wippel [...]. Berlin 1749. Wolff an Formey, Halle, d. 6 May 1749, [Bl. 1-4]. Biblioteka Jagiellonska, Krakau. Sammlung Varnhagen. Wolffan Formey, Halle, d. 20 Maji 1749. Staatsbibliothek zu Berlin/Preußischer Kulturbesitz, Autogr. 1/1532, Wolff, Christian von. Wolffan Formey, Halle, d. 16. Aug. 1749. Biblioteka Jagiellonska, Krakau. Sammlung Varnhagen.

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an Formey, an Maupertuis und an den Hofrat Philippe Joseph Pandin de Jariges (1706-1770).75 Im Januar 1750 beginnt Formey, seinen Plan in die Tat umzusetzen - unterstützt von Wolff, der beteuert, sogar bei den spanischen Jesuiten fänden sich nun »Liebhaber der Wahrheit«.76 Das Naturrecht und seine Übersetzung füllen einen wesentlichen Teil der Briefe Wolffs an Formey aus. 1751 übersendet Wolff Formey den zweiten und dritten Teil der »morale«. Wolff merkt spitz an: »[D]ie Materie, welche ich darinnen abhandele, ist nicht nach dem Geschmack der Hochtrabenden frantzösischen vermeinten Philosophen in Berlin.«77 Gerade deshalb schwört er seinen Parteigänger Formey immer wieder brieflich auf ein positives Urteil über seine Schriften ein. Erwartungsgemäß verteidigt Formey Wolff in seinen Journalen auch öffentlich und publikumswirksam gegen das, was dieser als Verleumdungen begreift. Eine dieser Verteidigungen führt im Juli 1750 zu einer langen Selbstrechtfertigung von Wolff. Mit Verve entlarvt er die Rede vom »Leibniz-WolffschenSystem« als bloße Konstruktion ungenannter Gegner.78 Leibniz und er würden sich schließlich wechselseitig nicht zur Kenntnis nehmen. Weder lese er, Wolff, was Leibniz in französischen Journalen publiziere, noch kenne Leibniz die deutschen Schriften Wolffs, die Logik ausgenommen. In Leibniz Werken finde sich außerdem nichts Neues. Über die Monaden schreibe Leibniz schon zum Selbstschutz nichts Genaues und über die Moral habe er - anders als es Wolff von sich behauptet - nichts Wesentliches zu sagen.79 Und letztere Bemerkung führt ihn zu jenem Thema, über das er schon lange mit Formey handelt:

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Wolffan Formey, Halle, d. 20. Oct. 1749. Ebd., [Bl. 1]. Wolffan Formey, Halle, d. 6 Jun. 1750. Ebd., [Bl. 2]. Wolffan Formey, Halle, d. 23. Oct. 1751. Ebd., [Bl. 1]. Die exakte Herkunft des Begriffs der »Philosophia Leibnitio-Wolffiana« ist nicht zu ermitteln. Sowohl der von Wolff gelobte Georg Bernhard Bilfinger als auch die Historiographien der Wölfischen Philosophie, Georg Volckmar Hartmann und Carl Günther Ludovici, gebrauchen ihn. Für den Wolff-Gegner Christian August Crusius ist er von Bedeutung, um das System erfassen zu können, gegen das er seine Wahrscheinlichkeitslehre abgrenzt. Sonia Carboncini: Christian August Crusius und die Leibniz-Wölfische Philosophie. In: Beiträge zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von Gottfried Wilhelm Leibniz. Hg. v. Albert Heinekamp. Stuttgart 1986 (Studia Leibnitiana; Supplementa 26), S. 110-125, hier S. 110-112. Eine Antwort auf die damit verbundene Frage nach dem Zusammenhang der Systeme gibt Jean Ecole: War Christian Wolff ein Leibnitianer? In: Aufklärung 10/1 (1998), S. 29^6. »Man hat nach diesem alles Leibnitianische Philosophie genannt; was Leibnitz aus der Scholastischen und ändern Autoribus in seiner Theodicee als principia angenommen. Leibnitz hielt eigentlich vor seiner Philosophie seine Lehre von Monadibus [...]. Von diesem Systemate monadem sagte mir Leibnitz, daß wenn er wollte, er es auf geometrische Weise demonstrieren könnte, und dadurch ein Specimen vera demonstrationis in philosophia zu geben im Stande wäre, dergleichen noch niemand hätte geben können. Und weil er von seiner Lehre von den monadibus s[o] überzeuget zu seyn meinte, als von den Lehrsätzen des Euclidis, so setzte er hinzu, daß er schon von vielen Jahren her nichts mehr lesen möchte, was in metaphysicis herauskäme. Er wollte aber sein Systema nicht völlig bekannt machen wegen der Consequentia, die man daraus ziehen möchte. Euer

103 Was euer hochedlen Recht der Natur und der Völker betreffe, welches Sie aus meinem weitläufigen Werke extrahiret, so bin ich genugsam versichert, daß Sie es werden so eingerichtet haben, wie es die Fähigkeit derer verlanget, welchefn] das demonstriren beschwerlich fället und daß es nach dem Geschmack ihrer Landsleute seyn werde, denen zuviel Vortrag zu trocken ist, ob sie gleich demselben bey dem Euclide vortragen [sie]. Allein an hiesigem Orte ist wohl nicht leicht ein Verleger von einem frantzösischen Buche zu finden, und die in Deutschland gedruckten frantzösischen Bücher sind zur Zeit noch nicht angenehm. Es wäre besser, wenn sich dazu ein Verleger in Holland finden wollte, wo der frantzösische Druck breits überall credit hat, und dadurch ein Buch selbst bey unsem Deutschen recommendiret wird. Ich bin nun mit dem anderen Theile der Moral beschäftigt, welcher von der Beßerung des Willens [...] handelt, den die Virtutes morales nach diesem in den folgenden Theilen erklären. Ich mache mir die Hoffnung, daß man durch dieses moralische Werk die Natur der Seele erst recht sollte lernen [sie]. Und zweifele ich nicht, es werde denen vielen Stükken schaffen können, die andere zur Tugend bringen und ihren Willen beßem sollen [sie].80

Zu denen, die dem Volk die Tugend nahebringen, zählen in erster Linie die Prediger. Wieder betont Wolff, daß er jenen gute Dienste leiste, die ihn einst aus Halle vertrieben hatten. Dabei geht es ihm vor allem um den Erweis, daß seine

Hochedlen [Formey] urtheilen gar recht, daß man dieses Systema in meinen Schriften nicht sehen darf, noch darinnen finden wird. Und diejenigen, welche sich einbilden, als wenn ich meinen Werken bloß dasselbe weitläufhig ausführte, als wenn ich in meinen Werken bloß dasselbe weitläufhig ausführte, zeigen zur Genüge, daß sie meine Schriften nicht gelesen. Leibnitz hat in seiner Theodicee die [...] principia aus der Scholastischen Philosophie genommen, ehe die Theodicee heraus kommen, maßen ich die Scholastische Philosophie nur geholt, ehe ich auf Universitäten können [...]. Die Notwendigkeit des Lesens der Dinge ist ja nicht eine Erfindung des Leibnitz, sie lehrt ja in allen alten compendiis metaphysicis [sie]. Der Nexus rerum in universe ist auch nichts unbekanntes, und wer hat ihm mehr originals als Spinosa [sie]. Ja es ist nicht weniger bekannt, daß man die Idee von dem Systemate harmonia praestabilata bey dem Spinosa findet, aber es zuvor seiner Hypothesi accomodiret [sie]. Und ich habe längst aus einigen Umständen gemuthmaßet, daß die Monaden des Hm. v. Leibnitz ihren Uhrsprung von dem Helmontio haben, mit dem er in Herrenhausen bekannter maßen vielen Umgang gehabt, gleichwie auch deutlich genug zu sehen, daß seiner mensura viri[um], die er dem Cartesio opponieret, Cartesius selbst und Hugenius in seinen Regeln von der Bewegung Anlaß gegeben. Euer Hochedlen haben wohl erinnert, daß Leibnitz auf richtige Dinge gefallen, nachdem er dieses, oder jenes gelesen, oder auch an ihn geschrieben worden. Unsere heutige Gelehrten sind gar zu wenig in der Historia Litteraria erfahren, und von der philosophia exegetica, da man auf einer Idee bringet, was mit verschiedenen Worten von verschiedenen Auctoribus vorgetragen wird, wißen [sie] so gar nichts. [...] An der moral ist mir von ihm gar nichts bekannt, als daß er die bonitatem et malitiam intrinsecam actionum wieder den Coccejum vertheidiget: allein er hat nicht gewiesen, worinnen d[ie]selbe bestehet und wie die Verbindlichkeit aus der Natur des Menschen entspringet, wie ich gewiesen. Es kömmt also allerdings wunderlich heraus, wenn man meine Systemo Philosophiae philosophiam Leibnitio-Wolfiano[rum] und noch weitere Ausführung der Leibnitzschen Philosophie ausgeben will. Jedoch da ich Leibnitzens viel zu hoch halte, als ich ihm gerne allen Ruhme gönnen solltet], den man ihm nur geben will, [...]. Von einigen Verunglimpfungen, die vielleicht besser Verleumdungen genannt werden, könnte [sie] ausführlicher Nachricht geben, als Euer Hochwürden haben können, wenn es nöthig erachtet würde.« Wolffan Formey, Halle, d. 18. Juli 1750. Biblioteka Jagiellonska, Krakau. Sammlung Varnhagen, [Bl. 1-3]. Wolffan Formey, Halle, d. 18. Juli 1750. Ebd., [Bl. 3, 4].

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Lehre auf der Heiligen Schrift ebenso wie auf der Vernunft ruhe. Im Naturrecht gelte es in diesem Sinne zu belegen, »daß Christus eben das principium juris naturae vorschreibet, worauf ich das Recht der Natur gegründet.«81 Wolffs Naturrecht erscheint also in der Korrespondenz mit Formey auch als ein taktisches Zugeständnis an seine Hallenser Gegner. Dem Akademiesekretär obliegt es dabei, für die Form des geplanten Werkes zu sorgen: für den richtigen Buchhändler und für einen angenehmen (französischen) Stil. In der Tat befreit Formey Wolffs Naturrecht von gelehrtem >Ballastanachronistisch< lobt Formey das >alte< Naturrecht und wertet alle neuen Publikationen mit ähnlicher Ausrichtung ab: Chevalier d'Aube und Burlamaqui erreichten nicht dasselbe Niveau wie einst Grotius und Pufendorf - und nun Wolff. Diese Einschätzung ist schon aus Gottscheds Journalen bekannt.83 Das Naturrecht Wolffs aber übersteige sogar noch die Bedeutung seiner Vorgänger, weil Wolff nicht nur von diesen und von Leibniz, sondern auch von dem pragmatischen Ansatz lerne, wie ihn Thomasius vorgelegt hat.84 Wolffs Morallehre sei daher das erste und einzige Naturrecht, in dem das Wort Ciceros ernstgenommen werde, das Naturrecht solle von den »sources les plus profondes de la philosophic« abgeleitet sein, um als >Leitfaden< (»guide«) für alle >Juristen< (»jurisconsultes«) dienen.85 Somit ist Wolff in die Reihe der >großen< Naturrechtler eingeordnet. Mit seinem Werk überbiete er sogar seine Vorläufer, weil es Ciceros Ideen von einem angemessenen Naturrecht am nächsten komme. Nur scheinbar ist mit den >Juristen< schon die Zielgruppe angesprochen, der die Übersetzung dienen soll - schließlich verfügte die Berliner Akademie nicht einmal über einen rechtswissenschaftlichen Zweig. Im Vergleich zu Barbeyracs Arbeiten ist es schwierig, einen Adressaten zu bestimmen. Vermerkt wird zwar, daß die preußischen Beamten die Werke Wolffs zu schätzen wissen, später wird

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Wolff an Formey, Halle, d. 18. Juli 1750. Ebd., [Bl. 3,4]. Wolff: Principes (wie Anm. III., 57), S. I. Dazu den Hinweis auf dieselben im zweiten Kapitel dieser Arbeit. Formey: Histoire abregee (wie Anm. III., 26), S. 296f. Formey: Preface. In: Wolff, Principes (wie Anm. III., 57), S. VII.

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aber die gesamte gelehrte Öffentlichkeit als Publikum betrachtet.86 Darüberhinaus fällt Formeys Vorwort kürzer aus als die Vorworte Barbeyracs. Anmerkungen gibt es nicht. Formey verläßt sich - etwa ein halbes Jahrhundert nach dem Erscheinen der ersten Pufendorf-Bearbeitung von Barbeyrac - noch immer auf Barbeyras Leistungen. Für die Wolff-Übersetzung ist es Formeys Ziel: [de] reprendre les idees de cet abrege, & en les fondant, pour ainsi dire, & les etendant, comme je l'ai fait ä l'egard de quelques morceaux detaches de la philosophic du meme auteur, de les presenter sous une forme qui achevät de leur donner cours; ce seroit assurement une entreprise de execution de laquelle j'aurois tout sujet de me feliciter. Mais comme rien n'est plus incertain que le concours de circonstances qui pourroient me donner le loisir necessaire pourun pareil ouvrage, j'ai cru devoir publier en attendant, cet abrege, qui ne sera pas inutile ä ceux qui voudront le lire avec quelque attention, & saisir les principales notions qui y regnent.87

Formey versteht seine Darbietung des Wölfischen Naturrechts als vorläufige Lösung. Er übersetzt es (nicht immer texttreu) und faßt die wichtigsten Aussagen gut lesbar zusammen. Die von Barbeyrac nachdrücklich betonte »fonction d'interprete« erfüllt Formey demnach nicht mehr. Es geht nicht um die Interpretation, sondern um die Art und Weise der Darbietung eines Kerns der Wolffschen Aussagen. Anders als bei Barbeyrac wird dabei aber das subjektive Urteil des Lesers betont. Die Kategorie des Geschmacks erhält in diesem Zusammenhang einen neuen Stellenwert. Trotz dieser neuen Beschreibung bleibt ein bestimmtes Motiv für die Übersetzung erhalten: [...] je n'ajouterai aucune reflexion directe sur mon travail; je n'ai point a me reprocher le non-usage de mes facultes: mais quelquefois le trop d'usage produit le meme inconvenient. On seroit quelquefois mieux, si faisoit moins. Je persiste cependant ä croire que cet abrege sera utile; j'entrerai sincerement dans les vues de ceux qui me fourniront des ouvertures pour le perfectionner, & je ne m'ecarterai jamais de la route oü je suis une fois entre, c'est de tendre dans toutes mes entreprises ä Futilite publique."8

Geglaubt wird an den öffentlichen Nutzens Zwar bezieht sich Formey damit noch auf Barbeyracs naturrechtliche Überlegungen: auf die Begründung einer universalen und mit der natürlichen Theologie zu vereinbarenden Moral. Zugleich erscheinen diese Ansprüche aber als bedroht. Sie können nicht mehr als selbstverständlich und als umsetzbar gelten - weil sie es nie waren, oder weil sie durch andere Sichtweisen auf die »morale« problematisiert werden. Vielleicht wird der Morallehre gerade deshalb Vorrang in der Ordnung der Einzelwissenschaften eingeräumt. Formey schreibt, daß Wolff zur Moral neige: »Mais son gout l'avoit principalement porte du cöte de la morale [...].«89 Aus der Natur des Menschen werden alle Pflichten und Rechte abgeleitet. Die Natur des Menschen wird - gegen Descartes - als Einheit von Körper und 86 87

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Ebd., S.V. Ebd., S. II. Ebd., S. XXVI [Hervorhebung im Original]. Ebd., S. IV.

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Seele bestimmt.90 Mit der >Natur des Menschen< meinen Formey und Wolff zwar diese Einheit. Ein oberstes Prinzip, das für die Geselligkeit des Menschen bürgt, fehlt bei Wolff aber. Er ersetzt es durch die Perfektibilität: [...] & leur tendance invariable ä un but commun, qui constitute la perfection essentielle de I'homme. [...] Cette vie n'hesite & ne dure qu'autant que l'homme est attentif ä determiner toutes ses actions libres par les memes raisons que la nature a eues en vue dans la determination des actions naturelles & necessaires."

Handeln soll der Mensch, so will es das >Naturgesetz< (»le principe de l'obligation naturelle«),92 im Sinne der »perfectibilitas«,93 um an der eigenen >Glückseligkeit< (»felicite«) zu >bauendas große Prinzip< (»le grand principe«), auf dem alle Demonstrationen Wolffs beruhen und die noch kein anderer Philosoph »d'aussi lumineux & d'aussi feconds« dargestellt habe.96 Doch wird diese Pflicht zur Perfektibilität auch als gemeinschaftliche verstanden, und zwar im Blick auf den »bonheur commun«. Denn im Naturzustand wird die individuelle Glückseligkeit nicht erreicht; die »perfectibilitas« des einzelnen Menschen ist vielmehr Teil eines >DisziplinierungsprozessesMoralpredigt< zielt auf das christliche Heilsversprechen."5 Bereits in der zeitgenössischen Übersetzung, Deß Herrn Formey Entwurf aller Wissenschaften (l765-1772),116 wird hervorgehoben, die Schriften Formeys seien »für jeden Menschen von gutem Verstande« gedacht"7 und stellten »einen großen Catechismus« dar."8 Aus diesem Verständnis der »morale« heraus läßt sich auch erklären, warum Formey die Vorlesungen zur Moral von Christian Fürchtegott Geliert übersetzt: Formey teilt nicht nur Gellerts Verständnis der Morallehre, sondern auch seine Polemik gegen die neue >materialistische< Philosophie, wie sie am Berliner Hof und andernorts vertreten wird."9 Darüberhinaus greift Formey die Tradition der reformierten Morallehren auf und verknüpft sie mit dem neuen Systemdenken der Wolffschen Schule, wobei er - wie Smith zeigte - die > prästabil i erte Harmonie< nicht akzeptiert und mit Hilfe von Beobachtungen argumentiert. 120 Wie Barbeyrac verknüpft Formey natürliche Religion und Offenbarungsreligion auf vielfältige Weise. Formey steht daher - wie sein Vorbild - am »Schnittpunkt der philosophischen Aufklärung und der Offenbarung.« 121 Auch die Werke des Ehepaars Gottsched sind repräsentativ für diesen > Schnittpunkte

Frage nochmals aufgreifen: Grotius plädiere für ein von dem Gesetz unabhängiges Urteil über gerechte und ungerechte Handlungen. Pufendorf widerspreche Grotius, berücksichtige aber die vor dem Gesetz wirkenden Vernunftnormen nicht, so Formey im Sinne von Grotius (und Barbeyrac). Besonders ebd., S. 124—129. Formey: Introduction. In: ders., Principes de la Morale (wie Anm. III., 103), S. XXVII. Ebd., S. XXIV. Ebd., S. XXVII. Deß Herrn Formey Entwurf aller Wissenschaften. Zum Gebrauche der Jünglinge, und aller die sich belehren wollen. Aus dem Französischen übersetzt von F[riedrich] J[ustus] Bierling, 7 Theile. Berlin 1765-1772. Ebd., S. VIII. Ebd., S. VI. Zu Gellerts moralischen Vorlesungen - auch hinsichtlich ihrer Auswertung für die >schöne Literatur Sibylle Späth: Vom beschwerlichen Weg zur Glückseligkeit des Menschengeschlechts. Gellerts Moralische Vorlesungen und die Widerstände der Realität gegen die empfindsame Gesellschaftsutopie. In: »Ein Lehrer der ganzen Nation.« Leben und Werk Christian Fürchtegott Gellerts. Hg. v. Bernd Witte. München 1990, S. 151-171. Smith: J.H.S. Formey (wie Anm. III., 24), S. 133. Krauss: Ein Akademiesekretär (wie Anm. L, 30), S. 56.

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b) Johann Christoph Gottscheds Lehrbuch Erste Gründe der Weltweisheit (1733) im Vergleich mit moralischen Schriften Formeys Wolff gilt nicht nur Formey, sondern auch Gottsched als einer der wichtigsten Denker seiner Zeit.122 Gottsched und Formey sind einander jedoch nur eingeschränkt vergleichbar: Dem Akademiesekretär begegnen ganz andere Erwartungen als dem Leipziger Professor.123 Doch erläutern beide den Ansatz Wolffs »in immer neuen Konstellationen und Blickrichtungen.«124 Gleichwohl stellen sie sich nicht immer in seinen Dienst. Zum Verständnis der journalistischen Tätigkeit Gottscheds fügte Marianne Winkler dem Wolffianismus daher einen »Gottschedianismus« bei und wies diesen als »bürgerlich-absolutistischen Kompromiß [...] einer aufsteigenden Klasse und ihres Nationalbewußtseins« aus.125 Diese Zuordnung erscheint aber schon deshalb als unzureichend, weil sie Gelehrte des achtzehnten Jahrhunderts mit dem verwechselte, was das neunzehnte Jahrhundert als bürgerliche Klasse begriff.126 Dennoch ist korrekt, daß zumindest in Gottscheds Journalen - anders als bei Formey - die Ausbildung des Nationalbewußtseins und des poeta doctus eine große Rolle spielen.127 Paradigmatisch ist der Typus des poeta doctus in Gottscheds Lehrbuch Erste Gründe der gesamten Weltweisheit (1733) angelegt. Doch soll dieser Typus hier nicht interessieren.128 Vielmehr soll es um Gottsched eigenständige Darstellung der Philosophie Wolffs gehen. Aus der Sicht Walter Schatzbergs ist das Lehrbuch Gottscheds »[...] intended as an introduction to the more extensive and technical works of Wolff« -129 eine so nicht ganz korrekte Einschätzung. Denn Gottsched will weniger eine Autorität kommentieren, sondern zentrale philosophische Fragen abhandeln. In der Vorrede von Erste Gründe der gesamten Weltweisheit wird der Bezug auf den Adressaten als zentral erwiesen. Gottsched stellt die praktische Absicht des Lehrbuchs heraus, und zwar in Abgrenzung von den >schlecht verständli122

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Werner Rieck: Johann Christoph Gottsched. Eine kritische Würdigung seines Werkes. Berlin 1972. Eine Gottsched-Monographiejüngeren Datums fehlt. Winkler: Johann Christoph Gottsched (wie Anm. L, 74), S. 147. Ebd., S. 146. Ebd., S. 145. Daran krankt auch noch die quellenreiche Studie von Gabriele Ball: Moralische Küsse. Gottsched als Zeitschriftenherausgeber und literarischer Vermittler. Göttingen 2000 (Das achtzehnte Jahrhundert; Supplementa 7), S. 37-43. Zur Anlage des »poeta doctus« in der »Weltweisheit« und der Fortführung dieses Ideals im Werk Gottscheds Istvän Gombocz: »Es ist keine Wissenschaft von seinem Bezirke ausgeschlossen.« Johann Christoph Gottsched und das Ideal des aufklärerischen poeta doctus. In: Daphnis 18 (1989), S. 541-561, hier S. 557f. Zum Typus des gelehrten Poeten siehe Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983 (Studien zur deutschen Literatur 75), S. 620-691. Schatzberg: Gottsched as a popularizer of science (wie Anm. L, 74), S. 756.

Ill

chen< (lateinischen) Schriften seiner Art, von Ludwig Philipp Thümmigs Institutiones Philsophiae Wolflanae (1729) etwa.130 Aus der Sicht Gottscheds soll sich ein Lehrbuch nach den Bedürfnissen der Leser richten. Um diese Bedürfnisse darzulegen, beschreibt er seinen eigenen Studienweg, was er gelesen und wie er bei Wolff »Gewißheit« gefunden habe.131 »Die gründlichste Art zu philosophieren [...] etwas beliebter und gemeiner« zu machen -132 das ist die zeitgenössische Terminologie, mit der Gottsched das eigene Vorhaben ankündigt. Es gelte, dem Leser eine aktive Aneignung des Gegenstands zu ermöglichen. »Lust machen wollen,«133 so formuliert Gottsched. Anders als Wolff- und wie Formey - will Gottsched die Philosophie nicht nur auf mögliche, sondern auf wirkliche Gegenstände bezogen wissen. Für ihn steht jene Frage im Vordergrund, die er seinem Leser in den Mund legt: »Was wird mir eine solche Philosophie in der Welt, in den Geschäften, im gemeinen Leben nützen?«134 Um diese Frage zufriedenstellend beantworten zu können, müsse der Weltweise undogmatisch denken - mit dem Ziel einer sowohl gelebten als theoretisch begründeten Glückseligkeit. Wolff wird diesen Vorgaben nicht gerecht, weil er aus der Sicht Gottscheds zu sehr im Bereich des bloß Möglichen verharrt. Gottscheds Gewährsmann bleibt Leibniz: »Die Weisheit überhaupt ist eine Wissenschaft der Glückseeligkeit; wie Leibnitz dieselbe zuerst beschrieben hat.«135 Wie Leibniz versteht Gottsched die Philosophie als »scientia felicitatis«.136 Zum einen bildet die Glückseligkeit den universal begründeten >Endzweck< der Moralphilosophie. Weise seien Menschen erst, wenn sie diesen >Endzweck< nicht nur erkennen könnten, sondern alle ihre Handlungen darauf ausrichteten. Aber perfektibel sind die Menschen auch nach Gottscheds Verständnis nicht.137 Zum anderen wird die Glückseligkeit als »Zustand eines beständigen Vergnü130

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Gottsched: »Mein Leser.« In: ders., Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit, Darinn alle Philosophische Wissenschaften in ihrer natürlichen Verknüpfung abgehandelt werden, Zum Gebrauch Academischer Lectionen entworfen von Johann Christoph Gottscheden [...]. Leipzig 1733, unpag., [ )(7'-)0(8v, hier )()(2r]. Ebd., Ebd., Ebd. Ebd. Vgl. auch Angelika Wetterer: Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch: der Widerspruch zwischen rhetorischem Ansatz und philosophischem Anspruch bei Gottsched und den Schweizern. Tübingen 1981 (Studien zur deutschen Literatur 68), S. 28-34; Hermann Stauffer: Erfindung und Kritik: Rhetorik im Zeichen der Frühaufklärung bei Gottsched und seinen Zeitgenossen. Frankfurt/M. u.a. 1997 (Europäische Hochschulschriften: Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur 1621). Gottsched: Weltweisheit (wie Anm. III., 130), !,§.!. Wetterer bezog den von Gottsched vorgelegten Begriff der Glückseligkeit noch auf Wolff. Vgl. dies.: Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch (wie Anm. III., 134), S. 49f. Eine genau Rekonstruktion von Gottscheds Konzeption der Philosophie als Glückseligkeitslehre legte Lorenz vor. Ders.: De mundo optimo (wie Anm. L, 73), S. 154-166. Gottsched: Weltweisheit (wie Anm. III., 130), §. 3.

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gens« aufgefaßt, der zeitlich oder ewig gilt.138 Aber erst Gott legt die Glückseligkeit als >Endzweck< des Menschen fest: Wir haben schon in der natürlichen Gottesgelahrtheit gewiesen, daß GOtt die Menschen, als Bürger der geistlichen Republik, glücklich zu machen suche. Eben dieser Trieb ist auch allen Menschen angebohren; folglich ist ohne Zweifel die Glückseeligkeit der letzte Zweck aller Menschen. [...] Wenn nun GOtt solche Geschöpfe hervor gebracht, die sich glückseelig zu machen wissen, und solches wirklich thun: So hat er Ehre davon. Folglich befördert man die Ehre Gottes, wenn man sich glücklich zu machen bestrebet.139

Christliche Argumentationsbasis und ein gewisser Eudämonismus werden miteinander verknüpft. Gottgefällig lebe, wer seine eigene Glückseligkeit im Sinne der beständigen Suche nach Vergnügen verwirkliche.140 Wahre Glückseligkeit werde durch den Besitz des höchsten Gutes, dieses aber werde durch die Beobachtung des Naturgesetzes erlangt.141 Wie Wolff zielt Gottsched auf die »perfectibilitas«.142 Letztes Ziel - und doch wie bei Wolff bloß Effekt - ist der Zustand einer zunehmenden, aber unvollkommenen Glückseligkeit.143 Wie bei Formey läßt sich die Tätigkeit für das »gemeine Beste«, für die gemeinschaftliche Glückseligkeit, erst im Blick auf das individuelle Vervollkommnungsstreben und auf das individuelle Wohlergehen rechtfertigen. Wie bei Formey und Barbeyrac soll das Gewissen den »Tugendschüler« dazu veranlassen, die gemeinschaftlichen Pflichten zu befolgen.144 Nach dem Verständnis von Gottsched und Formey stellt die Glückseligkeit aber nicht mehr als eine Summe aus individuellen Glückseligkeiten dar. Wechselseitig abgestimmte Pflichten und Rechte begünstigen die Zweck-Mittel-Beziehung von Glückseligkeit und Vervollkommnung nurmehr. Gleichwohl bezieht sich Gottsched in erster Linie auf Leibniz, während Formey die Philosophie als Glückseligkeits-

Ebd., §.2. Ebd., II, §. 66. Ebd., §.67. »[...] daß die wahre Glückseligkeit, nicht anders als aus dem ungehinderten Wachsthume in der Vollkommenheit, oder aus dem Besitze des höchsten Gutes entstehe; dieses aber nicht anders als durch die Beobachtung des Gesetzes der Natur erlanget werde. Nun heißt die Fertigkeit das Gesetz der Natur zu beobachten, die Tugend: Und also ist die Glückseeligkeit eine unausbleibliche Belohnung der Tugend.« Ebd., §. 75. »Folglich muß denn derjenige, der da glückselig werden will, sich in allem seinem Thun und Lassen die Beförderung der Vollkommenheit zum letzten Endzwecke setzen, und seine Handlungen als Mittel gebrauchen, denselben zu erlangen.« Ebd., §. 80. Ebd., §.69. »Um aber das gemeine Beste, oder die Vollkommenheit aller Menschen überhaupt, desto williger zu befördern, wird es sehr dienlich seyn, wenn man einem solchen Tugendschüler zeiget, daß diese Beförderung des gemeinen Besten mit seiner eigenen Wohlfahrt genau verbunden sey. Denn wer andrer Leute Vollkommenheiten gern und willig befördert, der beweget sie, ein gleiches gegen ihn zu thun. Da wir nun ohne fremde Beyhülfe unsre Glückseligkeit nicht hoch bringen können: So werden wir desto leichter darinn von einer Stuffe zur ändern fortschreiten, je mehrere wir uns durch Beförderung ihrer Wohlfahrt verbindlich gemacht haben.« Ebd., §. 126.

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lehre mit dem Namen Wolffs verbindet. Eine mögliche Ursache dafür ist Wolff selbst. Er gibt dem Akademiesekretär deutlich zu verstehen, daß er sich von Leibniz abzuheben wünsche. Formey folgt diesem Wunsch. Über Gottscheds Wertschätzung Formeys besteht dennoch kein Zweifel: Gemeinsam treten sie für die Sache der »Aletophilie« ein.145 Darüberhinaus will der Reformierte aber die Glückseligkeit nicht mit dem Zustand des Vergnügens identifizieren, wie es in der deutschen Aufklärung zusehends üblich wird. Demgegenüber sorgt er wie im Falle des Naturrechts - für das, was Wolff von ihm erwartet: für gefällige Darbietungsformen. Dazu zählen auch literarische Darstellungen von >PhilosophieEthnicorum omnium sanctissimusLandschaft< vorgeführt. Aus Griechenland, so das Urteil der Zeitgenossen, das sich noch in den späten Romanen Hallers findet, stamme die >gefährliche< Rhetorik, die keine Wahrheit akzeptiere und unumwunden zur Skepsis führe. Leitfigur ist deshalb kein Rhetor, sondern der durch sein philosophisches Interesse bekannt gewordene Kaiser. Darüberhinaus werden die Disziplinen in den Rednern personifiziert. Das Kind Catilius Severus wird zum Richter über die Rangordnung der drei Disziplinen ernannt. Mit Rückbezug auf das Selbstzeugnis der Gottschedin kann geschlossen werden, daß es in dieser Versuchsansordnung um die Folgen des menschlichen Triebes geht, wie er im Kind noch >unzivilisiert< angelegt ist. Dieser Trieb wird das Kind zur Philosophie leiten. Eine natürliche Neigung zur Philosophie wohnt dem Menschen demnach von Geburt an inne. Auf diese Weise begründet die Gottschedin >anthropologischanthropologischen< Beweisführung genau darum, indem sie die >Nützlichkeit< und den >Ruhm< einer Disziplin als Kriterien für die Überlegenheit derselben ansieht. Für die jeweils vertretene Disziplin gelte es darzulegen, so die Aufgabe für die Redner, daß ihre Disziplin »[...] unter allen Künsten und Wissenschaften, einem Lande am nützlichsten und rühmlichsten sey.«160 Letztlich beurteile das Kind, ob eine Argumentation gelungen sei, so erläutert der Großvater »Verus« die Spielregeln. Jeder Vertreter soll »durch alle mögliche Gründe, ein ieder für seine Wissenschaft fechten, und das Herz des jungen Catilius zu rühren suchen.«161 Das Urteil des Kindes wird demnach zwar durch gute Gründe beeinflußt, aber erst >im Herzen< getroffen. Damit wird ein emotionales Urteil über die Bedeutung der Philosophie angestrebt. Der Erzieher kommentiert, daß der Knabe »vielen Leuten gar zu praktisch-philosophisch vorkommen« werde.162 Mit der Eigenschaft »praktisch-philosophisch« ist jene »innere Tugend seines Herzens« gemeint, die über der bloßen Gelehrsamkeit stehe.163

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L. Gottsched: Triumph (wie Anm. III., 156), »Die I. Rede. Zum Lobe der Dichtkunst gehalten von Publius Cassius.«, S. 5 passim. Ebd., Vorrede, [4V]. Ebd., [6V]. Ebd.

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Ihre Reden halten die Vertreter der Disziplinen aber getreu der rhetorischen Ordnung. Junius Rusticus, eine Anspielung auf den Marc Aurel bekannten Stoiker,164 stellt die »Vorzüge« der Philosophie heraus.165 Die inventio seiner Rede umfaßt drei historische Argumente für die Philosophie. Mit dem Argument, die Philosophie sei zu allen Zeiten »ein Gegenstand erhabener Seelen gewesen,«166 spielt Junius Rusticus auf eine >gute< Tradition auf. Das zweite Argument ist auf die Wirkung der Philosophie bezogen. Ihre Ausübung schaffe »die bewundernswürdigsten Leute und Männer.«167 Auf diese Weise mache sie ganze Länder »ansehnlich, ruhmwürdig und glücklich.« 168 Das dritte Argument beruht auf anthropologischen Annahmen, die auf die Vorsehung zurückgeführt werden. Sie habe dem Menschen Vernunft zur Unterscheidung dessen verliehen, »was ihm nutzet oder schadet«, und ihm außerdem [...] einen Trieb zur Weisheit eingepflanzet, durch welchen diese Vernunft aufgekläret, unterrichtet, gewiß gemacht, und gegen den starken Anfall der ungezähmten Leidenschaften mit genügsamen Waffen versehen wird.169

Auf diese Weise lerne der Mensch, »was uns zu unserer Glückseligkeit den nächsten Weg zeiget!«170 Denn es gelte: Unsere eigene Wohlfahrt zu befördern, unser Vergnügen zu suchen, einer beständigen Glückseligkeit zu genießen, sind wir, und diese Welt für uns, erschaffen worden.171

Mit dem letzten Argument ist die Voraussetzung für den Beweis des Leitsatzes geschaffen, und die disposiüo kann beginnen. Weil die Überlegenheit der Philosophie bewiesen werden muß, kann der Beweis nur im Vergleich mit den übrigen Disziplinen gesehen werden. Ad hominem kann gezeigt werden, daß auch der Richter über diesen Wettstreit der Disziplinen der Philosophie bedarf, um ihn überhaupt im Sinne der Leitfrage entscheiden zu können. 172 Die in der inventio dargelegten Argumente werden reich ausgeschmückt. Entsprechend gilt die Philosophie - nicht nur mit Cicero - als die »Richtschnur des Lebens« und als die »Ausrotterin der Laster«.173 Sie habe außerdem die Städte erbaut und die »[...] Menschen zu einem gesellschaftlichen Leben angetrieben.«174 Als »Erfinderinn der Gesetze, eine Richterinn der Sitten und der Zucht« verhelfe sie den

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Theiler: Einführung (wie Anm. III., 159), S. 13-16. L. Gottsched: Triumph (wie Anm. III., 156), »Die IV. Rede. Zum Lobe der Weltweisheit gehalten von Junius Rusticus.« S. 68-101. 166 Ebd., S. 68. 167 Ebd. 168 Ebd. 169 Ebd. 170 Ebd. 171 Ebd., S. 69. 172 Ebd., S. 71. '" Ebd. 174 Ebd., S. 72f. 165

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Menschen zu einem ruhigen Leben und wende den Schrecken des Todes ab.175 Kurz: Sie sei die »Quelle« alles Guten und >praktisch< Nützlichen.176 Dichtkunst und Beredsamkeit werden durch die Aufwertung der Philosophie abgewertet. Mittel der Beweisführung ist die Geschichte Roms. Der zerstörerische Nero sei ein Poet gewesen - man hätte wohl eher den weisen Seneca zum Regenten gewählt. Mit diesem historischen Argument ist die Dichtkunst als Wissenschaft für ein wohlgeordnetes Gemeinwesen diskreditiert. Darüberhinaus erweise sie sich als bloß schöngeistig und nicht als praktisch. Noch leichter fällt die Abwertung der Beredsamkeit. Der Redner könne erzählen, was er wolle. Er werde nicht am Maßstab der Wahrheit gemessen und könne mit seiner Rede jedes noch so verwerfliche Ziel verfolgen.177 Demgegenüber wirke die Philosophie schon durch das Vorbild des Weisen, so das zentrale Argument, weil dieser »[...] die glücklichen Folgen der Tugend zeige [,..].«178 Rom wird zum maßgeblichen Beispiel für ein Lernen aus der Philosophie.179 Mit Hilfe der Gleichsetzung, daß, was nützlich sei auch rühmlich sein müsse,180 ist der letzte Schritt des Beweises gelungen. Der alte »Verus« entscheidet mit seiner »Anrede [...] an den jungen Catilius Severus« zwar schon über den Ausgang des Wettstreits.181 Es ist aber dem Kind vorbehalten, das Urteil auszusprechen.182 Von der Argumentation des Junius Rusticus läßt sich die kindliche Empfindungsfähigkeit deshalb anstecken, weil nur die Philosophie in der erhofften Weise wirke. Die Tugenderkenntnis rufe Tugend hervor, denn im Herzen des Kindes zeige sich die Vernunft. Empfindung und Vernunftphilosophie sind verbunden, weil der eingepflanzte Trieb und die Rührung des Herzens einander überlagern. Damit ist die Philosophie als Wissenschaft für den Menschen erwiesen. Denn sie ergreift das Herz des Kindes. Diese >überzeugende< Wirkung der (stoischen) Weltweisheit ist im Triumph der Weltweisheit vorgeführt. Obwohl die Gottschedin für diese Beweisführung kein Mittel ungenutzt läßt, nimmt der Autor von La belle Wolfienne sie nicht zur Kenntnis - und sorgt damit für Irritation. Im Jahr 1740 erscheint eine Rezension des Triumph[es] der Weltweisheit in der Bibliotheque Germanique. Formey, der Rezensent, berichtet zwar über das Werk, vergleicht es aber kritisch mit Gomez' Sieg der Beredsamkeit. Er inszeniert einen neuen >Streit der FakultätenWut< (»fureur«) auf Bücher sprichwörtlich ist. Sie sitzt mit einem der verhaßten Gegenstände auf einer Bank: Je me doutai bien que ce n'etoit pas un Roman; car, il n'y en a gueres dans cette Langue, qui soient forts interessans[,]234

bemerkt Esperance. Nach Angaben des Erzählers handelt es sich bei dem Buch um Reinbecks Lettre sur 1'immortalite de l'ame. Am zweiten Tag treten - vielleicht als Reaktion auf die Reinbeck-Lektüre - die unterschiedlichen Positionen deutlich hervor.235 Darüberhinaus muß der liebende >Zensor< Konkurrenz befürchten, denn Madame de B. nimmt zwei Studenten in die kleine Gemeinschaft auf. Der phlegmatische »Ms. M.« studiert Theologie. Er stammt aus Halle und steht der Orthodoxie nahe. Unaufhörlich betrachtet er Esperance und ruft damit die Eifersucht des Erzählers hervor. »Ms. P.« hingegen, ein Marburger Jurist und Anhänger Wolffs, mache einen aufgeweckten Eindruck, gesteht der Erzähler zu, wirke aber oberflächlich. Die strategisch geschickte Ich-Figur lenkt das Thema auf die Philosophie. Erwartungsgemäß spricht man über die Rückkehr Wolffs nach Halle. Es passiert, was dem Schüler-Zensor vorschwebt: Die Studenten streiten sich, als müßten sie stellvertretend für ihre Parteien sprechen.236 Erneut ist das Philosophie-plot in Gang gesetzt. Es wird mit der Kritik der pietistischen Hallenser Theologen an Wolffs Schriften fortgeführt. »Ms. M.« leitet die Kritik ein, indem er auf problematische Konsequenzen des >LeibnizWolffschen-Systems< verweist.237 Es kenne nur Monaden, die zu einer großen Maschine des Universums in bezug stünden, und nicht zum geoffenbarten Gott.238 Auch gebe es - so das Leitargument der Hallenser gegen das Wölfische System - in diesem System keine moralische Freiheit, so daß nicht die Individuen für ihr schlechten Taten beschuldigt werden könnten, sondern - fataler-

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Formey: La belle Wolfienne I (wie Anm. III., 185), l, S. 65 Ebd., S. 164f. »Chaque Matin, je sentois redoubler mon Ardeur pour le Wolfianisme, & le Terns me paroissoit d'une Longueur assommante, jusqu'au Moment de la Conference.« Ebd., II, S. l [Hervorhebung im Original], Ebd., S. 11. Ebd., S. 14. Ebd., S. 19f.

