Germanistik - Forschungsstand und Perspektiven: Teil 2 Ältere Deutsche Literatur, Neuere Deutsche Literatur [Reprint 2019 ed.] 9783110846751, 9783110107067


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German Pages 641 [652] Year 1985

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Die Geisteswissenschaften in der Hochschulpolitik des letzten Jahrzehnts
Vorträge der Sektionen „Ältere Deutsche Literatur"
Sektion B I: Edition mittelalterlicher Texte
Probleme einer Neuausgabe von Hartmanns ,Erec'
Echtheit und Authentizität der Predigten Meister Eckharts. Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer kritischen Edition
Text und Textgeschichte. Zu überlieferungsgeschichtlichen Editionen spätmittelalterlicher Gebrauchsprosa
Sektion B II: Gattungen und ihre Funktionen
Auctoritas, subjektive Wahrnehmung und erzählte Wirklichkeit. Das Exemplum als Gattung und Methode
Das Vergnügen an der Moral. Darbietungsformen der Lehre in den Mären und Bispein des Schweizer Anonymus
Das Märe in der Stadt. Neue Aspekte der Handlungsethik in Mären des Kaufringers
Geistliches Schauspiel als Paradigma stadtbürgerlicher Literatur im ausgehenden Mittelalter
Zur Gattung ,Spiel' aus überlieferungsgeschichtlicher Sicht
Minne, Weltflucht und Herrschaftslegitimation. Wandlungen des späthöfischen Romans am Beispiel der ,Guten Frau' und Veit Warbecks ,Magelone'
Geld und Ehre. Zum Problem frühneuzeitlicher Verhaltenssemantik im ,Fortunatus'
Sektion B III: Methoden und Theorien
Literaturgeschichte als Mentalitätsgeschichte? Überlegungen zur Problematik einer neueren Forschungsrichtung
Ältere deutsche Literatur und Psychoanalyse
Methodische Probleme einer Sozialgeschichte der Stadt und der städtischen Literatur im Spätmittelalter. Heinrich Wittenwiler und sein ,Ring'
Es waren schöne glänzende Zeiten oder „Der Geist, der den Arm der Deutschen stählt"
Vorträge der Sektionen „Neuere Deutsche Literatur"
Sektion C I: Edition
Für eine historische Edition. Zu Textkonstitution und Kommentar
Ist die Textkritik noch kritisch?
„Männchen auf Männchen setzen". Der Doppeldruck von Heines Vermischten Schriften (1854)
„... nehmen Sie, was Ihnen ansteht.". Zum Problem .Edition und Interpretation' am Beispiel von Gedichten der Annette von Droste-Hülshoff
Zur sozialgeschichtlichen und editionsphilologischen Stellung sogenannter Lese- und Studienausgaben deutscher Klassiker
Sektion C II: Interpretation
Ursprung, Ende und Fortgang der Interpretation
Zur aktuellen Problematik der Interpretation literarischer Werke
Literatur und Literaturwissenschaft als Word Processing
Zum Bedarf an einem anthropologiegeschichtlichen Interpretationshorizont
Der Beitrag der Komponentenanalyse zur interpretatorischen Methodik
Literaturwissenschaft als Medium der Verkennung von Literatur
Zum Universalitätsanspruch der Interpretation. Am Beispiel der literarischen Empfindung
Zwei Träume vom deutschen Theater. Anmerkungen zu Heiner Müllers Lessing-Triptychon
Zur Genese des bürgerlichen Selbstverständnisses im ausgehenden 18. Jahrhundert. Schillers Frühdramen als Beispiel
Iphigenies Unmündigkeit. Zur weiblichen Aufklärung
Tatsachen und Ereignisse in Goethes Erlkönig. Sprachkritisch-hermeneutische Untersuchungen zur Metaphorizität der Ballade
Überlegungen zu einer historischen Metaphorologie. Am Beispiel des Automaten-Tropus in der Literatur der Restaurationszeit1
Hermann Hesse als Autor der Jahrhundertwende. Der Beginn: Jugendstil als ästhetische Ausflucht
Sektion C III: Monographien
Probleme der Monographie
Vom Verstehen des Dichters zum Verständnis seines Werks. Möglichkeiten der literaturwissenschaftlichen Biographie am Beispiel Heinrich Heines
Der Dichter und sein Monograph. Zu den Aussichten einer fragwürdigen Gattung
Überlegungen zu einer entwicklungsgeschichtlich angelegten Monographie
Kategorientransfer und monographische Darstellung. Zur Rollenästhetik und Sozialpsychologie des Romans im 20. Jahrhundert
Mythos und Literatur
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Germanistik - Forschungsstand und Perspektiven: Teil 2 Ältere Deutsche Literatur, Neuere Deutsche Literatur [Reprint 2019 ed.]
 9783110846751, 9783110107067

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Germanistik Forschungsstand und Perspektiven Herausgegeben von Georg Stötzel

GERMANISTIK Forschungsstand und Perspektiven Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984 herausgegeben von Georg Stötzel 2. Teil: Ältere Deutsche Literatur Neuere Deutsche Literatur

w DE

G_ Walter de Gruyter • Berlin • New York

1985

CIP-Kur^titelanfnahmt der Dtut ¡eben Bibliothek G e r m a n i s t i k - F o n c h u g u t a a d a n d P e r s p e k t i v e n : Vorträge d. Dt. Germanistentages 1984 / hrsg. von Georg Stötzel. Berlin ; New York : de Gruyter NE: Stötzel, Georg [Hrsg.]; Deutscher Germanistentag , 18712, Nachdruck 1979; Text aufgrund von Abschrift von A; mit Apparat. Bech: 1867», 18702, 18883, Nachdruck 1934; Text aufgrund von Haupt, kein Apparat. Naumann: 1933, Nachdruck 1964; Text nach Haupt und Bech, Apparat nach Haupt, darin W III-VI eingearbeitet. Leitzmann: 19391; Text aufgrund von A und W III-VI; statt Apparat in der Einleitung .Vergleich mit dem Texte Haupts'; 19572 (Tübingen), 19602 (Halle); 19633 besorgt von Wolff, V berücksichtigt; ebenso 19674, 19725. Schwarz: 1967; Text nach Leitzmann/Wolff 19633. Cramer: 1972; Text nach Leitzmann 1939'. 17

Ernst Schwarz, Hartmann von Aue: Erec-Iwein. Text, Nacherzählung, Worterklärungen. Darmstadt 1967.

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Kurt Gärtner

Die handschriftliche Überlieferung mit ihren Siglen ist oben in der Liste der Textzeugen verzeichnet. Das Verhältnis von Überlieferung und Ausgaben ist in der stemmaähnlichen Abbildung veranschaulicht. Die Abbildung des Verhältnisses von Überlieferung und modernen Ausgaben zeigt, daß nicht die Handschrift A, sondern die fehlerhafte Abschrift von A eine Schlüsselstellung einnimmt. Das hat Konsequenzen auch für Leitzmanns Ausgabe, der wohl auf die Handschrift A zurückgeht, aber in seinem Apparatersatz nur die Abweichungen vom Texte Haupts bringt. Es gibt also überhaupt keine wissenschaftliche Erec-Ausgabe mit einem verläßlichen kritischen Apparat, der es dem Benutzer ermöglichte, den Text anhand der Überlieferung zu kontrollieren. Dieser Mangel und die durch die neuen Handschriftenfunde veränderte Überlieferungslage fordern eigentlich eine neue große Ausgabe oder zumindest aber eine Revision der veralteten Leitzmannschen Konzeption. Der Bezug auf Haupts über 100 Jahre alte und nur auf cinc mangelhafte Abschrift der Ambraser Handschrift allein gegründete Ausgabe ist endlich zu lösen. Unabhängig von der Ausgabe Haupts sollte ein aus den Handschriften erarbeiteter Apparat unter dem Text alle textkritisch relevanten Abweichungen des kritischen Textes vom überlieferten Wortlaut überprüfbar machen. Schließlich sind die neuen Fragmente, die Koblenzer und die Wolfenbütteler, bei der Textkonstitution bzw. der Gestaltung der Ausgabe zu berücksichtigen. Diesen Forderungen versuchen Christoph Cormeau und ich bei der dringend nötig gewordenen Neuauflage der Leitzmann/Wölfischen Erec-Ausgabe in der .Altdeutschen Textbibliothek' so schnell und gut, wie wir können, zu entsprechen. Die Neuauflage unterscheidet sich von der 1. bis 5. Auflage zunächst hauptsächlich dadurch, daß ebenso wie in der vor fast 150 Jahren erschienenen ersten Ausgabe Haupts unter dem kritischen Text ein Apparat erscheint. Dieser ist aus der Überlieferung neu erarbeitet worden. Damit soll die alle früheren Ausgaben belastende Hypothek der fehlerhaften Abschrift von A endgültig abgelöst werden. Das eine Hauptproblem einer Erec-Ausgabe kann also halbwegs annehmbar gelöst werden. Ich sage nur „halbwegs"; denn eine Studienausgabe unterliegt gewissen Beschränkungen und kann eine ausstehende neue große Ausgabe nicht ersetzen. Die Geschichte der Erec-Kritik, wie sie sich in den Konjekturen und Emendationen manifestiert, ist im Apparat nicht explizit dokumentiert, sondern ist in bestimmten Fällen erst aufgrund der in der Einleitung festgelegten Prinzipien genauer zu eruieren. Die meisten Besserungen z. B. stammen von Haupt; seine Leistungen für die Textkritik des ,Erec' sind unbestritten; ihre genaue Dokumentation aber würde den Apparat überlasten. Deshalb sind seine Besserungen als solche nicht ausdrücklich im Apparat verzeichnet, lediglich die Lesart der Handschrift wird dort geboten. Wer sich für die Urheberschaft einer Konjektur und ihre Übernahme in die verschiedenen Ausgaben interessiert, muß die in der Einlei-

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Kurt Gärtner

tung festgelegten Notationsprinzipien konsultieren; wem es dagegen nur auf die Abweichung von der Überlieferung ankommt, dem bietet der Apparat direkt das, was er braucht. Das zweite Hauptproblem für die Neuauflage sind die Veränderungen der alten Ausgabe, die aufgrund der neuen Überlieferungslage nötig geworden sind. Das Koblenzer Fragment K mit seiner wertvollen Überlieferung mußte für die Textherstellung berücksichtigt werden, ebenso die ErecExzerpte im .Friedrich von Schwaben' und schließlich die neuen Wolfenbütteler Fragmente W I/II, auf die ich nun noch etwas genauer eingehen muß. 5. Bei der Charakterisierung der Erec-Überlieferung hatte ich darauf hingewiesen, daß es für bestimmte Teile des deutschen ,Erec' zwei verschiedene Fassungen gibt, den ,Ambraser Erec' A und den .Wolfenbütteler Erec' W. Dieses für einen Herausgeber sehr unbequeme Faktum der Überlieferung soll in der Neuauflage so präsentiert werden, daß die Benutzer es nicht leicht übersehen oder übergehen können. Den .Wolfenbütteler Erec' für sekundär und nachhartmannisch zu halten, wie Eberhard Nellmann will, scheint mir verfrüht. Vorerst wissen wir nicht, ob A oder W Hartmanns ,Erec' repräsentiert. Die noch unentschiedenen Fragen und Rätsel im Hinblick auf die Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte des ,Erec' wollten wir als Betreuer der Neuauflage nicht vorschnell lösen, sondern als Aufgabe an die Hartmannforscher weitergeben. Wir trennen den in W überlieferten Text vom A-Text, und zwar auch im Bereich der alten Fragmente, wo W weitgehend mit A übereinstimmt, und stellen A, den ,Ambraser Erec', in einer Synopse dem fragmentarisch erhaltenen .Wolfenbütteler Erec' gegenüber. Die 57 nur in W überlieferten Verse nach 4629, die sicher auch in einer Vorstufe von A enthalten waren, werden allerdings weiter in der A-Spalte in der normalisierten Form Leitzmanns erhalten bleiben, nur werden diese Verse kursiv gesetzt, damit der Benutzer ihre von A abweichende Überlieferungsgrundlage nicht übersehen kann. Der gewohnte kritische Text nach A, wie ihn Leitzmann hergestellt hat, bleibt im übrigen erhalten; W dagegen wird weitgehend diplomatisch abgedruckt. Man könnte die Synopse auch anders anlegen. In den in A und W weitgehend übereinstimmend überlieferten Partien könnte auf einer Seite oben der kritische Text nach A und darunter der Abdruck von W mit jeweils getrennten Apparaten geboten werden. Die Partien von W dagegen, die eine von A völlig abweichende Erec-Fassung überliefern, könnten auf den dem A-Text gegenüberliegenden Seiten abgedruckt werden. Natürlich wären überall Hinweise auf die Entsprechungen in Chrétiens ,Erec' zu geben. Für den Bereich der abweichenden Versionen in A und W wären sie besonders erwünscht, da sie allein schon eine Vorstellung geben können davon, daß W unabhängig von A direkt auf Chrétien zurückgeht. Im übrigen haben wir für die Neuauflage wenigstens in allen relevanten Fällen die Namensformen des französischen Textes nach der großen Aus-

Probleme einer Neuausgabe von Hartmanns ,Erec'

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gäbe von Foerster verzeichnet. Hinweise auf Entsprechungen und Abweichungen zu bzw. von Chrétien gibt die verdienstvolle Versübertragung von Wolfgang Mohr; 18 wegen der in ihr verzeichneten Chrétienkorrespondenzen ist sie auch für die zünftige Forschung unentbehrlich geworden. 6. Die dringlichsten Editionsprobleme des ,Erec' habe ich vorgestellt und zugleich zu zeigen versucht, wie wir sie für die Neuauflage der Leitzmannschen Ausgabe zu lösen gedenken bzw. wie man sie in Zukunft im Rahmen einer großen Neuausgabe lösen könnte. Es bleibt trotzdem eine ganze Reihe von Aufgaben, die noch zu erledigen wären, für die ein Herausgeber aber mehr Zeit und Muße braucht, als wir im Moment aufbringen können. Eine gründliche Textrevision gehörte zu diesen Aufgaben. Wir haben hier vorerst nur wenig tun können; doch ist die Setzung der alten Negationspartikel ne aufgrund neuer Forschungsergebnisse jetzt zufriedenstellender geregelt als in den früheren Auflagen; auch die Abschnittsgliederung wurde revidiert. Wir haben damit nur einem neuen Forschungsstand Rechnung getragen. Konjekturen haben wir kaum gewagt und an Leitzmanns Text in dem nur von A überlieferten Bereich wenig verändert. Unsere Hauptaufgabe sahen wir darin, erstens den kritischen Text wieder direkt auf die Überlieferung zu beziehen, indem wir ihn durch einen zuverlässigen Apparat überprüfbar machten, und zweitens die Problematik der neuen Überlieferungslage bewußt zu machen, indem wir die Ambraser und die Wolfenbütteler Erec-Fassungen einander gegenüberstellten. Wir wollten damit dem aktuellen Überlieferungs- und Forschungsstand mit der Neuauflage weitgehend Rechnung tragen. Bei einem gut absetzbaren Text wie dem ,Erec' sollte überhaupt das Prinzip der dynamischen Ausgabe befolgt werden, die von Auflage zu Auflage dem neuesten Stand unseres Wissens und auch unserer Forschungsinteressen angepaßt wird. Technisch ist das heute bei dem auf Magnetband gespeicherten Text und Apparat kein Problem mehr; es gibt auch keine Mehrkosten bei verändertem Seitenumbruch, da dieser ja automatisch vorgenommen wird. Die computerisierte Drucktechnik macht für den Herausgeber allerdings eine andere Last noch spürbarer, nämlich die Verpflichtung, seine Ausgabe immer wieder zu aktualisieren, da sie ja nur für eine begrenzte Zeit gültig sein kann.19

18

19

Hartmann von Aue: Erec. Übersetzt und erläutert von Wolfgang Mohr (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 291), Göppingen 1980. Die drei Referenten in der von Karl Stackmann geleiteten Sektion .Edition mittelalterlicher Texte' haben an verschiedenartigen l e i t e n und ihrer Überlieferung zu zeigen versucht, welche Konsequenzen ein überlieferungsgeschichtlich orientiertes Vorgehen für die Edition eines Textes hat. Dieses Vorgehen ist nicht neu, denn die Geschichte der Überlieferung eines Textes haben die lextkritiker schon immer zu erforschen versucht. Neu allerdings ist, und darin liegt der methodische Fortschritt gegenüber vergleichbaren früheren Vorgehensweisen, daß wir jetzt dabei nicht mehr überwiegend oder gar ausschließlich den Blick zurück auf den Ursprung des Textes richten, auf das Original fixiert bleiben und in der Geschichte

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Kurt Gärtner eines Textes nur die beklagenswerte Geschichte seiner allmählichen Verderbnis sehen, sondern daß wir weniger einseitig und viel stärker als früher den Blick auch nach vorne richten und uns die Geschichte und Geschicke eines Textes, seine überlieferungsgeschichtlich bedingten Wandlungen und Wirkungen und sein Eingehen in verschiedene neue Überliefcningszusammenhänge etforschens- und dokumentierenswert erscheinen. An einem die Textgeschichte repräsentierenden Stemma interessiert uns also nicht allein die Spitze, das zu erschließende Ursprüngliche, sondern gerade auch das, was aus dem Ursprünglichen geworden ist im Laufe der Zeit und in wechselnden Zusammenhängen. TOs ist aus Hartmanns ,Erec' geworden? Diese Frage interessiert im Hinblick auf die neue Überlieferungslage ebenso wie die Frage: Was ist denn nun eigentlich Hartmanns ,Erec* gewesen?

Georg

STEER

(Eichstätt)

Echtheit und Authentizität der Predigten Meister Eckharts Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer kritischen Edition Theo Kobuscb charakterisierte 1984 in seinem Beitrag zum Engelberger Mystik-Symposion 1 die Mystik Meister Eckharts als Philosophie der konkreten Freiheit. Das ens morale sei „jene Bewegung des Willens, durch die der Mensch aus sich in seiner Partikularität Verzicht tut und dadurch ein .neuer' Mensch wird", der .gerechte' Mensch. Als solcher ist er keineswegs willenlos, er will nur nicht mehr ,dies' oder ,das', sondern er will als sittlicher Mensch die Gerechtigkeit, das Gute in seiner Wahrheit, das „absolut Gute", das die Freiheit selbst ist. Im Maße er .gut' und .gerecht' ist, ist er selbst auch frei. Eckhart sagt präzis in der Predigt 28 nach der Ausgabe 2 Quints: der gerehte mensche endienet weder gote noch den crêatûren, »an er ist vri; und ie er der gerehticheit naeher ist, ie mê er diu vriheit selber ist und ie mi er diu vriheit ist. Alle\ da%, da% geschaffen ist, das^ enist niht vri (DW II, 62, 3-6). Indem der Mensch sich selbst entäußert, bricht er über die partikularen Dinge hinaus und bricht er durch in den göttlichen Grund, in die wahre Freiheit. „Dieser Gedanke ist", sagt Kobuscb, „theologiegeschichtlich von außerordentlicher Bedeutung, denn hier bei Meister Eckhart und in seiner Schule wird Gott zum ersten Mal als vollkommene Freiheit gedacht." Formuliert findet Kobuscb diesen Gedanken in den folgenden Sätzen: 1. Got der machet dem andern mâle die sile vri von aller eigenscbaft mit der ewigen vriheit, diu got selber ist. Diu sêle enruowet niht, si breche sich allem deme, da% got niht enist, unde kome in eine gütliche vrîheit, dâ si der gàtlîcber vriheit gebrûche âne hindernisse.3 2. Da\ pest, da% in got ist, da% ist sein freiheit, und mit freiheit wirt di sei got glich.* Die 1

2

3 4

Theo Kobuscb, Mystik als Metaphysik des moralischen Seins. Bemerkungen zur spekulativen Ethik Meister Eckharts, in: Abendländische Mystik im Mittelalter, Stuttgart 1985 (im Druck). Meister Eckhart. Die deutschen und lateinischen Werke. Hrsg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 1. Abteilung: Die deutschen Werke [ = DW]. Hrsg. und übersetzt von Josef Quint. Meister Eckharts Predigten, Bde. I—III, Stuttgart 1958, 1971, 1976. Meister Eckharts Traktate, Bd. V, Stuttgart 1963. Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts. Hrsg. von Fran\ P f e i f f e r , Bd. 2: Meister Eckhart, Leipzig 1857 (Neudruck: Aalen 1962), S. 379, 1-5. Meister Eckhart und seine Jünger. Ungedruckte Texte zur Geschichte der Deutschen Mystik. Hrsg. von Fram^ Jostes (Collectanea Friburgensia, Fase. IV), Freiburg (Schweiz) 1895, S. 39, 12-13 (Neudruck mit einem Wörterverzeichnis von Peter Schmitt und einem Nachwort von Kurt Ruh, Berlin-New York 1972).

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Georg Steer

aktuelle Bedeutung dieser Lehre Eckharts liegt auf der Hand: Die moderne Transzendentalphilosophie sieht den Begriff der Freiheit als einen angemessenen philosophischen Gottesbegriff an. Nur, und darin liegt das Erregende und Beunruhigende zugleich: Die beiden Sätze, die Kobuscb als Kronbelege anführt, entstammen Texten, die nicht als echt für Meister Eckhart gesichert sind. Die beiden Sätze stehen im Pfeiffer-Traktat I ,Von den XII Nutzen unsers Herren Lichames' und in der fostes-Vredigt 41. Waren die Schüler Eckharts so gut, daß sie mit dem Meister verwechselt werden konnten und können? Natürlich nicht. Doch diese Antwort geht von der selbstverständlichen Voraussetzung aus, daß den sog. Schülern Eckharts Originalität nicht zugetraut werden darf. Tatsache jedenfalls ist: Das Interesse am Traktat ,Von den XII Nutzen unsers Herren Lichames' erlahmte in dem Augenblick, als erwiesen war, daß dieser in seiner Konzeption nicht von Meister Eckhart stammt, daß er eine „compilation" ist, „in der sich fragmente verschiedener m y s t i k e r u n d b e s o n d e r s v o n R u y s b r o c k b e f i n d e n " 5 . E s hat nicht

mehr

gereizt, danach zu fragen, aus welchem Grunde denn die frühe Wiener Handschrift 2739 aus dem 14. Jahrhundert den Text auf fol. 184rb (Mejster Eckbart sprach dit) trotzdem Meister Eckhart zuschrieb. Stecken in ihm Exzerpte echter Schriften Eckharts? Es müßte untersucht werden, in welcher Intention der Traktat verfaßt und in welcher Arbeitstechnik er kompiliert wurde - Zersetzung und Vererbung ist sehr metaphorisch und biologistisch gedacht - und zudem, welche Quellen in welcher Vorlagentreue verwertet wurden. Dies ist bis heute nicht geschehen. Die Sätze, die Kobuscb aus dem ,XII Nutzen-Traktat' und aus der fostesPredigt 41 zitiert, brauchen keineswegs vom Kompilator des Traktats zu stammen, sie können sehr wohl - und diese Vermutung ist die wahrscheinlichere - authentischen Texten Eckharts entnommen sein. Mit Käte Oltmanns können wir sagen: der Pfeiffer-Trzkizt I ist als Ganzes „unzweifelhaft unecht" 6 ; zugunsten der philosophischen Beweisführung von Kobuscb aber müssen wir auch sagen: Textmosaiksteine daraus können unzweifelhaft echt sein. Die beiden angeführten Texte sind nun beileibe nicht die einzigen, die den Vorgang einer sekundären Benutzung und Verwertung von Texten Meister Eckharts bezeugen. Dutzende von weiteren Schriften lassen sich aufzählen. An erster Stelle sind diejenigen Traktate und Sprüche zu nennen, die Fran^ P f e i f f e r in Band 2 seiner Ausgabe .Deutsche Mystiker des 14. Jahrhunderts' abgedruckt hat; hinzu kommen viele andere Traktate, Predigten und Textkompilationen, die in ihrer Gesamtheit die literarische Wirkung Eckharts belegen, etwa Greiths Mosaik-

5

6

Adolf Spamer, Zur Überlieferung der Pfeifferschen Eckeharttexte, in: PBB 34 (1909), S. 307-420, hier S. 370. Käte Oltmanns, Meister Eckhart, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1957, S. 9.

Echtheit und Authentizität der Predigten Meister Eckharts

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Traktat, das sog. ,Lehrsystem der deutschen Mystik' 7 , die Mosaiktraktate der Karlsruher St. Peter-Handschrift Cod. perg. 85 8 , die Nürnberger Sammlung Cent. IV 40 9 , die Predigten des Nikolaus von Landau 10 , des Hartwig von Erfurt 1 1 , des Marquard von Lindau 12 , des Engelberger Predigers 13 ,des Jordan von Quedlinburg 14 , der Traktat ,Von den drin fragen' 15 , der,Spiegel der Seele' 16 und viele namenlose mystische Stücke, die Eckhart-Passagen enthalten und die überhaupt noch nie daraufhin untersucht wurden. Reflexe Eckhartscher Texte in Werken der aufgezählten Art können wir als sekundäre oder mittelbare Textbezeugung für Schriften Meister Eckharts betrachten, also in Werken anderer Autoren eingebaute Sätze, Textabschnitte, ausdrückliche oder stillschweigende Zitate, Termini. Es sind dies Textzeugen zweiten Grades: zweiten Grades deswegen, weil über Redaktoren als Zwischeninstanz vermittelt. Den Textzeugen ersten Grades können sie gleichgestellt werden, wenn es in textvergleichender Analyse gelingt, die redaktionelle Umformung als solche zu erkennen und vom originalen Quellentext abzulösen. Diese Arbeit ist mühsam und ist zudem an etliche, zumindest an zwei Voraussetzungen geknüpft: Es muß ein verläßlicher Basistext zur Verfügung stehen, mit dem verglichen werden kann, und es

]. SeitDer Traktat des .Unbekannten deutschen Mystikers' bei Greith, Diss. Zürich 1936; R. Cadigan (Hrsg.), The Compilado Mystica (Greith's Traktat) in the original: An edition of MS C 108 b Zürich with reference to four other parallel mss., Diss. Chapel Hill 1973; Neuhochdeutsche Übersetzung: C. Greith, Die deutsche Mystik im Prediger-Orden, Freiburg i.Br. 1861 (Nachdruck: Amsterdam 1965), S. 96-202 (nach der St.Gallener Handschrift). 8 Adolf Spamer, Ueber die Zersetzung und Vererbung in den deutschen Mystikertexten, Gießen 1910, S. 30-83. ' Karin Schneider, Die deutschen mittelalterlichen Handschriften der Stadtbibliothek Nürnberg (Die Handschriften der Stadtbibliothek Nürnberg 1), Wiesbaden 1965, S. 49-56. 10 Hans Zucbold, Des Nikolaus von Landau Sermone als Quelle für die Predigt Meister Eckharts und seines Kreises (Hermaea II), Halle/Saale 1905. 1' Josef Haupt, Beiträge zur Literatur der deutschen Mystiker II, Härtung von Erfurt, in: WSB 94 (1879), S. 235-334; Volker Mertens, Hartwig (Härtung/Heinrich) von Erfurt, Postille, in: ZfdA 107 (1978), S. 81-91; ders., Hartwig (Härtung) von Erfürt, in: VL 3, 2. Aufl., Berlin-New York 1981, Sp. 532-535. 12 Nigel Palmer, Marquard von Lindau, in: VL 5, 2. Aufl. Berlin - New York 1985 (im Druck). 13 P. Sigisbert Beck, Untersuchungen zum Engelberger Prediger (Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte, Beilage 10), Freiburg i.Br. 1952; Kurt Ruh, Deutsche Literatur im Benediktinerinnenkloster St. Andreas in Engelberg. II. Der Engelberger Prediger, in: Titlisgrüsse 67 (1980/81), S. 77-88. 14 Josef Kocb, Meister Eckharts Weiterwirken im deutsch-niederländischen Raum im 14. und 15. Jahrhunden, in: La Mystique Rhénane. Colloque de Strasbourg 16-19 mai 1961, Paris 1963, S. 133-156, hier S. 145-148. Max Pahncke, Eckhartstudien. Beilage zum 38. Jahresbericht des Gymnasiums zu Neuhaldensleben 1913, S. 38 f. (Nachweis der Eckhart-Zitate); Kurt Ruh, .Von den drin fragen', in: VL 2, 2. Aufl., Berün-New York 1980, Sp. 234-235. Josef Quint, Neue Handschriftenfunde zur Überlieferung der deutschen Werke Meister Eckharts und seiner Schule (Untersuchungen 1), Stuttgart-Berlin 1940, S. 20 und S. 217f. 7

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Georg Steer

muß die Rezeption des literarischen Gutes Meister Eckharts im Spätmittelalter, im 14. und 15. Jahrhundert vor allem, erschlossen sein. Letztere Aufgabe ist so gut wie überhaupt noch nicht geleistet. „Ich habe den Eindruck", schreibt Josef Koch, dem wir einen ersten und kleinen Versuch über .Meister Eckharts Weiterwirken im deutsch-niederländischen Raum im 14. und 15. Jahrhundert' verdanken, „daß dieser Teil der Eckhart-Forschung erst in den Anfingen steht"17. Seit 1963 hat sich an dieser Situation wenig geändert. Zu den in P f e i f f e r s Ausgabe veröffentlichten Eckhart-Traktaten muß Kurt Ruh 1980 sagen: „Sie dürften nicht oder nur partiell von Eckhart sein. Doch fehlen gründliche Untersuchungen."18 Wir können somit resümieren: Es gibt einen Fundus echter Textzeugen von Werken Meister Eckharts, fragmenthaft zwar und partiell redigiert, der bisher weder in seinem Umfang erkannt, gehoben, geschweige denn editorisch genutzt wurde. Josef Quint hat seine gesamte Edition der deutschen Werke Meister Eckharts auf die Bezeugungsgruppe der kopialen Abschriften und Drucke abgestellt. Selbst dort, wo ihm die fragmenthafte und sekundäre Überlieferung leicht zugänglich war, hat er auf ihre Berücksichtigung verzichtet.19 Aus der Forschungssituation der 30er und 40er Jahre, in denen das Konzept einer textkritischen Edition entworfen wurde, eine durchaus verständliche Entscheidung. Quints Interesse an den überlieferten Werken konzentrierte sich deshalb auf die Suche handschriftlicher Textzeugen, mit deren Hilfe er nach der Lachmannschen Methode die „Rekonstruktion des jeweiligen Originals" 20 eines Werkes versuchte. Er glaubte, sich die Beschäftigung mit den Vorgängen der historischen Textweitergabe - was nicht identisch ist mit der Klärung der Filiationsverhältnisse - ersparen zu dürfen. „Quint hat", resümiert Kurt Ruh 1981, „für seine Ausgabe Textkritik und Heuristik eingesetzt, die Überlieferungsgeschichte, die bereits Spamer im Ansatz zu leisten versuchte, hat er, da er nicht sehr viel von ihr erwartete, ausgeklammert." 21 Einmal abgesehen von der von Kurt Ruh geforderten Einbeziehung überlieferungsgeschichtlicher Arbeiten als unabdingbare Vorarbeiten einer Textedition erscheint aus folgenden Gründen die Beachtung der Textbezeugung zweiten Grades wichtig: 1. Solange für die kritische Erstellung eines Textes hinreichend Handschriften zur Verfügung stehen, sollte, so die allgemeine Ansicht, auf bearbeitete und fragmenthafte Textbezeugung verzichtet werden. Ist 17 Josef Koch (Anm. 14), S. 140f. '» Kurt Ruh, Meister Eckhart, in: VL 2, 2. Aufl., Berlin-New York 1980, Sp. 327-348, hier Sp. 331. » Vgl. etwa Predigt 60 (DW III, S. 3-29): Die Fragmente Ba2, Brl, Fl, Kai, Kla, P3, S1 sind im Variantenapparat nicht berücksichtigt. 2» DW I, S. XXII. 21 Kurt Ruh, Deutsche Predigtbücher des Mittelalters, in: Beiträge zur Geschichte der Predigt. Vorträge und Abhandlungen. Hrsg. von Heimo Remitier (Vestigia Bibliae 3), Hamburg 1981, S. 11-30, hier S. 27.

Echheit und Authentizität der Predigten Meister Eckharts

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nun aber das deutsche Predigtwerk Eckharts ausreichend gut - gut für die textkritische Arbeit - überliefert? Kurt Flasch vermittelt in Band 2 der .Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung' den Eindruck, als wäre die Zahl der Eckhart-Handschriften Legion: „Die deutschen Predigten wurden vielfach abgeschrieben. Während es von den lateinischen Werken nur zwei bis drei Handschriften gibt, zählen die Handschriften mit Eckharts deutschen Predigten nach Hunderten." 22 Dies ist so nicht richtig. Ich darf wiederum Kurt Ruh zitieren: „Über die Breite der Überlieferung der deutschen Werke Eckharts herrschen bis in die Spezialliteratur hinein völlig irrige Vorstellungen. Sie rühren daher, daß schlichtweg von 200, nach dem jüngsten Verzeichnis sogar 302 Eckhart-Handschriften gesprochen wird, ohne zu bedenken, daß 90 und mehr Prozent dieser Handschriften nur Splitter und Splitterchen (wenige Zeilen!) von Eckhart-Texten enthalten."23 Die am reichsten bezeugten Predigten sind die Nummern 2 und 45 mit jeweils 22 bzw. 21 Textzeugen. Über die Hälfte der 86 von Quint edierten Predigten weisen weniger als 10 Textzeugen auf; nicht wenige darunter nur 2 und 3. Angesichts dieser schmalen Überlieferung sollte es sich der Textkritiker nicht leisten, von vornherein auf die Textbezeugung aus dem Bereich der Wirkungsgeschichte zu verzichten. 2. Die Tatsache, daß unter den nach Quint am sichersten für Meister Eckhart verbürgten 16 Predigten - die,Rechtfertigungsschrift' Eckharts garantiert ihre Echtheit - vier Predigten nur in einer einzigen Handschrift auf uns gekommen sind (Prr. 13 a, 14, 15 und 16 a), läßt den begründeten Verdacht wachhalten, es könnten weitere EckhartPredigten überhaupt verloren sein, es könnten solche anonym überliefert sein wie die Predigten 14 und 15, es könnten echte Predigten Eckharts in fremde Predigtsammelwerke wie etwa den Kölner Taulerdruck, in dem - neueste Erkenntnis - die beiden Predigten mit dem Schriftwort Rogo pater ut sint unum (Joh. 17, 21; KT 87 vb -89 va ; 89 vl -91 rb ) auf Eckhart als Autor deuten, eingegangen sein oder es könnten von Redaktoren für ihre Kompilationswerke echte Predigten Eckharts benutzt, worden sein, von denen wir anderweitig keine handschriftliche Kenntnis haben. Dies scheint bei den Predigten 105-107 und 110 der Pfeiffer-Ausgabe24 der Fall gewesen zu sein. Sie sind einzig in dem Melker Predigtcorpus (Cod. 1865 und Cod. 705) erhalten, das der Benediktiner Leonhard Pewger in der ersten

22

Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung. Band 2: Mittelalter. Hrsg. von Kurt Flascb (Redam Universal-Bibliothek Nr. 9912), Stuttgart 1982, S. 433.

d Kurt Riè (Anm. 18), Sp. 332.

» Deutsche Mystiker (Anm. 3), S. 340-370.

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Hälfte des 15. Jahrhunderts gestaltet hat; d.h., die Eckhart-Predigten zeigen eindeutig redaktionellen Charakter. 3. Nach Quint ist neben der inhaltlichen Übereinstimmung einer Predigt mit der .Rechtfertigungsschrift', den Avignoner .Gutachten', der Bulle ,In agro dominico' und den lateinischen Sermones das wichtigste Echtheitskriterium die handschriftliche Zuschreibung an Meister Eckhart. Dabei gelten ihm die Predigten, „die handschriftlich am häufigsten dem Meister zugewiesen sind" (DW I, S. XX) gesicherter als jene, die nur gelegentlich den Namen Eckharts führen. Wodurch die Anonymität der Überlieferung bedingt ist, untersucht Quint nicht. Die Unterschiede des Basier und des Kölner Taulerdruckes im Zuschreibungsverhalten werden nicht registriert. Es bilden die Eckhart-Predigten im Kölner Taulerdruck nur einen verschwindend geringen Anteil. Sie werden aufgenommen, nicht um Meister Eckhart vor einem breiten Publikum Anerkennung zu verschaffen, wie dies der Basler Taulerdruck will, sondern einzig wegen ihrer Thematik. Sie sind wegen ihrer Einbeziehung in das Taulercorpus nicht zu unechten Eckhart-Predigten geworden. 4. Schließüch leistet das Studium der Verbreitungswege und Exzerptionsprozesse des Eckhartschen Schrifttums auch die entscheidende Hilfe, dieses in seiner Echtheit zu sichern. Josef Quint und Josef Koch haben dies nicht so gesehen, aus einer tiefverwurzelten Skepsis der handschriftlichen Überlieferung gegenüber, die sie grundsätzlich als unzuverlässig einschätzten, und aus der Vorstellung heraus, die deutschen Predigten seien alle mit Ausnahme der Predigt ,Vom edelen Menschen' Nachschriften anderer und somit von geminderter Authentizität. Wie Quint das Echtheitsproblem der deutschen Schriften Meister Eckharts unter diesen Prämissen zu lösen versuchte, muß kurz dargestellt werden. Sein Lösungsansatz und sein Lösungsergebnis ist für jedermann sichtbar und ablesbar in der Art und Weise, wie er die von ihm herausgegebenen 86 Predigten in den 3 Bänden der Gesamtausgabe der Reihe nach ordnet und klassifiziert. Er gliedert sie nach dem Grade der Gesichertheit für Meister Eckhart in 4 Abteilungen: Die erste Abteilung enthält jene Predigten, die durch die ,Rechtfertigungsschrift' als echt bezeugt sind. Das sind 16 Predigten. Die zweite Abteilung stellt jene Predigten zusammen, die durch Übereinstimmung mit den lateinischen Predigten des ,Opus sermonum' als echt erwiesen sind. Das sind 8 Predigten (Prr. 17-24). Die dritte Abteilung gibt die Predigten 25-59. Sie erscheinen Quint aufgrund der Verbindung durch Rückverweise etwa: als ich niuveliehe sprach; do ich nü predigete an der drivalticheit tage (DW II, 51, 4f.) - und beachtliche Textparallelen mit den Predigten 1-24, den Traktaten ,Buch von göttlicher Tröstung', .Reden der

Echtheit und Authentizität der Predigten Meister Eckharts

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Unterweisung', ,Von Abgeschiedenheit' sowie den lateinischen Werken als echt erwiesen. Die 4. Abteilung sammelt dann noch diejenigen Predigten (Prr. 60-86), die durch Rückverweise auf Textparallelen der Predigten 25-59 und aufgrund beachtlicher Übereinstimmungen mit allen Werken Eckharts, lateinischen wie deutschen, als echt erweisbare Predigten gelten dürfen. Die Kriterien für die Aufnahme von Predigten in eine 5. Abteilung hat Quint nicht mehr ausgearbeitet. Es ist anzunehmen, daß er sich bei der Suche nach weiteren echten und echt erscheinenden Eckhart-Predigten vor allem an Textparallelen und inhaltlichen Übereinstimmungen zwischen fraglichen Stücken und den bereits als echt erwiesenen deutschen und lateinischen Texten Eckharts orientiert hätte. Durch die Einteilung der Predigten in vier Gruppen und ihre reihende Anordnung macht Quint deutlich, daß die Echtheit der 86 Stücke mit unterschiedlichen Kriterien gesichert ist und daß die Gruppenzugehörigkeit der Predigten den Sicherheitsgrad ihrer Echtheit markiert. Die „gesicherteste Gruppe von Stücken" (DW I, S. XIX) ist demnach die Abteilung 1. Zum Schluß werden „diejenigen Predigten geboten, deren Echtheit nur auf Grund innerer oder indirekter Kriterien gesichert oder wahrscheinlich gemacht werden kann" (S. XX). Es enthalten demnach die Abteilung 1 die „als echt bezeugten", die Abteilungen 2 und 3 die „als echt erwiesenen" und die Abteilung 4 die nur „als echt erweisbaren Predigten". Für eine 5. Abteilung könnten dann lediglich noch Predigten reserviert gewesen sein, deren Echtheit zweifelhaft ist. Die abgestufte Gesichertheit der Echtheit ergibt sich aus den Kriterien und aus ihrer Gewichtung, die Quint für den Nachweis der Autorschaft Eckharts einsetzt: „Die relativ sicherste Bezeugung innerhalb des Umkreises der deutschen Werke des Meisters ist fraglos diejenige durch die sog. Rechtfertigungsschrift des Jahres 1326" (S. XIX). Das „Zeugnis der Rechtfertigungsschrift und der übrigen Prozeßakten" (DW II, S. IX) erachtet Quint als das entscheidende Kriterium für die Zuweisungsmöglichkeit eines Textes an Meister Eckhart. An 2. Stelle folgt das Zeugnis „durch Übereinstimmung in Thema und Ausführung im ganzen mit Stücken des Opus sermonum" (S. IX). An 3. Stelle steht die „Beweiskraft der Rückverweise" (S. IX). Die handschriftliche Zuweisung an Meister Eckhart nimmt erstaunlicherweise erst den 4. Platz ein: „Indessen konnte die Beweiskraft der Rückverweise erheblich gestützt und gestärkt werden durch hinzukommende handschriftliche Bezeugung für Eckhart" (S. IX). Ein Echtheitskriterium ist 5. die Möglichkeit des ,,Nachweis[es] von charakteristischen inhaltlichen Paralleläußerungen Eckharts in Predigten von DW 1 und in Traktaten von DW 5 sowie insbesondere in den lateinischen Werken" (S. IX). Eine „weitere Stärkung des Echtheitserweises" ist 6. „das Vorkommen von Eckhartischen Stilmerkmalen wie Antithese, Parallelismus, Häu-

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fung, Hyperbolismus, paradoxale Ausdruckswcisc, kennzeichnende Vergleiche und Beispiele" (S. X). 7. und letztendlich vermag auch die „Aufbauskizze" der einzelnen Predigten, die ihren „gedanklichen und thematischen Gehalt" analysiert, „die Überzeugungskraft der unter .Echtheit' aufgeführten Echtheitskriterien bestärken" (S. X). Mit Hilfe der angeführten Kriterien hat Quint die echten von den unechten Stücken geschieden. Dabei drängt er das Prozeßmaterial von Köln und Avignon, die ,Rechtfertigungsschrift' Eckharts und die Bulle ,In agro dominico' in die Funktion einer Sonde außerhalb der lextüberlieferung dies ist der entscheidende methodische Coup Quints - , mit der er die Probleme der Textechtheit und Textrichtigkeit löst. Es ist ein einmaliger Glücksfall, daß ein Editor die Akten eines theologischen Prozesses für seine editorische Arbeit nützen kann. Quint hat diesen Glücksfall genutzt. Er glaubte, wegen der ihm zur Verfügung stehenden Echtheitssonde der Prozcßhintcrlasscnschaft und der lateinischen Werke Eckharts auf überlieferungsgeschichtliche Untersuchungen, auf deren Ergebnisse sich etwa eine Ausgabe der Predigten Johannes Taulers allein stützen müßte, weitgehend verzichten zu dürfen. Es kann und will nicht die Aufgabe meines Referates sein, an der imponierenden editionsmethodischen und textkritischen Leistung Quints Kritik zu üben. Tatsache aber ist, und Quint hat diese Fakten selbst auf den Tisch gelegt: Der Schlüssel .Rechtfertigungsschrift' mit den Prozeßakten sperrt nur für 16 Predigten. Weil sich in ihnen häretische und häresieverdächtige Sätze finden, die die Kölner Inquisitoren aus umlaufenden Predigten aufgepickt haben und auf die Eckhart in seiner .Rechtfertigung' eingeht, finden sich zwischen den Predigten einerseits und der Anklage und Rechtfertigung andererseits Parallelen und ist somit ein Echtheitsnachweis möglich. Weil aber die übrigen 70 Predigten offensichtlich orthodox sind, bieten sie verständlicherweise keine Vergleichsmöglichkeit. Aber diese Nicht-Möglichkeit des Vergleichs macht sie doch nicht von vornherein ,unechter' als jene Predigten mit inkriminierten Sätzen? Literarhistorisch gesehen haben die Kölner Kommissare nichts anderes getan, als aus deutschen und lateinischen Werken Eckharts Exzerpte zu erzeugen - in inquisitorischer Absicht. Koch sagt ausdrücklich, die Kommissionstheologen hätten nach der „Exzerpten-Methode"25 gearbeitet. Ihre Listen, wie die avignonesischen Dokumente, wie die Verurteilungsbulle, müssen deshalb als Zeugnisse der literarischen Wirkung Eckharts gesehen werden. Sie sind nicht Urkundenmaterialien außerhalb der lextüberlieferung. Die Prozeßmaterialien sind somit literarische Bezeugungen von Eckharts Wirken, sind 25

Josef Koeb, Zur Einfuhrung, in: Meister Eckhart der Prediger. Festschrift zum EckhartGedenkjahr. Hrsg. im Auftrag der Dominikaner-Provinz „Teutonia" von P. Udo M. Nix O. P. und P. Dr. Raphael öcbsln O. P., Freiburg-Basel-Wien 1960, S. 1-24, hier S. 16.

Echtheit und Authentizität der Predigten Meister Eckharts

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philologisch gesehen Bestandteile der Textgeschichte seiner Werke, genauso wie die zweckgerichteten Auswahlsammlungen seiner Predigten, die auswählende Redigierung seiner Schriften allgemein oder auch die literarischen Anleihen über den Weg des Zitats oder der anonymen Benutzung. Was das Prozeßmaterial für die Zuweisung von deutschen Predigten an Eckhart leistet, das leisten auch andere Zeugen für Eckharts literarische Wirkung. Es ist nicht einzusehen, weshalb in der Frage der Textechtheit den Prozeßakten eine höhere Bezeugungsqualität zukommen sollte. Wir kennen ein herausragendes Beispiel der Textgeschichte, das nicht die Verurteilung Eckharts bezeugt, das vielmehr ein Dokument seiner Verehrung und Hochschätzung ist. Es ist die Erfurter Predigtsammlung ,Paradisus anime intelligentis', die etwa um 1340 angelegt wurde und 31 dezidiert Meister Eckhart zugeschriebene Predigten enthält. Sie hat einen exzellenten Bezeugungswert, den selbst Josef Koch nicht hoch genug veranschlagen kann, wie seiner Bemerkung über den Sammler des ,Paradisus' zu entnehmen ist: „Wenn man bedenkt, daß Eckharts Vorgänger im Provinzialat..., Dietrich von Freiberg, zwar den Ruf eines ausgezeichneten Predigers genoß, daß aber keine einzige Predigt von ihm erhalten ist, dann besagt es sehr viel, daß ein Mitbruder Eckharts es für der Mühe wert hielt, dessen Predigten zu sammeln. Er fand aber nicht genug, um damit die üblichen Zyklen De tempore und De sanetis zu füllen; darum nahm er auch Predigten anderer Prediger auf und ging dabei selbst über den eigenen Orden hinaus. Aber Eckhart bildet, wie auch Strauch bemerkt hat, ,den Mittelpunkt der Sammlung'."26 Quint hat, seinem Kriterienkatalog folgend, nur 13 Predigten aus der ,Paradisus'-Sammlung in seine Ausgabe übernommen. Erste Untersuchungen lassen erkennen, daß man sich schon in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts allenthalben mühte, das Predigtgut Eckharts zu sammeln als Lesepredigten oder als Handreichungen für den aktiven Prediger. Es sollte diesen frühen Wissenden um Eckharts Werk, freilich nach kritischer Prüfung ihres Umgangs mit den Texten des Meisters, jene Glaubwürdigkeit zugestanden werden, die andere Textvermittler anderer Werke unbezweifelt genießen. Für Eckhart hätte dies die Konsequenz, daß der Zeugniswert des Prozeßmaterials ersetzt wird durch den Zeugniswert der Textüberlieferung und Textgeschichte27, die dann allerdings gründlich studiert werden müssen. In Bearbeitung befindliche Untersuchungen der Wege der Predigtüberlieferung lassen erkennen, daß etwa 20 weitere Predigten für Eckhart als echt zu sichern sind. Die von Quint reservierte 5. Abteilung wird also nicht die in ihrer Echtheit zweifelhaften Predigten enthalten, sondern die durch überlieferungs- und textgeschichtliche Untersuchungen als echt zu erweisenden Predigten. Und es wird auch möglich * Josef Koch (Anm. 14), S. 143 f. v Vgl. dazu auch Kurt Rub (Anm. 21), S. 26f.

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sein, die Echtheit der bereits edierten Texte überlieferungsgeschichtlich nachzusichern. Ich habe die Notwendigkeit und die Wichtigkeit der Erschließung der Textzeugen des zweiten Grades betont. In die Freilegungsarbeit der Textgeschichte der Eckhartschen Werke müssen selbstverständlich auch die Textzeugen des ersten Grades miteinbezogen werden. Ist die überlieferungsund textgeschichtliche Arbeit abgeschlossen, ist eine Predigt als echt erwiesen und sind alle ihre textlichen Bezeugungen zusammengestellt, dann erst beginnt das Geschäft des Edierens. Quint glaubte, „daß Textkritik an den so brüchig überlieferten deutschen Predigttexten Eckharts ohne Divination und ohne ein gewisses Gespür für Eckhartsche Möglichkeiten kaum gelingen kann" (DW I, S. IX). Wer darf es wagen, kongenial mit Eckhart, die durch den Überlieferungsprozeß verstümmelten oder durch bewußte Redigierung abgeänderten Texte wieder in die Nähe des vermuteten Originals führen zu wollen? In dieser für den Editor heikelsten Frage - rührt sie doch an sein Selbstverständnis und an seine Fähigkeiten - sollte auch wiederum die Textgeschichte, und neuerdings auch die Hilfeleistung der EDV, stärker in Anspruch genommen werden. Dies heißt: Neben den textfiliatorischen Bindungen muß verstärkt das Schreiberverhalten und das Textverständnis der Redaktoren berücksichtigt werden. Ohne die Kenntnis der Schreib- und Redigierungsintentionen der Kopisten und Kompilatoren und ohne Wissen, wie die kompetenten Schreiber und Redaktoren des 14. und 15. Jahrhunderts ihre Vorlagentexte verstanden haben, sollte keine textkritische Entscheidung fallen. Akzeptiert werden muß in jedem Falle das, was die Überlieferung hergibt. Auf Rekonstruktionen sollte sich der Editor nicht einlassen. Im konkreten Falle heißt dies: Mit Sicherheit sind die von Leonhard Pewger einzig in den Melker Handschriften tradierten Eckhart-Predigten nur in der Gestalt habbar, die er ihnen gegeben hat. Dahinter, zurück zum Original, wird man nicht mehr greifen können. Zwar echte, aber unauthentische Predigten, Traktate, Sprüche: solche zu konstituieren könnte die Textkritik angesichts der Überlieferungsverhältnisse der Eckhartschen literarischen Hinterlassenschaft gezwungen sein. Inwieweit dann Texte wie ,Von den XII Nutzen unseres Herren Lichämes' oder die Jostes-Predigt 41 noch eckhartisch sind, ist jetzt noch nicht zu entscheiden. Die Frage kann jedoch entschieden werden, wenn die geforderten textgeschichtlichen Forschungen in Gang kommen.