130 weise - nur der Schöpfergott.239 Der Abdruck von Formeys Übersetzung der Oratio de Sinarum philosophia vervollständigt den Hintergrund des Hallenser Streits um Wolff.240 Esperance erschrickt in Anbetracht der ihr unbekannt gebliebenen Kritik an ihrem philosophischen Vorbild.241 »Ms. P.« wendet ein, Wolff habe sich gegen die Einwände verteidigt, und zwar in einer Schrift De Differentia Nexus Rerum sapientis & fatalis Necessitatis aus dem Jahr 1724.242 Aus der Sicht des Theologen, der jene Summe aus den Einwänden der Hallenser Kollegen vertritt, wie sie eine Rezension in der Nouvelle Bibliotheque Germanique aus dem Jahr 1736 zusammenfaßt,243 kann diese Replik die genannten Einwände nicht widerlegen.244 Als der Ich-Erzähler das Gespräch der streitenden Konkurenten vermittelnd an sich ziehen will, um Esperance zu gefallen, unterbricht Christine. Die lebendige Reinbeck-Leserin möchte lieber über Geselliges plaudern.245 Für Christine ist der Disput über Wolff längst mit Reinbeck erledigt. Denn der Probst verteidigt Wolff gegen die

Rosemarie Ahrbeck: Wolff und Francke - Kontrahenten oder Kampfgefährten? In: Christian Wolff als Philosoph der Aufklärung in Deutschland. Hgg. v. Hans-Martin Gerlach u.a. Halle 1980 (Wissenschaftliche Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1980/32, T. 37), S. 101-110; Bianco: Freiheit gegen Fatalismus (wie Anm. III., 59). Formey selbst erhebt gegen die »Oratio« keine nennenswerten Einwände. Zur zeitgenössischen Kontroverse Michael Albrecht: Einleitung. In: Christian Wolff, Oratio de Sinarum philosophia practica/Rede über die praktische Philosophie der Chinesen. Übers, u. eingel. v. Michael Albrecht, Hamburg 1985 (Philosophische Bibliothek 374), S. IX-XIC; ders.: Die Tugend und die Chinesen. Antworten von Christian Wolff auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Religion und Moral. In: Nuovi studi sul pensiero di Christian Wolff a cura di Sonia Carboncini e Luigi Cataldi Madonna. Preface de Jean Ecole. Hildesheim u.a. 1992 (Christian Wolff; Gesammelte Werke: Materialien und Dokumente 31), S. 239262. Formey: La belle Wolfienne I (wie Anm. III., 185), 2, S. 33. Ebd., S. 35. Über die Diskussion in der »Belle Wolfienne« hinaus nennt der Rezensent noch weitere Irrtümer, die Wolff aus der Sicht Langes begangen habe: Die Annahme, der Schöpfergott sei auch für das Wohl der >Heiden< (» Athees«) zuständig, sei falsch. Auch dürfe die Schöpfung nicht mit dem vernünftigen Handeln einer großen Maschine gleichgesetzt werden. Dazu »Extrait raisonne des Nouvelles Pieces sur les pretendues Erreurs de la Philosophie de M. Wolff 1736.« In: Nouvelle Bibliotheque Germanique 36 (1736), S. 14-33. Aus der Sicht des Rezensenten werde die dreizehn oder vierzehn Jahre andauernde Kontroverse zwischen Wolff und den Theologen wohl bald beendet seien - wenn nicht durch die vermittelnden Eingriffe durch die Gerechtigkeit und die Wahrheit, dann durch die Autorität der Regierung. Besänftigt werden müssen allerdings vornehmlich die Theologen: »Le zele des Theologiens est quelquefois trop vif, & trop ombrageux; & malheureusement l'Experience n'a que trop fait voir, que ce zele n'est bien souvent qu'un pretexte, sous lequel ils deguisent leur Passion. D'un autre cöte, la Liberte de philosopher devient tous les jours plus entreprenante & plus audacieuse. Le moyen de conserver la paix, seroit que le Theologien respectät la Raison, qui est une Lumiere emanee de Dieu, & donnee ä l'Homme pour faire le sincerement du Faux & du Vrai. Mais le Philosophe doit aussi de son cote, respecter la religion, & plus il sera Philosophe, plus il aura de respect pour son autorite.« Ebd., S. 33. Formey: La belle Wolfienne I (wie Anm. III., 185), 2, S. 37.

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Hallenser Gegner, und zwar mit dem Argument, Wolff vertrete den ihm vorgeworfenen platten Leib-Seele-Mechanizismus nicht.246 Esperance aber zieht sich zurück, um über die Einwände gegen Wolff nachzudenken. Im vierten Teil von La belle Wolfienne bricht der Roman ab. Der >Zensor< erhält von seiner Lehrerin ein Heft über die Logik, weil der mündliche Unterricht darüber zu schwierig sei. Er studiert nun allein. Das ihm überreichte >Heft< bildet den gesamten vierten und fünften Teil des Romans. Der Roman endet also, nachdem die aus der Sicht Formeys entscheidenden Einwände gegen das >Leibniz-Wolffsche< System überzeugend vorgebracht sind: erstens lasse sich die mathematische Methode nicht auf menschliche Belange anwenden. Zweitens solle die Philosophie über ihre Festlegung als bloße Möglichkeitswissenschaft hinausgehen. Drittens fehle die Religion im System Wolffs. Der Ich-Erzähler bezieht dabei selbst Position: mehr im Sinne einer Wolff-Kritik, als im Sinne einer Vermittlung zwischen den kontroversen Standpunkten. Sobald Religiöses zur Debatte steht, hält er sich allerdings zurück. Denkbar ist, daß der Autor Formey dieses Problem lieber den Hallenser Theologen überläßt, um seine Position zwischen Orthodoxie und Aufklärung zu wahren. Wie konfliktträchtig ein solches Bekenntnis für oder gegen Wolff gewesen wäre, zeigt die Rezeption von La belle Wolfienne. Sie gibt außerdem Aufschluß über Formeys vorsichtige und diplomatische Haltung zu Wolff und zu den »Aletophilen«. b) Zur Kritik an La belle Wolfienne: Paul-Emil de Mauclerc, Ernst Christoph Manteuffel, Jean-Pierre de Crousaz und Christian Wolff Kurz nach seinem Erscheinen ist der Roman Formeys in aller Munde. In der Bibliotheque raisonnee (1741) wird La belle Wolfienne begeistert rezensiert. Gelobt wird vor allem die neue Form.247 Zwölf Jahre später verteidigt Formey seinen Roman in der Nouvelle Bibliotheque Germanique (1753) in diesem Sinne selbst: La Belle Wolfienne fut la premiere dans ce genre. Je cms pouvoir procurer ä la Philosophie d'Allemagne le meme avantage dont celles de Descartes & de Newton ont ete 246

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Johann Gustav Reinbeck: Des Regierungsraths Wolffens vermuthliche Antwort auf D. Langens kurtzen Abriß, in: Bedencken über die der Wolffischen Philosophie von Joachim Langen in seinem kurtzen Abrisse beygemessene Inrthümer, Commißionswegen aufgesetzt. In: Ludovici, Sammlung und Auszüge der sämmtlichen Streitschriften wegen der Wolffischen Philosophie. Bd. 2. Hildesheim u.a. 1976 (Christian Wolff; Gesammelte Werke: Abt. 3), S. 38-55, hier S. 46f., Buschmann: Wolffianismus in Berlin (wie Anm. III., 36), S. 84-86. »Ce petit Ouvrage fait honneur ä Mr. Wolff, & prouve en quelque sorte le grand cas que fait de sä Philosophie. Le but de l'Auteur est d'eclaircir les difficultes que se rencontrent dans le Systeme de ce Philosophe, & de le mettre ä la portee des Lecteurs ordinaires.« Bibliotheque raisonnee 27 (1741), S. 267-274, hier S. 267 [Hervorhebungen im Original].

132 redevables ä des Hommes illustres; & ce n'etoit point de ma part une presomption ou une envie de me mesurer avec des Auteurs dont la superiorite m'etoit parfaitement connue; mais je croyois que la nouveaute & importance des matieres suppleroient ä ce qui pourroit me manquer du cöte des talens.248

Als zentrales Argument für die gewählte Form nennt er erstaunlicherweise ein bloß subjektives Kriterium: C'etoit d'ailleurs, pour remonter en passant ä l'origine de mon Roman Philosophique, c'etoit tres-fortuitement que je m'etois avise d'ecrire dans ce goüt-lä. La situation d'esprit & de corps, dans laquelle je me trouvois dans les annees 1739 & 1740 oü j'entrepris cet Ouvrage, me faisoit chercher quelque travail qui tint beaucoup de amusement, & qui put suspendre terns en terns des idees tristes & des sensations douloureuses. Je me mis done ä travailler uniquement pour moi-meme f...]·249

Ein solches Geständnis ruft Erklärungsbedarf hervor, weil Formey moralische Werte und Ziele üblicherweise betont. Persönliche Schwierigkeiten hätten ihn, in diesem Fall zu einem >therapeutischen< Schreiben veranlaßt. Subjektivierungen wie diese sind in der reformierten Aufklärung ein wiederholt auftretendes Muster, wie für Le Clercs Bibliotheken gezeigt werden könnte. Immer wieder führt eine äußerliche Bedrohung - seitens der weltlichen Macht oder des Klerus - zur Wahl >subjektiver< Formen. Formey fällt es im Blick darauf möglicherweise leicht, die objektive Leistung des Romans hervorzuheben: die Überprüfung der Wölfischen Philosophie im Mittel der >schönen Literatur^ Doch bezweckt Formey mit seiner Selbst-Rezension noch mehr. Zwar will er seine Kritik an Wolff ein wenig zugunsten von Wolff revidieren, zugleich aber nicht unbedingt als überzeugter Wolffianer gelten. Die Gründe für eine solche Relativierung seines Romans sind in den Auseinandersetzungen zu suchen, die Formeys Roman verursacht hat. Denn bereits im Jahr 1753 läßt sich auf eine stattliche Zahl kritischer Schriften über La belle Wolfienne zurückblicken. Paul Emil de Mauclerc (1698-1742), Formeys langjähriger journalistischer Kollegen, äußert sich nur nebenbei über La belle Wolfienne. Der Schwiegersohn des »grand Beausobre« ist - wie Formey - als Prediger ausgebildet und zählt zu den eifrigsten Journalisten seiner Zeit. Mauclerc schreibt ununterbrochen, nämlich von 1720 bis 1741 für die Bibliotheque Germanique und arbeitet von 1741 bis 1742 für das Journal litteraire Formeys.250 Schon aus diesem Grund steht er immer mit Formey in Kontakt.251 Unter den beiden Hauptredakteuren des Berliner Refuge wird alles Wesentliche beschlossen: was in die Periodica aufgenommen werden soll und mit wem man in Kontakt zu treten wünscht. Auf diese Weise streift die Korrespondenz der beiden Glaubensbrüder, die in ihren Briefen nie auf die Anrede »frere« verzichten, fast das gesamte 243 249 250 251

Nouvelle Bibliotheque Germanique 13 (1753), S. 202. Nouvelle Bibliotheque Germanique l (1746), S. 409-419, hier S. 410. Zu Mauclercs Aktivitäten Pott: »Critica perennis« (wie Anm. L, 69). Zwischen dem 28.10.1737 und 24.10.1742 schrieb Mauclerc aus Stettin insgesamt 74 Briefe an Formey, die in der Staatsbibliothek zu Berlin/Preußischer Kulturbesitz lagern.

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Panorama der Buchproduktion in Deutschland: Wolffs und Reinbecks Schriften, Gundlings Satiren, Bruckers Philosophiegeschichte, Voltaires Essais und Newtons Entdeckungen.252 Über La belle Wolfienne äußert sich Mauclerc nebenbei, im Postscriptum seines Briefes an Formey vom fünften August 1740: Vous travaillez, dit on, ä la belle Wolfienne ce sera, sans doute un ouvrage dans le gout de la pluralite des mondes. Mais sera t'il aussi de badiner sur des matieres de Metaphysique que sur des sujets de physique?253

Mauclerc ist darüberhinaus skeptisch, was die Darbietungsform von La belle Wolfienne anbelangt - ohne den Roman zu kennen. Im Februar 1741 liest er ihn »avec plaisir«; doch bestätigt sich sein Vorurteil: Die Form paßt nicht zu dem komplexen Gegenstand, zur Wolffschen Metaphysik.254 Über Details ist Mauclerc offenkundig nicht informiert, so weiß er die Lettre sur l'immortalite de l'ame nicht zuzuordnen, vermutet aber, Isaac de Beausobre sei der Autor.255 Es scheint, als habe Mauclerc den Roman schnell und desinteressiert beiseite gelegt. Im Juni 1742 erwähnt er die deutsche Übersetzung des Romans,256 konzentriert seine Bemerkungen aber alsbald auf ein aus seiner Sicht für den Refuge wichtigeres Projekt: auf die Kurzfassung von Crousaz' ausführlicher Skeptizismus-Kritik Examen du Pyrrhonisme (1733), die Formey plant.257 Ganz anders verhält sich Manteuffel, der als »Aletophiler« ebenfalls viele Jahre mit Formey korrespondiert.258 Am 22. März 1741 täuscht er Bestürzung über die Kritik vor, der sich Formey aufgrund seines Romans ausgesetzt sieht. Manteuffel vermutet Maupertuis, den Wolff-Gegner, als Stichwortgeber hinter den Streitigkeiten.259 Auch im Namen Wolffs versucht Manteuffel, Formey -

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Paul Emil de Mauclerc an Jean Henri Samuel Formey, 74 Briefe, Stettin, 2.10.173724.8.1742. Staatsbibliothek zu Berlin/Preußischer Kulturbesitz. Nachlaß Formey. K. 27: Mauclerc, Paul E., [Bl. 1-91]. Ebd., Stettin, 5. Aout 1740, [Bl. 52] [Hervorhebung im Original]. Ebd., Stettin, 15. Fevr. 1741, [Bl. 62 u. 62\ hier Bl. 62]. Ebd., [Bl. 62"]. Ebd., Stettin, 22. Juni 1742, [Bl. 88 u. 88V, hier Bl. 88V]. Ebd., Stettin, 26. Juni 1741, [Bl. 67-68, hier Bl. 68]. Manteuffel an Formey. 10 Briefe, Larey, Berlin, Leipzig, 24. Xbre 1735-21.Juil. [17J48. Staatsbibliothek zu Berlin/Preußischer Kulturbesitz. Nachlaß Formey. K. 26: Manteuffel, Ernst v., [Bl. 1-17]. »Je ne sais quelles clameurs s'etoient clevees il y a quelque tems, contre vötre »Belle Wolfienne.« L'on m'a assure depuis que le fameux Maupertuis, peu favorable ä la Philosophie Wolfienne; qu'il n'a jamais pris la peine d'etudier; leur avoit donne le ton. [...] Tous ces ignorans ont beau dire, eile rendra un tres bon service ä la Verite, si vous continuez jusqu'au bout, comme vous avez commence. Ce n'est pas seulement mon sentiment. C'est celuy de Mr. W. meme qui m'ecrivit, il y a quelque tems, une assez longue lettre, öu il parloit de vötre Belle, et de son Auteur, avec des eloges, qui vous auroient fait plaisir, si j'avois eu l'esprit de vous en faire part, avant que de [rjasser sä lettre.« Ebd., Leipsig, le 22. Mars 1741, [Bl. 4-7, hier Bl. 6f.].

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gegen Voltaire u.a. - auf die »Aletophilie« einzuschwören. Kritiklos gegenüber dem, was er als > Leibniz-Wolffsches System< begreift, spricht er mit dem »eher grand Aumonier« über die Verbündeten, über Gottsched und die Gottschedin ein scherzhaftes commercium litte rarium.260 Dabei erreichen die Briefe ab 1748 eine neue Qualität, nämlich eine merkwürdig Nähe zu dem >Sektenmitglied< Formey. Rückblickend schreibt Manteuffel, der Kopf der »Aletophilen«, über La belle Wolfienne: Je suis persuade, que ce passage, ni quelques autres de la meme trempe/: glissez, par-ci par-lä, dans ce recueil:/ ne Vous seroient point echappez, si Vous aviez eu, en 1741.; excusez ma franchise! Des idees aussi justes de la Philosophie Wolfienne, que celles que Vous en avez aujourd'hui [sic!]. Car, pour le remarquer en passant, ce fut en [17]41. Qu'wn ami de Mr. F. se crut oblige, d'ecrire une lettre de Mr. P..., Jurisconsulte de Marb., ä Md. [['] Esperance de B., servant de re"ponse ä quelques objections de Mr. M...., Candidat de Halle, contre la Philosophie de notre Patriarche; et vous m'avouerez, que les passages en question assortissent parfaitement aux objections du dit Candidat. Excusez, encore une fois, la franchise de cette observation. Je n'ai pu la refuser ä mon zele indomtable pour la Verite.261

Den Gesinnungswandel Formeys, den Manteuffel bemerkt, führt er >offenherzig< auf eine Lettre zurück, deren Autor er angeblich nicht kennt. Denkbar wäre also, daß die entschuldigende Selbst-Rezension in der Bibliotheque Germanique tatsächlich auf eine Meinungsänderung Formeys schließen lassen könnte. Offensichtlich ist Manteuffel über Formey aber kaum im Bilde. Denn weder läßt sich dieser vollends zum Wolffianismus bekehren noch ist er dem Ansinnen gegenüber positiv eingestellt, das der anonyme Autor in der Lettre de Mr. P... Jurisconsulte de Marbourg A Mile. Esperance de B. Contenant la suite du Tome second de la >Belle WolßenneWolffianischen Sekte< ein: J'ai connu des personnes de distinction, & de bons Gentils-hommes, de la politesse desquels j'etois charme, & je le suis encore, dont j'honore le merite, & j'estime les talens; avec tout cela meconnoissables, des qu'ils s'agissent de leur Systeme, les repetitions ne leur coutoient rien; & quand on leur faisoit une objection, ils ne donnoient pour reponse que la These meme que combattoit; & ils citoient un passage de Mr. Leibnitz ou Wolff, avec la meme confiance que les Theologiens citent le vieux Testament, l'Evangile & les Peres.277

Im Angesicht solcher Gedankenlosigkeit erscheinen Crousaz die Skeptiker als weitaus sympathischer - ein spannendes Bekenntnis, das die Aufmerksamkeit auf seinen Examen du Pyrrhonisme lenkt.278 Die Reflexions scheinen nicht mehr als ein Beiwerk des Examen zu sein. Sie bestehen aus verschiedenen Teilen, deren Stellenwert oft nicht klar wird: aus einem fingierten Dialog zwischen einem Leibnizianer und einem Spinozisten über die Ähnlichkeiten eines auf notwendiger Determiniertheit (Leibniz) und eines auf bloßem Zufall ruhenden Systems (Spinoza), aus Briefen an Crousaz, aus einer Auseinandersetzung mit Manteuffel und aus Repliken auf La belle Wolßenne. Kern der Auseinandersetzung ist die bekannte Frage, wie das Übel in die Welt komme. In seiner Theodicee versucht Leibniz, diese und ähnliche Fragen einer Lösung zuzuführen, 279 die Crousaz nicht überzeugt.280 »Mr. P...« wird von Crousaz entsprechend nicht ernst genommen. Geradezu lachhaft sei die Ansicht, daß die Seele >der Deterministen< über ihre >Willensakte< (»volitions«) selbst entscheiden können solle: Voilä des expressions que Messieurs les Leibnitiens aiment ä lächer pour faire croire, que sur le sujet de la Liberte, ils pensent ä peu pres comme nous [...].2gl

Lösungen halte eine solche Philosophie nicht bereit, nur unklare Wortspiele,282 allgemeine und polemische Argumente, mit denen Leibniz und Wolff letztlich auf ihren Einfluß und auf ihre Anhängerschaft setzten.283 In der Frage nach den tugendhaften Atheisten - angespielt wird auf Wolffs Rede über die Sittenlehre der Chinesen - könnten die Leibniz-Wolffianer im Prinzip nur Bayle folgen. Letztlich müssen beide auf einen Gott vertrauen, der räche, was - nur zu menschlich - gegen die Vernunftgesetze und gegen die moralischen Gebote verstoße.284 Zwar seien die Leibniz-Wolffianer keine Spinozisten, aber »leur

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Ebd., S. 82 [Hervorhebungen im Original]. Ebd., S. 35. Lorenz: De mundo optimo (wie Anm. L, 73), S. 47-99. Crousaz: Reflexions (wie Anm. III., 275), S. 23-32. Ebd., S. 62f. Ebd., S. 26 passim. Ebd., S. 7 u. 36-44. Ebd., S. 73.

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maniere de Philosopher, familiarise avec le Spinosisme f...].«285 In beiden Systemen, demjenigen Spinozas, der die bloße Zufälligkeit natürlicher Ereignisse nachzuweisen suche, und demjenigen von Leibniz und Wolff, die die Notwendigkeit jeder Naturtatsache favorisierten, werde der einzig wahre Grund allen Lebens nicht erkannt, nämlich Gott:286 L'Etre etemel est par lui-meme infiniment heureux. Dans la felicite accomplie il n'a besoin de quoi que ce soit, & il s'est lui-meme determine ä creer, par un effet de sä conte toute libre & toute pure [...].287

Verblüffenderweise kommt Crousaz' Kritik an Wolff derjenigen der Hallenser Theologen sehr nahe. Beide Seiten beklagen die fehlende Handlungsfreiheit und damit auch das fehlende Bekenntnis zur Religion, das nur aus freien Handlungen erwachsen könne. Und lange bevor sich Manteuffel in die Materie von La belle Wolfienne einmischt, steht Formey darüber im brieflichen Austausch mit seinem Glaubensbruder Crousaz.288 Crousaz schätzt Wolff als einen der bedeutenden deutschen Gelehrten. Formeys publikumswirksame Berliner Vorlesungen über Wolffs Philosophie im Jahr 1739 und seine frühe Begeisterung für Wolff sind auch aus diesem Briefwechsel erklärbar.289 Im September 1741 sendet Formey Crousaz den zweiten Teil von La belle Wolfienne. Crousaz gebühre ein enormer Anteil an dem Werk, so schreibt Formey, und zwar nicht zuletzt, weil er ihn nach anfänglicher Begeisterung für Wolff zur »conversion« gebracht, von der Mangelhaftigkeit des Wölfischen Systems überzeugt habe.290 In der Zwischenzeit erscheint Manteuffels Lettre. Bereits im Oktober desselben Jahres setzt Formey Crousaz von der Autorschaft des »Aletophilen« hinsichtlich

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Ebd., S. 74 [Hervorhebung im Original]. 286 Ygj Hans-Jürgen Engfer: Teleologie und Kausalität bei Leibniz und Wolff. Die Umkehr der Begründungspflicht. In: Beiträge zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von Gottfried Wilhelm Leibniz. Hg. v. Albert Heinekamp. Stuttgart 1986 (Studia Leibnitiana; Supplementa 36), S. 97-109, vor allem S. 97. 287 Crousaz: Reflexions (wie Anm. HL, 275), S. 75. 288 Mit dem Abdruck eines Briefes von Crousaz an Formey (22.12.1739) bereits Werner Krauss: La Correspondance de Formey. In: Revue d'Histoire Litteraire de la France 63/2 (1963), S. 207-216, hier S. 213f. 289 Bislang galt Manteuffel als spiritus rector von Formeys Vorlesungen. Seydewitz: Ernst Christoph Graf Manteuffel (wie Anm. III., 33), S. 146f. 290 »Je crus devoir l'y [einen Brief von Crousaz gegen das Leibniz-Wolffsche System] inserer, pour voir quelle reponce les partisans de ce Systeme y seroient a mon arrivee ici j'ai trouve la piece c[']y jointe qui venoit de paroitre. Je vous la communique, Monsieur, [je] vous prie, si vous aves quelques moments de loisir d'y faire une courte reponce, que vous adresses ä Mr. Marchand ä la Haie, qui aura soin de la faire paroitre, avec la lettre meme. Je serois bien aise, comme c'est principalement ä vos lettres que les Wolfiens s'en prennent, que vous les relancies, & cela ne vous coutera pas beaucoup de peine car on ne peut rien lire de plus foible que cette brochure. Je suis bien revenu du Wolfianisme, depuis les premieres lettres que j'ai eu l'honneur de vous ecrire, & vous n[']aves pas peu contribue ä ma conversion.« Formey an Crousaz, Leipsic le 29.e 7.bre 1741. Bibliotheque cantonale et universitaire Lausanne, Fonds de Crousaz, IS 2024/XIV/3, [Bl. l, 2].

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der Lettre in Kenntnis. Freundlich, aber entschieden teilt er dem Vertrauten seine Meinung über den Grafen mit: Ce Comte est un fort beau genie & d'un Caractere fort aimable, mais par rapport ä la Philosophie il s[']y est mis trop tard pour en avoir de saines idees, & il s'est declare un des Pilieres du Wolfianisme sans scavoir trop bien ce qu'il soutient.29'

Formeys Urteil entspricht ganz dem oberflächlichen, doch arglosen Briefwechsel, den er mit dem Grafen unterhält. Crousaz reagiert postwendend; auch er kenne Manteuffel als angenehmen, aber einfältigen Gesprächspartner.292 Manteuffel ist für Formey, so scheint es, intellektuell nicht von Bedeutung, sondern zählt als ein Verhandlungspartner in Berlin. Ungleich wichtiger ist Formey das Urteil von Crousaz. In einem Brief vom 25. März 1745 schildert ihm Formey die Entstehung von La belle Wolfienne: C'est dans cet espece d'Enthousiasme [gemeint ist die Begeisterung für Wolffs Logik Ende der dreißiger Jahre] que je composai le l er. Tome de la belle Wolfienne. En avancant ensuite et dans etude du Cours Leibnitien, je m'apersus de quelques difficultes [sic] on m'en communiqua d'autres [...].2M

Das Verdienst, Formey von den ungelösten Problemen des Wolffianismus überzeugt zu haben, gebührt dem Glaubensbruder aus Lausanne. Noch in Formeys (Selbst-)Rezension aus dem Jahre 1743 klang die Einsicht ganz anders: Der einst so treue Wolffianer, der anonyme Autor von La belle Wolfienne, habe mit dem zweiflerischen zweiten Teil des Romans » allarme au Quartier Wolfien« ausgelöst.294 Es folgt, was zu vermuten war: Als Vermittler zwischen der >Leibniz-Wolffschen< und der Front der Kritiker hält der Rezensent beide Sichtweisen für übertrieben. Er maße sich keine Entscheidungsbefugnis darüber an. Obwohl sich Formey, folgt man dem Briefwechsel mit Crousaz, längst gegen Wolff und für Crousaz' Position entschieden hat, bleibt Formey vorsichtig: »[...] il [Formey] se borne ä faire la fonction de Rapporteur.«295 Nur einer fühlt sich von all diesen Streitigkeiten weder angegriffen noch getroffen: Wolff selbst. Noch im September 1753 dankt er Formey für den fünften und sechsten Band von La belle Wolfienne: [...] vor Ihre Mühe, die Sie anwenden, meine Philosophie bekannter zu machen denen, welche weder das Deutsche, noch das Lateinische lesen, und endlich vor die geneigte Erklärung ihrer aufrichtigen Meinung von derselben zu einer Zeit und an einem Orte da man durch eine betrügliche Autorität dieselbe verächtlich zu machen und das gute zu hindern sucht. Es sollte mir aber hierbey leid seyn, wenn Euer Hochedlen sich Schaden

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Formey an Crousaz, Berlin le 5.e X.bre 1741. Ebd., IS 2024/XIV/57, [Bl. 3]. Crousaz an Formey. Staatsbibliothek zu Berlin/Preußischer Kulturbesitz. Nachlaß Formey, K. 10, L. 21. XI. 1741, [Bl. 6]. Formey an Crousaz, Berlin le 25.e Mars 1745. Bibliotheque cantonale et universitaire Lausanne, Fonds de Crousaz, IS 2024/XIV/54, [Bl. 4]. Journal litteraire 2/2 (1743) (wie Anm. III., 273), S. 419. Ebd., S. 420.

140 und Verdruß zuziehen sollten, da der Tyrann noch immer seyn Werk in seinem Waffenträger hat, ob er gleich abwesend ist, und von seiner Art wohl nicht ablaßen wird, so lange er sich reget.296

Wolff fordert Formey im Blick auf La belle Wolfienne immer wieder zu Kritik auf; er schätzt den >Belletristen< als Diskussionspartner. Bei dem »Tyrann[en]verdächtigt< denselben Maupertuis, die Lettre verfaßt zu haben ein geschickter Zug, der, was Wolff anbelangt, offensichtlich von Erfolg gekrönt ist. Bereits in einem Brief vom 12. Juli desselben Jahres drückt Wolff sein Bedauern über die mißliche Kommunikationssituation und über Formeys geschwächte Position an der Akademie aus. Aus diesen Gründen beschreibt Wolff Maupertuis als Tyrannen und Leonhard Euler als dessen Handlanger.297 Formeys vermittelnde Aussagen müssen vor dem Hintergrund dieser Berliner Auseinandersetzungen gesehen werden. Er sucht sich seine Koalitionspartner, die »Aletophilen«, zu erhalten. Doch ist die Fraktion derselben nicht übermächtig. Formey weiß um die eingeschränkte Überzeugungskraft der »aletophilen« Gelehrsamkeit. Gerade deshalb gilt es aus seiner Sicht, nicht nur innerhalb dieser Gesellschaft zu wirken. Widersacher lauern in der Akademie: kluge Naturwissenschaftler wie Euler, den Formey - gegenüber Crousaz - durchaus schätzt. Außerhalb der Akademie schließlich, am Berliner Hof, waltet noch weit Problematischeres: die Philosophie von »Sans-Souci«, der Formey mit größter Distanz begegnet. Er hält ihr ähnliche Argumente entgegen, wie sie der Glaubensbruder Crousaz in der Auseinandersetzung mit den >Pyrrhonisten< entwickelt.

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Wolff an Formey. Halle, d. 30 Sept. 1753. Biblioteka Jagiellonska, Krakau. Sammlung Vamhagen [Bl. 1]. Wolff fragt, ob es wieder erlaubt sei, an Formey zu schreiben: »[...] wofern er nicht der Tyranne Eulern zum Aufseher und Ihrer Substituten zum Schreiber bestellt, der in ein Tagebuch eintragen sol, was in seiner Abwesenheit ihm unleidliches pashiert. [...] Euler wird nun bey der Akademie maupertinisch herrschen wollen; allein ich sollte meinen, er wäre nicht so fürchterlich wie der alte Capitain, deßen Lieutnant er ist.« Wolffan Formey, Halle, den 12 Jun. 1753. Ebd., [Bl. l, 2].

IV. Christliche Glückseligkeit: Gegner der Skepsis von 1730 bis 1775 Die Skepsis erscheint nicht nur Crousaz als spannender und als gefährlicher verglichen mit der Philosophie der >Wolffschen SekteZweifler< in Deutschland fast nie in ein Bekenntnis zu skeptischen Lehren. Vielmehr widerlegt man die Skepsis entschieden. Aus diesen Widerlegungsversuchen entsteht eine Literatur, die der polemischen Theologie vorhergehender Jahrhunderte in nichts nachsteht, was die Schärfe der Auseinandersetzung anbelangt. Auf diese Weise wirken skeptischen >philosophes< auf die deutsche Literatur: allerdings nicht durch unmittelbar, sondern ex negativo, nämlich durch die Ablehnung, die sie hervorrufen. Dabei kann die Partei der Wolffianer zwar an eine vormals stabile naturrechtliche Systematik anschließen. Durch die >Wolffsche Sekte< wird ein zunächst mit Regierungsgewalt befehdetes, dann aber anerkanntes System verbreitet und vervollständigt. Es bewährt sich zunächst im geheimen Austausch und schließlich durch eine offensive Wissenschaftspolitik an den Akademien und durch Publikationen. Reformierten Gelehrten aber gilt die eigene Glaubensgruppe dennoch als wichtiger Kommunikationszusammenhang, auch wenn sie - wie Formey - zugleich mit den verschiedenen Parteiungen an der Akademie in Verbindung stehen. Sie bringen die Skepsis - nicht nur in Form der geläufigen Bayle-Widerlegungen - als Herausforderung mit nach Deutschland. Über Bayle hinaus wittern reformierte Gelehrte die Zweifler, die Skeptiker, die Nachfolger von Pyrrhon und Carneades, die >Libertins< und >philosophes< überall. Die Vorstellungen dieser >philosophes< bestimmen eine beträchtliche Anzahl moralischer Publikationen des achtzehnten Jahrhunderts. Zum Zweck einer wirksamen Verurteilung der >schädlichen< Philosophie verbreiten deutsche und französisch-reformierte Gelehrte Argumente und Po-

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Zur wachsenden Sympathie, die Friedrich für die skeptische Philosophie empfindet, Stefan Lorenz: Friedrich der Große und der Bellerophon der Philosophie. Bemerkungen zum »Roi Philosophe« und Pierre Bayle. In: Friedrich II. und die europäische Aufklärung. Hg. v. Martin Fontius. Berlin 1999 (Forschungen zur Brandenburgischen und Preussischen Geschichte, NF 4), S. 73-85.

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lemiken gegen die > feindliche Lehre< über ein weitläufiges Kommunikationsnetz, das wesentlich durch volkssprachliche Rezensionsorgane gestützt ist.2 Seit 1720 verfassen und sammeln beispielsweise die in Berlin lebenden Refugianten, was ihnen aus Deutschland für eine größere und der französischen Sprache mächtige Gelehrtenwelt als lesenswert erscheint.3 Zugleich führen sie die neueste Literatur aus anderen Ländern, besonders aus Frankreich, nach Deutschland ein (L). Als moralische Basis gilt dabei, was unter einen ganz unterschiedlich bestimmten Begriff der Glückseligkeit fällt (2.). Auf die >neuen Lehren< reagieren Reformierte mit einer Flut von Gegenschriften. Von Crousaz stammt die wohl umfassendste Widerlegung pyrrhonistischen Denkens überhaupt (3.). Vermittelt über Haller findet sie Eingang in die deutsche Literatur. Dieser wiederum will sich weder den Skeptikern noch den Wolffianern verschreiben. Entschlossen hält er an dem fest, was die Zeitgenossen zunehmend als verloren betrachten: an der reformierten Kirche und am protestantischen Glauben. So anachronistisch Hallers religiös-philosophische Schriften wirken, so sehr versucht er doch, den eigenen (religiösen) Überzeugungen ohne Rücksicht auf die neuen Fraktionsbildungen gerecht zu werden (4.).

l. Moralische Selbstverteidigung der >journalistes< gegen die >philosophes< Verglichen mit älteren Journalen, mit der Bibliotheque raisonnee und mit der Bibliotheque Germanique, ändern sich in den vierziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts wesentliche Merkmale der Journale aus dem (französisch-)reformierten Spektrum. Das Nachfolgeorgan der Bibliotheque Germanique beispielsweise, dieNouvelle Bibliotheque Germanique, tritt im Jahr 1746 aus der Anonymität heraus und nennt ihre Beiträger. Während die Bibliotheque Germanique diese im Mittel der Anonymität vor Angriffen von Seiten der Zensur und des Klerus' schützen wollte, wird dieser Schutz nun nicht mehr benötigt. Mehr noch: Daß man die Anonymität aufhebt, hat erfreuliche Folgen für die Kommunikation, denn das Journal wird jetzt mit seinen Herausgebern und Beiträgern verbunden.4 Eine Profession journalistisch umtriebiger Gelehrter ent-

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Ähnliches ist für Frankreich belegt. Vgl. Bob Harris: Politics and the rise of the press. Britain and France, 1620-1800. London u. New York 1996, S. 52. Nicht zu den Journalen der Berliner Refugianten, aber über Fragen des Literatur-Importes und -Exportes Pierre-Andre Bois, Roland Krebs u. Jean Moes (Hgg.): Les lettres franchises dans les revues allemandes du XVIIIe siecle/Die französische Literatur in den deutschen Zeitschriften des 18. Jahrhunderts. Bern u.a. 1997 (Convergences 4). Goldgar berschrieb, inwiefern das Journal als »person« und »personality« für die Gelehrtenrepublik relevant ist: »Ironically, however, the very same view of journals which in some ways made them most useful in other ways undermined their usefulness. If periodicals were viewed as people, empowered through their authority to give publicity

143 steht. Formey wird - wie auch Gottsched - als »professioneller Publizist, vielleicht schon als Wissenschaftsjoumalist« angesehen.5 Als Journalisten und als gelehrte Persönlichkeiten stehen beide für bestimmte Werte ein. Diese Werte kommen aber längst nicht mehr nur auf dem Gebiet der Moral zum Tragen. So nimmt beispielsweise das Interesse am Ästhetischen erheblich zu. Es entspricht den literarischen Entwicklungen der Zeit, trägt aber auch zur Auflösung des von den Reformierten betriebenen Journalismus' bei, denn dieser speiste sich wesentlich aus den gemeinsam geteilten religiösen und moralischen Überzeugungen. Darüberhinaus bedrohte aber auch die grassierende >Zweifelsucht schöne Literatur^25 Mit der Erwähnung der Reformation spielen die Herausgeber auf all das an, was die Refugianten zusammenhält. Typischerweise blicken sie von dort, von einer Errungenschaft moralischen >Fortschrittsveralteten< Lehren der Kirchenväter zurück. In Fragen der Moral nähmen nurmehr die > gelehrten Doktoren < den Platz der Kirchenväter ein, indem sie im Rahmen der Rechtswissenschaft die wahren Prinzipien, nämlichen diejenigen der vernünftigen und diejenigen der natürlichen Religion entdeckten.26 Die deutsche Literatur ist für die Refugies so bedeutsam, weil sie ein tolerantes Naturrecht entwickelt.27 Ausdrücklich stellt

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Rathlef: Formey (wie Anm. II., 52), S. 304. Pott: »Critica perennis« (wie Anm. L, 69). Die »Bibliotheque angloise« beschreibt ihre Leser als »Personnes qui aiment les belles Lettres«; zu ihren Prinzipien gehören die folgenden: »[...] une exacte neutralite ä l'egard de tous les Parties qui regnent dans cette Isle, & j'entretiendrai le Public de touts sorte d'Ouvrages, soit qu'ils viennent des Orthodoxes rigides ou des Tolerans, des Whigs ou des Toris, & des Heretiques meme.« Avertissement. In: Bibliotheque Angloise, ou Histoire litteraire de la Grande Bretagne, Par M.D.L.R., l (1717), unpag. [)("]. Rathlef: Geschichte Jetztlebender Gelehrter (wie Anm. II., 52), S. 305; zur Anlage der Bibliothek Goldgar: Impolite learning (wie Anm. I., 35), S. 73f. Preface. In: Bibliotheque Germanique l (1720), S. IV. Ebd., S. V. Das sei ungefähr der jetzige Zustand Deutschlands. Aus diesem Grund will die »Bibliotheque« die deutschen Wissenschaften und vornehmlich das Naturrecht besprechen; als vorbildliche Lehrer des Naturrechts werden Grotius, Pufendorf, Thomasius und Budde genannt. Ebd., S. VI.

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sich die Bibliotheque Germanique in den Kontext dieser Debatte über eine natürliche Moral für alle Protestanten. Die journalistische Ethik des Unternehmens korrespondiert der Morallehre, auf die sich das Interesse der Herausgeber richtet: Les Joumalistes se reservent la liberte de faire modestement leurs remarques, & ils en avertiront en marge, lorsqu'elles seront de quelque etendue, ou qu'on s'ecartera des principes de l'Auteur de la piece. On espere que les Savans voudront bien concourir ä l'execution d'un dessein, oü a point d'autre but que l'utilite du Public; en communiquant ce qu'ils auront de plus curieux aux Auteurs de ce Journal, & les honorant de leurs avis & de leurs lumieres.28

Leser aller Stände sollen aktiv an der Bibliothek teilhaben, Publikationen und Beiträge senden. Um sich das Interesse eines großen Leserkreises zu sichern, soll zugunsten der Beiles Lettres auf religiöse Kontroversen verzichtet werden. Gleichwohl bildet der Refuge (und damit die reformierte Kirche) den Horizont der Bibliothek. Die Gewissensfreiheit werde außerhalb der Grenzen Frankreichs gesucht, so preisen die aus Frankreich geflohenen Herausgeber ihr Unternehmen.29 Unionistischen Projekte schätzen sie aber gerade aufgrund dieser Erfahrungen als naiv ein. So nehmen die Journalisten einen anonymen Beitrag, der sich dem unionistischen Projekt verschreibt, zwar auf, lehnen dieses Projekt aber ab. Die Gemüter und die Ansichten der Menschen seien zu verschieden, um auch nur die Protestanten in Glaubensfragen zu einigen. Mit solchen Einschätzungen wird einmal mehr deutlich, wie sich der Berliner Refuge von so umtriebigen irenischen Denkern wie Barbeyrac unterscheidet. Zwar will man vermittelnd tätig sein, aber nicht um den Preis der eigenen Kirche. Mit dem anonymen Unionisten - La Placettes Schriften sind dessen wichtigste Bezugsquelle - plädiert die Bibliothek aber doch für natürlich-vernünftige Regeln der societas civi/is.30 Das Interesse an solchen natürlichen Regeln und Rechten zeigt sich auch in den Rezensionen:31 Besprochen werden zwar in erster Linie die Schriften reformierter Glaubensbrüder, aber auch manche Publikation von Thomasius, von dem Wolff-Schüler Daniel Nettelbladt und von Isaac Iselin. Auch dem Leben und Werk des Thomasius-Schülers Gundling ist ein Beitrag gewidmet.32 In der Regel wägen die Rezensenten zwischen den Positionen ab anders als die Rezensenten der Journale Gottscheds.

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Ebd. Avertissement. In: Bibiliotheque Germanique 3 (1721), S. Hf. Avertissement des Joumalistes. In: Bibliotheque Germanique 6 (1733), unpag [2']. Einige Rezensionen sind in die Argumentation dieser Arbeit eingebunden. »Une foule de Disciples, parmi lesquels on comptoit nombre de personnes du rang le plus distingue, applaudit constamment au Professeur, depuis son entree dans l'Universite jusqu'ä la fin. Le promt debit des Ouvrages qu'il faisoit imprimer lui repondoit de l'approbation du public plus surement encore que les louanges qu'il recevoit de toutes parts. On voudroit pouvoir ajouter, qu'il observa toujours dans ses Berits les regies d'une moderation Philosophique & Chretienne. Mais il faut convenir que porte naturellement ä

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Das unmittelbar auf die Bibliotheque Germanique folgende Journal litteraire de l'Allemagne de Suisse et du Nord wird von den Herausgebern der vorhergehenden Bibliothek geführt. Geändert hat sich nur der Titel; Absichten und Themen sind gleichgeblieben. Auch mit der Nouvelle Bibliotheque Germanique beschreitet man keine neuen Wege. Vielmehr sind die Herausgeber der Ansicht, das Unternehmen müsse als »journal utile & accredite« nicht noch einmal gerechtfertigt werden.33 Im Jahr 1759 erscheint der insgesamt 50. Band in der Reihe dieser Bibliotheken. Als verantwortlicher Hauptredakteur blickt Formey Bilanz auf seine Tätigkeit für die drei Journale zurück: [...] j'ai toujours eu pour but la Verite & le Bien public; & que si j'ai deplü ä quelqu'un, ou offense qui que ce soit, 93 ete tres involontairement, ou parce qu'on ne m'a pas rendu la justice ce que j'aurois meritee.34

Damit ist das eingangs festgelegte Ziel des »bien public« nochmals bestätigt. Auch die Interessen des Journals sind konstant geblieben.35 Besprochen werden u.a. Neuerscheinungen aus den Gebieten des Rechts (Wolff, Pütter) und aus der reformierten, aus der rationalistisch-aufgeklärten Theologie (Werenfels, Turretini). Die Schweizer Rechtsschule ist mit Vattel und Loys de Bochat vertreten. Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica allerdings gehört nicht zum Corpus der gewöhnlich besprochenen Morallehre. Dennoch wird sie sehr aufmerksam und positiv betrachtet. Die >philosophes< hingegen, Voltaire, Montesquieu und Rousseau, kritisiert man energisch. Demgegenüber und im Vergleich zu Formeys Rückblick im letzten Band der Nouvelle Bibliotheque Germanique klingt seine Einleitung zur Bibliotheque impartiale ernüchtert. Mit der neuen Bibliothek will er nur noch die »Gens de Lettres« ansprechen, weil die übrigen Lesergruppen auf die journalistischen Unternehmungen nicht in erhoffter Weise reagiert hätten: II s'en faut beaucoup que les meines circonstances favorisent la publication des Journaux Litteraires. II n'y a presque aucune Classe des Lecteurs, qui y prenne un interet bien vif. Le Peuple, qui ne se promet aucun fruit de leur lecture, ne l'entreprend pas. Les Grands, occupes de tout autre soin, en regardent ä peine nonchalamment le litre, & poussent rarement effort jusqu'ä le conserver dans leur memoire. II ne reste done que les Gens de Lettres; & il est rare que le debit qu'ils procurent enrichisse les Libraires.36

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la satire, il eut trop de cette sensibilite literaire qui souvent fait oublier aux plus grands hommes dans la pratique les Lemons de politesse qu'ils savent si bien donner aux autres.« Siehe die »Memoires sur la Vie & les Ouvrages de M. Nicfolaus] H[ieronymus] Gundling.« In: Bibliotheque Germanique 23 (1732), S. 144-154, hier S. 150. Preface. In: Nouvelle Bibliotheque Germanique l (1746), unpag., [2V]. Avertissement de l'Auteur. In: Nouvelle Bibliotheque Germanique 25 (1759), unpag., Für eine detaillierte Übersicht über die Rezensionen vgl. [Jean Henri] Samuel Formey: Nouvelle Bibliotheque Germanique, ou Histoire litteraire de I'Allemagne, de la Suisse, & des Pays du Nord [...]. Tome vingt-sixieme, qui contient La table generale des matieres contenues dans les Vingt-cinq Volumes precedens. Amsterdam 1740. Preface. In: Bibliotheque impartiale l (1750), unpag. [)('].

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Trotz dieser skeptischen Wende< hinsichtlich der Wirkungsfrage zielen die Journalisten auf »la tranquillite publique, le bonheur des conjoncturels.«37 Doch sind Veränderungen festzustellen, berücksichtigt man solche Texte, die in beiden Journalen, in der Nouvelle Bibliotheque Germanique und der Bibliotheque impartiale, besprochen werden. Hinsichtlich von Diderots Lettres sur les aveugles etwa bleibt das abwertende Urteil in dem Nachfolge-Organ erhalten. Demgegenüber loben die Journalisten Geliert, Fontenelle und Haller. Bezeichnenderweise ändert sich die Einschätzung eines zentralen Werkes: des De l'Esprit des Loix (1748). Das neue Journal beginnt mit der Rezension dieser prominenten Schrift, weil, so lautet die vorsichtige Begründung für die Wahl, derzeit kein interessanteres Buch zu finden sei.38 b) Die Journale Johann Christoph Gottscheds:

Neuer Büchersaal (1745-1750) und Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit (1751-1762) Anders als noch in der Nouvelle Bibliotheque Germanique wird Montesquieus Werk in der Bibliotheque impartiale uneingeschränkt positiv beurteilt.39 Demgegenüber bemängelt der Rezensent der Nouvelle Bibliotheque Germanique, daß der naturrechtliche Begriff der »ratio« durch den neuen Begriff des »esprit« ersetzt werde.40 Die Bibliotheque impartiale hingegen führt diesen Einwand nicht mehr ins Feld. Im Neuen Büchersaal und in anderen Zeugnissen der deutschen Montesquieu-Rezeption wird demgegenüber ebenso wie in der Nouvelle Bibliotheque Germanique geurteilt.41 »Man bewundert die Ueberschrift, zumal wenn sie ein wenig dunkel und unverständlich ist [...],« notiert der Rezensent des Neuen Büchersaals.42 Gerade wegen der dunklen Begrifflichkeit fehle dem Esprit jede methodisch kontrollierbare Grundlage. Die Absicht des Werkes sei daher nur schwer zu erschließen.43 Aufgrund dieser Defizite schlägt der Rezensent der Nouvelle Bibliotheque Germanique gar einen neuen Namen

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Ebd. Ebd. Ebenfalls positiv besprochen wird die »Defense de l'Esprit des loix. Geneve 1750.« In: Ebd. Zur Aufnahme des »Esprit« auch in »L'Abeille du Pamasse« Smith: J.H.S. Formey (wie Anm. III., 24), S. 138f. Trotz der Kritik könne der »Esprit« bei Formey bezogen werden, so vermerkt eine Rezension in den »Frankfurtischen Gelehrte[n] Zeitungen« aus dem Jahr 1749. Dazu Frank Herdmann: Montesquieurezeption in Deutschland im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Hildesheim u.a. 1990 (Philosophische Texte und Studien 25), S. 249. Neuer Büchersaal 9 (1750), S. 479-485; Herdmann: Montesquieurezeption (wie Anm. IV., 40), S. 238-240. Neuer Büchersaal 9 (1750), S. 479^85, hier S. 480. Montesquieu, so heißt es weiter, argumentiere widersprüchlich und vornehmlich mit Hilfe von Beispielen. Ebd., S. 485.

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für das eigenartige und weitschweifige Werk Montesquieus vor. Ausgerechnet diese Weitschweifigkeit läßt das Werk aber für die Bibliotheque raisonnee als interessant erscheinen. Montesquieu wird gelobt, weil er auf eine umfassende Erreichung der Glückseligkeit abziele: Le bonheur du Monde entier est l'objet de ses voeux, c'est le sujet de ses recherches, de ses veilles & de ses travaux.44

Demgegenüber kritisiert der Neue Büchersaal den Montesquieu-Text in jeder Hinsicht. Als typisch für die Gottsched-Journale erweist sich dabei die verallgemeinernde Kritik an der französischen Literatur. Der Rezensent vermißt die fehlende (deutsche) Gründlichkeit hinsichtlich der Anlage der Gedanken und der Argumente.45 Parallelitäten zu Journalen des Berliner Refuge ergeben sich dennoch im Blick auf den Wandel der Programmatik: Der Neue Büchersaal ist zwar in erster Linie gelehrt, aber auch volksaufklärerisch angelegt; für Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit ist demgegenüber eine nüchterne Sicht auf den Erfolg solcher Unternehmungen kennzeichnend.46 Mit beiden Journalen geht es Gottsched allerdings um das Gleiche, »um periodische Publikationen allgemeinbildenden Gepräges,« um eine »zwanglose, unterhaltsame Belehrung,« die auf das Unterhaltungsbedürfnis eines Laienpublikums reagiere,47 und durch ein »strong didactic element« vermittelt sei.48 Gottsched billigt die Philosophie der französischen Aufklärung dabei ebensowenig wie Formey.49 Allerdings spielt die kulturpatriotisch begründete Abneigung gegen die Franzosen - anders als für Formey - für Gottsched eine große Rolle.50 Gerade deshalb unterscheidet er zwischen den >philosophes< und den französischen

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Bibliotheque raisonnee 43 (1749), S. 201-224, hier S. 201; weiterhin ebd., S. 373^08. Neuer Büchersaal 9 (1750), bes. S. 480-485. Knappe Darstellungen zu diesen beiden Zeitschriften Gottscheds finden sich in: Peter M. Mitchell, Johann Christoph Gottsched. In: Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hg. v. Benno von Wiese. Berlin 1977, S. 35-61, hier S. 51f.; Schatzberg: Gottsched as a popularizer of science (wie Anm. L, 74), S. 770 passim; Winkler: Johann Christoph Gottsched (wie Anm. L, 74), S. 149 passim. Winkler: Johann Christoph Gottsched (wie Anm. L, 74), S. 149. Schatzberg: Gottsched äs a popularizer of science (wie Anm. L, 74), S. 770. Beispielsweise die Rezension über die Jahrbücher der Berliner Akademie: »Voritzo hat sich die berlinische Societal aus einer Lateinischen oder Deutschen, fast in eine Französische verwandelt.« Neuer Büchersaal 3 (1746), S. 73-74. Kritisiert wird die Ansicht, nur das Französische werde überall verstanden. Der Rezensent plädiert dafür, die latinisierte Gelehrtenrepublik sehr viel mehr zu schätzen.. Doch nimmt Gottsched, der verantwortliche Herausgeber, die aus Frankreich stammenden Vorschläge regelmäßig wahr, wie etwa die Aufnahme der >Querelle des Anciens et des Modernes< zeigt. Dazu Thomas Pago: Gottsched und die Rezeption der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. Untersuchungen zur Bedeutung des Vorzugsstreits für die Dichtungstheorie der Aufklärung. Frankfurt/M. u.a. 1989 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur 1142). Ball: Moralische Küsse (wie Anm. III., 126), S. 134.

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Sympathisanten Wolffs an der Berliner Akademie.51 Um eine >Leibniz-Wolffsche Koalition< auszubilden, wird der rationalistische Typ der in französischer Sprache verfaßten Philosophie in den Übersetzungen - vor allem Luise Gottscheds - dargeboten und gelobt.52 Angeblich ohne zu wissen, wer der Herausgeber sei, preist der Rezensent im Neuen Büchersaal beispielsweise Formeys Journal L'Abeille du Parnasse. Begrüßt wird die Wahl der Beiträge und auch die Aktivität für die Verbreitung jener »metaphysischen Wahrheiten« der »Leibniz-Wölfischen« Philosophie.53 Wie Formey steht Gottsched mit seinen Journalen auf der »Mittelstraße« zwischen den Parteien,54 allerdings mit deutlicher Neigung zur »Aletophilie«. So ist auch der hohe Anteil französischer Literatur in den Journalen Gottscheds zu erklären. Von allen Beiträge des Neuen Büchersaals sind 149 der deutschen Literatur, aber immerhin 83 der französischen Literatur gewidmet.55 Konjunktur haben - neben den Publikationen der französisch-reformierten Akademiemitglieder - vor allem die Schriften Fontenelles. Aus dieser Vielfalt der Beiles Lettres, bezieht die neue Zeitschrift ihr Geltung. Noch fehle den >schönen Künsten< ein Journal; mit dem Neuen Büchersaal soll ein solches

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So Catherine Juillard: La reception des »Songes philosophiques« du marquis d'Argens dans la revue de Gottsched »Neuer Büchersaal der Schönen Wissenschaften und Freyen Künste«. In: Les lettres fra^aises dans les revues allemandes du XVIIIe siecle. Hgg. v. Bois, Krebs u. Moes (wie Anm. IV., 3), S. 221-240. Bauer: Die Anfänge der Berliner »Academic« (wie Anm. IV., 7), S. 1427. »Beweise vom Daseyn Gottes, nach dem Begriffe aller Unstudirten eingerichtet.« - »Dieses schöne Stück haben wir dem Herrn Prof. Formey zu danken. Hier sieht man, wie die tiefsinnigsten und gründlichsten Beweise, die ein Leibnitz und Wolf in ihrer Philosophie gebraucht, unter seinen Händen eine allgemeinere Kraft bekommen; und auch diejenigen Leser rühren können, die sonst mit metaphysischen Wahrheiten nicht bekannt sind. Diese Schrift ist zu unsern Zeiten desto nützlicher, da so viele Geister sich, bey aller ihrer Unfähigkeit, zu Freygeistern aufwerfen, und Wahrheiten umstoßen wollen, deren Beweise sie noch niemals haben untersuchen wollen, oder zu prüfen geschickt gewesen.« Neuer Büchersaal 10 (1750), S. 157-178, hier S. 157. Auch die Übersetzungen der Akademiegeschichte durch die Gottschedin sind voll des Lobes für Formey - etwa in einem Beitrag über die Freiheit: »Hier finden wir die gesunden Begriffe der neuern Weltweisheit; welche lehret: daß bey allen Bestimmungen oder Lenkungen unsers Willens ganz nothwendig Bewegungsgründe vorhanden seyn müssen; und was dieselben für einen Einfluß und für eine Wirksamkeit haben. Er geht hier die rechte Mittelstraße zwischen der Nothwendigkeit eines Collins, und einer entgegengesetzten Einbildung der Epikurer; die wie in ihre Stäubchen, also auch in der Bewegung des Willens, Veränderungen ohne zureichenden Grund annehmen. Leibnitz war diese Mittelstraße schon gegangen, und Hr. Prof. Formey setzt seine Lehren hier in ein neues Licht.« Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, Mai (1751), S. 322. Winkler: Johann Christoph Gottsched (wie Anm. I., 74), S. 150. Eine Übersicht über die Beiträge und ihre Verfasser findet sich in Ball: Moralische Küsse (wie Anm. III., 126), S. 378-474. Die genannten Zahlen ergeben sich wie folgt: für die französische Seite werden alle Beiträge über die französische Literatur und Übersetzungen, für die deutsche Seite hingegen alle Beiträge über die deutsch bzw. deutsch-sprachige Literatur gezählt. Geteilt erschienene Rezensionen werden doppelt gezählt.

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vorgelegt werden.56 Denn kein »wohlerzogener artiger Mensch«, so heißt es, dürfe die Unterrichtung in den >schönen Wissenschaftern versäumen. Dabei wird ein neuer Adressat für das Periodicum entworfen: Auch die sogenannten Unstudirten, die weder mit dem Predigen, noch Proceß führen und Urtheilsprechen, noch mit Krankenbesuchen ihr Broodt verdienen wollen, bekümmern sich um Bücher, und neue Sachen; und wollen wenigstens zu einem anmuthigen Zeitvertreibe etwas lesen.57

Als Folge der Beiles Lettres werde die Gelehrsamkeit aber bedauerlicherweise nicht mehr so »handwerksmäßig getrieben« wie zuvor.58 Mit dem Journal soll dieses Handwerk zurückgewonnen werden, so lautet sein philologisches Programm.59 Objektivität soll gewahrt werden, »critische Billigkeit und Leutseligkeit« gelten als Tugenden.60 Entsprechend werden Gelehrte als Rezensenten bestellt, »die mit gründlicher Gelehrsamkeit ein reifes und männliches Urtheil verbinden.«61 Gleichwohl soll dem »Geschmack« der Leser entsprochen werden: »[...] gar zu trockene[] und ernsthafte[] Sachen« werden aus der Bibliothek ausgeschlossen.62 In Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit wird der Leser sogar als »Liebhaber« der schönen Wissenschaften beschrieben, der den bloßen »Zeitvertreib« suche:63 [...] solche Leser aber sind zuweilen begierig, zu erfahren, was in der gelehrten Welt Neues vorgeht, daran sie einen artigen Zeitvertreib finden könnten. Sie überlassen die theologischen, juristischen und medicinischen Schriften gern denen, die ein Handwerk daraus machen. Sie suchen kein Brod mit ihrem Wissen zu verdienen, lieben aber ein gutes Buch, als einen aufgeweckten Freund, der ihnen einige Stunden auf eine beliebte Art zubringen hilft.64

Diesen Zeitvertreib wollen die Journalisten aber nicht mit unter moralischem Aspekt problematischen Mitteln fördern:65 »[...] weder übermäßige Lobsprüche, noch Satiren verschwenden, sondern uns in der Mittelstraße erhalten,«66 so

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Geneigter Leser. In: Neuer Büchersaal l (1745), S. 3-10. Ebd., S. 7. Ebd. Dazu auch Ball: Moralische Küsse (wie Anm. III., 126), S. 138. Geneigter Leser. In: Neuer Büchersaal l (1745), S. 3-10, hier S. 7. Ebd., S. 9. Ebd. Vorrede an den geneigten Leser. In: Das Neueste l (1751), S. 3-6, hier S. 3. Ebd. »Kurz, wir wollen alle erlaubten Mittel gebrauchen, unsern Lesern zu gefallen, und, so viel, als möglich ist, niemanden zu beleidigen. Werden wir also von gewissen Schriften, die gleichfalls neu sind, und sonst wohl in unser Feld gehören würden, nichts Gutes zu sagen wissen: so wollen wir sie lieber gar nicht mit Stillschweigen übergehen. Nur wenn sie offenbar zur Verderbung des Geschmackes abzielen: so werde wir zuweilen davor warnen; damit sich niemand durch blendende Ueberschriften betriegen lasse.« Ebd., S. 6. Ebd., S. 5.

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faßt man das Programm zusammen. Im Falle La Mettries, des >bösesten< und zugleich lächerlichsten aller Skeptiker, wird mit dieser Vorgabe gebrochen.67 Heftige Polemik ist dem Auszug eines Schreibens aus Berlin, von einer zerbrochenen aasigen Maschine zu entnehmen.68 La Mettrie wird als als »ungezähmter Freygeist« beschrieben, der »[...] für seine einziggeglaubte irdische Glückseligkeit sorget.«69 Der Nekrolog über den »philosophe« ist in Anlehnung an eine Rezension zu La Mettries L'komme plante (1748) verfaßt. In der Rezension über die Schrift wird eine Kritik formuliert, die sich satirisch auf den Tod La Mettries beziehen läßt: erstens berücksichtige La Mettrie nicht, daß die Menschen über die übrigen Geschöpfe der Natur erhaben seien, denn der Mensch werde bei ihm bloß als »linnaeische Pflanze« aufgefaßt.70 Zweitens spreche La Mettrie von Ähnlichkeiten zwischen Menschen und Pflanzen, die nicht stimmten, und drittens enthalte die Schrift eine Fülle von Widersprüchen.71 Die Satire in Das Neueste zielt auf das mißliche Schicksal des Gelehrten - ein Verfahren, das immer wieder angewandt wird, um die >philosophes< in Verruf zu bringen. Ein weiteres Beispiel, die Rezension zu Diderots schon angesprochener Lettre d'un Esprit eclaire aux aveugles de ce Siede, bestätigt diese Vermutung. Es sei notwendig, »[...] freygeisterische Schriften, ihrem ärgerlichen Inhalte nach, bekannt zu machen,« um Einsicht in ihre Fehler und Unwahrheiten zu geben - so wird das Interesse an Diderots Schrift gerechtfertigt.72 Doch ist es dem Rezensent weniger um den Inhalt der Schrift zu tun. Ihr Inhalt wird nicht reflektiert, sondern verurteilt. Statt über den Text selbst wird über das traurige Schicksal des Verfassers informiert, »[...] dadurch alle die zu warnen, die ihm etwa auch in Deutschland ähnlich seyn möchten.«73 Zuerst erzählt der Rezensent abschreckende Beispiele aus der Biographie Diderots. In einem zweiten Schritt stellt er die philosophischen >Unwahrheiten< seiner Texte verknappt dar. Aus einer erschreckenden Biographie schließt er - drittens - auf die Qualität der Texte: Diderot sei verhaftet und gefangengehalten worden, weil von seinen Schriften Bedrohungen ausgingen. Denn er schreibe »gefährliche Bücher.«74 Viertens wird die Leidensgeschichte des Philosophen durch eine Analogie bestätigt. Der Rezensent vergleicht das Schicksal Diderots mit dem eines Franzis-

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Winkler: Johann Christoph Gottsched (wie Anm. I., 74), S. 181. Das Neueste, Dezember (1751), S. 899f. Ebd. Ebd. »Eines gelehrten Kräuterkundigen zufällige Anmerkungen, über die berüchtigte Schrift, >L'homme plantephilosophes< wettern, die Gedanken der gemeinschaftlichen Glückseligkeit und der Theodizee betonen - sie können die neue Philosophie nicht aufhalten.77 Vielmehr läßt sich nurmehr nüchtern feststellen, »daß die Menschen gar zu eigennützig sind, als daß sie es ohne Murren hören könnten, daß ihr besonderer Vortheil dem gemeinen Besten untergeordnet seyn soll.«78 Nach Gottsched hat sich ein Egoismus durchgesetzt, der keinen der überlieferten Werte dulde. Das teils gemeinsam mit Formey unternommene Projekt einer Verteidigung des >Leibniz-Wolffschen Konsensesprästabilierten Harmonie< und von der >TheodizeeLeibniz-Wölfischen Konsense80 Herausgefordert wird dieser in vieler Hinsicht bloß taktische Konsens einiger »Aletophiler« Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in besonderer Weise durch den verhaßten La Mettrie.81 In L'ecole de la volupte (1746), L'Anü-Seneque ou le souverain bien (1748) und seinen Systeme d'Epicure (1749/1750) nutzt La Mettrie die Beschäftigung mit Seneca für das >EndzweckVerortung< der Marquise verliert sie die zeitgenössischen Ideen aber aus den Augen. Die Marquise strebt gerade nicht an, biographische Daten in einem Text über den »bonheur« ins Zentrum zu rücken. Vielmehr entwirft sie eine Verhaltensethik für eine bestimmte Gruppe, »[pour] les gens du monde, c'est-ä-dire pour ceux qui sont nes avec une fortune toute faite, plus ou moins brillante, plus ou moins opulente.« Marquise du Chätelet: Discours sur le bonheur. Paris 1997, S. 36. Diese Lehre hätte in der zeitgenössischen Diskussion Konflikte hervorrufen können, wenn sie publiziert worden wäre, weil die Marquise mit ihrer Zuordnung einer gruppenspezifischen Glückseligkeit das Postulat von der Universalität der menschlichen

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La Mettrie aus. Zwei Preisschriften fordern die Bewerber zur Auseinandersetzung mit dem umstrittenen Materialisten auf. Im Jahr 1751 lautet die Ausschreibung »Glück und Unglück«. Den Preis trägt der überzeugte Wolffianer und umworbene »Associe externe« der Akademie, Abraham Gotthelf Kästner (1719-1800),85 für den seine Dissertatio de iis quae fortunam/La vraye theorie de la fortune davon.86 Adolph Friedrich von Reinhard, Sekretär der Justizkanzlei in Neustrelitz, erhält im Jahr 1755 für seine Vergleichung des Lehrsystems den Preis für die Behandlung des Optimismus-Themas. Formey wird als Akademiesekretär für beide Autoren zum wichtigen Vermittler. Er übersetzt die Schrift Kästners;87 Reinhards spätere Schrift Reflexions sur la liberte (1762) begleitet er mit einem lobenden Vorwort. In Kästners La vraye theorie de la fortune™ ist das »Leibniz-Wölfische« Denken für den Zusammenhang von Theodizee und >Endzweck< exemplarisch vorgeführt: Ein gesetzmäßiger, gottgewollter und vernünftiger Weltverlauf könne nur mit Hilfe der Vernunft erkannt und durch das eigene vernünftige Handeln zu einem glücklichen Ende geführt werden.89 Die Preisschrift zum Thema >Optimismus< (1755) hingegen nimmt den Stellenwert dieser Vereinbarungen im Zeichen von Leibniz und Wolff zurück. Sie vergleicht das optimistische System der Theodicee mit Alexander Popes Essay on man (1733/1734), mit dem Satz »Whatever is, is right.«90 In seiner preisgekrönten Schrift Abhandlung von der Beßten Welt (1755) wendet sich Reinhard skeptisch gegen das aus seiner Sicht zu einfache Verständnis von Freiheit und Notwendigkeit, wie Wolffes vorlege.91

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Fähigkeiten verneint. Elisabeth Badinter: Preface. In: ebd., S. 9-28, hier S. 16; zu den Übereinstimmung zwischen La Mettrie und der Marquise in Fragen des »bonheur« Falvey: Introduction (wie Anm. IV, 83), S. 41-45. Rainer Baasner: Abraham Gotthelf Kästner, Aufklärer(1719-1800). Tübingen 1991 (Frühe Neuzeit 5); Grimm: Literatur und Gelehrtentum (wie Anm. III., 128), S. 692-719. Buschmann: Preisschriften (wie Anm. III., 36), S. 187f. Abraham Gotthelf Kästner: Abhandlung von den Pflichten, worzu uns die Erkenntniß verbindet, daß in der Welt kein blinder Zufall statt finde, sondern alles von der göttlichen Vorsicht regieret werde, welche den von der königl. Preuss. Akad. der Wissenschaften und freyen Künste auf das Jahr 1751 ausgesetzten Preis erhalten hat. In: ders., Vermischte Schriften. Altenburg 1755, S. 1-15. Auf einen brieflichen Kontakt zwischen Kästner und Formey (respektive Maupertius) weist Baasner hin. Ders.: Abraham Gotthelf Kästner (wie Anm. IV, 85), S. 92-94. Die Übersetzung der Preisschrift allerdings berücksichtigt Baasner allerdings nicht. Abraham Gotthelf Kästner: La vraye theorie de la fortune, avec les consequences qui en resultent (Dissertatio de iis quae fortunam ex mundo exulare casusque omnes a divina providentia regi credentibus facienda sunt). Traduction J.H.S. Formey. Berlin 1751. Buschmann: Preissschriften (wie Anm. III., 36), S. 163. Vgl. über Pope Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit (wie Anm. L, 4), S. 10. Adolph Friedrich von Reinhard: Le Systeme de Mr. Pope sur la perfection du monde compare ä celui de Mr. Leibniz avec un examen de lOptimisme, pour satifaire au probleme propose par Academic Royale des Sciences et Belles-Lettres de Prusse sur lOptimisme, avec les pieces qui ont concouru. Berlin 1755, S. 1^48. Eine deutsche Übersetzung er-

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Entsprechend kontrovers - als Angriff auf die Fraktion der Wolffianer wird Reinhards Schrift aufgenommen. Andre Pierre le Guai de Premontval, ein französisches Akademiemitglied,92 richtet sich in seinen Vues philosophiques (1755) gegen Reinhard. Reinhard wiederum verteidigt sich in der Nouvelle Bibliotheque Germanique - mit einem Appell an die >Gerechtigkeit< (»equite«) der Journalisten.93 Die Rezensenten kritisierten Reinhard aber im Sinne von Premontval, weil Reinhard erstens >unsauber< philosophiere, was wohl >skeptisch< meint. Zweitens gelinge es ihm nicht zu zeigen, daß die beste der möglichen Welten den anderen möglichen Welten vorzuziehen sei.94 Christian August Wichmann, ein Reinhard-Übersetzer, kritisiert die Nouvelle Bibliotheque Germanique. Sie sei von einer »Parteylichkeit« für Leibniz geprägt. Mit diesem Argument verteidigt Wichmann Reinhard und läßt dessen Preisschrift im Jahr 1757 gemeinsam mit einem Ausschnitt aus Burlamaquis Principes du Droit nature l/Abhandlung von dem Willen und der Freiheit des Menschen drukken.95 Es entsteht eine eigentümliche Verbindung aus dem skeptischen Ansatz Reinhards und aus demjenigen eines erneuerten >klassischen< Naturrechts. Auch Formey ergreift - als Sympathisant, nicht als Fahnenträger der Skeptiker - entschieden für Reinhard Partei.96 Für Formey wird die Glückseligkeit in verschiedener Form und auch unabhängig von der La Mettrie-Diskussion zum Thema. Er geht sogar soweit, einen Tableau du bonheur domesüque (1766) zu verfassen, eine Art christliche Klugheitslehre für häusliche Belange (bis hin zur glückbringenden Hochzeit). In seinen Sermons sur divers Textes de l'Ecriture Sainte (1739) predigt Formey Treue zum Souverän und Zufrieden-

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scheint in Leipzig: Vergleichung des Lehrgebäudes des Herrn Pope von der Vollkommenheit der Welt mit dem System des Herrn von Leibniz. Nebst einer Untersuchung der Lehre von der besten Welt. Eine Abhandlung, welche den, von der königl. Akademie der Wissenschaften und schönen Künste zu Berlin, aufgesetzten Preis vom Jahre 1755 davon getragen hat, Leipzig 1757. Hier wird nach der folgenden Übersetzung zitiert: Des Herrn Adolph Friedrich von Rheinhards [...] Abhandlung von der beßten Welt. Welche von der königlich-preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin für das Jahr 1755 ausgesetzten Preis erhalten. Aus dem Französischen übersetzt von J.A.F.v.B. Greifswald 1757. Zu Premontval in der Akademie Adolf von Harnack: Geschichte der königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Bd. 3: Gesammtgerister über die in den Schriften der Akademie von 1700 bis 1900 erschienenen wissenschaftlichen Abhandlungen und Festreden. Bearb. v. Otto Köhnke. Berlin 1900, S. 220. Nouvelle Bibliotheque Germanique 21 (1757), S. 298-316. Ebd., 18 (1751), S. 31f. Abhandlung von dem Willen und der Freiheit des Menschen aus des Herrn Bürlamaqui »Principes du Droit nature!.« In: Herrn Adolph Friedrich Reinhards [...] Vergleichung des Lehrgebäudes des Herrn Pope von der Vollkommenheit der Welt, mit dem System des Herrm von Leibniz. Nebst einer Untersuchung der Lehre von der besten Welt. Eine Abhandlung, welche den, von der königl. Akademie der Wissenschaften und schönen Künste zu Berlin ausgesetzten Preis vom Jahre 1755 davon getragen hat. Nebst einer Abhandlung des Hm. Bürlamaqui [...]. Beydes aus dem Französischen übersetzt. Leipzig 1757. Jean Henri Samuel Formey: Preface. In: Reinhard, Reflexions sur la liberte. Berlin 1762, S. III-XIV, hier S. VII.

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heit mit dem eigenen Schicksal. Diese Zufriedenheit wird als Vorstufe zum wahren »bonheur« beschrieben.97 Predigthaft - aber doch mit systematischem Anspruch verfaßt - ist auch sein Systesme du vrai bonheur (1751) (a). Als >Endzweck< für alle Menschen wird die Glückseligkeit schließlich von Louis Isaac de Beausobre und von Johann Georg Sulzer verteidigt (b).98 Dabei betonen Formey und Beausobre den von Gott für den Menschen vorgesehenen >EndzweckEndzweck< haben. Zu unterscheiden sind etwa solche Wünsche, die auf eine individuelle, und solche, die auf eine gemeinschaftliche Glückseligkeit zielen. Beide Typen von Wünschen führen zur Zufriedenheit der Seele.101 Eine Handlung sei aber dann erst edel, gut und

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Jean Henri Samuel Formey: Sermons sur divers Textes de I'Ecriture Sainte. Berlin 1739. Corrado Rosso stellt die Verbindung von »bonheur« und »egalite« als zentralen »binöme« für die französische Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts heraus, und zwar unter dem Aspekt von zwei Theoremen: »l'egalite du bonheur et le bonheur de l'egalite.« Glückseligkeit und Gleichheit bedingen sich danach wechselseitig. Ders.: L'Egalite du bonheur et le bonheur de l'egalite dans la pensee frangaise du dix-huitieme siecle. In: Studies on Voltaire and the eighteenth century 45 (1976), S. 1913-1923. Jean Henri Samuel Formey: Systesme du vrai bonheur. Utrecht 1751, S. 17. Ebd., S. 8; zur britischen Moralphilosophie Wolfgang H. Schrader: Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung. Der Wandel der moral sense-Theorie von Shaftesbury bis Hume. Hamburg 1984. »[...] c'est que les uns se rapportent directement ä moi, tandis que les autres ont pour objet le bien commun, ou en general, le bon, & le beau. Les uns & les autres se reunissent dans le caractere de leurs effets; mon ame trouve egalement une source de satisfaction dans leur accomplissement.« Formey: Systesme du vrai bonheur (wie Anm. IV, 99), S. 43.

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schön, wenn der Wunsch, von dem sie angeregt sei, »le bien d'autrui, ou le bien universel« zum Ziel habe.102 Der >Richter in mir< (»Legislateur au dedans de moi«) teile zum Zweck der Beurteilung von Handlungen die >ewigen Gesetze< (»loix eternelles«) mit. Auf vielfache Weise sei das Ich mit anderen Wesen verbunden. Gott aber sorge für das harmonische Fortschreiten von Handlungsprozessen und verlange, daß jeder Mensch sich immer wieder vergegenwärtige, nur Teil des Universums zu sein.103 Die »Rectitude interieur« fungiert dabei als Maßstab moralisch richtiger Handlungen.104 Selbsterkenntnis erfolgt im Blick auf einen zukünftigen Zustand. Dafür steht die Figur des Richters im selbst ein: »Le fondement de cet etat futur existe deja en moi, il est solidement pose dans ma nature.«105 Von der großen Idee einer zukünftigen Bestimmung< (»destination future«) gehe ein positiver Einfluß auf den Seelenzustand der Menschen aus,106 dessen letzter Zweck - ähnlich wie bei Wolff - die Vollkommenheit des Selbst ist: »[...] pour laquelle m'ont ete donnes les desirs qui m'attachent aux plaisirs des sens.«107 Formey faßt zusammen, indem er individuelle und gemeinschaftliche Glückseligkeit verbindet: La felicite du genre humain a tant de charmes pour moi, qu'elle sera toujours une partie essentielle de la mienne propre & qu'elle influera par consequent sur toutes mes demordes.108

Handlungsbezogene Modelle - wie diejenigen der schottischen Moralphilosophen - scheinen für die Verbindung von individueller und gemeinschaftlicher Glückseligkeit zwar erfolgsversprechend zu sein, erweisen sich aber in ihren Begründungen nicht als hinreichend. Aus diesem Grund wird in einem an den Systesme anknüpfenden Werk erneut der zentrale Terminus der Wolffschen Moralphilosophie, die »perfectibilitas«, ins Feld geführt. Ist er im Systesme als philosophische und systematische Kategorie ausgezeichnet, so wird er mit dem Essai sur la perfection, pour servir de suite au systesme du vrai bonheur (17'51)/'Versuch einer Abhandlung von der Vollkommenheit (1755),109 in der Fortsetzung des Systesme, anders angelegt. Im Vordergrund des Essai steht nicht mehr der universale moralische Sinn; vielmehr geht es um Rechte und Pflichten. Sie gelten für zwei Klassen von Wesen auf ganz unterschiedliche Weise: die eine Klasse sei der Intelligenz und der Vernunft beraubt und folglich weitgehend rechtlos, aber umso mehr auf das Gemeinwesen zu verpflichten; die andere könne sich frei bestimmen und sich 102 103

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Ebd., S. 45. Ebd., S. 64f. Ebd. [Hervorhebung im Original]. Ebd., S. 81. Ebd., S. 92. Ebd., S. 48. Ebd., S. 50. Jean Henri Samuel Formey: Essai sur la perfection, pour servir de suite au systesme du vrai bonheur. Utrecht 1751; J.H. Formeys Versuch einer Abhandlung von der Vollkommenheit, aus dem Französischen übersetzt [von Simon Caussid]. Cassel 1755.

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selbst erkennen - ein gefährdetes Vorrecht.110 Denn sie könnte sich selbst zerstören, wenn sie ihre gesamte Freiheit rücksichtslos einsetze.1" Das seltene Vorrecht verpflichte die >kultivierte< Klasse zur Sorge für das Gemeinwesen. Immer wieder müsse auch sie sich jene Maxime vor Augen halten, die Formey ins Zentrum des Essai stellt: »Soyez parfaits, comme votre Pere qui est aux Cieux, est parfait [...].«"2 Er läßt sich ebenso als Variation des Vorwortes zu Wolffs Naturrecht wie als Besinnung Formeys auf die Verpflichtungen als Prediger lesen. Den Menschen beschreibt er als körperliches und seelisches Wesen, das versuchen muß, Irdisches und Jenseitiges im Sinne des Vervollkommnungsstrebens und mit dem Effekt der Glückseligkeit zu versöhnen."3 Neu sind im Vergleich zu dem Systesme vier Handlungsmaximen, die - als Verhaltensethik verstanden - zur Vervollkommnung führen sollen: erstens müsse man perfekt werden wollen. Zweitens dürfe man nichts tun, ohne es auf den >Endzweck< zu beziehen. Drittens müsse man die »fins particulieres« so zusammennehmen, daß sie alle auf ein großes Ziel hindeuten, so daß viertens in den »plan de conduite de vües & des intentions« auch solche Ziele aufgenommen werden können, die der Vervollkommnung zunächst widerstreben.114 »La simple vertu Philosophique« jedoch sei zu wenig und müsse mit »la connoissance de l'Etre supreme« gekoppelt werden,"5 weil erst Gott »le motif & le modele« für die Vervollkommnung abgebe. Der Sohn Gottes sei zu den Menschen gekommen, um als Vorbild auch für moralisch richtiges Verhalten zu dienen."6 Sei das Verhalten des Christen vollkommener als dasjenige des Ungläubigen, dann liege dies an der Religion. Sie diene Christen als Orientierungshilfe. Was für Formey also unter den Begriff der Glückseligkeit fällt, stellt sich als eine Mischung von Wolffianismus, zeitgenössischer Moralphilosophie und reformierter Theologie dar. Reformierte und aufgeklärte Morallehren werden bis zur Unkenntlichkeit kompiliert. Das Ergebnis entspricht dem »aletophilen« Zeitgeist. Unabhängig davon deutet Formey den Begriff der Glückseligkeit aber christlich. Er nimmt also wieder auf, was schon La Placette entfaltet: eine christliche Klugheitslehre. Von einem ähnlichen Standpunkt aus verfaßt Louis Isaac de Beausobre, der sich in zahlreichen Briefen mit dem Glaubensbruder Formey über gelehrte Entwicklungen austauscht, seinen Beitrag zur Glückseligkeitsdebatte.

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Formey: Essai sur la perfection (wie Anm. IV., 109), S. l f. Ebd., S. 7. Ebd., S. 12. Ebd., S. 20-22. Ebd., S. 40-55. Ebd., S. 70f. »Le Fils de Dieu est venu tracer, la route de la perfection, aux hommes, & sa doctrine en est le divin modele. Mais cette perfection, c'est celle qui a son fondement dans la Nature, & qui etant alteree & comme effacee par les prodigieux egaremens des hommes, avoit besoin d'etre retablie dans sa purete primitive.« Ebd., S. 76, 86f.

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b) Louis de Beausobre Essai sur le bonheur (\15%}l Gedanken über die Glückseligkeit ( '58) Gottsched selbst steht bereits mit Beausobres Vater, mit Louis de Beausobre d.Ä. (1690-1753),"7 in Kontakt,"8 mehr noch: Louis de Beausobre zählt zu den »aletophilen« Verbündeten. In Leipzig als Wolffianer bedrängt, deutet Gottsched im Juli 1737 an, daß er sich von dem mächtigen >Geheimen Rat< Hilfe erwartet. Indessen ist es gewiß, daß die Furcht, die unter die Studierenden gekommen, als ob niemand der die wolfische Philosophie gerlernt, ein geistliches] Amt in Sachsen bekommen würde, in unseren Lectionen schon Schaden gethan; indem fast nur Juristen und Auswärtige die wölfischen Collegia besuchen, und die Anzahl der Zuhörer also abnimmt. Doch vielleicht ändern sich die Zeiten [...]."' Weil die Werke Wolffs in den dreißiger Jahren zensiert werden, befürchtet Gottsched, daß er keine Hörer mehr gewinnen könnte. Deshalb erwägt er, vorübergehend das Lehramt vorübergehend. Als die Wölfische Philosophie längst anerkannt ist, entsteht Luise Gottscheds Übersetzung des Essai sur le bonheur (1758) aus der Feder des jüngeren Beausobre.120 Im November 1758 übersendet Gottsched Louis Isaac de Beausobre die Übersetzung des Essai als Zeichen seiner »Ergebenheit«.121 Beausobres Essai scheint mehr als Predigt und weniger als moralischer Essay verfaßt zu sein: »Mon coeur parle, & ce n'est point mon esprit qui cherche ä s'eblouir.« 122 Mit diesem Essay soll den Menschen der >Trost< (»consolations«) gespendet werden, den sie brauchten. Der Rezensent für Gottscheds

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Zu Louis de Beausobre Jean Henri Samuel Formey: Eloges des academiciens de Berlin et de divers autres savans. Bd. 1. Berlin 1757, S. 83-97. Der Briefwechsel von Gottsched und Beausobre wird erwähnt, ist aber noch nicht erschlossen. Marianne Wehr: Johann Christoph Gottscheds Briefwechsel. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Frühaufklärung. Teil I. Inauguraldissertation [...] Leipzig 1966, S. 149; für den Fortgang der Erschließung von Gottscheds Briefwechsel Detlef Döring: Der Briefwechsel von Johann Christoph Gottsched. Die Geschichte seiner Erschließung und seine Stellung in der Entwicklung der Korrespondenz. In: Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit. Beiträge zur Tagung der Kommission für die Edition von Texten der Frühen Neuzeit. Hg. v. Hans-Gert Roloff unter redaktioneller Mitarbeit von Renate Meincke. Erster Teil. Amsterdam-Atlanta, GA 1997 (Chloe, Beihefte zum Daphnis 24), S. 297318. Gottsched an Louis de Beausobre. Leipzig d[.] 20[.] Jul. 1737. Staatsbibliothek zu Berlin/ Preußischer Kulturbesitz, Nachl. 235, L. de Beausobre, Gottsched J.C., [Bl. 187r-189v], hier[Bl. 188r]. [Louis de Beausobre:] Gedanken über die Glückseligkeit, oder (philosophische) Betrachtungen über das Gute und Böse des Menschen. Aus d. Französischen Luise Adelgunde Victoria Gottsched. Berlin 1758; Heckmann: Auf der Suche nach einem Verleger (wie Anm. III., 151), S. 331. Ebd., Leipzig d[.] 1. Nov. 1758, [Bl. 189V]. Louis de Beausobre: Essai sur le bonheur ou Reflexions philosophiques sur les biens et les maux de la vie humaine. Berlin 1758, S. 1.