Klaus

KIRCHERT

(Höchberg)

Text und Textgeschichte Zu überlieferungsgeschichtlichen Editionen spätmittelalterlicher Gebrauchsprosa Die Würzburger Forschergruppe hatte sich vor elf Jahren vorgenommen, neue Wege der Edition und Untersuchung umfangreicher, breit überlieferter und vielfaltig ausgeformter Textkomplexe zu entwerfen und zu beschreiten. Die Werke und Werkgruppen gehören alle dem Spätmittelalter an, stellen im engeren und weiteren Sinn Gebrauchsprosa dar und sind kulturgeschichtlich der Rezeption der lateinischen Schriftkultur durch die Volkssprachen zuzuordnen. Als methodische Klammer der editorischen Erschließung und Textauswertung sollte der überlieferungsgeschichtliche Ansatz erprobt werden. 1 Die Editionen sind erschienen (Normalcorpus und Sondergut der elsässischen ,Legenda Aurea', ,Liber ordinis rerum'), stehen kurz vor dem Erscheinen (die .Rechtssumme' Bruder Bertholds) oder werden für den

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Das Programm der Würzburger Forschergruppe wurde im Jahrbuch für Internationale Germanistik 5, 1973, S. 156-176 veröffentlicht (zum überlieferungsgeschichtlichen Ansatz vgl. S. 160ff.). - „Einige grundsätzliche Fragen der Edition altdeutscher Texte" hat K. S T A C K M A N N auf dem Germanistentag 1963 in Bonn diskutiert (Mittelalterliche Texte als Aufgabe. In: Festschrift für J . Trier. Hrsg. von W. F O E R S T E und K . H . BORCK, Köln/ Graz 1964, S. 240-267, hier S. 241). Auf dem Marbacher (1966) und Bonner Kolloquium (1973) wurden die durch den Vortrag angeregten Gespräche fortgeführt. Vgl. die Tagungsbände: (1) Probleme altgermanistischer Editionen. Kolloquium in Marbach a. N., 26./ 27. April 1966. Referate und Diskussionsbeiträge. Hrsg. v. H. K U H N , K. S T A C K M A N N und D. W U T T K E , Wiesbaden 1968 (DFG-Forschungsberichte 13) und (2) Probleme der Edition mittel- und neulateinischer Texte. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft Bonn, 26.-28. Februar 1973. Hrsg. von L. HÖDL und D. W U T T K E , Boppard 1978. Zwei „Würzburger" Beiträge in (2) sind in besonderer Weise für die Forschergruppe einschlägig: K. RUH: Votum für eine überlieferungskritische Editionspraxis, S. 35-40 und G. STEER: Stand der Methodenreflexion im Bereich der altgermanistischen Editionen, S. 117-129. Im Sammelband der Forschergruppe (vgl. Anm. 4) wird G. S T E E R die „Textgeschichtliche Edition" am Beispiel der .Rechtssumme' besprechen. Zur Edition des ,Vocabularius Ex quo' hat sich K. G R U B M Ü L L E R in (1) geäußert (S. 42-55). Die vorgetragenen Überlegungen beruhen auf der Arbeit, die in der Forschergruppe geleistet wurde. Die Mitarbeiter der Projekte haben mich großzügig unterstützt. Dafür möchte ich ihnen herzlich danken. Dr. K. Kunze half mir mit zahlreichen Ratschlägen für die Drucklegung. Prof. Dr. N. R. Wolf regte wichtige Präzisierungen an. Auch dafür sage ich herzlichen Dank.

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Druck vorbereitet (.Vocabularius Ex quo', die Wörterbücher von Fritsche Closener und Jakob Twinger von Königshofen,,Vitaspatrum').2 Eine Reihe von Untersuchungen und Monographien begleiten die Textausgaben.3 Die Aufmerksamkeit galt und gilt der Überlieferungs-, Text- und Wirkungsgeschichte, den Quellen sowie sprach- und literaturgeschichtlichen Aspekten. Einem die Einzelprojekte umfassenden Sammelband kommt die Aufgabe zu, die geleistete Arbeit zu überblicken, auf Erfahrungen (auch in methodischer Hinsicht) und Ergebnisse zu verweisen und neue Fragen zu stellen.4 Dieser Beitrag hat die angeführten Textdarstellungen zum Gegenstand. Ich habe ihn in folgende sieben Punkte untergliedert: 1. Der Text als „dynamische Größe", 2. Die editorischen Konsequenzen, 3. Zur lexikalischen Varianz, 4. Zur Korpusvarianz, 5. Zur Bedeutung des Autortextes, 6. Zur editorischen Darstellung von Textveränderung, 7. Der Text als Bezugsgröße 1. Der Text als „dynamische Größe" Überlieferungsgeschichtlich anzusetzen bedeutet zunächst, daß die gesamte Überlieferung eines Denkmals erfaßt, geordnet und ausgewertet wird, bevor editorische Entscheidungen fallen. Erst aus der vollen Kenntnis des 2

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Vgl. Die elsässische ,Legenda Aurea', Bd. I: Das Normalcorpus. Hrsg. von U. WILLIAMS und W. WILLIAMS-KRAPP Tübingen 1980 (TTG 3). Die elsässische .Legenda Aurea'. Bd. II: Das Sondergut. Hrsg. von K. KUNZE, Tübingen 1983 (TTG 10). .Liber ordinis rerum' (Esse-Essencia-Glossar). Bd. I: Einleitung und Text. Bd. II: Apparat und Wortregister. Hrsg. von P. SCHMITT, Tübingen 1983 (TTG 5/1,2). Die .Rechtssumme' Bruder Bertholds. Eine deutsche abecedarische Bearbeitung der ,Summa Confessorum' des Johannes von Freiburg. Synoptische Edition der Fassungen A, B und C mit textgeschichtlichen Lesarten und Kommentar. Bde. I-IV: Text der Fassungen. Hrsg. von G. STEER und W. KLIMANEK, D. KUHLMANN, F. LÖSER, K.-H. SÜDEKUM. Bd. V: Textgeschichtliche Lesarten. Hrsg. von J. MAYER und G. STEER. Bde. VI-VII: Kommentar. Hrsg. von M. HAMM und H. ULMSCHNEIDER. Bd. VIII: Wortindices. Hrsg. von Th. STADLER und P. STAHL (TTG 11-18). Bd. I-IV werden 1985 erscheinen. Die Editionen des .Vocabularius Ex quo' und der Wörterbücher von Closener und Twinger befinden sich im Stadium der Drucklegung. Die Edition der .Vitaspatrum' wird vorbereitet. Vgl. die ,Rechtssummc* Bruder Bertholds. Untersuchungen I. Hrsg. von M. HAMM und H. ULMSCHNEIDER, Tübingen 1980 (TTG 1). H. WECK: Die .Rechtssummc' Bruder Bertholds. Die handschriftliche Überlieferung, Tübingen 1982 (TTG 6). W. WILLIAMSKRAPP: Die deutschen und niederländischen Legendäre des Mittelalters. Studien zu ihrer Überlieferungs-, Text- und Wirkungsgeschichte, Habil.-Schrift Würzburg 1983 (erscheint als T T G 20). K. KLEIN: .Vitaspatrum'. Überlieferungsgeschichtliche Untersuchungen zu den Prosaübersetzungen im deutschen Mittelalter, phil. Diss. Würzburg 1984 (erscheint in der Reihe TTG). H.-j. STAHL: Text im Gebrauch. Rezeptionsgeschichtliche Untersuchungen zu späten Fassungen des .Vocabularius Ex quo' und zum Vokabular des alten Schulmeisters (erscheint in der Reihe TTG). Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung. Hrsg. von K. RUH (erscheint 1985 als TTG 19).

Text und Textgeschichte

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überlieferungsgeschichtlichen Befundes, der überlieferungs- und textgeschichtlichen Zusammenhänge, ergibt sich die Entscheidung für ein Editionsziel und über den Weg, auf dem es erreichbar ist. s Die Überlieferungsverhältnisse sind in allen unseren Fällen komplex. Worin bestand aber nun die Schwierigkeit, den komplexen Überlieferungsbefunden editorisch gerecht zu werden? Sie liegt nicht in der Rekonstruktion eines Urtextes oder einer Gebrauchsfassung, auch nicht primär in den äußeren Erscheinungsformen der Gebrauchsprosa, mit der wir es zu tun haben, sondern in der Vieldimensionalität dessen, was wir unter Text verstehen müssen, gleichsam in der „Natur" des lextes. Reiche Überlieferung und weiträumige Verbreitung sind nur Folge dieser „Natur". Die Schwierigkeiten liegen also in dem, was uns als Text entgegentritt. Die komplexen Überlieferungsverhältnisse führen uns darauf. Das editorische Grundkonzept fußt darauf. Dessen jeweilige Modifizierung hängt von den jeweiligen Besonderheiten der Überlieferung ab. Bei den Editionen der klassischen Autoren geht es im übrigen oft weniger darum, einem komplexen Überlieferungsbefund gerecht zu werden, eher darum, mit ungünstigen Überlieferungsverhältnissen zurechtzukommen. Die Texte, die in den einzelnen Projekten editorisch in Angriff genommen wurden, wiesen einige äußere Merkmale gemeinsam auf, die ich nochmals aufzählen will: Es handelt sich (1) um Texte des 14. und 15. Jahrhunderts (des Spätmittelalters), die (2) in zahlreichen Textzeugen überliefert sind, (3) großräumig 6 verbreitet waren und (4) sehr uneinheitlich auf uns gekommen sind. Die Werke sind (5) sehr umfangreich, sie verdanken (6) ihre Entstehung der Rezeption der lateinischen Schriftkultur und sind (7) gattungsspezifisch als Gebrauchsprosa zu bestimmen. Aus diesen Merkmalen leitet sich der besondere Werkcharakter unserer Texte ab, aus dem sich wiederum die Editionsmethode primär ergibt. Worin dieser Werkcharakter besteht, möchte ich anhand des Literaturtypus .Vokabulare' dartun. Der ,Vocabularius Ex quo' ist in hohem Maße unfest überliefert. Betrachtet man die gesamte Überlieferung und vergleicht konkurrierende Vokabulare, stellt sich bei der Definition bzw. Identifizierung als erstes die

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Was das für die .Rechtssumme' bedeutet, fuhrt G. STEER in seinem Beitrag „Textgeschichtliche Edition" für den Sammelband der Forschergruppe (vgl. Anm. 4) genauer aus. K. STACKMANN hat 1964 für die ideale Edition gefordert, daß sie aus vollständiger Kenntnis der Überlieferungsgeschichte hervorgehen solle (vgl. Anm. 1, S. 266f.). Die elsässische .Legenda Aurea* und die Wörterbücher von Gosener und IWinger sind im Vergleich zur .Rechtssumme' und zum .Vocabularius Ex quo' kleinräumig verbreitet, d. h. ihre Überlieferung blieb weitgehend auf den Südwesten beschränkt. Dies ermöglicht in beiden Fällen, den Gründen der lextveränderung intensiv nachzugehen. Die Einleitung zum Sondergut der elsässischen ,Legenda Aurea' (vgl. Anm. 2) orientiert umfassend über die Mutationsetappen dieser mittelalterlichen Legenden Sammlung.

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Frage: Was ist überhaupt der ,Vocabularius E x quo'? Ein Autor ist nicht bekannt. Ein Urtext steht nicht von vorneherein fest. Wir erkennen unterschiedliche „Textgestalten", die in jeweils unterschiedlicher Anzahl von Handschriften bezeugt sind. Daneben gibt es Überlieferungsträger, die nach unserer Kenntnis der Überlieferung für sich stehen, sich nicht zuordnen lassen, individuelle Textformen ausgeprägt haben. Innerhalb der „Textgestalten" (Redaktionen, Fassungen) wirkt die Textdynamik weiter. Textzeugen schließen sich textgeschichtlich gesehen erneut zu Gruppen zusammen (Bearbeitungsgruppen, Veränderungsgruppen), auch existieren wiederum Einzelbearbeitungen. Freilich repräsentieren viele Handschriften lediglich eine spezifische übergeordnete Textgestalt. Es sind reproduzierende Abschriften. Was ist also das Werk, der Text ,Ex quo'? Ich nehme ein Bild zu Hilfe. Die Quellen des ,Vocabularius E x quo' entsprechen einer Baumwurzel, die Ausgangsfassung, die sich in diesem Falle glücklicherweise ermitteln ließ, gleicht dem Stamm, in der reich entfalteten Textgeschichte in Redaktionen, Textstufen und individuellen Bearbeitungen hätten wir dann die Äste, Zweige und Blätter zu sehen. Der Werktitel ,Vocabularius Ex quo' steht für den gesamten Baum. Ein Teil des Baumes ist nur ein Teil des Werkes. Ein anderes Werkverständnis tragen wir an ein dichterisches Originalwerk heran, etwa an Wolframs ,Parzival' oder Gottfrieds .Tristan*. Hier würde der Baum der dichterischen Schöpfung entsprechen, deren Gestalt wir editorisch erstreben. Spätere Veränderungen, Weiterentwicklungen, Uradichtungen sind Ableger des Baumes, aber nicht Verzweigungen. Auch die Ableger mögen uns interessieren. Primär ist jedoch die Originalgestalt des Kunstwerkes. Der Baum als Sinnbild meint hier das organische Ganze, das keine Veränderung mehr nötig hat. Der Baum als eine gewachsene Einheit kennzeichnet aber auch ein Werk oder besser einen Werk komplex wie den .Vocabularius Ex quo'. Im Unterschied zum künstlerischen Schaffensvorgang entsteht die Werkgestalt oder Werkstruktur des Gebrauchstextes erst im Zuge der Überlieferung. Der Ausgangsfassung kommt die Bedeutung eines Wachstumskeims zu - ich springe in ein anderes Bild von dem aus sich die Werkgestalt herausbildet. Das Medium dieses „Herausbildens" ist der Gebrauch (wie die Mutterlauge, in der sich die Kristalle bilden). Im Gebrauch erhält der Text seinen historisch gewachsenen Werkcharakter. 2. Die editorischen Konsequenzen Die Aussage, daß das Werk eine dynamische Größe ist, die sich erst im Prozeß der Überlieferung konstituiert, gilt für alle durch die Forschergruppe edierten Werke. Besondere, aber jeweils unterschiedliche Verhältnisse liegen bei der elsässischen .Legenda Aurea' und bei den Wörterbüchern von Closener und Twinger vor. Im folgenden geht es mir

Text und Textgeschichte

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ausschließlich um die Frage, wie diesem spezifischen Werkcharakter editorisch zu begegnen ist. Die Frage ist ganz allgemein gestellt. Zur Antwort ziehe ich jedoch wieder das Beispiel des ,Vocabularius Ex quo' heran. Das Bild des Baumes legt als Konsequenz nahe, diesen editorisch in seiner sichtbaren Gesamterscheinung (also mit Ausnahme der Wurzel, die für den Quellenbereich steht) abzubilden, d. h. alles einzubeziehen, was seine spezielle Gestalt ausmacht. Außerhalb blieben dann lediglich unproduktive, weil mechanisch reproduzierende Textzeugen. In diesem Fall gäbe die Edition die überlieferte Werkgestalt vollständig wieder. Aufgrund der angedeuteten Überlieferungsverhältnisse scheidet diese Möglichkeit bei allen unseren Texten aus. Die edierte Werkgestalt muß zwangsläufig aus technischen und praktischen Gründen die überlieferte, die wiederum hinter der historischen zurückbleibt, reduzieren. Damit ist gesagt, daß wir vor der Notwendigkeit der Auswahl stehen, für die es Kriterien zu finden gilt. Folgen wir noch einmal dem Bild des Baumes, dann ginge es darum, seine wesentlichen Eigenschaften, Wuchsformen, Ausprägungen in Form einer mehr oder weniger ausgeführten Skizze von Stamm, Verzweigungen und Blattwerk wiederzugeben. Demnach hätten wir die wesentlichen Stadien der Textgeschichte abzubilden. Worum handelt es sich dabei? Großgruppen und Untergruppen, die das Ergebnis unserer überlieferungsgeschichtlichen (und textgeschichtlichen) Gliederung der Textzeugen waren, repräsentieren das Werk in seiner wirkungsgeschichtlichen Entfaltung. Sie sind repräsentativ für das Vokabular im Sinne seines Gebrauchs. Der Begriff „Fassung" orientiert sich also nicht allein an Umfang und Art der Veränderungen (erste, hinreichende Bedingung), sondern entschieden daran, ob die Umarbeitung auch Schule gemacht hat. Dies ist bei Gebrauchstexten eine notwendige zweite Bedingung. Damit scheiden alle vereinzelten (individuellen) Bearbeitungen unabhängig davon aus, wie interessant und tiefgreifend ihre Veränderungen sind. Die Untergruppen, die wir Textstufen nennen, repräsentieren wirksam gewordene fassungsinterne Textentfaltung. Denn auch Fassungen - sie können im Fall des .Vocabularius Ex quo' aus 50 und mehr Textzeugen bestehen - sind keine monolithischen Blöcke. Deshalb schien es angebracht, als Beispiel für die fassungsinterne Textdynamik, für Sonderformen des jeweiligen Fassungstextes, einige Textstufen auszuwählen und editorisch zu berücksichtigen. Auch auf dieser Ebene blieben individuelle Fortentwicklungen von Fassungstext unbeachtet. Nicht in diese klare Schema passen andere Erscheinungsformen von Textveränderung. Dazu gehören Kontamination und Vorlagen Wechsel. Unter Kontamination, die uns keine größeren Schwierigkeiten bereitet, 7 verste7

Die „kritische Auswahl" von Lesarten aus zwei oder mehreren Vorlagen durch den Abschreiber ist innerhalb der Überlieferung der' .Rechtssumme' und der Vokabulare nicht

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Klaus Kirchert

hen wir das Ineinanderarbeiten mehrerer Fassungen, während sich als auffallendes Ergebnis des Vorlagenwechsels, dem wir in einer erstaunlich großen Zahl von Handschriften begegnen, längere Abschnitte aus verschiedenen Fassungen kettenartig aneinanderreihen. Diese Erscheinung, die auch bei der,Rechtssumme' häufig auftritt, dürfte ein Signum des Gebrauchscharakters der Texte sein. Darüber hinaus kommt der Wechsel von einem Werk zum anderen vor (beispielsweise vom ,Vocabularius Ex quo' zu Twingers Glossar) oder auch die „Einschichtung", der „Einbau" anderer Werke (beispielsweise wird das lateinische Wörterbuch ,Lucianus' öfter lateinischdeutschen Vokabularen eingelagert, was meist auf die Weise geschieht, daß Buchstabenbereiche wechselseitig aufeinander folgen 8 ). Die eben beschriebenen Phänomene und eine Reihe weiterer, auf die ich hier nicht eingehe, finden editorisch keine Berücksichtigung. Sie gehören jedoch zum Gebrauchscharakter der Texte und dürfen nicht als textkritisch lästige Erscheinungen des Abschreibevorgangs gewertet werden. Für den Editor ist es wichtig, diese Sachverhalte nicht zu unterschlagen und sich und dem Leser im Bewußtsein zu halten, wie begrenzt die Edition trotz ihres Aufwandes ist. Ein Editionskonzept für den ,Vocabularius Ex quo', das sich am Erkenntnisinteresse, am Gebrauchscharakter der Texte und am Machbaren orientiert, wird als Leitlinie vorgegeben - ich wiederhole das nur - , daß jedenfalls die großen Fassungen (Redaktionen) abgebildet werden. Da diese nicht alle der Urfassung entstammen, sondern sich teilweise als tertiäre aus sekundären herausbildeten, repräsentiert die Edition wirkungsgeschichtliche Entwic-klungsstadien des Textes. Sie ist dynamisch angelegt. Der Gebrauchstext, das „Werk" ist keine statisch fixierbare Größe. Seine Erscheinungsformen werden miteinander in Beziehung gesetzt, Veränderungsprozesse sichtbar gemacht. Die Einbeziehung von Textstufen trägt sodann diesem Konzept in weiter differenzierter Form Rechnung. Wenn auch die Edition des lateinisch-deutschen Wörterbuchs ,Ex quo' beansprucht, abgesehen von den getroffenen Einschränkungen, „re-präsentativ" zu sein, d.h., daß sie das Werk, das sich erst durch Überlieferung

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häufig belegt. Insofern stellt die Kontamination keine editorischen Probleme. Auch kann eine textgeschichtlich ausgerichtete Editionsmethode jeder Art von Textmischung editorisch durchaus Rechnung tragen. Daß die Schreiber häufig von einer Vorlage gänzlich zu einer anderen übergehen, die eine die andere also ablöst, dürfte gerade im Bereich der Gebrauchsprosa dadurch erklärbar sein, daß ein I i « , weil er „gebraucht" wurde, nicht für die gesamte Dauer des Abschreibevorgangs verfugbar war. Dies ist der Fall im Cgm 643 und in Hs. 5 des Stadtarchivs von Wunsiedel. Beide Hss. beginnen mit dem Buchstabenbereich A des .Lucianus', dem der A-Bereich von ,Ex quo' folgt. Dem schließen sich wiederum Bereich B des .Lucianus' und Bereich B des ,Ex quo' an. Diese Abfolge wird bis zum Ende des Alphabets durchgehalten. Beide Textzeugen dürften auf eine gemeinsame Vorlage zurückgehen.

Text und Tcxtgcschichte

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ausformt, in den wesentlichen Zügen, Gestaltungen, Erscheinungsformen wiedergibt, die breite Wirkung gehabt haben, so muß doch bewußt bleiben, daß die gesamte Palette der Metamorphosen nicht erfaßt wird, auch nicht in einer sinnvollen Auswahl erfaßbar ist. Die Edition ist also nicht repräsentativ im Hinblick auf die Möglichkeiten der Textveränderungen, da die Einzelbearbeitungen diesen Bereich erheblich erweitern. Der Anspruch der „repräsentativen" Edition kann nur im Hinblick auf die zeitgenössische Wirkung realisiert werden. Eine andere Möglichkeit, derartig breit bezeugte und vielfaltig ausgestaltete Texte editorisch zu bewältigen, sehe ich vorläufig nicht. 3. Zur lexikalischen Varianz Der Anspruch der repräsentativen Edition gilt für eine weitere wichtige Ebene der Textmutation nicht. Ich komme damit auf die volkssprachlichen Elemente der Wörterbücher zu sprechen. Die deutschen Interpretamente lateinischer Lemmata oder folgender lateinischer Erklärungen variieren am stärksten. Hier kann keine Handschrift stellvertretend für eine andere stehen. Die deutschen Entsprechungen sind so unfest, daß es im Hinblick auf den gesamten deutschen Sprachraum oder auch nur für Teilräume keine maßgeblichen Textprägungen gibt. 9 Es läßt sich auf dieser Ebene auch kein kritischer Text herstellen. Neben der sprachlandschaftlichen Vielfalt ist dafür in erster Linie verantwortlich, daß sich das Deutsche nicht auf eine bestimmte Funktion beschränken läßt, etwa die Wiedergabe des Lemmas durch eine einfache, nur eine „Grundbedeutung" aufgreifende und der natürlichen Sprache angehörende (nicht kunstsprachliche) Entsprechung. Das Deutsche durchsetzt den lateinischen Text und verweist meist auf diesen, was in mannigfacher Weise möglich ist. Es ist sein Verweischarakter, der das Deutsche so variabel einsetzbar macht. Leitcharakter hat dagegen das Lateinische. Die Abschreiber können sich daher, soweit es um die deutschen Bestandteile ihrer Vorlagen geht, als kompetente individuelle Sprachbenützer ins Spiel bringen. Sie sind bei weitem weinger an eine vorliegende (schriftliche) Tradition (Wissenstradition) gebunden als beim lateinischen Textteil.

' Beispielsweise erfahrt das Stichwort Ratio in über 150 Textzeugen des .Vocabularius Ex quo' 19 unterschiedliche „Eindeutschungen" (u.a. besebeidenbeit, sprechend! kraft [= virtus icqmni), rede, ursatb, venua/t), die in den meisten Hss. zu zwei- und mehrgliedrigen Wiedergaben miteinander verbunden sind (z. B. ein sprechende c r a f f t nel redelicbkeii). Auf diese Weise kommen insgesamt 42 voneinander abweichende Entsprechungen zustande. Von den 19 unterschiedlichen „Eindeutschungen" wird die Textausgabe 10 enthalten. Folgende 9 würden erst durch ein zusätzliches Glossar erfaßt: bescheidenbeit, sprechtlicb kraft, eigenspreebende kraft, spreebige ktmst, recbmmg, sprechende rede, sprechbeit, nrsacb, sprechend Vernunft.

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Klaus Kirchert

Auf die Frage, wie werden im ,Vocabularius Ex quo' lateinische Begriffe eingedeutscht, oder allgemeiner, wie wird die Volkssprache eingesetzt, kann man nur antworten, wenn man jeweils sämtliche Textzeugen heranzieht. Es gibt keine irgendwie begrenzte Handschriftenauswahl, die eine Aussage erlaubte, die auch auf die nicht berücksichtigten Textzeugen übertragbar wäre. Die Handschriften der Edition können in dieser Hinsicht nicht für die durch sie repräsentierten Fassungen oder Textstufen stehen. Das hat zur Folge, daß die Edition trotz der Mitteilung sämtlicher lexikalischer Varianten von 36 Textzeugen nur „auf einem Bein steht". Nochmals: Die so verzeichnete Varianz sagt nichts aus über die entsprechenden Verhältnisse in den Textzeugen, die für die Edition nicht herangezogen wurden, aber doch Angehörige der Textgestaltungen sind, die die Edition bietet. Um die Edition „auf zwei Beine zu stellen", soll sie von einem Verzeichnis der Verdeutschungen aller dieser Handschriften begleitet werden. Ein solches Verzeichnis ist als integraler Bestandteil der Edition zu betrachten und nicht bloß als willkommene Ergänzung, auf die man zur Not verzichten kann. Der beschriebene Sachverhalt ist nicht auf Glossare beschränkt, er gilt modifiziert, auch für die ,Rechtssumme' und für die elsässische ,Legenda Aurea'. Im Bereich der Gebrauchsprosa, in dem sich das einzelne Werk erst durch Überlieferung konstituiert, kommt der lexikalischen Varianz (im Deutschen) eine andere Bedeutung zu als bei einem poetischen Autortext, dessen Tradierung das künstlerische Original bestenfalls bewahren kann. Die lexikalische Varianz ist demnach integraler Bestandteil des dynamischen Werkganzen. Damit ist ein weiteres Charakteristikum spätmittelalterlicher Gebrauchsprosa erfaßt. Editionen von Werken dieser Art müssen also das, was herkömmlicherweise ein Wortschatzregister ist, als Bestandteil des Textes, der die Überlieferung repräsentativ abbilden soll, organisch einbeziehen. Dabei müssen neue Wege der Darbietung beschritten werden. 4. Zur Korpusvarianz Der Überlieferungsbefund der elsässischen .Legenda Aurea' rückte ein Phänomen der Textmutation in den Mittelpunkt, das der Makroebene von Veränderungen angehört. Ich spreche von der Korpusvarianz. Die Werkdynamik spielt sich hier vor allem auf der Korpusebene ab, während die einzelnen Legenden in sich weitgehend konstant überliefert werden. Es kam somit nicht zur Ausprägung wirkungsmächtiger Fassungen wie bei den Vokabularien oder bei der ,Rechtssumme'. Dies mag mit der religiösen Dignität des Textes zusammenhängen. Sie könnte ihn vor massiven Eingrif-

Text und Textgeschichte

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fen bewahrt haben. Wesentlich kommt aber hinzu, daß gerade der Bestand an Heiligen im Rahmen einer Sammlung sich als wichtigste gebrauchsabhängige und damit instabilste Größe erweist. Offen und unfest ist die Sammlung als Ganzes. Legenden wurden umgestellt, angehängt, eingefügt, weggelassen oder ausgetauscht. Außerdem konnten sie als Bausteine anders angelegter und geordneter Sammlungen dienen. Kein Überlieferungsträger der elsässischen .Legenda Aurea' gleicht in Abfolge und Anzahl der Legenden einem anderen. Die erste Frage lautet daher nicht, welche Textform soll ich edieren, sondern welche Legenden wähle ich für die Edition aus und wie trage ich dabei der Dynamik auf der Korpusebene Rechnung. Sie kennen die Antwort, denn die Edition ist erschienen. Dem Normalkorpus, dem Ausgangsbestand an Legenden, folgte ein eigener Band, der das Sondergut enthält, also die Legenden, die sich im Laufe der Überlieferung anund eingelagert haben oder in anderer Weise mit ihm kombiniert wurden. Daß hierbei das Problem auftauchte, wie unterscheide ich dem ursprünglichen Bestand zugewachsene, mit ihm zu einer festeren Einheit verschmolzene Legenden von bloßer hagiographischer Mitüberlieferung, und daß dieses Problem nicht restlos zu lösen war, sei nur erwähnt. Methodisch entspricht der editorische Lösungsversuch durchaus dem überlieferungsgeschichtlichen Ansatz. Nur zielt dieser im Fall der elsässischen .Legenda Aurea' auf die unfeste Makro- oder Rahmenstruktur des Werkes, auf seine variierende Zusammensetzung aus größeren Texteinheiten (Bauteilen). Die Edition des Sondergutes gibt mir - angesichts befremdlicher Reaktionen auf den Band - noch zu einer Bemerkung Anlaß. Der Überlieferungsbefund für die gruppenweise oder einzeln hinzugekommenen Legenden differiert selbstverständlich. Es rührt daher, daß deren Text jeweils nach unterschiedlichem Verfahren geboten wird. Hier macht sich der überlieferungsgeschichtliche Ansatz auf der Ebene der Textdarbietung bemerkbar. Normalkorpus und Sondergut der elsässischen .Legenda Aurea' stellen noch nicht die vollständige Edition dar. Ein Register lexikalischer Varianten wird als integraler Bestandteil hinzukommen. Führten die Veränderungen im Binnenbereich der Legenden auch nicht zu neuen Textformen (Textgestalten), so handelt es sich dennoch um textgeschichtliche Sachverhalte, die zu einem vollständigen Bild komplexer Textdynamik gehören.

5. Zur Bedeutung des Autortextes Bislang war nur von anonym entstandenen Texten die Rede. Es läßt sich jedoch nicht vermeiden, auf das vieldiskutierte Thema des Autortextes einzugehen. Für die ,Rechtssumme' und die Wörterbücher von Closener und Twinger sind uns Autoren überliefert. Fritsche Closener und Jakob Twinger von

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Königshofen sind zudem historisch gut bezeugte Personen.10 Mir scheint es jedoch sehr wichtig, nicht unterschiedslos von Autortext zu sprechen. In unserem Zusammenhang müssen wir uns vergegenwärtigen, daß es sich nicht um poetischen Originaltext handelt, nicht um eine schöpferische Textgenese mit einem guten Anteil „kreativer Autonomie". Auch spielen ästhetische Qualitäten keine Rolle. Fragen nach dem künstlerischen Wert stellen sich nicht, der autorbezeugte Gebrauchstext kann nicht für sich betrachtet werden." Er besitzt primär Quellencharakter. In ihm manifestieren sich ausschließlich kulturgeschichtliche Phänomene, um deren Erforschung es uns geht. Das heißt nicht, daß wir Texte in Informationspartikel zerlegen, die wir gesondert verfolgen, lexte interessieren uns als funktionale Einheiten. Der Autortext steht daher nicht notwendigerweise im Mittelpunkt editorischen Bemühens, was nicht heißen muß, daß er verschmäht wird, wo er erreichbar ist. Ihm kommt die Bedeutung der Erstfassung zu. Handelt es sich gar um einen bekannten Verfasser, können wir den Ausgangstext meist zeitlich und räumlich präzise einordnen, ihn mit dem Wirken des Autors verbinden, in Beziehung zu anderen Werken setzen, einen Zugang zum ursprünglichen „Sitz des Textes im Leben" erhalten. Derartige verwertbare historische Daten stehen beispielsweise für das Wörterbuch des in Straßburg wirkenden Geistlichen Jakob Twinger von Königshofen zur Verfügung, während wir beim anonym entstandenen ,Vocabularius Ex quo' im Hinblick auf die Entstehungsumstände nicht über derartige Informationen verfügen. Darüber hinaus sehe ich aber keine Unterschiede. Die später aus dem Urtext geflossenen Um- und Neubearbeitungen verdienen als Gebrauchsprosa nicht weniger Interesse als das Originalwerk. Ein bezeugter Autor ändert nichts daran, daß erst der gesamte textgeschichtliche Prozeß, dessen Movens der Gebrauch ist, das Werk als historische Gestalt konstituiert. Die .Rechtssumme' Bruder Bertholds bietet sich an, das Gesagte zu belegen (vgl. Dokumentation). Dabei kann ich mich auf einen Beitrag von G. STEER im Sammelband der Forschergruppe stützen.12 Es stand außer Frage, daß das Bemühen um die editorische Erschließung der .Rechtssumme' zunächst dem Text des Autors Berthold zu gelten hat, zumal dieser seine Intentionen im Vorwort deutlich bekundet. Trotz reichhaltiger Überlieferung (über 100 Handschriften und Drucke), trotz Vgl. Die deutsche Literatur des Mittelalters, Verfasserlexikon, 2 IV, Sp. 1225-1235 (Artikel Klosener, Fritsche) und F. HOFINGER: Studien zu den deutschen Chroniken des Fritsche Closener und des Jakob Twinger von Königshofen, Diss. München 1974, S. 20-34. " Was K. GRUBMÜLLER für den .Vocabularius Ex quo' formuliert hat, kann man verallgemeinernd auf den Gcbrauchstext schlechthin übertragen, daß nämlich dessen Bedeutung „nicht darin liegt, daß er geschrieben, sondern daß er benützt wurde und Wirkung ausgeübt hat" (vgl. Anm. 1, S. 50). 12 Vgl. Anm. 1 und 4.

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genauer Kenntnis der Text und Überlieferungsgeschichte und eines gesicherten Stemmas, also überaus günstiger Bedingungen, mußte auf einen durchgehenden Autortext verzichtet werden. Die zahlreichen gewichtigen Differenzen der drei Fassungen, in denen Bertholds Werk sich spiegelt, verstellen dessen verbindliche Rekonstruktion. Massive lextüberarbeitung muß schon unmittelbar nach der Entstehung des Originals dessen Verbreitung bestimmt haben. Auf welche Weise können wir dann aber lextentwicklung nachvollziehen, d.h. den Weg vom Original zu den Fassungen verfolgen? Erst wenn wir dazu in der Lage sind, vermögen wir die großen Überlieferungsstationen der ,Rechtssumme' zu beurteilen und eine wirkungsgeschichtliche Interpretation zu liefern. Die Editoren lösten das Problem, indem sie alles Material mitteilen, mit dessen Hilfe an den Urtext Lesart für Lesart heranzukommen ist. Hierzu bedurfte es eines besonderen Instruments: die lateinische Vorlage Bruder Bertholds, die ,Summa Confessorum' des Johannes von Freiburg, wurde einbezogen. Erst ein Vergleich der drei Fassungen mit dem Quellentext erlaubt es, originale Stellen zu indizieren, bzw. Mutmaßungen über den Autortext zu äußern. Dies geschieht im Rahmen eines Kommentars zur ,Rechtssumme', der damit als Bestandteil der Edition fungiert. Das Ringen um den Autortext als erstes Glied der Textgeschichte hat hier große Ausmaße angenommen. Nur auf diese Weise gelang es, die wirkungsgeschichtliche Vitalität der .Rechtssumme' von ihrer Entstehung über vorredaktionelle Zwischenstufen zu den wirkungsmächtigen redaktionellen Ausformungen und von dort weiter bis in die postredaktionellen Verästelungen hinein nachzuzeichnen. Letzteres leistet ein Verzeichnis sequentiell angeordneter textgeschichtlicher Lesarten, das wie bei den anderen Editionen Bestandteil auch dieser Textausgabe ist. Das Wörterbuch von Twinger liegt uns nicht nur als ursprüngliche Autorfassung vor, sondern darüber hinaus in zwei vom Autor selbst vorgenommenen Überarbeitungen (vgl. Dokumentation). Es handelt sich gewissermaßen um vermehrte und verbesserte Auflagen, die editorisch auch darstellbar sind. Besteht dadurch ein entscheidender Unterschied zur ,Rechtssumme' oder zu den anonym überlieferten Vokabularen oder Legendären? Haben wir es grundsätzlich mit einem Text und einer Überlieferung anderen Typs zu tun? Das ist nicht der Fall. Auch dieses Werk wächst im Medium des Gebrauchs. Schon die Erstfassung ist gegenüber ihrer Primärquelle, dem Glossar von Fritsche Closener, eine solche Wachstumsstufe. Twinger kann als Redaktor von Closener und als permanenter Redaktor seiner eigenen Erstredaktion betrachtet werden. Er selbst muß im Prozeß der Vermittlung von Wissen aktiv gewesen sein und sich dabei verändernden (steigenden) Ansprüchen gestellt haben. Wir treffen auf dieselben Bedingungen für die lextdynamik wie bei den anderen Werken. Das Wörterbuch von Twinger ist ein unfester, lebender Autortext. Grundlegende Unterschiede zu anderen Gebrauchstexten bestehen damit nicht. Die

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autorgebundene Textentwicklung ist zudem von einer anonymen Weiterbildung überlagert. Die Vorgänge sind gut durchschaubar und lassen sich voneinander abgrenzen. Daß die Ausgabe das Wörterbuch von Closener und die drei Fassungen von Twingers Hand darbieten muß, ergibt sich bereits daraus, daß sich die autorexternen Veränderungen nur auf der Basis der autorgebundenen darstellen lassen. Auf die Frage, inwieweit die autorexternen Textveränderungen einzubeziehen sind, war aufgrund des textgeschichtlichen Befundes zu antworten. Ich traf die Entscheidung, nur das zu berücksichtigen, was sich an vorhandene Wortartikel an- oder in sie eingelagert hat, und das auch nur in Form von Apparatangaben, alle neu eingefügten Wortartikel aber wegzulassen. Dieses Vorgehen ist dreifach begründet. Zum ersten entstammt das autorexterne Material weitgehend dem ,Vocabularius Ex quo', der editorisch parallel aufbereitet wird. Zweitens ist zu beachten, daß der wirkungsgeschichtliche Aspekt der Definition einer Fassung oder Redaktion aufgrund der schmalen Überlieferung von Closener und Twinger (sie entspricht ihrem Umfang nach etwa einer kleinen ,Ex quo'-Fassung) nur in bescheidenem Maße gegeben ist. Drittens ist das Verhältnis der autorgebundenen zur autorexternen Textgeschichte bei Twinger ungleich. Die autorgebundene steht im Vordergrund, ist nicht nur primär, sondern auch quantitativ und qualitativ bedeutender als die sekundären Kontaminationen mit dem ,Vocabularius Ex quo'. Nur in einem Überlieferungsträger überwuchert die sekundäre Textveränderung die primäre Textgestalt. 13 So erübrigt sich die aufwendige Darstellung des gesamten Materials. Wenn die Edition des .Vocabularius Ex quo' vorliegt, kann in einfacher Weise beschrieben werden, welche Wortartikel auf welche Weise in den Twinger-Text übernommen wurden. Das volkssprachliche lexikalische Material ist wie im Fall des .Vocabularius Ex quo' integraler Bestandteil der Überlieferung. Mit Ausnahme der Verdeutschungen sekundär eingefügter Wortartikel wird es daher vollständig einbezogen. Im Unterschied zum .Vocabularius Ex quo' muß jedoch kein von der Edition losgelöstes Verzeichnis der lexikalischen Varianten angelegt werden. Diese lassen sich vielmehr als Apparat in die Edition integrieren, ohne daß diese dadurch überfrachtet wird. Allein aufgrund der geographisch begrenzten Überlieferung ist die Varianz der deutschen

13

Es handelt sich um ms. 2361 der UB Straßburg. Dieses von Johannes Mirstetter während seines Studiums in Heidelberg im J ahre 1437 geschriebene Vokabular enthält als Grundstock das Twingersche Wörterbuch. Dessen Bestand an Wortartikeln wird durch das ganze Alphabet hindurch mit Hilfe wenigstens zweier weiterer Quellen aufgefüllt. Im Vordergrund steht dabei die schwäbisch-alemannische Redaktion W des .Vocabularius Ex quo'. Auch die Worterklärungen Twingers reichten häufig nicht aus. Weitere Informationen werden angehängt, Verdeutschungen und Merkverse hinzugefügt. Die Hs. macht den Eindruck, als „Arbeits- und Sammelbuch" gedient zu haben.

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Textteile erheblich geringer als bei ,E X quo*. In vielen Fällen läßt sich daher auch in diesem Bereich ein authentischer Text selbst hinsichtlich der Twingerschen Fassungen von sekundären Veränderungen abheben, die dieser in einzelnen Textzeugen erfahren hat. Die Verdeutschungen des kritischen Textes können somit meist beanspruchen, originär zu sein, wogegen der Apparat individuelle und gruppenspezifische Veränderungen enthält, die eine Auseinandersetzung mit dem Autortext bedeuten. Die graphische Ebene bleibt davon selbstverständlich ausgenommen, doch dürfte sich die Schreibweise der oberrheinischen Überlieferungsträger nicht wesentlich von Twingers unterscheiden. 6. Zur editorischen Darstellung von Textveränderung Wesensmerkmal unserer Texte ist ihr steter Wandel. Deutlich zu machen, warum und durch welche editorischen Grundsatzentscheidungen wir dem Rechnung tragen und welche konkrete Gestalt das Editionskonzept je nach Textart und Überlieferungslage annimmt, war bisher mein Anliegen. Dabei kam nicht zu Wort, welche technischen Möglichkeiten sich bieten, Textveränderung editorisch möglichst deutlich sichtbar zu machen. Daß wir dies in unterschiedlicher Weise versuchten, zeigen die Beispiele der Dokumentation. Die Fassungen der,Rechtssumme' werden jeweils vollständig geboten. Sie bleiben alle als Textganzes bestehen. Der Leser muß sich die Unterschiede zwischen ihnen selbst heraussuchen. Das wird ihm freilich leicht gemacht. Die parallel gedruckten Fassungstexte sind zeilengetreu einander gegenübergestellt. Es handelt sich um eine exakte Zeilen-, ja sogar Wortsynopse. Um diese zu erreichen, müssen die Texte der einzelnen Fassungen auseinandergezogen werden. Sie sind deshalb mit Lücken durchsetzt. Statt einem geschlossenen Druckbild erscheint ein durchbrochenes. Satztechnisch wäre dieses Verfahren auf herkömmliche Weise schwer zu verwirklichen gewesen. Der Editor mußte und konnte mit Hilfe der E D V zum Setzer werden. Die Fassungstexte der Vokabulare werden dagegen nicht von A bis Z als Textganzes abgedruckt (vgl. Dokumentation). Das Augenmerk - wörtlich genommen - richtet sich auf die Unterschiede. Angezeigt wird Textänderung, gleichbleibender, unveränderter Text soll möglichst nicht wiederholt werden. Vollständig erscheint nur ein Bezugstext, auf den alle Mutationen ausgerichtet sind. Dadurch entsteht eine Textmontage. Das Prinzip ist von neugermanistischen Editionen her bekannt, in denen der Schaffensprozeß eines Autors unmittelbar zur Anschauung gebracht werden soll. Als Bezugstext der Edition des ,Vocabularius Ex quo' dient die Ausgangsfassung (Redaktion S). Sie erscheint als erster Text, alle weiteren werden in diesen eingeblendet oder „unterhalb" von ihm angeordnet. Dabei

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müssen verschiedene Arten von lextveränderungen durch Zeichen indiziert werden. Freilich belasten editionstechnische Signale, die den Text durchsetzen, dessen Darbietung. Diese beschränken sich daher auf lextauslassung, auf Ersatz und Zusatz. Umstellungen werden nicht markiert, umgestellter lext wird rationellerweise angeführt. Auch ansonsten wird die Montagetechnik nicht zu weit getrieben. Die Edition soll trotz ihrer Informationsfüille benützerfreundlich sein, also ohne die Mühe ständigen Nachschlagens lesbar bleiben. Die Regel, identischen lext nicht zu wiederholen, wird daher zugunsten der Lesbarkeit flexibel gehandhabt. In dieser Hinsicht wurden die Editionsmodelle der Forschergruppe laufend verbessert.14 Ein Blick auf das Editionsbeispiel des Closener- und Twinger-Glossars zeigt, daß die Autorfassungen Twingers ebenfalls „montiert" wurden. Ausgangspunkt für die Darbietung, sozusagen „Leitfassung", ist jedoch nicht die erste, sondern die zweite Fassung. Zu dieser Entscheidung zwangen die ÜberlieferungsVerhältnisse. Die erste Fassung ist nicht durch solche Handschriften bekundet, die aus der Entstehungsheimat des Werkes stammen. Ihre Textzeugen divergieren zudem stärker, eine durchgehende verläßliche Rekonstruktion stößt auf Schwierigkeiten. Außerdem wirkt sie wie ein etwas unfertiger Entwurf. Im Unterschied zur verbesserten zweiten Fassung könnte man sie als Konzept bezeichnen. Die dritte Fassung kommt als „Leitfassung" nicht in Frage, da sie unzureichend bezeugt ist und vermutlich die geringste Verbreitung fand. Das Glossar Closeners ist mit der Edition des Twingerschen verknüpft. Beide Werke sind wortartikelweise mit einem Bück aufeinander beziehbar. Der Closener-Text wird ebenso wie die zweite Fassung Twingers vollständig mitgeteilt (jeweils in der sprachlichen Gestalt einer Leithandschrift). Der Closener-Text und die „Leitfassung" Twingers stehen nicht nebeneinander, sondern untereinander. Die Fassungen Twingers werden, soweit es die Lesbarkeit erlaubt, miteinander verzahnt. Ansonsten sind sie vollständig in vertikaler Abfolge angeordnet. Die Apparate schließen sich unmittelbar dem jeweiligen Wortartikel an. Alle Informationen fügen sich auf diese Weise zu einer leicht überschaubaren Einheit. Die Textmutationen lassen sich sofort ablesen, auch diejenigen, die Closeners Wörterbuch durch Twinger erfahren hat. Der Bestand an Wortartikeln ist durch entsprechende Anordnung und Siglierung ebenfalls auf den ersten Blick erkennbar. Das geschilderte Verfahren der Textmontage stößt sicherlich auch auf Einwände. Ist es zulässig, von Neufassungen nur das Neue abzubilden?

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Die erschienene Ausgabe des ,Liber ordinis rerum' (vgl. Anm. 2) verkörpert ein frühes Stadium, das sich durch Komplexität in der Darstellung von Textentwicklung auszeichnet. Dem Leser, der die versammelte Information voll nützen will, wird eine nicht geringe Einarbeitung abverlangt. Will man dagegen wortkundliche Auskünfte, erhält man sie aufgrund der Register unschwer.