162 Zeitschrift Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit nimmt diese Botschaft auf. Wenn die Tröstung auch nicht immer gelinge, so verleihe die Schrift des ungenannten Autors doch Einsicht in die Umstände des Übels, so daß sogar »[...] unphilosophische Leser ihren Beyfall nicht werden versagen können.«123 Grundlegend für Beausobre ist - wie für Formey - die Annahme, daß der Mensch nicht perfektibel sei. Gleichwohl solle er aber durch seine Taten nach Vollkommenheit und nach Glückseligkeit streben. Mit dieser Zuordnung des Glückseligkeits- und des Vollkommenheitsbegriffes behält Beausobre die Wolffsche Systematik für beide Begriffe bei.124 Gegen La Mettrie wendet Beausobre ein, daß der Mensch nicht nur hinsichtlich seiner Physis betrachtet werden könne. Zu fragen sei gerade nach der von Wolff und von Formey angesprochenen Verbindung von Körper und Geist.125 Er geht damit prinzipiell von einer optimistischen Anthropologie aus,126 teilt den Optimismus eines Leibniz' aber nicht. Dennoch müsse den Menschen erklärt werden, daß diese Welt die beste aller möglichen sei, weil wir Gott keine >Unvollkommenheiten< (»imperfections«) unterstellen könnten.127 Grund für unser Unbehagen sei die Eigenliebe, denn prinzipiell gelte - nicht anders als für Formey -, daß »tout depend de nous, de nos principes, de nos eforts [,..].«128 Ein Mensch sei aber erst dann glücklich - so der auch von dem Rezensenten des Neuesten aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, wenn die Zahl und der Wert der genossenen Güter die Zahl und den Wert der nicht vermeidbaren Übel übersteige.129 Aus diesem Grund solle man den allgemeinen Übeln< (»malheurs publics«), der Pest, dem Krieg und den Erdbeben - ein Bezug auf das Beben von Lissabon im Jahr 1755 und auf Voltaires bekannter Klage darüber - nicht zu große Bedeutung beimessen, so die zentrale Stoßrichtung von Beausobres Essai. Die allgemeinen Übel[]< unterscheiden sich von den »adversites ordinaires de la vie« nur, weil die Zahl der Leidenden vergleichsweise größer sei.130 123 124

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Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, April (1757), S. 302-311, hier S. 311. »Un homme parfaitement heureux seroit celui, qui avec beaucoup de lumieres auroit toutes les vertus, dont Farne pure & sans taches, dont l'esprit sans prejuges & sans erreurs representeroient l'image de la Divinite: un mortel aussi heureux n'existe point, il y a des foiblesses & des erreurs inseparables de l'humanite, mais il est beaucoup d'hommes qui aprochent d'un original aussi parfait.« Beausobre: Essai (wie Anm. V, 122), S. 4f. Ebd., S. 7. Ebd., S. 8. Ebd., S. 11 f. Ebd.,S.47f. Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, April (1758), S. 305f. Ebd., S. 98. Joachim Vahland nahm am Rande auf Beausobres »Essai« Bezug; er interpretierte ihn in ähnlicher Weise als apologetisches Dokument - mit einer polemischen Spitze gegen Beausobre. Vahland: Das Erdbeben von Lissabon und die Folgen. In: Zeno 2 (1989), S. 41-67, hier S. 56. Siehe zu Beausobres »Essai« auch Ulrich Löffler: Lissabons Fall - Europas Schrecken. Die Deutung des Erdbebens von Lissabon im deutschsprachigen Protestantismus des 18. Jahrhunderts. Berlin 1999 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 70).

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Bedauert werde in der Regel der bloß materielle Verlust. Hier gleitet der Essay in eine Strafpredigt ab.131 Weil sich Menschen normalerweise nicht um das Wohl ihres Vaterlandes kümmern, setze Gott schwere Strafen ein: »II vous faut des calamites publiques. C'est un remede contre la perversite des hommes.«132 Derartiger Äußerungen zum Trotz schreibt sich Beausobre ebenfalls die von Formey eingenommene Position des Vermittlers zwischen moralischen Skeptikern und Gottgläubigen zu.133 Wie Formey betont Beausobre, daß der Mensch selbst tätig sein müsse, ohne den Menschen - wie etwa die Stoiker - zu einem überaus disziplinierten Wesen erziehen zu wollen. Die Konzeption eines nie zum Ende kommenden Prozesses der Vervollkommnung führt schließlich zu einem graduellen Begriff von der Glückseligkeit:134 C'est en nous memes que nous devons trouver le siege du bonheur: c'est en nous memes que nous trouvons la source des vrais plaisirs. II depend de nous d'augmenter les degres de notre bonheur en augmentant nos avantages, & en perfectionnant nos vertus & nos lumieres: c'est nous qui sommes les artisans & les maitres de notre veritable fortune.135

Auch Beausobre beschreibt seinen Arbeiten daher als nützlich. Sie verbreiten eine universelle Philosophie, die alle Menschen zur gottgewollten Glückseligkeit führen will.136 Gerade deshalb wird die Philosophie aber auf Zielgruppen bezogen. Den Bürgern lehre sie, ihren Mitbürgern nützlich zu sein, um dem »bien des societes« zu dienen.137 Könige könnten, wenn sie wollten, von der Philosphie profitieren, und zwar zum Wohl ihrer Untertanen.138 Im unmittelba-

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»Oü est-il ce vif interet qu'on doit prendre au bonheur de la societe? Oü sont-il ces eforts qu'on doit faire pour y concourir? Les hommes pour l'ordinaire raportent tout ä euxmemes; l'ambition, l'orgueil & l'avarice sont les tyrans qui les fönt penser, qui decident de leur atachement; la patrie seroit sans defense, si ces passions ne pouvoient etre assouvies en la servant. [...] Convient-il apres cela ä ces hommes de se plaindre des malheurs du monde, ou des malheurs de leur patrie, malheurs qui dans l'enchainement des evenemens de ce monde, contribuent au vrai bien du genre humain. Ces grandes & tristes catastrophes, plus sensibles pour le commun des hommes, que ces maux ordinaires de la vie, les ramenent aussi avec plus de succes ä leurs devoirs.« Beausobre: Essai (wie Anm. IV., 122), S. 101-103. Ebd., S. 104. Ebd., S. 205. Ebd., S. 206. Ebd., S. 209. »Tous les hommes sont appelles ä participer ä ce tresor [ä la philosophic], parce que tous les hommes ont une raison que le tems develope, & que les maitres perfectionnent [...].« Ebd., S. 277. »[...] les principes sont les memes, la nature & la liaison les dictent ä tous les hommes, & pour nous la revelation les a developes.« Ebd., S. 262. »Nous avons tout ce qu'il nous faut pour remplir le but pour lequel nous sommes nes, rien ne nous manque. Nous serons aussi heureux qu'il est possible de l'etre, si nous le voulons serieusement [...].« Ebd., S. 267. Ebd.,S.221f. »La philosophic apprend aux Rois, que leur empire consiste moins dans l'exercice de leur pouvoir, que dans le soin penible de faire le bonheur de leur peuple [...], c'est eile qui aprit

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ren Umfeld weiß man von solchen Bemühungen seitens des Herrschers: Über Friedrichs Anti-Machiavel informiert Beausobre Formey brieflich. Doch zettelt er keine ausführliche Korrespondenz über darüber an. Vielmehr geht es Beausobre um den Vorrang der Religion vor dem Weltlichen, um die Aufwertung des Jenseits gegen das Diesseits. Ganz mathematisch - durch Addition und Subtraktion - soll gezeigt werden, wie sich Glück und Unglück gegeneinander aufrechnen lassen. Im Ergebnis ist die irdische Welt als relativ glückseliges Zwischenreich gerechtfertigt, der Gläubige auf Gottes Vorsehung verwiesen. Eine pessimistische Anthropologie schränkt die Handlungsfreiheit des Menschen ein. Gefordert wird statt dessen »innerweltliche Askese«. c) Johann Georg Sulzer Versuch über die Glückseligkeit verständiger Wesen (1754 und 1773) Anders als Formey und Beausobre hält Sulzer das Thema der Glückseligkeit schon im Jahr 1754 für eine »gemeine Materie«.139 Vom Beginn der Weltweisheit an philosophiere man über diesen Begriff und entwickle Handlungsmaximen, die den Menschen jenem angestrebten Zustand der Glückseligkeit nahebringen sollen. Maximen im Sinne einer Klugheitslehre oder Verhaltensethik will Sulzer in seinem Versuch über die Glückseligkeit verständiger Wesen schon deshalb nicht darstellen. Ihm geht es vielmehr um zwei erkenntniskritische Fragen, die den Diskussionen an der Akademie zugeordnet werden können: Nämlich zuerst will ich die nothwendigen Bedingungen, die zur vollkommnen Glückseligkeit eines verständigen Wesens erfordert werden; und zweytens die Möglichkeit oder Unmöglichkeit dieser Bedingungen untersuchen.140

Im Blick auf seine Anthropologie ist Sulzer, einer der »[...] wichtigsten Vordenker der psychologisch-anthropologischen Zentrierung des Wissens in der deutschen Spätaufklärung,« 141 zumindest in seinen frühen Schriften mit Formey und Beausobre vergleichbar. Ein solcher Vergleich liegt in der Sulzer-For-

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aux hommes, que la revelation n'avoit point instruits, qu'il y avoit un dieu & un culte ä rendre ä cet Etre, culte qui se borne a la recherche du veritable bonheur.« Ebd., S. 277. Johann Georg Sulzer: Versuch über die Glückseligkeit verständiger Wesen. In: ders., Vermischte philosophische Schriften. Hildsheim u. New York 1974 (Nachdruck Leipzig 1773), S. 323-347, hier S. 323. Ebd. Wolfgang Riedel: Erkennen und Empfinden. Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer. In: Der ganze Mensch: Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Hg. v. Hans-Jürgen Schings. Stuttgart u. Weimar 1994, S. 410439 (Germanistische Symposien Berichtsbände XV), hier S. 411. Die umfassendste Studie zu Sulzer nahm vor allem seine Ästhetik und weniger die Moral zur Kenntnis. Vgl. Anna Tumarkin: Der Ästhetiker Johann Georg Sulzer. Leipzig 1933.

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schung aber noch nicht vor, obwohl Sulzer Mitglied der reformierten Kirche ist und seine Abhandlungen, also auch die Schrift über die Glückseligkeit, zuerst in französischer Sprache in den Jahrbüchern der Akademie veröffentlicht. 142 Sulzer teilt die Pämissen vom Vervollkommnungsstreben der Menschen, von der pragmatischen Beurteilung von Handlungen und von der Notwendigkeit der Rechtfertigung Gottes. Auch er wendet sich gegen skeptische Positionen gegen die >gefährliche Philosophie< aller Art und Herkunft, mit dem Ziel, »[...] manche Zweifel über die moralische Einrichtung der Welt und die Wege der Vorsicht zu zerstreuen.«143 In seinem Beitrag über die Glückseligkeit zerstreut Sulzer diese Zweifel mit dem hinlänglich bekannten Argument, die Neigungen des Menschen seien im Mittel der Vernunft zugänglich. Vermittelt über seinen Lehrer Johann Joachim Spalding und über die schottische Moralphilosophie nimmt er die rationalistische Morallehre auf.144 Sulzer ergänzt die - auch im Umfeld der Berliner Akademie - gängige moralische Sicht auf die Glückseligkeit um einen Aspekt: Der Mensch brauche Zeit, um seine Neigungen in einer gottgefälligen und damit vernünftigen Weise auszubilden. Sulzer rechtfertigt die Welt damit auch gegen Unglück, daß sich nicht durch Erziehung beeinflussen läßt. Denn wie für Formey und Beausobre ist das höchste Wesen für Sulzer »[...] von eben so unbegränzter Macht als Güte.«145 Alle Menschen seien daher so glückselig, wie es ihnen aus der Sicht dieses Wesens zukomme. Ein Moment des zufälligen Wirkens eines allmächtigen Gottes bleibt demnach auch bei Sulzer bestehen. Die Betrachtung der Natur des Menschen sowie die Betrachtung der »äußere[n] Ursachen der Glückseligkeit« geben aber Aufschluß über die Bedingungen und die Möglichkeiten für die Verwirklichung der Glückseligkeit.146 Als Voraussetzungen dafür gelten ihm zum einen die Abwesenheit von Schmerz, zum anderen die Empfindung von Vergnügen. Verständige Wesen wären aber in vergnügtem oder schmerzfreien Zustand bloß »unempfindlich« und »gedankenlos«.147 Anders als La Mettrie verbindet Sulzer mit dem Leitbegriff der Glückseligkeit also bewußte (moralische) Handlungen.

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Sulzers moralische Arbeiten wurden auch in der jüngeren Forschung vordringlich mit den anthropologischen Schriften von Wolff, Baumgarten und Moritz verglichen. Sie kam zu dem Ergebnis, daß Sulzer noch der von Baumgarten vorgezeichneten Erweiterung der Psychologie folge. Riedel: Erkennen und Empfinden (wie Anm. IV, 141), S. 415. Eine Auswahl aus Sulzers Abhandlungen erscheint erst im Jahr 1773 auf Deutsch, und zwar unter dem Titel »Johann Georg Sulzers vermischte philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt.« Leipzig 1773. Ebd., S. 323. Steifen Dietzsch: Johann Georg Sulzer. In: Aufklärung in Berlin. Hg. v. Förster (wie Anm. III., 36), S. 265-273, hier S. 267f. Sulzer: Versuch über die Glückseligkeit (wie Anm. IV, 139), S. 323. Ebd., S. 324f. Ebd., S. 328.

166 In der anthropologischen Ausstattung des Menschen findet Sulzer keinen Hinderungsgrund dafür, daß der Mensch sein Leben nicht im Blick auf die Glückseligkeit gestalten könne - darauf, daß das »[...] Leben eine ununterbrochne Reihe angenehmer Augenblicke seyn soll.«148 Aus der Natur des Menschen lasse sich aber originell zeigen, daß der Mensch erst glückselig werde, wenn er eine »gewisse Reihe deutlicher Ideen gehabt« habe.149 Um diese deutlichen Ideen wahrnehmen zu können, sei Erfahrung vonnöten. Denn es dauere eine Weile, bis die »aufeinanderfolgende[n] Handlungen des Verstandes« erfaßt werden könnten.150 Voraussetzung dafür sei, daß vollkommene und unvollkommene Pflichten (im Sinne des von Wolff dargelegten Naturrechts) erlernt würden. Sulzer behandelt diese in seinem Versuch einen festen Grundsatz zu finden, um die Pflichten der Sittenlehre und des Naturrechts zu unterscheiden (1756).151 Gott sei es aufgrund der »Verzeitlichung« von moralischen Erfahrungen unmöglich, Wesen zu schaffen, die sogleich über ein vollständiges Wissen verfügten, die ihre Pflichten vollkommen erfüllten. Zweifelsohne werde er sich aber darum bemüht haben: Gerade in dem Maaße, wie wir an Vollkommenheit wachsen, werden sich auch unsre Schmerzen vermindern, und unsre Vergnügungen vermehren. Die frohe Hoffnung, daß unsere Vollkommenheit und Glückseligkeit unaufhörlich wachsen werde, muß uns auch ermuntern, mit Vergnügen auf der Bahn fortzugehen, die vor uns eröffnet ist; sie muß uns mit Liebe und Ehrfurcht für das unendlich gütige Wesen erfüllen, das alle verständigen Geschöpfe aus dem Nichts hervorzog, um sie so glückselig zu machen, als sie nur werden können.152

Anders als in seinen späteren und mit einem >skeptisch-anthropologischen Vorbehalt verfaßten Schriften hält Sulzer in dem Versuch einen festen Grundsatz zu finden moralischen Fortschritt noch für möglich und wünschbar.153

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Ebd., S. 331. Ebd., S. 337. In diesem Essay sind Vernunft und Sinnlichkeit für Sulzer noch verbunden. Sinnliche Empfindung folgt auf vernünftige Erkenntnis. In seiner 1763 erschienen Abhandlung »Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas Vorzustellen und des Vermögens zu empfinden, befindet«, habe Sulzer ein »dichotomisch-disjunktives Denkmodell« angelegt, so Riedel. Mit dieser Trennung werde die 1763 erschienene Schrift zur ideengeschichtlichen Gelenkstelle. Siehe Riedel: Erkennen und Empfinden (wieAnm. IV., 141), S. 415f. Sulzer: Versuch über die Glückseligkeit (wie Anm. IV, 139), S. 338. Danach sind »diejenigen sittlichen Pflichten, welche ganz unumstößlich gewiß, und allgemein bekannt sind, [...] vollkommene Pflichten; diejenigen aber, von denen ein jeder Mensch nur selbst urtheilen, und sie nur sich selbst auflegen kann, sind unvollkommene Pflichten, und keinen Gesetzen unterworfen.« Sulzer: Versuch einen festen Grundsatz zu finden, um die Pflichten der Sittenlehre und des Naturrechts zu unterscheiden. In: ders., Vermischte philosophische Schriften (wieAnm. IV, 139), S. 389-398, hier S. 396. Sulzer: Versuch über die Glückseligkeit (wie Anm. IV, 139), S. 347. Riedel: Erkennen und Empfinden (wie Anm. IV, 141), S. 419^22.

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Trotz abweichender Anschauungen in ihren späteren Schriften hält Formey den »Eloge« für Sulzer.154 Wie weit der Spielraum für die »morale« im Rahmen der Akademie ist, zeigt die Vielfalt der besprochenen Texte. Die vereinbarten Bezugsbegriffe der Vollkommenheit beziehungsweise des Vollkommenheitsstrebens können unterschiedlich ausgelegt werden - vorausgesetzt die Prämissen der natürlichen Religion werden beachtet. Dennoch gibt es Außenseiter: Premontval beispielsweise wählt diese Rolle selbst.155 Im reformierten Umfeld der Akademie nehmen darüberhinaus Charles Etienne Jordan, Antoine und Frangois Achard eine Sonderstellung ein, weil sie >radikaleFreygeistern< vereint. Gemeint ist Albrecht von Haller (1708-1777).

3. Irdische Güter oder jenseitiges Heil: Albrecht von Hallers Glaubensüberzeugungen Der Sohn einer traditionsreichen Bemer Patrizierfamilie zählt zu den kommunikationsfreudigsten und produktivsten Gelehrten des achtzehnten Jahrhunderts.157 In Leiden zum Doktor der Medizin promoviert, eröffnet ihm seine Hei-

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Formey: Lobrede auf Herrn Sulzer. In: Neue Miscellaneen 9 (1780), S. 367-385. Premontvals Abgrenzung folgt aus Überlegungen zur Freiheit des Individuums: »Je ne conois point de sujet qui interesse davantage, & chaque individu en particulier & la societe en general. Le desir, vraiment inquiet, de fixer mes idees sur un point de si grand consequence, m'a fait aller fraper aux portes de toutes les ecoles de philosophic pour y trouver des lumieres [...].« Ders.: Pensees sur la liberte, tirees d'un Ouvrage qui a pour litre: >Protestations et declarations philosophiques sur les principaux objets des conoissances humainesProtestations< herausgeben, um seine kontroversen Ansichten darzulegen. Jens Häseler: Der Ort der Geheimliteratur in der Frühaufklärung. In: Die Philosophie und die Belles-Lettres. Hgg. v. Martin Fontius u. Werner Schneiders. Berlin 1997 (Aufklärung und Europa), S. 137-150; Martin Pott: Philosophischer Untergrund. Clandestine Traditionen radikaler Aufklärung in Deutschland. In: ebd., S. 151-170. Zu Haller die homepage des Berner Haller-Projektes: Albrecht von Haller (1708-1777) und die Gelehrtenrepublik des 18. Jahrhunderts. Ein Forschungsprojekt des Schweizerischen Nationalfonds, des Kantons und der Burgergemeinde Bern. http://www. ana.unibe.ch/MHIUB/haller.htm. Biographische Daten zu Haller entnehme ich der umstrittenen, doch informativen Haller-Biographie von Johann Georg Zimmermann: Das Leben des Herrn von Haller [...]. Zürich 1755; vgl. auch [Herminie Chavannes:] Biographie de Albert de Haller [...]. Par l'auteur de l'essai sur la vie de J.G. Lavater. Seconde Edition. Revue et considerablement augmentee de materiaux inedits. Paris 1845 (1. Aufl. 1840).

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matstadt aber keine attraktiven Angebote. Umso größere Anerkennung wird ihm in Göttingen zuteil. Die junge Georg August-Universität beruft ihn auf eine Professur für Anatomie, Chirurgie und Botanik. Doch reicht sein Interesse weit über die Medizin hinaus in die >schöne LiteraturPyrrhonismusPyrrhoniern< und mit Voltaire als typisch.161 Die Naturforschung und ausgedehnte Studienreisen durch Europa öffnen Hallers Blick für die zeitgenössischen Streitigkeiten über das >wahre< philosophische Denken. Er sucht die meisten wichtigen Gelehrten seiner Zeit selbst auf. Auch Barbeyrac kennt er persönlich.162 In Groningen verbringt er mit dem

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Karl S. Guthke: Haller und die »Bibliotheque raisonnee«. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1973), S. 1-13; Lagarrigue: Un temple de la culture europeenne (17281753) (wie Anm. III., 191), S. 93-103. Siehe die Erwähnungen der »Nouvelle Bibliotheque Germanique« in den von Haller herausgegebenen »Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen« 9 (1750), S. 69f. Siehe auch die Kritik von Formeys »Kurzgefasste Historie der Philosophie«. In: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 87 (1763), S. 697-703. Zwar bleibt fraglich, ob Haller die Rezension selbst verfaßt hat. Aber die Philosophiegeschichte gehört zu seinen Interessengebieten. Auch erscheinen manche Kritiken als typisch für Haller - etwa der Tadel, daß Formey »Carnendes« statt korrekt »Cameades« schreibe. Ebd., S. 702f. Der Rezensent verurteilt Formeys Werk als einen bloßen und noch dazu problematischen Auszug aus Bruckers Philosophiegeschichte. Über die Glaubensüberzeugungen Hallers informierte Karl S. Guthke in zahlreichen Aufsätzen. Vgl. etwa über ein frühes Bibel-Judicium Hallers ders.: Glaube und Zweifel: Hallers Rezeption des christlichen Erbes. In: ders., Literarisches Leben im achtzehnten Jahrhundert in Deutschland und in der Schweiz. Bern u. München 1975, S. 174-192, hier S. 182-192. Haller verteidigt den Kollegen noch Jahre später gegen die Verdächtigung der »Freygeisterei«: »Barbeyrac erscheint unverdient unter den Feinden der Religion. [...] Er schätzte die Kirchenväter gering, gab aber keinen Anlaß, ihn für einen Freygeist zu hal-

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Naturrechtler einen heiteren Abend: voll des freundlichen Spottes über Crousaz, den ehrgeizigen und diplomatisch geschickten Unionisten.163 Das Naturrecht eignet sich Haller ebenfalls an: durch Barbeyracs Schriften und durch seine Neigung zur Reiseliteratur, der er jedoch weniger moralische Lehrgebäude, als vielmehr Beispiele für die moralischen Umgangsweisen und die physischen Beschaffenheiten der Menschen entnimmt.164 Schon aufgrund der Sympathie für das Naturrecht Pufendorfs und Barbeyracs kann er mit >neuen Philosophen< wie La Mettrie und Voltaire nicht viel anfangen. Als Newton-Anhänger respektiert Haller Voltaire aber dennoch.165 Auch Maupertuis kann sich seiner versichert sein;166 Rousseau wird als witziger Schriftsteller geachtet, wenn auch aufgrund seiner Zivilisationskritik für naiv, unbeständig und widersprüchlich gehalten.167 Überhaupt beobachtet Haller den literarischen Markt genau, etwa das Entstehen der Encyclopedie, zu der auch die Reformierten beitragen. Nützlich erscheint sie Haller, doch mißbilligt er die politischen Artikel als zu freisinnig, diejenigen über die Naturgeschichte und die Botanik tadelt er als unkundig. 168 Unter den vielfältigen Denkrichtungen zieht - neben dem Skeptizismus eine weitere den Groll Hallers auf sich: »die Scholastische und Wolfische Philosophie.«169 »Die Herrschaft der Metaphysik hat ein Ende,« so begrüßt Haller

ten.« Haller: Briefe über einige Einwürfe noch lebender Freygeister wieder die Offenbarung. Bd. 2. Bern 1777, 14. Br., S. 210. Zu Crousaz' intellektueller Herkunft und Wirkung Miscellaneous Works of Edward Gibbon, Esquire. With Memoirs of his Life and Writings, composed by himself: Illustrated from his Letters. With occasional notes and Narrative by John Lord Sheffield. Bd. l. Basil 1796, S. 71. Simone de Angelis: Von Newton zu Haller. Studien zum Naturbegriff zwischen Empirismus und deduktiver Methode in der Schweizer Frühaufklärung [Typoskript]. Erscheint: Tübingen (Frühe Neuzeit), S. 446-450. Göttingische Zeitungen von gelehrten Sachen 9 (1745), S. 65-68, hier S. 67; Haller: I. Voltaire, (Euvres Tome VI. In: Albrecht von Haller, Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und sich selbst. Hg. v. Johann Georg Heinzmann. Erster Theil. Bern 1787, S. 3-7, hier S. 5. Heinzmann nimmt diese und andere Rezensionen aus den »Göttingische[n] Zeitungen von gelehrten Sachen« bzw. aus den »Göttingische[n] gelehrten Anzeigen« in seine Edition des Hallerschen Tagebuchs auf. Weil Heinzmann zwar nicht den Inhalt, aber den Stil und die Sprache der Haller-Rezensionen korrigiert, wird im folgenden nach den Zeitschriften-Originalen zitiert. »Vom Wachsthum der Wissenschaften« sei ein rätselhaftes, aber lesenwertes Buch. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 6 (1753), S. 51-54; Haller: XXVI. Vom Wachsthum der Wissenschaften. Nach Maupertuis. In: Haller, Tagebuch (wie Anm. IV, 165), S. 105-110. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 26 (1753), S. 235-237, hier S. 235; Haller: XXVII. Vom Einflüsse der Wissenschaften auf die Sitten. Von J.J. Rousseau. In: Haller, Tagebuch (wie Anm. IV., 165), S. 111-113, hier S. 111. Haller: XXIV. Encyclopedisten. In: Haller, Tagebuch (wie Anm. IV, 165), S. 98-103, hier S. 98-100. Haller: CXIV. Ueber die Scholastische und Wolfische Philosophie. Anm. *) In: ebd. Zweyter Theil. Dritte Abtheilung, S. 140-144; Bibliotheque raisonnee 37, Octobre, Novembre, Decembre (1746), S. 335-365, hier S. 355: »Le regne de la Metaphysique est passe.«

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das Ableben der aristotelischen Monarchie^170 Unvernünftig, realitätsfern und sophistisch - so lauten die bekannten Vorwürfe gegen Wolff und seine Schule, die Haller aufnimmt und mit denen er Wolff als verspäteten Nachfahren der scholastischen Metaphysik einordnet. Hallers Kritik an Wolffund dessen Schülern stimmt mit derjenigen aus Crousaz' Reflexions sur l'ouvrage intituile >La belle Wolfienne< überein.171 Crousaz spricht von autoritätsgläubigen Wolff-Anhängern, die ihre Metaphysik auf jedes beliebige Gebiet übertragen wollen, weil sie sie für >die beste aller möglichen Philosophien halten. Für die Naturforschung habe eine solche philosophische Schule fatale Konsequenzen, so Haller: Man hat in der Meinung, daß alle unsere Begriffe uns durch die Sinne beygebracht werden, und daß wir uns keinen eigentlichen Begriff von unkörperlichen Wesen machen können, ich weiß nicht was, gottloses finden wollen. Allein Krankheiten, Träume, und die Wirkung der Arzneyen beweisen auf eine unumstößliche Art, daß die Vorstellungen und das Gedächtniß mit dem Bau des Gehirns verknüpft sind, und daß folglich die Begriffe, wenn sie sich der Materie eindrücken, keine unkörperlichen Dinge in derselben vorstellen können.m

Für den Göttinger Mediziner gilt jener Sensualismus als unverzichtbar, den die Wolffianer als >ketzerisch< verdammen. Doch will Haller mit dieser Warnung an die Wolffianer nicht all ihren Gegnern das Wort reden. Nicht jede >sensualistische< Philosophie sei wünschbar. Bestimmte Typen derselben, so nahe sie dem naturwissenschaftlichen Interesse auch zu sein scheinen, müssen diesem als falsch gelten. Noch entschiedener sind sie unter moralischem Aspekt abzulehnen (a). Diese Ablehnung erfolgt im Blick auf ein Gelehrtenethos, dem sich der christliche Mediziner nicht nur in medizinischen und moralischen Abhandlungen, sondern auch im Roman stellt. Kontrolliert durch das Faktenwissen der Historiographie schildert Haller dort das Zusammenleben der Menschen in verschiedenen Ländern und zu unterschiedlichen Zeiten. Er plädiert für eine gemischte Verfassung zwischen Aristokratie und konstitutioneller Monarchie, für ein System, das - gegen Rousseau und Iselin gewendet - demokratische Formen ausschließt.173 Dem Freihandel steht er - anders als Adam Smith - wenig aufgeschlossen gegenüber; er sieht in agrarischen sowie frühindustriellen Strukturen die geeigneten Wirtschaftsformen.174 Für Hallers >Staatsromane< ist vor allem anderen aber die christliche Absicht charakteristisch. Der >Geist der Gesetze< und die speziellen Eigenschaften von Gemeinwesen leiten sich aus

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Ebd. Vgl. Kapitel III., Abschnitt b) dieser Studie. Haller: CXIV. Ueber die Scholastische und Wolfische Philosophie. In: Haller, Tagebuch (wieAnm.IV., 165), S. 143. Haller: Ueber die Regierungsverfassung freyer Staaten. In: ebd., Einzelne Bemerkungen, S. 181-185. Haller: Ueber die Staatswirthschaft. In: ebd., S. 173-181.

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seiner Sicht weder aus klimatischen Bedingungen175 noch aus einer natürlichen (Staats-)Religion ab.176 Erst die Offenbarungsreligion forme ein Volk, führe es zu >wahrhaft patriotischen Tugend und begründe eine wohlmeinende und handelnde Regierung (b).177 Im Mittel des Romans veranschaulicht Haller, warum das beste Gemeinwesen auf diese Weise >hinter< die Erkenntnisse Rousseaus und Montesquieus zurückfallen soll. Zu welcher Lehre dieser >Rückfall< führt, offenbart bezeichnenderweise ein Waldensermönch, ein Vertreter des armen, des einfachen Christentums< (c). a) Jean Pierre de Crousaz' Examen du pyrrhonisme (1733) in der Kurzfassung Prüfung der Sekte die an allem zweifelt (1750) von Jean Henri Samuel Formey und Albrecht von Haller Dem jungen und aufstiegswilligen Prediger Formey reicht es nicht, seine Gemeinde immer wieder auf ein solches >einfache Christentum< einzuschwören. Er sucht nach einem schwierigeren Gegenstand, um sich im Schreiben zu üben. So lapidar beschreibt er selbst, wie seine Kurzfassung von Crousaz' monumentalem Examen du pyrrhonisme entstand.178 Bei Crousaz fällt unter dem Begriff des Pyrrhonismus jede Form der Skepsis, plakativ verstanden als Unglaube. Weil er sich selbst nicht für hinreichend kundig und originell hält, ein vielversprechendes Werk über den Pyrrhonismus zu verfassen, widmet sich Formey diesem als viel zu lang und umfangreich erscheinenden Standardwerk.179 Um

Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 4 (1753), S. 30-32, hier S. 31; Malier: XXV. Ueber den Geist der Gesetze des Hm. v. Montesquieu. In: Haller, Tagebuch (wie Anm. IV., 165). Erster Theil, S. 103f., hier S. 104. Haller: Ueber die Staatswirthschaft. In: ebd., Einzelne Bemerkungen, S. 173-181. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 62 (1758), S. 588-590; Haller: XLI. Vom Nationalstolze. Von J.G. Zimmermann. In: Haller, Tagebuch (wie Anm. IV, 165). Erster Theil, S. 159-162, hier S. 159; Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 65 (1759), S. 574f.; Haller: XLVI. Patriotische Träume, von I. Iselin (1759, S. 574). In: Haller, Tagebuch (wie Anm. IV, 165), S. 174-176, hier S. 174. Ausführlich dazu die von Formey als Bericht verfaßte Rezension der deutschen Kurzfassung des »Examen du pyrrhonisme« in der Nouvelle Bibliotheque Genmanique 9 (1752), S. 298-319, hier S. 299. Zur Vorgeschichte der anonyme Beitrag: »Plan d'un Ouvrage intitule »Examen du Pyrrhonisme«. In: Bibliotheque Germanique 18 (1730), S. 99-104; Reponse ä une Lettre sur le progres du Pyrrhonisme. In: ebd., S. 114-144; schließlich die enthousiastischen Besprechungen des »Examen« in: ebd. 27 (1733), S. 14-36; ebd. 28 (1734), S. 105-126; schon monographischen Charakter erlangt die Besprechung in der Bibliotheque raisonnee 10 (1733), S. 70-96; Bibliotheque raisonnee 12 (1733), S. 36-90. Verglichen mit dem enormen Stellenwert, den Crousaz' »Examen« in reformierten Zirkeln erhielt, würdigte die Forschung das Werk noch nicht hinreichend. Vgl. Meta Scheele: Wissen und Glaube in der Geschichtswissenschaft. Heidelberg 1930; Carlo Borghero: La Certezza de la Storia. Cartesianesimo, pirronismo e conoscenza storica. Milano 1983; zu Crousaz ebd., S. 413417; Markus Völkel: »Pyrrhonismus historicus« und »fides historica«. Die Entwicklung der deutschen historischen Methodologie unter dem Gesichtspunkt der historischen Skep-

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Reputation für ein solches Unternehmen braucht er sich nicht zu sorgen, denn der >Pyrrhonismus< ist eines der meistdiskutierten Probleme seiner Zeit.180 In seiner Korrespondenz mit Crousaz sichert sich Formey das erfolgversprechende Projekt.181 Weil der Examen schon bei Pierre de Hondt erschien, verhandelt Crousaz für die Publikation der geplanten Kurzfassung selbst mit dem Buchhändler. Aus unerfindlichen Gründen weigerte sich dieser aber, sie zu drukken.182 Das Projekt gerät ins Stocken. Zwischenzeitlich entdeckt Crousaz neue Kandidaten für den Vorwurf des Pyrrhonismus: Je m'occupe actuellement ä lire et ä examiner la fable des Abeilles de Mr. de Mandeville, et cet Autheur me paroit un Pyrrhonien si determine et si dangereux, que, si je croiois la Met[e]mpsycose, je me persuaderois aisement que ce qui etoit l'ame de Mr. Bayle et aujourd'hui celle de Mr. Mandeville. Je suis bouleverse quand je lis l'acharnement furieux avec lequel les hommes s'animent aujourd'hui ä s'egorger reciproquement [...].183

Bernard (de) Mandeville (1670-1733), Arzt in London und Nachkomme einer vornehmen französischen Hugenottenfamilie, wird aufgrund von The Fable of the Bees (1714) verdächtigt, eine >Reinkarnation< Bayles zu sein. Eine genaue Begründung dieser Verdächtigung liefert Crousaz nicht. Trotz der Plagen durch immer neue Skeptiker werde »l'epe[e] de la Justice Divine« kommen, davon ist Crousaz überzeugt - und fragt in diesem Zusammenhang, wo die verabredete deutsche Kurzfassung des Examen bleibe.184 Formey rechtfertigt seine Säumigkeit mit den neuen Aufgaben, die ihm durch die La Croze-Nachfolge in Berlin zuteil geworden seien, und verweist auf Haller.185 Dieser steht von 1740 bis zum Erscheinen der Publikation Prüfung der Secte im Jahr 175l186 mit Formey und von 1740-1745 mit Crousaz in Kontakt.187

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sis. Frankfurt/M. u.a. 1987 (Europäische Hochschulschriften: Reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 313); Moore: Natural Law and the Pyrrhonian Controversy (wie Anm. II., 160); Richard H. Popkin: Scepticism in the Enlightenment. In: Scepticism in the Enlightenment. Hgg. v. dems., Ezequiel de Olaso u. Giorgio Tonelli. Dordrecht, Boston u. London 1997 (International Archives of the History of Ideas 152), S. 1-16, hier S. 5f.; vgl. aber schon ausführlicher John Christian Laursen: Swiss Anti-Skeptics in Berlin. In: Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts. Internationale Fachtagung, 25. bis 28. Mai 1994. Hgg. v. Martin Fontius u. Helmut Holzhey. Berlin 1996 (Aufklärung und Europa: Beiträge zum 18. Jahrhundert), S. 261-281, hier S. 267-269. Anstoß für die Debatte gibt - wie so oft - Bayles »Dictionnaire«. Vgl. Pierre Bayle: »Pyrrho«. In: Choix d'articles tries du Dictionnaire historique et critique. Hg. v. Elisabeth Labrousse. Bd. 2: M-Z. Hildesheim u. New York 1982, S. 913-918. Jean-Pierre de Crousaz an Jean-Henri-Samuel Formey, Lausanne, le 6e Juin 1738. Biblioteka Jagiellonska, Krakau. Sammlung Varnhagen, [Bl. 1-3]. Crousaz an Formey, Lausanne 15 Mars 1739. Ebd., [Bl. 4-7, hier4f.]. Crousaz an Formey, Lausanne le 20 Aout 1743. Ebd., [Bl. 10-11]. Crousaz an Formey, Lausanne le 20 Aout 1743. Ebd, [Bl. 11]. Formey an Crousaz, Berlin le 25e Mars 1745. Bibliotheque cantonale et universitaire Lausanne. Fonds de Crousaz, IS 2024/XIV/54, [l Bl.]. Vgl. Nouvelle Bibliotheque Germanique 9 (1751), S. 300f. Dazu die homepage des Berner Haller-Projektes (wie Anm. IV., 157).

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Am 12. Oktober 1740 schlägt Formey Haller vor, seine Kurzfassung von Crousaz' Text zu übersetzen.188 Haller akzeptiert mit einer taktischen Einschränkung. Er will nicht so sehr den Urvater des Pyrrhonismus, den Mediziner Sextus Empiricus (ca. 180-200 n.Chr.), sondern vielmehr Bayle als Gegner in den Vordergrund rücken. Denn der bloße Rückblick auf den antiken Arzt »[...] rendra l'entreprise moins considerable.«189 Am 29. Oktober 1741 kann Formey Crousaz mitteilen, daß Haller eine deutsche Übersetzung der von Formey vorgelegten Kurzfassung des Examen verfertigen wird. Der neue Plan erlaube es, die Schwierigkeiten mit de Hondt zu umgehen und einen deutschen Verleger für die Publikation des Werkes zu gewinnen.190 Über die Gelehrsamkeit Hallers sind sich Formey und Crousaz einig,191 so daß auch Crousaz das Engagement Hallers begrüßt. Wie bedeutsam die Prüfung der Secte für Haller ist, zeigt die ausführliche Darstellung derselben in Johann Jacob Zimmermann Das Leben des Herrn von Haller (\1'55). Es gehe dort schließlich um die Ordnung der natürlichen Dinge, aus der alles andere fließe, so Zimmermann. Für Haller gelte noch der physikotheologische Gottesbeweis: Gott, der eine Schöpfer, kann danach aus jedem Bestandteil der Natur geschaut werden. Folgte man hingegen den >Pyrrhonisten< so sei die Wahrnehmung der natürlichen Ordnung und damit auch das Bild des einen Gottes zerstört.192 Hallers Vorrede zur Prüfung der Sekte die an allem zweifelt (1750) erhellt, daß er gegen eine als amoralisch wahrgenommene Lehre kämpfen will, die sich zusehends über alle Länder ausbreite.193 Seine Motivation deckt sich mit Crousaz' Mutmaßungen: Es sei komfortabel, nicht zu glauben, meinen beide. Auf diese Weise entledige sich der Mensch moralischer Verpflichtungen, die das Gewissen der Christen beschäftigten.194 Eine pessimistische Anthropologie bestimmt Hallers Denken. Ursprünglich sei der

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Jean Henri Samuel Formey an Albrecht von Haller, Berlin, le 12.10.1740. Staatsbibliothek zu Berlin/Preußischer Kulturbesitz. Sammlung Autographa, [l Bl.]. Albrecht von Haller an Jean Henri Samuel Formey, Gottingue, le 18 Nov 1740. Staatsbibliothek zu Berlin/Preußischer Kulturbesitz. Nachl. Formey, K. 19, [l Bl.].-Der Brief ist beschädigt und daher stellenweise nur schlecht lesbar. Formey an Crousaz, Leipsic le 29e 7bre 1741. Bibliotheque cantonale et universitaire de Lausanne. Fonds de Crousaz, IS 2024/XIV/54, [Bl. 3-5, hier 3]. Formey notiert über Haller, er sei ein Gelehrter, für den er aufgrund seiner ungewöhnlichen Geisteskräfte und Herzensgaben hohe Achtung empfinde. Bibliotheque Germanique 9(1751), S. 301. Zimmermann: Das Leben des Herrn von Haller (wie Anm. IV., 157), S. 380-382. Die Vorrede zählt zu den >kanonischen< Haller-Texten; sie ist zum einen in dem von Heinzmann herausgegebenen »Tagebuch seiner Beobachtungen«, zum anderen in den »Kleinen Schriften« enthalten. Aus arbeitspragmatischen Gründen zitiere ich nach der letztgenannten Ausgabe: Vorrede zur Prüfung der Sekte die an allem zweifelt. In: Sammlung kleiner Hallerischer Schriften. Zweite, verbesserte und vermehrte Auflage. Erster Theil. Bern 1772, L, S. 3-46. Ebd., S. 5.

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Mensch böse, und die Pyrrhonisten versuchten nichts anderes, als diesen bösen Trieben zur Durchsetzung zu verhelfen. Für die Ungläubigen zähle nur die irdische Glückseligkeit, ein Synonym für Wollust, Ehre - kurz: für »angenehme Empfindungen«.195 Dies soll gezeigt werden, um Bayle zu widerlegen, seine Philosophie als Scherz und als widersprüchliche »Sophisterey« zu entlarven.196 Doch geht es Haller dabei in erster Linie um »die praktischen Folgen des Unglaubens.«197 Diese wiederum hat ein Zeitgenosse wie kein zweiter vorgeführt: La Mettrie, der selbsternannte Freund Hallers.198 Der ruchlose »Gottesverleugner[]« tue der Welt einen Dienst, weil er, »[...] mit abgeworfener Larve, den Menschen die wahre Gestalt [...]« eines Pyrrhonisten entdecke.199 La Mettrie löse alle »Bande des menschlichen Lebens«: die Nächstenliebe und das Gewissen.200 Er schildere Subjekte, die bloß unverbunden vor sich hinvegetierten.201 Dieser Verzeichnung menschlichen Lebens lasse sich nur eines gegenüberstellen, nämlich ein bedürfnisloses und auf das Jenseits gerichtetes einfaches Christentumrechtgläubiger< Eigensinnigkeiten einerseits und Baylescher Indoktrination andererseits bewertet:214 Selbstverständlich erzeuge die Fraktionsbildung seitens der Theologen Irritation und bewirke jenen skeptischen Enthusiasmus der >Libertinseinfaches< glückseliges Dasein. Dorthin führt - nach Crousaz - nur ein Weg, nämlich die Union der Protestanten:216 Le sort des Libertins consiste dans l'opposition qu'ils trouvent entre la Raison & la Religion; Cette Opposition tombera par nötre reunion [die von Crousaz und von Stain geplante], & par lä nos ennemis communs [Orthodoxe und Libertins] se trouveront sans armes.217

Crousaz will alle Parteien auf eine Lehre verpflichten, die dem gesamten Volk gepredigt werden soll. Als vorbildlich für eine solche einfache protestantische Lehre betrachtet er die Schriften des Bayle-Gegners, in dessen Tradition er die

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Jean Pierre de Crousaz: Examen du Pyrrhonisme ancien & moderne [...]. La Haye 1733. Siehe Kapitel II, Abschnitt 4 dieser Studie. »M. Bayle a jette, avec un fatal succes, des semences de Pyrrhonisme dans ses Joumaux, & M. le Clerc, plus sage, a repandu habilement, ses idees dans les siens, & a ramene un grand nombre de Chretiens de leurs prejuges.« Crousaz an von Stain, 14e 8bre 1718. Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel. 4° Ms hist.litt. 3, [Bg. l']. »L'enthousiasme expose, par lui meme, la Religion aux Libertins, & a leur livre sans defense. La voye de l'autorite nous ramene aux joug du Pape, & qui ne voit que des lä, la Religion a tout air d'une fine Politique qui fait regner, ä la pace de Dieu, une petite partie des hommes sur les autres, & voila encore une porte ouverte a l'irreligion & au libertinage.« 8° Avril 1718. Ebd., [Bg. l v ]. Dazu im zweiten Kapitel über die Ablehnung des »Consensus«. Crousaz an von Stain, 8° Avril 1718. Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, [Bg. ].

177 eigene Widerlegung stellt. Gemeint ist Le Clerc, der Vertreter einer »morale« für die Ungelehrten.218 Auch Haller steht in dieser Tradition. Er übersetzt und kommentiert Crousaz - allerdings in erster Linie nach Formey. Formey wiederum schöpft den Crousaz-Text nicht aus;219 Haller trägt die fehlenden Auszüge aus dem dreizehnten und vierzehnten Kapitel des Examen nach. Dort werden die praktischen Folgen des Unglaubens angesprochen. Hallers erster Teil lautet dementsprechend: »[...] Der Wiederlegung der Pyrrhonischen Lehre. Oder die Beurtheilung des Sextus Empiricus.«220 Crousaz' ersten Teil zu Sextus läßt er weg und beginnt statt dessen mit Crousaz' zweitem Teil,221 nämlich mit der Untersuchung des Sextus bzw. seines Grundrisses der pyrrhonischen Skepsis. Hallers erster Abschnitt reicht bis in den zweiten Teil von Crousaz hinein. Bis einschließlich »Section XIV.« übersetzt Haller die Titel von Crousaz und zeigt Kurzfassungen der »Sections« an. Bezeichnenderweise fehlen zwei »Sections«,222 nämlich (aus Teil 2): »Section II. Examen de Apologie de Mr. Bayle & des eclaircissemens qui l'accompagnent. Section III. Du Pyrrhonisme de Mr. Bayle & de ses mauvais effets.«

Siehe Kapitel II, Abschnitt 2 (Exkurs) dieser Untersuchung. Formey nimmt den Crousaz-Text bis S. 542 auf: Aus dem dritten Teil bis »Section XIII[.] Examen du Pyrrhonisme sur la Providence.«, »Section XIV[.] Examen du Pyrrhonisme par rapport ä l'influence de la Religion sur la Societe. Section XV. Oü parcours les Entretiens de Maxime & Themiste [...]. Section XVI. Oü reflechit sur quelques Remarques de Mr. Bayle, sur des Personnages du Vieux Testament; dont est parle dans le Dictionnaire Critique[.] Section derniere. Examen du Traite Philosophique de Mr. Huet de la foiblesse de Esprit Humain.« [Formey, Haller:] Prüfung der Secte (wie Anm. IV., 199), S. 399f. Crousaz gliedert die entsprechenden Teile wie folgt: »Part II. Section I. Idee Generale de la Philosophie de Sextus. [Beigefügt ist ein Tableau du Secpticisme]. Section II. Examen du Premier Livre des Hypotyposes de Sextus[.] Section III. Examen du second Livre des Hypotyposes ou du Tableau du Scepticisme. Section IV. Examen du III. Livres des Hypotyposes[.] Section V. Examen du Traite de Sextus contre les Mathe'maticiens. Part III: Oü entreprend l'Examen de ce que Mr. Bayle a ecrit en faveur du Pyrrhonisme. Section I. Oü reflechit sur le Caractere de Mr. Baylef.] Section II. Examen de l'Apologie de Mr. Bayle & des eclaircissemens qui l'accompagnent. Section III. Du Pyrrhonisme de Mr. Bayle & de ses mauvais effetsf.] Section IV. Du Pyrrhonisme en general & du Pyrrhonisme Logique en particulier. Section V. Du Pyrrhonisme Historique. Section VI. Examen du Pyrrhonisme Physique[.] Section VII. Examen du Pyrrhonisme Moral. Section VIII. Examen du Pyrrhonisme sur l'Existence de Dieu. Section IX[.] Examen de la Question Metaphysique, si la Conservation est une Creation continuee. Section X. Examen du Pyrrhonisme sur Ame de l'homme. Section XI. Examen du Pyrrhonisme sur la Liberte. Section XII. Examen du Pyrrhonisme sur la felicite des hommes. Section XIII[.] Examen du Pyrrhonisme sur la Providence. Section XIV[.] Examen du Pyrrhonisme par rapport ä l'influence de la Religion sur la Societe.« Ders.: Examen du Pyrrhonisme (wie Anm. IV., 212), unpag. [****-****]. Haller übersetzt und ordnet neu: »Erster Theil. der Wiederlegung der Pyrrhonischen Lere oder die Beurtheilung des Sextus Empiricus. Erster Abschnitt. Allgemeiner Begriff der Weltweisheit des Sextus. Zweyter Abschnitt. Allgemeine Anmerkungen über das erste

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Doch nimmt Haller in seinem Vorwort wieder auf, was er kürzt: Crousaz' Kritik an der korrumpierten Zivilisation, am Luxusbedürfnis, am Regiment der Laster und der Leidenschaften überführt er in ein Plädoyer für eine christliche Aufklärung.223 Crousaz behauptet, daß Bayle der Philosoph eines korrumpierten Zeitalters sei.224 Doch fällt es Crousaz - anders als Haller - schwer zu bestimmen, was er eigentlich bekämpfe, nämlich etwas, das sich hinter »Sophistereyen« verstecke und deshalb nicht klar zu bestimmen sei.225 Eine Definition des Befehdeten ergibt sich erst am Schluß der einleitenden »Section«: [...] les Pyrrhoniens, tels que je les , sont des gens qui parlent & qui pensent comme les autres hommes, ä l'exception de deux cas. 1. Des qu'on commence ä s'entretenir sur quelque Question, de quelque nature qu'elle soil; ils prennent toujours un parti oppose ä celui des autres, & perdent entierement de vue tout dessein de s'eclairer, ils ne pensent qu'ä entasser difficultes sur difficultes, ä fui'r la lumiere, & ä se derober aux plus fortes preuves: Ils fönt enfin consister leur plaisir & leur gloire ä ne point se rendre. 2. II en est encore en particulier l'esprit de doute & de contradiction saisit, sur tout des qu'on parle de Religion & de Morale.226

Pyrrhonisten geben als eine »Marotte« vor, unabhängig zu leben, leugnen damit aber - nach Crousaz - nur die Realität.227 Sie sind Meister der Verstellung, also schwer zu entdecken. Der Pyrrhonismus-Gegner soll gerade deshalb vorsichtig sein, denn Pyrrhonist werde man nicht von einem Tag auf den anderen. Viel-

Buch der Hypotyposen. Dritter Abschnitt. Prüfung des zweiten Buches der Hypotyposen. Vierter Abschnitt. Prüfung des dritten Buches der Hypotyposen. Fünfter Abschnitt. Prüfung der Schrifft die Sextus wider die Mathematic hinterlassen hat./ Zweyter Theil. In welchem man dasjenige untersucht, was der Herr Bayle zum Behuf der Pyrrhonischen [Z]weifelsucht vorgebracht hat. Erster Abschnitt. Anmerkungen über des Hrn. Bfayle] Gemüthsart und die Absicht seiner Werke. Zweyter Abschnitt. Von den Gründen der Zweifellehre überhaupt, und insbesondere von der Logicalischen Zweifellehre. Dritter Abschnitt. Prüfung der Zweifellehre in der Geschichte. Vierter Abschnitt. Prüfung der Zweifel in der Naturlehre. Fünfter Abschnitt. Prüfung der Zweifelsucht in der Sittenlehre. Sechster Abschnitt. Prüfung der Zweifel über das Dasein Gottes. Siebender Abschnitt. Prüfung der Metaphysischen Frage, ob die Erhaltung eine anhaltenden Erschaffung seyn. Achter Abschnitt. Prüfung der Zweifel über die Seele des Menschen und derselben Unsterblichkeit. Neunter Abschnitt. Prüfung der Zweifelsucht über die Freyheit. Zehenter Abschnitt. Prüfung der Zweifelsucht über die Glükseligkeit des Menschen. Eilfter Abschnitt. Prüfung der Zweifelsucht der Pyrrhonier über die Vorsehung Gottes. Zwölfter Abschnitt. Prüfung der Zweifelsucht in Ansehung des Einflusses der Religion auf das gesellschaftliche Leben, und die bürgerliche Verfassung.« Siehe [Formey, Hallen] Prüfung der Secte (wie Anm. IV, 199), S. 399f. Crousaz: Preface. In: ders., Examen du Pyrrhonisme (wie Anm. IV, 212), unpag. [******2, hier ***r]. Ebd., unpag. [***v]. »[...] je con$ois qu'il faut d'abord donner une idee juste du Pyrrhonisme & des Pyrrhoniens, & je ne sais comment m'y prendre: Cette idee m'echape des que je veux la saisir. M'exposerais-je done ä attaquer une Chimere? Y-a-t-il des Pyrrhoniens?« Ebd., Partie I, Section I.II, S. 1. Ebd., XVIII, S. 13f. Ebd. [Hervorhebung im Original].

179 mehr schleiche sich die »Zweifelsucht« als ein »funeste goüt pour la Contradiction & pour I'Incertitude« unterschwellig ein:228 Le Pyrrhonisme est un si grand Renversement de la Raison, qu'il n'est pas possible que 1'Esprit humain se soil asses derange tout d'un coup, pour se porter ä un exces si contraire ä sa Nature, ä ses besoins & ä la perfection ou il tend: C'est par degres qu'on y est venu, & par des degres insensibles [...].229 Ein Mittel gegen den gefährlichen und nur graduell faßbaren Pyrrhonismus sei jedoch leicht zu finden: die >Liebe zur Wahrheit< (»Amour de la Verite«), der natürlichen und gottgewollten Vernunft gemäß.230 All diese komplizierten Aspekte von Crousaz' Examen, der graduelle Begriff vom Pyrrhonismus usf., fallen in Hallers Prüfung der Secte weg. Hallers Schrift erscheint - ihrer Absicht gemäß - als weniger genau und gelehrt. Ähnliches läßt sich aber schon für die Behandlung der skeptischen Quellen durch Crousaz beschreiben, die ich im Detail vorführen und mit Hallers >Übersetzung< vergleichen will. Noch relativ quellennah ist die Ausgangsdefinition für den Begriff der Skepsis durch Crousaz und seine >Übersetzergewissen Ähnlichkeiten< einer gewissen Ärzteschule und der Skepsis, von denen Sextus spricht, werden von Crousaz mit einem »s'accorde bien« auf eine ganz andere Ärzteschule übertragen. Gemeinsam sei beiden, daß sie Empfindungen hoch schätzen. Bei Haller ist dann von der gesamten »Arzneykunst« die Rede. Das Ausgangsproblem, der Zwang des Empfindungserlebnisses, wird zu einem bloßen >Eindruck der Natur< entstellt. Mit Hilfe solcher und der zuvor erläuterten Vereinfachungen lassen sich nicht nur die Skeptiker leicht widerlegen. Fast jeder mißliebige Denker läßt sich auf diese Weise als Skeptiker beschreiben. 237 238 239 240

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Crousaz: Examen du Pyrrhonisme (wie Anm. IV., 212), Partie H., Section I., Chap. XXXIV, S. 61. Sextus Empiricus: Grund der pyrrhonischen Skepsis (wie Anm. IV, 231), I, 34. Ebd. Ebd. [Formey, Haller:] Prüfung der Secte (wie Anm. IV, 199), Erster Theil, Erster Abschnitt, XIX., S. 6.

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Haller hält - über Crousaz hinausgehend - aber noch andere Argumente gegen die Skeptiker bereit. Einige davon will ich knapp anführen, weil sie - anders als die Sextus-Lektüre im Anschluß an Crousaz (und Formey) - überzeugen können: erstens wendet sich Haller gegen Crousaz' Unbehagen hinsichtlich des Grundprinzips der skeptischen Lehre, das eine unendliche Zahl von Beweisen für Naturwahrheiten fordere. Haller plädiert dafür, die Skeptiker mit Hilfe der Tatsachenwahrheit zu überzeugen. Zu diesem Zweck legt er den Satz vom Widerspruch zugrunde. Er lautet: Ein Ding könne nicht zugleich sein und nicht sein.242 Zweitens stellt Haller Ursache-Wirkungsbeziehungen in Frage, die Sextus als Beweis gegen den Nutzen der Vernunftlehre anführt.243 Gegen den Relativismus Bayles läßt sich - drittens - ein Beispiel aus der Optik anführen. Zwar erscheine verschiedenen Tieren derselbe Körper einmal groß, ein andermal klein, doch liege diese abweichende Wahrnehmung an der Linsenkrümmung der Tiere.244 Haller nutzt sein naturforschendes Wissen und gelangt damit zu einsichtigen Argumenten gegen das, was er mit Blick auf Crousaz als skeptisch ausweist. Doch bemüht sich Haller auch um im engeren Sinne moralische und christliche Argumente. Sie betreffen die creatio ex nihilo, die Haller als christliches Konzept zu retten sucht.245 Auf Bayles Versuch, die Trinitätslehre zu widerlegen, antwortet Crousaz im Mittel einer geometrischen Überlegung, die Haller nicht einleuchtet. Haller bleibt das Argument, warum sie ihm nicht einleuchtet, aber bezeichnenderweise schuldig.246 Die übrigen Argumente Hallers betreffen mal die Anthropologie Bayles,247 mal Hallers Verständnis von der Welt als einer harten Prüfung des Gläubigen durch die Prädestination.248 All das wird im 242 243

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Ebd., Erster Theil, 2. Abschnitt, VII., S. 12, Anm. *). Heilmittel wirken gegen Krankheiten, so Haller. Sextus aber sage, sie taugen nicht: Wasser etwa helfe nicht gegen Entzündung. Der Göttinger Mediziner entgegnet: »Der ganze Einwurf bedeutet nichts. Die Entzündung wird durch ihr würkliches Widerspiel geheilet, nemlich durch solche Dinge die den allzugroßen Trieb des Geblütes verringern. Aber dieses thut das kalte Wasser nicht, und ist folglich auch der Entzündung nicht entgegen.« Ebd., Dritter Abschnitt, XXL, S. 36, Anm. *). Ebd., Erster Theil, Vierter Abschnitt, XVIII., S. 58f, Anm. *). Ebd., Fünfter Abschnitt, VI., S. 108f. Statt dessen verweist Haller auf Fachgelehrte: »Clauberg hat eine vortreffliche Abhandlung über die Einheit und Dreyfaltigkeit geschrieben, die man hier zu Rathe ziehen kan. Man kan auch des Erzbischofs Tillotsons Predigt im VI. Theile hierüber nachsehen.« [Formey, Haller:] Prüfung der Secte (wie Anm. IV., 199). Zweyter Theil, Zweyter Abschnitt, S. 150, Anm. *). Bayle versuche zu erweisen, daß wir lieber in dem Glauben handelten, von einem »unmittelbaren Trieb des göttlichen Geistes« beseelt zu sein: »Man muß diesen Gedanken des Hrn. B[ayle] nicht zu weit treiben,« entgegnet Haller, indem er die >uninteressierte Tätigkeit der Tugendhaften betont. Ebd., Zehnter Abschnitt, II., S. 310-314, Anm. *). »Die zeitliche Glükseligkeit ist den Frommen an sich selbst nicht nützlich. Sie befestigt unsre Fessel an die Erde, von welcher wir uns doch trennen müssen, sie findet uns einen gefährlichen Trost in vergänglichen Dingen, und stärkt das wesentliche Laster der Hochmuth. Das Wohlergehen der Guten ist vermuthlich mehr zu, allgemeinen Besten der Kirchen zuweilen ausersehen, als zu ihrem eigenen Vortheile.« Ebd. Zweyter Theil, Elfter

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Blick auf die praktischen Folgen des Unglaubens zugespitzt. Dabei wird der Doppelcharakter Bayles als Christ und Skeptiker zentral: Wir kommen zu einem Theile der Zweifellehre, an welchem der Hr. Bfayle] ein ganz besonderes Vergnügen scheint gefunden zu haben. Es ist schwer zu begreiffen, was einen Mann, der doch das Christenthum eben nicht verleugnet hat, bewegen können, mit so vielem Eifer den Atheisten das Wort zu reden.24'

Bayle sehe die »Ehrbegierde« - verglichen mit dem religiösen Gewissen - als wichtiger an.250 Damit verteidige er die »Atheisterey«, die es - nach Hallers Lektüre der Reisebeschreibungen - in keinem Land wirklich gebe.251 Bayle sei außerdem durch die Geschichte widerlegt. Die Religion, so habe sich immer wieder gezeigt, verbessere die Sitten der Menschen und wirke in einem wohleingerichteten monotheistischen Staat gegen die Untugend.252 In diesem Sinne entwirft Crousaz - zum Gebrauch des Kasseler Fürsten und gegen Bayle - einen Katalog für den christlichen Staat, in dem es um das christliche Fundament des Gemeinwesens geht.253 All das finde sich jedoch längst im Naturrecht: Der Hr. B[ayle] hätte hier den Grotius und Puffendorf lesen sollen, und er würde besser gethan haben ihnen zu folgen, als in alten vergessenen Büchern hin und wieder etwas zusammen zu stoppeln, womit er die Religion zweifelhafft machen konte. Er findet einen Wiederspruch zwischen dem Nutzen des Staats und der Religion. Diese Anmerkung wäre richtig, wann man durch einen wahren Christen einen einfältigen, einen Enthousiasten verstünde, bey welchem niemand die Gleichgültigkeit und die Unachtsamkeit auf irrdische Dinge stören könte. Ein sparsamer Fürst, der alle Auschweiffungen hasset, der die Gesetze beschützt, und selber ihnen gehorsam ist, der den Ueberfluß erhält, der die Kriegszucht nicht verabsäumt, in den Herzen seiner Unterthanen herrscht, und zu herrschen verdient, sein Wort hält, alles selber einsieht, geschickte und uneigennützige Minister wählt, sollte ein solcher Fürst nicht im Stande sein, gewalthätige Angriffe von seinen Staaten abzuwenden'.' Wird es ihm an Verbundenen mangeln? und wird man bedauren, daß er anstatt seiner Frömmigkeit nicht Ungerechtigkeit und Betrug zum Triebe seiner Thaten hat.254

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Abschnitt, XL, S. 344-346, Anm. *).»[...] ein jeder Mensch werde von der Gnade vielmahls und öffters zur Kenntnüß seiner eigenen Boßheit getrieben, und in seinem Gewissen beunruhiget. Verschlummert er diese heilsamen Triebe, so ist es hernach seine blosse Schuld, wann er verlohren geht. [...] Gott ist nicht verbunden mehrere Wunder für einen jeden einzelnen Menschen zu thun.« Ebd. Zweyter Theil, Elfter Abschnitt, XIX., S. 257f., Anm. *). Ebd., XII. Abschnitt, L, S. 359. Crousaz schreibt: »Voici une Question sur laquelle Mr. Bayle s'est le plus etendu, & dont par consequence l'examen sera aussi d'une plus grande etendue. On a de la peine ä comprendre qu'un homme, persuade que Dieu s'est re'vele aux hommes, comme Mr. Bayle assure qu'il en est persuade par l'effet d'une Grace surnaturelle, puisse se resoudre ä emploier son temps ä faire l'Apologie des Athees; car qu'y a-t-il de plus inutile & en meme temps de plus scandaleux?« Ders.: Examen du Pyrrhonisme (wie Anm. IV, 212), Partie HI., Section XIV, S. 595. [Formey, Haller:] Prüfung der Secte (wie Anm. IV, 199), VI., S. 367. Ebd., XL, Anm. *, S. 385. Ebd., XVI., S. 396. Vgl. ebd., IX, S. 371-375. Ebd., X., S. 376f. - Als ein solches positives Beispiel nennt Haller Christian VI. von Dänemark, »der zugleich GOtt ernstlich gefürchtet, und seine Staaten glücklich beherrscht hat.« Ebd., S. 377, Anm. *.

184 Die Debatten über die Formula Consensus in Lausanne, Crousaz' unionistischen Pläne mit von Stain, die gewisse Spannung, die der Skeptizismus erzeugt, lassen die Behauptung als unwahrscheinlich erscheinen, Crousaz (und Haller) seien >heimliche< Skeptiker und wollten >die Sache der Pyrrhonisten< im Mittel der Polemik bloß befördern.255 Nicht nur im Fall von Crousaz (und Haller) erweist sich die Spekulation über >verborgene< Gesinnungen als irreführend. Sie wenden sich tatsächlich gegen ein >Übel< ihrer Zeit, dessen >Keim< sie - wie jeder Mensch - in sich zu tragen meinen. Diese >böse Saat< soll jedoch nicht aufgehen und muß daher möglichst effektiv in ihrem >Wachstum< gehemmt werden. Mit der Tugend des Herrschers steht und fällt die moralische Einrichtung des skepsis-armen, des >glücklichen< Gemeinwesens. Haller wird sich in seinen Staatsromanen auf dieses praktische Problem konzentrieren. Als Phänomen des Unglaubens wird die >Zweifelsucht< aber auch andernorts wieder und wieder beschrieben, widerlegt und als schädigend erwiesen.256 b) U song (1771), Alfred (1772), Fabius und Cato (\ 774): Geschichten für eine »christliche Gesellschaft« Im Roman gestaltet Haller, was Crousaz über die praktischen Folgen des Unglaubens lehrt. Dabei rückt die Figur des tugendhaften Herrschers, das Vorbild für die »christliche Gesellschaft«, in den Vordergrund. Der ideale Herrscher bewährt sich im Gang durch die Regierungsformen: durch die Despotie (Usong), durch die konstitutionelle Monarchie (Alfred) und durch die Demokratie (Fabius und Cato). Hallers Staatsromane stehen - zu Recht - im Schatten der Erfurter Romane Wielands, auf die ich später ausführlich zu sprechen kommen will: Hallers Texte sind weitaus weniger komplex angelegt, als diejenigen des eigensinnigen Bodmer-Schülers. Besonders Usong, der frühste der

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Vgl. demgegenüber: »It was here suggested that Crousaz was, perhaps, a pyrrhonist in disguise, really helping the sceptics while pretending to attack them.« Popkin: Scepticism in the Enlightenment (wie Anm. IV., 179), S. 5. Siehe auch: Reflexions sur le pyrrhonisme, ou lettre ä Mrs. les auteurs de la Bibliotheque Britannique. In: Bibliotheque Britannique 24 (1747), S. 281-356; Lettre de l'Auteur du »Pyrrhonisme du Sage« Mr. ... In: Nouvelle Bibliotheque Germanique 23/1 (1758), S. 212-226. Der erkenntnistheoretische Skeptizismus aber, den Louis de Beausobre in seinem »Le pyrrhonisme du sage« (1754)/»Le pyrrhonisme raisonnable« (1755)/»Zweifel des Weisen oder vernunftmäßiger Pyrrhonismus« (1789) darlegt, spielt bei Haller keine Rolle; vgl. dazu auch den spannenden Beitrag von John Christian Laursen: Political Virtue and Anti-skepticism in Albrecht von Haller's Political Novels. In: Republikanische Tugend. Ausbildung eines Schweizer Nationalbewusstseins und Erziehung eines neuen Bürgers. Contribution ä une nouvelle approche des Lumieres helvetiques. Actes du 16e Colloque de Academic suisse des sciences humaines et sociales (Ascona, Monte Veritä, Centro Stefane Franscini). Hgg. v. Michael Böhler, Etienne Hofmann, Peter H. Reill u. Simone Zurbuchen. Genf 2000 (Travaux sur la Suisse des Lumieres 2), S. 263-281.

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drei Romane Hallers, verliert immer wieder im Vergleich mit Wielands Der goldne Spiegel oder Chronik der Könige von Scheschian.251 Gleichwohl kann sich Wieland nicht nur im Blick auf seine Darstellung des Skeptizismus-Problems auf Hallers Staatsromane stützen. Haller führt Usong als wahre Geschichte ein, die auf Pedro Bizarros Rerum Persicarum Historia (1610) beruhe. Die Herausgeberfiktion der [...] Chronik der Könige von Scheschian nimmt ebenfalls auf eine historische Quelle Bezug. Darüberhinaus arbeitet schon Haller mit verschachtelten Verfasser- und Herausgeberfiktionen. Er handelt von einem Kaiser, nämlich von dem Despoten Usong, der seinen Thron sowohl durch Zufälle als auch durch Verdienst erlangt. Charakteristischerweise spielt die Handlung in Persien, einem heidnischem Land, in dem so manche Religion ihren Ursprung fand. Am Beispiel Persiens soll geprüft werden, ob es dem beliebten und vergleichsweise moralischen Despoten gelingt, die auf ihn zentrierte Herrschaftsform zu mildern, sie gewaltenteilig anzulegen. Während in Europa Landstände und Parlamente Gegengewichte zur alleinherrschenden Macht bilden, seien solche Regulierungsversuche für Persien neu.258 Doch stünden die Zeichen dafür günstig, denn wirtschaftlich prosperiere der vorindustrielle Agrarstaat. Usong beginnt folgerichtig mit einer Reformierung der kameralistischen Regelungen, des Steuerwesens, des Kriegswesen, der Polizey, des Rechtswesens - und scheitert an der Religion. Unter den »Aliden« ergehe es der Religion in Persien am schlechtesten, so ist in einer Besprechung des Usong durch Haller selbst zu lesen.259 Es mangele an Geistlichen und Gläubigen. Usong versucht, die Mißstände zu reformieren.

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Zu Hallers »Usong« Max Widmann: Albrecht von Hallers Staatsromane und Hallers Bedeutung als politischer Schriftsteller. Eine litterargeschichtliche Studie. Biel 1894. Widmann hebt als entscheidenden Unterschied zwischen beiden Romanen den >französischen< Stil Wielands hervor. Ebd., S. 190-192. Er vernachlässigt - wie später Bernhard Spies - den Aspekt der Religion. Siehe Bernhard Spies: Politische Kritik, psychologische Hermeneutik, ästhetischer Blick. Die Entwicklungen bürgerlicher Subjektivität im Roman des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1992 (Germanistische Abhandlungen 73). Ähnlich Wolfgang Biesterfeld: Die literarische Utopie. Stuttgart 21982 (Sammlung Metzler 127), S. 72-75; ausführlich über einen Vergleich der Staatsromane Bernhard Budde: Aufklärung als Dialog. Wielands antithetische Prosa. Tübingen 2000 (Studien zur deutschen Literatur 155), S. 169. Seit 1992 sind keine Forschungsbeiträge mehr zu Hallers Romanen erschienen, obwohl nicht nur der Roman »Usong« eine erneute Interpretation lohnen würde. Dazu Michael Titzmann: Wielands Staatsromane im Kontext des utopischen Denkens der Frühen Neuzeit. In: Utopia und die Wege dorthin - Vom Schicksal der großen Entwürfe. Acta Hohenschwangau 1993. Hgg. v. Stefan Krimm, Dieter Zerlin u. Wieland Zirbs, S. 110-112. Haller: Vorrede. In: ders., Alfred König der Angel-Sachsen. Frankfurt u. Leipzig 21774, unpag. [B. 3-B. 5, hier B. 5]. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 33 (1773), S. 275-278; Haller: XCIV. Erläuterungen über den Usong, des Hern. v. Haller. In: ders., Tagebuch (wie Anm. IV, 165). Erster Theil. Zwote Abtheilung, S. 378-381, hier S. 378f.

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Über eine genaue Datierung des Usong ist nur schwer Auskunft zu geben. Bizarro erwähnt die Geschichte des »Usumcassanus« (t 1478), den Haller Usong nennt, nur knapp.260 Entsprechend frei kann Haller die Phantasie schweifen lassen. Als das (barocke) >Verhängnis< oder >Schicksal< in das Wohlergehen Persiens eingreift, sucht Usong Trost bei einem Waldensermönch. Die irdische >Eutopia< Persiens entlarvt er damit als institutionalisiertes Problem. Weltliches und geistiges Wohl der Untertanen sollten in Persien durch eine >Staatsreligion< verbunden werden. Der Herrscher aber nimmt in seinen letzten Tagen Zuflucht zum Christentum, um seinen Ekel vor der selbsterrichteten Welt zu vergessen. Noch entschiedener als in Der goldne Spiegel wird mit dieser Wendung für die Offenbarungsreligion als Fundament der Herrschaft plädiert. Nicht anders läßt sich Alfred interpretieren. Es handelt sich um die Geschichte Alfred des Großen (849-899), der die Wikinger besiegte, um die Geschichte des weisen Gesetzgebers und Förderers der Wissenschaften. In Alfred wird, den historischen Quellen entsprechend, eine »gemäßigte Monarchie« gezeichnet, die dem traditionsreichen Thron der für Haller vorbildlichen Monarchie gewidmet ist, nämlich Georg III., dem König von Großbritannien, Frankreich und Irland, des Heiligen Römischen Reiches Erz-Schatzmeister und Kurfürsten. Wie Georg III. gilt Alfred als vorbildlicher, doch zu strenger Herrscher.261 Wie Usong weiß auch Alfred nicht mit der Religion umzugehen. Anders als Usong schätzt er die Bedeutung derselben jedoch zu hoch ein. Wie für sein Zeitalter typisch, verehrt er die Mönche als weise, als gebildete und sogar als heilige Personen. Trotz seiner »wahre[n] Gottesfurcht« neigt er zur unbegrenzten Verehrung des Klerus. Fatalerweise bittet er diesen auch in Regierungsdingen um Rat.262 Außerdem zeichnet sich Alfred durch eine spezielle Hybris des Gläubigen aus. Er habe etwas »Mönchisches« an sich, vermerkt der Erzähler kritisch. Daß er sich nach einer Krankheit ganz den »sinnlichen Lüsten« hingibt - und vielleicht, so der Erzähler, an der Weisheit Gottes zweifelt, überrascht nicht.263 Denn Alfred erscheint zunächst als orthodoxer und schließlich als in seinem Glauben degenerierter Herrscher. Der Zweifel wird aber erst in Hallers letztem Staatsroman zum Hauptmotiv: in Fabius und Cato, einer Schilderung der römischen Republik zwischen dem zweiten Punischen Krieg, der Schlacht mit Hannibal, und dem Wirken Catos d.Ä., also etwa zwischen 218 und 146 v. Chr. Große Teile des sehr geschichtstreuen Buches bilden Kämpfe der griechischen Rhetoren und der römischen Philosophen ab, wie sie schon die Gottschedin in Szene setzt.264 Gewidmet ist es

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Widmann: Albrecht von Hallers Staatsromane (wie Anm. IV., 157), S. 61 f. Haller: Alfred (wie Anm. IV., 258), [B. 3]. Ebd., S. 97. Ebd., S. 87f. Ebd., [B. 5].

187 Herrn Carl, Grafen und Herrn von Firmian, Ritter des güldenen Vliesses Kammerherrn, wirklichen geheimes Staatsraht Ihrer K.K. Maj[estät] Staathalter des Hezogthums Mantua, u.s.f. Ihro Maj[estät] bevollmächtigten Minister bey der Regierung der Oestereichischen Lombardie.265

Die Alpen hindern den Helvetier nicht, »an einem Firmian diesen preiswürdigen Mann zu erkennen [...],« so lobt Haller den aktiven Verfassungspolitiker.266 Möglicherweise haben beide denselben Gegner im Blick: Rousseau, den >unbekannten Genfer BürgerUnterdrücktenergriffen< werde - und sich von ihr >ergreifen< lasse. Zwar ist ein zufälliges Moment mitgedacht, nämlich das >ErgriffenWerdeneinfach-christliche< Lehre darzulegen, als beste Morallehre zu preisen und vermeintliche Alternativen zu widerlegen. Zu diesen zählt der bekannte Skeptizismus eines La Mettrie auf der einen, die >kalte< Gottesgelehrsamkeit orthodoxer Theologen auf der anderen Seite. Deutlich wird, warum die christliche >Herzenslehre< einem nicht-professionellen >Theologeneinfache Christentum< bildet die Klammer um eine fast 100jährige Geschichte ganz unterschiedlicher Ausprägungen reformierten Glaubens. Dabei bezieht sich die Vater-Figur nicht auf die Rede Barbeyracs, sondern auf Hallers Leidener Lehrer Hermann Boerhaave, der die göttliche Sendung des Heilands philosophisch zu behaupten sucht.287 Boerhaave erfaßt, was die Vater-Figur als einfache »Lehre Jesu« unabhängig von jeder Gottesgelehrsamkeit und Philosophie beschreibt: die Sündenlehre in einer Verstärkung ihrer paulinischer Urform. Danach liegt die Sünde bereits in der bloßen Begierde. Aufgabe des Gewissens ist es, eben diese restlos auszurotten.288 Nach Ansicht des Vaters trage eine solche Sündenlehre nur aus einem Grund: [...] des Menschen Zweck sey die Ewigkeit: ihr einziges Geschäfte, sich auf ein unvergängliches Leben zuzubereiten, und der Gottheit Beyfall und Gnade sey das einzige wahre Gut.289

Daß Gott Gnade erweisen will, haben das allzumenschliche und doch übermenschliche Leiden, die Wunder und die Auferstehung Jesu bezeugt.290 Jeder Mensch müsse dieses Leiden nachvollziehen und der Sünde entsagen - schon aus »Furcht« vor dem »ewigen Richter«.291 Erst die Furcht vor dem Rächer-Gott gewährleiste aus der Sicht des Vaters die Wirksamkeit des einfachen Christentums^ Haller wendet diese Furcht in seinem religiösen Tagebuch Fragmente religiöser Empfindungen (1736-1777) auf sich selbst an.292 Der Protestant prüft sich und hofft auf Gottes Gnaden286 287 288 289

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Ebd., S.7f. Ebd. 8f. Ebd., S. 49. Ebd., S. 64. Ebd., S. 70-93 u. 111-115. Ebd., S. 53. Dazu das Haller-Kapitel in: Pott, Medizin, Medizinethik und >schöne Literatur^ Studien zu Säkularisierungsvorgängen vom frühen 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert. [Säkularisierung in den Wissenschaften Bd. 1]. Berlin u. New York 2002.

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wähl. Jesus wirke, indem er die Herzen anspricht und überzeugt. Nicht nur deshalb bekennt sich der Vater zu Jesus, sondern auch aus einem (urprotestantischen) Schriftglauben heraus - der hier allerdings als Glaube an beide >BücherBuch der Naturgemeinen Wesen< abgegrenzt. Ganz anders verhalte es sich mit jener christlichen Morallehre, die sich mit dem Gemeinwesen beschäftigt: Ainsi l'Empire des Sciences est une domaine partagee entre plusieurs Citoyens, qui pretendent etre egaux, & jou'ir de tous les privileges de cette egalite naturelle; la superiorite de talens reconnue dans quelques-uns d'entr'eux ne faisant qu'augmenter l'etendue de leur territoire, sans leur donner aucun droit sur celui des autres.36

Mit der Aussage, eine vernünftige »science des mceurs« werde die Sitten >nie beeinflussen (»n'influera jamais sur les mceurs«),37 bestreitet Formey eine Prämisse des Arguments von Rousseau: Wissenschaftliche Vernunft, so Formey, könne nicht auf die Tugendpraxis wirken - weder positiv noch negativ. Trotz und gegen Rousseau nimmt er aber an, daß eine religiöse »morale« aber sehr wohl wirken könne. Aber auch im Vergleich zu Barbeyracs Abhandlung über die Wissenschaften ändert sich die Einschätzung des Verhältnisses von Tugend und Wissenschaft.38 Bei Formey wandelt sie sich, weil eine Wissenschaft denkbar wird, die von der Religion entkoppelt ist. Im Gottsched-Umfeld spielt diese Entkoppelung zwar auch eine Rolle, zentral ist hier aber der Stellenwert der >schönen Wissenschaften insgesamt. Im »Wintermonat« 1752 wird eine unter dem Kürzel »C.B.S.v.B.« erschienene Betrachtung über die Frage: wie ein Gelehrter durch Wissenschaften ändern gefällig und einem Staat nützlich werden könne ? in Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit rezensiert.39 Neu ist an dieser Rezension die Betonung des Kriteriums der »Gefälligkeit«, um die Wirkung der Wissenschaft zu prüfen. Gefällig sein bedeute, »die Regel einer tugendhaften und erlaubten Klugheit niemals zu überschreiten.«40 Damit ist die neue Begrifflichkeit wiederum in den üblichen Sprachgebrauch übersetzt: Ein Gelehrter muß nicht nur, wie Voltaire sagt, höflich, sondern auch seinen Freunden, und seinem Vaterlande, und sich selbst, nützlich seyn.41

In ähnlicher Weise wurde der erste Diskurs Rousseaus in demselben Journal (1751) aufgenommen.42 Die Fragestellung wird als bedeutend erkannt, weil sie: [...] keine metaphysischen Spinneweben zum Gegenstande hat; sondern die Wahrheit betrifft, die mit der menschlichen Glückseligkeit in Verbindung steht.43 35

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Formey: Examen philosophique (wie Anm. V., 30), S. 23 u. 35. Diese Erklärung des »morale«-Begriffs übersah Tente - und verpaßte damit die Pointe der Argumentation Formey s. Ebd., S. 23. Ebd., S. 35. Siehe den zweiten Abschnitt des zweiten Kapitels. Das Neueste, Wintermonat (1752), VI., S. 850-859. Ebd., S. 856f. Ebd., S. 857. Ebd., Heumonat (l751), S. 469^70. Ebd., S. 469.

204 Umso wichtiger sei es, Rousseaus »Schmähschrift auf Künste und Wissenschaften« etwas entgegenzusetzen.44 Der Rezensent stellt - wie Formey - die Meinung Rousseaus, »die Künste und Wissenschaften dienten nur, die Menschen in die Sklaverey der Großen zu stürzen« gegen die Ansicht »wahrhaftig Gelehrtefr] und Weise[r].«45 Letztere seien der Ansicht, die Wissenschaften beförderten die Glückseligkeit der Menschen.46 Der Rezensent bekundet seine Abneigung gegen die Sicht Rousseaus, weil er selbst - erstens - für einen zivilisatorischen Fortschritt votiert. Wieland wird dieses Argument aufnehmen.47 Zweitens wirft der Journalist Rousseau vor, er grenze seinen Begriff von >Kunst< nicht hinreichend ein. Sogar Jagen und Fischen könnten als Künste verstanden werden, die den Menschen vom Naturzustand entfernten: »Gott Lob! Daß wir in diesem elenden Zustande der ersten Welt, oder doch der alten Zeiten, nicht mehr leben,« meint der Rezensent.48 Drittens seien die Annahmen Rousseaus über die weniger entwickelten Gesellschaften nicht realistisch. Auch dort gebe es »falsche Tugenden« und »versteckte Laster«.49 Während diese Argumente schon bekannt sind, verblüfft das Ergebnis. Wie Formey wägt der Rezensent zwischen der sympathischen Sicht der Gelehrten und Weisen und der problematischen Sicht Rousseaus ab: Es ist freylich wahr, daß wir darum noch nicht behaupten können, daß die Wissenschaften die Menschen tugendhafter gemacht hätten. Man muß billig seyn, und weder eins, noch das andere behaupten.-50

Wie Formey meint der Rezensent, daß nichts über die moralische Wirkung (oder Nicht-Wirkung) der rein vernünftigen Wissenschaft gesagt werden könne. Darüberhinaus hält er eine Erklärung für den Verfall der Sitten bereit: Nicht die Wissenschaften, sondern der Luxus verderbe die Menschen.51 Auf diese Weise und mit Blick auf die widersprüchliche Argumentation des Rezensenten läßt sich die Besprechung mit Formeys Aussagen verbinden. Die Beiles Lettres beeinträchtigten die Sitten nicht negativ. Allerdings verheißt der Rezensent anders als Formey - keine moralische Wirkung einer christlichen Morallehre.