Text und lextgeschichte

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Geht damit nicht der Zusammenhalt mit dem Alten verloren, das ja nur in der einen Gestalt der gewählten „Leitfassung" auftritt? Graphische Abweichungen und Differenzen im Gebrauch syntaktischer Partikel (z.B. .¡.¡scilicet, signatjsignißcat) werden vernachlässigt. Die redaktionellen Bearbeitungen sind nur auf der lexikalischen Ebene vollständig, auf der morphologischen dagegen nicht mehr durchgehend erhalten. Auch die Abfolge der Wortartikel, die in den einzelnen Handschriften und Fassungen ebenso divergiert, wird nicht in die dargestellten fassungsspezifischen Unterschiede aufgenommen. Die Edition vertraut sich hier der Leithandschrift an (im Falle Closener/Twinger werden individuelle Umstellungen der Leithandschrift korrigiert). Das Fazit lautet: Die historische Gestalt keines einzigen Textzeugen bleibt vollständig gewahrt. Ich frage daher nochmals: Ist es berechtigt, die Veränderungen so sehr in den Vordergrund zu stellen, daß häufig nur diese editorisch repräsentiert werden und nicht der gesamte veränderte Text? Die Antwort muß nach Art des jeweiligen Werkes differenziert ausfallen. Es hängt vom Text, von seiner Informations- und Gedankenstruktur ab, davon, was er in welcher Form vermitteln will. Einen fortlaufenden Prosatext wie die .Rechtssumme', einen Text innerer Konsistenz und/oder entsprechender Bedeutsamkeit wird man nicht gerne montieren, d. h. aus textgeschichtlichen Bausteinen zusammensetzen. Bei einem Text, der aus einer Summe von kleinen in sich geschlossenen und selbständigen Einheiten besteht, wie sie die Wortartikel in den meisten Fällen darstellen, scheint mir das Vorgehen unbedenklich, es entspricht in gewisser Weise den Überlieferungsverhältnissen. Die Schreiber und Redaktoren montierten selbst, indem sie Wortartikel beliebig einfugten oder wegließen. Dabei achteten sie häufig nicht einmal auf genaue alphabetische Abfolge. Der Wortartikel ist offen für jede Veränderung, er fungierte gleichsam als Gefäß, das jede Information aufnehmen konnte. Ein verbindliches Schema, was in welche Form gegossen werden mußte, hat es nicht gegeben. Dies rechtfertigt, als maßgebliche historische Realität gewertet, das unmittelbare Sichtbarmachen der Unfestigkeit, des steten Wandels. Das Vorspiegeln einer festen historischen Textgestalt wäre dagegen inadäquat. Sie ist immer nur als eine einzelne Abschrift vorhanden, von der sich die folgende schon wieder deutlich unterscheidet. Erst die Divergenzen, die sich als konstanter erwiesen haben und somit Fassungen kennzeichnen, sind auch im historischen Sinne mitteilenswert. 7. Der Text als Bezugsgröße Die editorische Tätigkeit hat im Bereich der spätmittelalterlichen Gebrauchsprosa das Werk als dynamische Größe in den Blickpunkt gerückt. Dabei besteht die Gefahr, daß es in seiner anderen Dimension, nämlich als

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Bezugsgröße, zu kurz kommt. Was heißt das? So wie das Werk uns in der Edition entgegentritt, ist es immer künstlich isoliert. Bereits in der Handschrift war es in eine meist nicht zufällige und sinnlose Umgebung eingebettet. 15 Twinger selbst hat etwa sein Wörterbuch durch eine Reihe von nachfolgenden kürzeren Verzeichnissen und Textauszügen ergänzt, 16 die zusammen mit dem Vokabular eine größere Informationseinheit bilden, welche sogar in der Überlieferung erhalten blieb. Die unterschiedlichen Werkbereiche sind in den entsprechenden Überlieferungsträgern durch Verweise ausdrücklich miteinander verknüpft. So heißt es in einigen Wortartikeln: Willst du mehr über diesen Sachverhalt wissen, dann schaue am Ende des Buches unter der und der Rubrik nach.17 Bislang haben wir aber kaum je daran gedacht, einen solchen Textverband geschlossen zu edieren.18 Auch über die Handschrift hinaus kann das Werk eine „Koexistenz" mit anderen Werken eingehen und in seinen Konturen von diesen bestimmt sein. K. K U N Z E beschreibt zwei Fälle, in denen der Rahmen hierfür die entsprechende Abteilung der Klosterbibliothek ist. 19 In St. Nikolaus in undis zu Straßburg und im Zisterzienserinnenkloster Lichtental/BadenBaden wurden jeweils drei separat angelegte Legendenkorpora derart miteinander verzahnt, daß sie erst zusammengenommen eine Gebrauchseinheit bildeten. Die Hilfsbegriffe „Sondergut" und „hagiographische Mitüberlieferung" reichen zu deren Beschreibung nicht aus. Editorisch kann man historischen Konzeptionen derartiger Größenordnung und Komplexität nicht mehr genügen. 15

16

17

18

19

Zu dem damit angesprochenen Stichwort der Mitüberlieferung vgl. besonders die Arbeit von H. WECK zur .Rechtssumme' (siehe Anm. 3). Darunter sind Exzerpte aus dem Psalmenkommentar Ludolfs von Sachsen, Zusammenstellungen über christlichc und jüdische Häresien, über jüdische Feste und Monate, ein Überblick über antike Bibelübersetzungen, eine Erklärung der hebräischen, griechischen und lateinischen Bezeichnungen der biblischen Bücher, ein umfänglicheres Bibelglossar in der Reihenfolge der Bücher, Verse über die Tituli der Bibelbücher und über deren Kapitelzahl. Voraus gehen die weit verbreiteten versus notabiies dt raris vocabulis, die mit Est feodum lehn beginnen, und ein Hinweis auf das Abbrühen von Hühnchen und Schweinen. Ich führe ein Beispiel an. Zur Worterklärung des Stichworts Allegorice, das nur in die zweite Fassung Eingang gefunden hat, fügt Twinger den Verweis Requirt injra in fine libri de commendaciotu psalterii. Damit sind die Exzerpte aus dem Psalmenkommentar Ludolfs von Sachsen gemeint, die in den Textzeugen von Fassung 2 dem Wörterbuch folgen. In der Hs. der StB Schlettstadt Cod. 87 tragen sie die Überschrift: Nota dt commendacione libri psalterij et vtilitate legendi et orandi ac psallendi in psalterio (f. 200*). Ein auffallender Mangel ist dies beispielsweise beim ,St. Klara-Buch', einem Corpus aus insgesamt elf Schriften bzw. Schriftkomplexen, die eine überlieferungsgeschichtliche und konzeptionelle Einheit bilden. Die drei Editionen werden diesem Sachverhalt nicht gerecht, da sie jeweils nur einen Teil aus dem Corpus herausgreifen. Vgl. K. RUH: Das St.,KlaraBuch', WissWeish 46, 1983, S. 192-206 (die Editionen sind Anm. 3 aufgeführt). Vgl. die Einleitung zum Sondergut der elsässischen .Leganda Aurea' (siehe Anm. 2), S. X I V ff. Ich verweise auch auf den Beitrag „Zur Bedeutung der Bibliotheksgeschichte für eine Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte" von B. SCHNELL im Sammelband der Forschergruppe (vgl. Anm. 4).

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Hand in Hand mit den Veränderungen des Textes gehen seine wechselnden Gebrauchssituationen und damit seine wechselnden Beziehungen zu anderen Texten. Die „synchrone historische Vernetzung" fügt sich mit der „diachronen historischen Dynamik" zur Einheit unterschiedlicher Aspekte des Textes, die künftig stärkere Beachtung verdient.

Dokumentation Zur Veranschaulichung vor allem des unter Punkt 5 und 6 Gesagten folgen knappe Textbeispiele aus den Editionen der .Rechtssumme' Bruder Bertholds, des .Vocabularius Ex quo* und der Wörterbücher von Fritsche Closener und J a k o b Twinger von Königshofen. Zur .Rechtssumme': Die A-Fassung in der Mitte ist flankiert von der B-Fassung (links) und der C-Fassung (rechts). Die vierte Spalte ist den individuellen Lesarten des Cy-Redaktors vorbehalten. Zum .Vocabularius Ex quo': Die Fassungstexte stehen in vertikaler Abfolge (S, M, Sb3 [ = Textstufe von M], W , I [ = Druckfassung], K, P [ P - E = Textstufe von P], Kh2 [ = Textstufe von P]). Waagrechter Doppelstrich ersetzt das Stichwort. Differenzen innerhalb der Fassungen sind entsprechend markiert (durch „Kringel" fehlender Text, durch Schrägstrich mit vorangehendem Häkchen Textersatz, durch Pluszeichen Textzusatz). Zu den Wörterbüchern von Closener und Twinger: Zählung (der Wortartikel) ohne Sigle weist auf Textentsprechung bei Closener und Twinger. Die Sigle kennzeichnet eingeschränktes Textvorkommen (C = Closener, T = Twinger, T2 = 2. Fassung von Twinger etc.). Textlücke, Textzusatz und Textersatz werden wie bei ,Ex quo' markiert. Textbeispiel 'Vocabularius Ex quo' A133

m s Acinus 'est botrus, ein wintrubel, uel illud durum,

scilicet

lapis, qui est in vua / eyn wyndruf uel illud durum, quod est in vua, scilicet lapis vue B9 Ma3 —

[...] vua, °ein °traubenstein,

°uel 'Acinum

°idem

'(X),

uel secundum aliquos est aqua, cum qua lauantur torcularia vino expresso, quod est potus pauperum, luer, uel vua immatura —

M

est botrus, ein beintrauben, uel illud durum in botro, scilicet granum, uel secundum alios dicitur aqua, cum qua lauatur torcula, et dicitur id potus pauperum, lur



Sb3

est immaturus iotrus uel illud granum durum intra vuam existens, ain win trub uel ain trub stain, 'scilicet

'lapis,

°qui 'est "in "vua °(X), uel Acinum idem, uel secundum aliquos est aqua, cum qua lauantur torcularia expresso vino, que est potus pauperum et proprie ain liSr uel vua inmatura

W

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Klaus Kirchert —

.i. botrus, scilicet granellum illud, quod est in grano vue. Et dicitur ab "acetum", quia habet saporem aceti, et ta penultima. Vnde Grecismus (Grec. acinum, quod in vua cernis acutum;



est botrus,

lapis, qui latet

sit wulgaiiter —

notmost

Y

.t. drubenkern

in vua / + aliqui

est botrus, °en 'windrufel °(P-E),

sten / win stain P-E

vgl. 5

M

W

K

I

dicunt,

quod

K uel illud durum et ama-

rum, quod est in vua, scilicet lapis vue, en



correp-

Vet. XI 137)'. Tu dicas

'wynbern

P

.i. botrus vini, eyn wyn uel eyn vynsten

Kh2

76.2 Acidus Ha3 wyntrube S4 scilicet lapis qui 5 4 ] quod Mai vua] vasa 5 4 , + ein trubelstein Hal, + eyn drube steyn 54 eyn wyndruf] eyn bom, eyn windrufele MaJ durum] + uel amarum Ha3 ein wintrubel bis vua fehlt Dl windrube Ma6 , Weintrauben M19 Drl qui est fehlt Ha6 ein traubenstäin bis idem zit. nach M19 quod Ksl] et Ma6 luer] glawerer D1 immatura Mi 9] immaturata Ma6, fehlt Ksl Ma2 botrus 5 9 2 ] potrus 52 win trub] weintrewbel Mel, wintertrol Sgl, trub Bs9 Me5 trub stain] trewbelstein Mel, truben stein Bs9 scilicet bis vua zit. nach Sgl idem] + neutri generis 2 declinacionis Sgl luer] + trank 52 n s Acinum K4 botrus K4 ] fehlt W13 lapis fehlt K4 Zusatz K 9 ] fehlt latet K4 ] est »13 * weinperkornn Hll K4 * oder tresteren oder per Abi windrufel] drube R1 et amarum fehlt Vo4 BIO vue fehlt Wo4 BIO en wynbern sten] fehlt BIO Brl, berkorn stain Ri Acimus E2 botrus] patrus E2 vua] vina E2 win stain] + oder kern Sol

P P-E

Textbeispiel

Closener/Twinger

T2 T3 ABDITUS

.i.

Absconditus.

V e ] + ab a b d t o ( ! ) - i s q u o d est a b s c o n d e r e v e l remouere in y m p n o ' a d u e n t u s ' p o n i t u r a b d i t i s p r o m a l i s occ u l t i s St I. 16 T

A B D E N A G O V n u s d e t r i b u s p u e r i s , qui f u e r u n t n i s . ' I d e m A z a r i a s . T 2 T l / J d e m Azarias

in c a m i n o

dicitur.

Idem A z a r i a s d i c i t u r U p I ] Idem a s o r i a s d i c i t u r et n i g a s e t c . M g I, in BsI et nach I d e m . hTe] + A b d e n a g o s e r u i e n s r i s i n d e c l i n a b i l e St I.

interpretatur

ig-

T3

masculini

ara-

gene-

Text und lèztgeschichte 17 T

ABDYAS Vnus prophetarua et jnCerpreCatur seruus domini.

18 T

ABDOMEN Pingvedo porcorua.

19

ABEL Filius Ade et interpretatur justus.

69

ABEL Filius Adan, quea Cayn interfecit, et interpretatur iustus uel luctus. + Item Abel est eciaa lapis, super quea ponebatur archa testamenti, ut 2° Regua. T3 Cayn] Chaia SI Dpi Bsl, in HgI -n aus -a oder -a aus -a. Zusatz T3] vgl. Wa 31. quea Dpi] quaa Mgl. He T2] +• Abel est propriua noaen lapidis super quea posita fuit archa doaini IIlud habetur priao regua sexto St 1. 20 T2 T3 ABHOMINACIO VngehAr oder grusel oder widerwertikeit. Wa] steht in T2 nach Wa Abollio (JO), in Bsl nach Abyssus (26). Wa] abhominatio ungehCr grusel ader widerwertikeit B103. grusel] gr&Blich Bl SI S2 (grdlich). 21 C

ABIDOS Insula Europe. Abuda Ss2, Abrida FsI.

22

ABIENA Dennin holcz. Wa] - Bl 13 (Stw Abienus) DnG40. ABIENUS Dennen holcz, adiectiuum ab abies. Stw Dsl] Abienes Ss3, Abietis Sl, Abiens Bsl. Wa] fehlt Bl St I (vgl. Wa anderer Herkunft). We dt.] - BIOI, dennin hocz Dsl, denni holcz Sl S2, + oder daz von tennea holcz gemacht ist Sl, + oder daii oder dz von denimholcz ist S2.

23

ABIES Danne.

70

Klaus Kircheit A 7, A 8

priefter ain yetlichen menfchen in nôten des lebens ablfifen alfi fein pfarrer mit vnderfchaid. De so

priefter einen iegleichen menfchen in n6ten d e j leben; ablöfen recht al3 fein pfarrer mit der vor genanten vnderfchaid.

penitencia d. i. Quem penitet.

Was ablas vnd antlas fey, da3 die priefter chundent. 8.

Dit3 ift, wa3 abla3 oder antlas fei, da3 die priefter chûndent. viij. 8.

Ablas vnd antlas ift ain vergeben vnd ain gelten der p ä j j vnd pein, die ain menfch fchuldig ift für fein fund, vnd wirt ver- s gölten von dem fchac3 der heyligen chirchen. Vnd der fchacj ift d a j edel gät, d t ; vnfer herr Chriftus mit feinem pitteren tod vnd mit feiner grofen marter vns verdient hat, vnd die heyligen martrer 10 mit irem tod vnd marter verdient

Ablaî vnd antla3 ift ein vergeben vnd ein gelten der p&33 vnd pein, die ein menfch fchuldig ift für fein fând, vnd wirt gegolten von dem fchat3 der heiligen kirchen. Vnd der fchat3 ift das eh'g gflt, d a j $nfer herr Chriftus mit feinem pittern tod, vnd mit feiner gro33en marter (n3 verdient hat, vnd die heiligen martrer, mit irem tod vnd mit irr marter,

habent, vnd Chriftus vnd all heyligen mit peten, | mit vaften, mit predigen, mit wallen, mit wachen erarnt habent. Vnd den edlen fchac3 merer vnd großer machent IJ all tag gät lawt mit iren gflten wercken, di fy tfind durch got3 willen vnd mit irem leyden, d a j fi gedultikleich tragen durch got, wann in da3 38 vellet.

vnd Chriftus vnd all heiligen, mit peten vaften, mit predigen, mit wallen, mit wachen erarnet habent. Vnd den edlen fchat3 mern vnd grÔ3jer machent all tag gät iSut mit iren gäten werken, die fi tänt durch gote3 willen vnd mit irem leiden da3 fi gedultikleichen leident durch got.

Vnd vber den fchac3 des edlen gaiftlichen 20 gflc3 hat gewalt der pabft vol-

Vnd iber den fchatî de3 edeln geiftleichen gätej, | da von hat gewalt der pabft vol-

49 fein By 1, VI.

ain Bz tfehlt Wü 1. M /), M 14. PI. M 3. M 25. M6 51 d fehlt M 4

1 oder / vnd Ch 1; Lücke W3, ! 1 4 der pein Di l.Ghl 8 Jhefus Criftus Di I. Ay 10 martir Di 1; marteler Ay. Lücke W 3 12 heiigen /1; fehlt W 3 18 gcduldcncliche

5f. vergolten / gegoltt M6.A.C.B5 8 herr fehlt M 4. By 6, Bx I, Ch 1 Jhefus cri-

Gh 1; gedultig Di 1; duldichliken /1 20 geiftleiche3 11 21 da von / darvbcr W 3.

ftus Byl,

fehlt Ay

Bx2.

H 2. Kl.

Bx I, Bx 6. BS. H2.

By6. A.

M3.

B2.

C/

US.

Wü I, M12 11 marter / martrer M 4; fehlt B1; Lücke By6. Wü 1 IS merer / merend M 6. A.C. Ka / 18 tragen / lidcn vnd tragen Bsl. M20\ leydfl W6. M6. A

4"

iiij"

Klaus Kirchen

71 A 7, A 8

prifter idliche/i menfchen ablófen ais / f i n pfarrer in noten des lebens mil vnteiTchaid. De io penitencia d. j. Quem penitet.

Was ablas vnd antlas fey, das die priefter chündent. viij. 8. A b l a f j vnd a n t l a f j ift ain vergeben vnd ain gelten der p u f j vnd pene, die ain menfch fchiildig ift für fein fiind, vnd wirt ge- i gölten von dem fchat3 der heiligen kirchen. Vnd der fchat3 in das edel gut, vnrer herre Jhefus Criftus der mit feinem pittern tod vns verdinet hat, vnd die heiligen martrer io auch mit irer marter verdint haben vnd Crirtus vnd all heiligen mit predigen, mit peten, mit väften vnd andern guten wercken er arnt habent. Vnd den edeln fchat3 merent vnd gröffer machent| 15 alle tag all feiig leiit mit iren guten wercken, die Tie ton durch gots willen vnd mit irem leiden, das fie gedultiglichen tragen durch got3 willen, wann in das 3uvellet. Vnd vber den fchat3 des gaiftlichen 20 gut3 hat gewalt volliglichen der 48 idlichem M13 49 fein Cy (ein CyS. Cy 6), A. B/ ain Cx. M6 in (in den H4. Cy 4) noten des lebens Cy. A. B, M6, fehlt Cx SO mut M13

10 vns Cy. A. B, M 6 / vns das Cx (Lücke Cx 7) 11 auch mit irer marter Cx (Lücke CxT)/ mit irm lode (iren toden H4, CyS) auch (fehlt

Cy6) Cy (Lücke N1, M 7)\ mit irem tod vnd mit irr (mit irr fehlt B. M6) marter A.B. M 6 14 der arnt M13. ¡2

habent Cy (fehlt Cr 1.

Lücke Kl I), A. B. M6. fehlt Cx (Lücke Cx 7) 4"

6f. kirchen / chriftenhait Cy

lOf. die . . . 11 marter / martrer mit irm tode Cy6) auch (fehlt Cy6) M 7) 13 vnd mit Ba 1) andern Cy 16 alle tag / tagleich Cy 14

auch die hailigen (iren toden H 4, Cy (Lücke N1. (KU; fehlt Cy 3.

Christoph

DAXELMÜLLER

(Göttingen)

Auctoritas, subjektive Wahrnehmung und erzählte Wirklichkeit Das Exemplum als Gattung und Methode Trotz der langen, zuletzt 1982 von Claude Bremond, Jacques Le Goff und Jean-Claude Schmitt kritisch gewürdigten Forschungsgeschichte steht eine verbindliche, allen, d. h. insbesondere historischen Entwicklungen und inhaltlichen Ansprüchen genügende Definition des exemplum weiterhin aus1. Wo Bestimmungsversuche erarbeitet wurden, beruhten sie entweder auf dem Verständnis einzelner mittelalterlicher, bzw. nachmittelalterlicher Autoren und Exempelsammlungen2, auf der — funktional eingegrenzten Inanspruchnahme innerhalb bestimmter Literaturgattungen, hier vorrangig des homiletischen Schrifttums3, oder auf dem Exempelgebrauch fest umrissener Zeitperioden4 und nicht zuletzt in der konfessionellen Literatur seit 1

2

3

4

Claude Bremond - Jacques Le G o f f - Jean-Claude Schmitt: L' „Exemplum" ( = Typologie des Sources du Moyen Age Occidental, Fase. 40). Brepols 1982, S. 27-38 mit ausfuhrlichem Literaturverzeichnis S. 17-26; vgl. ferner Rudolf Schenda: Stand und Aufgaben der Exemplaforschung. In: Fabula. Zeitschrift fur Erzählforschung 10 (1969), S. 69-85. z.B. Thomas Frederick Crane: The Exempla or Illustrative Stories from the Sermones Vulgares of Jacques de Vitry ( = The Folk-Lore-Society Publications XXVI). London 1890; ders. (Hg.): Liber de Miraculis Sanctae Dei Genitricis Mariae. Published at Vienna, in 1731 by Bernard Pez, O. S. B. ( = Cornell University Studies in Romanic Languages and Literature, Vol. I). Ithaca/London/Oxford 1925; Goswin Frenken: Die Exempla des Jacob von Vitry. Ein Beitrag zur Geschichte der Erzählungsliteratur des Mittelalters. In: Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters, Bd. 5, Heft 1, München 1914; Albert Lecoy de la Marche: Anecdotes Historiques. Légendes et Apologues tirés du recueil inédit d'Etienne de Bourbon, Dominicain du XIIIe siècle. Paris 1877; Jacques Theodore Welten L'exemplum dans la littérature religieuse et didactique du Moyen Age. Paris/Toulouse 1927; ders.: La Tabula Exemplorum secundum ordinem alphabeti. Recueil d'exempla compilé en France à la fin du XIII* siècle. Paris/Toulouse 1926; ders.: Le Speculum Laicorum. Edition d'une collection d'exempla, composée en Angleterre à la fin du XIIIe siècle. Paris 1914. Elfriede Moser-Rath: Predigtmärlcin der Barockzeit. Exempel, Sage, Schwank und Fabel in geistlichen Quellen des oberdeutschen Raumes ( = Supplement-Serie zu Fabula, Reihe A: Texte, Bd. 5). Berlin 1964; Ernst Heinrich Rehermann: Das Predigtexempel bei protestantischen Theologen des 16. und 17. Jahrhunderts (=Schriften zur niederdeutschen Volkskunde, Bd. 8). Göttingen 1977; Anne Riising: Danmarks middelalderlige przdiken. Kebenhavn 1969. Bremond - Le Goff - Schmitt (wie Anm. 1) beschränken sich ausschließlich auf das mittelalterliche exemplum; ähnlich auch J. A. Mosher: The Exemplum in the Early Religious and Didactic Literature. New York 1911.

Auctoritas, subjektive Wahrnehmung und erzählte Wirklichkeit

73

der Reformation5. Im Vergleich mit diesen Studien nimmt sich hingegen die Zahl der Übersichtsdarstellungen, die sowohl synchrone Strukturen wie diachrone Verläufe berücksichtigen, eher bescheiden aus6. 1. Forschungssituation Erschwerend wirkt sich zudem die Vielfalt der an das exemplum herangetragenen Intentionen aus. Die spezifischen Forschungsinteressen seitens der Rhetorik7, der Gattungsgeschichte und Literaturwissenschaft8, der Homiletik und ihres gegenwärtigen Interesses an einer narrativen Theologie9, der Kulturwissenschaft10 und schließlich der volkskundlichen Erzählfor-

Zur reformatorischen und protestantischen Exempel- und Erzählliteratur s. Wolfgang Brückner (Hg.): Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus. Berlin 1974; ferner Heidemarie Schade: Das Promptuarium Exemplorum des Andreas Hondorfif. Volkskundliche Studien zum protestantischen Predigtexempel im 16. Jahrhundert. Phil. Diss. Frankfurt a. M. 1966; dies.: Andreas Hondorffs Promptuarium Exemplorum. In: Wolfgang Brückner: Volkserzählung und Reformation, S. 647-703. Zum katholischen, insbesondere jesuitischen Exempelgebrauch s. Rainer Alsheimer: Das Magnum Speculum Exemplorum als Ausgangspunkt populärer Erzähltraditionen. Studien zu seiner Wirkungsgeschichte in Polen und Rußland ( = Europäische Hochschulschriften, Reihe XIX, Bd. 3). Bern/Frankfurt a. M. 1971; Gudrun Hahner: Der Exempelgebrauch im Lauretanum Mariale des Laurentinus Lemmer ( = Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte, Bd. 18). Würzburg 1984; Wassilia von Hinten: Wundererzählungen als Exempel bei dem Jesuiten C. G. Rosignoli. In: Jahrbuch für Volkskunde N. F. 3 (1980), S. 65-74; Wolfram Metzger: Beispielkatechese der Gegenreformation. Georg Voglers „Catechismus in Außerlesenen Exempeln" Würzburg 1625 ( = Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte, Bd. 8). Würzburg 1982; Alois Schneider: Narrative Anleitungen zur praxis pietatis im Barock. Dargelegt am Exempelgebrauch in den „Iudicia Divina" des Jesuiten Georg Stengel (1584-1651). Mit einem Exempelkatalog ( = Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte, Bd. 11-12). Würzburg 1982. 6 Christoph Daxelmüller: Exemplum. In: Enzyklopädie des Märchens Bd. 4, Lfg. 2/3 (Berlin/ New York 1983), Sp. 627-649; einen guten Überblick über die mittelalterlichen, bzw. nachmittelalterlichen Exempelsammlungen vermitteln die Beiträge von Michael Chesnutt und Wolfgang Brückner ebda. Sp. 592-626. 7 s. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. 2 Bde., München 1960; ferner Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970. 8 vgl. etwa Fritz Peter Knapp: Similitudo. Stil- und Erzählfunktion von Vergleich und Exempel in der lateinischen, französischen und deutschen Großepik des Hochmittelalters ( = Philologica Germanica 2), Bd. I. Wien/Stuttgart 1975, S. 76-92. ' s. Wolfgang Brückner: „Narrativistik". Versuch einer Kenntnisnahme theologischer Erzählforschung. In: Fabula. Zeitschrift für Erzählforschung 20 (1979), S. 18-33. 10 vgl. z. B. Edda Fischer: Die „Disquisitionum magicarum libri sex" von Martin Delrio als gegenreformatorische Exempel-Quelle. Phil. Diss. Frankfurt a. M. 1975; Juliane Matuszak: Das Speculum Exemplorum als Quelle volkstümlicher Glaubensvorstellungen des Spätmittelalters ( = Quellen und Studien zur Volkskunde, Bd. 8). Siegburg 1967. 5

74

Christoph Daxelmüller

schling11 trugen das ihre dazu bei, um zwar zu nuancierten, jedoch untereinander eher verwirrenden denn klärenden Begriffsbestimmungen zu fuhren. Die Tradition einseitig betriebener Forschung, die es nicht selten bei der Untersuchung eines einzigen Autors oder einer Exempelsammlung beließ und daraus dennoch definitorische Allgemeinverbindlich keit ableitete, wird spätestens bei der Analyse des hierfür ausgewählten Objekts, nämlich der ausschließlich religiösen und insbesondere der homiletischen Literatur deutlich. Denn funktionale Kategorisierungen und inhaltliche Definitionen des ,exemplum als religiös-moralische Beispielerzählung, als „didaktische Proposition mit moralisierender Tendenz"12 waren die Folge und enthielten die Gefahr eines Zirkelschlusses, in dem sich nicht nur die Forschungsgeschichte der Texteditionen widerspiegelt, sondern der in einer solchermaßen zwischen Utilitätsprinzip und dem Postulat narrativer Techniken betriebenen Exempelforschung hermeneutische Grundmuster erkennen läßt, die unschwer mit dem aufgeklärten, säkularisierten Denken des 19. Jahrhunderts in Verbindung zu bringen sind, das zwischen religiös determinierter wissenschaftlicher Literatur, in der sich die Theozentrik mittelalterlicher und nachmittelalterlicher Weltsicht manifestierte, und dem religiös-pragmatischen Schrifttum der Predigt- und Erbauungswerke nicht mehr zu scheiden vermochte13. So verwundern heute schlüssig erscheinende Definitionen wie die Siegfried Wenzels, exemplum sei „the very brief narrative told to illustrate a particular moral", nicht14. Die volkskundliche Erzählforschung mag es hier in ihrem Interesse am exemplum, solange es sich um eine erzählerische Kleinform handelt, relativ einfach haben. Albert Wesselski hatte durch seine profunde Kenntnis der mittelalterlichen Mönchsliteratur15 auf die Bedeutung der schriftlichen

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Alsheimer (wie Anm. 5), Brückner (wie Anm. 5), Daxelmüller (wie Anm. 6), Fischer (wie Anm. 10), Hahner (wie Anm. 5), Hinten (wie Anm. 5), Metzger (wie Anm. 5), Schade (wie Anm. 5), Schenda (wie Anm. 1), Schneider (wie Anm. 5) sowie Moser-Rath (wie Anm. 3) und Rehermann (wie Anm. 3); vgl. ferner Wolfgang Beck: Protestantischer Exempelgebrauch am Beispiel der Erbauungsbücher Johann Jacob Othos. Versuch einer methodischen Anleitung. In: Jahrbuch für Volkskunde N.F. 3 (1980), S. 75-88. Schenda (wie Anm. 1), S. 81. Es wäre eine lohnende Aufgabe, dem Problem nachzugehen, inwieweit sich diese begriffliche Einengung des exemplum auf das religiös-erbauliche Beispiel nicht aus der durchwegs negativen Einstellung zu dem etwa von Verlagen wie Manz (Regensburg), Benziger (Einsiedeln) oder Pustet (Regensburg) massenhaft produzierten religiösen Trivialschrifttum ergab. Siegfried Wenzel: The sin of sloth. Acedia in Medieval Thought and Literature. 2. Aufl., Chapel Hill 1967, S. 109. Albert Wesselski: Mönchslatein. Erzählungen aus geistlichen Schriften des XIII. Jahrhunderts. Leipzig 1909; ders.: Märchen des Mittelalters. Berlin 1925; ders.: Erlesenes. Prag 1928; ders.: Klaret und sein Glossator. Böhmische Volks- und Mönchsmärlein im Mittelalter. Brünn/Prag/Leipzig/Wien 1936.

Auctoritas, subjektive Wahrnehmung und erzählte Wirklichkeit

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Fixierung und Tradierung von seit dem 19. Jahrhundert als populär betrachteten Erzählstoffen hingewiesen und damit in Gegensatz und Ergänzung zur Finnischen Schule und der geographisch-historischen Methode einer einseitig an der Oralität von Volkskultur haftenden Forschungsideologie mit der Existenz der Erzählliteratur indirekt auch die Kultur der Gelehrten als Ausgangspunkt mündlicher Überlieferungen entgegengestellt. Doch auch hier erlaubte das ausgewertete Material die Vorstellung vom religiösen Erzählgut, vom - bestenfalls profanisierbären - Schatz der Exempelsammlungen an Heiligenlegenden und Dämonengeschichten im Rahmen einer christlichen Anthropologie. Man betrachtete das religiöse Schrifttum als Fundgrube von vermeintlich volkstümlichen Erzählungen und erstellte für sie mit Motivnummern versehene Kataloge16. Doch dem Erkenntniswert solcher Registrierungen sind zumal dann, wenn man sich mit der Klassifizierung des exemplum als narrativer Kleinform religiös-moralischen Inhalts begnügt, qualitative wie quantitative Grenzen gesetzt. „Exemplum gleich religiöse Beispielgeschichte", das bedeutet, so Wolfgang Brückner mit Recht, eine „verengende Kategorisierung" 17 . An der heute recht diffus erscheinenden Begriffsbildung aber sind nicht zuletzt die exempla benutzenden Verfasser selbst schuld. Kaum einer von ihnen verzichtete auf eine im Vorwort seines Werkes wenigstens kurz skizzierte Exempeltheorie; doch bereits ein synoptischer Blick auf die Begrifflichkeit und Anwendungspraxis verschiedener Autoren zeigt individuelle Verfahrensweisen. Dem Mittelalter fehlte nicht nur eine allseits verbindliche Exempeldefinition, sondern vor allem eine ausführliche Theorie18, während andererseits über die Pragmatik Einigkeit herrschte: den gemeinsamen Nenner bildete wie auch im Nachmittelalter die Utilität. Augustinus definierte das Paradigma als „narratio per exempla, hortans aliquem aut deterrens"19, Gregor d. Gr. (um 540-604) maß den exempla größere Überzeugungskraft als gelehrten Worten zu: „Sed quia nonnumquam mentes audientium plus exempla fidelium quam docentium verba convertunf™. Ähnlich hieß es in nachmittelalterlicher Zeit: „Exempla plus faciunt quam praeeepta"21 oder „Exemplorum magna vis est"22. John Esten Keller: Motif-Index of Mediaeval Spanish Exempla. Knoxville, Tennessee 1949; Frederic C. Tubach: Index Exemplorum. A Handbook of Medieval Religious Tales ( = FF Communications No. 204). Helsinki 1981. 17 Wolfgang Brückner: Historien und Historie. Erzählliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts als Forschungsaufgabe. In: ders. (Hg.): Volkserzählung und Reformation (wie Anm. 5), S. 13-123, hier S. 22. 18 vgl. Peter Assion: Das Exempel als agitatorische Gattung. Zu Form und Funktion der kurzen Beispielgeschichte. In: Fabula. Zeitschrift für Erzählforschung 19 (1978), S. 225-240, hier S. 229. " De doctrina Christiana IV, 6. » Migne, PL 76, 1290. CR 17, 653. " CR 11, 439; vgl. Brückner: Historien und Historie (wie Anm. 17), S. 43-44. 16

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Christoph Daxelm iiiler

Da es kaum eine Abstraktion gibt, die sich nicht durch das exemplum vergegenständlichen ließe, verwundert es nicht, daß sich auch diese Aussagen in Geschichte(n) übersetzen lassen. Unter Bezug auf Beda Venerabiiis (672-735) referierte Humbert de Romans (um 1200-1277), ein gebildeter Bischof habe durch gelehrte Worte bei der Missionierung der Angeln nichts erreicht (utens subtilitate in praedicacionibus nicbilprofuit). Daraufhin sei ein sehr viel weniger gebildeter Kleriker ausgesandt worden, dem es durch die Verwendung von exempla und Parabeln gelungen sei, beinahe ganz England zu bekehren ( Missus est alius minoris literature sed carior et utens exe m plis et parabolis in sermonibus suis fere totam Angliam convertit)23. 2. Die Klammer des pragmatischen Bildungsideals. Antikes und mittelalterliches Exempelverständnis Das mittelalterliche Exempelverständnis konstituierte sich gleichermaßen in der Tradition wie in der Auseinandersetzung mit den antiken Rhetoriklehren, wie sie in den rhetorischen Schriften Cicero's (106-43 v.Chr.), in der Cicero zugeschriebenen „Rhetorica ad Herennium", vor allem aber in den zwölf Büchern der „Institutio oratoria" des Marcus Fabius Quintiiianus (um 35 - um 96 n. Chr.) niedergeschrieben, durch die Handbuchtradition der Antike, durch Tertullian (um 160 - nach 220), durch spätantike Rhetoriker wie Julius Victor, Fortunatianus oder Martianus Capeila (alle 4. Jh. n. Chr.), durch die Kirchenväter, z. B. Augustinus (354-430), dem Abendland vermittelt worden waren24. Claude Bremond, Jacques Le Goff und Jean-Claude Schmitt stellen zwischen den antiken und den mittelalterlichen Auffassungen vom exemplum „une évolution essentielle" fest25, womit sie hinsichtlich der Inhalte sicherlich Recht haben. Doch dies reicht nicht aus, um einen Gegensatz zu rekonstruieren.

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Welter: L'exemplum (wie Anm. 2), S. 17, num. 11; vgl. Bremond - Le Goff - Schmitt (wie Anm. 1), S. 50. Zum antiken exemplum vgl. u. a. Karl Alewell: Über das rhetorische Paradeigma. Theorie, Beispielsammlungen, Verwendung in der römischen Literatur der Kaiserzeit. Phil. Diss. Kiel 1913; Karl Barwick: Das rednerische Bildungsideal Ciceros ( = Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Phil.-hist. Klasse, Bd. 54, Heft 3). Berlin 1963; Harry Caplan: Classical Rhetoric and the Médiéval Theory of Preaching. In: Spéculum 4 (1929), S. 282-290; Manfred Fuhrmann: Das Exemplum in der antiken Rhetorik. In: Reinhart Koselleck - Wolf-Dieter Stempel (Hg.): Geschichte - Ereignis und Erzählung ( = Poetik und Hermeneutik V). München 1973, S. 449-452; Rhétorique et histoire. L'exemplum et le modèle de comportement dans le discours antique et médiéval. Table Ronde organisée par l'Ecole Française de Rome (le 18 mai 1979). In: Mélanges de l'Ecole Française de Rome 92 (1980), S. 9-179. Bremond - Le Goff - Schmitt (wie Anm. 1), S. 29.

Auctoritas, subjektive Wihmehmung und «zählte Wirklichkeit

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Der Begriff „exemplum" entstammte in seiner Bedeutung als „Warenprobe" ursprünglich der lateinischen Wirtschaftssprache und bezeichnete in übertragenem Sinne, etwa in der Gerichtsrede, die „Probe" herausragender menschlicher Eigenschaften positiver und negativer Art. Täten und Leistungen, die über das Wesen eines Menschen Aufschluß geben, dienten als Beleg für Tugenden (virtutes) und Laster (vitia); nicht die Person, sondern deren Moral stand im Vordergrund des Interesses der exempte*. Solche ,j»irtutis exempta" entstammten dem Familienbereich (exempla domestica), wurden dort vorrangig für die Erziehung eingesetzt, später im Zuge der römischen Auseinandersetzung mit der griechischen Ethik jedoch in die philosophische Disputation übernommen27. Aus dem in der Familientradition angewandten exemplum entwickelte sich somit das allgemeingültige ethische Beispiel des Vorbildhaften; exemplum konnte nun sowohl die Tat selbst als auch den Bericht davon bezeichnen28. Gerade in die diffizile rhetorische Diskussion um den Inhalt des exemplum, etwa durch Quintilian, der zwischen den historischen und den poetischen exempla unterschied29 und dadurch die Dreiteilung der „Rhetorica ad Herennium" in fabula, historia und argumentum modifizierte30, griff das Mittelalter ein, setzte sich mit seiner Suche nach der Seriosität von Wahrhaftigkeit in ihrer von der historia bis zur fabula gestuften Erscheinungsform immer wieder mit dem antiken Verständnis auseinander, ohne sich von diesem lösen zu können. Cicero's Definition des exemplum als ein Element, „quod rem auetoritate aut casu alieuius hominis aut negotii confirmât aut infirmât"31, wirkte sich ebenso wie die „Rhetorica ad Herennium", nach der es „alieuius facti aut dicti praeteriti cum certi auctoris nomine propositio" sei32, nachhaltig

s. Hildegard Kornhardt: Exemplum. Eine bedeutungsgeschichtliche Studie. Phil. Diss. Göttingen 1936, S. 13-14; vgl. auch Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 5. Aufl., Bern/München 1965, S. 69. 27 z. B.Quintilian: Institutionis oratoriae libri X I I (ed. Helmut Rahn, Darmstadt 1975), 12, 2, 29-30. 2 8 vgl. Kornhardt (wie Anm. 26), S. 2 0 - 3 4 . » Quintilian 5, 11, 6 - 8 ; 17-21. 3 0 „Fabula est, quae neque veras neque veri similes continet res, ut eae sunt, quae tragoedis traditae sunt. Historia est gesta res, sed ab aetatis nostrae memoria remota. Argumentum est ficta res, quae tarnen ficri potuit velut argumenta comoediarum"; Rhetorica ad Herennium 1, 8, 13. Eine ähnliche Dreiteilung vollzog Etienne de Bourbon im „Tractatus de diversis materiis praedicabilibus". E r unterschied zwischen den aus der Heiligen Schrift und den Bibelkommentaren genommenen auetoritates, den raciones und den exempla; letztere besäßen folgende Vorzüge: sie machten eine Lehre leichter verständlich (ut ejus doctrina citius caperetur), verstärkten die Erkenntnisfahigkeit (facilius cognosceretur), seien leichter im Gedächtnis zu behalten (fortius in memoria retineretur), ihre Wirksamkeit sei daher sehr hoch einzuschätzen (et efficacius opere adimpleretur); s. Lecoy de la Marche (wie Anm. 2), S. 4. 31 Cicero, De inventione 1, 49. 32 Rhetorica ad Herennium 4, 49, 62. 26

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Christoph Daxelmüller

auf mittelalterliche Autoren wie Johannes de Garlandia (um 1195 — um 1272) aus, der es als „dictum vel factum alicuius autentice persone dignum imitatione" betrachtete33. Damit hatte sich allerdings das antike Exempelverständnis vom guten (virtutes) oder schlechten Vorbild (vitia) des Menschen, wie es sich in der Person ebenso wie in den von dieser vollbrachten Taten äußerte, hin zu den „dicta et facta", zum historischen Bericht verlagert. Doch beide Auffassungen verband die positive, bzw. negative Vorbildhaftigkeit eines Menschen, ob Heroe oder Heiliger; das exemplum beschrieb Ideale, denen nachzueifern oder die abzulehnen seien, es war und blieb in der imitatio Mittel der sittlichen Erziehung (traditio) in der von Cicero geprägten Formulierung von der magistralen Rolle der Geschichte34. Diesem Denken von der Opposition exemplarischen Verhaltens entstammte nicht nur das Ordnungsprinzip der Tugend- und Lasterkataloge, in ihm manifestierte sich auch ein Bildungsanspruch, in dem die Historie, die Auseinandersetzung mit der Gcschichte in Form von Geschichten, zugleich Teil des mittelalterlichen heilsgeschichtlichen Selbstverständnisses war. Eine Traditionsgeschichte des exemplum, die Antike und Christentum nicht als Bruch, sondern als Fortsetzung durch Konfrontation mit Werten und Inhalten begreift, darf zudem nicht darüber hinwegsehen, daß Kirchenväter wie Ambrosius von Mailand (333/340-397) oder Hieronymus (um 347—419/420) dem Bildungshorizont der antiken Rhetorikschulen entstammten und für ein ebenfalls in deren Techniken geschultes Publikum schrieben35. So behielten sie die rhetorischen Kunstmittel bei, waren jedoch gezwungen, sich den Inhalten des überlieferten exemplum und dadurch grundsätzlich auch der antiken Geisteswelt zu stellen. Unter dem Einfluß des griechischen naQäSeiyjia erweiterten sie den exemplum-Begriff insofern, als er nun auch die biblischen Gleichnisse sowie moralisierende Anekdoten, Apophthegmata, Parabeln, Vergleiche, Mataphern, Fabeln, Denksprüche u. a. mehr enthalten konnte36. Nicht auf die rhetorische Anwendung, sondern auf die Inhalte bezogen sich folglich die Diskussionen. So unterschied Hieronymus zwischen Beispielen aus dem täglichen Leben (quod ut manifestius fiat, cotidianae consuetudinis aliquodponamus exemplum), aus der Heiligen Schrift (de scripturis aliquod sumamus exemplum), aus dem heidnischen Altertum (percurram breviter Graecas et Latinas barbarasque historias) und aus Antike

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Johannes Garlandus: Poetria magistri Johannis anglici de arte prosayea metrica et rithmica. Ed. G. Mari, in: Romanische Forschungen 13 (1902), S. 888. „Historia magistra vitae; Cicero, De oratore 2, 9, 36; vgl. hierzu Reinhart Koselleck: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: Natur und Geschichte. Karl Löwith zum 70. Geburtstag. Stuttgart 1967, S. 196-219. vgl. hierzu Alfons Schneiderhan: Die exempla bei Hieronymus. Phil. Diss. München 1916, S. 2. Kornhardt (wie Anm. 26), S. 63.

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und Christentum (pltnae sunt historiae Graecae et Latinae, quanti viri ab uxoribus decepti sint, eorumqut vita sit prodita. de scripturis autem DalilaeP1. An die Stelle antiker Helden traten die christlichen Heiligen38. Die Änderung des Exempelgebrauchs geschah in der Reflexion antiker Ethik an den neuen Wertmaßstäben des Christentums. In der Satztypologie „Quod s i . . q u a n t o magis nos" dokumentierte sich bei Ambrosius diese Konfrontation: wenn gewisse Moralvorstellungen schon bei Griechen und Römern nachzuweisen seien, um wieviel vollkommener müßten diese dann bei Christen ausgeprägt sein; um wieviel mehr hebe sich etwa die zwölfjährige Märtyrerin Agnes von der pythagoräischen Jungfrau ab, die dem Tyrannen ihre abgebissene Zunge ins Gesicht spie, um ihr Geheimnis nicht verraten zu müssen39. Der Ersatz antiker durch christliche exempla aber verdeutlicht seinerseits die Auffassung vom Kontinuum der Geschichte, die sich nun im Christentum vervollkommnet, von neuen Zielvorstellungen, die an der alten Zeit zu messen seien. Aus dieser Sicht gewinnt die moralisierende Kraft des exemplum eine neue Qualität, da sich in ihm die Auseinandersetzung mit den ethischen Werten der Geschichte ereignet, die zur imitatio und zugleich zur Änderung von Verhaltensweisen (conversio) führen soll. In den Vitae Patrum, in den Heiligenlegenden wurden die virtutes zu facta, fanden anthropologische Modelle ihre erzählerische Form. Daß das exemplum als rhetorisches Kunstmittel dies zu leisten vermag, beruht auf der antiken Verbindung von Pädagogik und Rhetorik. Es vereint Bildung und Moralisation teleologisch auf das heilsgeschichtliche Selbstverständnis, integriert die naturwissenschaftliche Erkenntnis von Makro- und Mikrokosmos in den Heilsauftrag. Insofern besteht die Utilität des exemplum tatsächlich in der Einflußnahme auf den sittlichen Lebenswandel, in der Bereitstellung einer regula vivendi, bedeutet jedoch mehr als nur die applicatio moralis der Beispielmaterie in der seelsorgerischen Praxis des homiletischen Schrifttums; vielmehr beschreibt es eine ganzheitliche Anthropologie, in der die 37 38

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Schneiderhan (wie Anm. 35), S. 13; Rehermann (wie Anm. 3), S. 6, Anm. 12. Bremond - Le G o f f - Schmitt (wie Anm. 1), S. 27-28: „D'abord quand exemplum désigne un exemple vivant, une personne en tant qu'exemple. Cette erreur peut être d'autant plus facile que, comme on verra, l'exemplum antique, dont l'influence sur l'exemplum médiéval, bien que limitée, n'est pas nulle, était surtout ordonné autour de héros, grands hommes ou personnages de référence, et que l'exemplum chrétien des premiers siècles avait eu une forte tendance à transférer ce rôle aux modèles humains chrétiens, aux martyrs, aux saints surtout au Christ lui-même. Il faut, d'entrée de jeu, dire que l'exemplum médiéval, au sens où nous l'entendons, ne désigne jamais un homme mais un récit, une histoire à prendre dans son ensemble comme un objet, un instrument d'enseignement et/ou d'édification". Ambrosius, De virginibus 1, 4, 17 seqq.; Migne, PL 16, 193-194; s. Friedrich Ohly: Aufierbiblisch Typologisches zwischen Cicero, Ambrosius und Aelred von Rievaulx. In: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Darmstadt 1977, S. 338-360, hier S. 342.

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Uberzeugung (persuasto) durch das exemplum innerhalb der Predigt und die Argumentation anhand eines konkreten Beispiels in der wissenschaftlichen Literatur nur differenzierte Ausdrücke und Stufen von Bildungsintentionen repräsentieren40. Dies erfordert aber, das exemplum auch als Methodik des Lernens durch Beispiele zu definieren. Man eignete sich die Grundregeln der lateinischen Grammatik, die Eleganz des lateinischen Ausdrucks durch Sprichwortsammlungen oder ausgewählte Historien aus den zur Verfugung stehenden antiken Autoren an41. Johann Arnos Comenius (1592-1670) griff auf diese Tradition zurück, indem er das exemplum als Ausgangspunkt der Erkenntnis wie als Muster und Vorbild, als tätigen Vorgang für die imitatio beim Erlernen der artes und beim Einüben der virtutes begriff 2 . Das exemplarische Lernen43 leistete u. a. die Sonn- und Festtagspredigt, wenn sie eine abstrakte Lehre (doctrina) durch das verifizierende oder affirmative exemplum übersetzte; im Lernziel vereinigten sich beide Anwendungsbereiche, solange sie einer heilsgeschichtlich orientierten Didaktik entstammten. Man eignete sich Wissen mittels der Beispiele an, erfuhr Geschichte als Summe beispielhaften Verhaltens, von dem die zahllosen in den Exempelsammhingen gespeicherten Geschichten berichteten. Art und Form des exemplum unterschieden sich dabei nur, auf welche soziale, und dies heißt eben auch intellektuelle Schicht es sich bezog, auf den ungebildeten rusticus oder auf den eruditus. Fragt man folglich nach der äußeren Struktur und dem Inhalt der Beispielmaterie, dann erfordert dies zuerst einmal die exakte Ermittlung des Bildungsstandes des jeweiligen Leser- oder Hörerkreises, an den es gerichtet war. Denn die Anwendung eines exemplum setzt grundsätzlich die Existenz eines Bildungsgefälles zwischen Autor und Rezipient voraus. Einen der eindrucksvollsten Belege hierfür bietet der „Dialogus miraculorum" des Caesarius von Heisterbach (um 1180-um 1240), dessen Einfluß auf die mittelalterliche und nachmittelalterliche Exempelliteratur unabschätzbar ist44. Auf die auch sonst übliche Dialogform im Bildungsschrifttum zurückgreifend konstruierte Caesarius von Heisterbach ein Lehrgespräch über 40

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Zum exemplum als Fallbeleg in der wissenschaftlichen Literatur s. Christoph Daxelmüller: Exemplum und Fallbericht. Zur Gewichtung von Erzählstruktur und Kontext religiöser Bcispielgeschichten und wissenschaftlicher Diskursmaterien. In: Jahrbuch für Volkskunde N. F. 5(1982), S. 149-159. so bei Qninrilian 10, 1, 2-3; vgl. auch Lausberg (wie Anm. 7), S. 37, $ 26. Johann Arnos Comenius: Opera Didactica Omnia, Bd. I. Amsterdam 1657, S. 122 u.ö. Zum Ausdruck exemplum für „Bildung" s. E. Lichtenstein: Bildung. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1. Basel/Stuttgart 1971, Sp. 922. Caesarii Heisterbacensis Monachi Ordinis Cistercicnsis Dialogus Miraculorum. Ed. Joseph Strange. 2 Bde., Köln/Bonn/Brüssel 1851 (Reprint Ridgewood, New Jersey 1966); vgl. Fritz Wigner: Caesarius von Heisterbach. In: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 2 (Berlin/ New York 1977/79), Sp. 1131-1143.

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grundsätzliche theologische Fragen45 zwischen dem fragenden, auf das Leben im Kloster vorzubereitenden Novizen (novittus interrogans) und dem antwortenden Mönch (monaebus rtspondtns), der nicht nur komplizierte theoretische Sachverhalte erläutern kann, sondern dafür auch über Beweise aus der real ereigneten Geschichte, über exempla verfügt. Es ist immer der Novize, der um ein Beispiel bittet46, und es ist der durch Caesarius von Heisterbach figurierte Mönch, der es buchstäblich zur Hand hat47. Argumentationsstrukturen der Hochscholastik und ihrer lechnik der quaestto treten mehr als deutlich hervor. 3. Das exemplum als funktionale Einheit Versuche, das exemplum jeweils für sich nach formalen (Kürze, narrative Struktur), inhaltlichen48 und funktionalen Kriterien (Belehrung, Erbauung, Erheiterung usw.) zu bestimmen, sind von Beginn an zum Scheitern verurteilt49. Es stellt vielmehr eine unselbständige, für sich allein in dieser Form nicht existenzfähige Einheit innerhalb eines Textzusammenhangs dar. Damit ist es in erster Linie funktional klassifiziert, worüber bei den mittelalterlichen wie nachmittelalterlichen Verfassern Einigkeit herrschte; charakteristisch hierfür ist, daß etwa Johannes Bromyard den Abschnitt „Exemplorum bonorum" in seiner „Summa predicantium" mit der Utilitätsbeschreibung einleitet: „Primo ostedenda est necessitas & vtilitas"50. Die vornehmlichste Aufgabe des exemplum besteht darin, Verständlichkeit herzustellen, zwischen dem Autoren, also dem Theologen, Naturwissenschaftler wie vor allem dem Prediger in der praktischen Unterweisung 45

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Der „Dialogus Miraculorum" besteht aus zwölf Distinktionen: De conversione, De contritione, De confessione, De tentatione, De daemonibus, De simplicitate, De saneta Maria, De diversis visionibus, De sacramento corporis et sanguinis Christi, De miraculis, De morientibus und De premio mortuorum. z. B.: „Rogo, ut de viribus horum Septem vitiorum me expédias, et quam achter nos tentent, subiunetis exemplis ostendas"; Dialogus Miraculorum 4, 2. „Exemplum ad manum est"; Dialogus Miraculorum 2, 1. Inhaltliche Zuweisungen des exemplum nach Märchen, Sage, Fabel, Schwank usw. entsprechen modernen Klassifizierungen. Hilfreicher ist hier die Systematisierung Welters in „exemplum biblique", „exemplum pieux", „exemplum hagiographique", „exemplum prosopopée", „exemplum profane", „exemplum historique", „exemplum légendaire", „exemplum conte et fable", „exemplum moralité et prodige" sowie „exemplum personnel"; s. Weiter: L'exemplum (wie Anm. 2), S. 105-107. vgl. Brückner: Historien und Historie (wie Anm. 17), S. 22: „Sehr viel stärker aber sind bislang die gemeinsamen Interessen von Literaturwissenschaft und historischer Erzählforschung am Genus Exempel gewesen, wenngleich hier bisweilen mehr von einer Funktion als von einer Gattung gesprochen werden kann. Beispiel vermag jede Erzählung in jedweder Erzählform zu werden". Johannes Bromyard: Summa predicantium. Basel 1474 (u.ö.), Abschnitt VII (Exemplorum bonorum), unpag.