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Ebd., S. 470. Ebd., S. 474. Ebd., S. 470. Christoph Martin Wieland: Über die Behauptung dass ungehemmte Ausbildung der menschlichen Gattung nachtheilig sey (1770). In: ders., Gesammelte Schriften. 1. Abteilung: Werke V (7, 8/2). Verserzählungen, Gedichte und Prosaschriften. Hg. v. Siegfried Mauermann. Bericht u. Register zum 6. Bd. Agathon v. Wilhelm Kurrelmeyer. Hildesheim 1986 (Bd. 7; Nachdruck der 1. Aufl. Berlin 1911; Bd. 8/2 Nachdruck der 1. Aufl. Berlin 1937), S. 417^38. Das Neueste (wie Anm. V., 42), S. 475. Ebd. Ebd., S. 480. Ebd., S. 486. Die Forschung der »Deutschen Demokratischen Republik« nahm diese Bemerkung zum Anlaß, Gottsched zu einem Anhänger materialistischer Kritik zu stilisieren. Siehe Winkler: Johann Christoph Gottsched (wie Anm. L, 74), S. 188.

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Luzac führt die christliche und aufklärerische Kritik an Rousseau am Beispiel des Contrat social weiter.52 Läßt sich trotz dieser >beharrenden Kraft< von einer skeptischen Wende in bezug auf den >Endzweck< und das Wirkungspostulat der Morallehre sprechen? Oder ist jene Sorge um die moralische Glückseligkeit immer nur eine Floskel, ein Überbleibsel aus der rhetorischen Tradition, die jede Schrift an ihrer Wirkung mißt? Burlamaquis Korrespondenz mit dem jungen Prinzen von Hessen-Kassel gibt Auskunft über die geringe Bedeutung des Naturrechts bei der Prinzenerziehung. Schon deshalb, weil Burlamaqui eine bestimmte schweizerische Naturrechtsschule repräsentiert, die auch Rousseau nicht unbekannt geblieben ist,53 erscheint die praktische Seite der Lehre Burlamaquis in diesem Zusammenhang als aufschlußreich. Für den Stellenwert des Naturrechts insgesamt erweist sich der Blick in die Korrespondenz jedoch als ernüchternd, so daß Rousseaus Polemik gegen die tradierten Lehren des Naturrechts - also auch gegen Burlamaqui - als erklärbar, verständlich und in gewisser Weise als angemessen erscheint. EXKURS. Jean-Jacques Burlamaqui als Prinzenerzieher in seiner Korrespondenz mit Prinz Friedrich von Hessen-Kassel (1733-1740) Wie Crousaz wird auch Burlamaqui zum Prinzenerzieher auserkoren. Burlamaquis offene Korrespondenz mit dem Zögling erstaunt.54 Beide scheinen großes Vertrauen zueinander gefaßt zu haben; sie beichten einander Intimes. Burlamaqui, der Lehrer, gesteht dem Zögling seine Schwächen im galanten Umgang. Der Prinz gerät in die Rolle des Umworbenen, in die Rolle des tugendhaften Herrschers von Gottes Gnaden. Er gilt Burlamaqui als hervorragende Persönlichkeit - weniger aufgrund der staatsmännischen, sondern vielmehr aufgrund seiner natürlichen Fähigkeiten: [...] les talens de l'Esprit, les dispositions du Coeur [...] C'est lä, Monsieur, ce qui fait veritablement le Prince, plutot que la naissance et les dignites.55

Jene Herzensqualitäten betont - nach Burlamaqui - kein zweiter Denker so entschieden wie Rousseau. Hinsichtlich seiner Lehrverpflichtungen scheint sich Burlamaqui aber unsicher zu sein. Bestreitet er doch - wie später Rousseau im Blick auf die >gute

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Elie Luzac: Lettre d'un anonime ä Monsieur J.J. Rousseau. Paris 1766. Luzac versichert sich zunächst der moralischen Intentionen seines fiktiven Briefpartners. In seiner Kritik nimmt er die Positionen des Grotianischen und Pufendorffsehen Naturrechts auf und wendet sie gegen Rousseau. Derathe: Jean-Jacques Rousseau (wie Anm. II., 7), passim. Jean-Jacques Burlamaqui an Prinz Friedrich von Hessen Kassel, Geneve le l. Mars 1735. Hessisches Staatsarchiv Marburg. 14 Briefe Burlamaquis, 2 Antwortkonzepte des Prinzen, 38 Bl. StAM4a/Gef. Burlamaqui an Friedrich. Ebd., Geneve le 12. 9bre 1739.

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Kreatur< -, daß es für einen jungen Prinzen sinnvoll sei, sich für gelehrte Belange zu interessieren. Was der Prinzen demgegenüber studieren sollte, »c'est le Monde, la Cour et l'armee.«56 Zivile Tugenden und militärische Kenntnisse gelte es, in praxi auszubilden. Was soll dann aber das Naturrecht leisten? Eine stark gekürzte Lehre des Naturrechts könne dem Prinzen dienen, darauf verständigt sich der lernbegierige Zögling mit seinem Lehrer.57 Trotz dieser Verständigung zeigt sich Burlamaqui skrupulös. Zwar hält er es für entscheidend, daß der Prinz tugendhaft sein solle.58 Darüberhinaus lehrt er ihn in knappen Worten einige naturrechtliche Sätze über die Religion und über die Glückseligkeit als Staatsziel.59 Aber er warnt davor, das Naturrecht im politischen Geschäft anzuwenden, in dem nur zu oft Lug und Trug siegten.60 Die Korrespondenz von Burlamaqui und Prinz Friedrich endet mit der staatsklugen Hochzeit des Schülers.61 Offensichtlich vertraut Burlamaqui in den Briefen im wesentlichen auf die moralische Überlegenheit des angehenden Herrschers - und vernachlässigt das Naturrecht zugunsten der Panegyrik sowie zugunsten von politischen Klugheitsregeln. In Anbetracht einer solchen Klugheitslehre, die auch auf das Genfer Umfeld gewirkt haben wird, überrascht die radikale Position Rousseaus nicht. Mit dem Emile stellt Rousseau dieser verkommenem Lehre ein radikales »Evangelium« entgegen.

2. Widerlegungen philosophischer Bücher< im Namen des Gemeinwohls: Jean-Jacques Rousseaus Emile (1762) als >schöne Literatur< Im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts wird das Umsichgreifen dieses neuen »Evangeliums« beklagt. Es erschienen immer mehr philosophische Buchen, so schimpfen die Vertreter einer traditionellen Moral. Philosophische Bücher< sind als gefährlich verpönt, weil sie nicht auf dem >mittleren Weg< der gemäßigten deutschen Aufklärung schreiten. Sie schadeten dem Gemeinwohl, so lautet das Urteil vieler Zeitgenossen. Zu den philosophischen Büchern< zählt eine heterogene Literatur, die als anrüchig verrufen ist: als materialistisch, skeptisch, deistisch und rousseauistisch. Von den Zensurbehörden be-

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Burlamaqui an Friedrich. Ebd., Geneve le 19. Xbre 1735. Burlamaqui an Friedrich. Ebd., Geneve le Xbre 1735. Burlamaqui an Friedrich. Ebd., Geneve le 3e. Mars 1739. Friedrich an Burlamaqui. Ebd., Reponse ä la Premiere Lettre. [o.O. u. D.]. »[...] entre nous, cette Politique si necessaire aux Princes: qu'est-ce autre chose, sinon art de duper habilement les Princes ou les Etats avec lesquels on a ä faire? Et de bonne foi, les maximes du Droit Naturel peuvent elles servir ä cette fin? Un Prince qui les suivroit constamment ne seroit il pas dupe et trompe le plus souvent lui meme bien loin de pouvoir tromper les autres, et parvenir ä son but ä leur prejudice.« Burlamaqui an Friedrich. Ebd., Geneve le 2 Janvier 1736. Burlamaqui an Friedrich. Ebd., le 12e Fevrier 1740.

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schlagnahmt, werden solche Bücher nur geheim gehandelt.62 Daß die gefährliche Philosophie< im letzten Drittel des Jahrhunderts mit großem Interesse rezipiert wird, liegt aber nicht allein an ihren Ansichten. Vielmehr legt sich diese Philosophie nach und nach ein neues und aus der Sicht der Morallehre verdächtiges Gewand zu. Es werde in einem »Modeton« (Wieland) »romanisiert[]patriarchal-fürsorglicher< Zensur wird der Emile auch in Brandenburg-Preußen beschlagnahmt. Das Buch wird als »ferführerisch[]«, sittenwidrig, unchristlich und jugendgefährdend beurteilt und daher von den Ladentischen verbannt.67 Was die Autoren mit ihren gefährlichen Werken gewinnen, bleibt in Anbetracht der Umstände für Formey zu fragen: Croyent-ils de bonne foi qu'une societe, guidee par leurs principes, regie par leurs loix, appuyee sur leurs motifs, fut plus parfaite & plus heureuse que celles dont ils sont membres?68

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Robert Darnton: The forbidden bestsellers of pre-revolutionary France. New York 1995; Goulemot: Gefährliche Bücher (wie Anm. III., 74); exemplarisch für den deutschen Sprachraum Christine Haug: Das Verlagsuntemehmen Krieger 1725-1825. Die Bedeutung des Buchhändlers Johann Christian Konrad Krieger für die Entstehung einer Lesekultur in Hessen um 1800. Frankfurt/M. 1998 (Archiv für Geschichte des Buchwesens; Sonderdruck 49). Formey: Preface. In: ders., Anti-Emile. Berlin 1763, S. 3. Ebd. Ebd. Ebd., S. 6. »Beschlagnahme des Werkes von Jean-Jacques Rousseau >Emil< und Prüfung, ob sich der Schriftsteller mit Genehmigung in Neuchätel aufhält.« August-September 1762. Geheimes Staatsarchiv/Preußischer Kulturbesitz, HA Geheimer Rat, Rep. 49 Fiskalia. Lit. Q, Fasz. 29, hier 21. Aug. 1762, Berlin, gez. Danckelmann [Bl. 2']. Zur Zensur in Berlin Edoardo Tortarolo: La censure ä Berlin au XVIIIe siecle. In: La litterature clandestine 6 (1997), S. 253-262. Formey: Preface. In: ders., Anti-Emile (wie Anm. V., 63), S. 6.

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Schließlich seien sie nicht die einzigen, die gesellschaftliche Mißstände durchschauten. Andere Bürger würden sich bloß nicht in dieser lächerlichen Weise empören.69 Weil die gefährlichen Ansichten schon länger im Umlauf seien, könnten sie aber auch nicht einmal mehr verwendet werden, um sich von anderen zu unterscheiden. Kirchenkritische Einwürfe etwa gehörten zu den Allgemeinplätzen nicht nur der französischen Aufklärung.70 Noch weniger komme das Argument in Frage, daß die Autoren gefährliche Bücher< um der Wahrheit willen schrieben. Vielmehr verleiteten sie ihre Leser zu einer wahrheitsfeindlichen Skepsis.71 Das Phänomen der >mißratenen Literaten< bleibt unerklärlich. Für Rousseaus Diskurse aus den Jahren 1750 und 1755, für den Roman Julie, ou la Nouvelle Heloise (1761) und für den Emile (1762), von Rousseau selbst als Abhandlung über die Erziehung verstanden, läßt sich die provozierende Wirkung der radikalen Literatur< zeigen.72 Weil die Werke Rousseaus durch die Verleihungen akademischer Preise beträchtliche Reputation genießen, sehen die Vertreter der christlichen Morallehre ihre Position in besonderem Maße herausgefordert. Sie geraten unter Verteidigungs- und Innovationsdruck. Rousseaus Frühschriften werden für die Philosophen zu gefährlichen Büchem< im Sinne Formeys, zu Büchern, die dem allgemein-aufklärerischen Verständnis vom »gemeinen Besten« widersprechen und für einen bloßen Instinkt des »bonheur« plädieren.73 Im folgenden will ich zunächst auf die Rezeption des Emile eingehen, den Discours sur inegalite/Diskurs über die Ungleichheit nur streifen, aber einer Argumentation verfolgen, die im Zuge der Rezeption der zweiten Preisschrift etabliert wird. Wilhelm Voßkamp zeichnete wesentliche Linien für die deutsche Emile-Rezeption nach. Man beziehe sich in Deutschland in erster Linie auf die bekannte Aporie des Emile: Entweder werde ein Mensch zum Bürger oder zum Menschen erzogen. Diese Aporie habe, so Voßkamp, »[...] aufgrund spezifischer Dispositionen und Erwartungen des Publikums zu unverwechselbaren Verarbeitungen geführt [,..].«74 Außerdem lasse sich die Aporie hinsichtlich eines

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Ebd. Am Beispiel der Aufnahme der »Encyclopedic« in Deutschland zeigte Jürgen Voss, daß diese beiden Merkmale die französische von der deutschen Aufklärung trennen und Austauschprozesse entscheidend steuern. Ders.: Verbreitung, Rezeption und Nachwirkung der Encyclopedic in Deutschland. In: Aufklärungen. Frankreich und Deutschland im 18. Jahrhundert. Hgg. v. Gerhard Sauder u. Jochen Schlobach. Bd. 1. Heidelberg 1985, S. 183-191, hier S. 189. Formey: Preface. In: ders., Anti-Emile (wie Anm. V., 63), S. 7. Raymond Trousson: Jean-Jacques Rousseau. Bonheur et liberte. Nancy 1992, S. 108130. Jean-Pierre Boon. Tradition et modernite chez Jean-Jacques Rousseau. La thematique du bonheur. In: Romanic Review 64/1 (1973), S. 32-37. Wilhelm Voßkamp: »Un livre paradoxal.« J.-J. Rousseaus >Emile< in der deutschen Diskussion um 1800. In: Rousseau in Deutschland. Hg. v. Jaumann (wie Anm. V, 14), S. 101-114, hier S. 101.

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konzeptuellen und eines »Formaspektfs]« unterscheiden. Konzeptuell liege ein Widerspruch zwischen Bürger und Mensch vor. Unter dem »Formaspekt« widerspreche die literarische Fiktion des Romans dem Anspruch, den einzelnen zu »authentischer Identität« zu erziehen.75 Diesen Widerspruch erklärt Voßkamp mit der Beweisführung Rousseaus: Bewährt sich der theoretische Entwurf vom natürlichen Menschen im Experiment Emile, dann sind die Bedingungen geschaffen, die den Übergang von der pädagogischen Enklave zur gesellschaftlichen Gesamtpraxis möglich machen.76

Auf die entfaltete Aporie werde unterschiedlich reagiert. Für die Literatur beschreibt Voßkamp, daß dieser »nur geringe Aufmerksamkeit« zuteil werde.77 Er führt gleichwohl literarische Reaktionen auf den Emile an, indem er den Bildungsroman als eine »wenig kongenial[e]« Lösung des von Rousseau formulierten Paradoxes interpretiert.78 Gerade in der hier beschriebenen Morallehre, die sich immer mehr aus konfessionellen Zugehörigkeiten löst, wird Rousseau für seine >Beweise< kritisiert: für vorgeblich >philosophische< Beweise im Mittel von hypothetischen Zuschreibungen und von erfundenen Konstellationen. Formey, Johann Jacob Brechter und Wieland setzen sich auch literarisch mit dem Emile auseinander. Sie kritisieren den Text aber in erster Linie philosophisch. Philosophische Eigenschaften werden dem Rousseau-Text dabei abgesprochen. Entsprechend lautet das Urteil, daß sich das Experiment Rousseaus nicht für die Erziehung aller Menschen gewinnen lasse. Es sei weder wahr noch generalisierbar. Rousseaus Name steht nach dieser Kritik für eine der tradierten Moral gegenläufige Position. Wieland - weniger Brechter und Formey - betrachtet die neue Position als ebenso pathologisch wie anziehend. Eine deutsche Übersetzung von Formeys Anti-Emile erschien noch im selben Jahr unter dem Titel Anti-Aemil (1763). Sie bietet einen Leitfaden durch den Rousseau-Text, dem die deutsche £>m7e-Rezeption weithin folgt. Gleiches gilt für Formeys Emile chreüen, consacre ä l'utilite publique (1763). Als Auftragsarbeit für den niederländischen Buchhändler Jean Neaulme enthält er den Emile Rousseaus; Formeys Anti-Emile ist in den Anmerkungen als Kommentar beigefügt (a). Ganz ähnlich wie der Anti-Emile konzipiert Formey auch seine Bearbeitung der Julie unter dem Titel Esprit de Julie (1762).79 Während Formey Gegenschriften verfaßt, um Rousseau zu widerlegen, läßt sich mit dem

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Ebd., S. 101 f. Ursula Reitemeyer: Petfektibilität gegen Perfektion. Rousseaus Theorie gesellschaftlicher Praxis. Münster 1996 (Texte zur Theorie und Geschichte der Bildung 4), S. 55. Voßkamp: »Un livre paradoxal.« (wie Anm. V., 74), S. 108. Ebd., S. 112. Eine deutsche Übersetzung ist ohne Angabe des Ortes unter dem Titel: »Auszüge aus der Neuen Heloise [...] theils nach dem L'Esprit de Julie des Herrn Formey übersetzt« im Jahr 1762 erschienen.

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Namen Brechters ein zweiter Schritt der Emile-Rezeption verbinden. Mit Hilfe der >intimen< Gattung des Briefes soll die Moral des Rousseau-Textes erschlossen werden (b). Ein dritter Schritt der £m//e-Rezeption läßt sich für Wielands Beyträge beschreiben: Wieland reagiert nicht nur auf die >literarischen< Vorgaben Rousseaus, sondern spielt ebenfalls mit Paradoxen - eine Tendenz, die sich in den Romanen Wielands noch verstärkt (c). a) Jean Henri Samuel Formeys Anti-Emile (I163)/Anti-Aemil(ll63) und Emil chretien (1764) Formey unterstreicht immer wieder, daß er die Offenbarungsreligion für unverzichtbar hält. Der christliche und konfessionslose Gott wird zum zentralen Argument gegen die >neue Philosophien gegen Diderots Pensees raisonnables opposees aux pensees philosophiques (1749), gegen Rousseau und viele andere mehr. Es gelte, jede unchristliche Philosophie als schädlich auszuweisen und diese Wertung zu verbreiten.80 Polemiken dieser Art müßten aber nicht bedeuten, daß das gegenteilige Argument als absurd erachtet wird. Vielmehr sollen mißliebige Positionen diskutiert werden.81 Im L'Anti-Sans-Souci, ou Lafolie des nouveaux philosophes Naturalistes, Deistes & autres impies (1761) appelliert Formey in diesem Sinne adpersonam - an Voltaire: On ne doute que vous ne soyez un Philosophe sans Souci, c'est-ä-dire un homme qui affecte une independance entiere de la Religion & de la Divinite, un Auteur pervers qui ne preche tant l'impunite du crime, que parce qu'il voudroit que les siens restassent impunis, un cceur enfin qui ne respire que l'incredulite & la corruption des moeurs.82

Abneigung klingt aus Formeys Worten. Er beschimpft Voltaire als »philosophe«, der den Glauben ebenso wie das Gesetz verachte. Voltaire wird als »la peste de la Societe civile, & la honte de nos jours« betrachtet.83 Zugleich nimmt Formey Voltaires Schriften aber auch positiv in seiner Zeitschrift L'Abeille du Parnasse auf.84 So sehr weichen die Meinungen beider nicht voneinander ab, zumal sich Voltaire mit seinen Plädoyers für Toleranz bei Formey in bester Gesellschaft befindet. Die Religion wird für beide Parteien zur pragmatischen Fra-

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Formey: Essai sur le livre intitule »Les moers«. [o.O. u. D.], S. V. Zum Voltaire-Bild in der deutschen Aufklärung Martin Fontius: Voltaire. Der Weg vom Dichter zum Symbol der Aufklärung. In: Das 18. Jahrhundert. Aufklärung. Hg. v. Paul Geyer. Regensburg 1995 (Eichstätter Kolloquium 3), S. 105-123. Jean Henri Samuel Formey: L'Anti-Sans-Souci, ou La folie des nouveaux philosophes Naturalistes, De'istes & autres impies. Berlin 1761, S. 2. Ebd., S. l f. Dazu die Beiträge in: Voltaire und Deutschland. Quellen und Untersuchungen zur Rezeption der Französischen Aufklärung. Mit einem Geleitwort von Alfred Grosser. Hgg. v. Peter Brockmeier, Roland Desne u. Jürgen Voss. Stuttgart 1979; zum reformierten Berlin Bertram E. Schwarzbach: Voltaire et les Huguenots de Berlin: Formey et Isaac de Beausobre. In: ebd., S. 103-118.

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ge. Sie soll »motif« für die Moral sein und gegen den Aberglauben wirken.85 Schließlich wird die Bibel auch für Voltaire zum Dokument menschlicher Geschichte. Für Formeys Kritik an Rousseaus Emile gilt demgegenüber, was Voßkamp als zentral erachtete, nämlich die Konzentration auf das zentrale Paradox Rousseaus. Darüberhinaus konzentriert sich Formey - wie später Brechter auf die Form der Darbietung von >Philosophiegesunde< Religion, eine >gesunde< Politik und eine >gesunde< Philosophie. Betont wird, daß die Philosophie allein nicht ausreiche, um eine zeitliche Glückseligkeit, jene Summe aus angenehmen und unangenehmen Momenten, zu gewährleisten.91 Politik und Religion dürfen nicht in einer Weise vernachlässigt werden, wie im Emile der Fall, so Rousseaus Kritiker. Schon Formeys Widmung des Anti-Emile an Prinz Ferdinand, den Bruder des Königs, untermauert dieses Anliegen. Formey hält die Notwendigkeit der Religion für beweisbar. Mehr noch: Er hält sie für schon bewiesen, weil sie »le lien de la Societe, & l'appui le plus solide de la tranquillite publique« sei.92 Daher sollten sich die neuen Philosophen ebenso weise verhalten wie die Gesetzgeber und die Völker: »[...] profitez de cette excellente invention,« so lautet seine Empfehlung.93 Die Religion ordnet er pragmatisch und in gewisser Weise sogar - ganz machiavellistisch - instrumentell der Befriedung des Gemeinwesens unter.94 Schon der reformierte Prediger Jacques Abbadie habe gezeigt,95 daß das gemeinschaftliche Ziel der Glückseligkeit die Grundsätze für eine wünschbare Moral enthalte.96 Demgegenüber veranlasse das bloße Eigeninteresse die Vertreter des »anthropomorphisme«, die Religion anzugreifen.97 Zu den >Anthropomorphisten< zählt auch Rousseau. Er ziehe das Wohl des Menschen jeder göttlich-gemeinschaftlichen Ordnung vor und zerstöre damit die Grundlagen der societas civilis. Das Paradox von der Unmöglichkeit einer Erziehung zum natürlichen Menschern im Sinne Rousseaus und einer zugleich erfolgenden Erziehung zum Bürger gehört in das Gebiet der Politik. Gegen Rousseau betont Formey die Notwendigkeit eines Disziplinierungsvorganges, der aus dem natürlichen Menschen< (»homme naturel«) erst einen >geselligen Menschen< (»homme social«) mache:98 Menschen brauchten Institutionen, wendet Formey gegen Rousseau ein.99 Ohne Gesetz und Gesellschaft blieben die Menschenkinder - wie der Knabe auf den Kupfern - »[des] enfans robustes«, von denen Hobbes so abschätzig spreche.100

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»Mais ce Systeme n'emporte pas que tout homme ä chaque moment soit egalement heureux: ce seroit la plus palpable des absurdites. Le bonheur est le surplus des momens heureux, deduction faite des momens malheureux; & il n'y a point de situation qui empeche homme de bien, lorsqu'il regle ses comptes, de trouver le surplus qui le met en egalite avec celui qui jou'it d'une situation beaucoup plus favorable.« Ebd., S. 132. Ebd. Ebd., S. 9f. Ebd., S. 12f. Ebd., S. 253f. Ebd., S. 137f. Ebd., S. 152 u. 13. »Si ne fait pas le citoyen en faisant l'homme, on denature Thomme, ou le detoume de sä destination. La nature n'est que l'aptitude ä recevoir les institutions sociales; en la tournant, en la flechissant du cöte oppose, on la pervertit, on la detruit.« Ebd. Ebd., S. 26. Ebd. [Hervorhebungen im Original].

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Menschen vereinten sich schließlich nicht nur aufgrund ihres natürlichen Herzensbedürfnisses< (»besoin naturel au coeur humain«). Rousseau lasse sich hierin denselben Fehler zuschulden kommen, wie Grotius. Er gehe von einem viel zu optimistischen Begriff des natürlichen Rechts aus. Das >Herzensbedürfnis< sei aber nur eine Ursache für das Hereinwachsen des Menschen in die societas civilis. Formey vertraut auf die Regelungskapazität und den Regierungswillen der Herrschenden, wie sie im Gesellschaftsvertrag festgelegt sind.101 Für Formey wird Rousseau zum Gegenaufklärer, und zwar hinsichtlich der anthropologischen Voraussetzungen für den Emile: Rousseau wolle nur gesunde Kinder erziehen. Er vernachlässige die Schwachen, die aber gleichwohl oft die geistig Starken seien.102 Zur Unterstützung dieses Einwandes argumentiert Formey - wie in der Schrift gegen Voltaire - adpersonam: Rousseau wird nicht nur an seinen Werken gemessen, sondern auch nach seiner Person beurteilt.103 Er beweise doch selbst, daß in einem schwachen Körper ein reger Geist wohne. Weshalb er also die Schwachen verachte, fragt Formey.104 Außerdem sei die Erziehung, die Rousseau Kindern angedeihen lassen wolle, nicht dazu geeignet, diese zu aufgeklärten Menschen zu machen.105 In seiner entschlossenen Kritik widerspricht sich Formey bisweilen selbst. Zu Rousseaus Doktrin gehöre, daß Seele und Körper miteinander harmonieren sollen, was kaum realisierbar sei. Formey nimmt in den einleitenden Worten zur Übersetzung von Wolffs Naturrecht aber doch selbst eine solche Einheit in den Blick.106 Rousseaus Schriften stehen - nach Formey - denjenigen von Burlamaqui entgegen. Das Naturrecht des Prinzenerziehers Burlamaqui gilt Formey als vorbildlich. Er führe die naturrechtliche Tradition im gewünschten Sinne fort.107 Nur auf den ersten Blick erscheine es aufgrund des >modischen< »bonheur«Begriffs so, als löse sich Burlamaqui von der Tradition.108 In dem Eloge Histo-

Ebd., S. 65. Ebd., S. 39. Aus psychoanalytischer und sozialhistorischer Perspektive wurde diese Reaktion als »normativer Biographismus« kritisiert. Vgl. Claus Siißenberger. Rousseau im Urteil der deutschen Publizistik bis zum Ende der Französischen Revolution. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte. Frankfurt/M. 1974 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1: Deutsche Literatur und Germanistik 95), S. 115-134, hier S. 115. Süßenbergers Beschreibung setzt eine Fülle von Annahmen über die Sozialisation und die Persönlichkeit der RousseauRezipienten voraus, die hier nicht nachvollzogen werden können. Formey: Anti-Emile (wie Anm. V., 63), S. 40. Ebd., S. 76f. Ebd., S. 86f. Von den »Principes du Droh politique« heißt es, »[qu']elles peuvent etre mis au rang des meilleurs Ouvrages en ce genre.« Nouvelle Bibliotheque Germanique 9 (1750), S. 1-36 u. S. 270-298. Nouvelle Bibliotheque Germanique 5 (1748), über Burlamaquis »Principes du droit naturel«, und zwar in der deutschen Übersetzung des von Wichmann an Reinhards »Abhandlung von der Beßten Welt« angehängten Auszugs (wie Anm. IV., 95), S. 71-85; Smith: J.H.S. Formey (wie Anm. III., 24), S. 136-138.

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rique de Mr. Burlamaqui wird der Schweizer Naturrechtler als Identifikationsfigur präsentiert. Formey rühmt die >schöne Seele< (»belle ame«) Burlamaquis:109 Sein Geist entspreche seinem guten Charakter. Gelobt wird auch sein Erfolg in Regierungskreisen, nämlich am Kasseler Hof.110 All das, die uneingeschränkte Würdigung Burlamaquis und die Geringschätzung Roussaus, erscheint vor dem Hintergrund der besprochenen Burlamaqui-Korrespondenz als problematisch. Zwar verbreitet Burlamaqui das Naturrecht, aber die Korrespondenz bringt die naturrechtlichen Tradition in Mißkredit, mißt man sie an ihren eigenen Ansprüchen. Zentral ist bei genauer Betrachtung von Formeys Argumenten entsprechend weniger die Kritik an den >Inhalten< des Emile. Vielmehr mißfällt Formey in erster Linie die Form des »neuen Evangeliums«. Ein philosophisches System sei als eine Ansammlung von Wahrheiten zu betrachten, so Formey.111 Rousseau aber stelle keine Wahrheiten dar, sondern nur Fiktionen - und komme daher nicht zu einer Philosophie:112 Tantöt ils inventent des fictions, dans lesquelles ils repandent leurs opinions, les incorporant en quelque sorte dans les fails, & les semant d'une maniere si eparpillee qu'il faudroit beaucoup de patience pour les rassembler, & beaucoup d'art pour les ramener ä des notions vrayement determinees."3

Wie die >Belletristen< übertreibe Rousseau; er vermenge Fiktion und Fakten.114 Außerdem verwende er einen Stil, dem die >Hitzigkeit< (»chaleur«)115 ebenso wenig wie ein immerwährender Enthusiasmus abgesprochen werden könnten.116 Aus Einzelfällen schließe er - unangemessen - auf Allgemeines; Antithesen häuften sich:117 »L'Anti-Emile se trouve dans Emile meme [...].«118 Außerdem neige Rousseau nicht nur zum Nacherzählen,119 sondern maße sich auch eine prophetische Gabe in politischen Dingen an.120 Ein hypothetischer 109 110

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Eloge Historique de Mr. Burlamaqui. In: Nouvelle Bibliotheque Germanique, 5 (1748), S. 381f. Ebd. »II y a bien loin de lä des ouvrages systematiques, & cela n'est pas surprenant, puisque FIncredulite n'est pas faite pour devenir un Systeme, & n'en devindra jamais un, tant qu'on entendra par Systeme, un assemblage de verites, liees entre elles & subordonnees les unes aux autres d'une maniere demonstrative.« Formey: Anti-Emile (wie Anm. V., 63), S. 17. Ebd., S. 130. Ebd., S. 16f. »Toujours des exagerations, ou des notions indeterminees.« Ebd., S. 115. Ebd., S. 187. Ebd., S. 136. Jean Henri Samuel Formey: Emile chretien consacre ä l'utilite publique, redige par Mr. Formey, auteur du philosophe chretien. Bde. 1—4. Berlin 1764, hier Bd. l, S. 1. Formey: Anti-Emile (wie Anm. V., 63), S. 181 [Hervorhebungen im Original]. Ebd., S. 72. Formey wendet sich gegen Rousseaus Ansicht, die Monarchien in Europa hätten lange genug gedauert: »II ne manquoit ä l'Auteur que le don de Prophetie pour en faire un

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Naturzustand werde für ihn zum Beweis, aus dem sich aber dennoch nichts ableiten lasse. Dieses Problem allerdings gehört zum Traditionsbestand des Naturrechts. Rousseau folgt hierin nur den Vorläufern. Darüberhinaus erfinde sich der Erzieher aber einen Schüler, so Formey weiter, der die seltsame Lehre Rousseaus erfolgreich erlerne. Daß sich Lehrer und Schüler als untrennbar betrachteten, sei »l'idee la plus romanesque qui fut jamais.« 121 Daher lasse sich schließen, daß die exemplarische Erziehung des Emile, ein einzelnes und bloß erfundenes Beispiel, philosophisch nicht überzeuge: [...] l'Auteur en fait ce qu'il veut, ce qu'il a envie d'en faire; mais qu'il travaille sur des Emiles reels, & il se trouvera loin de son compte.122

Betont wird der kreative Akt Rousseaus, der den Emile der Utopie verdächtig werden läßt: [...] il fait un acte de creation plutöt que d'invention; & l'on ne peut plus continuer la lecture de son ouvrage que par un principe de curiosite & d'amusement, comme on lit l'Utopie & les autres Republiques imaginaires. Surtout le genre humain doit perdre l'esperance de voir executer le plan de education d'un Emile reel, Des-lä que M.R. declare solemnellement, comme il le fait, qu'il n'acceptera jamais l'emploi de Precepteurs, de quelque part l'unique moyen de le convaincre qu'on ne trace pas aussi aisement de caracteres dans une ame que sur le papier.123

Ziel Formeys ist es, den Emile mit Hilfe des Kriteriums der >Verläßlichkeit< (»solidite«) zu verurteilen.124 Er erklärt das Phänomen >Rousseau< psychologisch - als einen einzigartigen Autor, der um das Wohl seiner Leser besorgt sei.125 Gefährlich sei Rousseau aber deshalb, weil er im Mittel der Fiktion argumentiere, ohne den Emile als solche auszuweisen: Si Emile avoit ete une simple chimere, on auroit pu la laisser confondue parmi tant d'autres qui seront ä jamais des monumens de la foiblesse & de la bizarrerie de l'esprit humain. Mais c'est un repertoire de Maximes qui ne vont pas moins qu'ä ensevelir les hommes sous les mines de la Religion & de la Societe: c'est un Code d'arrets fletrissans pour le genre humain, pour tous les etats, pour toutes les conditions. Une hauteur insupportable y domine: eile degenere souvent en menace, & nous avons vu comment les injures y sont continuellement prodigees.126

Rousseau gilt aus diesem Grund als

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homme extraordinaire en tout sens. II sera le Jurieu des Philosophies.« Ebd., S. 114; siehe auch ebd., S. 106f. Ebd., S. 39. Ebd., S. 77. Ebd., S. 35f. Ebd. »M.R[ousseau] a pourtant envie d'etre lu; cette envie est peut-etre plus forte chez lui, que chez toute autrc Ecrivain; & tous ces tons singuliers ont pour but, de reveiller & de soutenir le Lecteur, non de le decourager & de le rebuter.« Ebd., S. 103f. Ebd.,S.209f.

216 [...] un vil Rheteur, dont les vues & les talens se borneroient ä plaider le pour & le contre des causes les plus importantes, sans se mettre en peine de ce qui peut en resulter [...].«127

Formeys im Detail oft widersprüchlicher Anti-Emile wird nicht nur für die deutsche Rousseau-Diskussion zu einem maßgeblichen Bezugstext. Rousseau selbst nahm die Anregungen Formeys in spätere Auflagen des Emile auf - nicht ohne mit heftiger Polemik zu antworten: erstens empört sich Rousseau gegen Formeys Angriffe adpersonam.m Doch bedient sich auch Rousseau selbst solcher Angriffe, etwa, indem er Formey als »niederträchtigen Menschen« bezeichnet.129 Außerdem verteidigt Rousseau seine Attacken gegen die moralische Tradition (mit mehr oder minder guten Argumenten).130 Nur selten und eher in marginalen Fragen nimmt Rousseau Anmerkungen von Formey auf beispielsweise in bezug auf die Interpretation der Fabeln La Fontaines.131 Der Streit zwischen Rousseau und Formey ist ein Anlaß für Brechter (1734-1772), den Diakon aus Schweigern und Freund Wielands,132 sich in die Debatte einzuschalten.

b) Johann Jacob Brechters Briefe über den Aemil des Herrn Rousseau (1773) Brechter liest den Emile sowie den Anti-Emile in der deutschen Übersetzung und kennt auch den Emil chreüen.m Bislang blieben Brechters Briefe über den Aemil des Herrn Rousseau (1773), die auch aus der Formey-Lektüre entstanden, gleichwohl weitgehend unbeachtet. Doch erweisen sie sich in mehrererlei Hinsicht als aufschlußreich: Brechter versucht im ersten Teil des Buches, der vornehmlich über medizinische Fragen handelt, Formey als konservativem Kritiker des innovativen Rousseau darzustellen. Es zeigt sich aber, daß Brechter die Kritik Formeys teilt. Die Darstellungsform des Emile mißfällt ihm; die Offenbarungsreligion verteidigt er. Als Motiv der Briefe gilt ihm - wie Formey - das Gemeinwohl. In diesem Sinne wendet sich Brechter ebenfalls an ein aufgeklärtes Publikum:

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Ebd., S. 169-175. Rousseau: Emile (wie Anm. V., 89), S. 10. Ebd., S. 253. Ebd., S. 11. Ebd., S. 256. Johann Jacob Brechter (1734-1772) ist Diakon zu Schweigern in Schwaben. Im Jahr 1761 bewirbt er sich um eine Predigerstelle in Biberach. Einige seiner Abhandlungen behandeln moralische und pädagogische Fragen - etwa die »Anmerkungen über Basedows Elementar-Buch« (1772). Zu Brechter Martin Rudolph: Johann Jacob Brechter (1734-1772) Diakonus in Schwaigern. Ein Beitrag zur deutschen Kultur- und Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts. Neustadt a.d. Aisch 1969 (Deutsches Familienarchiv 42). Johfann] Jacob Brechter: Briefe über den Aemil des Herrn Rousseau [...]. Zürich 1773, S. 18.

217 [...] daß es ungeübten und ungelehrten Lesern nützlich, und vielleicht auch den Gelehrten nicht unangenehm seyn kann. Die Schicksale, welche der Aemil des Herrn Rousseau gehabt, gaben mir zu einem solchen Unternehmen Gelegenheit. [...] Meine Gedanken von diesem Buch wird der Leser ohne Mühe errathen können, wenn er meine Briefe seiner Aufmerksamkeit würdigt; und ich werde noch mehr Gelegenheit haben, den Verfasser des Aemils bald zu tadeln und bald zu loben, wenn ich ihn auf der sittlichen Seite prüfe. Wenn ich meinen Zweck nicht ganz verfehlen wollte, so konnte ich den Plan des Herrn Rousseau unmöglich beybehalten. Die ganze Anlage seines Aemils ist nicht für Ungelehrte gemacht; eben so wenig durfte ich mich seiner Einkleidung der Gedanken bedienen. Und überhaupt: Es würde ein Fehler gewesen seyn, wenn ich mit meiner Absicht den in unsern neuern Schriften herrschenden Ton hätte verbinden wollen.114

Anders als Rousseau hat Brechter nicht nur die gelehrten, sondern auch die ungelehrten Leser im Auge, vor allem die Gruppe der »rechtschaffene[n] Eltern«.135 Begründet wird dies mit der pädagogischen Absicht des Werkes. Anders als der Emile sind die Briefe nicht als »Werk des Geschmacks« gedacht, [...] sie sollen bloß nützlich seyn. Die Leser, welche ich mir wählte, würden schlecht erbaut werden, wenn ich mehr auf das Erhabene und Reine in der Sprache gesehen hätte. Meine einzige Sorge war so mit ihnen zu reden, daß sie mich verstehen.116

Damit ist ein Gegensatz zwischen »Nutzen« und »Geschmack« aufgebaut, der Vermutungen über die geringen geistigen Fähigkeiten der Leser entnommen ist. Eine ähnliche Überlegung leitet die Unterscheidung zwischen den Eigenschaften >gelehrt< und >ungelehrtempirischen< Verfahrens gewinne.216 Demgegenüber plädiert Wieland für ein >empirisches< Verfahren, das in der genauen Beobachtung der menschlichen Natur bestehe und nicht durch ein System >verfälscht< sei. Der französisch-schweizerische Philosoph hingegen »räsoniert [...] seine Narrheit in ein System.«217 Gleichwohl achte man diesen Narren als sympathischen Visionär.218 Aber gerade in bezug auf den Naturzustand seien »Erfahrungen« nicht zugänglich.219 Wie die aus der »Erfahrung« gewonnen Sätze zum »gemeinen Besten« dargeboten werden können, erläutert Wieland im Zusammenhang mit seiner Romantheorie.220 Danach erlauben Romane >kausale< Erklärungen der menschlichen Natur. Sie ermöglichen mehr als die bloße Geschichtsschreibung - und als die Philosophie. >Philosophie< ist dem Roman überhaupt erst entnehmbar. Im Blick auf die >materielle< Position Wielands läßt sich sagen, daß er von einer in der natürlichen Geselligkeit gegründeten, aber vor allem dem menschlichen Schaffenstrieb zugeschriebenen Fortschrittsnotwendigkeit ausgeht.221 Dementsprechend behält er die Anlage des »gemeinen Besten« als >Endzweck< bei, betont aber die Fragen des Beweisverfahrens. Die in der Wieland-Forschung festgestellte »Unzuverlässigkeit« in bezug auf konkrete Positionen wird vor dem historischen Hintergrund der Rousseau-Rezeption erklärbar: Wieland reagiert - mit einer gewissen Unscharfe - auf den von Rousseaus Frühschriften ausgehenden Innovationsdruck, wendet sich aber der moralischen Tradition des

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Ebd., S. 392 [Hervorhebungen im Original]. Die größte »Grille« habe derzeit Rousseau: Die Grille, gegen das allgemeine Gefühl und den einstimmigen Glauben« etwas Absurdes zu behaupten, nämlich »dass der Schnee schwarz sey« Wieland: Über J.J. Rousseaus vorgeschlagene Versuche (wie Anm. V., 201), S. 393 [Hervorhebungen im Original]. Wieland: Betrachtungen über J.J. Rousseaus ursprünglichen Zustand (wie Anm. V, 192), S. 388f. Wieland: Über die von J.J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche (wie Anm. V., 201), S. 393. Ebd. Ebd., S.394f. Wilhelm Voßkamp: Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blanckenburg. Stuttgart 1973, S. 190-196. Erhart sprach von einem »dritten Weg«, der mit Lessing beginne und über Kant und Schiller zu Hegel führe. Ders.: »Was nützen schielende Wahrheiten?« In: Rousseau in Deutschland. Hg. v. Jaumann (wie Anm. V., 14), S. 47-78, hier S. 50f.