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des Kirchenvolks einerseits, dem Rezipienten, dem gebildeten Leser, der disputierenden Gegenpartei an der Universität wie auch dem analphabetischen Hörer andererseits eine Kommunikationsbasis zu schaffen. Der Vorgang der Exempelanwendung stellt sich dabei als einseitig gerichteter, nicht reversibler Prozeß dar; der Verfasser wählt zwar in einer den gängigen Argumentationstechniken und Verfahren der Allegorese verpflichteten, letztlich jedoch individuellen intellektuellen Leistung eine konkrete, verständliche Beispielmaterie aus, um mit ihrer Hilfe eine abstrakte Aussage (doctrina) oder ein ethisches Modell (praecepta) zu erläutern und zu verifizieren. Der Rezipient ist an diesem Akt nur passiv beteiligt; er besitzt keinen Einfluß auf Auswahl, Art und Inhalt des exemplum. Im formalen und inhaltlichen Muster des jeweils benutzten Beispiels werden somit die Vorstellungen des Verfassers vom Bildungsstand, Begriffsvermögen und von der Aufnahmebereitschaft seines Hörer- bzw. Leserpublikums sichtbar51. Zwei Typen von exempla sind in der Anwendung zu unterscheiden, nämlich

Beispielmaterien, die eine Lehre oder ein Theorem begreiflich machen und exempla, die es beweisen helfen. Die erste Gruppe besitzt didaktischen Nutzen, die zweite ist integraler Bestandteil der argumentatio, des Beweisvorgangs. Die verschiedenen Verwendungsmöglichkeiten aber können sich sowohl auf die formale wie auf die inhaltliche Beschaffenheit auswirken. Gemeinhin betrachtet man das exemplum als kurze, narrative Einheit innerhalb eines nichtnarrativen Kontexts, von dem es sprachlich differiert, da es die Dimension von Geschichte im Modell von Geschichten einbringt und dadurch die Erlebnissphäre anspricht. Diese u. a. von der speziellen Wortwahl und der Verbalisierung zeitlicher Vorgänge geprägte Sprache52 verwendet allgemein verständliche Bild- und Vorstellungsmuster, indem sie Ereignisse, Taten, Personen, Orte und Situationen beschreibt. Das Verhältnis von exemplum und nichtnarrativem Textzusammenhang beruht dabei auf einer strukturellen Abbildhaftigkeit. Die erzählerische Technik des exemplum hängt jedoch ebenso von der Literaturgattung wie vom Literaturkonsumenten ab. Denn daß die Beispielmaterie innerhalb der rhetorischen Techniken von persuasio und demonstratio eine Kommunikationsgrundlage schafft, in deren gegenständlichen Rastern sich Autor und Rezipient, Lehrmeinung und Anwendung treffen, gilt gleichermaßen für die populäre, volkssprachliche Predigt wie für den von einer geistigen Elite diskutierten lateinischen, wissenschaftli51

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Hier stellt sich die theoretische, nur unter Berücksichtigung des konkreten Textzusammenhangs zu lösende Frage, inwieweit es des Beispiels grundsätzlich bedarf, ohne daß die Verständlichkeit und damit die Wirkung in Mitleidenschaft gezogen wird. s. Karlheinz Stierle: Geschichte als Exemplum - Exemplum als Geschichte. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte. In: Koselleck - Stempel: Geschichte - Ereignis und Erzählung (wie Anm. 24), S. 347-375, hier S. 355-356.

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chen Text53. Beide Textgruppen wenden sich zwar an ein unterschiedliches Publikum, doch ihnen ist gemeinsam, daß das vorhandene Bildungsgefalle erst durch die Anwendung eines exemplum ausgeglichen wird. Dieses kann sich jeweils formal unterscheiden: wo für das ungebildete Kirchenvolk die ausführliche Wiedergabe einer Historie unerläßlich ist, genügt für den Gebildeten das Stichwort, ja gelegentlich nur das Zitat, um existentes, momentan allerdings nicht parates Wissen abzurufen und mentale Bilder zu schaffen. Aus einem spätmittelalterlichen, Predigtanleitungen enthaltenden dänischen Klosterbuch wird der stichwortartige Charakter klar ersichtlich: „Erzähle von dem, der drei Söhne hatte, usw."54. Obwohl solchen Zitaten alle narrativen Merkmale fehlen, können sie jederzeit zu ausführlichen exempla reaktiviert werden, deren oft beschworenes Kriterium der Kürze sich hiermit als trügerisch erweist, da es sich auf ein in der literarischen, vornehmlich lateinischen Überlieferung sprachlich reduziertes Regest bezieht. Zudem drängt sich der Verdacht der Typisierung auf; wenn Exempelsammlungen als exzerptive Memorate dienten, die als Anhaltspunkte und als Auslöser für Erzählungen dienten, dann ist in der mündlichen Wiedergabe z. B. in der Predigt, durchaus mit weitschweifigen, fast novellistischen Ausschmückungen zu rechnen. Nicht umsonst erhoben sich immer wieder Stimmen gegen die Gefahr der Fabuliersucht, die etwa 1516 von der „Bulla de modo praedicandi" mit scharfen Worten gegeißelt wurde55. Somit läßt sich das exemplum in seiner literarisch überlieferten Fassung formal nicht bestimmen. Denn erst die Anwendung macht die resgesta zum Beispiel, zum illustrierend-vergegenständlichenden Filter für eine abstrakte, allein nicht oder nur schwer verständliche theologische, ethische oder naturwissenschaftliche Aussage. Es wirkt auf Psyche und Mentalität des Empfangers, erzeugt je nach Inhalt Furcht, Angst, Besinnung oder Erheiterung und damit eine Reaktion. Indem es sich an das Begriffsvermögen (ratio) wendet, dringt es zugleich ein in die Schicht der emotio und zielt somit letztlich auf die Beeinflussung des alltäglichen Verhaltens im Sinne der Heilslehre. Die utilitas eines exemplum aber hängt von seinem Inhalt ab, d. h. von den Kriterien an die Wahrhaftigkeit der ereigneten und sich ereignenden Geschichte. Es vollzieht exemplarisch die Analogie, die Abbildhaftigkeit (imago, similitudo, signum) der die Geschichte bestimmenden Gesetze und ihrer verborgenen Ursachen. Das Geschichtsverständnis des mittelalterlichen exemplum betrachtet die sich historisch und somit konkret ereignende Wirklichkeit als Reflex supranaturaler Kausalitäten, die auch in den theolo53 M

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vgl. Assion (wie Anm. 18) und Daxelmüller (wie Anm. 40). Marius Kristensen (Hg.): En Klosterbog fra Middelalderens Slutning (AM 76.8°). Kobenhavn 1933, S. 10; vgl. Riising (wie Anm. 3), S. 116. Nicolao Coleó (Hg.): Sacrosancu consilia [...] studio Philippi Labbei, & Gabrielis Cossartii, Bd. 19. Venedig 1732, S. 944-947.

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gischen Abstraktionen der Scholastik darstellbar wären. Man hat in den spätmittelalterlichen Kompilationen einen merklichen Anstieg mirakulösen, magiologischen, dämonologischen Erzählguts und prodigiöser Naturgeschichten festgestellt56. Gerade die folkloristische Erzählforschung hat sich mit diesen Materien auseinandergesetzt und in ihnen die Überzeugungskraft sensationeller Stoffe, der Denk- und Merkwürdigkeiten (memorabilia) postuliert57, dabei jedoch die Selbstzensur der Autoren und die hohen Ansprüche an die Auswahl der txtmpLt nicht berücksichtigt. So beschwor Johannes Major in seiner Vorrede zum „Magnum Speculum Exemplorum" die Seriosität des zu benutzenden Beispielmaterials, das weder unglaubwürdig noch fabulös sein dürfe58, und Bonifazio Bagatta stellte in der „Protestatio Auctoris" zu seinen „Admiranda Orbis Christiani" das Edikt Papst Urban VIII. vom 13. März 1625 voran, das die Begriffe des Wunders (miraculum) und des Wunderbaren (admirandum) zu klären versuchte59. Denn alle Inhalte, ob an den Grenzen des Anekdotischen und Schwankhaften gelegen, ob realistische Darstellungen von den Nachstellungen des Bösen, müssen der Forderung der veritas genügen. Ihr Sprach- und Bildrepertoire aber stellt für uns heute eine wichtige Quelle für die Welt- und Natursicht des mittelalterlichen und neuzeitlichen Menschen dar. Die Voraussetzung für die Verständlichkeit - und damit für die Wirkung - eines exemplum beruht nämlich auf seiner Entsprechung zur Auffassung von einer sich immer wieder exemplarisch ereignenden Realität. Seit der Antike stand gerade das Kriterium der veritas im Mittelpunkt der * z. B. Rösing (wie Anm. 3), S. 131. 57 z. B. von Hinten (wie Anm. 5). 58 „Prudens Concionator, Cathecista, vel narrator circumspectè seiiget ex his exemplis, quae utilia & convenientia iudicabit, personarum, loci, temporis, & similibus bene còfideratis circumstantijs, nam alia doctis, alia simplieibus, rarsü alia Catholicis alia haeieticis, denique alia secularibus, alia religiosis magis quadrabunt. Deinde si qua incredibilia, vel fabulosa vel tätum ad ciendü risum efficta vidètur, qualia paucissima sunt, solum in nauigijs, vehiculis, mensis vel iucùdis congressibus narräda seruetur, nä etiam illa fruetu suo non carent: valent enim ad aliquam moralem doctrinam eliciendam, Si ex narrationis scopo commoda aliqua applicatio colligi potest"; Magnum Speculum Exemplorum. Editio sexta, Douai 1618, Vorrede Johannes Majors, unpag. 59 Unter Berufung auf dieses Dekret schreibt Bonifazio Bagatta in der „Protestatio Auctoris" u. a.: „Huic Decreto, eiüsque confirmation^ Sc declarationi, observantia, & reverentia, qua par est, insistendo, profiteor me, ea omnia, quae in meis admirandis, sanetitatem quibusdam videntur adscribere, utpotè vires humanas superantia, miracula censeri possunt, praesagia futurorum, arcanorum manifestationes, illustrationes, in miseros mortales collata eorum intereeßione beneficia apparent, sanetimoniae etiam appellationem praeseferunt; profiteor inquam, me haud alio sensu aeeipere, aut aeeipi ab ullo velie, quam quo ea solent, quae humana duntaxat auetoritate, non autem divina Catholicae Romanae Ecclesiae, aut sanetae Sedis Apostolicae nituntur (qua propter ea, non MIRACVLA, sed solum ADMIRANDA voco) iis tantummode exceptis, quae eadem Sancta Sedes, Sanctorum Beatorum, aut Martyrum catalogo adscripsit; quaeque ut vera miracula divinitùs operata proponit"; Bonifazio Bagatta: Admiranda Orbis Christiani. Augsburg/Dillingen 1695, unpag.

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Exempeldefinitionen. Der Wahrheitsbegriffaber stufte sich von der Ursächlichkeit der Historie, der dicta et facta, der res gesta, bis hin zur sublim verschlüsselten Wahrheit, wie sie in der Fabel und sogar noch im Schwankhaften der Komödie verankert ist. Doch hier orientierte sich die subjektive Erkenntnismöglichkeit an der Autorität der geschriebenen und somit literarisch vermittelten Geschichte, der zu Handbüchern kanonisierten Tradition von auctoritates, die mit der Heiligen Schrift beginnen und über die Kirchenväter, die Kirchenhistoriker, die Hagiographen bis hin zu den Kompilatoren von Geschichten reichen und hier auch die Autoren der klassischen Antike einbeziehen. Kaum eine frühe Exempelsammlung wurde so oft ausgeschrieben, bearbeitet und nachgedruckt wie die „Factorum dictorumque memorabilium libri novem" des Valerius Maximus (Straßburg 1470 u.ö.). 4. Auctoritas und subjektive Wahrnehmung Damit gerät das exemplum über seine Bedeutung als Frühbeleg für historische Erzählstoffe und ihre narrative Struktur hinaus zum Interpretament des mittelalterlichen und nachmittelalterlichen Denkens, seiner Sicht der Wirklichkeit, das die irdische Welt als Teil und Abbild des Kosmos erfahrt, als Mechanik einer von Gott geschaffenen und kontrollierten Gesetzmäßigkeit. Der veri/as-Begriß des mittelalterlichen exemplum beruhte auf einer zyklisch-stabilen Weltauffassung, in der die Macht Gottes und sein Eingreifen in die Natur selbstverständliche Alltagserfahrung bedeuteten. Nicht das wunderbare Ereignis an sich war sensationell, sondern daß es sich überall, zu jeder Zeit und an jedem Menschen ereignen konnte. Der Gelehrte des Mittelalters scheute sich davor, die physikalischen Kausalitäten der Schöpfung in Frage zu stellen, Natur zu entschlüsseln und damit den allgegenwärtigen Gott aus ihr zu verbannen; er hätte sich der lodsünde der curiositas, der menschlichen Neugierde schuldig gemacht60. In seiner Suche nach Wahrheit verfuhr er nicht progressiv, sondern retrovertiert, bemüht, Bekanntes unablässig neu zu beweisen und mit jedem zusätzlich vorgetragenen Argument der unveränderlichen Wahrheit ein Stück näherzukommen. Nicht das Fortschrittsdenken der Neuzeit, nicht der Aufbruch in jenseits des eigenen Wahrnehmungsbereichs liegende Sphären, sondern die argumentative Auseinandersetzung mit der Tradition, die Suche nach dem Zentrum, der Existenz Gottes, prägten das Weltbild des a Deo et in Deum, des von Gott her und auf Gott zu, das nicht nur die Geschichts- und Naturerfahrung, sondern auch die pädagogische Konsequenz daraus mit einbezog.

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s. hierzu grundsätzlich Hans Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde. Frankfurt a. M. 1973; ders.: Die Genesis der kopernikani sehen Welt. Prankfun a. M. 1975.

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Das exemplum aber ist Ausdruck wie Methode dieses Denkens, das auf der Lehre von der signifikativen Qualität der Dinge beruhte, auf Bildern von der Welt. Es schuf und reproduzierte zugleich Bilder, es bewahrte eine Ikonologie von Vorstellungsmustern; und wie die auctoritates, ob Bibel oder Caesarius von Heisterbach, ob Herodot, Plinius oder Augustinus, zu Handbüchern kanonisiert, festgeschrieben und dadurch überliefert wurden, so autorisierte das exemplum Richtmaßstäbe für die Wirklichkeitserfahrung, tradierte immer von neuem vergleichbare Phänomene und Ereignisse einer konstanten Natur. Es schrieb Berichte von wunderbaren Heilungen und dämonischen Nachstellungen fest, die sich dadurch aktualisieren und individualisieren ließen61. Die vom exemplum geschilderten historischen Sachverhalte beruhten auf paradigmatischen Konkretisierungen einiger weniger Grundmuster. Wer die Dämonengeschichten eines Caesarius von Heisterbach62, ordensgebundene Schilderungen von den Wundern Christi, Marias und der Heiligen 6 3 , von wundersamen B e k e h r u n g e n u n d grausamen Bestra-

fungen kennt, weiß um das Repertoire von Handlungen und Situationen, aber auch um die Adhäsivität des exemplum, das seinerseits zum Vorbild für ähnliche Fälle und somit exemplumbildend wird64. Dies belegen nicht nur die mittelalterlichen, sondern auch die nachmittelalterlichen Exempelsammlungen vorwiegend dann, wenn sie wie das „Magnum Speculum Exemplorum" über innere Anordnungsschemata verfügen; mit anderen Worten: das exemplum bringt, indem es sich an der Vergangenheit verifiziert, Geschichte auf den neuesten Stand. Zum anderen orientiert es sich an kulturellen Konventionen. Wo seine veritas durch die Tradition abgesichert ist, kann und muß es sich a priori auch im subjektiven, individuell erfahrbaren Nahbereich nachvollziehen lassen. Vor allem die Folkloristen haben dem legi oder legitur der Quellenangaben das audivi gegenübergestellt, auf die Oralität volkstümlicher Überlieferungen hingewiesen und im exemplum ein vorzügliches Zeugnis auch für die populäre Kultur gesehen. Nicht selten wurden in diesem Zusammenhang die Namen von Caesarius von Heisterbach und Jacques de Vitry genannt65. Doch zwischen der Schrifttradition des legitur und dem subjekti61

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Zur Verortung mittelalterlicher Wanderlegenden s. am Beispiel eines Wallfahrtsortes Wolfgang Brückner: Gnadenbild und Legende. Kultwandel in Dimbach. Würzburg 1978, hier vor allem S. 11-35. vgl. Philipp Schmidt: Der Teufels- und Dämonenglaube in den Erzählungen des Caesarius von Heisterbach. Basel 1926. z.B. Hans D. Oppel: Exemplum und Mirakel. Versuch einer Begriffsbestimmung. In: Archiv für Kulturgeschichte 58 (1976), S. 96-114. In der Vita Severini des Eugippius (ed. R. Noll, Passau 1981, S. 54-55 und 102-103) wird etwa die Glaubwürdigkeit der Geschichte von drei Mönchen, die der hl. Severin dem Teufel übergab, um ihre Seele zu retten, durch zwei ähnliche Beispiele aus dem patristischen Schrifttum unterstützt. s. Bremond - Le G o f f - Schmitt (wie Anm. 1), S. 91-95 und 120-124.

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ven Erlebnis des audivi besteht kein Gegensatz, sondern beide ergänzen sich, da das autoritative, geschriebene Wort erst das individuelle Erleben ermöglicht und zugleich bestätigt. Im audivi treffen sich populäre und elitäre Kultur in der Konvention gemeinsamer Vorstellungsmuster, reicht die bildschöpferische Kraft der Tradition hinein in die zeitgenössische Wirklichkeit und damit in die Wahrnehmungs- und Gefühlswelt; gäbe es das legitur nicht, das audivi wäre unmöglich. Wo mittelalterliche Exempelautoren aus eigener Beobachtung zitieren, liefern sie unbeabsichtigt den wohl besten Beweis für die in das Bewußtsein eindringende Macht des exemplum-. das audivi ist lediglich der Rückfluß des legitur. Im exemplum äußert sich somit nicht nur die Pragmatik des mittelalterlichen und nachmittelalterlichen Bildungsideals, sondern auch die Tradition von Wirklichkeitserfahrung und -beschreibung und nicht zuletzt die Interpretation der Natur. Das 16. Jahrhundert brachte die ersten Ansätze der modernen Naturwissenschaft, begann, die Natur zu säkularisieren, die Theozentrik durch die Geozentrik zu ersetzen. Davon sind auch die exempla und ihre Inhalte betroffen, denn Wirkung setzt die Anpassung an die sich nun rapide ändernde Auffassung von Wirklichkeit voraus. Diesem Prozeß trägt man allerdings weniger durch die positivistische Zusammenstellung der Erzählmaterien Rechnung als durch die Untersuchung der von den Autoren ausgeschiedenen und durch neue ersetzten Beispiele. Der nachmittelalterliche Exempelgebrauch zeigt, wie schwer man sich bei der Diskussion der Materien und gerade bei der Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Überlieferung tat. Denn vor der äußersten Grenze, dem Zweifel an der Allmacht Gottes, schreckte man noch zurück. Wenn es dennoch gelang, die sich im mittelalterlichen exemplum manifestierende Weltsicht vorsichtig in Frage zu stellen, dann geschah dies etwa über die Konfessionspolemik des späten 16. Jahrhunderts, über den Umweg der diskutierten Lehren Roms, bzw. der Reformatoren und dem Nebenpfad der Erkenntnis einer subjektiven und objektiven Wahrheit66. Der Aufbruch des Denkens in die Moderne konnte sich somit vollziehen, ohne mit der Tradition brechen zu müssen. Im exemplum überlebte ein Teil mittelalterlicher Kultur bis ins 19. Jahrhundert67, ja sogar bis in unsere Gegenwart hinein, wenn wir uns die Art unseres Operierens mit Beispielen ehrlich bewußt, machen.

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Zum Begriffs. Daxelmüller (wie Anm. 40), S. 156-157. vgl. hierzu Hermann Bausinger: Zum Beispiel. In: Fritz Harkort - Karel C. Peeters Robert Wildhaber (Hg.): Volksüberlieferung. Festschrift für Kurt Ranke zur Vollendung des 60. Lebensjahres. Göttingen 1968, S. 9-18.

Hans-Joachim

ZIEGELER

(Tübingen)

Das Vergnügen an der Moral Darbietungsformen der Lehre in den Mären und Bispein des Schweizer Anonymus In dem Bemühen, literarische Gattungen als literarisch-soziale Institutionen zu begreifen, haben sich in der mediävistischen Diskussion der vergangenen Jahre verschiedene Wege abgezeichnet, zu entsprechenden Ergebnissen zu kommen. F.ine Sammlung kleinerer Erzählungen von einem Schweizer Anonymus gibt Gelegenheit, an einem Beispiel einige dieser Verfahren zu erproben: Eine Analyse der Überlieferung (I), der Versuch, den historischen Kontext der Sammlung zu rekonstruieren (II), unter verschiedenen Aspekten ein Vergleich mit der literarischen Tradition, in die sich die Sammlung als ganze stellt (III), und die Beschreibung von Erzählmodellen, derer sich die einzelnen Erzählungen bedienen (IV). I.

Vom 7. bis zum 9. August 1460 hat es in Glarus streng und vast und so unaufhörlich geregnet, daß einer in den kurzen Pausen nicht einmal micht ein ey bangessenDaß das Wetter auch vor gut 500 Jahren mitunter mehr als zu wünschen übrig Ueß, wissen wir in diesem Fall aller Wahrscheinlichkeit nach von Rudolf Mad, dem Landschreiber von Glarus, der etwa von 1460 bis 147& in unregelmäßigen Abständen seine Bearbeitung der ,Zürcher Chronik' um Nachrichten wie die eben zitierte und um eine Reihe weiterer Berichte aus der großen und kleinen Welt ergänzt hat.2 Diese sog. ,GIarner 1

2

DIERAUER, Johannes (Hg.): Chronik der Stadt Zürich. Mit Fortsetzungen. Basel 1900, S. 233. - Zur .Chronik der Stadt Zürich' und ihren Fortsetzungen zusammenfassend: J VL I, Sp. 1258 f. (Guy P. MARCHAL). Zu Rudolf Mad: DÜRR, Emil: Die Chronik des Rudolf Mad, Landschreibers von Glarus (Dritte Fortsetzung der Chronik der Stadt Zürich). Basler Zs. f. Geschichte u. Altertumskunde 9 (1910) S. 95-110, bes. S. 104f. Zum QueUenwert der .Glamer Fortsetzung' ferner: MEYER, Bruno: Der Thurgauer Zug von 1460. Thurgauische Beiträge zur vaterländischen Geschichte 97 (1960) S. 17-47; zum Zusammenhang des Codex 643 mit „historischen Volksliedern": TRÜMPY, Hans: Die alten Lieder auf die Schlacht bei Näfels. Jahrbuch des Historischen Vereins des Kantons Glarus 60 (1963) S. 25-51. Nicht zugänglich war mir: GAMPER, Rudolf: Die Zürcher Stadtchroniken und ihre Ausbreitung in die Ostschweiz. Diss. Zürich 1984 (148. Neujahrsblatt Zürich), Zürich 1984. Um Rudolf Mad wäre die

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Fortsetzung' der,Zürcher Chronik' ist allein im Codex 643 der Stiftsbibliothek St. Gallen überliefert, einer Handschrift, die spätestens im Jahre 1489 im Besitz der Glarner Familie Tschudi gewesen sein dürfte. 3 In die Stiftsbibliothek ist sie 1768 aus dem Nachlaß des Staatsmanns und Gelehrten Aegidius Tschudi (1505-1572) gelangt, der die Aufzeichnungen seines Glarner Landsmannes, darunter die über den sintflutartigen Regen des Jahres 1460, für seine .Eidgenössische Chronik' ausgewertet hat. 4 O b sich Aegidius Tschudi außer für die Chroniken auch für die anderen Stücke der Handschrift interessiert hat, ist nicht recht klar; immerhin ist nicht ausgeschlossen, daß einige der Korrekturen, ad hoc erfundenen Ergänzungen fehlender Verse etc., die sich bis S. 49 finden, von seiner Hand stammen könnten. Rudolf Mad (oder sein Auftraggeber) jedenfalls scheint durchaus daran interessiert gewesen zu sein, neben der .Zürcher Chronik' auch den .Edelstein' Ulrich Boners und die 21 Erzählungen eines von Hanns F I S C H E R so benannten Schweizer Anonymus besitzen zu können, die der Codex 643 gleichfalls überliefert. Zu erschließen ist das aus der Anlage der Handschrift, deren Inhalt ich hier wiedergebe. 5 S. l-89a Ulrich Boners .Edelstein' Der Codex 643 folgt in Bestand und Reihenfolge der Texte durchaus der sog. 3. Redaktion des .Edelstein'. Durch Blattverluste - je zwei Blätter zu Beginn und nach S. 16 (s.u.); von S. 3/4 ist nur noch ein kleiner Rest erhalten - fehlen gegenüber dieser Redaktion einige Texte bzw. Textpartien; sie sind in der folgenden Bestandsangabe durch eckige Klammern angezeigt. Die Zählung der Texte folgt PFEIFFERS Edition": [Nr. 2]; [Nr. 3]; [Nr. 6]; [Nr. 7]; [Nr. 9, V. 1-27]; V. 28-49; Nr. 12; Nr. 4 (V. 40-54 teilweise zerstört); [Nr. 5]; Nr. 8, V. 1-12 (teilweise zerstört), [V. 13-35], V. 36-^6; Nr. 10; Nr. 11; Nr. 13; Nr. 14-22; Nr. 23, V. 1-6, [V. 7-46]; schöne Zusammenstellung literarisch tätiger Stadtschreiber zu ergänzen bei H O N E M A N N , Volker: Die Stadtschreiber und die deutsche Literatur im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit. In: Zur deutschen Literatur und Sprache des H.Jahrhunderts. Dubliner Colloquium 1981. Hg. v. Walter HAUG [u.a.]. Heidelberg 1983 (Reihe Siegen 45), S. 320-353, hier S. 340-353. * Vgl. D I E R A U E R (wie Anm. 1), S. X X X I I I und S. 232 Z. 20; DÜRR (wie Anm. 2), S. 96. * Vgl. DÜRR (wie Anm. 2), S. 95. - Zu Tschudis Handschriften vgl. DUFT, Johannes: Aegid Tschudis Handschriften in der Stiftsbibliothek St. Gallen. Zs. f. Schweizerische Kirchengeschichte 53 (1959) S. 125-137, zum Cod. 643: S. 134. 5 Ich wiederhole diese Angaben, da sich an entsprechender Stelle in der Edition der Werke des Anonymus durch Hanns FISCHER Ungenauigkeiten eingeschlichen haben; vgl. FISCHER, Hanns (Hg.): Eine Schweizer Kleinepiksammlung des 15. Jahrhunderts. Tübingen 1965 (ATB 65), S. IX. Zitate des Anonymus im weiteren nach dieser Ausgabe (abgekürzt FA; Korrekturen entspr. den „Berichtigungen" am Ende des Bändchens sind eingearbeitet). Der Stiftsbibliothek St. Gallen danke ich für einen Mikrofilm der Handschrift; Herrn Stiftsbibliothekar Dr. Peter Ochsenbein danke ich für eine ganze Reihe freundlich erteilter Auskünfte. 6 PFEIFFER, Franz (Hg.): Der Edelstein von Ulrich Boner. Leizig 1844 (Dichtungen des deutschen Mittelalters 4); die Unterscheidung der drei Redaktionen ebda. S. 187 f.

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[Nr. 24]; [Nr. 25]; [Nr. 26, V. 1-35], V. 36-40; Nr. 27-53; Nr. 55; Nr. 57-58; Nr. 60-63; Nr. 65; Nr. 67-70; Nr. 72-74; Nr. 76; Nr. 78; Nr. 77; Nr. 79-80; Nr. 82; Nr. 84-89; Nr. 91; Nr. 90; Nr. 92-94. 7 S. 89a-128 Sammlung des Schweizer Anonymus 21 Verserzählungen, dazu „Vorrede" (Nr. I) und „Zwischenrede" (Nr. XVIII); ed.: FA (wie Anm. 5). S. 129-130 leer bis auf zwei Bemerkungen S. 130: In dem jarr do man nach gottes ge und + Der ist hoch vnd obnen enwenig eben Vnd lit Schwit^ inner da gegen (gemeint ist der S. 131 erwähnte Morgarten; vgl. DIERAUER, S. 38 Z. 18). S. 131-157 .Chronik der Stadt Zürich' bearbeitet von Rudolf Mad S. 131-153 aus den Jahren 1313-1389 (Tod Kaiser Heinrichs VII. bis zum Frieden mit Österreich); in den Anmerkungen im wesentlichen berücksichtigt bei DIERAUER (wie Anm. 1), S. 37 Z. 3-158 Z. 1. S. 153-157 aus den Jahren 1428-1433; abgedruckt bei DIERAUER, S. 226-232. S. 157 Drei Nachträge von anderer Hand, zwei davon aus den Jahren 1489; abgedruckt bei DIERAUER, S. 232 Z. 24-31 und DÜRR (wie Anm. 2), S. 96. S. 158 leer bis auf eine angefangene Notiz aus dem Jahre 1490; vgl. DÜRR, S. 95. S. 159-201 Dritte oder sog. .Glarner Fortsetzung' der .Zürcher Chronik' von Rudolf Mad (aus den Jahren 1460-1478) Abgedruckt bei DIERAUER (wie Anm. 1), S. 233-271. S. 201 Nachtrag von anderer Hand: Ach fruntUch hert\ wend mir min den [!] ich durch dinen willen trag nacht vnd Taag S. 202 leer bis auf zwei Notizen zweihundert und und war glars S. 203-214 leer Es folgen 7 unpaginierte eingeklebte Blätter größeren Formats; sie sind beschrieben mit einer Zusammenstellung des Boner-Corpus (und der ersten 10 Erzählungen des Anonymus) im Vergleich mit den Ausgaben von Scherz (1704/14) und Oberlin (1782), also wohl bald nach. 1782 und vor 1810 oder 1816 (den Ausgaben^. J. Eschenburgs und G. F. Beneckes) entstanden (s. u.). Bl. I und II, XI und XII sowie Bl. IV (= S. 3/4) der Handschrift sind zu dieser Zeit, entsprechenden Notizen dieser Blätter zufolge, verloren bzw. „zerrissen". Nach der Signatur auf der Verso-Seite des siebten Blattes durch J. V. A. (Ildefons von Arx) beginnt eine weitere von Dr. Henne (Stiftsbibliothekar von 1855-1861) signierte Kollation 7

Um die Umstellung von Nr. 77 und 78 sowie diverse Zusatzverse der einzelnen Stücke beurteilen zu können, fehlt mir der Überblick über die Boner-Überlieferung. Nr. 90 und 9! sind nach PFEIFFERs Apparat auch in den Hss. Eab umgestellt; das gilt auch für den Bamberger Druck (vgl. Anm. 16).

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mit dem Satz: „Seit obigem haben den Bonerschen Edelstein herausgegeben George Friedr. Benecke, Berlin 1816, & Franz Pfeiffer, Leipzig 1844." Danach Kollation des Boner-Teils mit den genannten Ausgaben, weitergeführt auf den folgenden Seiten S. 237/238 und S. 239. S. 237-238 unpaginiert; Kollation des Boner-Teils mit den Ausgaben Beneckes und PFEIFFERS (s.o.). S. 239 wie S. 237/238. S. 240-260 Die alte Paginierung ist erhalten auf den Seiten 240, 245, 246-248, 255-260. Diese Seiten sind leer bis auf S. 258-259; dort ein „Verzeichnis Adeliger aus dem X V . Jahrhundert von der Handschrift Ägidius Tschudis" (DÜRR, wie Anm. 2, S. 95). 8

Von den 260 Folio-Seiten der Handschrift gehören, nach Auffassung E. DÜRRs, nur die Seiten 1-239 zum ursprünglichen Bestand; der Rest wurde wohl erst von Tschudi beigebunden. 9 ,Edelstein' und Anonymus-Sammlung sind zweispaltig mit etwa 32-35 Zeilen pro Spalte und - wie die Chronik-Teile - „von einer Hand, wenn auch nur bis S. 157 in einem Zuge, dann mit größeren Intervallen geschrieben". 10 Nachträge anderer Hand finden sich des öfteren, sie sind z.T. oben erwähnt. 11 Nicht berücksichtigt worden sind bislang Nachträge, Ergänzungen, Korrekturen etc. von anderer Hand im Boner-Teil der Handschrift (s. o.), besonders intensiv z. B. in Nr. 42 ,Ameise und Heuschrecke (Grille)', S. 30b-31 b. Daß die Seitenzählung (mit arabischen Ziffern) von der Hand Aegidius Tschudis stammt, ist ersichtlich aus einem Vergleich mit einigen am Rande des Chronik-Teils notierten Jahreszahlen (etwa S. 139, rechter Rand). Die Paginierung ist erst nach den oben erwähnten Blattverlusten ausgeführt worden. Deren Umfang kann man aus der noch dem 15. Jahrhundert entstammenden Foliierung mit römischen Ziffern auf dem oberen Rand der Blätter des Boner- und Anonymus-Teils ableiten. (Ähnlichkeiten im Duktus dieser Foliierung mit den Jahreszahlen im Chronik-Teil lassen auch hier auf ihren Urheber schließen - es dürfte Rudolf Mad gewesen sein.) Die Foliierung beginnt mit den Ziffern III-X (auf S. 1/2-15/16) und setzt sich fort mit den Ziffern XIII-LXVIII (auf S. 17/18-127/128). Die Foliierung umfaßt also genau und ausschließlich den Boner- und Anonymus-Teil der Handschrift. Nach zwei freigelassenen Seiten (129/130) hat Rudolf Mad dann im bereits begonnenen 6. Sexternio der Handschrift mit der Abschrift der ,Zürcher Chronik' begonnen. 12 Die Angaben für S. 202-239 weichen ab von den entsprechenden Mitteilungen D Ü R R s (wie Anm. 2), S. 95. Die Angaben für S. 240-260 verdanke ich Dr. P. Ochsenbein. ' DÜRR (wie Anm. 2), S. 96; vgl. FA, S. VIII. i" FA, S. VIII; vgl. D Ü R R (wie Anm. 2), S. 96; D I E R A U E R (wie Anm. 1), S. X X X I I f . " Der bei D Ü R R (wie Anm. 2), S. 96 und in FA, S. VIII erwähnte Nachtrag auf freiem Raum der S. 183 findet sich bei D I E R A U E R (wie Anm. 1), S. 248 Z. 23-249 Z. 3. 12 Hinweise auf Wasserzeichen bei DÜRR (wie Anm. 2), S. 95. 8

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Der Vergleich von Foliierung und Paginierung zeigt, daß vom alten Bestand allein die Blätter I und II sowie XI und XII, die beiden äußeren Doppelblätter des ersten Sexternios, fehlen.13 Warum ausgerechnet diese Blätter fehlen, läßt sich allenfalls vermuten. Immerhin ist merkwürdig, daß mit ihrem Verlust gerade die programmatisch oder ideologisch exponierten Fabeln Nr. 2 und 3 bzw. Nr. 24 ,König der Athener' und Nr. 25 .Königswahl der Frösche' verschwunden sind.14 Sollten sie die besondere Freude oder das besondere Mißfallen eines Mitglieds der Familie Tschudi erregt haben? Nicht auszuschließen (wenngleich weniger wahrscheinlich) ist auch, daß die Federzeichnungen, mit denen der Boner-Teil bis auf drei freigelassene Stellen15 versehen worden ist, den Missetäter gereizt haben könnten. Es handelt sich um 81 kleinere, Spaltenbreite und durchschnittlich 15 Verszeilen umfassende Zeichnungen.16 Sie stehen stets vor dem Beginn einer neuen Erzählung; einige weitere sind aber auch verhältnismäßig genau an der entsprechenden Stelle mehrteiliger Fabeln (Nr. 37, 47, 51, 52) und z.T. zusätzlich so plaziert worden, daß sie sich auf gleicher Höhe der zwei Spalten gegenüberstehen. So wird auch im Bild der Fortgang der erzählten Handlung sinnfällig. Besonders hübsch ist dies etwa bei Nr. 51 ,Pferd und Esel' und Nr. 52 ,Mann, Sohn und Esel' (S. 44 a—48 a) gelungen. Für die unmittelbar an den .Edelstein' anschließende Sammlung des Anonymus war Gleiches vorgesehen, doch sind die Zeichnungen (wie die letzte des .Edelstein') nicht ausgeführt, sondern nur der entsprechende Raum dafür freigelassen worden. 17 Foliierung wie Anlage der Illustrationen zeigen, daß .Edelstein' und Anonymus-Teil im Codex 643 auch von ihrem äußeren Erscheinungsbild her als Einheit begriffen worden sind. Gleichzeitig wird deutlich, daß dieser Teil der Handschrift auf eine Vorlage zurückgeht18, die ihrerseits illustriert In den vorderen Deckelspiegel ist eine von Rudolf von Rostnbtrg und Eglolf von Roschach ausgestellte, Cm«% EssriswiUr betreffende deutsche Urkunde (wohl aus dem Jahre 1385) eingeklebt. 14 Vgl. GRUBMÜLLER, Klaus: Meister Esopus. Untersuchungen zu Geschichte und Funktion der Fabel im Mittelalter. München 1977 (MTU 56), S. 309, 362-365. " S. 8b: Nr. 14 (nach V. 26); S. 47a: Nr. 52 (nach V. 22); S. 87b: vor Nr. 94. " Vgl. Abbildung 12 (zu Fabel Nr. 38) bei FOUQUET, Doris: Einleitung. In: Ulrich Boner. Der Edelstein. Faksimile der ersten Druckausgabe. Bamberg 1461. 16. I Eth. 2° der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Stuttgart 1972. 17 Vgl. die Abbildungen der S. 89 u. 124, FA, nach S. XII. Insgesamt waren 31 Zeichnungen für die 21 Erzählungen vorgesehen - in einer Größenordnung von mindestens 8 (FA, S. 41) und höchstens 21 (FA, S. 46), zumeist aber, wie im Boner-Teil, etwa 13-15 Zeilen. Erwähnt werden sollte immerhin, daß S. 105 a ein etwas ungelenk gezeichneter Esels-Kopf wohl nachträglich eingefügt worden ist; er sollte die entsprechende Stelle in Nr. X ,Der Pfaffe mit der Schnur', V. 57 ff. illustrieren helfen. 18 Vgl. FA, S. VIII: Der Codex 643 überliefert die Sammlung des Anonymus „nicht im Original, sondern bereits wieder als Abschrift". Zur selben Ansicht kommt, aus anderen 13

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(oder für Illustrationen vorgesehen) war und die Erzählungen des Anonymus den Fabeln Boners gleichwertig zur Seite gestellt hat. Nimmt man den Chronik-Teil der Handschrift hinzu, so lassen sich auch für diesen illustrierten (Boner-) Codex „Elemente Uterarischer Gebrauchssituationen" skizzieren.19 Für Tschudi war, Mitte des 16. Jahrhunderts, insbesondere der Chronik-Teil von Interesse, hier wiederum jene Partien, die er für seine eigene Chronik quellenkritisch ausgewertet hat. Der spezifisch historische Zugang Tschudis ist von Rudolf Mads Interessen deutlich verschieden. Ein Prolog oder Begründungen für seine, etwas weniger als 100 Jahre früher entstandene, Niederschrift der .Zürcher Chronik' fehlen ganz. Vergleicht man diese Version mit den anderen Fassungen, so zeigt sich in den Kürzungen und Bearbeitungen deutlich die Tendenz, den Gang der Geschichte als eine Exempel-Reihe, als immer neu sich wiederholende, immer ähnlich formulierte Beispiele zu begreifen für Krieg, Hunger, Überschwemmungen, Seuchen, Teuerung und Not, wobei die alltäglichen Sorgen mindestens ebenso breiten Raum einnehmen wie so weltbewegende Ereignisse um die Schlachten von Sempach und Näfels. Diese Tendenz zeigt sich auch in Mads .Glarner Fortsetzung', wenngleich dort seine Rolle als Landschreiber im ausfuhrlichen Zitat zahlreicher Absagebriefe deutlich hervortritt. 20 Wem sich Geschichte so darbot, dem mochten die Exempel Boners und des Anonymus im ersten Teil des Codex 643 im doppelten Sinn des Wortes Anschauungsmaterial bieten, um den Gang der Geschichte, der sich trotz allen Wechsels zu wiederholen schien, beurteilen und sich im eigenen Verhalten entsprechend orientieren zu können. Welche Rolle dabei den 21 Erzählungen des Anonymus zukam, kann eine Untersuchung ihrer Entstehungsumstände und literarischen Gestaltung zeigen. II. Wann, wo, von wem und für wen diese 21 Erzählungen verfaßt worden sind, läßt sich nur aus verstreuten Andeutungen vermuten. Es war wohl tatsächlich ein „Berufsschreiber", den es nach dem Abschreiben des ,EdelGründen: ROSENFELD, Hans-Friedrich: Mittelhochdeutsche Novellenstudien. I. Der Hellerwertwitz. II. Der Schüler von Paris. Leipzig 1927 (Palaestra 153), S. 122; danach auch FISCHER, Hanns: Studien zur deutschen Märendichtung. 2. durchgesehene und erweiterte Aufl. bes. v. Johannes JANOTA. Tübingen 1983, S. 169 Anm. 120. " Vgl. zum Cgm 3974: GRUBMÜLLER, Klaus: Elemente einer literarischen Gebrauchssituation. Zur Rezeption der aesopischen Fabel im 15. Jahrhundert. In: Würzburger ProsaStudien II. Untersuchungen zur Literatur und Sprache des Mittelalters. Kurt Ruh zum 60. Geburtstag. Hg. v. Peter KESTING. München 1975 (Medium Aevum 31), S. 139-159. Die illustrierten Boner-Handschriften sind S. 152 zusammengestellt. 20 Zu weiteren Eigenheiten vgl. DÜRR (wie Anm. 2), S. 97 ff.

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stein' „in den Fingern juckt" 21 , selbst, wie er in einer Vor- und Zwischenrede zu seinen Erzählungen sagt, bischaft (I, 6; XVIII, 5) zu verfassen und sie im Anschluß an das Bonersche buoch in dieses buoch zu schriben (I, 3). Ob der Autor, wie man der Lokalisierung eines Hostienwunders nach Brug, ein halb mil von Baden in der Nr. XX (V. 1) seiner Sammlung entnehmen zu können glaubt, tatsächlich aus dem Aargau stammt22, bleibt ganz ungewiß und trägt auch nicht viel zu einer Rekonstruktion der Entstehungsumstände der Sammlung bei. Der Anonymus will vom Diebstahl der Hostien und ihrem wunderbaren Wiederauffinden ja nur sagen gehört haben (V. 2), und das brauchte nicht im Aargau zu geschehen (s. u.). Auch die Bemerkung, daß Brugg eine (etwas kurz gemessene) halbe Stunde von Baden entfernt liegt, scheint nicht so sehr aus Aargauer, sondern eher aus anderer, vielleicht Züricher Sicht gesprochen. Das alte Brugg lag am rechten Ufer der Aare und beherrschte den Flußübergang vor der Stadt (vgl. XX, 7) an der Straße von Zürich über Baden nach Basel. Es war als ursprünglich Habsburger Besitz in Zürich wohl bekannt23; Zürich wird in der Erzählung (V. 33) auch als erste der drei Städte Zürich, Brugg und Basel genannt. Diese Städtereihe scheint auch ein Indiz für eine etwas genauere zeitliche Einordnung der Erzählungen zu bieten. Baden (V. 1), Brugg (V. 1, 34) und Zürich (V. 33) werden nicht näher bezeichnet; dem steht gegenüber die genaue Bezeichnung von Basel als der richstat vin (V. 36). Basel war seit 1386 Reichsstadt und blieb das bis 1501. Andererseits war der Aargau seit 1415 im Besitz der Eidgenossen, die sich die Verhängung der Reichsacht über Herzog Friedrich IV. von Tirol („mit der leeren Tasche") in Folge von dessen Bündnis mit Papst Johannes XXIII. und dessen Flucht vom Konstanzer Konzil zunutze machten, die Habsburger Besitzungen im Aargau eroberten und vom deutschen König Sigmund als Reichspfand erhielten. Da man die Bezeichnung von Basel als Reichsstadt dem Autor der Erzählungen und nicht Rudolf Mad zuschreiben darf, mag die fraglose Erwähnung von Brugg und Baden als nicht mehr habsburgisch für eine

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FISCHER (wie Anm. 18), S. 169. FA, S. VII; FISCHER (wie Anm. 18), S. 169. Die Vermutung stammt von SINGER, Samuel: Die mittelalterliche Literatur der deutschen Schweiz. Frauenfeld und Leipzig 1930, S. 91. SINGERs Hinweis auf die Form gär beweist nichts; sie findet sich ein einziges Mal (V, 68), sonst reimt gar auf vir (III, 19), war (V, 13,81; XVI, 43), dar (VII, 105; XIX, 41) und jär (XVII, 133). Was aber will das besagen angesichts von Reimen wie lasseit/strafen (VI, 51; VIII, 59) und den Endsilbenreimen auf bcttltr ( X V , 42) und Schaffner (in XVII sechsmal)? Letzteres findet sich z. B. auch mehrfach in .Metzen hochzit', in: WIESSNER, Edmund (Hg.): Der Bauernhochzeitsschwank. Meier Betz und Metzen hochzit. Tübingen 1956 (ATB 48). Zum Problem genauer: ROSENFELD (wie Anm. 18), S. 108 f., 119. In der .Zürcher Chronik' wird es mehrfach genannt, vgl. DIERAUER (wie Anm. 1), Register.

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Entstehung der Erzählungen zwischen 1415/18 und 1460, dem Beginn von Rudolf Mads ,Glarner Fortsetzung', sprechen. 24 Zu vage bleibt wohl der Versuch, die politische Konstellation, die sich im gemeinsamen Interesse der Städte Brugg, Zürich und Basel an drei durch Wunder ausgezeichneten Hostien andeutet (XX, 31-36), für genauere Datierung und Lokalisierung zu nutzen. Man könnte immerhin an einen Reflex der politischen Situation zur Zeit des Alten Zürichkrieges denken. Ein Friedenskongreß in Baden war Anfang April 1444 gescheitert, nachdem die den Eidgenossen zugewandte Friedenspartei in Zürich durch einen Aufstand der mit den Habsburgern sympathisierenden Partei gestürzt worden war. 25 Brugg, das wie der gesamte westliche Aargau unter Administration Berns und damit auf Seiten der Eidgenossen stand, wurde am 30.7.1444 von Züricher Truppen unter Hans von Rechberg und mit Hilfe der Aargauer Freiherren Hans und Thomas von Falkenstein, die am 29.7. Bern den Absagebrief geschickt hatten, durch Verrat eingenommen und zerstört. Ziel dieser Aktion war es, dem von Basel mit seinen Armagnaken heranrückenden Dauphin den Weg freizumachen, um das von ca. 20000 Eidgenossen belagerte Zürich zu entsetzen. 26 Dieser Plan, der Teil von Habsburgs Bemühungen unter Friedrich III. war, mit Hilfe Zürichs die Herrschaft im Aargau zu restituieren, scheiterte trotz der Niederlage der Eidgenossen in der Schlacht bei St. Jakob an der Birs (26.8.1444). Die eindeutig parteiische 2. Fortsetzung der .Zürcher Chronik' (die den Überfall auf Brugg verschweigt) verknüpfte diese Niederlage und den Abzug der Belagerer noch Jahre später ursächlich mit drei Freveltaten der Eidgenossen, vor allem mit zwei Hostienfreveln, die sie an allgot^forcht im Juni 1444 begangen hätten. 27 Dies könnte erklären, warum in der Erzählung Für „das beginnende 15. Jh." als Entstehungszeit plädiert auch ROSENFELD (wie Anm. 18), S. 112. FISCHER (wie Anm. 18), S. 169 spricht von „dem ungefähren Ansatz ,erste Hälfte des 15. Jahrhunderts'"; so auch FA, S. VIII. In dieses Bild paßt, daß die .Zürcher Chronik', die Rudolf Mad vorlag, „um das Jahr 1415 oder wenige Jahre später" entstanden ist, so DIERAUER (wie Anm. 1), S. IX. « Vgl. DÄNDLIKER, Karl: Geschichte der Stadt und des Kantons Zürich. Bd. II. Zürich 1910, S. 107-113. 2 6 Darstellung dieser Ereignisse bei BANHOLZER, Max: Geschichte der Stadt Brugg im 15. und 16. Jahrhundert. Argovia. Jahresschrift der Historischen Gesellschaft des Kantons Aargau 73 (1961) S. 7-319, hier S. 20-24. Prof. Dr. Andreas Staehelin (Staatsarchiv des Kantons Basel-Stadt) danke ich für den Hinweis auf diese Schrift und für weitere Bemühungen. Anfragen zu Hostientranslationen beim Stadtarchiv Zürich und in Brugg blieben ohne Ergebnis. 2-7 Es handelt sich um die Städte Rifferswil und Hedingen, südwestlich Zürich. Sie tauchen auch auf in den von Th. v. LIEBENAU gedruckten „Scenen aus dem alten Zürichkriege". Anzeiger für Schweizerische Geschichte 3 (1872) S. 235-240. Danach werden am 20. Juni 1444 auf „Ansuchen von Bürgermeister und Rath von Zürich" insgesamt 33 Personen (darunter Felix Hemmerli, zu ihm 2 VL III, Sp. 989-1002, Katharina COLBERG) vernommen; sie berichten, nach einer 10 Blätter umfassenden „Kundschaft", von Morden und 24

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des Anonymus ganz unvermittelt berichtet wird, daß der Dieb der Hostien in grosses leid (XX, 26) gekommen sei, wohingegen die p f i f f e n und die Bürgerschaft die gestohlenen und wiedergefundenen Hostien mit wirdikeit, als man solt (wie viermal betont wird: XX, 25-30) behandelt hätten. So reizvoll solche Überlegungen auch sind, sich die Entstehung der Sammlung des Anonymus in Zürich zur Zeit der Auseinandersetzungen der habsburgischen und eidgenössischen Partei zu denken, sie bleiben natürlich ohne Beweiskraft. Dennoch scheinen sie mir ein gangbarerer Weg als der Versuch zu sein, die genauere Lebenszeit des Autors über eine „historische Identifizierung" des in Nr. XX erzählten Hostienwunders zu ermitteln (FA, S. VII). Denn dieses Hostienwunder - ein Dieb stiehlt eine Monstranz in Brugg, er wirft die drei Oblaten in den baeh (XX, 7), diese werden, mit je drei Blutstropfen, vom Hirten der Stadt entdeckt, weil sich das Vieh, das er austreibt, niederkniet, als ob es bettite (XX, 14); die Hostien werden mit wirdikeit (XX, 25, 28, 29, 30) nach Brugg zurückgebracht oder nach Basel und Zürich transferiert - eben dieses Hostienwunder wird in seinen vier konstitutiven Momenten - Diebstahl, Hostien in der freien Natur, Wiederentdeckung durch niederknieendes, scheinbar betendes Vieh, würdige Wiedereinbringung - ca. 300 Jahre früher auch von Caesarius von Heisterbach erzählt (IX, 7); in TUBACHs „Index Exemplorum" sind insgesamt neun weitere Variationen dieses Exempeltyps nachgewiesen.28 Ein altes Exempel ist hier also, so ist zu vermuten, mit Elementen konkreter Vorgänge verknüpft worden und hat sie deuten helfen. Schon für Rudolf Mad aber brauchen diese Bezüge nicht mehr deutlich gewesen zu sein; die exempelhafte Stilisierung des Allgemeinen im Besonderen hat auch diese Erzählung für andere Verwendungszusammenhänge brauchbar gemacht. Und bereits dem Anonymus war sie vor allem Beweis dafür, das daran nieman ^wiflen sol,\ das sich der allmächtig gott / selber berge in das heiig brot (XX, 38—40). III. Nicht allein in der erwähnten Geschichte von der gestohlenen Monstranz wird eine Geschichte neu dargeboten, die auch sonst mehrfach überliefert ist. Dieses Phänomen ist vielmehr auch bei allen anderen Erzählungen des

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Leichenschändungen, vor allem aber Kirchen- und Klosterfreveln der belagernden Eidgenossen, darunter nicht weniger als 13 Hostienfreveln. - Die Niederlage der Eidgenossen bei St. Jakob an der Birs quittierten die Züricher (nach der 2. Fortsetzung der Chronik) mit dem Freudengeläut aller Glocken - die warend davor m 3 mannten nie ge/mtet worden, weder naebt noch tag; vgl. DIERAUER (wie Anrn. 1), S. 214 Z. 17-216 Z. 18. Die Handschrift, die diesen Bericht enthält (Stiftsbibl. St. Gallen, Cod. 657), war ebenfalls in Tschudis Besitz. Die 2. Fortsetzung stammt wohl nicht von Felix Hemmerli, vgl. 2 VL III, Sp. 992. TUBACH, Frederic C.: Index Exemplorum. A Handbook of Medieval Religious Tales. Helsinki 1969 (FFC 204), Nr. 2641, 2654, 2668, 3562.

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Anonymus zu beobachten. Spezifisch ausgerichtet ist die Sammlung freilich dadurch, daß ihre Motive - bis auf drei Erzählungen (X, XIII, XIV) - in jenen Exempelsammlungen belegt sind, die TUBACH zur Grundlage seines Index' gemacht hat, ohne daß sich etwa eine Sammlung als ausschließliche oder hauptsächliche Quelle abzeichnete. Ich gebe im weiteren die Nummern von TUBACHs Motivindex für die 21 Erzählungen der Sammlung; falls erforderlich, erwähne ich auch die entsprechenden Belege aus den Indizes von AARNE/THOMPSON (AaTh), THOMPSON (Mot.), BOLTE und K O S A K . » I. .Vorrede' II. .Fuchs und Wolf im Eimer' TUBACH 5247; KOSAK 61 AaTh 247; KOSAK 35 III. .Falke und Eule' BOLTE II. 373 IV. .Zweierlei Bettzeug' V. .Ein böses Weib scheidet eine Ehe' TUBACH 5361 VI. .Respice finem' TUBACH 5324 VII. .Das Säcklein Witz' TUBACH 4228; AaTh 910 G TUBACH 3488 VIII. .Ein Sohn beißt dem Vater die Nase ab' TUBACH 2074 (AaTh 2), 3068 IX. .Der Wolf als Fischer' AaTh 1417; Mot. K 1548 X. .Der Pfaffe mit der Schnur' cf. TUBACH 888; KOSAK 102 XI. .Die Katze als Nonne' cf. TUBACH 275, 5384; Mot. H XII. ,St. Petrus und der Holzhacker' 605, Q 291.1 XIII. .Der Pfaffe im Käskorb' AaTh 1419 H, K* (Mot. K 1521) XIV. .Der Koch' Mot. K 1514.4.1 TUBACH 703, 3612; AaTh 841 XV. .Die zwei Brote' KOSAK 171; cf. TUBACH 378 XVI. .Der Wolf und die Geige' XVII. .Der dankbare Lindwurm' TUBACH 256 XVIII. .Zwischen rede' XIX. .Der beichtende Student' TUBACH 1202a XX. .Die gestohlene Monstranz' TUBACH 2641, 2654, 2668, 3562 TUBACH 2672 XXI. .Der häßliche Pfaffe' TUBACH 2458 a XXII. .Die Sünderin' XXIII. .Das geschändete Sakrament' cf. Mot. Q 222 (z. B. Q 222.4, Q 222.5.2) Deutlich wird mit dieser Zusammenstellung zunächst einmal, daß die mehrfach geäußerten Behauptungen des Anonymus, er habe die Geschichte, die

« TUBACH (wie Anm. 28); AaTh: AARNE, Antti/Stith THOMPSON: The Types of the Folktale. A Classification and Bibliography. Antti Arne's Verzeichnis der Märchentypen (FF Communications No. 3) Translated and Enlarged by. St. TH. Helsinki 21964 (FFC 184); Mot.: THOMPSON, Stith: Motif-Index of Folk-Literature. 6 Bde. Kopenhagen 21955-1958; BOLTE: BOLTE, Johannes (Hg.): Johannes Pauli. Schimpf und Ernst. 2 Bde. Berlin 1924; KOSAK: KOSAK, Bernhard: Die Reimpaarfabel im Spätmittelalter. Göppingen 1977 (GAG 223), hier S. 357^(14.

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er erzählen wolle, gehört oder gelesen 30 , keineswegs fiktive Quellenberufungen sind. Das gilt somit auch für die Erzählung, für die dem Autor noch am ehesten Originalität bescheinigt worden ist, für Nr. XIII ,Der Pfaffe im Käskorb', in der die Ehefrau den geistlichen Liebhaber durch den parodistischen Gesang eines (in der Handschrift notierten) geistlichen Fahrtenliedes warnt. 31 Die Erzähltradition, in die sich der Autor stellt, gleicht somit unter dem Gesichtspunkt stofflicher Provenienz ganz eindeutig den Exempelsammlungen des Mittelalters, die TUBACH unter dem Aspekt des „Religiösen" für seinen Index ausgewertet hat. 32 Die Heterogenität des Erzählten, die vielen dieser Sammlungen eigen ist, kennzeichnet also auch die 21 Erzählungen des Anonymus. In solchen Sammlungen stört z. B. auch nicht die Erzählung Nr. IV .Zweierlei Bettzeug', die ich hier nach FISCHERs Regest wiedergebe: Ein Bauer, der einem fahrenden Scholaren Unterkunft gewährt, macht diesem für sein L a g e r auf der Ofenbank „ B e t t z e u g " aus den Bauchwindcn, die er streichen läßt. Der Student vergilt diesen üblen Scherz mit gleicher Münze, indem er anderntags das „Bettzeug" in Gestalt eines Haufens K o t hinter dem Ofen zurückläßt. Der Bauer setzt sich hinein, bemerkt die Bescherung und findet, daß ihm recht geschah. - Epimythion: Wer einen anderen verspottet, muß selbst Spott leiden. 33

Wir finden diese Erzählung im .Eulenspiegel' (79. Historie), aber auch (im ersten Teil abgewandelt) im 42. Kapitel von Johannes Paulis .Schimpf und Ernst' (Nr. 373) wieder. Und sie fügt sich dort ebenso in den Kontext der Sammlung, wie sie neben den sog. Mären, Tierbispein, weltlichen und im engeren Sinne geistlichen Exempla 34 des Anonymus ihren Platz findet. Das heißt, es geht hier nicht darum, „die meist sehr frivolen Mären [ . . . ] planmäßig mit echten Bispein und besonders erbaulichen Exempeln [zu] umgeben", um „den Eindruck einer wirklichen Bispelsammlung hervorzurufen" 35 , sondern hier wird eine Sammlungs-Tradition fortgesetzt, auf deren Zusammengestellt sind die Belege FA, S. IX; dazu noch X, 178: ich han noch megelesen. Zu dieser Erzählung vgl. außer der zu AaTh 1419 H angegebenen Literatur noch ROTH, Klaus: Ehebruchschwänke in Liedform. Eine Untersuchung zur deutsch- und englischsprachigen Schwankballade. München 1977 (Motive. Freiburger Folkloristische Forschungen 9), S. 41 f., 82f., 268-270, 360-363. Zum Lied: SALMEN, Walter: Zur Geschichte eines mittelalterlichen geistlichen Fahrtenliedes. Jahrbuch f. Liturgik und Hymnologie 10 (1965) S. 145-147. 32 Zur Kritik des überwiegend auf den religiösen Aspekt festgelegten Exempel-Begriffs vgl. zuletzt vor allem DAXELMÜLLER, Christoph: Exempl um und Fallbericht. Jahrbuch f. Volkskunde 5 (1982) S. 149-159. 33 FISCHER (wie Anm. 18), S. 440. 34 So bezeichnet die Texte nach ihrer Gattungszugehörigkeit MIHM, Arend: Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung im Spätmittelalter. Heidelberg 1967, S. 30. - FISCHER (wie Anm. 18), S. 169 spricht von „vier kurzen Schwänken [...], einem moralisch-exemplarischen Märe und einigen Bispel, dazu - bispelhaft behandelt - mehreren Fabeln und geistlichen Erzählungen", anders wieder in der Tabelle S. 206. J5 MIHM (wie Anm. 34), S. 30. 30

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Anfange in der deutschen Literatur des 13. Jahrhunderts zuletzt vor allem Joachim HEINZLE hingewiesen hat.36 Von dieser Sammlungs-Tradition unterscheidet sich dezidiert Boners .Edelstein', dessen einzelne Vorlagen zu drei Vierteln den Fabelcorpora des Avian und des sog. Anonymus Neveleti entstammen.37 Gleichwohl bezeichnet der Anonymus seine Erzählungen ebenso als biscbaft (I, 6; VI, 69; XVIII, 5; XIX, 51) wie Boner die seinen und erweitert damit im Sinne seiner Vorlagen den vergleichsweise exklusiven Begriff von bischaft, mit dem Boner seine Fabeln bezeichnet hat.38 Obwohl sich der Autor damit und in seiner programmatischen Vor- und Zwischenrede deutlich in die Nachfolge Boners stellt (s. u.), unterscheidet sich seine Sammlung auch in ihrer Anlage vom .Edelstein'. Haben wir es bei Boner bereits in den Vorlagen mit Texten relativ homogener Provenienz zu tun, die im .Edelstein' darüber hinaus durch mehr oder weniger deutliche Querbezüge und einheitliche Stilisierung einer gemeinsamen Konzeption dienstbar gemacht werden39, bekommt die Sammlung also nach dem auch ausdrücklich formulierten Willen ihres Autors vor allem als ganze ihr Gewicht, so empfangt keine der Erzählungen des Anonymus ein sinnstiftendes Element von einer anderen Erzählung oder einer übergeordneten Konzeption. Die einzelne Erzählung bleibt relativ „selbständig" im Vergleich zu der relativen „Unselbständigkeit" der Erzählungen im .Edelstein', der sich diesbezüglich eher mit dem Aufbauprinzip der Schachbücher vergleichen läßt. Unter diesem Gesichtspunkt wird man sich der Charakterisierung der beiden Sammlungen durch Hanns FISCHER anschließen dürfen.40 In seiner grundsätzlichen Kritik an FISCHERs Gattungskonzeption, in der der Sammlung des Schweizer Anonymus paradigmatische Funktion zukommt, hat Joachim HEINZLE demgegenüber hervorgehoben, daß die „Vielfalt der inhaltlichen, thematischen und anderen Konstituenten" der Sammlung gewissermaßen „eingeebnet" und damit auch die Unterschiede von sog. Bispein und sog. Mären nicht mehr gegeben seien. Ich sehe im weiteren davon ab, daß die Argumente FISCHERs und HEINZLEs in dieser Diskussion um Selbständigkeit/Unselbständigkeit der Einzelerzählungen bzw. Einheitlichkeit/Uneinheitlichkeit der ganzen Sammlung auf verschiedenen Ebenen liegen und konzentriere mich auf das Argument, das HEINZLE für die „Einebnung" der „Heterogenität der Bezüge" vorgebracht hat. D.h., ich werde im weiteren prüfen, ob jene „exemplarischHEINZLE, Joachim: Märenbegriff und Novellentheorie. Überlegungen zur Gattungsbestimmung der mittelhochdeutschen Kleinepik. ZfdA 107 (1978) S. 121-138, zitiert nach dem Abdruck in: Das Märe. Die mittelhochdeutsche Versnovelle des späteren Mittelalters. Hg. v. Karl-Heinz SCHIRMER. Darmstadt 1983 (WdF 558), S. 91-110, hier S. 109. 3" Vgl. GRUBMÜLLER (wie Anm. 14), S. 299f., 310-319. 3« Vgl. GRUBMÜLLER (wie Anm. 14), S. 302, 306-308. y GRUBMÜLLER (wie Anm. 14), S. 302-310. FISCHER (wie Anm. 18), S. 62 Anm. 137 (4.). Vj

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didaktische Ausrichtung des Erzählten" wirklich eine solche „Homogenität des Werkgefüges" bewirkt, daß „hinter dem Exempelcharakter der Erzählungen [ . . . ] das Bewußtsein von ihrer inhaltlichen und thematischen Sonderung" zurücktritt und die „Sammlung des Schweizer Anonymus als einheitliches Gesamtwerk" erscheint. 41 Was heißt „exemplarisch-didaktische Ausrichtung" des Erzählten? Es ist für HEINZLE ein „funktionales Moment" und heißt nicht mehr und nicht weniger als „lehrhafte Intention" 42 ; HEINZLE deutet an, daß er in diesem intentionalen Moment eine „gattungshafte" bzw. „systemprägende Dominante" im Sinne von JAUSS sehen möchte. 43 Problematisch scheinen mir in diesem Zusammenhang zwei Aspekte: 1. Ist es generell und in einem spezifisch historischen Sinne erkenntnisfördernd, a l l e Texte dieser (oder auch einer anderen, ähnlich konzipierten) Sammlung unter dem Gesichtspunkt ihrer so verstandenen „lehrhaften Intention" als „Gattung" oder als einen inhaltlich bzw. thematisch unbestimmten „Traditionszusammenhang" 44 zu begreifen? In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Sammlung des Anonymus z. B. in nichts von den Sammlungen, aus denen ihre Vorlagen stammen. Demgegenüber käme es darauf an, zu präzisieren, welcher Art die verkündeten Lehren sind und auf welche Weise die Erzählungen so gestaltet sind, daß wir geneigt sind, sie mit dem „Sammelbegriff' 4 5 Exempel zu belegen. 2. Unter welchem Gesichtspunkt ist es sinnvoll, „historische Wesenserkenntnis in bezug auf literarische Typen" mit dem Bewußtsein der Autoren oder der Zeitgenossen zu verknüpfen? 46 Da seine „poetischen Fähigkeiten" nur wenig geschätzt werden 47 , scheint der Schweizer Anonymus diesbezüglich nicht viel herzugeben. Unter dem Gesichtspunkt einer Auseinandersetzung mit Boners .Edelstein' beweisen seine Erzählungen aber durchaus eigene Qualität; die Forschung hat das übersehen, da bislang unwidersprochen gilt: „Sehr intim ist die Beschäftigung unseres Dichters mit Boner gewiß nicht gewesen." 48 Alle Zitate nach HEINZLE (wie Anm. 36), S. 108f. « HEINZLE (wie Anm. 36), S. 108 u.ö. 43 HEINZLE (wie Anm. 36), S. 108 Anm. 32; JAUSS, Hans Robert: Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters. In: GRLMA I, S. 107-138, zitiert nach dem Nachdruck in: ders.: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. München 1977, S. [327]—[358], dort S. [332], 44 HEINZLE (wie Anm. 36), S. 109. 45 HEMPFER, Klaus W.: Gattungstheorie. München 1973 (UTB 133), S. 28. 46 Vgl. HEINZLE (wie Anm. 36), S. 93 und, besonders deutlich, S. 92 f. u. 96; FISCHER (wie Anm. 18), S. 77 hatte die beiden Momente voneinander getrennt. 47 FA, S. IX; weitere Beispiele: ROSENFELD (wie Anm. 18), S. 112-115; MIHM (wie Anm. 34), S. 29; FISCHER (wie Anm. 18), S. 170; SINGER (wie Anm. 22), S. 92. 48 ROSENFELD (wie Anm. 18), S. 122.

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IV. Der Anonymus leitet die erste Reihe von 16 Erzählungen (sollte sie die 84 Fabeln seiner Boner-Redaktion auf die obligaten 100 ergänzen?) und die zweite Reihe mit fünf Erzählungen jeweils mit einer Vorrede ein. Er betont, daß er zum dichten (XVIII, 1) nicht klug genug sei (I, 7; XVIII, 8 f.), daß er es aber dennoch nicht lassen könne (I, 9; XVIII, 6). Er hofft, daß seine Leser ihn deswegen nicht in üble Nachrede bringen (I, 4 f.), und er bittet Gott, ihm bei seinem Werk zu helfen (XVIII, 11-14): das min gedieht werd volbracht und in guoten werken werd gedacht. (XVIII, 15 f.) Obwohl er hier gegenüber Boner sehr viel deutlicher eine Funktion seiner Dichtung in konkreten Handlungen postuliert, überläßt er es gleich danach dem Leser wieder, ob dieser überhaupt weiterlesen wolle - und dabei zitiert er, einmal ausfuhrlich, einmal kurz, die Schlußverse aus der zweiten programmatischen Einleitungsfabel49 der ihm vorliegenden ,Edelstein'-Redaktion (Boner Nr. 3, V. 65-72): wem nu min gedieht nit wol gefalt, er si wib, man, jung oder alt, der laß mit züchten ab sin lesen. [I, 15] wil er, so laß ouch mich gnesen, [I, 16] und wa dis buoch gebresten hab uf keinen sin, den nem er ab. das ist min begirde guot. er sol vinden, wer wol tuot. (XVIII, 17-24) Die literarische Offenheit, die der Anonymus damit für sein Werk reklamiert, weicht in den Texten dann aber ganz handfester Didaxe. Unter den Themen der Epimythien, die in der Regel durch Abstraktion des Erzählinhalts gewonnen werden, dominiert das Betrug-, SelbstbetrugThema (II, III, IV, V, VII, IX, X, XI, XVI). Dabei werden z. T. Gedanken, z.T. auch Formulierungen Boners übernommen (z.B. Boner Nr. 17, 23ff. und Anonymus II, 43 ff.), z. T. aber gegenüber dem eher verallgemeinernd konstatierenden Boner auf das Ich des Autors hin drastisch zugespitzt, bis hin zu der Ankündigung wer mir abbricht min rechten Ion, mag ich den betrieben, das wil ich tuon (IX, 87 f.; vgl. Boner Nr. 37, 55, 74); es geht sogar bis zur indirekten Todesdrohung (IX, 89-96). Andere Themen sind Frauenlist (V, VII, X, XIII), Kindererziehung (III, VIII; vgl. Boner Nr. 79) und - in der Mirakel-Gruppe am Schluß - die helfende Kraft wahrer Reue (XIX, XXII) und die Bestätigung der Leiblichkeit Christi in der Hostie (XX, XXIII); schließlich gibt es eine Reihe nur einmal behandelter Themen (VI, XII, XV, XVII, XXI). Vgl. GRUBMÜLLER (wie Anm. 14), S. 309.

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Auffallig ist hier, neben der Dominanz des auch für Boner zentralen Themas der binterred, der valschen \unge, die Perspektive, in die die Epimythien gestellt werden. Zwar dürfte auch hier ein Textcorpus in der Stadt entstanden sein, die Stadt „erreicht" haben; aber gegenüber Kaufringers eher genossenschaftlich (wie mir scheint) als „städtisch" orientiertem Denken, scheinen sich in den nur wenig später entstandenen Texten des Anonymus doch bei aller Topik so etwas wie die Ansprüche eines Abhängigen, eines in diesem Sinne armen (vgl. z. B. die verschiedenen Aspekte von arm in X, 176; XVII, 217; XXI, 55) abzuzeichnen50, dessen dienst in Anspruch genommen wird (IX), dessen Status vielfach gefährdet ist, der sich aber durch genaues Zuhören (XII), durch Vertrauen gegenüber dem biderman (II, 70) und auf den Nutzen moralisch einwandfreien Verhaltens (VIII), durch genaues Bedenken von Handlungsfolgen (VI), durch wirdiges Verhalten gegenüber den Sakramenten (XX, XXIII) und, wenn es denn nach der betrügerischen Aktion eines anderen sein muß, auch einmal durch Gegenwehr (II, IV) seinen Platz auf der Erde (XI) erhalten und sich durch aufrichtige Reue (XIX, XXII) und gute Taten seinen Platz im Himmel (XXI) erwerben kann. Die vielberufene einheitliche „lehrhafte", „didaktische" Intention stellt sich also als durchaus vielfaltig dar, vielfaltig genug, um Boners „relative Moralität"51 für die Leser des buoches zu ergänzen um literarische Modelle, die Verständnishilfen, „Brillen", wie es BAUSINGER genannt hat52, mitunter gar Handlungsanweisungen für ein labiles soziales Gefüge zur Verfügung stellen - die .Zürcher Chronik' und ihre ,Glarner Fortsetzung' bieten hier genügend konkretes Anschauungsmaterial. Diesem aspektenreichen Anspruch „der" Lehre dienen auch die Darbietungsformen der in den Erzählungen implizit enthaltenen Lehren, aus denen die explizit formulierten Lehren abgeleitet worden sind. Ich stelle diese Formen im weiteren kurz dar.53 Zunächst aber einige Vorbemerkungen. Daß man bei der Analyse von sog. „exemplarischen" Erzählungen zwei Ebenen der Präsentation und der Beschreibung zu unterscheiden hat, ist vor allem in der Analyse der Fabel, zuletzt von Hans Ulrich GUMBRECHT, entwickelt worden.54 Es ist zum einen die Ebene der dargestellten Fiktion, des „Stoffes", d.h. für diese Literatur eine variable Konstellation von (meistens) zwei Protagonisten, zwei Rollen, wie besser 50 51 52

53

54

Vgl. zu diesem Thema bei Boner: GRUBMÜLLER (wie Anm. 14), S. 359f. GRUBMÜLLER (wie Anm. 14), S. 332ff. BAUSINGER, Hermann: Bemerkungen zum Schwank und seinen Formtypen. Fabula 9 (1967) S. 118-136, S. 123f. Ausführlicher habe ich sie darzustellen und zu begründen versucht in: Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispein und Romanen. München 1985 (MTU 87), S. 95 ff. GUMBRECHT, Hans Ulrich: Marie de France. Äsop. Eingeleitet, kommentiert und übersetzt von H. U. G. München 1973 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters 12), S. 36 ff.

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zu sagen wäre, die unter einer je spezifischen Bedingung so aufeinander bezogen sind, daß ihr Verhältnis in einfachen Merkmaloppositionen beschreibbar ist und in seinen Konsequenzen einer Regel entspricht. Um ein Beispiel zu geben - in der Nr. II der Sammlung, die das Brunnenabenteuer von Fuchs und Wolf zum Gegenstand hat, sind Fuchs und Wolf die Protagonisten, deren spezifische Eigenschaften (leicht - schwer) unter der spezifischen Bedingung dieses Brunnens das Handeln der Protagonisten so determinieren, daß der Fuchs als listig, der Wolf als dumm erscheint. Es lassen sich vier Typen mit verschiedenen Untergruppierungen solcher „Protagonistenkonstellationen" und ihrer „Interaktionsergebnisse" (wie GUMBRECHT dies genannt hat) im Rahmen der sog. exemplarischen Literatur unterscheiden, deren Gemeinsamkeit zum wesentlichen darin besteht, daß das Material, das in ihnen bereitgestellt ist, zwar unabdingbares Konstituens dieser Literatur ist, daß dies aber noch nicht ihre didaktische, lehrhafte Intention garantiert. Dies ist erst einer spezifischen Organisation dieses Materials für den Rezipienten zu verdanken, die auf einer zweiten Ebene der Beschreibung erfaßt werden kann. Auf diese zweite Ebene gehe ich im weiteren ausschließlich ein. Sie ist strukturiert wie ein menschliches Denkschema: Wie in einem Beweisverfahren wird eine These formuliert, die im „Interaktionsergebnis" bestätigt oder falsifiziert werden kann. Je nachdem, wie, von wem und an welcher Stelle in der Sukzession der Informationen für den Rezipienten diese „These" geäußert wird, lassen sich wiederum vier Typen exemplarisch-didaktischen Erzählens unterscheiden. In einem ersten Typ wird zu Beginn der Erzählsequenz von einem Protagonisten ein Plan, eine Hoffnung, eine Handlungsbegründung geäußert, die - im Moment ihrer Rezeption - vom Leser/Hörer in der Regel als „falsch" deklariert werden kann; die damit provozierte Erwartung wird zumeist vom Ende der Erzählung bestätigt. In des Anonymus Sammlung finden wir z. B. in Nr. XI die Katze, die als Ordensfrau glaubt leben zu können, weil sie eine Spinnwebe als „Schleier" auf ihrem Haupte hat - sie muß im Kloster weiter Mäuse fangen; wir finden den Wolf, der glaubt, der süße Ton einer Geige garantiere auch ihren süßen Geschmack beim Essen; wir finden aber auch den Studenten (XIX), der einer großen Sünde halber sich vornimmt zu beichten, dessen übergroße Bestürzung ihn aber am Sprechen hindert; seine schriftliche Beichte wird durch ein Wunder gelöscht - damit ist der Beweis für die Wirksamkeit wahrer Zerknirschung und Reue geliefert. In allen drei Erzählungen wird das Beweisschema strikt gewahrt. Welche Intentionen aber der Anonymus mit der Fabel von ,Wolf und Geige' (XVI) verfolgt, die in Erzählteil und Epimythion gegen alle Konvention (und allenfalls an ein Gedicht des Teichners erinnernd 55 ) die Rolle des 55 NIEWÖHNER, Heinrich (Hg.): Die Gedichte Heinrich des Teichners. Bd. II. Berlin 1954 (DTM 46), Nr. 434, V. 88-93; vgl. KOSAK (wie Anm. 29) 171.

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tumben Wolfs umkehrt in die des armen Betrogenen, läßt sich im Vergleich mit Boners Fabel von ,Affe und Nuß' (Nr. 2) verdeutlichen. Diese Fabel eröffnet die Redaktion des .Edelstein', die dem Anonymus vorlag. Hier wird erzählt, daß ein Affe vil guoter nmgen vant (2); da ihm erzählt worden ist, der Kern sei lustlich unde guot (5), greift er gebaut (8) nach einer Nuß und will sie essen, wirft sie aber fort, als er bitterkeit (7) und bertekeit (9) der Schale bevant (7). Beim Anonymus heißt es, daß ein Wolf eingigenfand (XVI, 9). Der Wolf greift %ehand (10) nach ihr und schließt aus dem Klang, daß sie auch siiesser spise vol (16) sei. Nachdem er hineingebissen hat, vil bald er do vol befand (20), daß das Holz hart ist und daß die Geige ihn durch süessen ton (23, auch 27) betrogen hat (25). Sie ist nicht siiesser spise rieh (28), sondern vol hertikeit (29 f.). In Boners Epimythion heißt es zu Anfang: Dem selben äffen sint gelich, si sin jung, alt, arm oder rieh, die durch kurze bitterkeit versmähent lange süezekeit. Des Anonymus Epimythion beginnt so: Diser gigen sint glich, es sient arm oder rieh, es sient frowen, man, jung oder alt, die ir wort mänigfalt kunnent sprechen mit süessikeit und doch der selben bitterkeit

(Nr. 2, V. 15-18)

darin verborgen habent [...] (XVI, 31-37) Die Anklänge an Boner oder die Übernahme von dessen Versen sind ebenso deutlich wie die Umkehrung von dessen Perspektive; der Anonymus nutzt die strukturell vermittelte Offenheit der Figuren-Konstellation, um die Aussage Boners in ihr Gegenteil zu verkehren - nicht der Betrogene, der Betrüger ist schuldig. Er hält sich dabei gleichwohl strikt an das Erzählschema von These (XX, 15 f.) und beweisendem Interaktionsergebnis (XX, 20 ff.). Variationen, Erweiterungen dieses Schemas gibt es dann, wenn der Plan, die Absicht des Protagonisten im Erzählen durch besondere Bedingungen motiviert wird - das Handeln des Protagonisten ist dann zwar immer noch „falsch", es ist aber gleichwohl verständlich. Der Rezipient kann sich mit der Figur identifizieren und dank seines überlegenen Wissens von ihr distanzieren; die über das Schema verkündete Moral bereitet Vergnügen. Als Beispiele für Variationen dieses Grundtyps wäre etwa auf das ,Gänslein' oder auf eine Reihe Strickerscher Erzählungen, z.B. auf die ,Martinsnacht' zu verweisen56; in der Sammlung des Anonymus finden wir diese Variation nicht. 54

Bibliographische Angaben zu diesen Texten bei FISCHER (wie Anm. 18), S. 342 f. (B 43) und S. 413f. (B 127m). Zu diesen Mären vgl. Verf. (wie Anm. 53), S. 195ff., 233.

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In einem zweiten Typ des Beweis-Schemas wird die Absicht, der Plan, die „These" zwar auch von einem Protagonisten zu Beginn der Erzählung geäußert, aber nicht auf das eigene, sondern auf das Handeln des zweiten Protagonisten bezogen; mit anderen Worten - ein Protagonist erteilt dem anderen einen Rat, Auftrag o.ä. Dieser Rat kann richtig oder falsch sein, die zweite Figur kann sich nach ihm (angemessen oder unangemessen) richten oder nicht, und das Ergebnis bestätigt die eine oder andere Position. In Nr. VIII unserer Sammlung wird einem Vater geraten, seinen Sohn besser zu erziehen; der Vater richtet sich nicht danach, und der Sohn wird zum Galgen geführt - kurz vor dem Hängen beißt er dem Vater zur Strafe für dessen Nicht-Erziehung die Nase ab. In Nr. XII versteht ein schwer arbeitender Holzhacker die Predigt eines Priesters so, daß er nur zu arbeiten und nicht zu beten brauche, um in den Himmel zu kommen - er scheitert, trotz Petrus' Hilfe, an der Himmelspforte. In der schon erwähnten Nr. II rät der Fuchs, der im trockenen Brunnen liegt, dem Wolf, er solle in den Eimer des Brunnens steigen, um sich in dem tiefen loch (17) ebenso wohl zu fühlen wie der Fuchs. Der Rat stellt sich als falsch, als listiger Betrug heraus. Entscheidend für diese Art der erzählerischen Inszenierung eines Betrugs ist aber, daß dem betrogenen Wolf ebensoviel Informationen zur Verfügung stehen, um den Betrug zu durchschauen, wie dem Fuchs - und dem Rezipienten der Erzählung. Ein listiger Betrug kann aber erzählerisch auch ganz anders inszeniert werden: In Nr. XIII ,Der Pfaffe im Käskorb' und in den zwei anderen Ehebruchserzählungen der Sammlung (Nr. X ,Der Pfaffe mit der Schnur', Nr. XIV ,Der Koch'), weiß der Rezipient mit der betrügenden Ehefrau durch zuvor Erzähltes stets mehr als der betrogene Ehemann; diesem werden in der Inszenierung Informationen vorenthalten, die dem Wolf im andern Fall gegeben sind. So wird die Moral des sechsten Gebotes gerade in der Abweichung der Ehefrau von der postulierten Norm herausgestellt; in dieser Figur ist aber gleichzeitig in dem Informationsvorsprung, der über sie dem Rezipienten vermittelt wird, ein Identifikationsangebot enthalten, das das Vergnügen an der Moral sichert. Analoges gilt, wenn man die beiden Erzählungen Nr. IX ,Der Wolf als Fischer' und Nr. IV .Zweierlei Bettzeug' (s.o.) miteinander vergleicht. Beide erweitern einen ersten Teil, in dem eine Figur die andere betrügt, um einen zweiten Teil, mit einer gleichfalls betrügerischen Revanche des zuvor Betrogenen. Daß der Anonymus dieses Erzählschema, BAUSINGER hat es den „Ausgleichstyp Revanche" genannt57, klar erkannt hat, läßt sich an seiner Version vom ,Wolf als Fischer' (IX) und hier wiederum im Vergleich mit Boners Fabel vom .Löwenanteil' (Nr. 8) zeigen. Boner erzählt:

" BAUSINGER (wie Anm. 52), S. 128 ff.

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Vier gesellen kämen über ein, daz allez sölde sin gemein, waz si bejagten üf der vart; daz selb mit eid bestsetet* wart. (Nr. 8, V. 1-4) \*gevestnet in den Hss. EGab und St. Gallen 643] Es sind Löwe, Geiß, Ochse und Schaf. Als sie einen Hirsch erjagen, teilt ihn der Löwe in vier Teile, behält aber alle für sich. Beim Anonymus engagiert, wie entfernt ähnlich im ,Reinhart Fuchs' (V. 385-403)58, ein Wolf/» einem winteret (!, V. 1) einen Fuchs als kriecht (3); der Fuchs soll dem Wolf helfen stein (7), dafür will der Wolf dem Fuchs jährlich achtguldin und sin essen dar^uo (11) geben. Darauf heißt es (s. o. Boner, V. 3 f.): Do der dienst wol gefestnet wart, do huob sich der fuchs uf die vart [...] (IX, 13 f.) Er fängt zunächst eine Gans, dann eine Geiß, die der Wolf stets in drei Teile, für sich selbst, seine Frau und seine Kinder teilt (vgl.,Reinhart Fuchs', V. 470-504). Der Fuchs geht leer aus; er weist auf den geschlossenen Vertrag hin (43 f.), erntet aber nur Spott (46—48) und rächt sich damit, daß er den Wolf beim Fischfang im Weiher festfrieren und von einem Mann erschlagen läßt: das schuof der fuchs, das tett im not (82). Offensichtlich unzufrieden mit der nach dem ersten Strukturtyp erzählten Fabel und der ihr adäquaten Moral Boners, daß man sich mit den Herren nicht auf gleiche Stufe stellen solle, da mit ihnen nicht gut Kirschenessen sei59, erweitert der Anonymus seine Version vom Löwenanteil in einem Dienstverhältnis um eine Revanche des Betroffenen (wie wiederum ähnlich im ,Reinhart Fuchs', V. 726 ff.) und führt somit bereits in der Erzählung am Beispiel des Fuchses vor (93), wie er selbst sich verhalten wolle, wenn ihm Gleiches geschehe: wer mir wil tuon dik unrecht, des ding sol niemer werden schlecht, wer mir abbricht min rechten Ion, mag ich den betriegen, das wil ich tuon. (IX, 85-88) Boner hatte demgegenüber gesagt: Ez beschicht noch wol (und ist ouch recht), so sich geliehen wil der knecht dem herren durch sin tumben muot, der schedget sich. [...] (Nr. 8, V. 29-32) Herrschaft, Dienst und Recht bleiben als Institutionen in beiden Erzählungen unangetastet; aber der Rechtsbruch des Herrn darf beim Anonymus mit 58

59

DÜWEL, Klaus [u.a.] (Hg.): Der Reinhart Fuchs des Elsässers Heinrich. Tübingen 1984 (ATB 96). Zu dieser Fabel vgl. GRUBMÜLLER (wie Anm. 14), S. 351-353.

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dem Rechtsbruch des Dieners beantwortet werden - wie in der Erzählung vorgeführt. Zwei parallel geführte und miteinander kombinierte Betrugshandlungen gibt es auch in .Zweierlei Bettzeug' (IV); wiederum ist aber hier - im Gegensatz zu ,Der Wolf als Fischer' - dem Rezipienten ein Informations vorsprung gegenüber der schließlich unterlegenen Figur gesichert (41-55); die Erzählstruktur legitimiert den moralischen Fehltritt im „Ausgleich durch Revanche" und verschafft das Vergnügen an der Moral. Die Ehebruchserzählungen Nr. X, XIII und XIV und .Zweierlei Bettzeug' hatte Hanns FISCHER als „Mären" bezeichnet. In einem dritten Typ wird die „These" als Folgerung, als logischer Schluß aus zwei (oder mehr) unverbunden aneinander gereihten Erzählblökken ans Ende gestellt; wir finden diesen Typ in den beiden Erzählungen von Hostienwundern, Nr. X X und XXIII, realisiert: Die bestätigende Entdeckung der wahren Leiblichkeit Christi in der Hostie durch niederknieendes Vieh habe ich bereits beschrieben. Ein vierter Typ schließlich führt den Beweis für seine These durch Vergleiche: Ein böses Weib kann eine glückliche Ehe scheiden - was der Teufel nicht fertiggebracht hat (V), eine Ehefrau erweist sich gegenüber dem scheinbar verarmten Ehemann als treu - die Dirne hingegen nicht (VII), ein Edelmann weigert sich, an der Messe eines häßlichen (!) Pfaffen teilzunehmen, ist aber bereit, klares Wasser zu trinken, das aus einem Totenschädel entspringt (XXI). 60 In der Erzählung ,Der dankbare Lindwurm' (XVII) wird die klare Proportion der analog strukturierten zwei Vergleichsteile der Erzählung 61 , in der sich ein Lindwurm gegenüber einem Bauern als dankbar erweist, der mächtige Schaffner bei Hof aber nicht, durch das Erzählen außerhalb dieses Schemas liegender besonderer Umstände aus dem Gleichgewicht gebracht. Die besonderen Umstände aber motivieren das Handeln des Bauern; er ist nicht mehr nur Funktion in einem Handlungsschema, sondern ist Figur aus eigenem Recht in einer eigenständigen

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In allen Versionen, die bei TUBACH nachgewiesen werden (Vitae patrum, Jaques de Vitry, Gesta Romanorum 12 - sie kommt der Version des Anonymus am nächsten) ist der Priester „unworthy". So z.B. besonders deutlich sichtbar in der bei KELLER, Adelbert von (Hg.): Gesta Romanorum. Das ist der Römer Tat. Quedlinburg und Leipzig 1841, S. 150-155 gedruckten Version, die der Erzählung des Anonymus nahe kommt; ähnlich offenbar auch die im Cod. Add. 22160 der British Library enthaltene Nr. 53; vgl. H E R B E R T , J.A.: Catalogue of Romances in the Department of Manuscripts in the British Museum. Bd. III, London 1910, S. 234. Zum Stoff umfassend: CHESNUTT, Michael: The Grateful Animals and the Ungrateful Man. Fabula 21 (1980) S. 24-55, zur Version des Anonymus: S. 55 Anm. 126 und ders.: EM III, Sp. 299-305. Die Unterschiede werden vor allem sichtbar in der Funktion des Steins, den der Bauer von dem wurm erhält, und darin, daß es nicht um den Aufstieg des Bauern oder den Abstieg des scbaffners, der hier Guido heißt, geht, sondern allein um Dankbarkeit und Undankbarkeit, wie sie das Epimythion herausstellt.

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Hans-Joachim Ziegeler

fiktiven Welt, eine Figur, der Empathie und Sympathie des Rezipienten zuteil werden können. Die erwartete Erhöhung des Helden, die Erniedrigung des Undankbaren, die sich hier nicht so sehr im äußeren Status, sondern in der moralischen Qualifikation der verglichenen Figuren zeigen, schaffen jenen „Selbstgenuß im Fremdgenuß", der nach JAUSS literarische Identifikation auszeichnet.62 Sie vermittelt das Vergnügen an der Moral. Alle Erzählungen der Schweizer Sammlung sind somit als Realisierungen von Beweis-Schemata im Erzählen zu begreifen; das erklärt, warum auch den „frivolen Mären" Lehren entnommen werden können. Auch in den Mären wird die Schaden-Nutzen-Mechanik nicht außer Kraft gesetzt. Fünf Erzählungen variieren diese Schemata in je spezifischer, aber textübergreifend typischer Weise. Es sind jene Erzählungen, die FISCHER Mären genannt hat63, sie treffen sich in dieser Bestimmung mit den anderen Erzählungen in Hanns FISCHERs Katalog - trotz Inhomogenität ihrer stofflichen Provenienz, ihrer Intentionen. Sind Gattungen aber durch Homogenität „technisch-stilistischer, kompositioneller, intentionaler und funktionaler Momente" bestimmt, „die sich aus dem Gesamtcorpus der Literatur als relativ klar umrissene Gebilde"64, als „historische Familien" herausheben, so sind diese Mären keine Gattung. Da sie sich aber durch eine spezifische Organisation ihres Erzählens auszeichnen, kann man sie als eigene Gruppe in der großen Familie der exemplarisch-didaktischen Erzählungen des Mittelalters bezeichnen. Sie vermitteln ihre Lehren weniger strikt als die Bispel oder Exempla; die Moral ist weniger verbindlich man hat wohl Vergnügen an ihr. Diese Texte haben das offenbar vorhandene Bedürfnis, in Erzählungen „belehrt" zu werden, neben den Exempeln oder Bispein im engeren Sinn erfüllen können. Es weist nichts daraufhin, daß der Anonymus die „Mären" seiner Sammlung als eigene Gruppe begriffen hat; aber er hat die Bauformen seiner Erzählungen wie seiner Vorlagen sehr wohl durchschaut und sich ihrer in seiner Auseinandersetzung mit Boner konsequent und ideenreich bedient.65 Er hat auf diese Weise auch Erzählungen geschaffen, die wir „Mären" nennen dürfen. Uns allein unter dem Aspekt einer ungefähr bestimmten Wirkungsabsicht auf die Rekonstruktion seines literarischen BeJAUSS, Hans Robert: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Bd. I: Versuche im F.eld der ästhetischen Erfahrung. München 1977 (UTB 692), S. 221. « FISCHER (wie Anm. 18), S. 307 f. (B 4a-4e). " KAISER, Gerhard R.: Zur Dynamik literarischer Gattungen. In: Die Gattungen in der Vergleichenden Literaturwissenschaft. Hg. v. Horst RÜDIGER. Berlin/New York 1974 (Komparatistische Studien. Beihefte zu „arcadia" 4), S. 32-62, S. 34. 65 Zu vergleichen wären noch thematisch verwandte Erzählungen, z. B. Boners Nr. 79 und des Anonymus Nr. III; Boner Nr. 63 und Anonymus Nr. V; Boner Nr. 88 und Anonymus Nr. X V ; Boner Nr. 100 (nicht in der 3. Redaktion!) und Anonymus Nr. VI; ohne nähere Funktion übernommene Verse etc. Dafür fehlt bislang eine Boner-Ausgabe, die die gesamte Überlieferung übersichtlich präsentiert. 62

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wußtseins einzulassen oder alle seine Erzählungen einer möglichen Gattung „exemplarisch-didaktische Kleinepik" zuzuschlagen, klärt dagegen nicht, mit Hilfe welcher Erzähl-Formen er sein Ziel zu verwirklichen gesucht hat: Es ging ihm wohl darum, in den politischen und religiösen Auseinandersetzungen seiner Zeit — Konstanz wie Basel waren nicht fern - mehr oder weniger vergnüglich, aber jedenfalls anders als Boner, Orientierungshilfen zu geben.

Hedda

RAGOTZKY

(Siegen)

Das Märe in der Stadt Neue Aspekte der Handlungsethik in Mären des Kaufringers Verbunden mit dem Namen des Strickers taucht das Märe in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts aus der Anonymität der Mündlichkeit auf und beginnt als neue Gattung gleich auf hohem literarischem Niveau; vom Anspruchsniveau her ist das Märe an der Literatur der höfischen Klassik orientiert.

In der neuen Gattung Märe geht es beim Stricker um die Fähigkeit, die allgemeinen Ansprüche der von Gott gesetzten Ordnung situationsgerecht interpretieren und verwirklichen zu können. Im Epimythion des Märes ,Der kluge Knecht' wird dieses Vermögen als gevüegiu kündikeit bezeichnet. Verglichen mit der hochhöfischen Literatur ist das ein neues literarisches Thema und ein neuer Wert. Neu ist auch die Reichweite seines Geltungsanspruchs: gevüegiu kündikeit ist ein hovelicher site (vgl. 316), heißt es im Epimythion des ,Klugen Knechts'.1 Die Perspektive, aus der heraus die Ausweitung der Sicht auf die Gesamtgesellschaft geschieht, ist also immer noch die des Hofes. In diesem Sinne kann man sagen, daß die neue Gattung Märe als eine dezidiert höfische Gattung beginnt. Im 13. und noch stärker im 14. Jahrhundert etabliert sich neben dem Hof als neues Zentrum literarischer Produktion und Rezeption die Stadt. Auch das Märe wandert im Rahmen dieser allgemeinen literarhistorischen Entwickung in die Stadt, und - so ist zu erwarten - es verändert sich dabei. Bereits Hanns Fischer hat darauf hingewiesen, daß es falsch sei, die Entwicklung der Gattung Märe, wie es die ältere Forschung öfter getan hat, mit der Entwicklung einer spezifisch bürgerlichen Ideologie gleichzusetzen oder sogar die Geschichte der Gattung Märe mit der Entstehung des Bürgertums erklären zu wollen. Fischer weist auf das steigende Interesse hin, das nun auch das literarisch gebildete Publikum in der Stadt der Gattung Märe entgegenbringt; er warnt jedoch davor, die gesellschaftliche Bedeutung dieses literarhistorischen Entwicklungsprozesses zu überschätzen. Ich zitiere Fischer: „Von einem soziologischen Wandel der Gattung ist jedenfalls - wenn wir von der Tatsache des Auftretens bürgerlicher 1

Zitiert nach: Der Stricker. Verserzählungen I. Hrsg. von Hanns Fischer. 4., revidierte Aufl. besorgt von Johannes Janota. Tübingen 1979 (ATB 53).

Das Märe in der Stadt

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Personagen absehen - nichts zu bemerken."2 Ich möchte diese These aufnehmen und sie anhand von einem Märe des Kaufringers diskutieren. Für ein Märe des Kaufringers habe ich mich deshalb entschieden, weil sich in seinem literarischen Werk Merkmale einer spezifisch städtischen Autorrolle und damit ein neuer Typ des Autors in der Geschichte der Gattung Märe abzeichnen. Heinrich Kaufringer - so nimmt man an - hat Ende des 14./Anfang des 15. Jahrhunderts in Landsberg und/oder Augsburg gelebt. Ob er - wie später Hans Rosenplüt oder Hans Folz - Handwerker war oder vielleicht Gewerbetreibender, ist nicht bekannt, es ist jedoch eben dieser Typ des allseits gebildeten Handwerker-Dichters, der in wesentlichen Grundzügen schon beim Kaufringer vorbereitet ist.3 13 Mären sind uns von ihm überliefert, ich beschränke mich auf die Interpretation eines Märes, der Geschichte vom .Bürgermeister und Königssohn'. Ich habe dieses Märe deshalb ausgewählt, weil es meiner Meinung nach durch das Konzept von weisem Handeln, um das es geht, programmatische Bedeutung hat. Das Märe beginnt mit einer Sentenz, die in eine Aufforderung mündet: Wer %uht und tuget lernen wil, der sol fürset^en im das das er dahaimet nicht beleih und ettwie lang sein %eit vertreib ferr hindan in fremde land. (1-5)A Diese Aufforderung wird folgendermaßen begründet: Durch die vielfaltigen Abenteuer (mangerlaie aubentür vgl. 7), die jemand in der Fremde zu bestehen hat, ist er besser dazu imstande, sich vor Unheil (schaden vgl. 12) zu schützen als einer, der nie von zu Hause weggekommen ist. Diese Erfahrung wird abschließend durch ein ,Freidank'-Zitat unterstrichen und pointiert auf den Begriff gebracht: das dahaim erlogen kind haist und ist hof ain rind. (15f.) Mit diesem Promythion ist der Rahmen entworfen, auf den die Geschichte, die nun anfangt, zu beziehen ist. Der Beginn der Handlung knüpft folglich an die Eingangssentenz an. Söhne aus Adelsfamilien - so erklärt der Erzähler - werden häufig zum Studium an Universitäten geschickt, sie sollen dort %uht und tuget lernen und auch aubentüre suochen (vgl. 22 f.). Aus diesem Grund

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Hanns Fischer: Studien zur deutschen Märendichtung. 2., durchgesehene u. erw. Aufl. besorgt von Johannes Janota. Tübingen 1983, S. 245. Vgl. dazu Paul Sappler: Kaufringer, Heinrich. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begründet von Wolfgang Stammler, fortgeführt von Karl Langosch. 2., völlig neu bearb. Aufl. hrsg. von Kurt Ruh. Bd. 4. Berlin, New York 1983, Sp. 1076-1085. Die Texte des Kaufringers werden zitiert nach: Heinrich Kaufringer. Werke. Hrsg. von Paul Sappler. 2 Bde. Tübingen 1972. Bd. I Text.