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>mittleren Weges< zu.222 Wielands politische und anthropologische Ideen beschrieb Herbert Jaumann (für Essays aus dem Teutschen Merkur) in diesem Sinne als Ansatz einer »Metakritik«, als Kritik, die auf die verheißungsvolle Aussicht auf einen ästhetischen >Vernunftstaat< oder »Staat der Freiheit« (Friedrich Schiller) verzichte.223 Inwiefern Wieland eine solche Metakritik der Philosophie für eine immer weiter verbesserungswürdige Welt leistet,224 bleibt am Beispiel seiner Erfurter Romane zu zeigen.

3. Die unglückliche Wirkung von Institutionen in den Erfurter Romanen Christoph Martin Wielands Immer wieder persifliert Wieland, was ihn nicht überzeugt. Angeregt durch Rousseau, Formey und Brechter, sucht er vielseitige und ansprechende Ausdrucksformen für das Denken seiner Zeit und gelangt so zu einer eigenständigen Sicht auf all die Philosophien, die im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert vorliegen. Inspiriert durch eine >dritte Philosophie^ durch die eudämonistische Lebensphilosophie epikureischer Prägung, spitzt Wieland die vorhandenen Philosophien zu Figuren zu. Mit seinen Romanen hält in die deutsche Literatur Einzug, was in Formeys La belle Wolfienne noch steif und unbeholfen wirkt: der conte philosophique - einem musterhaften Text wie dem Candide des Philosophen von »Sans-Souci« abgeschaut.225 Voltaire mißt seinen conte philosophique an der >Wahrscheinlichkeit< (»vraisemblance«). Er soll nichts >TrivialesExtravagentes< (»rien de trivial ni d'extravagant«) enthalten: »Sous le voile de la fable, il laissät entrevoir aux yeux exerces quelque verite fine echappe au vulgaire.«226 An Voltaires Romanen lasse sich daher, so lautet eine weitreichende historiogra222

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Jaumann beschrieb Wielands »Kritik des Politischen« als Metakritik von Politik und als Souveränitätstheorie. Ders.: Politische Vernunft, anthropologischer Vorbehalt, dichterische Fiktion. Zu Wielands Kritik des Politischen. In: Modem Language Notes 99/3 (1984), S. 461^78. Wieland formuliere einen »anthropologischen Vorbehalt«, so Jaumann. Damit meinte er eine Konzeption vom Menschen, die immer wieder auf dessen emotionalen Bedürfnisse und auf seine moralischen Unzulänglichkeiten hinweist. Dieser Vorbehalt werde zum Ausgangspunkt für die Kritik an Vernunft-aufklärerischen Sichtweisen. Im Zusammenhang dieser Untersuchung wird der »anthropologische Vorbehalt« auch als Bestandteil der »morale« Formeys beschrieben. Ebd., S. 476. Ebd., S. 461. Fontius: Voltaire (wie Anm. V, 81); noch immer Hermann August Korff: Voltaire im literarischen Deutschland des XVIII. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes von Gottsched bis Goethe. Erster Halbband. Heidelberg 1918 (Beiträge zur Neuren Literaturgeschichte, NF 10), S. 452. Voltaire: Romans et contes. Ed. F. Deloffre et J. van den Heuvel. Paris 1979 (Pleiade), S. 553. Vgl. zum conte philosophique Haydn Mason: Voltaire et le conte philosophique. In: Revue internationale de philosophic 48/1 (1994), S. 55-64.

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phische These, eine »epochentypische Entwicklungslinie« nachweisen, nämlich die allmähliche >Unterwanderung< des rationalen Optimismus durch den Empirismus.227 Wieland selbst neigt der beobachtenden Philosophie zu. Anders als Voltaire begründet er seine Romanprojekte mit dem Anspruch auf eine im philosophischen Roman< erstellte >empirische< und wissenschaftlich prüfbare Wahrheit,228 die mehr sein soll als bloße Wahrscheinlichkeit. Auf die Frage nach Wielands >literarischem< Umgang mit der Moralphilosophie hält die Forschung gerade deshalb widerstreitende Antworten bereit. Wieland kritisiere nicht >materielle< Positionen, sondern vielmehr »Diskursformen«, so wollte Walter Erhart für den Agathon jenen Disput um die >wahre Lehre< Wielands beenden.229 Jaumann, der demgegenüber nach einer materiellem Position Wielands fahndete, sprach vom »skeptisch-anthropologischen Vorbehalt« Wielands,230 der in den Romanen mit Hilfe einer spezifischen »Fiktionsironie« aufgebaut werde.231 In gewisser Weise nahm Thome beide Sichtweisen >vorwegPerspektivismus< schwer, die >eine materielle< Position Wielands her-

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Manfred Engel: Der Roman der Goethezeit. Bd. 1. Stuttgart 1993 (Germanistische Abhandlungen 71), S. 132f. [Hervorhebungen im Orginal], Voßkamp: Romantheorie in Deutschland (wie Anm. V., 220), S. 193; in Hinsicht auf eine (marxistische) Geschichte des Bürgertums Hans Hiebel: Individualität und Totalität. Zur Geschichte und Kritik des bürgerlichen Poesiebegriffs von Gottsched bis Hegel anhand der Theorien über Epos und Roman. Bonn 1974 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft 148), S. 225-261. Walter Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands »Agathon«Projekt. Tübingen 1991 (Studien zur deutschen Literatur 115), S. 194. Jaumann: Politische Vernunft, anthropologischer Vorbehalt, dichterische Fiktion (wie Anm. V., 222). Der Terminus bezeichnete eine hypothetisch mögliche »denkbare[]/vorstellbare[] Welt«; spezieller wurde damit nach den Voraussetzungen für die utopische Fiktion und nach der Gradierung unterschiedlicher Ebenen für die Fiktion gefragt. Hans-Joachim Mahl: Die Republik des Diogenes. Utopische Fiktion und Fiktionsironie am Beispiel Wielands. In: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Hg. v. Wilhelm Voßkamp. Bd. 3. Stuttgart 1982, S. 50-85, hier S. 50, Anm. *. Horst Thome: Menschliche Natur und Allegorie sozialer Verhältnisse, Zur politischen Funktion philosophischer Konzeptionen in Wielands »Geschichte des Agathon« (1766/ 67). In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 22 (1978), S. 205-234, hier S. 234; ders.: Utopische Diskurse. Thesen zu Wielands »Aristipp und einige seiner Zeitgenossen«. In: Modern Language Notes Vol. 99/3 (1984), S. 503-521. Müller: Wielands späte Romane (wie Anm. L, 80), S. 195-199.

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auszufiltern. Doch läßt sie sich, so will ich im folgenden zeigen, gerade durch das Gegeneinander der >Perspektiven< ermitteln. Die Vielzahl von >Perspektiven führte zu abweichenden Bestimmungen der Romane Wielands. Sie wurden als »philosophische Romane«,234 als »politische Romane«,235 als »utopische Romane«,236 als »Staatsromane«,237 als »anthropologische Romane«,238 als »pragmatische Romane«,239 als »empfindsame Romane«240 und als

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»Philosophenromane« nannte Müller die späten Arbeiten Wielands, weil die Hauptfiguren Philosophen sind. Ebd. Im Anschluß an Müller Klaus Manger: Klassizismus und Aufklärung. Das Beispiel des späten Wieland. Frankfurt/M. 1991 (Das Abendland, NF 18), S. 126-169; Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung (wie Anm. V., 229), S. 95. Hinsichtlich ihrer Darstellung des Verhältnisses von Herrschern und Beherrschten Jaumann: Politische Vernunft, anthropologischer Vorbehalt, dichterische Fiktion (wie Anm. V, 222); Spies: Politische Kritik (wie Anm. IV, 257), S. 94-120. Peter Uwe Hohendahl: Zum Erzählproblem des utopischen Romans im 18. Jahrhundert. In: Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte. Literatur-, kunst- und musikwissenschaftliche Studien. Hg. v. Helmut Kreuzer. Stuttgart 1969, S. 79-114, hier S. 102114; Dietrich Naumann: Politik und Moral. Studien zur Utopie der deutschen Aufklärung. Heidelberg 1977 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 15), S. 162-188; Götz Müller: Gegenwelten. Die Utopie in der deutschen Literatur. Stuttgart 1989, S. 104-106. Der Terminus des Staatsromans entstammt der Staatswissenschaft des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts, und zwar in erster Linie Robert v. Mohl: Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften. Bd. 1. Erlangen 1855, S. 165-214. Im achtzehnten Jahrhundert bezeichnet er das Wort >Staat< die gesamte societas civilis; im neunzehnten Jahrhundert hingegen traten die Begriffe von >Staat< und >Gesellschaft< auseinander. Für den literaturwissenschaftlichen Gebrauch des Begriffes Hans-Jürgen Schings: Der Staatsroman im Zeitalter der Aufklärung. In: Handbuch des deutschen Romans. Hg. v. Helmut Koopmann. Düsseldorf 1983, S. 151-169; zum »Goldnen Spiegel« ebd., S. 151. Diese Kategorie war zumeist bewußtseinsgeschichtlich bestimmt und traf auf Texte zu, welche durch Erlebnisse der Desillusionierung und durch eine Skepsis gegenüber deduktiven Weltentwürfen geprägt sind. Hans-Jürgen Schings: Der anthropologische Roman. Seine Entstehung und Krise im Zeitalter der Spätaufklärung. In: Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen. Hgg. v. Bernhard Fabian, Wilhelm Schmidt-Biggemann u. Rudolf Vierhaus. München 1980 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 2/3), S. 247-275; Schings (Hg.): Der ganze Mensch (wie Anm. IV, 141); Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin u. New York 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 6-240). Manfred Engel stellte dem anthropologischen Roman den pragmatischen Roman gegenüber. Unter dem pragmatischem Roman verstand er dabei zweierlei: zum einen die Annäherung der Gattung an die Geschichtsschreibung, zum anderen die Ausrichtung auf eine direkte und eingreifende Wirkung. Die Gattung sei - anders als der anthropologische Roman - durch die psychologische Entwicklung aus menschlichen Triebfedern, durch einen Kausalnexus und Finalität, durch Anschaulichkeit und durch die Ablehnung einer Trennung von Erzählung und Reflexion gekennzeichnet. Ders.: Der Roman der Goethezeit (wie Anm. V, 227). Bd. l, S. 98f. Der empfindsame Roman war vordringlich thematisch bestimmt: Individuum und Familie sowie die Trennung von öffentlichem Raum und Privatraum traten in den Vordergrund. Überschneidungen ergaben sich mit dem anthropologischen, dem philosophischen und dem moralischen Roman. Wilhelm Voßkamp: Erzählte Subjektivität: Zur Geschichte des

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»moralische Romane«241 bezeichnet. Wenn auch bestimmte literaturwissenschaftliche >Pardigmen< die Wahl der jeweiligen Bestimmung leiteten, so kann doch jede Bestimmung - mehr oder minder - an einen >Gehalt< der Texte Wielands geknüpft werden. Weil die zeitgenössischen Begriffe für die genannten Wissenskomplexe oft nicht klar und trennscharf sind, fällt aber oft Gleiches unter die Bestimmungen. Um solche Überlagerungen in den Blick zu bekommen, will ich mich auf die Leitfrage konzentrieren, wie das, was Wieland schon in den Beyträgen als >Philosophie< ausweist, im Roman dargeboten wird. Mal wird direkt von >der Philosophie< und ihren Aufgaben gesprochen. Ein ander Mal muß die Philosophie - durch den Leser - aus den Romanen erst entwickelt werden. Inwiefern sie mit den Beyträgen als »Linderungsmittel]« oder als »ZubereitunglJ« auf »Ausgelassenheit« und »Unterdrückung« zu antworten vermag,242 soll im folgenden gefragt werden. Es liegt nahe, in der frühen Phase von Wielands Werk zu verweilen, also bei den Romanen, die während seiner Erfurter Zeit (1769-1771) entstehen. Dabei gelten die Vorgaben der Beyträge; die Rousseau-Rezeption wirkt noch nach. In der Romanfolge aus dem Goldnen Spiegel und der Geschichte des weisen Danlschmend, die im Untertitel als »Ein Anhang zur Geschichte von Scheschian« ausgewiesen ist, führt Wieland vor, ob und inwiefern die verschiedenen Philosophien auf die Herrscherkaste eines Gemeinwesens wirken bzw. nicht wirken. Die in den Beyträgen an Rousseau geübte Kritik wird nochmals hervorgehoben, diesmal allerdings mit verallgemeinertem und überzeitlichem Anspruch.243 Mit Blick auf die

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empfindsamen Romans im 18. Jahrhundert in Deutschland. In: Gesellige Vernunft. Zur Kultur der literarischen Aufklärung. FS für Wolfram Mauser zum 65. Geburtstag. Hg. v. Ortrud Gutjahr. Würzburg 1993, S. 339-352; zu Wielands »Diogenes« Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit (wie Anm. L, 4), S. 288-317. Hugo Beyer: Die moralische Erzählung in Deutschland bis zu Heinrich von Kleist. Frankfurt/M. 1941 (Frankfurter Quellen und Forschungen 30); Kurt-Ingo Flessau: Der moralische Roman. Studien zur gesellschaftskritischen Trivialliteratur der Goethezeit. Köln u. Graz 1968. Crebillon d.J. hat den Begriff des conte moral eingeführt; Marmontel verwendet ihn ebenfalls für seine Erzählungen. Nach Flessau ließ sich der Begriff wie folgt erklären: »Ein Typ der goethezeitlichen Trivialliteratur und gehobenen Unterhaltungsliteratur, der, von der moralischen Erzählung durch ausschließlich zeitbezogene Thematik, durch größeren Umfang und Handlungsreichtum unterschieden, nach englischen und französischen Vorbildern geformt und durchweg >auf dem Teutschen Meridian visirtPhilosophie< und >Wirklichkeit< lernen zu lassen, zeichnet seine Texte aus. Dem doppelt angelegten Romanprojekt lassen sich vorab Aufgaben für die Philosophie zuordnen: Im Goldnen Spiegel werden noch »Zubereitungen« für eine bessere Herrschaft vorgeschlagen und mit Hilfe von historischen Beispielen illustriert. Eine erste Fassung aus dem Jahr 1772 schließt hinsichtlich der gesellschaftsstabilisierenden Kraft von >Philosophie< optimistisch. Die Ausgabe letzter Hand aus dem Jahr 1794 hingegen steht bereits unter dem Eindruck des »terreur«:244 Wieland äußert sich skeptischer - skeptische Töne klingen auch schon in der ersten Fassung an -245 und vertritt nurmehr ein zyklisches Geschichtsmodell mit tendenziell »geschichtspessimistische[r] Deutung«.246 Die Erzählungen aus dem Reich »Scheschian« enden mit einer >Leerstelle< (a).247 So wird die Lösung herausgezögert; auch im >dritten Ende< des Goldnen Spiegels, dem Danischmend, wird kein verbindlicher Schluß vorgelegt. Danischmend - nicht länger Hofphilosoph, sondern Privatier - hat in der Geschichte des weisen [l] Danischmend nurmehr »Linderungsmittelf]« für den in Schwierigkeiten geratenen König übrig. Die Aufgaben der Moralphilosophie und ihr Geltungsbereich werden in dem Romanprojekt nach und nach verringert. All das geschieht vor dem Hintergrund der Frage, ob die Philosophie die Religion als Orientierungshilfe abzulösen vermag. Wieland verneint sie (b). a) Der goldne Spiegel oder die Könige von Scheschian (1772): philosophische »Zubereitungen« Wielands Zeitgenossen gilt der Goldne Spiegel als ein Werk, das sich nicht nur mit den Staatsromanen Hallers messen könne, sondern diese an Witz und Kenntnis noch überrage.248 Bis in die sechziger Jahre dieses Jahrhunderts hinein wußte die germanistische Literaturwissenschaft dennoch weder die forma-

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Diese Interpretation ist an der Ausgabe letzter Hand orientiert. James A. McNeely: Historical Relativism in Wieland's concept of the ideal state. In: Modern Language Quaterly 22 (1961), S. 269-282, hier S. 874. Michael Walter: »Keine Zeichen von guter Vorbedeutung.« Zur Textbedeutung des Schlußkapitels vom »Goldnen Spiegel. In: Das Spätwerk Christoph Martin Wielands und seine Bedeutung für die deutsche Aufklärung. Hg. v. Thomas Höhle. Halle (Saale) 1988 (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Wissenschaftliche Beiträge 61-F 84), S. 29-^1, hier S. 33. Naumann: Politik und Moral (wie Anm. V., 236), S. 181. Dazu die Besprechungen in Friedrich Nicolais »Allgemeiner deutscher Bibliothek«. In: ebd. 18/2 (1773), 329-363; zu Hallers »Alfred«: ebd. 22/2 (1774), S. 309-324.

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len noch die >inhaltlichen< Qualitäten des Goldnen Spiegels zu würdigen.249 Das Werk habe nur dem Ziel einer Bewerbung am Wiener respektive am Weimarer Hof gedient, so meinten viele Interpreten.250 Daß diese Interpretation auf einem Irrtum beruht, könnte am Beispiel von Oskar Vogt gezeigt werden. Seine Interpretation speiste sich aus der Gleichsetzung der Autorintention mit den Idealen des scheinbar vorzüglichen Herrschers Tifan. Tifan wiederum wurde einem Brief Wielands an Riedel folgend - als Entsprechung des österreichischen Kaisers verstanden.251 Dieter Kimpel legte die so beschriebene Darstellung zu Lasten Wielands aus: als Verschleierung staatsphilosophischer Inkompetenz und als Furcht des Autors vor der Zensur.252 Erst 1964 lobte Friedrich Beißner den Roman wegen seiner »Stilmittel der Quellenfiktion und der dialogischen Facettierung« - mit der Anweisung, ihn nicht als Staatsroman mißzuverstehen. Er sei nicht zum Zweck der Bewerbung verfaßt worden.253 Im Jahr 1977 begann nach der zunächst abschätzigen und schließlich doch positiven Bewertung ein neuer Abschnitt für die Forschung zu Wielands Romanprojekt, und zwar mit der Edition Der goldne Spiegel und andere politische Dichtungen von Jaumann. Er legte für seine Interpretation des Romanprojekts Ansätze vor, die sich für die spätere Forschung als prägend erwiesen, und denen ich in Grundzügen folge: erstens ging Jaumann von einer »Dekomposition« der Gattung des Fürstenspiegels aus und deutet Wielands Romane als >Vorläufer< des Individuairomans hinsichtlich einer im Roman angelegten »Menschheitsutopie«™ An die Stelle der Erziehung zum besten Herrscher trete die Bildung im Blick auf universalistische und zugleich individuelle Werte.

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Über die Forschungsgeschichte zuletzt Budde: Wielands antithetische Prosa (wie Anm. IV., 257), S. 163-176. Budde wendete sich dabei in erster Linie gegen die »kleinbürgerliche Ideologie der Nachkriegszeit,« die Wielands Romanprojekt banalisiere. Er betonte den reflexiven und kritischen Charakter des »Goldnen Spiegels«. Ebd., S. 256. Zur Forschungsgeschichte bis in die siebziger Jahre außerdem Herbert Jaumann: Nachwort. In: Christoph Martin Wieland, Der goldne Spiegel und andere politische Dichtungen. München 1977, S. 858-889, hier S. 858f. Aufgrund der musterhaften Edition und des ausführlichen Kommentars wird im folgenden nach der Ausgabe Jaumanns zitiert. Ebd., S. 859f. Oskar Vogt: »Der goldne Spiegel« und Wielands politische Ansichten. Berlin 1904 (Forschungen zur neueren Literaturgeschichte 26), S. 13 passim. W. Daniel Wilson identifizierte - was sich ebenfalls als falsch erwies - Wielands Sicht mit derjenigen Danischmends, um zu demselben Ergebnis zu kommen wie Vogt. Wilson: Intellekt und Herrschaft. Wielands »Goldner Spiegel«, Joseph II. und das Ideal eines kritischen Mäzenats im aufgeklärten Absolutismus. In: Modern Language Notes 99/3 (1984), S. 479-502. Folgt man der nachstehenden Interpretation, so läßt sich der »Goldne Spiegel« demgegenüber als Kritik an den zeitgenössischen Herrschaftspraktiken verstehen, insoweit sie auf die Vernunftphilosophie Bezug nehmen. Bernhard Seuffert: Wielands Berufung nach Weimar. In: Vierteljahrschrift für Literaturgeschichte l (1888), S. 342^35. Dieter Kimpel: Der Roman der Aufklärung (1670-1774). Stuttgart 21977, S. 126. Friedrich Beißner: Nachwort des Herausgebers. In: C.M. Wieland, Romane. Ausgewählte Werke in drei Bänden. Bd. 2. München 1964, S. 907-933, hier S. 919. Jaumann: Nachwort (wie Anm. V., 249), S. 883 [Hervorhebung im Original].

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Verglichen mit Wielands Frühwerk werde die >Subjektproblematik< deutlich.255 Wieland verlege sich vom Ideal des >Übermenschen< auf die Kritik des Schwärmers und interessiere sich zunehmend für die psychologische Analyse der leidenschaftlichen Subjektivität. Einen weiteren Interpretationsansatz bot der Multiperspektivismus des Werkes, der - Vorbildern abgeschaut - mit Hilfe unterschiedlicher Erzähltechniken erreicht werde. Besonders dieser Aspekt wurde für die marxistische Literaturforschung zum Argument, den Goldnen Spiegel »turmhoch über alle deutschen Staatsromane des 18. Jahrhunderts« zu stellen.256 Während Jaumann drittens das Luxus-Thema als zentral für den Text auswies,257 war er der Ansicht, der Religion komme nur geringe Bedeutung zu.258 Dieser letzten Ansicht Jaumanns läßt sich widersprechen: Philosophie und Religion sind für den Goldnen Spiegel wie für den Danischmend gleichermaßen wichtig.259 Denn Luxus, Verbreitung der Philosophie, Skepsis und Aberglaube gehen miteinander einher.260 In aller Regel werden die in dem Romanprojekt geschilderten Reiche durch die Philosophie, durch staatsreligiöse Institutionen und durch den damit einhergehenden Aberglauben gefährdet. Dem einzelnen werde - auch aus der Literatur der Refugianten ist das Argument bekannt - keine zureichende Glaubensfreiheit, kein >innerer Kult< gewährt. Weil individuelle Freiheiten eingeschränkt sind und die Gewaltenteilung nachlässig gehandhabt wird, gewinnt die Priesterkaste Macht. Sie greift in das Gemeinwe-

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Ebd., S. 881. In einer marxistisch-historisierenden Interpretation von Thomas Höhle: Wieland und die verpönte Gattung des Staatsromans. In: Wieland-Kolloquium Halberstadt 1983. Hg. v. dems. (wie Anm. V., 180), S. 41-60, hier S. 51. Gleichwohl kann sich Wieland aber bereits auf eine vornehmlich französische Tradition des Gebrauchs der Quellen- und Übersetzerfiktion im Staatsroman stützen. Diese Tradition umfaßt die Texte »Sethos« (1731) des Abbe Terrasson, Hallers Staatsromane, »Artamene, ou le Grand Cyrus« (1649ff.) von Madeleine de Scudery sowie Abbe Pernetys »Le repos de Cyrus« (1732). Vgl. Jaumann: Nachwort (wie Anm. V., 249), S. 865. Ebd., S. 869f; für den Begriff des Luxus Dorit Grugel-Pannier: Luxus. Eine begriffs- und ideeengeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung von Bernard Mandeville. Frankfurt/M. u.a. 1996 (Münsteraner Monographien zur englischen Literatur 19). Jaumann: Nachwort (wie Anm. V., 249), S. 877f. Für das Verhältnis von Religion und Luxus Uve Fischer: Lusso e vallata felice: il romanzo politico lo spechio d'oro di Christoph Martin Wieland. Universitä di Catania 1974 (Quaderni del Siculorum Gymnasium): Wielands Luxus-Kritik ist vordringlich durch die Vorgaben Quesnays, des älteren Mirabeaus und Isaak Iselins bestimmt. Fischer zeigte, daß der Luxus in bezug auf den Aufbau der einzelnen Episoden und raumzeitlichen Konstellationen im »Goldnen Spiegel« als Gegenprinzip zum »ordre naturel« fungiert, der in vieler Hinsicht an Rousseau angelehnten Utopien eingesetzt wird. Fischer: Lusso e vallata felice (wie Anm. V., 259), S. 47. Fischer nahm aber vor allem auf die beiden Talutopien in dem Roman - auf das »Tal der Kinder der Natur« und auf die Erziehung Tifans in der Natur - Bezug und vernachlässigt die Erzählebene des indischen Herrscherhauses.

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sen ein und tarnt ihre Eingriffe als Glaubenspraktiken. Darüberhinaus wird die Wirkung der staatlichen Vernunftreligion als zu weitreichend, diejenige der Offenbarungsreligion aber als zu gering eingeschätzt. Während der Aberglaube Überhand gewinnt, gerät die bloß vernünftige Religion ins Hintertreffen. Im folgenden soll gezeigt werden, daß und inwiefern Vernunftreligion und Vernunftphilosophie im Goldnen Spiegel als Problem für die Stabilität des Gemeinwesens aufgefaßt werden. Die auf Besserung ausgerichteten Unternehmungen des Hofphilosophen Danischmend, dem Herrscher Schach-Gebal eine Philosophie für seine Regierung nahezulegen, scheitern im Goldnen Spiegel ebenso wie im Danischmend an dem schon erwähnten strukturellen Problem: Mängel der Regierung bzw. der >Bonzenherrschaft< sind Symptome der schlechten Neigungen des Menschen. Menschen denken und handeln nur selten vernünftig - eine Eigenschaft, die vor allem dann schlimme Auswirkungen hat, wenn Menschen Verlockungen des Luxus anheimfallen und in machtvolle Positionen geraten. Dieses von dem Natur- und Vemunftphilosophen Danischmend unterschätzte Problem wird im Goldnen Spiegel auf vielfältige Weise dargeboten. Dem gedruckten Text liegt dabei eine scheschianische Quelle zugrunde, die durch Erzählungen von paradiesischen Gemeinwesen ergänzt wird. Ein indischer Herausgeber kommentiert die Quelle; er spart nicht mit Informationen über das Herrscherhaus Gebais.261 In den Händen eines »Sinesers« liegt es, den indischen Text zu übersetzen und ihm ein Vorwort beizufügen. Ein lateinscher Übersetzer überträgt den Text in die gelehrte Sprache und kommentiert ihn erneut. Zuletzt wird der Text ins Deutsche übersetzt und wiederum kommentiert. Die Ebenen von Erzählung, Übersetzung und Kommentar überlagern sich. Unterschiedliche philosophische Positionen stehen in einer Weise gegeneinander, daß eine normgebende Instanz kaum erkennbar ist. Gerade der sentimentalische >Vernünftler< Danischmend kann nicht als eine solche gelten. Einzelne Figuren repräsentieren viele mögliche Leserrollen. Erst dem Leser obliegt die Interpretation der dargebotenen Perspektiven im Blick auf eine bevorzugte Position, die das zentrale Problem - den Sinn und Zweck der Philosophie im Vergleich zur Religion - erkennen und vielleicht lösen könnte. Daß Glaubensfragen strukturelle Probleme für die menschliche Gemeinschaft darstellen, erkennt der deutsche Übersetzer und Herausgeber. Ihm ist die Position des fast schon resignierten Moralphilosophen zugeschrieben. Er will die »menschlichen Natur« mit den Problemen seiner Zeit vertraut zu ma-

Zur Herausgeberfiktion und zur Anlehnung an das Erzählmodell aus Crebillon d.J. »L'Ecumoire« Hermann Meyer: Christoph Martin Wieland: »Der goldne Spiegel« und »Die Geschichte des weisen Danischmend«. In: Hermann Meyer, Das Zitat in der Erzählkunst. Zur Geschichte des europäischen Romans. Stuttgart 21967, Kap. 5, S. 89-113 u. 253f.; zit. n. dem Abdruck in: Christoph Martin Wieland. Hg. v. Hansjörg Schelle. Darmstadt 1981 (Wege der Forschung 421), S. 128-151, hier S. 131.

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eben.262 In einer Adresse an die Leser stellt er heraus, daß er die Vorlage des lateinischen Übersetzers um jene Passagen kürzt, welche die »besondem Umstände der Religionsgeschichte von Scheschian« beträfen.263 Aus diesem Grund füge er eine Lücke in den Text ein. Der entstandene »Hiatus in Manuscriptis« sei als Reaktion auf die mittlerweile mit der Religion und der Philosophie verbundenen Probleme zu betrachten.264 Darüberhinaus grenzt sich der deutsche Übersetzer von der Meinung des lateinischen Kollegen ab. Der noch in scholastischen Mustern denkende »ehrwürdige Vater J.G.A.D.G.J.«, sei der Ansicht gewesen, daß er der >wahren Religion< den höchsten Dienst erweise, wenn er »dem Aberglauben und der Tartüfferei« zu Leibe rücke.265 Vor dem Hintergrund seiner zeitgemäßen Diagnose hebt der deutsche Übersetzer demgegenüber den Schaden hervor, den die Philosophie - und nicht der Aberglaube - für die Religion provoziere. Sie beeinflusse die menschliche Natur in bedenklicher Weise: Andre, in ihren Folgen ungleich verderblichere Ausschweifungen, Geringschätzung der Religion und Ruchlosigkeit, gewinnen unvermerkt immer mehr Grund, die ehrwürdige Grundfeste der Ordnung und der Ruhe der menschlichen Gesellschaft wird untergraben, und unter dem Verwände, einem Übel, welches größten Teils eingebildet ist, zu steuern, arbeitet der zügellose Witz, in den Mantel der Philosophie eingehüllt, der menschlichen Natur ihre beste Stütze, und der Tugend ihre wirksamste Triebfeder zu entziehen.266

Wie wichtig - mit Formey - »une saine religion, une saine philosophic, une saine politique« für den Erhalt des Gemeinwohls sind, zeigt sich im Gang durch den Goldnen Spiegel. Notwendig für die Beförderung des Gemeinwohls sei, so der deutsche Übersetzer, eine Eintracht von Religion und Staat, von Glauben, Vernunft und Sitten. Als wichtigste Stütze der Tugend und damit des Gemeinwesens gilt ihm die Offenbarungsreligion. Diese Religion werde aber derzeit »im Mantel« einer falschen und >witzigen< Philosophie angegriffen, von der >gefährlichen< Philosophie der französischen Aufklärung. 267 Die >richtige< Philosophie im Goldnen Spiegel lasse »Behutsamkeit« walten, um dem Leser dieses gewichtige Problem zu signalisieren.268 Dabei ist der >Endzweck< des deutschen Herausgebers das Wohl der >Menschheitfalsche< Darstellung des Themas in der Geschichte Scheschians und nehme sogar eigenmächtige Streichungen im

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Wieland: Der goldne Spiegel (wie Anm. V., 249), S. 119. Ebd. Ebd., S. 118. Ebd., S. 118f. [Hervorhebungen im Original]. Ebd., S. 119 [Hervorhebung im Original]. Ebd. Ebd.

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Manuskript vor. Er konzentriert die Darstellung demnach auf die Aspekte, die zum Verständnis der Gesamtgeschichte notwendig und für die Leser unschädlich seien. Das Ergebnis trifft, so läßt sich aus den Aussagen des Herausgebers schließen, nicht in jeder Hinsicht auf die Probleme um 1772 zu, sei aber doch - dem Autor zufolge - als »Linderungsmittelf]«, und »Zubereitung[]Besserung< der Menschen akzeptabel. Für die Exegese der philosophischen Lehre, die zu diesem Zweck notwendig ist, legt schon der sinesische Übersetzer ein gestaffeltes Modell vor. Die übersetzten Schriften betrachtet er als Quelle für die Geschichte »der älteren Zeiten«. Diese Geschichte gilt wiederum als die »beste Schule der Sittenlehre und der Staatsklugheit, als die lauteste Quelle dieser erhabenen Philosophie.«269 Sie mache ihre Schüler unabhängig, lehre das Unterscheiden von »allgemeinefm] Bestefn]« und »Eigennutz«, biete »uns ein untrügliches Mittel wider Selbstbetrug und Ansteckung mit fremde[r] Torheit.«270 Sie werde auf diese Weise als »Wissenschaft der Könige« gepriesen, die allen Menschen zu ihrem Vorteil gereiche.271 Für den sinesischen Übersetzer stellt die Philosophie ein Allheilmittel dar. Er hegt damit aber zugleich politische Absichten. Nicht ohne Grund widmet er die selbst besorgte Übersetzung seinem Kaisers Tai-Tsu. Während der sinesische Übersetzer großen Wert auf eine aufklärerische Philosophie legt, hebt der von der sinesischen Übersetzung ausgehende lateinische Übersetzer - ganz Scholastiker - die Religion hervor. Der deutsche Übersetzer und Herausgeber hingegen verbindet diese beiden Positionen: Nicht die Religion, sondern die aufklärerische Philosophie erweise sich als Problem für das Gemeinwesen. Das noch vom sinesischen Übersetzer bevorzugte Modell der Stabilisierung des Gemeinwesens im Mittel der Tugend ist nurmehr durch eine bestimmte Philosophie gefährdet. Sie wird - wie im Naturrecht - in Übersetzungen und Kommentaren dargelegt. Der Sineser vertritt dabei die Rolle, wie sie den Chinesen in Wolffs Oratio de sinarum philosophia zugeschrieben wird und bei Wieland sowie in Hallers Usong erneut auftaucht: China gilt als Gemeinwesen, das auf einer vernünftigen Philosophie basiert. Für Wolff und die Wolff-Rezeption wird China zum »politischen Musterstaat schlechthin.«272 Das eigene Unternehmen kommen-

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Ebd.,S.9f. Ebd., S. 10. Ebd. Ursula Aurich: »China im Spiegel der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts«. Berlin 1935 (Germanische Studien 169), S. 123f. Bei Iselin galt China außerdem als Muster der großflächigen und idealen Agrarstaates. Zhu Yanbing: Die konfuzianischen staatsphilosophischen Ideen in den Staatsromanen von Albrecht von Haller und Christoph Martin Wieland. In: Symposium »Deutsche Literatur und Sprache aus ostasiatischer Perspektive«, 26.-30.08.1991. Veröffentlichungen des Japanisch-Deutschen Zentrums Berlin 12, S. 382-386.

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tiert der »Sineser« aber bereits ironisch:273 »In diese[s] Bewußtsein einer redlichen Gesinnung eingehüllt« habe sich die Geschichte behaglich erzählen lassen - eine Anspielung auf die unvernünftige und unphilosophische Bequemlichkeit, auf die Unvernunft des Menschen, wie sie schon aus den Beyträgen bekannt ist.274 Betrachtet man die Selbstaussagen der Übersetzer und des deutschen Herausgebers über ihre Eingriffe in den Text, so nimmt der Wahrheitsgrad der ursprünglichen Geschichte immer weiter zugunsten der Interessen der Übersetzer ab. Ein >Original< ist nicht einmal mehr zugänglich; die >Fiktion< eines Originals dient als Projektionsmöglichkeit für die zahlreichen Übersetzer und Kommentatoren. Das Ergebnis vieler Jahrhunderte schriftgelehrter >Textfledderei< hält der Leser mit dem Goldnen Spiegel in den Händen. Wie soll er das gesunkene Kulturgut< von dem unterscheiden, was hinzugedichtet, was bloß selbstinteressiert und falsch ist? In der Geschichte Scheschians selbst obliegt es dem Hofphilosophen Danischmend, dem Herrscher über eine wahre >Philosophie< zu berichten. Er wird zunächst als der »naseweise Danischmend« beschrieben, der eine »unverschämtfe]« Philosophie vertrete,275 und erscheint mal als Hofphilosoph mal als Hofnarr - getreu der Darstellung des Philosophen in den Beyträgen. Erst im Danischmend gilt er als »weise«. Seinen Beruf hat der einstige Hofphilosoph aber in der Zwischenzeit abgelegt, so daß er nurmehr als Privatier philosophische Fragen stellt. Der Nachfolgeroman des Goldenen Spiegels ist von den Interpretationsvorgaben für denselben suspendiert. Im Goldnen Spiegel verweist etwa eine Hälfte des Titels, Der goldne Spiegel, auf das Genre des Fürstenspiegels. Das Motiv des Spiegels, das im Text mehrfach vorkommt, stützt diesen Hinweise. Schon das Motto »— Inspicere tanquam In speculum jubeo -« deutet auf die zentrale Bedeutung des Motivs hin.276 Die beiden Bindestriche zu Anfang des Zitats markieren eine Auslassung. Aus seinem ursprünglichen Kontext ist das Zitat herausgenommen. Es läßt sich also nur sagen, daß es um eine Weisung geht: um die Aufforderung, sich zu spiegeln. Im Kommunikationsmodell für die Geschichte Scheschians wird mit solchen Spiegelungen gearbeitet - bei-

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Meyer nannte den »Ton des Chinesen [...] elegant-ironisch, seine Bemerkungen sind ad rem, ihm gelingt mancher Aphorismus, dessen ein Lichtenberg oder ein La Rochefoucauld sich nicht zu schämen brauchten.« Meyer: Christoph Martin Wieland (wie Anm. V., 261), S. 133. Wieland: Der goldne Spiegel (wie Anm. V., 249), S. 11. Ebd., S. 37. >— Ich wünsche [befehle], gleich wie in einen Spiegel zu blicken -.< Auch Budde wies auf die zentrale Stellung des Mottos hin, deutete es aber nicht im Blick auf den >dramatischen< Wechsel der Positionen im Roman. Ders.: Wielands antithetische Prosa (wie Anm. IV., 257), S. 209.

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spielsweise mit Hilfe der »scheingelehrten Anmerkungen«.277 Ziel der Spiegelungen ist nach Ansicht des sinesischen Übersetzers die »ernsthafte Ergetzung«, das Lernen einer Lehre aus dem Erzählen von Geschichten.278 Eine »Geschichte der Torheit« wirke, wenn der Leser sich in ihr wiederfinden könne: In diesen getreuen Spiegeln erblicken wir Menschen, Sitten und Zeiten, entblößt von allem demjenigen, was unser Urteil zu verfälschen pflegt,

weil es die jeweilige Lebensumwelt nur vor dem Hintergrund von eigenen Interessen wahrnimmt.279 Alle Leser sollen sich durch Spiegelungen in der Geschichte selbst erkennen können. In diesem Sinne werden [...] große, dem ganzen Menschengeschlecht angelegene Wahrheiten, merkwürdige Zeitpunkte, lehrreiche Beispiele, und eine getreue Abschilderung [...] des Herzens

als Themen der Geschichte von Scheschian angekündigt.280 Diese Ankündigung widerspricht aber dem konventionellen Fürstenspiegel, der als Lehre für einen einzelnen Fürsten dient.281 Solche Fürstenspiegel enthalten weder »Wahrheiten« noch »getreue Abschilderungen des Herzens«, allenfalls »merkwürdige Zeitpunkte« und »Beispiele« sowie Regeln der »conduite«, nämlich die Regeln des klugen (und nicht des weisen) Verhaltens. Kann das Erziehungmodell des Fürstenspiegels für ein Unternehmen tragen, das vorsieht, das gesamte Menschengeschlecht zur Wahrheit zu erziehen? Eine Aufklärung, wie Danischmend sie unternimmt, wird jedenfalls von dem Sultan, seinem >ZöglingGenie< wie das seinige solle aus Gegensätzen erzogen werden, so ihre Ansicht zu den »mächtigen und seltnen Geistern, die sich selbst bilden.«284 Entsprechend behandelt Wieland den Leser: Sein >Genie< soll die Wahrheit selbst finden. Als sich Nurmahal in Danischmends Geschichte von Azor, Lili und Gulnaze spiegelt, wird diese Erzählkonstellation beendet. Sie erkennt sich in Lili, die über den regierungsunfähigen und schöngeistigen Azor herrscht. Thematischer Anlaß der Spiegelung ist der von Lili beförderte Luxus. Schon die historische Nurmahal, über die Eberhard Happel in seinen Relationes curiosae (1709) berichtet, neigte dem Luxus zu.285 Hier nimmt der Goldne Spiegel also auf die Geschichte Indiens Bezug. Die Nurmahal des Romans wird folgerichtig von Gebal aufgefordert, »das Bildnis« der schönen Lili zu verkörpern, und gibt die Rolle der Erzählerin infolge dieser Aufforderung vollständig an Danischmend ab.286 Sie spiegelt sich, d.h. sie erfaßt durch Nachahmung, welche Rolle ihr zukommt. Diese Konzeption mimetischen Lernens erweist sich aber als ebensowenig erfolgreich wie das auf Gegensätzen beruhende und märchenhafte Erzählmodell von Tausendundeine Nacht: Nurmahal wird sich ebensowenig ändern wie Gebal, der befiehlt, [...] über den Rest der Regierung des unglücklichen Azors so schnell als nur immer möglich sein würde, hinweg zu glitschen.287

Denn Gebal hat sich in Azor erkannt. Wird die Kommunikation mit dem Leser demselben Schicksal unterliegen? Bezeichnend ist, daß die Spiegelung am Beispiel des Luxus-Themas passiert. Der Leser wird damit auf die Ansprache von seilen des deutschen Herausgebers und damit auf die Zunahme von Skeptizismus und Aberglaube verwiesen. Als die Spiegelung im zweiten Teil des Goldnen Spiegels erneut SchachGebal erfaßt, wird Danischmend seines Amtes enthoben und in den Kerker geworfen. Schach-Gebal läßt sich diesmal mit dem scheschianischen Herrscher Tifan II. vergleichen, und zwar im Blick auf die gemeinsame Vorliebe für Schmetterlinge. Wie Tifan II. habe Gebal keinen weisen Erzieher gehabt, der ihm eine >natürliche< Erziehung hätte erteilen können, sondern nur einen Hof-

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Ebd., S. 100 u. 119. E[berhard] G. Happel: Relationes curiosae Oder Denckwürdigkeiten der Welt [... J. Bd. 3. Hamburg u. Leipzig 1709, 17. Nachricht, S. 129-133. Wieland: Der goldne Spiegel (wie Anm. V., 249), I, Kap. XI. Ebd., S. 151.