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hat der König von Frankreich seinen Sohn an die Universität in Erfurt gesandt. 5 Der Prinz weilt dort inkognito, er lebt als Student, aber selbstverständlich mit dem ganzen Aufwand an Luxus und Repräsentation, der seiner hochadeligen Abkunft angemessen ist. Der junge Mann mit seinen prächtig gekleideten Dienern und seinem großzügigen Lebensstil wird zum Blickfang der Erfurter Bürgerinnen. Und nicht nur die Frauen interessieren sich für ihn, er wird auch zum Gegenstand des Gesprächs unter den Männern im Rat der Stadt, allerdings aus einem weniger schmeichelhaften Grund. Diebe treiben ihr Unwesen in Erfurt. Sie verstehen ihr Handwerk maisterleicb (vgl. 45), und meisterlich entziehen sie sich auch den Anstrengungen der Bürger, ihrer habhaft zu werden, der Rat der Stadt steht vor einem Rätsel. Der Verdacht fallt auf den offensichtlich sehr begüterten Studenten, der seinen Namen und seine Herkunft bisher verschwiegen hat; der Bürgermeister der Stadt soll dem Fremden auf den Zahn fühlen und ihn zur Preisgabe seiner wahren Identität bewegen. Der Bürgermeister macht den Versuch, der Prinz jedoch weigert sich zu sagen, wer er ist. Er kann sich weigern, weil er als Student durch seine Zugehörigkeit zur Universität einem Rechtsstand angehört, für den die ständische Abkunft gleichgültig ist. Im Falle eines Konfliktes würde er außerdem nicht dem städtischen Recht, sondern der Gerichtsbarkeit der Universität unterstehen.6 Bezogen auf die Märenhandlung muß er sich sogar weigern und an seiner gegenwärtigen Inkognito-Existenz festhalten, denn er ist nicht nach Erfurt gekommen, um sich als illustrer Gast feiern zu lassen. Er ist gekommen, um sein Urteilsvermögen zu bilden und seinen Erfahrungshorizont zu erweitern, so ist die Lehre der Sentenz, mit der das Märe beginnt, zu verstehen, %uht und tuget sind universelle Kategorien, sie bezeichnen nicht Standesspezifische, sondern allgemeine Fähigkeiten. Für einen Lernprozeß dieser Art wäre die Aufdeckung des Inkognitos geradezu hinderlich. Die Erfahrungen, die der Prinz machen würde, wären nur standesgemäße Erfahrungen, das Spektrum der aubentiiren würde sich auf diese Weise erheblich einschränken. Die Rolle des Studenten ist aber nicht nur gesellschaftlich durch das Privileg von Bildung bestimmt, sie ist auch literarisch vordefiniert: „Der schuolaere (...) ist entschieden eine Lieblingsgestalt des Märes; auf keine andere werden mit gleicher Ausschließlichkeit positive Züge gehäuft. Zwei5

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Die Universität Erfurt ist im Jahre 1392 gegründet worden, es ist anzunehmen, daß das Märe nicht viel später entstanden ist. In der Regel ist Paris der „klassische" Studienort, den der Student im Märe wählt (vgl. ,Der Bussard', ,Der Schüler von Paris A', ,Die treue Magd'). Um so bemerkenswerter erscheint es, daß sich der Kaufringer in seinem Märe selbstbewußt auf eine aktuelle Universitätsgründung in Deutschland bezieht. Vgl. dazu Herbert Grundmann: Vom Ursprung der Universität im Mittelalter. Berlin 195" (Berichte über die Verhandlungen der Sächs. Akad. d. Wiss. zu Leipzig. Philol.-hist. Kl. Bd. 103 Heft 2).

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mal begegnet er als Liebhaber im höfischen Märe, seine eigentliche literarische Heimat ist jedoch der Schwank, dessen Intellektualismus keine bessere Verkörperung (...) finden konnte."7 Der Student im Schwankmäre ist jung, in der Regel weltgewandt und einfallsreich, er ist deshalb der ideale Verführer und Liebhaber. Seine Klugheit prädestiniert ihn zu meist erfolgreichem Ehebruch bzw. zum gewandten Komplizen und Partner listiger, minnebegieriger Ehefrauen. Auch in prekären Situationen bleibt er fast immer der Überlegene, er entgeht stets der Bestrafung oder einer öffentlichen Bloßstellung. Auch dieses literarisch vordefinierte Charakteristikum der Studentenrolle ist in dem hier behandelten Märe von Anfang an mitangelegt. Die Erfurter Frauen betrachten den vornehmen Jüngling, wenn er durch die Stadt flaniert, mit Wohlgefallen. Als der Bürgermeister den Königssohn bittet, wenn er schon nicht seinen Namen nennt, so doch wenigstens die finanzielle Basis seines kostspieligen Lebenswandels offenzulegen, greift dieser zu einer List: Er fingiert eine Geschichte, in der er das Image des Studenten, wie es im Schwankmäre vorgezeichnet ist, gegen das aufdringlich scheinheilige Interesse ausspielt, das der Rat der Stadt ihm so plötzlich entgegenbringt. Was seine Finanzen betrifft, so sei er glänzend abgesichert. Aus jedem Haus der Stadt bekäme er wöchentlich von der Hausfrau ein halbes Pfund Pfennige, von der Magd die Hälfte. Pro Woche kämen auf diese Weise 100 Pfund zusammen - vielleicht auch mehr, und es handele sich schließlich um Ressourcen, die unerschöpflich seien: solt ich dann nit kostlich leben? (167), fragt der vermeintliche Student den bestürzten Bürgermeister. Mit dieser schlau erfundenen Geschichte nimmt der Königssohn den geheimen Verdacht der Bürger auf, er bereichere sich an ihrem Eigentum. Er überträgt diese Vorstellung in den Bereich der Minne, in dem er als Student qua Image den braven Bürgern sowieso überlegen ist. Und demzufolge stilisiert er sich selbst auch nicht in der Rolle des heimlichen Minnediebs, sondern übernimmt den glanzvollen Part des überall sehnsüchtig erwarteten, hoch bezahlten Liebhabers aller Frauen der Stadt. Auf diese Weise gelingt es ihm, sein Inkognito zu wahren, und er erreicht zugleich, daß die lästige Fragerei ein für allemal verstummt. Der Bürgermeister berichtet dem Stadtrat von dem peinlichen Ergebnis seiner Unterredung, und der Mythos von der außerordentlichen Minnekompetenz des geheimnisvollen Jünglings trifft die männliche Elite von Erfurt im Kern ihres Selbstbewußtseins. Die Ratsmitglieder sind sich einig, daß es besser gewesen wäre, den Fremden nie zu befragen. Der mögliche Konflikt, der sich zwischen der herrschaftstragenden Oberschicht der Stadt und dem Aristokraten in der Studentenrolle abgezeichnet hat, ist nicht gelöst. Durch die fingierte Minnegeschichte ist er 7

Fischer S. 121 f.

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jedoch zum Bestandteil einer typischen literarischen Konstellation geworden. Gleich zu Beginn des Märes hat der Erzähler darauf aufmerksam gemacht, daß die Frauen der Stadt den jungen Mann mit wohlwollendem Interesse betrachten. Literarisch angesagt ist damit eine Ehebruchsgeschichte, genauer eine Ehebruchsgeschichte in Form eines Schwanks. Diese literarische Ansage wird im zweiten Teil des Märes eingelöst: was der Königssohn fingiert hat, wird jetzt Realität. Die Frau des Bürgermeisters sitzt mit ihrem Gatten eines Tages am Fenster, als der vornehme Student vorbeispaziert. Der Bürgermeister schmunzelt und weckt damit, ohne es zu wollen, die Neugierde seiner Frau, sie besteht darauf, den Grund für seine Heiterkeit zu wissen. Der Bürgermeister will sich dem entziehen, seine Weigerung wirkt wie der letzte Versuch, die Schwankhandlung, die angesagt ist und sich jetzt konstellieren will, zu verhindern. Der Schwank aber ist nicht mehr aufzuhalten. Als die Frau ihm die Gcschichte cndlich cntlockt hat, zeigt sie sich öffentlich entrüstet über den schändlichen Jüngling, in ihrem Innersten aber ist sie in Minne zu ihm entbrannt. Sie findet Mittel und Wege, um den Studenten von ihrer Bereitschaft in Kenntnis zu setzen, und der ist auch kein Kostverächter, d. h. zu einer Minnc-aubentüre durchaus bereit. Mit Kummer sieht der Bürgermeister, was er mit seinem unbedachten Geplauder angerichtet hat. Und nun geschieht, was geschehen muß: Der Bürgermeister verreist für ein paar Tage, die Frau holt sich den Jüngling ins Haus und vergnügt sich mit ihm nach Herzenslust. Da kommt der Bürgermeister ahnungsvoll, daß zu Hause nicht alles mit rechten Dingen zugeht, früher als geplant zurück. Die Schwankhandlung ist nach dem üblichen Schema angelaufen. Nicht klar ist jedoch, nach welchem speziellen Handlungstyp sie sich entwikkeln wird. Die Initiative zum Ehebruch ist von der Frau ausgegangen, der Königssohn in der Rolle des Studenten ist der ideale Partner, seine Klugheit hat er überdies schon einmal unter Beweis gestellt. Das deutet darauf hin, daß die Minnc-aubentüre auch bei Entdeckung durch den Ehemann für die beiden Ehebrecher gut ausgehen wird; die prekäre Situation würde sich dann lösen nach dem Typ, den Fischer „Schlaue Rettung aus drohender Gefahr" genannt hat (vgl. ,Studentenabenteuer'). 8 Die Frau ist vom Erzähler jedoch nicht als listig charakterisiert worden, und - was noch weit wichtiger ist - der Bürgermeister wird, als er zum ersten Mal die Bühne des Geschehens betritt, vom Erzähler ausdrücklich als ein weiser man (vgl. 86) vorgestellt. Entwickelt sich das Geschehen also vielleicht doch im Sinne des entgegengesetzten Handlungstyps, des Typs

8

Fischer S. 95 f.

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„Geglückte Entdeckung und Bestrafung des Ehebruchs" (vgl. ,Der Pfaffe in der Reuse' oder Hans Rosenplüt: ,Die Wolfsgrube')?9 Ich hebe die verschiedenen Möglichkeiten, die zur Gestaltung der Schwankhandlung bereitstehen, deshalb hervor, weil ich der Überzeugung bin, daß der Autor an dieser Stelle mit solchen typischen literarischen Erwartungen seines Publikums spielt. Auf diese Weise unterstreicht er die von den vorgegebenen Mustern abweichende Wendung, die das Geschehen nimmt, und damit auch die unkonventionelle Art der Lösung, auf die es ihm offensichtlich besonders ankommt. Der Bürgermeister hat das Haus haimlich betreten (vgl. 265), er findet das minneselige Paar beim gemeinsamen Bad im Zuber. Und nun zeigt sich die Weisheit, die ihm der Erzähler von Anfang an zugesprochen hat: Er handelt als ain weiser man, der sein schand vertrucken kan (vgl. 269 f.). Damit wird nicht einem laxen Opportunismus das Wort geredet, d. h. es geht nicht darum, aus der Not eine Tugend zu machen oder großzügig ein Auge zuzudrücken, weise sein schand vertrucken können bedeutet, wie der Fortgang des Geschehens zeigt, etwas anderes: Zur Überraschung der beiden tritt der Bürgermeister in der Rolle des liebenswürdigen Gastgebers auf, der nackte Liebhaber im Zuber wird vom Hausherrn formvollendet willkommen geheißen. Mit der Entscheidung, die delikate Konstellation aus der Sicht des Verhältnisses wirt\gast zu behandeln, macht sich der Bürgermeister frei vom Zwang der Situation. Er läßt sich nicht auf die Rolle des betrogenen Ehemanns festlegen, der nun gegen den Rivalen handgreiflich vorgehen müßte. Zudem ist es im ersten Teil des Märes dem Bürgermeister nicht gelungen, die Identität des Fremden zu klären. Angesichts der Ungewißheit, mit wem er es eigentlich zu tun hat, braucht er nun einen Spielraum des Agierens. In der Rolle des Gastgebers gewinnt er diesen Spielraum, er ist es, der jetzt die Initiative übernimmt. In drei Schritten baut der Bürgermeister die Beziehung wirf ¡gast auf. Der erste Schritt gilt der eigenen Sicherheit. In Windeseile nimmt er den beiden Badenden ihre Kleidungsstücke weg und verschließt sie in einem Schrank. Damit schützt er sich zunächst einmal vor dem Fremden, der ihm körperlich - vielleicht sogar durch den Besitz von Waffen und die größere Übung, damit umzugehen? - überlegen sein könnte (vgl. 286 f.).10 Diese Aktion hat sicher aber auch metaphorische 9 10

Fischer S. 96. Welche groteske Situation entstehen kann, wenn ein Bürger versucht, einem Adeligen, der ihm schon qua Stand im Umgang mit den Waffen überlegen sein muß, mit Waffengewalt in seine Grenzen zu verweisen, thematisiert der Kaufringer in einem anderen Märe, im .Feigen Ehemann'. In diesem Märe hat es ein stolzer Ritter (vgl. 45) auf die schöne Frau eines reichen Straßburger Bürgers abgesehen. Zusammen mit seiner Frau plant der Bürger, den hartnäckigen Werber unter der Vorspiegelung, seine Minne-Wünsche würden sich erfüllen, ins Haus zu locken, dem Ritter dann aber bewaffnet entgegenzutreten. Angesichts der Sterke des Ritters (vgl. 169), die der schwerbewaffnete Bürger aas einem Versteck heraus beobachtet, verzichtet er nicht nur auf eine bewaffnete Konfrontation, er verzichtet auch

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Bedeutung: Der Fremde, wer er auch sein mag, ist auf diese Weise all seiner ständischen Attribute „entkleidet", er ist reduziert auf seine Substanz und kann nun - gewissermaßen im Sinne einer Neuschöpfung der Person - in die Rolle des Gastes „eingekleidet" werden.11 Der zweite Schritt bezieht sich auf die Unantastbarkeit der Person des Gastes. Der Hausherr erklärt, daß der Fremde von ihm kein ungemach zu erwarten habe, ewr leib sol vor mir sicher sein (vgl. 290 f.). Als er daraufhin die beiden kurzfristig verläßt, um ihnen einen Imbiß zu servieren, verriegelt er jedoch vorsichtshalber den Baderaum. Noch ist die Beziehung wirf/gast nicht perfekt. Zur endgültigen Einbindung des Fremden in die Rolle des Gastes bedarf es noch eines letzten, dritten Schrittes. Der Hausherr erklärt, daß nicht nur die Person des Gastes, sondern auch dessen Besitz für ihn unantastbar sei, und er sichert diese Erklärung mit einem Treue-Versprechen ab (vgl. 309 f.). Erst als das geschehen ist, gibt der Bürgermeister den beiden, die noch immer in der Badewanne sitzen, ihre Kleider zurück und bittet sie zu einem festlichen Essen. Seine Frau fordert er auf, besonders aufmerksam für das Wohl des Gastes zu sorgen, schließlich habe sich dieser in besonderer Weise um sie verdient gemacht (319ff.). Indem der Königssohn, der beim Ehebruch ertappt worden ist, in die Rolle des Gastes eingesetzt wird, ist er als Person zwar tabu, zugleich ist er jedoch in seinem Verhalten rechtlich gebunden, und gerade aus dieser Bindung heraus wird es auch für ihn möglich, sich auf das, was geschehen ist, neu zu beziehen.12 Beeindruckt von der Überlegenheit, mit der der Bürgermeister die explosive Situation entschärft hat, spricht ihm der Prinz einen Status von Würde und Ansehen zu, der durch den Ehebruch, der geschehen ist, nicht tangiert wird bzw. genauer: gar nicht tangiert werden kann: „erver wird und er ist wol behuot und ist von mir geergert nicht. dise wunderlich geschieht, das ir mich hapt hie gesehen, das ist sicherlich geschehen oun allen ewrn schaden %war und dar\uo oun als gefar." (324—330)

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darauf, seiner Frau, von der sich der Ritter den versprochenen Minnelohn schließlich mit Gewalt holt, zu Hilfe zu kommen. Am Ende des Märes wird das Verhalten des Mannes und das betrifft auch den hybriden Entschluß, sich mit einem Ritter im Umgang mit Waffen zu messen - vom Erzähler als falsch verurteilt. Um das Gemeinte zu verdeutlichen, verweise ich auf die symbolträchtige Szene in Wolframs .Parzival", in der Parzival bei Gurnemanz gebadet und höfisch eingekleidet wird. Auch hier bezeichnet die Badeszene einen neuen Anfang, eine neue Phase auf dem Bewährungsweg des Protagonisten (vgl. 166, 21 ff.). Zur ambivalenten Stellung des Fremden, die sich auch noch in den deutschen Stadtrechten des 14. und 15. Jahrhunderts dokumentiert, vgl. Alfred Schultze: Über Gästerecht und Gastgerichte in den deutschen Städten des Mittelalters. HZ 101 (1908), S. 473-528.

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Damit ist die Identität des Bürgers auf neuer Ebene festgelegt, es ist eine vollkommene Identität, sie wächst ihm zu aus der Perspektive des Gastes, nicht als Akt der Gnade aus der Perspektive des ständisch überlegenen Aristokraten. Offen ist noch immer das Problem, das zur ersten Begegnung zwischen dem Königssohn und dem Bürgermeister geführt hat, die Frage nach der wahren Identität des vornehmen Fremden. Noch einmal agiert der Bürgermeister in der Rolle des wirts. Als Hausherr, der seinem Gast alle Annehmlichkeiten geboten hat, äußert er die Bitte, daß der Fremde sein Haus künftig nicht mehr wegen des wöchentlichen Minne-Zinses besuchen möge. Den Zins soll er weiter bekommen, aber - bitte sehr - ohne Gegenleistung! Als der Bürgermeister das Geld daraufhin für die nächsten Wochen im voraus entrichten will, muß der Königssohn sich offenbaren, Geld aus Bürgerhand unter diesen Bedingungen anzunehmen, ist für einen Adeligen seines Rangs unmöglich. Mit der Preisgabe seines Namens und seiner Herkunft wird nun auch die Identität des Königssohns wieder auf der ständischen Ebene definiert, sie erscheint unter neuer Perspektive. Der Prinz selbst bezeichnet den kecken Entschluß, mit dem er die Geschichte vom Minnezins in die Welt gesetzt hat, als übermuot (vgl. 379). Das heißt keineswegs, daß er sein Verhalten nachträglich verurteilt, es weist vielmehr darauf hin, daß der Königssohn an Lebenserfahrung, an Urteilskompetenz dazugewonnen hat, er ist jetzt imstande, das Geschehene unter einer umfassenderen Perspektive zu begreifen. Die Beziehung wirt-gast hat es möglich gemacht, den drohenden Konflikt, der aus der ständischen Differenz von Bürger und Hochadeligem im Zusammenhang der Ehebruchssituation hätte erwachsen können, zu vermeiden. Die Frau wird folglich auch nicht bestraft, der Ehebruch hat dem Bürgermeister nichts anhaben können. Die «vW-garZ-Beziehung hat aber noch weit mehr geleistet: Sie hat einen Spielraum eröffnet, aus dem heraus die ständischen Rollen von Bürger und Adeligem im Sinne eines konfliktfreien Zusammenwirkens neu entworfen werden können. Schon bei der ersten Begegnung hat der Bürgermeister mehrfach betont, daß er dem Fremden in rechter fraintschaft entgegenkomme (101, vgl. auch 114, 137). Jetzt gebraucht auch der Königssohn diesen Begriff, um die neue Einstellung, die er gegenüber dem Bürger gewonnen hat, zu bezeichnen (vgl. 381). Es ist die Weisheit des Bürgermeisters, die dieses neue positive Zusammenspiel der beiden Repräsentanten verschiedener Stände bewirkt hat. Und diese Weisheit zahlt sich aus. Der Königssohn hat den Bürgermeister und den Rat der Stadt mit seiner Geschichte vom Minnezins empfindlich getroffen. Nun beweist er die Achtung für den fraint dadurch, daß er diesem für seine Handelsgeschäfte in Frankreich Zollfreiheit gewährt und Geleitschutz verspricht. Erneut taucht dabei die Formel, mit der die Sicherheit von Person und Besitz garantiert wird, auf, und dieses Mal ist es der Prinz, der dieses Versprechen dem Bürgermeister gegenüber abgibt (vgl.

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415 f.). Die neuen günstigen Konditionen im Handel mit Frankreich wirken sich bald aus, das Ansehen des Bürgermeisters nimmt zu, und sein Vermögen wächst, er wird - wie der Erzähler mehrfach betont - ein sehr wohlhabender Mann. Das Märe hat mit einer Sentenz begonnen, die den Bildungsgewinn betraf, den Abenteuer in der Fremde einbringen. Zu diesem Zweck ist der Sohn des Königs von Frankreich nach Erfurt gekommen, er will %ubt und tuget lernen. Das Abenteuer, in das er dort hineingerät, ist ungewöhnlich; weil es so ungewöhnlich ist, bringt es ihm die Erweiterung seines Erfahrungshorizonts und die Schulung seines Urteilsvermögens, die er gesucht hat. Das Medium für diesen Lernprozeß ist die Weisheit des Bürgermeisters. Er hat %uht und tuget, und mit seinem tugenthaften (vgl. 408) und yichticlichen (vgl. 332) Verhalten wird er zum „Lehrmeister" des Königssohns. In diesem allgemeinen Sinne erfüllt die Geschichte, was die Eingangssentenz verspricht, sie bestätigt die Spruchwcishcit, die der Erzähler zu Beginn zitiert. Aber die Geschichte leistet mehr, sie bestätigt die Spruchweisheit nicht nur, sondern sie differenziert sie, und zwar mit den spezifischen Mitteln der Gattung Märe. Entscheidend dafür ist das Konzept der Weisheit, das sich in der unkonventionellen Art manifestiert, in der die typische Schwanksituation entdeckten Ehebruchs in diesem Märe exemplarisch aufgelöst wird. 13 Ich fasse kurz noch einmal die wichtigsten Merkmale dieses weisheits-Konzepts zusammen: 1. Die Weisheit des Bürgermeisters äußert sich darin, daß er in der konfliktträchtigen Konfrontation mit dem Fremden, dessen wahre Identität ihm verborgen ist, die Rolle des wirts einnimmt. Er bezieht damit einen Standort, von dem aus die spannungsgeladene Situation aus einer neuen Perspektive definiert werden kann. Das Verhältnis wirt/gast ist eine Rollenbeziehung, die zu den hierarchisch bestimmten Beziehungen zwischen den verschiedenen Ständen quer steht, die die Beziehungen zwischen den verschiedenen Ständen übergreift. Die Handlungsethik, die aus dem Verhältnis wirt/gast erwächst, ist folglich keine standesspezifisch begründete, sondern eine universell begründete Ethik. 13

Eine direkte Vorlage zu diesem Märe des Kaufringers ist nicht bekannt. Frauke FroschFreiburg weist jedoch auf ein Fabliau hin, das auch das Thema des Liebhabers, der sich gegen Bezahlung vermietet, behandelt, das die Situation entdeckten Ehebruchs aber charakteristisch anders auflöst: Der Ehemann überrascht seine Frau und deren Liebhaber zwar auch im Bad, dieser leugnet jedoch einfach, den „Minnedienst", zu dem er bestellt worden ist, bereits geleistet zu haben und dafür entlohnt worden zu sein. Als der Ehemann ihn daraufhin reichlich bezahlt, verschwindet er mit doppeltem bzw. dreifachem Gewinn. Frosch-Freiburg vermutet, daß der Kaufringer eine Erzählung von diesem Typ gekannt hat, die exemplarisch andere Auflösung der Schwanksituation würde sich dann noch deutlicher abheben. Vgl. Frauke Frosch-Freiburg: Schwankmären und Fabliaux. Ein Stoff- und Motivvergleich. Göppingen 1971 (GAG 49), S. 219.

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2. Die konstruktive soziale Wirkung dieser Weisheit bzw. der daraus resultierenden Handlungsethik zeigt sich im positiven Ausgang des Geschehens: Aus der übergreifenden Perspektive des Verhältnisses wirtjgast können die ständischen Rollen Bürgermeister/Königssohn neu entworfen werden. Der drohende Konflikt, der in der hierarchischen Differenz der Rollen angelegt ist, kann abgewendet werden, die beiden Repräsentanten verschiedener Stände finden - trotz des Ehebruchs! - zu einer Beziehung gegenseitiger Achtung und Wertschätzung, zu einem Verhältnis von fraintschaft. 3. Die Handlungsethik, die dem Konzept von Weisheit abgewonnen wird, ist universell begründet und hat folglich allgemeine Geltung, sie ist jedoch nicht interessenneutral. Es ist der Bürgermeister, der diese Weisheit vorführt, und sein weises Verhalten zahlt sich aus in Form klingender Münze. Das wird auch in dem Epimythion, mit dem das Märe endet, noch einmal betont. Das Epimythion beginnt mit einer Definition weislichen Verhaltens auf der Spruchebene (vgl. 452 ff.). Der Nutzen dieses Verhaltens wird jedoch handlungsbezogen expliziert, an dem gros guot (vgl. 465), das der Bürgermeister erworben hat. Aufgrund des »mAw/j-Konzepts, das das Märe vorgeführt hat, kann die allgemeine Erfahrungsregel, die im Promythion auf der Spruchebene formuliert worden ist, präzisiert werden. %uht und tuget sind universelle Kategorien, sie werden vermittelt durch eine universell begründete Handlungsethik weisen Verhaltens. Es ist eine Handlungsethik, die auch und vor allem in der Stadt zu lernen ist, weil sie auch und vor allem aus der Existenz in der Stadt erwächst und stadtbürgerlichem Interesse dient. In diesem Sinne könnte man das ,Freidank'-Zitat, mit dem das Promythion schließt, am Ende des Märes programmatisch umformulieren: das dahaim erlogen kint haist und ist - (nicht: hof, sondern) - in der statt ain rind.

Ich versuche, das Ergebnis, zu dem ich durch die Beschäftigung mit dem einen Märe gekommen bin, durch den Blick auf andere Texte des Kaufringers noch etwas abzurunden: 1. Um zu sehen, ob sich dieses Ergebnis verallgemeinern läßt, müßte die Probe aufs Exempel an einem anderen Märe des Kaufringers gemacht werden, das vom Personal und vom Milieu der Handlung her als typisch höfisches Märe einzustufen ist. ,Der zurückgegebene Minnelohn' ist ein solches Märe, ich beschränke mich auf ein paar Hinweise: Die Hauptpersonen in diesem Märe gehören dem Adel an, auch das Milieu, in dem sie handeln, ist höfisch. Das Geschehen kommt - ebenfalls vorbildlich ritterlich-höfisch - dadurch in Gang, daß ein junger Ritter, der auf Ritterschaft ausziehen möchte, aber verarmt ist, durch einen älteren Standesgenossen, der Vermögen hat

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und dem der Verpflichtungsanspruch ritterlicher Lebensführung im Sinne einer Standesnorm wichtig ist, entsprechend ausgestattet wird. Die Konfliktsituation, in die er durch das schwankhafte MinneAbenteuer mit der Frau eines Ritters und durch die Bindung der fraintschaft und gesellschaft (vgl. 337 ff., 352), die er kurz darauf zunächst unwissend - mit deren Ehemann eingeht, gerät, wird jedoch gerade nicht durch Normen adeligen Verhaltens gelöst. Auch in diesem Märe wird die Lösung von einem Bezugspunkt her entwikkelt, der außerhalb der brisanten Situation entdeckten Ehebruchs liegt und es daher möglich macht, die zerstörerischen Folgen, die der Verstoß gegen die Norm haben könnte, zu bannen. Mit Hilfe eines Brettspiels, das alle drei an dem Konflikt beteiligten Personen als Partner mit gleichem Einsatz und gleichem Anteil am Verlauf des „Spielgeschehens" erscheinen läßt, gelingt Erkenntnis und entsteht eine neue Konstellation, in der nun - und zwar noch weit intensiver als zuvor - fraintschaft und gesellschaft als sozial konstruktives Potential wirksam werden können.14 Wie in dem Märe .Bürgermeister und Königssohn' geht es auch im .Zurückgegebenen Minnelohn' um ein Verhalten, das Verbindlichkeiten im Zusammenleben schafft, die nicht standesspezifisch, sondern allgemein definiert sind; in diesem Sinne ist auch dieses, auf den ersten Blick so höfisch wirkende Märe kein höfisches Märe mehr. Auch die anderen Mären des Kaufringers müßten unter diesem Gesichtspunkt interpretiert werden, insbesondere diejenigen, in denen das Handlungsgeschehen nicht nach den traditionellen Mustern abläuft; es sind zugleich die Mären, die mit einer Setenz oder einem Sprichtwort beginnen, auf das sich die Handlung deutend und präzisierend bezieht: ,Der feige Ehemann', ,Die Suche nach dem glücklichen Ehepaar', ,Die unschuldige Mörderin'. 15 2. Es gibt andere Texte des Kaufringers - es sind Reden und „bispelartige Erzählungen" 16 , in denen er typisch städtische Probleme an14

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Vgl. 734, 744, 750, 754, 756, 763. Das Motiv des zurückgegebenen Minnelohns ist auch strukturbestimmend in dem ebenfalls in Augsburg, jedoch sehr viel später entstandenen Märe von Claus Spaun .Fünfzig Gulden Minnelohn'. Die andere Akzentsetzung in diesem Märe kann noch einmal das spezifische Konzept des Kaufringers verdeutlichen. In Spauns Märe geschieht die Lösung des Konflikts nicht mittels der entlasteten Situation des Brettspiels, Spaun geht es vorrangig um die gerechte Verteilung und Bestrafung der Schuld, die jeder der drei Personen in diesem Ehebruch-Schwank zukommt. Das Märe endet folglich auch nicht damit, die fraintschaft und gesellschaft, die die beiden männlichen Hauptfiguren von nun an noch fester miteinander verbindet, zu betonen, Spauns Märe endet vielmehr mit der Bestrafung der Frau durch den Ehemann. Vgl. dazu Kurt Ruh: Kaufringers Erzählung von der .Unschuldigen Mörderin'. In: Interpretation und Edition deutscher Texte des Mittelalters. FS für John Asher. Berlin 1981, S. 164-177. Sappler, Verfasseriexikon, Sp. 1078.

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spricht: ,Der bezahlte Anwalt', ,Die uneinigen Kaufleute', ,Die weltgewandten Bösewichter', ,Die Ratsherren in den Städten'.17 In einem dieser Texte, in den ,Uneinigen Kaufleuten', geht es um die Werte des Verhaltens, von denen ein friedliches, ein sozial konstruktives und wirtschaftlich erfolgreiches Zusammenleben in der Stadt abhängt. Was in den Mären als fraintschaft oder gesellschaft handlungsmäßig verdeutlicht wird, ist hier auf den Begriff gebracht: Es geht um dasgemainsam-Sein in der Stadt (vgl. 7), um das städtische Gemeinwohl also, das nur dann gewahrt wird, wenn man sich nicht in kleinlichen egoistischen Zänkereien aufreibt, sondern das übergreifende, allen gemeinsame Interesse im Auge behält. Um die sozialgeschichtliche Bedeutung des Resultats der Textinterpretation einschätzen zu können, müßte der literarische Befund mit dem geschichtlichen Befund, den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen im Raum Landsberg und in Augsburg im 14. Jahrhundert und zu Beginn des 15. Jahrhunderts, in Beziehung gesetzt werden. Augsburg, seit 1167 Königsstadt und seit 1316 Reichsstadt, ist in dieser Hinsicht ergiebiger als Landsberg und hat dementsprechend weit mehr das Interesse der Forschung auf sich gezogen. Ich stütze mich auf die Arbeiten von Karl Bosl und Detlev Schröder und beschränke mich auf wenige Hinweise: 18 Die Geschichte von Augsburg ist im 14. Jahrhundert geprägt durch einen Strukturwandel der städtischen Führungsschicht. Während zunächst die Stadtherrschaft in den Händen einer patrizischen Oberschicht liegt, die sich aus den Stadtministerialen rekrutiert, ist seit Beginn des 14. Jahrhunderts, wie der StolzenhirschAufstand bezeugt, die Gruppe der reichen Fernhändler und Geldverleiher nicht mehr gewillt, „sich dem Diktat der alten Führungsmacht (zu) beugen", und versucht, „ihre gesellschaftliche und politische Gleichberechtigung (durchzusetzen)".19 Die sogenannte „Zunftrevolution" von 1368 führt dazu, daß die in den Zünften organisierten Handwerker Mitspracherechte erwerben. Die eigentlichen Triebkräfte und Gewinner dieser Zunftrevolution sind jedoch die reichen Händler und Kaufleute. Sie werden ratsfähig und sind damit den Patriziern gleichgestellt. Das Ergebnis der Zunftrevolution besteht letztlich darin, daß sich die städtische Führungsschicht endgültig auf die Großkaufleute und die reichen Hochzünfte ausweitet. Um es vorsichtig zu formulieren, der literarische und der geschichtliche Befund widersprechen sich nicht. Es ist anzunehmen, daß angesichts dieser konfliktgeladenen Veränderungen ein Interesse an Normen und Werten Ob dieser letzte Text tatsächlich vom Kaufringer stammt, ist nicht gesichert. Karl Bosl: Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung des Augsburger Bürgertums vom 10. bis zum 14. Jahrhundert. München 1969 (Sitzungsberichte der Bayer. Akad. d. Wiss. Phil.-hist. Kl. 1969, Heft 3); Detlev Schröder: Stadt Augsburg. München 1975 (Historischer Atlas von Bayern. Teil Schwaben. Heft 10), S. 61-80. " Bosl S. 30. 17

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bestand, die auf die Begründung und Rechtfertigung eines - die Gegensätze übergreifenden - städtischen Gemeinwohls zielten; es ist zu vermuten, daß an dem Prozeß, solche Normen und Werte zu finden und zu erproben, auch die Literatur beteiligt war. (Ein Hinweis am Rande: Der Bürgermeister in dem behandelten Märe ist zugleich ein wohlhabender Fernhändler, er repräsentiert bezeichnenderweise also die Gruppe, die dabei war, ihre Beteiligung am Stadtregiment erfolgreich durchzusetzen.) Ich komme auf die eingangs genannte These von Hanns Fischer zurück. Fischer lehnt es ab, aus der Tatsache, daß sich im 13. und 14. Jahrhundert die Produktion und Rezeption von Mären vom Hof in die Stadt verlagert, auf einen soziologischen Wandel der Gattung zu schließen. Er hat recht in dem Sinne, daß der neue soziale Kontext keinen generellen Funktionswandel der Gattung Märe mit sich bringt. Das Märe wird damit nicht zum literarischen Medium einer spezifisch stadtbürgerlichen Ideologie, schon gar nicht - was oft damit gemeint ist - zum Medium einer antifeudal orientierten Ideologie. Dennoch zeigt sich, wenn meine Beobachtungen stimmen und verallgemeinert werden können, daß die Gattung Märe von dieser Veränderung des sozialen Kontextes nicht unberührt bleibt. Um dieser Veränderung gerecht zu werden, müßte der Begriff „soziologischer Wandel" jedoch präzisiert werden, er ist viel zu global, um ein Phänomen wie die neue Begründung und Rechtfertigung von Handlungsnormen zu erfassen. In den Mären des Strickers wird gevikgiu kündikeit als eine Kategorie mit ständeübergreifendem Geltungsanspruch entwickelt. Das ist nach der Literatur der höfischen Klassik ein neues Moment in der literarischen Diskussion. Es ist sicher einer der Gründe, warum das Märe für die Stadt so attraktiv wird. Für alle Stände gilt auch das Konzept von Weisheit, das der Kaufringer in dem hier behandelten Märe vorführt. Verändert hat sich jedoch der Horizont, vor dem dieses Konzept von Weisheit begründet und gerechtfertigt wird, gevüegiu kündikeit ist ein hovelicher site, heißt es beim Stricker. Eine solche Rechtfertigung ist für das Konzept von Weisheit, das in den Mären des Kaufringers steckt, nicht mehr denkbar. Der Hof als entscheidende Bewertungsinstanz ist ersetzt durch die Stadt, durch einen spezifisch stadtbürgerlichen Interessenstandpunkt. In diesem Sinne kann man sagen, daß das Märe jetzt keine höfische Gattung mehr ist; auf seinem Weg vom Hof in die Stadt hat es die Stadt nun wirklich erreicht.

Bernd

NEUMANN

(Köln)

Geistliches Schauspiel als Paradigma stadtbürgerlicher Literatur im ausgehenden Mittelalter Wie archivalische Forschungen in überraschender Deutlichkeit ergeben haben, war das volkssprachige geistliche Schauspiel des 14. bis 16. Jahrhunderts fast ausnahmslos auf die Stadt bzw. auf Orte mit städtischer Struktur beschränkt. 1 Nur einige wenige der rund eintausend dokumentierten Aufführungen lassen sich außerhalb dieser spezifischen Lebensform lokalisieren, so z. B. in Klöstern, doch stehen 230 Städten lediglich 30 Klöster, die ihrerseits z.T. wiederum in der Stadt lagen, als Spielorte gegenüber. Noch wesentlich seltener finden sich geistliche Spiele in Dörfern. Erst mit dem ausgehenden 16. Jahrhundert ändert sich dieses Bild in erheblichem Maße. Neben den aus Archivalien unterschiedlichster Art eruierten rd. 3600 Aufführungszeugnissen 2 kennen wir bislang fast zweihundert Texte aus der Zeit zwischen der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts und dem beginnenden siebzehnten, die aufgrund formaler und inhaltlicher Kriterien der Gattung des „mittelalterlichen religiösen Dramas" zugeordnet werden dürfen. Insgesamt in recht divergierender Weise aufgezeichnet, sind sie in Sammelcodices, Einzelhandschriften und Handschriftenfragmenten überliefert, deren städtische Provenienz in der Mehrzahl der Fälle ebenfalls außer Frage steht. Einige von ihnen wurden von vornherein - ob zur privaten Lektüre, ob aus antiquarischem Interesse, sei dahingestellt - als sog. „Lesehandschriften" konzipiert und dienten damit nicht mehr einer intendierten Aufführung als unmittelbare Grundlage, obschon auch ihr Textbestand in der Regel auf eine realisierte Aufführung zurückzuführen sein wird. Alle übrigen Handschriften aber dürfen als Zeugnisse einer oder mehrerer durchgeführter 1

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Dies ergibt sich bereits aus der „chronologischen Übersicht der Spielbelege im deutschen S p r a c h r a u m " bei Bernd Neumann, Zeugnisse mittelalterlicher A u f f ü h r u n g e n im deutschen Sprachraum. Eine Dokumentation zum volkssprachigen geistlichen Schauspiel. Teil 1: Die Erforschung der Spielbelege. Diss. Köln 1979, S. 195-223. Diese A u f f ü h r u n g s z e u g n i s s e stammen u. a. aus Stadt-, Kirchen-, Bruderschafts- und Zunftrechnungen, aus Ratsprotokollen, Ratsverordnungen, Urfehdebüchern, Gerichtsprotokollen, Pfarrbüchern, verschiedenen Urkunden, Chroniken usw. Sie finden sich in vollem Wortlaut in meiner im Druck befindlichen Dokumentation „Geistliches Schauspiel im Z e u g n i s der Zeit" (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 84/85). Die A n g a b e „Neumann Nr." in den folgenden A n m e r k u n g e n bezieht sich stets auf die Zählung der Dokumentation.

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Bernd Neumann

Inszenierungen angesehen werden: Es sind Regiebücher (z. B. Dirigierrollen), Arbeitsmanuskripte, in denen Texte vor oder nach einer Aufführung in Reinschrift zum Zwecke weiterer Bearbeitung niedergelegt oder in denen Alternativen zur Erstellung eines neuen Spieltextes gesammelt wurden, Einzelrollen der jeweiligen Darsteller usw. 3 Da nur ein Teil dieses Handschriftenbestandes in nachweisliche Verbindung zu den oben zitierten, aus Archivalien belegten Spielzeugnissen gesetzt werden kann, muß mit einer immensen Verlustquote für Handschriften geisdicher Spiele gerechnet werden - dies um so mehr, als noch längst nicht alle potentiellen Aufführungsnachrichten gesammelt sind! Bis auf wenige Ausnahmen sind alle von Textzeugen überlieferten Stoffe auch aufgeführt worden, ob in der schriftlich fixierten oder einer anderen Form, muß allerdings offenbleiben. Sicher ist nur, daß der behandelte Stoff überhaupt szenisch realisiert wurde. Im umgekehrten Falle trifft dies in ähnlichem Maße zu: Von etlichen der in Aufführungsnachrichten bezeugten Spiele sind die zugehörigen Texte noch immer verschollen. 4 Betrachtet man die Spielzeugnisse und Handschriften in ihrer Gesamtheit, so zeigt sich, daß eine Vielzahl z. T. recht unterschiedlicher Themen und Themenkreise für eine Aufführung auf der Simultanbühne bearbeitet wurde. Die Spiele entstanden auf der Grundlage von Altem und Neuem Testament, apokryphen Evangelien oder Heiligenviten bzw. -legenden. Oft waren sie an bestimmte Kirchenfeste, manchmal auch an wichtige Termine des städtischen Lebens, die mit diesen zusammenfallen konnten, gebunden (Märkte, Messen). Die Zahl der überlieferten Themen ist groß: In den Kontext des Weihnachtsfestkreises gehören sowohl umfangreiche Weihnachtsspiele, die den vorgegebenen Stoff in einem übergreifenden Rahmen behandelten, als auch diesem entnommene Einzelspiele, die nur einen bestimmten Ausschnitt des Geschehens herausgriffen und zu einem in sich geschlossenen Ganzen formten (Kindelwiegenspiele, Dreikönigsspiele, Herodesspiele, Lichtmeßspiele usw.). Ähnliches läßt sich für den Osterfestkreis konstatieren: Neben den oft mehrtägigen Passions- und Osterspielen gab es weniger umfangreiche Formen in den Palmsonntags-, GründonnerstagsEin Katalog sämtlicher Spielhandschriften wird z. Zt. von Rolf Bergmann, Bamberg, erstellt. - Zum unterschiedlichen Charakter und Zweck der Handschriften vgl. Rolf Bergmann, Studien zu Entstehung und Geschichte der deutschen Passionsspiele des 13. und 14. Jahrhunderts. München 1972 (Münstersche Mittelalter-Schriften.14.), S. 15-17 et passim; Neumann (Anm. 1), S. 161-166. * Keinen Beleg haben wir z. B. für die Aufführung eines Spiels, wie es uns in der ,Erjurter Moralität' entgegentritt (bislang unediert, vgl. Hansjürgen Linke, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Aufl., Bd. 2 [1980], Sp. 576-582). Ohne entsprechende Texte blieben bislang Spiele von Johannes dem Täufer (z.B. Dortmund 1498, Neumanr. Nr. 1217), von der hl. Elisabeth (Marburg 1481, Neumann Nr. 2264), von der ,Ausfiihruni Christi (u.a. Wien 1481 ff., Neumann Nr. 2811 ff.; Preßburg 1494, Neumann Nr. 2343 Krems 1517, Neumann Nr. 1994) oder auch ein Urban-Spiel (Kitzingen 1506, Neumanr Nr. 1980). 3

Geistliches Schauspiel als Paradigma stadtbürgerlicher Literatur

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und Abendmahlspielen, in den Karfreitagsspielen, den Spielen von der Ausführung Christi, den dramatischen Marienklagen und Grablegungsspielen, den Auferstehungs- und Emmausspielen. Sie alle behandeln jeweils nur einen kleinen Ausschnitt aus dem großen Komplex des Passions- und Ostergeschehens. Christi-Himmelfahrts- und Pfingstspiele setzten diese Reihe entsprechend der Chronologie des Jahresablaufs fort bis hin zu den Fronleichnamsspielen, in denen vielerorts das gesamte Heilsgeschehen von der Erschaffung der Welt bis zu ihrem Ende in Verbindung mit prunkvollen Prozessionen zur Aufführung kam.5 Themen aus dem Marienleben wurden in Spielen von der Geburt Mariae, von der Verkündigung, von den ,Sieben Schmerlen Mariae' und von ihrer Himmelfahrt dramatisch ausgestaltet, Marienspiel und Teufelsbündlerspiel verbanden sich miteinander im ,Spiel von Frau Jutteri und in den Theophilusspielen. 6 Auf apokryphe Evangelien oder das Neue Testament griffen Stücke wie jenes vom Jesusknaben in der Schule'1, von der Enthauptung Johannes des Täufers8 oder von der sündigen, dann aber reuigen Maria Magdalena9 zurück. Großer Beliebtheit erfreuten sich vor allem im letzten Drittel des 15. und zu Beginn des folgenden Jahrhunderts die Bearbeitungen eschatologischer Stoffe in Antichrist-, Zehnjungfrauen- und Weltgerichtsspielen.10 5

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Zur Vielzahl der Spiele aus den genannten Themenkreisen vgl. die in Anm. 1 erwähnte Übersicht. Wolfenbüttler Spiel von der Geburt Mariae, hg. von Otto Schönemann, Der Sündenfall und Marienklage. Hannover 1855, S. 1-126 (HS um 1500). - Tiroler Verkiindigungsspiel (HS von 1514, bislang unediert; Neumann Nr. 3678). „7 ¿er yunkfrouwen Marien dro (nur Spielnachricht, Rostock um 1520; Neumann Nr. 2371). - Amorbacber Spiet von Mariae Himmelfahrt, hg. von Rudolf Heym, Bruchstück eines geistlichen Schauspiels von Marien Himmelfahrt, in: ZfdA 52 (1910), S. 1-56 (HS des 13. Jh.s); Imsbrucker (thüringisches) Spiel von Mariae Himmelfahrt, hg. von Franz Joseph Mone, Altteutsche Schauspiele. Quedlinburg u. Leipzig 1841 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur. 21.), S. 19-106 (HS vom Jahre 1391); Aufführungsnachricht eines solchen Spiels z.B. aus Hameln 1414 (Neumann Nr. 1944). - Dietrich Schernbergs Spiel von Frau Jutten (1480), hg. von Edward Schröder. Bonn 1911 (Kleine Texte für theologische und philologische Vorlesungen und Übungen. 67.). - Theopbilus. Mittelniederdeutsches Drama in drei Fassungen hg. von Robert Petsch. Heidelberg 1908 (Germanische Bibliothek, 2. Abt., Bd. 2) (HSs aus dem 15. Jh.); Aufführungen bezeugt in Bocholt (1459, Neumann Nr. 69) und Deventer (1436, Neumann Nr. 1191). Hg. von Johannes Bolte, Der Jesusknabe in der Schule. Bruchstück eines niederrheinischen Schauspiels, in: N d j b 14 (1888), S. 4 - 8 (Kölner Druck um 1520). Aufgeführt u.a. in Dortmund 1498 (Neumann Nr. 1217) und Hall (Tirol) 1529 (Neumann Nr. 1925-1930); vgl. auch Anm. 4. Erlauer Magdalenenspiel (Erlau IV), hg. von Karl Ferdinand Kummer, Erlauer Spiele. Wien 1882 (HS aus dem westl. Mittelkärnten, 1. Hälfte des 15. Jh.s); Auffiihrungsnachricht eines solchen Spiels aus Königsberg i. Pr. 1509 (Neumann Nr. 1985/1). Die Vielzahl der erhaltenen Handschriften wie auch der Aufführungsnachrichten erlaubt an dieser Stelle keine detaillierte Aufzählung; verwiesen sei wiederum auf die Übersicht bei Neumann (Anm. 1), S. 193-223.

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Bernd Neumann

Neben den in Passions- und Fronleichnamsspiele integrierten, oft praefigurativ eingesetzten wesentlichen Geschehnissen des Alten Testaments finden sich dann zunehmend auch selbständige Spiele aus diesem Themenkreis. Bislang bekannt wurden Texte oder Aufführungsnachrichten von Paradeisspielen11, Abraham-Spielen12, von einem Jakob-und-Esau-Spiel13, einem Spiel von ,Salomos erstem GerichteM4, von Susannen-Spielen15, einem Spiel von König Ahasver16, einem Simsonspiel17 und Spielen von David und Goliath18. Reich überliefert sind auch die Zeugnisse für eine dramatische Behandlung legendarischer Stoffe und Themen. Neben allgemein verbreiteten Heiligen- bzw. Märtyrerspielen, wie jenen von Dorothea, Georg oder Katharina19, stehen Spiele mit lokalem Bezug und besonderer Bedeutung für z.B. Bozen 1 546 und 1547 (Neumann Nr. 945, 947). Fragment einer Sara-Rolle aus einem Abraham-Spiel aus Zutphen (HS des 15. Jh.s), hg. von J. Gimberg, Fragment van een geestelijk drama, in: Gelre. Bijdragen en Mededeelingen. 6 (1903), S. 279-281; die Aufführung eines derartigen Spiels im Dorfe Beek bei Maastricht am 1. Mai 1466 ist zugleich eine der ganz wenigen außerhalb einer Stadt nachgewiesenen Inszenierungen (Neumann Nr. 55). Zur Einbeziehung niederländischer Orte am Niederrhein vgl. Bernd Neumann, Mittelalterliches Schauspiel am Niederrhein, in: ZfdPh 94 (1975) Sonderheft „Mittelalterliches deutsches Drama", S. 147-194. 13 Gottinger Spielfragment von Jakob und Esau, hg. von Karl Meyer, Niederdeutsches Schauspiel von Jacob und Esau, in: ZfdA 39 (1895), S. 423-426 (HS vermutlich gegen Ende des 14. Jh.s). 14 Lübeck 1434 (kein Spieltext überliefert, Neumann Nr. 2029). 15 Wiener Susanna-Spiel, hg. von Karl Schröder, in: Germania 22 (1877) S. 342-351 (HS des späten 15.Jh.s); Aufführungsnachrichten u.a. aus Geldern 1439, 1443, 1446 (Neumann Nr. 1832, 1833, 1835) und Straßburg 1518 (Neumann Nr. 2665). 16 Aufgeführt in Deventer 1474 (Neumann Nr. 1204). Vgl. Neumann (Anm. 12), S. 171. 17 Simsonspiel-Fragment, hg. von [L.] Hänselmann u. C. Waither, Braunschweigische Fündlinge, VII. Fragment eines Dramas von Simson, in: N d j b 6 (1880), S. 137-144 (HS des 15. Jh.s). Aufführungen eines Simsonspiels sind bislang nicht nachgewiesen. 18 Tiroler David-und-Coliath-Spiel (HS von 1515, bislang unediert; Neumann Nr. 3664); aufgeführt wurde ein Spiel mit dieser Thematik 1500 und 1501 in Deventer (Neumann Nr. 1207, 1208). " Für alle drei sind Texte überliefert: Kremsmiinsterer (scblesisches) Dorotheenspiel-Fragment, hg. von Elke Ukena, Die deutschen Mirakelspiele des Spätmittelalters. Studien und Texte. Bern-Frankfurt 1975 (Europäische Hochschulschriften. Reihe I, Bd. 115; zugleich als: Arbeiten zur mittleren deutschen Literatur und Sprache. 1.), S. 337-349 (HS Mitte 14. Jh.). - Augsburger Georgsspiel, hg. von Ukena (s. o.), S. 383—439 (HS kurz vor 1486). - Mühlhäuser (thüringisches) Katharinenspie/, hg. von Otto Beckers, Das Spiel von den zehn Jungfrauen und das Katharinenspiel. Breslau 1905 (Germanistische Abhandlungen. 24.), S. 128-157 (HS aus dem 3. Viertel des 14. Jh.s). - Aufführungsnachrichten eines Dorotheenspiels u.a. aus Bautzen 1413 (Neumann Nr. 50), Butzbach 1517 (Neumann Nr. 1051), Eger 1500 und 1517 (Neumann Nr. 1457, 1469), eines Georgsspiels aus Colmar 1443 (Neumann Nr. 1137: „Item als die von Rufach hie worent mit irem schimpffe sant Jürgen spile"), Dortmund 1497 (Neumann Nr. 1216) oder Straßburg 1507 (Neumann Nr. 2652: „Item u f f s. Philippi und Jacobi tag [Mai 1 ] hatte man s. Georgenspil auff dem kornmarckt und waeret 4 stunden"), eines Katharinenspiels aus Göttingen 1480 (Neumann Nr. 1848) oder - sehr früh - in Königsberg i.Pr. 1323 (Neumann Nr. 1984). 11

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die jeweilige Stadt: so das Spiel von der hl. Elisabeth in Marburg20, das Spiel von den Stadtpatronen Felix und Regula in Zürich21 bzw. von Ursus und Viktor in Solothurn22 und schließlich ein Spiel vom Schutzheiligen der Weinbauern, dem hl. Urban, in Windsheim und Kitzingen23. Nur punktuell faßbar waren bislang Spiele vom hl. Alexius24, von Mauritius25 und ein Heiligkreuzspiel26. Heilige und Heiligenspiele finden sich zudem fast überall im Kontext der großen Fronleichnamsspiele. Abschließend zu nennen wäre endlich noch die Gruppe der Moralitäten, deren Vertreter sich in einer überraschend hohen Zahl präsentieren: die ,.Erfurter Moralität' nebst dem ihr eng verwandten, erst kürzlich aufgefundenen Bruchstück der Berliner Staatsbibliothek27, Nachrichten und Texte von Spielen ,von der hoffarth', von den fiebert Altern des Menschen' bzw. den ,%ehn Altern der Welt', vom ,Lauf der Weif, vom ,reichen Prasser' bzw. vom ,reichen Mann und armen Lazarus', vom ,sterbenden Menschen' und ein Totentanzspiel28. Verbreitet waren derartige Spiele über das gesamte deutsche Sprachgebiet, Aufführungsort war fast immer die Stadt. Auf der Basis der vorliegenden archivalischen Ergebnisse kann nunmehr konkret davon ausgegangen 20 21 22

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Aufgeführt i. J. 1481 (Neumann Nr. 2264); vgl. Anm. 4. Aufgeführt i.J. 1504 (Neumann Nr. 3569). Seit 1502 sind Aufführungen bezeugt (Neumann Nr. 2484 ff.), zu denen sich auch Spieltexte erhalten haben. Aufführungen in Windsheim 1429 (Neumann 3338), Kitzingen 1506 (Neumann Nr. 1980); vgl. Anm. 4. Berliner (rheinisches) Alexiusspiel-Fragment, hg. von Hans Rueff, Das Rheinische Osterspiel der Berliner Handschrift Ms. Germ. fol. 1219. Berlin 1925 (Abhandlungen der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, phil.-hist. Klasse, NF 18,1.), S. 207-216 (HS von 1460). Daneben steht eine vereinzelte AufTuhrungsnachricht aus Essen vom Jahre 1457 (Neumann Nr. 1488). Aufführung in Quakenbrück i. J. 1507: „Geg[even] den spelluden, de Mauritius spei Speiden upten rathuse upten mandach to vastelavende 6 t f ' (Neumann Nr. 2349). Augsburger (südbairisches) Heiligkreu^spiel, hg. von Ukena (Anm. 19), S. 467-544 (HS kurz vor 1494). Zur , E r f u r t e r Moralität (HS von 1448) vgl. Anm. 4; das neu aufgefundene Bruchstück der Deutschen Staatsbibliothek Berlin (Frgm. 244) wird von Renate Schipke in Kürze ediert werden. Spiel ,j>on der hoffarth"-. Eger 1519 (Neumann Nr. 1475); die,¿Sven oldtr der minschen": Rostock um 1520 (Neumann Nr. 2371); „Ain teutsch spil von den %ehen altern der ganzen weit', erwähnt in einem Verzeichnis aus der 2. Hälfte des 16. Jh.s, in dem von gegenreformatorischen Büchervisitatoren in Tirol konfiszierte Texte aufgezählt werden (Neumann Nr. 3708); „van dtme State der werlct': Rostock um 1520 (s.o.); Spiel vom „reichen Prasser": Freiburg i.Ue. 1438 (Neumann, Nr. 1691); Totentanzspiel: Basel 1519. Von den beiden anderen genannten Spielen haben sich auch die Texte erhalten: Tiroler Spiel vom reichen Mann und armen Lazarus, hg. von Hans-Gert Roloff, Die geistlichen Spiele des Sterzinger Spielarchivs. Bd. 5, BernFrankfurt-Las Vegas 1980 (Mittlere deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken. 18.), S. 237-267 (HS von 1539); Müncbener Spiel „vom aygen geriebt und sterbenden menschen", hg. von Johannes Bolte, Drei Schauspiele vom Sterbenden Menschen. Leipzig 1927 (StLV. 269/ 270.), S. 1-62 (Münchener Druck von 1510).

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werden, daß - sozusagen hochgerechnet - „in allen Städten des deutschsprachigen Raums im späten Mittelalter geistliche Spiele aufgeführt wurden und daß folglich überall dort, wo sich noch mittelalterliche Archivalien erhalten haben, mit Spielnachrichten gerechnet werden kann" 2 9 . Sollten sich dennoch andererseits in einem Orte trotz reicher archivalischer Bestände keine Aufführungsnachrichten beibringen lassen, so heißt dies keineswegs automatisch, daß in dieser Stadt nicht gespielt worden wäre: Eine solche Hypothese müßte mit guten Gründen eingehend belegt werden, während der umgekehrte Fall aufgrund der bisherigen Funddichte vom Gesetz der Wahrscheinlichkeit favorisiert wird. 3 0 Daß es derartige Orte gegeben haben wird, steht wohl außer Frage. O b hierbei bestimmte - und wenn ja, welche - Stadttypen die Aufführung von Spielen verhinderten, müßte im einzelnen noch geklärt werden. Erledigt hat sich allerdings durch die bisherigen Forschungen das in der Literatur des öfteren vertretene Diktum, daß es Gebiete gegeben habe, die, bedingt durch regionale Eigenheiten, in bezug auf dramatische Darstellungen als „Leerstellen" zu gelten hätten. 31 Läßt sich die Mehrzahl der Aufführungsnachrichten auf Städte oder Orte mit städtischer Struktur fixieren, so kann darüber hinaus gesagt werden, daß geistliche Spiele in fast allen Städtetypen vertreten waren. Wir finden sie in Groß-, Mittel- und Kleinstädten, lediglich die sog. „Zwergstädte" dürften wohl in Ermangelung des für eine Inszenierung nötigen Darstellerpotentials auszuscheiden sein. Keineswegs aber ist es so, daß sich bestimmte Spielformen oder -typen auch auf einen bestimmten Städtetyp M

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Neumann (Anm. 1), S. 157. Ich wende mich damit auf der Grundlage der bislang vorliegenden Spielnachrichten gegen Paul-Gerhard Völker's Ablehnung der „These einer allgemeinen Verbreitung der Auffuhrungspraxis" (Paul-Gerhard Völker, Überlegungen zur Geschichte des geistlichen Spiels im Mittelalter, in: Werk-Typ-Situation. Studien zu poetologischen Bedingungen in der älteren deutschen Literatur. Hugo Kuhn zum 60. Geburtstag. Stuttgart 1969, S. 252-280, hier S. 258). Ein Beispiel hierfür ist Nördlingen, wo sich weder in den Stadtrechnungen noch in den Ratsprotokollen, Memorialen oder Kirchenrechnungen Spielnachrichten finden ließen. Da die Quellenlage als ungewöhnlich gut bezeichnet werden kann, Auffuhrungszeugnisse zudem zum größten Teil derartigen Quellen entstammen, hätte der Schluß nahe gelegen, Nördlingen unter jene Städte einzureihen, in denen nicht gespielt worden ist. Wie verkehrt eine solche Annahme gewesen wäre, zeigte dann die Auswertung der Urfehdebücher, aus denen sich der Nachweis für Auffuhrungen in den Jahren 1495, 1502, 1507 und 1510 erbringen ließ (Neumann Nr. 2329-2333; vgl. Anm. 36). Solche „Leerstellen" vermutete z. B. Leopold Schmidt am Niederrhein (L. Schmidt, Das deutsche Volksschauspiel. Berlin 1962, S. 65), in Anhalt und Magdeburg („Das geistliche Schauspiel der Landschaft und ihrer Städte im späten Mittelalter ist so gut wie ganz unbekannt", ebd. S. 102), in Main- und Neckarfranken ( „ . . . daß es für die mittelalterliche Ausgestaltung des Schauspielwesens hier im alten Mainzer Bereich so gut wie keine Anhaltspunkte gibt", ebd. S. 202). Archivalische Forschungen haben inzwischen auch für diese Gebiete ein reiches mittelalterliches Schauspielleben nachweisen können; vgl. Neumanr. (Anm. 12); ders. (Anm. 1), S. 95-156, 193-223.

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festlegen lassen, daß also umfangreiche oder mehrtägige Aufführungen auf Großstädte beschränkt blieben, Kleinspiele hingegen nur in Mittel- oder Kleinstädten anzutreffen waren usw. Wie die Quellen belegen, waren den vielen verschiedenen Möglichkeiten hier offenbar keinerlei Grenzen gesetzt. Wohl aber lassen sich durchaus lokale und regionale Traditionen ausmachen. Wie sehr im übrigen die Zeitgenossen selbst die Spiele auf das engste mit dem Lebensraum „Stadt" verknüpft sahen, beweisen die vielen mit Spielen verbundenen Facetien, Schwänke und Anekdoten, deren Schauplatz immer die Stadt ist. 32 Wenden wir uns nunmehr der Frage nach den Spielträgern zu, so zeigt sich, wie sehr sich die geistlichen Spiele im behandelten Zeitraum von ihrer ursprünglichen Trägerschicht und ihrer engen Einbindung in den Kontext der Liturgie emanzipierten. Aufgegeben wurde mit dieser Abwendung zugleich die bislang praktizierte Fremdsprachlichkeit (Latein) der Texte zugunsten einer weitestgehenden Ausgestaltung der Spiele in der Volkssprache. Initiatoren und Ausführende einer Aufführung sind nunmehr kaum noch im Klerus zu suchen, sondern statt dessen - je nach Spieltyp und Intention eines Stückes - innerhalb der verschiedenen Gruppierungen der Einwohnerschaft einer Stadt. Die lokale Geistlichkeit war im Vorfeld einer Inszenierung und an deren Durchführung in den einzelnen Orten zwar noch beteiligt, doch sind die Spiele fortan keine Spiele der Geistlichen mehr: Ihr Einfluß bei städtischen Aufführungen wird erheblich zurückgedrängt und ist in keiner Weise mehr dem im liturgischen Drama (das im übrigen bis ins 18. Jahrhundert weiter bestehen bleibt) ausgeübten Monopol vergleichbar. 33 Das Hauptgewicht verlagert sich spätestens vom 14. Jahrhundert an in sämtlichen Bereichen - d.h. von der Planung einer Aufführung über die Auswahl bzw. Ab- oder Neufassung (Bearbeitung) von Texten bis hin zur Inszenierung und ihrer Finanzierung - zunehmend auf Angehörige der Bürgerschaft, und auch die Rezepienten sind, zumindest was die primäre Intention der Spiele betrifft, ebenfalls in diesen Reihen zu suchen. Entsprechend den Auswertungsergebnissen der Spielzeugnisse lassen sich die Spielträger in sieben Gruppen einteilen: 1. jene, aus deren Reihen der Plan zu einer Aufführung herrührt, 2. jene, die eine Aufführung sanktionieren, 3. jene, die eine Aufführung organisieren,

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So verlegt z . B . Heinrich Bebel eine seiner Facetien nach Tübingen (Neumann Nr. 3714), Johannes Pauli's Fortsetzer siedelt seinen Passionsspielschwank in Dresden an (Neumann Nr. 3756), weitere Geschichten spielen u. a. in Guben (Neumann Nr. 3724) und in Bahn a. d. Thue (Neumann Nr. 3737). Vgl. dazu auch Rainer H. Schmid, Raum, Zeit und Publikum des geistlichen Spiels. München 1975, S. 133 u. S. 254.

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4. jene, die eine Auffuhrung finanzieren, 5. die Darsteller, 6. sonstige Mitwirkende, 7. die Zuschauer.34 Dabei können sich die Gruppierungen 1. bis 6. gegenseitig durchdringen oder sogar miteinander identisch sein: Es kommt zu einem Zusammenwirken von Bürgertum und Geistlichkeit, zu einer gemeinsamen Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen der Stadt. Aus der Benennung dieser Personenkreise in den Quellen der Zeit ergibt sich ein relativ klares Bild derjenigen, die ein Interesse an der Aufführung solcher Spiele hatten, so, wie auch in vielen Fällen ihre soziale Zugehörigkeit für uns erkennbar wird. Zudem erlauben es uns die Aufführungszeugnisse, ein allgemeingültiges Bild vom Ablauf eines städtischen Spiels zu entwerfen, ein Bild, bei dem nicht nur die Rolle bzw. die Funktion unterschiedlicher Gruppierungen innerhalb der Bürgerschaft beim Gang des Geschehens deutlich wird, sondern vor allem auch die Omnipräsenz der städtischen Obrigkeit in allen Phasen der Durchführung. Der Vorschlag, ein geistliches Spiel aufzuführen, konnte von verschiedener Seite ausgehen. Er kam entweder aus den Reihen der städtischen Obrigkeit selbst (z. B. von Angehörigen des Rates), aus interessierten Kreisen der Bürgerschaft, die ihrerseits zu diesem Zwecke wiederum besondere Bruderschaften bildeten oder bilden wollten, aus der lokalen Geistlichkeit, dem Pfarrklerus zum Beispiel, oder von Einzelpersonen. In einigen Fällen lassen sich außerdem besondere Spielstiftungen nachweisen. Wer immer jedoch einen derartigen Plan faßte - er war gezwungen, ihn zunächst der städtischen Obrigkeit zur Genehmigung vorzulegen. 35 Damit aber gewann der Rat der Stadt, der seinerseits deren Oberschicht repräsentierte, bereits von Anfang an die dominierende Position im Hinblick auf diesen ersten und alle weiteren Schritte. Wie aus vereinzelten Zeugnissen hervorgeht, nahm er seine Rechte gegebenenfalls unnachsichtig wahr: Ein Zuwiderhandeln bzw. ein Übergehen dieser Instanz wurde, wo immer man es versuchte, mit Verbot oder Bestrafung geahndet. Und auch im weiteren Verlauf der Aufführung finden wir Ratsverordnete, die alle Schritte genau

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Eine detaillierte Untersuchung der in Pt. 1-7 genannten Trägerschichten wird die im Abschluß befindliche Kölner Dissertation von Margot Westlinning enthalten („Untersuchungen zur Sozialgeschichte des volkssprachigen geistlichen Dramas. Ein Beitrag zur Typologie stadtbürgerlicher Literatur im deutschen Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit."). Dies geht aus der Vielzahl überlieferter Supplikationen und aus den entsprechenden Eintragungen in den Ratsprotokollen zahlreicher Orte eindeutig hervor. Wo man dieser Forderung nicht nachkam, mußte mit schwerer Bestrafung gerechnet werden, so z. B. in Geislingen, wo die Bürger 1514 ohne Erlaubnis und Wissen des Stadtherrn ein Passions- oder Osterspiel aufgeführt hatten (Neumaim Nr. 1829).

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überwachen, finden wir Zensur (?) und Bestrafung unbotmäßiger Mitwirkender. 36 Erst nach erteilter Genehmigung konnte somit an ernsthafte Vorbereitungen gedacht werden. In ihrem Kontext lernen wir die Spielträger, Organisatoren und Geldgeber, die Darsteller und die in sonst irgendeiner Form an der Aufführung beteiligten Personen näher kennen und mit diesen zumeist auch ihren sozialen Status innerhalb der städtischen Gemeinschaft. Finanziert wurde eine Inszenierung aus unterschiedlichen Quellen: aus Mitteln der Stadt, aus dem Kirchenfonds, den aber seinerseits wiederum der Rat kontrollierte und in dem er offenbar vielerorts den zuständigen „offiziellen" Geldgeber sah, aus Mitteln der Bruderschaften und Zünfte und schließlich - und wohl in überwiegendem Maße - aus Eigenmitteln der mitwirkenden Personen. Aus den jeweils für eine bestimmte Aufführung angelegten Regiebüchern und Darstellerverzeichnissen läßt sich entnehmen, daß die Verfasser und Bearbeiter von Texten - gewöhnlich handelt es sich um letztere, da die eigentliche Verfasserfrage bei geistlichen Spielen nur schwer zu klären ist - ebenso der Bürgerschaft entstammten (Lehrer, Stadtschreiber, Notare, Pfarrkleriker, Maler), wie die überwiegende Zahl der Mitspieler. Neben Geistlichen, die in der Regel nur noch in einigen wenigen, musikalisch offensichtlich hochkomplizierten Rollen eingesetzt wurden (Christus, Maria [mater det], Maria Magdalena), wirkten Angehörige des Patriziats und des „mittleren Bürgertums", Handwerker und deren ,knechte' oder schließlich auch - zuerst wohl in Südtirol - Frauen mit 37 . Einer solchen Aufteilung der Rollen unter Einzelpersonen, wie sie in den meisten Spielen praktiziert wurde, steht eine andere, vor allem bei Fronleichnamsspielen zu beobachtende Organisationsform gegenüber: Hier übernahmen Bruderschaften und Zünfte in corpore diverse Gruppen zunächst der mit einer Aufführung verbundenen Prozession, um dann im Spiel selbst die im Umgang vorgestellten Personen auch auf die Bühne zu bringen. 38 Vj

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Ob Zensur stattfand, läßt sich nur schwer entscheiden, doch gibt es zumindest vereinzelte Belege dafür, daß der Spieltext zuvor dem Rat vorgelegt wurde (z. B. Bozen 1514; Neumann Nr. 545). Häufig nachzuweisen hingegen ist die Bestrafung unbotmäßiger Mitwirkender, so z.B. in Nördlingen, wo der Darsteller des Petrus in einem Fronleichnamsspiel (1495) während des Umgangs Karten spielte {,Jarumb legt man in in das loch", Neumann Nr. 2329) oder ein Teufelsdarsteller i. J. 1507 in seinem Betragen sehr zu wünschen übrig ließ: „Hat sich gegen den frowen hildern unwesenlich gehalten, ist an si gefallen und an in genollet wie ein hund und auff der pfarrers meurlin gestannden und gegen sein dienerin tm^imliehe wort gepraucht" (Neumann Nr. 2332). So bei der großen Bozner Passionsaufführung 1514, bei der u.a. die Rollen der „filia chananee", der „uxor Pi/ati", der Martha, der Maria Magdalena, der Maria Cleophe usw. mit weiblichen Darstellern besetzt waren (Neumann Nr. 541, 543, 544). Beispiele hierfür sind die Aufführungen in Bozen (seit 1472 Beteiligung solcher Gruppen am Fronleichnamsspiel; vgl. vor allem die „Ordnung des Umgangs" von 1543 [Neumann Nr. 867]), Freiburg i.Br. (Umgangsordnung des ausgehenden 15.Jh.s, nach der Umgang und Spiel den 12 Zünften übertragen waren [Neumann Nr. 1564]) oder auch Löbau (Neu-

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Festzuhalten bleibt, daß es sich bei allen diesen an der Aufführung beteiligten Gruppen oder Personen, die in zeitgenössischen Quellen als ¿pilgselltn, spilgiellscbafft, spilltute, spils gnoßeri oder auch als gesellen, junge gesellen, jung volck, rijcber lüde kinder' und ,burger kinder' bezeichnet werden, ausnahmslos um Angehörige des Stadtbürgertums handelte.39 Auch die nicht direkt am Bühnenspiel, wohl aber an dessen Vorbereitung und Ausgestaltung beteiligten Personen gehörten diesem sozialen Umfeld an. Handwerker und Tagelöhner zogen aus ihrer Arbeit einen nicht geringen materiellen Gewinn, wie überhaupt die mit einer Aufführung verbundenen wirtschaftlichen Faktoren nicht unterschätzt werden sollten. So kamen im Regelfall außer dem ortsansässigen Publikum zahlreiche, u. a. adelige Zuschauer nicht nur aus dem engeren Einzugsbereich der Stadt, sondern z.T. aus großen Entfernungen. Sie alle trugen während ihrer Anwesenheit - und etliche Auffuhrungen dauerten zwei, drei und mehr Tage - zu einer nicht unwesentlichen Belebung der städtischen Wirtschaft bei. Der spezifische Charakter der Spiele, deren Vielschichtigkeit neben Gottesdienst und Vergegenwärtigung heilsgeschichtlicher Ereignisse auch Zielen, wie der Sicherung des eigenen Seelenheils durch Teilnahme am Spiel, der Herstellung einer Gemeinschaft oder der Besserung des Zuschauers durch eindringliche didaktische Appelle, Raum gab, gestattete dem Bühnenspiel endlich die Möglichkeit einer eindrucksvollen Ausgestaltung und Prachtentfaltung, die, im Sinne des Gedankens der ,repraesentatio' auf die Darsteller selbst wie auf die Spielträger und das sich aus ganz unterschiedlichen sozialen Gruppierungen zusammensetzende Publikum bezogen, zu einem der leitenden Faktoren einer Inszenierung werden konnte.40 Ermöglicht wurde auf diese Weise den Mitwirkenden, wie überhaupt dem von ihnen vertretenen sozialen Gefüge „Stadt", nach innen und außen ein Bild ihrer Bedeutung zu entwerfen und zu entwickeln, das seinen Eindruck auf alle Anwesenden nicht verfehlen konnte. Wohl aus Gründen wie diesem war der Rat an entsprechenden Aufführungen allenthalben sehr interessiert, machte sie zu seiner eigenen Angelegenheit und suchte alles zu verhindern, was hierbei störend oder gar schädigend wirken konnte. Hat sich aus dem Vorangegangenen erwiesen, daß und in welchem Maße geistliche Spiele Unternehmungen des Stadtbürgertums waren, wobei sie nicht einmal an bestimmte Personenkonstellationen, sondern vielmehr

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mann Nr. 2023), wo 1521 ein geistliches Spiel unter Beteiligung von Zünften und Bruderschaften stattfand. Vgl. dazu Neumann (Anm. 12), S. 190 f. Eine Beteiligung von Vaganten, wie sie noch Schmid (Anm. 33) vermutet („einhellige Ansicht der Forschung", S. 127), hat sich bislang nirgendwo nachweisen lassen. Vgl. dazu auch die Überlegungen von Völker (Anm. 29), S. 257, und Schmid (Anm. 33), S. 131. Eingehend untersucht wird dieser Aspekt bei M. Westlinning (Anm. 34).

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primär an die Lebensform „Stadt" gebunden waren 41 , so wäre nun noch zu erörtern, ob und inwieweit sie jenen „literarischen" Anforderungen genügen, die es erlauben würden, ihnen - zusammen mit dem weltlichen Drama - neben Epos und Lyrik den Status der dritten bedeutenden Gattung im Kanon mittelalterlicher Dichtung zuzuerteilen. Dieser Frage kurz nachzugehen, ist insofern notwendig, als sich bis heute jenes alte Vorurteil als äußerst zählebig erwiesen hat, das da besagt, das geistliche Schauspiel des Mittelalters sei nichts als „schofles, elendes Zeug"42, das den „moderne(n) Leser durch die geschwätzige Breite und Unbeholfenheit zur Verzweiflung" bringe, so daß dieser es als „wahre Erquickung" begrüße, „wenn wenigstens einmal eine recht eklatante Geschmacklosigkeit dazwischen" komme 43 , daß somit eine Beschäftigung mit diesem ästhetisch wertlosen Sujet nicht lohne und diese, wenn überhaupt, dann eigentlich weniger Aufgabe der Literaturwissenschaft als vielmehr der Theaterwissenschaft und der Volkskunde sein müsse44. Daß man dem mittelalterlichen Drama die Literarizität jedoch keinesfalls absprechen kann, wurde mittlerweile zur Genüge durch Untersuchungen wie jene von BRINKMANN, GRIESHAMMER, STEINBACH, BERGMANN oder LINKE belegt, in denen die literarischen, kompositioneilen und dramaturgischen Leistungen der verschiedenen Bearbeiter geistlicher Spiele bis ins Detail nachgewiesen wurden. 45 Auch die entsprechenden Artikel der Neuauflage des „Verfasserlexikons" heben in der Regel gerade diese Aspekte besonders hervor. 41

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Vgl. dazu Ursula Peters, Literatur in der Stadt. Studien zu den sozialen Voraussetzungen und kulturellen Organisationsformen städtischer Literatur im 13. und 14. Jahrhundert. Tübingen 1983 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. 7.), S. 198-206 („Spiele in der Stadt"), bes. S. 206. Adolph Pichler, Ueber das Drama des Mittelalters in Tirol. Innsbruck 1850, S. 49. Wilhelm Creizenach, Geschichte des neueren Dramas. Bd. 1: Mittelalter und Frührenaissance. Halle/S. 1911 (2. Aufl.), S. 183. In diesem Sinne äußerte sich z. B. Anton Dörrer, Forschungswende des mittelalterlichen Schauspiels, in: ZfdPh 68 (1943), S. 24-85, der das mittelalterliche Drama nicht als „Kunstprodukt", sondern als „Völksschauspiel" verstanden wissen wollte. Dementsprechend sei seine Erforschung in erster Linie Aufgabe der Volkskunde. Widerlegt wurde Dörrer's These vom „Volksschauspiel" dann endgültig und überzeugend von Hansjürgen Linke, Ist das Tiroler Schauspiel des Mittelalters Volksschauspiel?, in: Tiroler Völksschauspiel. Beiträge zur Theatergeschichte des Alpenraumes. Hg. von Egon Kühebacher. Bozen 1976, S. 88-109 (Schriftenreihe des Südtiroler Kulturinstitutes. 3.). - Gegen die „Literaturhaftigkeit der mittelhochdeutschen geistlichen Spiele" spricht sich auch Völker (Anm. 29) aus (S. 253), der die „literarische Qualität dieser Texte" in Übereinstimmung mit der gängigen Forschungsmeinung „als sehr niedrig" ansetzt (a. a. O.). Vgl. dazu Schmid (Anm. 33), S. 132 mit Anm. 29. Hennig Brinkmann, Die Eigenform des mittelalterlichen Dramas in Deutschland, in: GRM 18 (1930), S. 16-37, 81-98; Rudolf Grieshammer, Sprachgestaltende Kräfte im geistlichen Schauspiel des deutschen Mittelalters. Jena 1930 (Jenaer Germanistische Forschungen. 16.); Rolf Steinbach, Die deutschen Oster- und Passionsspiele des Mittelalters. Köln-Wien 1970 (Kölner Germanistische Studien. 4.); R. Bergmann (Anm. 3); Hansjürgen Linke, Bauformen

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Der bewußte Gestaltungswille der Verfasser bzw. Redaktoren, die zu einem Großteil der Gruppe der gebildeten Laien zuzurechnen sind, zeigt sich z. B. in den oft kunstvollen Bauformen der Spiele, in ihrer Gliederung durch Prologe und Epiloge, in denen wir allen aus der epischen Dichtung bekannten Stilmitteln wiederbegegnen, im Arbeiten mit Zwischenkommentaren, ferner in der Unterteilung der Stücke in Handlungsabschnitte, die unter Rückgriff und Vorgriff auf Ereignisse oder bestimmte (Leit-)Motive geschickt miteinander verzahnt werden können oder unter Ausnutzung der Möglichkeiten der Simultanbühne mehrere Handlungsstränge parallel vorführten, kurz, in einem sehr versierten und ökonomischen Arbeiten mit Groß- und Kleinstrukturen. 46 Auch die Umsetzung epischer Vorlagen bzw. die Verarbeitung des einmal gewählten Stoffes zu einem dramatischen Text offenbart die Fähigkeiten der Verfasser oder Redaktoren: Sei es in der Übersetzung oder Bearbeitung lateinischer Passagen, sei es in der Handlungsführung, im Aufbau von Spannung, bei der Herbeiführung von Konflikten oder bei der Vermittlung theologischer Inhalte und didaktischer Intentionen. Hierbei standen einem Bearbeiter geistlicher Spiele die gleichen sprachlichen und metrischen Mittel zur Verfügung wie den Autoren von Lyrik, Epos oder Maere, und wie diese setzte er sie gezielt ein und bediente sich der von ihnen gebotenen Wirkungsmöglichkeiten. Arbeitete man im mittelalterlichen Drama zwar hauptsächlich mit Paarreimen und Vierhebern, so konnte doch gegebenenfalls zu wesentlich komplizierteren metrischen Formen gegriffen werden, so z. B. um bestimmte Personen, Situationen oder Stimmungen zu charakterisieren. Parodie, Travestie, Wortspiele, das bewußte Enttäuschen von Publikumserwartung, sprechende Namen, die Verwendung von Dialekten oder Fremdsprachen zur Kennzeichnung von Personen oder Personengruppen finden sich in den Spielen durchgehend 47 , stellen aber nur einen kleinen Ausschnitt aus dem vielfaltigen Repertoire der Verfasser und Redaktoren dar, denen im übrigen eine breite, z. T. ausgezeichnete - bislang allerdings nur ungenügend erforschte - Kenntnis geistlicher wie weltlicher Dichtung konzediert werden muß. Dies mag u. a. auch erklären, weshalb es trotz bestehender Traditionen und bei Themengleichheit zu so unterschiedlichen Ausformungen der behandelten Stoffe kam.

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geistlicher Dramen des späten Mittelalters, in: Zeiten und Formen in Sprache und Dichtung. Fs. für Fritz Tschirch zum 70. Geburtstag. Hg. von Karl-Heinz Schirmer und Bernhard Sowinski. Köln-Wien 1972, S. 203-225; Ders., Die Komposition der Erfurter Moralität, in: Medium Aevum deutsch. Beiträge zur deutschen Literatur des hohen und späten Mittelalters. Fs. für Kurt Ruh zum 65. Geburtstag. Tübingen 1979, S. 215-236. Vgl. dazu die beiden Arbeiten von Hj. Linke (Anm. 45) sowie meinen Artikel „Itmsbrucker (thüringisches) Spitt von Mariae Himmelfahrt' im „Verfasserlexikon" (2. Aufl., Bd. 4 [1983], Sp. 403—406. vgl. Grieshammer (Anm. 45), passim.

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Kann man vom mittelalterlichen Drama nunmehr mit vollem Recht als von der dritten großen literarischen Gattung seiner Zeit sprechen, so läßt sich zusammenfassend sagen: Mit dem geistlichen Schauspiel des ausgehenden Mittelalters haben wir einen wesentlichen, wenn nicht sogar den bedeutendsten Vertreter stadtbürgerlicher Literatur jener Epoche vor uns - entstanden unter einem noch näher zu definierenden mehr oder minder großen, eher aber wohl doch relativ geringen Einfluß der lokalen Geistlichkeit, trotz enger Bindungen an Kirchenfeste und -bräuche in allen seinen Erscheinungsformen primär von Laien getragen und bestimmt48, in Szene gesetzt von Angehörigen der Bürgerschaft mit der Zielrichtung auf eine zunächst bürgerlich-städtische Rezipientenschicht, dann aber im Hinblick auf sich selbst und die vertretene Körperschaft wie auch auf das auswärtige Publikum versehen mit dem Leitgedanken der ,repraesentatio' und in allen seinen Phasen untrennbar verbunden mit dem stets allgegenwärtigen Lebensraum „Stadt". Zweihundert Texte stehen uns zur Verfügung, um nunmehr aus ihnen das spezifisch „Bürgerliche", das sich, wenn es ein solches „bürgerliches" Element denn überhaupt gegeben hat, ja zwangsläufig vielfach und vielschichtig darin widerspiegeln müßte, herauszufiltern, um sie als Ausdrucksform einer bestimmten Mentalität begreifen zu lernen und auch, um anhand dieser nachweislich städtischen Literaturproduktion einer „Begriffsbestimmung von .städtischer Literatur' im deutschen Spätmittelalter"49 weitere Möglichkeiten - und vielleicht neue Wege - zu eröffnen.

Zur Frage, was unter dem Begriff „Laie" zu verstehen sei, verweise ich (der Problematik des Begriffes wohl bewußt) auf die bereits zitierte Dissertation von M. Westlinning (Anm. 34). 4 ' So der Titel eines Aufsatzes von Kurt Ruh, in: Über Bürger, Stadt und städtische Literatur im Spätmittelalter. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1975-1977, hg. von Josef Fleckenstein u. Karl Stackmann. Göttingen 1980 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-hist. Klasse, 3. Folge, Nr. 121), S. 311-328. M

Werner

WILLIAMS-KRAPP

(München)

Zur Gattung ,Spiel' aus überlieferungsgeschichtlicher Sicht Die methodischen Möglichkeiten, bei volkssprachlicher Literatur zu einem besseren Verständnis mittelalterlichen Typenbewußtseins zu gelangen, sind begrenzt, zumal kein von tradierten und reflektierten Normen umrissenes System ein solches .Bewußtsein' prägte. Der Vergleich literarischer Zeugnisse nach formalen und inhaltlichen Kriterien kann eine erste Grundlage für die Rekonstruktion eines historisch gerechten Typenverständisses sein. Entscheidend weiterführen kann, wenn es die Umstände erlauben, eine Analyse der Überlieferung, um das Distinktionsbedürfnis wie das Distinktionsvermögen der Leserschaft zu erhellen. Wo möglich trägt auch eine Erarbeitung der Rezepientenkreise zur Typenzuordnung bei. Helmut Wecks Untersuchungen zur .Rechtssumme' Bruder Bertholds 1 haben z. B. gezeigt, daß eine genaue Analyse der Provenienzen der Handschriften eindeutigen Aufschluß über die verschiedenen Verwendungsweisen, mithin auch über von hier aus sich ergebende Typenzuordnungen dieses Werks beizusteuern vermag, während vorher formal-inhaltliche Untersuchungen zu höchst kontroversen Meinungen über die Typenzugehörigkeit und Gebrauchsfunktion der .Rechtssumme' geführt hatten. Damit wäre aber auch eine Crux angesprochen, die die Typisierungsproblematik um eine weitere Dimension kompliziert. Denn die Einordnung in einen Kontext literarischer Typen, die evtl. dem Autor vorschwebte, d. h. der Traditionszusammenhang, in den er sein Werk stellen wollte, muß nicht mit dem Verständnis oder dem Interesse späterer Leser identisch sein, zumal die ^»¿schriftlicher Textvermittlung inhärente Dynamik es erlaubte, Gebrauchstexte weitgehend in der Richtung umzugestalten, in der sich die Absichten der jeweiligen Textvermittler (d.h. Schreiber/ Redaktor) bewegten: Es zeigt sich immer wieder, daß ein Text im Laufe seiner Überlieferung zu mehreren verschiedenen Typen tendieren kann. Ich erinnere nur an die komplexe Diskussion um die Gattungszugehörigkeit von Hartmanns ,Gregorius': Wie auch immer Hartmann seinen Text eingeordnet haben mag, es steht durch die Überlieferung fest, daß das Werk wenn auch in stark veränderter Form - im 15. Jh. nur noch als Legende tradiert und verstanden wurde. 1

Die .Rechtssumme' Bruder Bertholds. Eine dt. abecedarische Bearbeitung der .Summa Confessorum' des Johannes von Freiburg. Die handschriftliche Überlieferung (TTG 6), Tübingen 1982.

Zur Gattung „Spiel" aus überlieferungsgeschichtlicher Sicht

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Die Forderung nach einer gleichmäßigen, bewußteren Trennung und damit dem historischen Leben des Texts gerecht werdenden Berücksichtigung von Autorintentionen und evtl. späterem Typenwandel im Überlieferungsprozeß drängt sich in besonderem Maße bei zwei Gattungen auf, die für einschneidende Änderungen besonders anfallig waren, nämlich Predigt und Spiel. Es handelt sich hierbei um Gattungen, die ihrer Entstehung nach zumeist Fixierungen von rein mündlich zu vermittelndem Textmaterial waren. Ihre Privatisierung als schriftliche Exemplare für den persönlichen Lesegebrauch gehört zu den interessantesten Beispielen von Textmutation, die die mittelalterliche Literatur zu bieten hat. Verschiedene Predigtsammlungen lassen sich als Musterpredigten identifizieren, d.h. ihr ursprünglicher Text war, wie bei Regieexemplaren in der Spielüberlieferung, vom Autor als Konzept direkt für den Vortrag bestimmt. Werden solche Musterpredigten dann für die Privatlektüre von illiterati kopiert, so erfahren sie zahlreiche Textänderungen, die in ihrer Art mit der textlichen Umgestaltung zum gleichen Zweck abgeschriebener Spielhandschriften übereinstimmen. Die lateinischen Stellen werden übersetzt, oder noch häufiger - einfach getilgt. Was die mehrfach in die Predigt integrierten Anweisungen für den Vortragenden betrifft, so läßt sich deren Streichung wie bei gewissen Bühnenanweisungen leicht erklären: sie sind für einen Leser überflüssig. Diese und andere Änderungen zum Zweck der Privatisierung bedeuten allerdings nicht, daß dadurch der ursprüngliche Predigtcharakter des Texts verlorengehen muß; selbst äußerliche Predigtmerkmale wie Publikumsanreden können durchaus stehenbleiben. Jedoch kann nach diesen Eingriffen in die Textgestalt der Unterschied zwischen Predigt und Traktat (bzw. Predigt und Legende im Falle der Heiligenpredigten) häufig derart verschwimmen, daß wir es mit einem deutlich vom Ursprungstext abgehobenen und in andere literarische Zusammenhänge eingebundenen Texttyp zu tun haben, der mit seinem ursprünglichen ,Sitz im Leben' auch das Hauptkonstituens seiner Gattung aufgegeben hat. Ähnliche - wenn nicht sogar größere - Schwierigkeiten bietet die Überlieferung, wenn aus ihr rekonstruiert werden soll, welche Texte einerseits der Gattung ,Spiel' zuzuordnen sind, also zweifelsfrei als Grundlage für eine Aufführung konzipiert waren, oder andererseits von vornherein zur Lektüre (,Lesespiele') verfaßt wurden. Auf Schwierigkeiten im breiten Bereich zweifelhafter Fälle habe ich vor vier Jahren in einer Monographie 2 hingewiesen, in z. T. noch unpublizierten Beiträgen von Rolf Bergmann 3 2

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Überlieferung und Gattung. Zur Gattung .Spiel' im Mittelalter. Mit einer Edition von .Sündenfall und Erlösung' aus der Berliner Handschrift mgq 496 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 28), Tübingen 1980 (dort weitere Literatur). Einige Formulierungen aus dieser Arbeit wurden hier wörtlich übernommen. Aufführungstext und Lesetext. Zur Funktion der Überlieferung des mittelalterlichen geistlichen deutschen Dramas, erscheint in: Het theater in de middeleuwen. Internationales

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Werner Williams-Krapp

kommt die Diskussion in diesem Punkt voran. Eine neue Arbeitsgrundlage wird das bald erscheinende Verzeichnis deutscher Spielhandschriften bieten, wo erstmals ein Spielcorpus nach Analyse der Überlieferung zusammengestellt und definiert wird. Meinte man in vergangenen Jahren, die morphologischen Merkmale seien zur Erfassung der Gattung zureichend, so ist man in jüngerer Zeit doch wesentlich zurückhaltender geworden. Ich versuche in der gegebenen Zeit die Problematik zu skizzieren. Grundsätzlich wäre vorauszuschicken, daß durchgehende dialogische Gestaltung eines literarischen Werks bei mittelalterlichen Lesern keineswegs Assoziationen an den Spiel-Bereich zu erwecken brauchte und daher nicht als Gattungskonstituente überbewertet werden darf. Denn Literatur in Dialogform beruhte auf einer breiten und vitalen Tradition. Über zentrale Texte der christlichen Spätantike - etwa Gregors ,Dialogi' oder die ,Vitaspatrum' - und später durch die Scholastik fand der Dialog als adäquatestes Medium der Didaxe vielfältige Verwendung. Zu erinnern wäre hier an dialogische Werke der verschiedensten Gattungen, etwa an den ,Lucidarius', an Werke der mystischen Erbauungsliteratur (Marquard von Lindau, Heinrich Seuse - vor allem sein .Büchlein der ewigen Weisheit', das populärste Erbauungswerk des späten Mittelalters), Passionstraktate, Lehrgespräche wie der .Zürcher Gratia-Dei-Traktat', der Komplex .Christus und die minnende Seele', Totentänze, Jacobus' von Theramo .Belial', Streitgespräche im Bereich der Minnereden und viele andere mehr. Heinrich Seuse etwa lobt den Dialog ausdrücklich als Mittel, Lehre lebendiger zu gestalten, wie auch ein Jahrhundert später Erhard Groß in seinem dialogisierten ,Witwenbuch'. Zu dieser Masse dialogischer Texte gesellen sich auch die in ca. 200 Handschriften überlieferten Stücke, die die Forschung in Handbüchern und Bibliographien zu einer Art ,Kanon' mittelalterlicher Spiele zusammengestellt hat. Fast alle diese Stücke sind übrigens nur einfach überliefert. Dieser Spielkanon wäre auf dem Hintergrund der beachtlichen Tradition dialogischer Werke daraufhin zu überprüfen, ob darin nicht eine Anzahl von Stücken enthalten ist, die in den Augen ihrer damaligen Leser mit der Gattung Spiel so gut wie nichts zu tun hatten. Eine zweifellos zum Zwecke einer Aufführung angefertigte Handschrift ist in der Regel leicht zu erkennen: sowohl formal-inhaltlich als auch von den Überlieferungsformen her. Das Format der Handschrift (etwa Heberegisterformat, Rolle) sowie z. B. auch die Art der die Dialoge gliedernden Zwischentexte, sprich Bühnenanweisungen und Sprecherangaben Kolloquium des Instituut voor middeleeuwse studies der Universiteit Leuven; Überliefe rung, Interpretation und literaturgeschichtliche Stellung des Osterspiels von Muri, erschein: in: IASL.

A b b . 1 Berlin, S P K , m g f 1219, 29': D a r s t e l l e r v e r z e i c h n i s

Zur Gattung „Spiel" aus überlieferungsgeschichtlicher Sicht

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usw., ergeben im allgemeinen ein eindeutiges Bild. Ein typisches Beispiel liegt uns im .Rheinischen Osterspiel' vor (Abb. 1). Am stärksten vertreten im .Spielkanon' sind indessen dialogisierte Texte aus Handschriften, die entweder aus Aufführungstexten zur privaten Lektüre des Besitzers abgeschrieben und dabei zumeist redigiert, oder vielleicht auch schon zu diesem Zweck verfaßt wurden. Zugegeben werden muß dabei, daß eine Unterscheidung unter den beiden genannten Möglichkeiten aufgrund der zumeist unikalen Überlieferung nicht zu treffen ist. Beide Arten dieser Gruppe sind, von den Fakten der Überlieferung her gesehen, ,Lesetexte'. Diese Lesetexte finden sich im Gegensatz zu Aufführungstexten gewöhnlich in Sammelhandschriften, weisen statt des in Aufführungshandschriften ausnahmslos verwendeten Präsens bei Sprech- und Bühnenanweisungen zumeist im Präteritum gehaltene Zwischensätze auf, oder stellen sogar längere erzählende Partien zwischen die Dialoge, um den Handlungsverlauf zu erläutern. Ein extremes Beispiel für dieses Phänomen ist ,Sündenfall und Erlösung' aus der Berliner Handschrift mgq 4964. Bei diesem dialogisch aufgebauten Werk, das textliche Verwandtschaft mit dem Aufführungstext,Donaueschinger Passionsspiel' aufweist, könnte es sich formal-inhaltlich um ein typisches Passionsspiel handeln: Nach der Darstellung des Sündenfalls der ersten Menschen wird die Erlösungsgeschichte mit den in zahlreichen Passionsspielen vorkommenden Handlungselementen geboten. Zur Annahme jedoch, daß der Text als ,Spiel' (d. h. als sog. .Lesespiel') verstanden wurde, fehlt jeder Anhaltspunkt; eher dürfte er als Variante der Bibelepik eingeordnet worden sein. Denn der Verfasser/ Redaktor schreibt, es handele sich um ein Buch, das von den Ereignissen der Heilsgeschichte berichte; die Dialogpartien seien Teil einer schön retP. Der Charakter gliedernder Zwischensätze ist so gut wie immer erzählend: Übergangene, d.h. nicht detailliert ausgestaltete Episoden werden dort zusammengefaßt, bisweilen wird auch das Evangelium zitiert, all das stets erzählend im Präteritum gehalten. Bei der Umformung eines Aufführungstextes im Laufe der Überlieferung zu einer Variante der Bibelepik, wie es freilich nicht nur bei .Sündenfall und Erlösung' der Fall ist - das sog. .Wiener Passionsspiel der Hs. 13032' ist ein vergleichbares Werk - , ist doch immer wieder zu beobachten, daß gleich, ob solche Lesetexte nachträglich aus Aufführungstexten entstanden oder von vornherein als Lektüre gedacht waren, eine Annäherung an die Epik angestrebt wurde; mit einem unveränderten Regieexemplar wollte man sich in der Regel nicht zufrieden geben. Die Assoziationen zum Spiel mußten zurücktreten in dem Maße, indem sich die Texte aus dem Lebensraum akustischer Aufführung entfernten und in die Situation von Lese4 5

Anm. 2, S. 33-66. ebd., S. 44.

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Literatur übertraten. Die Gewohnheiten traditioneller Situationen setzten den Horizont der Assoziationsmöglichkeiten. Eines der Motive für die Entscheidung, diese Form der Evangeliumsvermittlung vorzuziehen, könnte die im Zeitalter der Prosa von manchem noch als ausgezeichnetes literarisches Medium geschätzte Versform gewesen sein. Die Verdrängung von Spielassoziationen bei einer gleichzeitigen Annäherung an die Ausgestaltung dialogisch-didaktischer Texte, wie etwa bei den vorher aufgezählten Lehrgesprächen, vermag das sog. .Berliner Weltgerichtsspiel' zu illustrieren. Hier wird durch die Hinzufügung eines Bildprogramms die Umwandlung eines ursprünglich wahrscheinlich für eine Aufführung verfaßten Textes zu einem illustrierten Erbauungsbuch vollzogen (Abb. 2 u. 3). Das Jungst Gericht pücb lautet die Überschrift des Textes, der zwar, etwa im entsprechenden Artikel des neuen Verfasserlexikons (Bd. I, Sp. 735-737), in der Forschung verschiedentlich noch als Spiel verstanden wird, aber für mittelalterliche Leser kaum als solches gegolten haben dürfte. Um dies zu verdeutlichen, könnte man illustrierte Hss. des ,Belial' heranziehen - ein Text, der bisher nie in die Nähe des Spiels gestellt wurde die eine ähnliche Gestaltung wie das ,Berliner Weltgerichtsspiel'6 aufweisen. Auch beim sog. .Spiegelbuch' 7 ist die Text-Bild-Beziehung so eng, daß in den als ursprünglich geltenden illustrierten Handschriften Sprecherangaben gänzlich fehlten (Abb. 4 u. 5). Als man auf die Bilder verzichtete, wurden Inquit-Formeln notwendig. Es handelt sich um ein Werk, das vier Gesprächsszenen vereint (Jüngling und Mönch, Christus und die Jungfrau, Christus und der Sünder, der reiche Mann und der arme Lazarus), wobei es stets um die Sündenproblematik geht. Von der frühen Forschung wurde das Werk als Spiel bezeichnet, bis dann Bolte zeigte, daß hier nur von einem illustrierten Erbauungsbuch die Rede sein kann. Zugegeben, die hier vorgeführten Beispiele sind nicht repräsentativ für die Masse der .Lesetexte'. Wie sind aber Stücke wie das berühmte .Redentiner Osterspiel', das .Heidelberger Passionsspiel', das .Maastrichter Passionsspiel' sowie sämtliche Fastnachtsspiele als Typen einzuordnen, die alle nur als Privatlektüre überliefert sind und bei denen keine so starke Überformung nachweisbar ist wie bei den beiden vorher genannten? Auf keinen Fall dürfen sie von vornherein mit Aufführungstexten gleichgesetzt werden; nur so lassen sich vorschnelle interpretatorische Konsequenzen vermeiden. Zu prüfen wäre zuallererst in jedem Fall, was die Überlieferung - das einzige was uns greifbar ist - über ein zeitgenössisches Typenverständ-

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N. H. Ott, Rechtspraxis und Heilsgeschichte. Überlieferung, Ikonographie und Gebrauchssituation des dt. .Belial' ( M T U 80), München 1983 (Abbildungen im Anhang). Hrsg. von J . Bolte, Das Spiegelbuch. Ein illustriertes Erbauungsbuch des 15.Jh.s in dramatischer Form, in: Sitzungsberichte der Preuß. Akademie der Wissenschaften, phil.hist. Klasse, Bd. 8, Berlin 1932, S. 130-171.