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Philosophen, nämlich Danischmend, den er schließlich zum »Itimadulet« über die Schmetterlinge ernennt.288 Die Erziehungsstrategie einer Spiegelung im Ebenbild wirkt sich für Danischmend mißlich aus. Aber auch die Strategie der Erziehung mit Hilfe der Darstellung von Vorbildern, wie sie in der Chronik der Könige von Scheschian enthalten sind, ist nicht von Erfolg gekrönt.289 Anders als Nurmahal erkennt Danischmend schließlich - Schach-Gebal pflichtet ihm bei -, daß Prinzen nur »eine Art von Menschen« seien.290 Die >Menschlichkeit< setze auch dem Sultan Grenzen. Vielleicht läßt sich der Sultan deshalb mit Hilfe von Geschichten belehren und unterhalten. Betrachtet man Wielands Romantheorie vor diesem Hintergrund, so verkörpert Gebal den impliziten Leser des Romans, einen »gemischten Charakter«:291 Langweilt er sich, so unterbricht er die Erzählung, von der er Lebhaftigkeit und Wahrheit fordert. Märchen will er gar nicht erst hören. Gegen »Wunderbares« hegt er ein entschiedenes Mißtrauen und verwendet diese Auszeichnung immer wieder, um seine Mißbilligung gegen unrealistische Geschichten auszudrücken.292 Unter den verschiedenen Genres bevorzugt Gebal aus diesem Grund die Chronik, der eine klare und wahre Fabel entnommen werden kann.293 Auch Komödien werden toleriert - nicht aber Satiren.294 »Fabula docet.« Eine wahre und aus diesem Grunde nachahmenswerte, für mimetische Spiegelungen taugliche Philosophie ist im Goldnen Spiegel aber nicht zugänglich. Nur die Vorstellung von der Möglichkeit einer solchen Philosophie besteht noch - als eine Fiktion, deren Umsetzung immer wieder durch die Wirkliches bloß abbildende Chronik ad absurdum geführt wird. Ein Lernen ist für die Figuren schon deshalb nicht möglich, weil nicht klar ist, was gelernt und von wem etwas gelernt werden soll. Im Goldnen Spiegel erweisen sich alle Figuren als >MängelwesenBesserung< des Menschen erscheint, Manger: Wielands Kosmopoliten (wie Anm. V., 196); Sahmland: Christoph Martin Wieland und die deutsche Nation (wie Anm. V., 196), S. 217-272.

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lernt es von der Natur und in der Natur. Es eignet sich die naturrechtlichen Grundsätze seines Erziehers an, die auf seinen Verstand und sein Herz wirken sollen. Der Schlußkommentar verweist auf diese abstrakten und bloß intuitiv >einsichtigen< Grundsätze: Diese und tausend andre Sätze, welche sich aus ihnen ableiten lassen, fand der junge Tifan gleichsam mit der eigenen Hand der Natur in seine Seele geschrieben. Es waren eben so viele Gefühle, welche ihn der weise Dschengis in Grundsätze verwandeln lehrte, deren überzeugender Kraft seine Vernunft eben so wenig widerstehen konnte, als es in seiner Willkür stand, den Tag für Nacht, oder warm für kalt zu halten."6

Tifans Seele »gewöhntet]« sich aus zwei Gründen an diese Grundsätze: zum einen, weil er keine ihnen widersprechenden Interessen in sich selbst wahrnehme; zum anderen, »da Dschengis sich sorgfältig hütete[]« zuzugeben, daß der größte Teil der Menschheit »durch eine beinahe unbegreifliche Verderbnis des Verstandes und Willens« schon immer gegen diese Grundsätze verstoßen habe.317 Die Absage an die naturrechtlichen Prämissen und an die naturrechtlichen Normenordnung könnte kaum deutlicher formuliert sein. Zwar wird die Umsetzung naturrechtlicher Pflichten auf das monarchische Prinzip festgelegt. Wer sie aber ausführe, sei irrelevant, wenn sie nur »wirklich erfüllt« würden.318 Danischmend weist außerdem noch auf die herausragenden Persönlichkeiten derjenigen Monarchen hin, welche »selbst an dem allgemeinen Wohlstande arbeiten«, um sich von seiner Verwirklichung zu überzeugen.319 Angelpunkt der Umsetzung der aus der Natur hergeleiteten Pflichten sei aber ein ganz undeutliches Moment, nämlich die »heroische Tugend« - jene >natürliche< Eigenschaft des Monarchen, die aus der Sicht Danischmends erst zur Umsetzung der Pflichten befähige.320 Nurmahal entgegnet nunmehr staatsklug, daß nicht die Natur, sondern erst die Kunst die Fürsten bilde. Er müsse in der Lage sein, auch gegen seinen »Privatvorteil« zu handeln.321 Mißwirtschaft und Vernachlässigung des Militärs folgen aus der allein auf den Privatvorteil ausgerichteten Herrschaft in Scheschian. Während die im ersten Teil des Goldnen Spiegels geschilderten Herrscher schwach waren, wird Isfandiar im zweiten Teil des Romans als böser Mensch beschrieben, der Scheschian ins Elend stürzt. Ihm mangelt es an der >heroischen< Gabe der Perfektibilität. Isfandiar gehorcht dem Philosophen Eblis, einem hedonistischen Vertreter des Matrialismus', der in Menschen nichts anderes sehe, als eine Gattung von Tieren - »die Moral von zwei Fünfteln meiner

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Wieland: Der goldne Spiegel (wie Anm. V., 249), S. 21 Of. Ebd., S. 211. Ebd. Ebd., S. 85. Ebd., S. 86 [Hervorhebungen im Original]. Ebd., S. 86f. [Hervorhebungen im Original].

250 Rajas, Omras und Mollas,« wie der Sultan bemerkt.322 Isfandiar setzt diese Philosophie auf dem Thron um. Er regiert ohne Grundsätze und betrachtet das Volk im wesentlichen als Steuerzahler, der die königlichen Kassen füllt. Darüberhinaus wird der Adel zum Volk degradiert; das Volk wird versklavt. Jede dem Materialismus des Eblis widersprechende Philosophie verbannt er aus dem Land. Als Mittel zur Herstellung der Staatsraison setzt er die Religion ein. Von den »blauen Affen«, einer orthodoxen Religionspartei im Reich, geht ein die Herrschaft umstürzender Aufruhr aus: »Tragikomische Possenspiele« zwischen den »roten« und »blauen Affen«, zwischen der jansenistischen und der hugenottischen Glaubensgemeinschaft,323 sind die Folge. Zu den Mißständen Scheschians gehören demnach insbesondere die Spaltungen des Christentums, die in der Erzählung Danischmends vom Reich Tifans nochmals aufgegriffen werden. Dabei erweist sich die Kritik an der Orthodoxie, an den >AffenVernunftreligion< reagiere auf die Empfindungen der Menschen und gewinne auf diese Weise an Macht325 - entsprechend schwach blieben die Lerneffekte auf seilen des Sultans. Die Vernunftreligion kann den empfindsamen Herrscher nicht recht begeistern. Um die Herrschaft zu legitimieren, so läßt sich für die aufklärerische Herrschaft Tifans folgern, reicht die vernünftige Philosophie nicht aus. Sie erfaßt die emotionalen Bedürfnisse des Menschen nicht in gewünschter Weise.

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Ebd., S. 169. Die »Ya-fou« werden an anderer Stelle als Mönche identifiziert; die »Fruchtbringenden« werden als Jesuiten beschrieben. Ebd., S. 114. Vgl. zu den religiösen Auseinandersetzungen Murat: Les conceptions religieuses de Wieland (wie Anm. V., 259), S. 46f. Für Jaumann erwies sich die Auseinandersetzung mit den Orthodoxen weder als »gewagt« noch als »zentral«. Ders.: Nachwort (wie Anm. V., 249), S. 875f. Breucker: Wieland's »Goldener Spiegel« (wie Anm. V., 292), S. 168; zur religiösen Entwicklung Wielands allgemein Uwe Blasig: Die religiöse Entwicklung des frühen Christoph Martin Wieland. Frankfurt/M. u.a. 1990 (Helicon 10). Letzteres bei Murat: Les conceptions religieuses de Wieland (wie Anm. V., 259), S. 50.

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Infolge der Wirkungslosigkeit der Tifan-Geschichte bleibt es bei dem Urteil, daß Danischmend »wunderbare Dinge« erzähle.326 Aus der Sicht SchachGebals spricht er gewöhnlich von einem Staat in Utopien [...], den du [gemeint ist Danischmend] mit idealischen Menschen nach Belieben besetzen und regieren kannst, wie es dir gefällt. Aber die Rede ist, mit Erlaubnis deiner Philosophie, nicht von dem, was der menschlichen Gesellschaft überhaupt, sondern was von diesem oder jenem besondern Staate gut ist [...].327

Gebal wendet sich mit einem empirischen Argument gegen Danischmend. Der Philosoph verkenne die Unterschiede zwischen Ideal, Utopie und Erfahrungswirklichkeit. Erstens unterschätze er die Neigungen des Menschen; zweitens denke er zu abstrakt, zu wenig lebensnah. Wie im klassischen Naturrecht läuft Gebais Einwand gegen Danischmends Philosophie darauf hinaus, Einzelwohl und Gemeinwohl gegeneinander auszuspielen: Um Nutznießer der gesamtgesellschaftlichen Vorteile zu sein, müßten die Menschen ihre natürlichen Rechte zumindest teilweise aufgeben. Mit dem Verweis auf den Unterschied von Erfahrungswirklichkeit und Philosophie ist die Nähe zur Position des deutschen Herausgebers schon angedeutet. Sie tritt noch klarer mit einem Vorwurf zutage, den Gebal gegen Danischmends Beweisführungen erhebt: Du hast uns bewiesen, daß es zum Besten der menschlichen Gesellschaft gereiche, wenn der Vernunft und dem Witze, folglich - weil du keinen Richter erkennen willst, der in jedem besondern Fall entscheide, was Vernunft und Witz sei - auch der Unvernunft und dem Aberwitze volle Freiheit gelassen werde [...].328

Aber dieser Beweis wird den Sultan nach eigener Aussage nicht davon abhalten, den Philosophen, der sein Volk zum »Mißvergnügen« und zur »Empörung« anhalte, hart zu bestrafen.329 Gebal spricht jene Probleme an, die der deutsche Herausgeber mit der Philosophie verbindet. Ist sie >witzigRealität< im Muster der Philosophie. Die gebildeten Zeitgenossen erklären

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Wieland: Der goldne Spiegel (wie Anm. V., 249), S. 96. Ebd., S. 134 [Hervorhebungen im Original]. Ebd. [Hervorhebungen im Original]. Ebd., S. 135.

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sich die politischen Entwicklungen im Nachbarland mit der Hypothese von den aufwieglerischen Wirkungen derjenigen Philosophie, die mehr auf die Ideale als auf die Wirklichkeit schaute. Mit dieser Philosophie wird in der deutschen Diskussion in erster Linie der Name Rousseaus, die Figur des zwar sympathischen aber gefährlichen Schwärmers für eine idealische Welt verbunden. Bei Wieland trifft diese Kritik aber auch Elemente des Naturrechts, nämlich die mitunter absurd wirkenden Ableitungen, wie Wolff sie vorführt. Den philosophischen Utopien im Goldnen Spiegel kann demnach weniger eine »Ermutigungseffekt« für zukünftige Gemeinwesen als vielmehr eine warnende Bedeutung zugesprochen werden.330 Zeitloses und idealisches Wissen wird auf den Wandel Scheschians bezogen und damit -331 wie in La belle Wolfienne - auf seine Funktion für die Erfahrungswirklichkeit überprüft. Danischmend, der neben Nurmahal (insoweit sie als Schwärmerin angesprochen wird) für dieses idealische Wissen steht, unterschätzt die Gefahr seines aufklärerischen Unternehmens: Die mächtige Kaste der Braminen und Bonzen koaliert mit der staatsklugen Nurmahal und nimmt Danischmend gefangen. Damit wird nicht nur die unausgewogene Gewaltenteilung in Scheschian kritisiert, sondern auch die klerikalen Machenschaften, wie sie in den Briefen über das Mönchswesen dargeboten sind.332 Mit einem Aufstand, mit jener Revolution, die von schwärmerischen Idealen hervorgerufen wird, endet die Geschichte Scheschians. Zwei Mächte stehen sich gegenüber: eine mit quasi-religiöser Ansteckungsgabe ausgestattete Aufklärungsphilosophie sowie der Aberglaube mit seinen machtvollen Institutionen. Die verführerische Philosophie wird in Gestalt ihres missionarischen Vorkämpfers hinter Gitter gebracht. Gebal aber ist an dieser Entscheidung nicht beteiligt. Die schwärmerische Philosophie gilt dem Herrscher zwar als >Narrheitschönen Literatur< zu Gehör bringen können. Eine philosophische Position ist im philosophischen Roman aber nurmehr vage erkennbar. Sie schwankt zwischen dem unsympathischen materialistischen Hedonismus und der sympathischen philosophischen Schwärmerei: Der »naseweise« Danischmend will die Philosophie nicht auf ein bloßes »Linderungsmittelf]« für zu akzeptierende desolate Zustände reduziert wissen, wird aber gerade deshalb ins Gefängnis gesteckt. Taugt die Philosophie nicht als »Zubereitung[]«, um die Menschheit zu bessern? Braucht der Mensch nicht vielmehr die Religion? Im Blick auf den zweiten Schluß des Goldnen Spiegels erweist sich die (schwärmerische) Philosophie endgültig als problematisch. Sie führt zu einem Aufstand, der die Ruhe des Gemeinwesens auf niedrigem Niveau wiederherstellt. Eine Lösung gesellschaftlicher Prbleme hält die Literatur nicht bereit, wie der mehrfach veränderte und herausgezögerte Schluß beweist. Wie der Leser aber diese literarischen Beschreibungen nutzt, bleibt ihm überlassen. Danischmend geht von einer anderen Situation aus als Der goldne Spiegel: Danischmend, lebt fern vom Hof auf dem Land. Argumentierte er im Goldnen Spiegel noch für die Philosophie als »Zubereitungf]« künftigen Wohlstands, so weiß er jetzt, daß ihm nurmehr »Linderungsmittelf]« für unveränderliche Ärgernisse zur Verfügung stehen.338 Noch dazu sieht er sich bedroht. Während sich Danischmend im Goldnen Spiegel vom verträumten, aber anerkannten zum schwärmerischen und gefährdeten Hofphilosophen wandelt, muß er im Danischmend um seine Existenz kämpfen - bis ihm materiell nur das Notwendigste zur Verfügung steht. Seine schwärmerische Philosophie verträgt

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Ebd., S. 7. Ebd., S. 107. Ebd., S. 112. Dazu die Bemerkungen zu den »Beyträgen« im vorausgehenden Abschnitt.

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sich nicht mit der erfahrenen Wirklichkeit. In der Geschichte des weisen Danischmend zeigt sich, daß auch die private Lebensform nur als vorläufige Lösung menschlichen Zusammenlebens gelten kann. Die Philosophie scheitert auch hier - wie im Goldnen Spiegel - an den Bedürfnissen des Menschen. b) Geschichte des weisen Danischmend und der drei Kalender (1775): philosophische »Linderungsmittel[]« Wie der Goldne Spiegel gibt auch der Danischmend, sein »Anhang«, im Titel zwei Leseanweisung vor. Es geht nicht nur um die Geschichte des weisen Danischmend, sondern auch um diejenige [...] der drei Kalender, die aber von der Geschichte des weisen Danischmend überlagert wird. Aus dem Goldnen Spiegel stammen dabei verschiedene plots. Dort erscheinen drei Kalender, als der Sultan beschließt, seine Provinzen zu bereisen. Sie provozieren durch ihre bloße Anwesenheit, durch ihr kynisches Verhalten, das an indische Eunuchen erinnert, von denen die Bevölkerung landauf landab heimgesucht wird. Mit ihrem Gebaren vereiteln sie die von Danischmend eingeleiteten Reisepläne des Sultans - die aber auch ohne sie kaum verwirklicht worden wären. Im »Anhang« zum Goldnen Spiegel, im Danischmend, sucht der >Held< die Provinzen auf, um sich dort niederzulassen, und gerät in Kontakt zu jenen Kalendern.339 Für die Interpretation des Danischmend ist damit der entscheidende Gegensatz gestiftet: Die private Philosophie Danischmends wird dem Kynismus des gebildeten Kalenders Alhafi gegenübergestellt,340 der sich ganz ähnlich äußert wie der materialistisch-hedonistische Eblis im Goldnen Spiegel. Die Quelle der jeweiligen Philosophie kennzeichnet den zentralen Unterschied zwischen Danischmend und Alhafi: Bei Danischmend, dem >sozialen< Philosphen, sitze die Philosophie im Herzen - bei Alhafi hingegen, dem einzelgängerischen Außenseiter, im Kopf.341 Mit dem Goldnen Spiegel verfügt der Danischmend über ein ausführliches >Vorwortx. In einem einleitenden Abschnitt, der mit »Keine Vorrede« überschrieben ist, wird auf das voranstehende Werk Bezug genommen. Eine Erklä-

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Wieland: Geschichte des weisen Danischmend und der drei Kalender. Ein Anhang zur Geschichte von Scheschian. In: Der goldne Spiegel und andere politische Dichtungen (wie Anm. V., 249), S. 331-524, hier S. 351. Alfred Walheim wies auf die Ähnlichkeiten zwischen Wielands »Danischmend« und Goethes »Satyros« hin. Der Wieland-Text sei ein Plagiat des »Satyros«, so seine These. Ders.: Wielands »Danischmende«. Ein Plagiat an Goethes »Satyros«? In: Chronik des Wiener Goethe-Vereins 51 (1947), S. 79f. Zur Figur des Kynikers im Werk Wielands am Beispiel des Diogenes Hinrich NiehuesPröbsting: Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Zynismus. Frankfurt/M. 1988, S. 281-283; ders.: Die Kynismus-Rezeption der Moderne. Diogenes in der Aufklärung. In: Le cynisme ancien et ses prolongements, S. 519-556, hier S. 525-533. Als >närrischer Kyniker< wird auch Rousseau eingeordnet. Wieland: Danischmend (wie Anm. V., 339), S. 436.

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rung über die Absicht seines Romanprojektes könne bereits dem Goldnen Spiegel entnommen werden, so notiert der Erzähler. Die Erklärung sei dort deutlich formuliert. Wer sie nicht verstehen wolle oder könne, dem helfe auch ein weiteres Vorwort nicht. Wenn der Goldne Spiegel aber schon alle Absichten verdeutlicht hat, warum ist ein »Anhang« dann überhaupt vonnöten? Der Erzähler betont die Kontinuität der Text-Leser-Kommunikation, wie sie im Goldnen Spiegel dargelegt wird. Ergänzt er die zentrale Aussage des Ausgangswerkes nur? Schon durch eine einleitende Floskel erscheint die Chronik in einem anderen Licht. Dort ist die Rede von Schach-Gebal, einem »durch gute und böse Gerüchte bekannte[n] Sultan«. Die im Mittel der Fiktion als wahr erwiesene Geschichte des Goldnen Spiegels wird auf eine Schwundstufe von >Wahrheit< reduziert. Im Danischmend aber taucht das gesamte Figurenarsenal des vorangehenden Textes wieder auf. Weitere Figuren werden eingeführt; sie entstammen im wesentlichen der Provinz. Statt weiterhin auf das »gemeine Beste« der ganzen Bevölkerung zu blicken, sucht Danischmend aber nun die »häusliche Glückseligkeit« auf.342 Themen des voranstehenden Textes werden in bezug auf die häusliche Erfahrungswirklichkeit variiert. Zu diesem Zweck wächst die Zahl der Kommentare, so daß der Untertitel >Mit verschiedenen Anmerkungen< (»Cum notis variorum«) als Hinweis für die Lektüre verstanden werden kann.343 Auch die Vielfalt der zitierten philosophischen Positionen nimmt zu. In Anbetracht dieser ungeheuren Komplexität sprach Erhart von einem »Konglomerat unterschiedlichster theoretischer Ansätze.«344 Wie eingangs angedeutet, läuft die philosophische Diskussion im Danischmend gleichwohl auf die Frage zu, inwieweit ein Rückzug in das >gemäßigte< und nahezu unphilosophische Privatleben akzeptabel sein kann. Sie wird im Blick auf den Gegensatz zwischen privater Glückslehre und Kynismus entfaltet.345 Auf eine weitere Strafe für Danischmend verzichtet der Sultan, so daß die Kerkerhaft des Philosophen schnell vorüber ist. Gebal will seinem ehemaligen >Erzieher< raten, ihn nicht weiter mit der Philosophie zu belästigen, sich außerdem von der Philosophie loszusagen und ein »Santon«, ein in Abgeschiedenheit lebender Mönch, zu werden. Seine »Bedürfnisse« halten Danischmend

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Zur Debatte der Kommentatoren Meyer: Christoph Martin Wieland (wie Anm. V., 261), S. 134-151. Der zunehmende Verzicht auf den steuernden Kommentar eines ErzählerIchs verweist auf eine in der Folge des Wielandschen Werks sich verstärkende Tendenz, die sich auch am Beispiel von Romanen anderer Schriftsteller der Spätaufklärung nachweisen läßt. Dazu Jörg Schönert: Satirische Aufklärung. Konstellationen und Krisen des satirischen Erzählens in der deutschen Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. [Habilitationsschrift] München 1970, S. 424. Erhart: »Was nützen schielende Wahrheiten?« (wie Anm. IV., 222), S. 52. In etwa diesem Sinne erschließt auch Budde den »Danischmend«-Text. Ders.: Wielands antithetische Prosa (wie Anm. IV, 257), S. 241-287.

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aber von einem asketischen Leben ab: Weder könne er, der nicht an ein selbständiges Leben gewohnt sei, allein in der Wildnis leben, noch sei er aufgrund seines Alters in der Lage, primitive Wilde zu zähmen. Er will in einem einsamen, fruchtbaren und anmutigen Tal, in dem die Menschen zwar als einfältig aber doch zivilisierte »Waldmenschen« leben, »eine ganz artige kleine Kolonie von glücklichen Menschen anlegen« - ein Experiment, dem der Sultan nur unter dem Vorbehalt zustimmt, daß der Bramine der Sultanin nichts davon erfährt.346 Damit sind die Gegensätze auf eine Entscheidung zurückgeführt. Weil der ehemalige Philosoph seine menschlichen Schwächen kennt und akzeptiert, bevorzugt er ein diesen angemessenes und komfortables Leben. Die Kyniker hingegen verleugnen die menschlichen Bedürfnisse, was sie nicht davon abhält, diesen gelegentlich nachzugehen. Danischmend wird von Gebal mit der Aufforderung verabschiedet, er möge seine Tätigkeit für den Sultan vergessen. Anläßlich der Verabschiedung streitet Danischmend noch einmal über die Frage, ob man alle Untertanen glücklich machen könne - in Gebais Augen eine »Narrheit«.347 >Glück< ist für ihn allenfalls im kleinen Gemeinwesen erreichbar. Aber gerade solche Gemeinwesen werden im Goldnen Spiegel als Utopien mit menschenfeindlichen Zügen gezeichnet. Im Danischmend wird diese Zeichnung nochmals plastisch. Der Danischmend-Roman ist noch stärker reflexiv und kommunikativ angelegt, als der Vorgängertext.348 Als eines der wesentlichen Zeugnisse dafür kann das neunte Kapitel des Romans gelten: »Ein Dialog zwischen dem Leser und dem Autor«, das mit einer Bilanz der knappen »Geschichte der drei Kalender« beginnt. Die Leser-Figur beschwert sich über diese langweilige Geschichte. Pädagogisch entgegnet der Erzähler, den Gelehrten sei auch diese Geschichte wichtig, weil sie doch alles für lesenswert hielten - »Bonzengift und Aqua Tofana ausgenommen.«349 Damit ist etwas über eine zentrale Bezugsgruppe des Danischmend-Romans gesagt. Es sind Gelehrte, die ihr Lebensglück einer unnützen Gelehrsamkeit aufopfern, die sich noch an einem expandierenden Apparat der Anmerkungen freuen. Danach wäre der Danischmend ein Roman über Philosophen und für Philosophen, über geborene Sophisten und Skeptiker und für geborene Sophisten und Skeptiker: für diejenigen, von denen die größten Gefahren des Zeitalters ausgingen. Wieland radikalisiert die Kritik an dieser Gruppe im Danischmend, was für diese Annahme spricht. Er bemängelt die gelehrte Annotationswut - und gerade nicht die Bequemlichkeit und den Unterhaltungswunsch der Leser. Ein >einfachesguten MenschenEndzwecksbessernden< Funktion von Philosophie.371 Danischmend hält nurmehr »Lindenmgsmittel[]« für die »häusliche Glückseligkeit«, wohingegen der Kalender aus Selbstinteresse philosophiert. Anders als in den Beyträgen angekündigt, taugt die Philosophie im Goldnen Spiegel also allenfalls noch als »Linderungsmittelf]« für den Hausgebrauch. Darüberhinaus gilt >Philosophie< als gelehrtes Spiel.372 Ein »Pathos der Vernunft« vermittelt Wielands Romanprojekt demzufolge nicht.373 Auch geht es nicht darum, den Menschen im Sinne der Weimarer Klassik >ästhetisch zu erziehenanachronistische< Wende, für eine religiöse Umkehr des Gemeinwesens und der Philosophie,374 wie Formey sie einklagt. Vielmehr zeigt Wieland im Goldnen Spiegel und im Danischmend, wie Religion und Philosophie (Der goldne Spiegel), wie menschliche Neigung und Philosophie (Danischmend) auseinandertreten. Im Mittel der Literatur führt Wieland mögliche Philosophien vor und zeigt, wie eine Gesellschaft ohne ein (offenbarungs-)religiöses Fundament nach und

Christoph Martin Wieland: Nachlaß des Diogenes von Sinope. Aus einer alten Handschrift. In: ders., Gesammelte Werke. 1. Abteilung: Werke V (7, 8/2), S. 220-314, hier S. 314; zum »Diogenes« Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit (wie Anm. I., 4), S. 330f., 342-357f. Aus der Perspektive der Utopie-Diskussion heraus interpretierte Baudach den »Danischmend« in der gegenläufigen Richtung als »Depravationsutopie«: Nach der >bessernden< Funktion von Philosophie werde nicht mehr gefragt. Baudach: Planeten der Unschuld (wie Anm. V., 180), S. 544. Auch in den späten Romanen wird diese Sichtweise der »illusionslos aufgeklärten Moralität« gewahrt. An keiner Stelle wird verbindlich gezeigt, wie sie Orientierung stiftet. Vgl. Horst Thome: Religion und Aufklärung in Wielands »Agathodämon«. Zu Problemen der kulturellen Semantik< um 1800. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 15 (1990), S. 93-122, hier S. 122. Dies kann gegen Spies eingewendet werden, der den »Goldnen Spiegel« im Blick auf ein solches Übertragungsverhältnis deutet: »So zeichnet sich bei Wieland eine Literarisierung des politisch-moralischen Weltzustandes ab, durch die das sittliche Pathos der Vernunft der Kunst zufällt.« Spies: Politische Kritik (wie Anm. IV., 257), S. 120. Vgl. in diesem Sinne Sven-Aage J0rgensen: Zum Bild der unklassischen Antike. In: Deutsche Literatur zur Zeit der Klassik. Hg. v. Karl Otto Conrady. Stuttgart 1977, S. 65-75, hier S. 69; später Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung (wie Anm. V, 229), S. 208f.; ausführlich im Vergleich mit dem literarischen Programm der Weimarer Klassik und vor dem Hintergrund der Rezeptionsgeschichte Herbert Jaumann: Vom »klassischen Nationalautor« zum »negativen Classiker«. Wandel literaturgesellschaftlicher Institutionen und Wirkungsgeschichte, am Beispiel Wieland. In: Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß. W. Müller-Seidel zum 65. Geburtstag. Hgg. v. Karl Richter u. Jörg Schönert. Stuttgart 1983, S. 3-26; ders.: Die verweigerte Alterität oder über den Horizont der Frage, wie Wieland zur >Weimarer Klassik< steht. In: Aufklärung als Problem und Aufgabe. FS für SvenAage J0rgensen zum 65. Geburtstag. Hgg. v. Klaus Bohnen u. Per 0hrgaard. München 1994 (Text & Kontext), S. 99-121.

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nach degeneriert. Eine Hoffnung auf >Besserung< bleibt jedoch bestehen. Sie wird mit den poetischen Ausführungen über die Konstellationen von Philosophie, Religion und >Mensch< demonstriert. Der Leser wiederum kann sich an diesem Beispiel schulen. Er wird immerhin über die bestehenden Gegensätze aufgeklärt.375 Die Romane geben Einblick in die Defizite der einen wie der anderen Position, so daß er eine wünschbare Philosophie nurmehr ex negative entwickeln kann. Rousseau, der Kyniker, appelliert nochmals mit Verve an die christlichen Grundlagen der Philosophie. Er provoziert die Gelehrten seines Zeitalters. Am Ende der Aufklärung wird um die Voraussetzungen und um die Grundannahmen der Philosophie(n) gerungen. Die Literatur trägt dazu bei, diese zu prüfen. Im spätaufklärerischen Roman begegnet, was Denker im Ausgang des aufklärerischen Zeitalters beschäftigt. Von den verschiedenen Philosophien aber bleiben - zumindest bei Wieland - nichts als Gegensätze übrig. Als zentraler Gegensatz erscheint derjenige zwischen einer privatistischen Lehre und einem provokant-öffentlichen Kynismus. Die Religion hingegen kritisiert Wieland nur in ihrer orthodoxen Ausprägung. Als Ausblick auf eine ewige Glückseligkeit und als Mittel gegen einen verheerenden Aberglauben philosophischer oder volksmythologischer Art erscheint ein undogmatisches Christentum hingegen nach wie vor als >mentale< Grundlage der societas civilis. Noch einmal wird deutlich, was am Beginn aufklärerischen Strebens steht, nämlich das Plädoyer für Religions- und Gewissensfreiheit. Was reformierte Gläubige früh als einfaches Christentum< fordern, findet noch im ausgehenden Jahrhundert Anklang. Längst geht es aber um das bloße Bewahren der Religion gegen ihre philosophischen Gegner, die radikalisieren, was die Vertreter eines einfachen Christentums< vorbringen. Die Lager wandeln sich. Wer sich zuvor auf einem >mittleren Weg< zwischen >Papisten< und >Libertins< sah, wird nun zum Bewahrer der Religion. Denn >libertines< Denken scheint nach und nach jeden >Glaubensrest< in der Bevölkerung zu beseitigen. War das aufklärerische Nachdenken über die societas civilis einst innovativ erdacht und irenisch gemeint, so ist es im ausgehenden Jahrhundert durch eine radikale Philosophie überboten, die an den Grundfesten des wohleingerichteten Gemeinwesens rüttelt.

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Auch die Ausweisung seiner Geschichtsphilosophie als »relativistisch« und die Erklärung dieser Konzeption hinsichtlich einer »Übergangsphase« der Spätauflclärung, die Wipperfürth vorlegte, trifft nach der oben dargelegten Interpretation nicht auf die Position Wielands zu. Vgl. Wipperfürth: Wielands geschichtsphilosophische Reflexionen (wie Anm.V., 177), S. 212f.

VI. Schluß Nicht erst seit Jean Barbeyrac, dem protestantischen Flüchtling und überzeugten Naturrechtler, tragen Gelehrte dazu bei, den Ballast des konfessionellen Zeitalters zu verwerfen und die gespaltenen Religionsparteien wieder zu vereinen. In der Vermittlung von reformierten Morallehren und deutscher Literatur, wie Le Clerc, Barbeyrac, Crousaz, Formey, Haller und andere sie versuchen, treten die Chancen und Schwierigkeiten, die Hindernisse und beschleunigenden Momente dieses Prozesses aber in besonderer Weise zutage. Große rechts-, literatur- und philosophiegeschichtliche Schneisen wie diese sind (weitgehend) vermessen. Sie verbinden sich mit den Namen von Alexander Schweizer, Herbert Schöffler, Erich Haase, Werner Krauss, Robert Derathe und Elisabeth Labrousse. Folgt man diesen Schneisen, so stößt man auf verschlungene Pfade. Nur zu oft drohen die >Hauptschneisen< aus dem Blick zu geraten. Hier wurden beide Routen erprobt. Als Wegweiser diente das Ziel der Glückseligkeit, wie es die Gelehrten des achtzehnten Jahrhunderts beschreiben. Im Ergebnis steht das Bewahren jener kleinteiligen Glückseligkeiten ex negative: in Abgrenzung zu den neuen Gegnern, zu den >philosophesanachronistisch< - als Festhalten an den überlieferten Morallehren. Die Reflexion über solche Lehren ist Teil der aufklärerischen conditio Humana. Unter jenen »moralistes«, wie die Encyclopedic sie nennt, legen die Reformierten zwar kein einheitliches Denken für diese conditio humana vor. Dennoch lassen sie sich als Gruppe bestimmen: durch ihre Kommunikationspartner und durch gewisse Merkmale, die sie in der Morallehre immer wieder ansprechen.1 Zu diesen Merkmalen zählen - neben den Disputen über den Glückseligkeits-Begriff - die Tendenz zu einer Vermengung von Naturrecht und göttlichem Recht, vor allem aber das Wachhalten der Erinnerung an ein einschneidendes historisches Ereignis, nämlich an die Revokation des Ediktes von Nantes. Allein diese Erinnerung führt immer wieder zu einer Identifikation der Glaubensbrüder mit ihrer Kirche.2

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Um - auch quantitativ - Aussagen über die Entwicklung der >Identität< der Refugianten, über ihre Kommunikationsnetze und über das Fortbestehen derselben treffen zu können, wären Erhebungen und Auswertungen der Briefwechsel und Kirchenakten vonnöten. Vgl. Katharina Middell: Hugenotten in Leipzig: Etappen der Konstruktion einer >hybriden< Identität. In: Refugies und Emigres. Hgg. v. Höpel u. ders. (wie Anm. L, 12), S. 56-75.

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Für irenisch gesinnte Reformierte erweist sich die Kirchenzugehörigkeit und die Identifikation mit der Kirche gleichwohl als problematisch. Doch müssen sie als Ausnahmeerscheinungen gelten, als gelehrte Individuen, denen nicht nur in der Schweiz - ein mächtiger Klerus gegenübersteht.3 Für die Glaubenspraktiken jedoch zählt nur die Auseinandersetzung des einzelnen mit Gott. Der äußere Kult gilt nichts; die Kirche erfüllt keine Heilsmittlerfunktion. Gehandelt wird aus freiem Willen und mit moralischen Absichten. Doch wer entlohnt dieses moralische Handeln? Wer gewährt Gnade? Es bleibt bei der zufälligen Wahl durch Gott. Selbst im Denken der >optimistischen< Reformierten kann schon deshalb keine überzeugende Lösung für die Vermittlung von freiem Handeln und Gnadenwahl angeboten werden. Sie konzentrieren sich auf naturrechtliche Ableitungen, von denen ein Zusammenhang mit dem Gottgewollten behauptet wird. Mit den Morallehren, die reformierte Gelehrte aus der Aufnahme und Weiterentwicklung des deutschen Naturrechts gewinnen, beschäftigen sie sich auch noch zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Unbehelligt von den Fragen der Kodifikation und von der einsetzenden Positivierung des Rechts verteidigen sie das Naturrecht.4 Im Jahr 1802 veröffentlicht beispielsweise Luzac ein Lehrbuch, in dem er Grotius, Pufendorf und Wolff nach wie vor als Autoritäten beschreibt.5 Während die Morallehren, wie sie Burlamaqui in der Westschweiz und Formey in Berlin weiterführen, in den sechziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts in Polemiken gegen die >philosophes< münden, setzt sich Luzac im Mittel des sokratischen Dialogs zwischen Schüler und Lehrer mit den >naturrechtlichen< Grundlagen der französischen Revolution auseinander. Das Naturrecht wird von Luzac gegen die Inanspruchanahme durch die Revolutionäre verteidigt: A la verite les demarches, qu'ils se sont permises vis-ä-vis les autres Nations, l'idee d'exterminer tous les Rois de la terre et de retablir dans l'univers la liberte naturelle de tous les individus qui le composent: cette idee et ses demarches semblent assez extrava-

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Welche Macht der Klerus tatsächlich hatte und worauf sie sich erstreckte, wäre dabei von Fall zu Fall zu fragen. Zur Positivierung des Rechts als entscheidender Entwicklung für das neunzehnten Jahrhundert, auf die das Naturrecht gleichwohl Einfluß nimmt, Diethelm Kuppel: Die Historisierung des Naturrechts. Rechtsphilosophie und Geschichte im 19. Jahrhundert. In: Recht zwischen Natur und Geschichte/Le droit entre nature et histoire. Deutsch-französisches Symposion von 24. bis 26. November an der Universität Cergy-Pontoise (lus commune, Sonderheft 100). Hgg. v. Jean-Francois Kervegan u. Heinz Mohnhaupt. Frankfurt/M. 1997, S 103-124, hier S. 112 passim. Daß das Naturrecht an deutschen Universitäten weiterhin gelehrt wird, zeigten Jan Schröder und Ines Pielemeier. Dies.: Naturrecht als Lehrfach an den deutschen Universitäten des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Naturrecht - Spätaufklärung - Revolution. Hgg. v. Dann u. Klippe! (wie Anm. L, 25), S. 255-269; Kuppel: Die Historisierung, S. 105. Elie Luzac: Du Droit naturel, Civil et Politique, en forme d'entretiens. Bde. 1-3, Amsterdam 1802.

265 gantes et peu compatibles avec les Droits et les obligations que reconnoit ä chaque Nation, relativement aux autres, cependant la motif n'en paroit point blamable, puisqu'il part d'une source pure, d'une bienveillance envers le monde entier, et dont l'unique but est le bien general de tous les Peuples.6

Nach Luzac verstehen die Revolutionäre das Naturrecht absichtlich falsch und setzen es für ihre verwerflichen Zwecke ein. Er will demgegenüber die naturrechtlichen Ideen der Moral, der Gleichheit, der Gerechtigkeit und nicht zuletzt die Idee vom Gemeinwohl für ein vemunftgeleitetes und gemäßigtes Verständnis des Naturrechts wiederbeleben.7 Dieses Vorhaben erweist sich als ebenso zeittypisch wie dasjenige einer französischen Übersetzung von Hallers Fabius und Cato aus dem Jahr 1790.8 Wie viele moderate Zeitgenossen, die sich an der Aufklärungsdebatte zwischen 1770 und 1850 beteiligen,9 versuchen Luzac und der Haller-Übersetzer >populistischen< Entwicklungen Einhalt zu gebieten. Sie betrachten diese als verheerend und bemühen sich eine Morallehre zu bewahren, die nicht mehr als verbindlich gilt.10 Doch bringt auch die Denkgeschichte längst gewichtige Einwände gegen die von Luzac erneut aufgenommene moralische Idee von der Vereinbarkeit des Privatinteresses mit dem Gemeinwohl vor, und zwar im Rahmen eudämonistischer Argumente, wie Immanuel Kant sie interpretiert." Für die Aufklärer der >zweiten Reiheschöne Literatur< erlaubt das Bewahren (früh-)aufklärerischer Positionen. Wieland etwa veranschaulicht und prüft >libertine< Einwände gegen die Moral in seinen Romanen. Moralische und amoralische Lösungen erprobt und parodiert er - bis nurmehr

Ebd. Bd. 1,5.5. Ebd., S. 6f. »Toute distinction personnelle fut bientöt abloie: une anarchic generate, & tous les maux qui en resultent, ont suivi de pres cette revolution.« Fragment d'un roman philosophique du celebre Haller sur les principes d'un bon Gouvernement. Traduit de Allemand. [o.O.] 1790, unpag. [A v ]. Um Menschenwohl und Staatsentwicklung. Textdokumentation zur deutschen Aufklärungsdebatte zwischen 1770 und 1850. Mit drei zeitgenössischen Kupfern, ausgewählt u. kommentiert v. Wolfgang Albrecht. Stuttgart 1995. Diethelm Klippe! beschrieb solche Bemühungen als Kampf um den Begriff der Freiheit. Ders.: Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts. Paderborn 1976 (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, NF 23), S. 173-177. Zum »Bündnis zwischen Eudämonismus und Absolutismus« und seiner philosophischen Auflösung im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert Wolfgang Kersting: Der Kontraktualismus im deutschen Naturrecht. In: Naturrecht - Spätaufklärung - Revolution. Hgg. v. Dann u. Klippe! (wie Anm. L, 25), S. 90-110, bes. S. lOOf.

266 Fragen auf die von den Moralphilosophien vorgelegten Antworten bleiben.12 Die von der Aufklärung zum Prinzip erklärte >Geselligkeit< setzt er in literarische Praktiken um, läßt im Roman aber kritisch diskutieren, was zuvor als anthropologische Konstante galt. Für diese literarischen Konstellationen erweist sich die universale Begründung eines »gemeinen Besten« als unangemessen.13 Die Sorge um das Wohlergehen des kleinen Kreises erscheint als naheliegender.14 Solche Entwicklungen leiten und begleiten Reformierte in Deutschland, die vermeintlich >lebens- und sinnenfeindlichen< Gläubigen. Zwar mögen dabei vor allem Le Clerc und Bayle als Vorbilder auf deutsche >Dichter und Denken wirken, doch bietet kaum ein anderes Journal eine so umfassende Übersicht über die frühaufklärerische, über die deutsche und über die französisch(-reformierte) Literatur wie die (Nouvelle) Bibliotheque Germanique. Wenige Journalisten sind so vielseitig wie Formey, auf dessen Urteil nicht nur die Gottscheds, sondern auch Wolff zählen. Mit La belle Wolfienne legt Formey einen vieldiskutierten »Roman philosophique« vor. Deutsche Gelehrsamkeit übersetzt er nicht nur in eine >angenehme< Form, sondern kritisiert sie, was für die Literatur der Französisch-Reformierten in Deutschland typisch ist. Im späten achtzehnten Jahrhundert kommt gerade diese >angenehme Gelehrsamkeit zu besonderen Ehren. Blickt man in die Bibliotheken der >Universalgelehrten