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nis zu verraten vermag. Diese Werke dürfen nur mit großem Vorbehalt für eine Geschichte des Theaters in Anspruch genommen werden, da Aspekte wie Bühnenwirksamkeit und -technik von dem Schreiber/Redaktor möglicherweise in Hinblick auf die primäre Gebrauchsfunktion nicht intendiert waren. Ein Beispiel für entsprechende Fehlinterpretationen gegen den Befund der Überlieferungsbedingungen bieten einige Untersuchungen zum .Redentiner Osterspiel'. Die einzige erhaltene Hs. war für eine Aufführung nicht verwendbar und wurde auch nicht zu diesem Zweck abgeschrieben. Aus der Anlage der Hs. (auf den ersten Seiten stehen jeweils 33-44 Zeilen, auf den letzten Seiten bis zu 59 Zeilen) geht hervor, daß der Text „auf einen gerade verfügbaren und von vornherein begrenzten Raum eingetragen wurde, was zu der gegen Ende überaus gedrängten Niederschrift führte" 8 . Ob das in der Hs. lediglich mit De resurrecttone überschriebene Stück ein Regieexemplar als mittelbare oder unmittelbare Vorlage hatte, braucht hier nicht erörtert zu werden. Wahrscheinlich war der Vorläufer kein ,Lesespiel'. Diese Annahme hat dazu geführt, immer wieder die textlichen Mängel der Abschrift zu verdrängen und das Überlieferte mit einem in dieser Form aufgeführten Spieltext gleichzustellen. Dabei haben schon der erste Herausgeber Ludwig Ettmüller9 auf die Nachlässigkeit der Abschrift und Gabriele Schieb10 auf die kürzende Tendenz des Schreibers hingewiesen. So fehlen z. B. ein angekündigtes Lied, ebenfalls Textteile bei der Höllenfahrtsepisode sowie Zwischentexte. Dieser Befund hat manche Interpreten nicht daran gehindert, z. B. aus dem Fehlen der Marien-Szenen, die in keinem Osterspiel ausgelassen werden, eine aufbaumäßige Absicht des Verfassers abzuleiten, die eine beinahe perfekte Symmetrie des Spielgeschehens anziele (so Lothar Humburg) 11 . Der überlieferte Szenenbestand zeige nach Brigitte Schottmann12 auch, daß nicht wie üblich die Visitatio im Mittelpunkt stehe, sondern die „Ohnmacht der höllischen Mächte gegenüber Christus". Humburgs Beobachtungen, daß das Stück „auf alle Auftritte der ersten älteren, aus der Liturgie hervorgegangenen Gruppe" 13 verzichte, scheint mir gerade ein wesentlicher Hinweis darauf zu sein, daß erst der Schreiber, aber nicht der Verfasser meinte, die hinlänglich bekannten, an die Liturgie R. Bergmann, Zur Überlieferung der mittelalterlichen geistlichen Spiele, in: Festschrift M. Zender, Bd. 2, Bonn 1972, S. 900-909, hier S. 902. ' L. Ettmüller (Hrsg.), dat ipil van der upstandingt (Bibl. der gesamten deutschen NationalLiteratur 31), Quedlinburg/Leipzig 1851. 10 Zum Redentiner Osterspiel, PBB 70 (1948) 295-303. 11 Die Stellung des Redentiner Osterspiels in der Tradition des mittelalterlichen geistlichen Schauspiels (Forschungen hrsg. i.A. des Vereins für nd. Sprachforschung. NF Reihe 3: Sprache und Schrifttum Bd. 6), Neumünster 1966, S. 45. 12 Das Redentiner Osterspiel, mnd. u. nhd. übersetzt und kommentiert von B. S. (Reclam Universal-Bibl. Nr. 9744-47), Stuttgart 1975, S. 17. 13 Anm. 11, S. 44. 8

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gebundenen Szenen für seinen Zweck übergehen zu können. Darauf könnte auch das starke Abkürzen von lateinischen Textpartien hinweisen, die bei den Cisterciensermönchen zu Doberan, für die die Abschrift angefertigt wurde, als bekannt vorausgesetzt werden konnten. Zwar ist dies nicht stringent zu beweisen, aber in Hinblick auf die Schreibertendenzen wahrscheinlicher als die Annahme, im Verzicht auf traditionelle Partien den besonderen gestalterischen Wurf eines Verfassers erblicken zu wollen. Ich fasse zusammen. Eine bedeutende Anzahl der bisher von der Spielforschung in einer Art Kanon zusammengestellten Werke sind keine Texte, die in ihrer überlieferten Form für eine Aufführung bestimmt waren. Einige dieser Werke, die häufig als Spiel reklamiert werden, sind gänzlich aus dieser Liste zu streichen (etwa ,Sündenfall und Erlösung', .Berliner Weltgerichtsspiel'). In diesen Fällen wäre Spiel als mit-initiierende Gattung bei der Konzeption der Texte möglicherweise denkbar, doch braucht die initiierende Gattung im Bewußtsein eines Lesers nicht mehr assoziiert zu werden. Die restlichen Werke, die bei ihren Lesern trotz redaktioneller Eingriffe noch Assoziationen zum Spiel erweckt haben dürften, wären jeweils in ihrer überlieferten Individualität zu beschreiben, nicht nur als verderbte Ableger aufgeführter Spiele zu werten. Sie als .Lesespiele' zu bezeichnen, wäre von der Intention ihrer Abschrift her zutreffend, doch sollte dies nur als heuristischer Behelf gelten, der weiterer Differenzierung bedarf. Denn Stücke wie Hrotsvits Dramen oder wie Jacob Rueffs ,Passionsspiel', das als Erbauungsbuch für die dialogischen Texten zugängliche Jugend dienen sollte, sind von Werken wie dem ,Mittelrheinischen Passionsspiel' oder den Spielen der Innsbrucker Handschrift sehr verschieden. Bei letzteren liegen offensichtlich beinahe wörtliche Abschriften von Aufführungsexemplaren vor, die vielleicht aus antiquarischem Interesse der Besitzer angefertigt wurden. Darüber hinaus sind unter den Lesespielen auch Werke vertreten, die zwar z. T. stark redigiert sind, aber von ihrer zeitgenössischen Einordnung her - also laut Terminologie in den Überlieferungsträgern oder ähnlichem - zu den Spielen gerechnet werden (etwa die Fastnachtsspiele). Damit wäre die Bandbreite der überlieferten Möglichkeiten freilich noch nicht erschöpft; das zu versuchen ist in diesem Rahmen nicht möglich. Methodische Ansätze, das Spektrum zu erfassen, hat Rolf Bergmann in seinem Leuvener Vortrag 14 aufgezeigt, obwohl auch hier der Frage, ob nicht eine Anzahl von Lesetexten gänzlich aus dem Spielcorpus zu entfernen sei, m. E. nicht konsequent genug nachgegangen wird. Ich habe mich auf die handschriftliche Überlieferung beschränkt, denn die Drucküberlieferung bietet ein völlig anderes Bild. Hier heben die Verfas-

'< Anm. 3.

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ser oder die Drucker mitunter auf die Polyfunktionalität ihrer Werke ab, wie etwa Paul Rebhun, der in seinem zur Aufführung bestimmten Werk .Hochzeit zu Kanaan' Texte einfügt, die - durch Zeichen markiert - zum erbaulichen Lesen und nicht zur Aufführung gedacht sind. Die Massenproduktion eines Spiels führt dazu, Funktionen, die bei den individuell situierten Manuskripten getrennt blieben - und als solche Beachtung verdienen - , jetzt für einen anonymen Käuferkreis nach Möglichkeit zu summieren.

Werner

RÖCKE

(Berlin)

Minne, Weltflucht und Herrschaftslegitimation* Wandlungen des späthöfischen Romans am Beispiel der ,Guten Frau' und Veit Warbecks ,Magelone' Wunschbilder von Demut und Keuschheit der Ehe- und Hausfrau gehören ebenso wie die Warnungen vor dem ,übelen wip' zum festen Bestand jener stereotypen und außerordentlich wirkungsmächtigen Vorstellungen von Mensch und Geschlecht, Herrschaft und Gesellschaft, die im Mittelalter die Einstellungen zur Wirklichkeit bestimmten. „Ein flüchtiger Hauch ist die Schönheit, aber ein gottesfürchtiges Weib ist des Ruhmes wert" wissen schon die alttestamentlichen ,Sprüche Salomonis' (31, 30), aber auch, daß es besser sei, „in der Einöde zu hausen als bei zänkischem, grämlichem Weibe." (21, 19) Und noch in Wittenwilers ,Ring' warnt Snellagödili vor der Bosheit der Frauen und der Last der Ehe, während seine Kontrahentin Berta Laichdenman ebenso eindeutig, aber dem entgegengesetzt das Hohelied der treuen Hausmutter singt.1

* Dem Beitrag liegt der Habilitationsvortrag zugrunde, den ich im Juli 1984 am Fachbereich Germanistik der FREIEN UNIVERSITÄT BERLIN gehalten habe. 1

Heinrich Wittenwilers Ring. Nach der Meininger Handschrift hrsg. von Edmund Wießner (= DLE Realistik des Spätmittelalters, Bd. 3). Leipzig 1931, VV 2668ff. beginnt die Diskussion des Sippenrats über das Für und Wider der Ehe; sie endet - im Anschluß an Theophrasts ,liber de nuptiis' - mit dem Eheurteil 3524, 1—11 („In gottes namen: Amen. Hie mag man ein frag schephen, ob ein man ein weib schül nemen."). Snellagödili eröffnet VV. 2755 ff. die Schmähreden gegen Frauen und Ehe („Wiss, das besser ist ze sterben / Dann ein böses weib erwerben. / Die dich sirtet durch daz jar / Taugenieich und offenbar / Mit schelten und mit fluochen / Mit straffen und versuochen [...]"), die „alt fro Berchta Laichdenman" (V. 3028) hingegen, preist das Glück des Hauses, der Ehe und Familie, deren festen Bestand vor allem die tüchtige Hausfrau garantiert: „Die gruntfest ist ein bider weib, Die daz haus mit irem leib Auf enthalt mit manigen Sachen. Mit kochen und mit kindermachen." (VV. 3385-89) Zum Typus des ,übelen wip' einerseits, der tüchtigen Ehe- und Hausfrau andererseits vgl. Wießners Angaben im Kommentar, S. 113f., S. 134 u.ö. (E. Wießner: Kommentar zu Heinrich Wittenwilers Ring. Leipzig 1936) und Franz Brietzmann: Die böse Frau in der deutschen Literatur des Mittelalters (=Palaestra XLII). Berlin 1912.

Minne, Weltflucht und Herrschaftslegitimation

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Beide Deutungsmuster scheinen unproblematisch und „monologisch" in dem von Bachtin beschriebenen Sinn und nur insofern aufeinander bezogen, als die Darstellung des Bösen und Negativen an das Gegenbild des Guten und Schönen gebunden bleibt. 2 Unterschieden allerdings sind sie hinsichtlich ihrer Erzählform. Findet sich das ,übele wip' vor allem in Märe, Schwank und Fastnachtspiel, so die Darstellung der guten Frau, der Gattin und Mutter in Exemplum, Legende und späthöfischem Roman. Im folgenden werde ich mich auf einige Berührungspunkte zwischen dem späthöfischeri Roman und unterschiedlichen Wunschbildern von Ehe, Familie und idealer Herrschaft beschränken; im spätantiken Roman und in der christlichen Legende wurden sie vorbereitet. Auf Affinitäten zwischen Legende und Roman im Mittelalter hat zuerst Max Wehrli aufmerksam gemacht: die Legende sei „das wichtigste Vehikel . . . " , welches den spätantik-hellenistischen Roman mit seinem Erzählschema von Liebesglück und Liebesleid, Trennung und Vereinigung, Prüfungen und Gefahrdungen der Erzählliteratur des Mittelalters zuführe. 3 An Strukturanalogien nennt er neben ihrem dreistufigen Aufbau von weltlichem Glück, Krise und erneutem Glück, bzw. ewiger Seligkeit 1) die Verwirklichung eines Menschen in der Welt, nicht einer Gruppe oder eines Standes, 2) eine lehrhaft-exemplarische Wirkungsabsicht. Wehrli hat diese Strukturanalogien am Artus- und Gralsroman erprobt, noch bedeutsamer jedoch scheinen sie mir für den späthöfischen (und spätmittelalterlichen) Minne- und Abenteuerroman zu sein, der die unterschiedlichsten Stoffbereiche und Erzählmuster, Figuren- und Motivensembles, Abenteuer und Erfahrungen verbindet und variiert, dessen „systemprägende Dominante" 4 aber in der Kombination von Legende und Motiven des hellenistischen Romans liegt. Gemeinsam ist den „erbaulichen" oder „sentimentalen" Liebes-, bzw. „Abenteuer"- oder „Reiseromanen" ihr Sujet. 5 Die Gefahren für Liebe 2

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5

Zur Theorie „monologischen" und „dialogischen" Sprechens bei Bachtin vgl. die Darstellung J ü r g e n Lehmanns: Ambivalenz und Dialogizität. Zur Theorie der Rede bei Michail Bachtin. In: Friedrich A. Kittler/Horst Türk: Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Frankfurt 1977, S. 355-380. Eine Bachtin-Bibliographie findet sich in der Schriften-Ausgabe Rainer Grübeis (M. M. Bachtin: Die Ästhetik des Worts, hrsg. und eingeleitet von Rainer Grübel. Frankfurt/Main 1979, S. 79-88). Max Wehrli: Roman und Legende im deutschen Hochmittelalter. In: Worte und Werte, Festschrift für Bruno Markwardt, hrsg. von G. Erdmann/A. Eichstaedt. Berlin 1961, S. 432. Im Anschluß an Hans Robert Jauss: Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters. In: H . R . Jauss: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956-1976. München 1977, S. 332. V g l . dazu Helmut de Boor: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Zerfall und Neubeginn ( = Geschichte der deutschen Literatur von den Anfangen bis zur Gegenwart, Bd. 3. 1). München 1962, S. 90ff. (.Abenteuerliche Minneromane', .Erbauliche Abenteuer-

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und Ehe, die plötzlichen Trennungen und glücklichen Vereinigungen, die Prüfungen von Treue und Keuschheit, die schicksalhaften Wendungen des Glücks oder der göttlichen Providentia sind die Abenteuer, an denen sich die Liebes- und Ehepaare, die Familien und Freunde zu bewähren haben. Allerdings bieten Liebe und Abenteuer hier nicht - wie im arturischen Roman - je neu Gelegenheit zur Bestätigung der eigenen Vollkommenheit; zur Erfüllung gesellschaftlicher Forderungen oder zur Integration in die höfische Ordnung, sondern dienen dem persönlichen Glück, der Erfahrung von Wundern und Abenteuern im erweiterten Gesichtskreis der weiter gewordenen Welt, der individuellen Trauer über Trennung und Leid. Liebe und Abenteuer sind, wie Ruh formuliert, „privater Natur", nicht Darstellungsmodus gesellschaftlicher Leistung. 6 Ob und inwieweit hingegen Romane des 16.Jahrhunderts - z.B. Warbecks .Magelone', die ,Histori von dem keyser Octaviano, seinem weib und zweyen sünen', die ,Neue Hystori des fursten Florio vnd seyner liben Bianceflora' u. a. - dem späthöfischen Roman zuzurechnen sind, ist umstritten. Die ältere Forschung hat eine selbständige „Gattung Prosaroman" postuliert: einerseits aufgrund ihrer Prosaform, andererseits aufgrund ihrer „Gemeinsamkeiten in Struktur, Motiven, Funktionen". 7 Demgegenüber möchte ich vorschlagen, den Prosaroman des 15./16. Jahrhunderts stärker als bisher üblich vom Spätmittelalter her zu lesen. Für die Frage nach den Anfangen des Romans scheint mir die Differenzierung in unterschiedliche Erzähltypen - z. B. Minneromane, Schwankromane, Legendenromane, politische Romane u.a. - und deren historischer Wandel aufschlußreicher als das Postulat eines Neubeginns des Prosaromans im 15./16. Jahrhundert. Die bis in die Neuzeit außerordentlich wirksamen Bilder von opferbereiter Liebe und unauflösbarer Ehebindung; vom entsagungsvollen Dienst der liebenden, leidenden, dabei aber so unendlich guten Gattin und

6 7

romane'). Max Wehrli: Geschichte der deutschen Literatur vom frühen Mittelalter bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. Stuttgart 1980, S. 472ff. (.Wandlungen der Großerzählung'), Kurt Ruh: Epische Literatur des deutschen Spätmittelalters. In. W . Erzgräber (Hrsg.): Europäisches Spätmittelalter ( = Neues Handbuch der Literaturwissenschaft 8). Wiesbaden 1978, S. 117-188 und Verf.: Höfische und unhöfische Minne- und Abenteuerromane. In: V. Mertens/U. Müller (Hrsgg.): Epische Stoffe des Mittelalters. Stuttgart 1984, S. 395-423. Kurt Ruh: Epische Literatur des deutschen Spätmittelalters, S. 140. So auch noch Hans-Gert Roloff: Anfänge des deutschen Prosaromans. In: Helmut Koopmann (Hrsg.): Handbuch des deutschen Romans. Düsseldorf 1983, S. 54-79. An „Gemeinsamkeiten" nennt Roloff: „Dynastie- oder Familiengeschichte; Drei-Generationen-Struktur; Bauelemente wie Bericht, Gespräch, Monolog, integriertes Exempel, Erzählereinschaltung; Wechsel von praktischer mit analytischer Struktur; längere Zeiträume und weite Handlungsbereiche ( . . . ) " etc., deren Relevanz für eine Gattungstheorie des frühen Prosaromans aber merkwürdig offen bleibt. Sinnvoller wäre es wohl auch in diesem Fall, von den ,Universalien' oder Gattungskriterien auszugehen, die Jauss für eine Gattungstheorie mittelalterlicher Literatur vorgeschlagen hat (s. o. Anm. 4).

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Frau sind von den Anfangen des Minne- und Abenteuerromans im 13. bis ins 16. Jahrhundert in zwei Erzähltypen entworfen und variiert worden: 1) dem ,Eustachius'-Typus im Anschluß an die Legende von Umkehr, Buße, Prüfung und erneutem Glück des heiligen Eustachius, der alles verliert, aber - wie im griechischen Roman - auch alles wieder gewinnt: so z. B. die allerdings erst von ihrem ersten Herausgeber so bezeichnete ,Gute Frau', Ulrichs von Etzenbach .Wilhelm von Wenden' und die spätmittelalterliche ,Magelone'-Überlieferung. 8 2) Der ,Creszentia'-Typus von der unschuldig verfolgten, dennoch aber verzeihenden, schließlich natürlich auch rehabilitierten Ehefrau, so z.B. im Roman von ,Mai und Beaflor', in der ,Sibillen'-, der .Genoveva'-Tradition u. a. 9 Ich werde im folgenden allein den ,Eustachius'-Typus von Trennung und Bewährung der Ehegatten berücksichtigen und versuchen, anhand eines sehr frühen und eines sehr späten Textbeispiels, der ,Guten Frau' aus dem 13. und Warbecks .Magelone' aus dem 16. Jahrhundert, den geschichtlichen Wandel des erbaulich-legendären Minneromans, aber auch unterschiedliche Gebrauchsformen des Wunschbildes von der guten Frau zu erörtern. Die Geschichtlichkeit einer literarischen Gattung zeichnet sich - so Jauss - „in einem Prozeß der Prägung einer Struktur, ihrer Variation, Erweiterung und Korrektur" ab, der wechselnden Interdependenz unterschiedlichster Gattungsfunktionen also, nicht einer zeitlosen Norm. 10 Ich beschränke mich auf folgende Gattungsfunktionen: 1) Probleme der Isolation und Individualisierung der Liebenden sowie das Verhältnis von Glück, Gnadenwahl und eigener Leistung, 2) Probleme der Wahrheit oder Fiktionalität der Historien, 3) Fragen der Autorenintention. Weitere Merkmale des späthöfischen Romans, so vor allem die Unterscheidung von Vers- und Prosaform, bleiben hier außer Betracht. Der Verfasser der .Guten Frau' ist unbekannt, wird sie aber um 1230, wohl auf Anregung des Markgrafen Hermann V. von Baden, verfaßt haben. 8

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Zur Verbreitung der Eustachius-Legende vgl. Gordon Hall Gerould: Forerunners, congeners and derivatives of the Eustace Legend. In: PMLA 19, 1904, S. 335-448 und Karl Goedeke: Grundriß I, S. 126 und 232f. Sie verweisen neben der .Guten Frau' (s.u.), dem .Wilhelm von Wenden' und der .Magelone' auch auf die ,Gesta Romanorum' Nr. 110 (,Die Bekehrung und Prüfung des Eustachius'), den um 1175 entstandenen Versroman .Guillaume d'Angleterre' von Chrétien (ob Chrétien de Troyes ist allerdings ungewiß) und den ,Graf von Savoyen', ein Erzähllied des 14./15. Jahrhunderts von Flucht, Trennung, Gefahren und glücklicher Wiedervereinigung des Grafenpaares. Zur Creszentia-Legende in der ,Kaiserchronik' VV. 11347-12812 und im Cod. Pal. 341 vgl. H. de Boor: Die deutsche Literatur von Karl dem Großen bis zum Beginn der höfischen Dichtung. München 1964, S. 206 ff. und den Überblick der wichtigsten Bearbeitungen bei Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur. Stuttgart 5 1976, S. 134 ff. H.R. Jauss: Theorie der Gattungen, S. 339.

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Der Text ist nur in einer Handschrift überliefert, eine Neuausgabe wird vorbereitet.11 Der Handlungsaufbau ist dreistufig und entspricht der EustachiusLegende. Auf Minne und ritterliche Ehre; Heirat, ideale Herrschaft und glückliches Adelsleben des Grafenpaares von Berry12 folgen angesichts von zwölf Bettlern Conversio und Büß weg, Erniedrigung und freiwillige Armut der „guoten vrouwe" und des „guoten kneht"; die Trennung der Eheleute voneinander und von ihren Kindern, schließlich aber auch der erneute soziale Aufstieg der Gräfin zur Königin von Frankreich und die glückliche Vereinigung mit Mann und Kindern. Die Erzählung beginnt als Panegyricus auf Freundschaft und „triuwe", Liebe und Harmonie zwischen dem Grafen von Berry und seinem treuesten Vasallen. Ihre Freundschaft bewährt sich in der rührenden Zuneigung, dann auch Liebe ihrer Kinder. Nach dem Tode der Eltern und dem Herrschaftsantritt der jungen Gräfin aber muß sich der junge Ritter die Minne seiner Angebeteten durch Dienst und Leistung, Kampfesehre und die Fähigkeit zur Landesverteidigung neu erwerben. Kinderliebe, ritterlicher Minnedienst, Eheschließung und Landesherrschaft sind die Stufen einer kontinuierlichen und unproblematischen Entwicklung, die nicht nur den Liebenden, sondern auch dem Land Glück und Frieden beschert. Garant dieser „vreude" (1450) ist die Ehe von Gräfin und Vasall, die das Glück des Landes mit dem persönlichen Glück der Liebenden verbindet. Dennoch wird diese Welt der Ehre und „milte", des Friedens und glücklichen Adelslebens in Frage gestellt, verurteilt und verlassen. Der Anblick von zwölf Armen führt zu einem jähen Einbruch des Glücks und läßt den Grafen an der Berechtigung adliger Ehre und adliger Herrschaft überhaupt zweifeln, da nichts „... so grozen schaden tuot als ere unde guot. daz ist ein mortgalle zem ewigen valle." (1531-34). Die bislang gültigen Wertmaßstäbe sind ins Gegenteil verkehrt, das Grafenpaar selbst aber vollzieht - entsprechend der religiösen Armutsbewegung 11

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Ich zitiere nach der Ausgabe Emil Sommers ( = ZfdA 2,1842, S. 385-481); die Korrekturen E. Schröders: Zum Text der guten Frau. In: ZfdA 48, 1906, S. 504-6 und von Denis J.B. Mackinder-Savage in seiner bislang unveröffentlichten Neuausgabe der .Guten Frau' (,Die gute Frau': A textual and literary Investigation. Diplomatie Copy. Critical Edition. 2 Bde. Diss. Auckland (New Zealand) 1978) habe ich berücksichtigt. Ulrich Müller (Salzburg) danke ich für die Zusendung von Mackinder-Savages Arbeit; sie soll in den ,Göppinger Arbeiten' erscheinen. D. Mackinder-Savage: Textual and literary Investigation, S. 220 hält die Deutung „Barria" (V. 26) = Berry für unwahrscheinlich und schlägt stattdessen Bar-le-Duc oder Bar-surSeine in Champagne vor.

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im hohen Mittelalter - die Conversio zur „vita religiosa", verläßt Besitz und Stand, um Gottes Gnade statt weltlicher „ere" zu suchen. Ihre Verwandlung betrifft ihre Lebensform und ihr Aussehen, ihr Denken und Handeln. Ihre gesamte Existenz wird, wie Hegel die Wirkung des göttlichen Wunders beschrieben hat, „vom Göttlichen berührt, das, insofern es in das ganz Äußerliche und Partikulare unmittelbar einschlägt, dasselbe auseinanderwirft, verkehrt, zu etwas schlechthin anderem macht, den natürlichen Lauf der Dinge, wie man gewöhnlich zu sagen pflegt, unterbricht."13 Dementsprechend sind die beiden pauperes oder „guten Menschen" mit ihrem Weggang von Hof und Herrschaft auch sofort in der Fremde, „da si nieman erkande" (1606) und werden „zu schlechthin andern". Ihre Metamorphose betrifft einerseits ihr Aussehen: Sie wechseln Körperfarbe und Kleidung, obwohl diese als Zeichen ihres Standes wie eine „zweite Haut"14 untrennbar mit ihnen verbunden sein soll; andererseits ist damit schon der Verlust ihrer sozialen Identität vorbereitet, den sie dann mit dem Verkauf der Gräfin, dem Verlust ihrer adligen „libertas", ihres Stands und ihrer Persönlichkeit vollziehen müssen.15 Verbunden sind Isolation, Standesverlust und Metamorphose des Äusseren mit inneren Veränderungen: mit Reue und Bußbereitschaft, mit der vergleichenden Reflexion über Adelsexistenz und „vita apostolica", mit Formen des Gewissens und Selbstbewußtseins. Für die Frage nach den Handlungsmöglichkeiten und der Fähigkeit der Figuren, über Bedingungen und Konsequenzen des eigenen Handelns - und zwar unabhängig von vorgegebenen Normen - nachzudenken, ist das von größter Bedeutung. Denn mit ihrer Conversio zur „vita apostolica" haben Graf und Gräfin nicht allein ihre soziale Identität, sondern auch die bislang für sie verbindlichen und unbefragbaren Konventionen und Regeln aufgegeben und sich auf sich selbst und ihr persönliches Heil zurückgezogen; ihre Conversio wird zum Darstellungsmodus ihrer Individualisierung. Bereits Marcel Mauss hat, ebenso wie später dann auch Hans Robert Jauss, den religiösen, insbesondere christlichen Ursprung der Individualität betont. Als „bewußtes, unabhängiges, aber auch verantwortliches Wesen" sei der Mensch „mit dem Übergang vom Begriff der .persona': dem mit 13

u

Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Ästhetik Bd. I, hrsg. von F. Bassenge. Berlin (DDR)/ Weimar 1965, S. 529. Volker Rittner: Handlung, Lebenswelt und Subjektivierung. In: D. Kamper/V. Rittner (Hrsgg.): Zur Geschichte des Körpers. München 1976, S. 28.

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dö wart michel schrien, dö er die edelen vrien der vrouwen vür eigen gap.

( W . 1756 ff.)

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einem Stand bekleideten Menschen, zum Begriff des bloßen (und seiner selbst verantwortlichen, W. R.) Menschen" geworden, der lernt, Rechenschaft abzulegen, Lebensformen zu vergleichen und nicht nur blind zu akzeptieren; in sich zu gehen und seinem Gewissen zu folgen. 16 Individualität sei - ergänzt Jauss - von Hause aus keine ästhetische, sondern eine religiöse Kategorie; das neue Ich des Christen beginne mit seiner Conversio zu einem neuen, d.h. aber auch in seiner Abgrenzung gegenüber seinem alten Leben: „Die christliche Subjektivität wird durch ihre Entzweiung allererst konstituiert" 17 ; Alternativen werden sichtbar und denkbar, die Einsinnigkeit ihres bisherigen Selbstverständnisses ist aufgehoben. Bereits auf seine Begegnung mit den Armen hin meldet sich beim „guoten kneht" das Gewissen und läßt ihn an seinem bisherigen Ritterund Adelsleben zweifeln und seinen bisherigen Lebensinhalt: das Bemühen um „guot", „lant" und „ere", als Ausbeutung verurteilen: „mich hat an eines wolves stat got üf die erde gesät, dem man die gans vür leit: so er die vroeliche treit, so ist dar an gehenket daz im diu bein ab swenket. als trage ich zaller stunde die gans in minem munde: dar zuo versneit mich sere guot und werltlich ere." (VV. 1551-1560) Nicht die Krone des ewigen Lebens sei damit zu gewinnen, sondern das ewige Verderben; nicht der kurzfristige Vorteil aber sei entscheidend, sondern - im Sinne Hiobs - Geduld, Verzicht und Leidensbereitschaft. Die weiteren Stufen der Prüfung und Bewährung allerdings zeigen, daß mit der Wendung zu Reue und Selbstvergewisserung keineswegs - im Sinne von Marcel Mauss - das „unabhängige", aber auch (eigen-)„verantwortliche" Individuum geboren ist18, das Grafenpaar vielmehr in dem Maße, wie es seine soziale Identität verliert, sich seiner Abhängigkeit von Gottes Hilfe bewußt wird. Gerade in seiner Selbstvergewisserung bleibt es an die vorgegebene .Ordnung der Dinge' gebunden; Individualisierung ist vorerst nur als Negation ihrer selbst zu realisieren. Diese .Ordnung der Dinge' umschließt Vergangenheit und Gegenwart, den einzelnen Menschen und seine ständische Norm, die biblische Verkündi' ' Marcel Mauss: Eine Kategorie des menschlichen Geistes: Der Begriff der Personal und des ,Ich'. In: M. M.: Soziologie und Anthropologie Bd. II. Frankfurt-Berlin-Wien 1975, S. 247. 17 H.R. Jauss: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt/Main 2 1984 S. 232. 18 M. Mauss: Persona und ,Ich', S. 245.

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gung und ihren aktuellen Gebrauch. Vergangenes kann so als gegenwärtig, Fernes als naheliegend, Getrenntes als miteinander verbunden gedacht werden. Ebenso wie die .Ordnung des Wissens' - daraufhat Foucault hingewiesen19 - in unterschiedlichen Verfahren des Vergleichs und der Verbindung, der Analogie oder „aemulatio" des Getrennten organisiert ist, geben auch die biblischen Exempla die Gewißheit von Gottes Hilfe hier und jetzt. Auch das Grafenpaar schöpft in seiner größten Not Kraft aus der Erinnerung an Gottes Heilshandeln in alt- und neutestamentlicher Zeit. Diese Erinnerung ist buchstäblich wahr auch für die eigene Situation, noch nicht abstrahiert zum „sola fide" der Theologen. Und auch der Beweis für Gottes Gnade wird sichtbar in seinen Wundertaten zum Schutze der Keuschheit der guten Frau: „ir huote ein kameraere dem niht ze vii waere, ob er der helle abgründe und der erde volmünde uf in die lüfte hüebe . . . " (VV 2019-23). Der „gemütliche Eindruck" des Wunders, von dem Feuerbach spricht 20 , resultiert aus der konkreten Faktizität von Gottes Handeln. An seinen Werken ist er zu erkennen. Er ist nicht der „deus absconditus", sondern der Herr der Geschichte und der .Ordnung der Dinge', in die Graf und Gräfin auch nach ihrer Conversio und trotz ihrer Ansätze zu Selbstreflexion und Individualisierung eingebunden bleiben. Der lehrhaft-exemplarische Zweck der Erzählung unterstreicht diesen Befund. Wichtigstes Ziel der Legende ist - so schreibt schon Herder und so wiederholt es André Jolles - die Imitatio, der Gegenstand legendarischen Erzählens ein Imitabile. 21 Ebenso wie die Legendenhelden selbst mit Christi Nachfolge beginnen, sollen auch ihre Hörer (und Leser) zur Nachfolge bereit gemacht werden. Diesem Zweck dient einerseits die Eindeutigkeit der Erzählung, andererseits die „ästhetische Evidenz des Anschaulichen" und „höhere Kraft des Faktischen" und Historischen 22 ; res factae und nicht res fictae sind der Gegenstand der Legende. Denn was tatsächlich geschehen ist, ist auch wahr und überzeugend. Die historische Authentizität des Er19

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Nach Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt/Main 1974, S. 46 ff. (,Die vier Ähnlichkeiten'). Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums. Stuttgart 1974 (nach der 3. Aufl. Leipzig 1849), S. 212. Johann Gottfried Herder: Über die Legende ( = Sämtliche Werke, histor.-krit. hrsg. von B. Suphan Bd. 16), S. 387-398; André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spiel, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Halle 1930, S. 36 (zur Kritik H. Rosenfeld in: RL Bd. II, S. 14 f.). So H. R. Jauss über die Wirkungsmöglichkeiten des exemplums (Negativität und Identifikation. Versuch zur Theorie der ästhetischen Erfahrung. In: H. Weinrich (Hrsg.): Positionen der Negativität ( = PuH Bd. VI). München 1975, S. 311 f.).

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zählten stellt Gottes Heilshandeln unter Beweis, unterstreicht damit aber auch den Nutzen, den die Nachfolge erbringt. In der ,Guten Frau' dient dem Nachweis historischer Faktizität der genealogische Schluß mit der Gleichsetzung von Karlssippe und Textpersonal23, aber auch schon die Konkretheit (und Begrenztheit) der Orte und Handlungsräume: genannt werden Berry, Poitou, Limoges, Poitiers usf., nicht das Irgendwo eines Märchenlandes. Worin aber könnten der Zweck der,Guten Frau' und die Wirkungsabsicht des Anonymus bestanden und zu welcher Imitation mag er aufgerufen haben? Zur Beantwortung dieser Frage scheint mir der glückliche Schluß der Erzählung sehr wichtig und bislang zu wenig berücksichtigt worden zu sein. Denn Graf und Gräfin kehren aus Armut und vita apostolica wieder zu Reichtum und Herrschaft zurück; daß „ere und guot" als Weg zum Höllensturz verurteilt wurden, scheint nun vergessen zu sein. Zwar sind Übereinstimmungen zwischen der freiwilligen Armut der „guten Menschen" unseres Textes und der zeitgenössischen Armutsbewegung zweifellos vorhanden. Und daß die Armutsbewegung des 12./13. Jahrhunderts vor allem von den reichen und privilegierten Ständen getragen wurde, ist seit Grundmanns Arbeiten ebenfalls anerkannt.24 Dennoch vermag ich nicht einzusehen, warum unser Text - wie die Forschung als selbstverständlich voraussetzt - die Faszination der „vita religiosa" lediglich widerspiegeln oder die freiwillige Armut unserer Helden gar ein „brauchbares Legitimationsinstrument des alten Adels" abgeben soll25, wenn sich Graf und Gräfin

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Dazu Karl-Ernst Geith: Carolus Magnus. Studien zur Darstellung Karls des Großen in der deutschen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts. Bern/München 1977, S. 139-141. Vor allem Herbert Grundmann: Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Untersuchungen über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Ketzerei, den Bettelorden und der religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jahrhundert und über die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Mystik. Darmstadt 1970, S. 157 ff. Zur Positivierung der Begriffe paupertas und pauperes Christi vgl. nun auch Michel Mollat: Die Armen im Mittelalter. München 1984, S. 10ff.; Karl Bosl: Armut Christi. Ideal der Mönche und Ketzer. Ideologie der aufsteigenden Gesellschaftsschichten vom 11. bis zum 13. Jahrhundert. In: Sitzungsberichte der bayerischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse Jhg. 1981, H. 1; ders. Potens und Pauper. In: Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa. München/Wien 1964, S. 106-134 und die wichtige Untersuchung von Otto Gerhard Oexle: Armut und Armenfürsorge um 1200. Ein Beitrag zum Verständnis der freiwilligen Armut bei-Elisabeth von Thüringen. In. Sank Elisabeth. Fürstin - Dienerin - Heilige. Sigmaringen 1981, S. 78-100 mit einer fundierten Kritik an Bosls Unterscheidung von freiwilliger und unfreiwilliger Armut und einer sozialen, nicht nur ökonomischen Definition von Armut: Armut meinte „im Mittelalter auch ganz allgemein den Mangel an sozialen Bindungen, den Zustand der Verlassenheit und des Vergessenseins" (82) und das „Unanständige" einer Kontrafaktur adligen Lebens, wie sie Elisabeth von Thüringen und die Frauen der religiösen Frauenbewegung vorleben (79). Gudrun Aker: Die ,Gute Frau'. Höfische Bewährung und asketische Selbstheiligung in einer Verserzählung der späten Stauferzeit. Frankfurt/Bern/Las Vegas 1983, S. 91. Gudrun Akers Arbeit ist die erste gründliche Untersuchung der historischen und gesellschaftlichen

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unseres Textes gerade darin von der zeitgenössischen Armutsbewegung unterscheiden, daß sie letztendlich doch wieder in Herrschaft und Reichtum zurückkehren. Insofern wird die einfache Analogie zwischen Geschichte und Text diesem kaum gerecht. Er wiederholt nicht die gesellschaftliche Realität, sondern will sie ändern. Kennzeichnend ist der Rahmen der erneuten Vereinigung von Graf und Gräfin. Letztere ist inzwischen Königin geworden und bewährt sich in der großzügigsten Vergabe von Gütern, die ihre Ehre unter Beweis stellt. Demonstrative Freigebigkeit und Verschwendung ist Ausdruck adligen Machtanspruchs und in der Metamorphose der Helden zunächst auch verurteilt und ins Gegenteil verkehrt worden. Nach ihrer langen Trennung jedoch führt sie ausgerechnet die „milte" der Königin - sie beschenkt eine Gruppe von Armen und entdeckt dabei ihren Mann - wieder zusammen. Die adlige Gabenmoral allerdings ist dabei zu Almosen und frommer Schenkung geläutert worden. Das Almosen ist - so noch einmal Marcel Mauss - „das Produkt eines moralischen Begriffs der Gabe und des Reichtums ( . . . ) es ist die alte Gabenmoral, die zum Gerechtigkeitsprinzip geworden ist." 26 Diese Verschwendungsmoral aber, der die zeitgenössische Armutsbewegung entgegentritt, wird in der ,Guten Frau' nicht ausgeschlossen, sondern integriert; nicht verteufelt, sondern „positiviert". In dieser Integration letztendlich unvereinbarer Gegensätze sehe ich den historischen Sinn der Erzählung und auch die Absicht ihres Verfassers. Zweifellos ist er von Armutslehre und „vita apostolica" berührt, sucht zugleich aber auch ihren radikalen und häretischen Formen zu begegnen, die Reichtum und adlige Herrschaft überhaupt verurteilen: ein Versuch der Integration von Armutslehre und überkommener Machtverteilung, der wohl auch päpstlichem Interesse entsprach. 27 Zweck der Legende ist, so wurde gesagt, zur Nachfolge Jesu und seiner Zeugen anzuregen. Die ,Gute Frau' indessen versucht,

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Wirkungsmöglichkeiten der .Guten Frau' und insofern auch ein wichtiger Beitrag zur Forschung. Problematisch allerdings scheint mir die Reduktion des Textes auf seine Identifikationsmöglichkeiten für ein adliges Publikum (S. 13): von Interesse sind nurmehr die Entsprechungen zwischen Literatur und Geschichte, religiöser Armutsbewegung und Conversio der .guten Leute'; der Text wird zum Beleg für historische Veränderungen und einen bestimmten „Welterfahrungshorizont" (13), nicht aber als besonderes ästhetisches (und historisches) Konstrukt wahrgenommen, dessen Historizität nicht in seiner W i r k u n g aufgeht, sondern aus ihm selbst, seinem Aufbau und seiner literarischen Form, zu „dechiffrieren" wäre (Adorno). M. Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften. In: M. M.: Soziologie und Anthropologie Bd. II, S. 35 f. Zur Gaben- und Verschwendungsmoral in der Feudalzeit vgl. auch das Material in Dieter Schwab: Gabe. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Bd. I, 1971, Sp. 1364-1366; K . S . Krämer: Gabe, volkskundlich. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Bd. I, Sp. 1366 ff. und Georges Duby: Krieger und Bauern. Die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft im frühen Mittelalter. Frankfurt/Main 1977, S. 52 ff. Vgl. dazu H. Grundmann: Religiöse Bewegungen, S. 135ff.

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ihr höfisches Publikum der Faszination der „vita apostolica" zu entziehen, indem sie ihre Vereinbarkeit mit adligen Lebensformen demonstriert, nicht deren Verzicht; die Vereinbarkeit von Nachfolge Christi und Gabenmoral, nicht deren Negation. Ein weiteres kommt hinzu: Die religiösen Bewegungen des hohen Mittelalters, insbesondere die religiöse Frauenbewegung, waren nicht nur dem Gebot freiwilliger Armut, sondern auch freiwilliger Keuschheit verpflichtet und schlössen eheliche Bindungen aus. Dabei kann - so Grundmann - „kein Zweifel bestehen, daß den religiösen Frauen" aus zumeist adligem oder patrizischem Hause „nicht die Möglichkeit der Verheiratung, sondern der Wille zur Ehe fehlte". 28 Der Keuschheitswunsch der jungen Gräfin zu Beginn unserer Erzählung könnte als Anspielung auf derlei Bestrebungen gemeint sein; ein „Emanzipationsstreben" 29 vermag ich darin nicht zu entdecken. Denn auch in diesem Fall werden letztendlich unvereinbare Gegensätze, hier: Keuschheitswunsch und persönlichste Liebesempfindung, miteinander verbunden. Rechtlicher Rahmen und Garant dieser Integration ist die Ehe der Liebenden, die allerdings von der üblichen Ehepraxis des Adels entschieden abweicht. Adlige Ehen dienen politischen Zwecken, nicht der Legalisierung persönlicher Zuwendung. Sie sind Zweckbündnisse zur Herrschaftsarrondierung zwischen Sippen, nicht zwischen Personen, und bedürfen deshalb auch nicht der Einwilligung oder wechselseitigen Zuwendung der Eheleute, hielten aber eine mögliche Ehescheidung durchaus offen. Demgegenüber fordern Kirche und Papst seit dem 12. Jahrhundert immer nachdrücklicher das Einverständnis der Brautleute, ihre persönliche Bindung und die Unauf lösbarkeit der Ehe. Insbesondere das Gebot der „stabilitas" der Ehe wird zum Kirchengesetz und gegen einen noch lange widerspenstigen Adel und mit lange nachwirkenden Konsequenzen durchgesetzt. 30 Unsere Erzählung nun greift in diesen Prozeß insofern ein, als sie das Keuschheitsgebot der Religiösen und die Liebesgemeinschaft von Gräfin und Vasall verbindet und diese Verbindung zugleich zum Lobpreis auf Partnerschaft, Ehetreue und den ewigen Bestand der Ehe erhöht: „Bis daß der Tod euch scheide." Denn erst in ihrer Trennung voneinander finden sich die Eheleute unserer Erzählung tatsächlich; die Zeit ihrer Prüfung dient auch der Festigung ihrer Gemeinschaft. Die Gräfin z. B. bewahrt ihre Keuschheit, obwohl sie mit dem Grafen von Blois, dann auch mit dem König selbst die Ehe eingeht. 28 M 30

Ebda., S. 189. G. Aker: Höfische Bewährung, S. 49. Dazu P. Mikat: Ehe. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Bd. 1, Sp. 809-833; F. Merzbacher: Ehe, kirchenrechtlich. In: Ebda., Sp. 833-836 und zuletzt Philippe Aries: Die unauflösliche Ehe. In: P. Aries/A. Bejin (Hrsgg.): Die Masken des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit. Zur Geschichte der Sexualität im Abendland. Frankfurt/Main 1984, S. 176-196.

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Damit allerdings folgt sie nicht dem Keuschheitsgebot der Religiösen, sondern verwahrt ihren Leib für ihren ihr angetrauten Mann. Nur in der Ehe also sind Keuschheits- und Liebesgebot zu verbinden; sie dient der Integration, nicht der Exklusion des Unvereinbaren. Die „stabilitas" ihrer Ehe aber ist von Kind auf, seit ihrer kindlichen Liebe festgeschrieben. Und das Einverständnis der Brautleute ist schon deshalb gegeben, weil beider Eltern sehr früh sterben, ein Konflikt also von vornherein ausgeschlossen ist. Auch in dieser Hinsicht also ist die Erzählung eindeutig und bis ins Einzelne auf bestimmte Zwecke ausgerichtet: einerseits die Integration von Adelsherrschaft und „vita apostolica", andererseits die kirchliche Ehelehre der Zeit zu unterstützen. 31 Die Ansätze zur Individualisierung der Figuren treten demgegenüber zurück. Schon für den spätmittelalterlichen Minneund Abenteuerroman also gilt, was Lugowski in den unterschiedlichsten Erzählformen vor Wickram beobachtet hat, daß die „Form der Individualität" noch in der „absoluten Gewißheit der Erfüllung" aufgehoben, von einer eigenverantwortlichen Entwicklung der Individuen also noch keine Rede sein kann. 32 Anders dagegen in der ,Fast schönen und kurtzweiligen Histori von der schoenen Magelona'. Veit Warbecks kleiner Roman wurde 1535 erstmals gedruckt, ist aber schon 1527, vielleicht anläßlich einer Prinzenhochzeit am kursächsischen Hof, aus einer französischen Vorlage übersetzt worden. Als Sekretär und Hofmeister gehörte Warbeck zur höchsten Verwaltungsschicht am sächsischen Hof, zugleich aber auch zum engeren Kreis der Reformatoren und Luthers selbst. Im Hinblick daraufhat Winfried Theiss die ,Magelone' als frühneuzeitlichen Fürstenspiegel, als Warnung vor Trieben und Affekten und Lehrbuch höfischer Konditionierung interpretiert. 33 Für den ersten Herausgeber der Erzählung, Georg Spalatin, und auch Warbeck selbst treffen derlei Absichten zweifellos zu. 34 Anders als in der ,Guten Frau' aber ist die .Magelone' nicht mehr auf eindeutige Zwecke festgelegt, 31

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Vgl. dazu das Resume von G. Duby: Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus. Frankfurt/Main 1981, S. 373: „In den Augen der Kirche beruhte die gesamte moralische Ordnung jetzt (im 12./13. Jahrhundert, W. R.) auf der Ehe. Sie verbot sie ihren Mitgliedern. Proklamierte aber gleichzeitig, daß es für den, der weder Kleriker noch Mönch war, keine Ehrbarkeit gebe, es sei denn im ehelichen Rahmen, mit Heim und Herd - der allerfeinsten Masche jenes Netzes, mit dem das Volk in der Kirchengemeinde und in der Landesherrlichkeit gefangengehalten wurde." Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman ( = stw 151). Frankfurt/Main 1976, S. 28. Winfried Theiß: Die .Schöne Magelone' und ihre Leser. Erzählstrategie und Publikumswechsel im 16. Jahrhundert. In: Euphorion 73, 1979, S. 132-148. Zu Autor und Werk vgl. das Vorwort zur Ausgabe Johannes Bokes (Weimar 1894). Vgl. dazu Spalatins „Sendbrieff" an Elisabeth von Einsiedel zum Gnanstein, den H.G. Roloff im Nachwort zu seiner Ausgabe abdruckt (Veit Warbeck: Die schöne Magelona. In der Fassung des Buches der Liebe (1587), hrsg. von H.G. Roloff. ( = RUB 1575). Stuttgart 1969, S. 92 f.); ich zitiere nach dieser Ausgabe.

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die zudem noch durch die „höhere Krafe des Faktischen" legitimiert sind15, sondern wird mehrdeutig und problematisch und erst nachträglich zum Lehrstück zurechtgeschnitten. Das gilt vor allem für die Entwicklung und Veränderung der Figuren, für die Abkehr von äußeren Ereignissen zu ihrer inneren Geschichte, für ihr widersprüchliches Verhältnis zur höfischen Gesellschaft und ihren Normen, für die Wirkungen der blinden Fortuna u. a.: „welche Ding alle dann" - so kommentiert später der „Teutsche Tranßlator" des Amadis-Romans, „sich besser und klärlicher in einer erdichten Narration, dann einer wahr hofften History darthun lassen", eher Wahrscheinlichkeit als Wahrheit beanspruchen können.36 Ebenso wie die ,Gute Frau' ist auch Warbecks ,Magelone' triadisch gebaut, unterscheidet sich aber auch von ihr. Auf eine Phase der Ehre und vröude, der Liebe und des Glücks folgen Flucht, Metamorphose und Trennung; nicht allerdings aus Liebe zu Armut und „vita religiosa", sondern weil die Wünsche der Liebenden mit den höfischen Normen nicht mehr vereinbar sind. Es folgt eine Phase der Prüfung und Bewährung, der Demut und des freiwilligen Dienstes in der Fremde; die glückliche Vereinigung der Liebenden, ihre Heirat und Übernahme einer Landesherrschaft steht am Schluß. Auch die .Magelone' also beginnt konventionell. Der Grafensohn Peter von der Provence hört von der wunderschönen Magelone von Neapel und will von Hause fort: weniger allerdings um ihrer selbst als um seiner und des Landes Ehre willen. Am neapolitanischen Hof erweist er sich denn auch als der schönste und tapferste Ritter, der seinen Namen zwar verschweigt, dessen „Tugendt, Adel und Höfligkeit" aber dennoch für alle sichtbar seinen hohen Stand verrät, Magelone sogar in Liebe zu ihm entbrennen läßt. Peter ist sein Adel körperlich eingeschrieben. Die Zeichen und Signaturen dieser Schrift, die er an sich trägt und die sich in seinem Habitus darbietet, sind in einer Umgebung lesbar, die - wie der feudale Hof - auf Sichtbarkeit und prinzipielle Öffentlichkeit angelegt ist, die umgekehrt aber den Rückzug ins Private, Verborgene, Heimliche tabuisiert. Ebenso wie die Herrschaft selbst muß sich auch die Tugend - so Habermas - „verkörpern und öffentlich darstellen lassen".37 Ein Darstellungsmodus dieser Äußer35 16

37

s.o. Anm. 22. Amadis, Erstes Buch. Nach der ältesten deutschen Bearbeitung hrsg. von A. von Keller ( = BIVSt X L ) . Stuttgart 1857, S. 7 (.Vorrede des Teutschen Tranßlatoris, an den Läser'). Zur Frage der Fiktionalität des frühneuzeitlichen Romans vgl. vor allem Fritz Wahrenburg: Funktionswandel und ästhetische Norm. Die Entwicklung seiner Theorie in Deutschland bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1976, S. 23ff.; Hans Geulen: Erzählkunst der frühen Neuzeit. Zur Geschichte epischer Darbietungsweisen und Formen im Roman der Renaissance und des Barock. Tübingen 1975, S. 33ff. und zuletzt Dieter Kartschoke: Jörg Wickrams; Dialog vom ungeratenen Sohn'. In: Daphnis Bd. 7, H. 3, 1978, S. 384 ff. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied/Berlin 5 1971, s. 20.

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lichkeit von Adel und Tugend ist die Namenlosigkeit des Helden, wie sie auch der höfische Roman kennt: Der Held zeigt seinen Adel und seine Tugend in seinen Taten und der Schönheit seines Leibes; er bestätigt die Ehre seines Namens und seiner Vollkommenheit, setzt sie aber nicht voraus. Warbeck übernimmt dieses Motiv, verwendet es aber auf eine Weise, die seinen traditionellen Funktionszusammenhang sprengt. Der höfische Ritter schafft sich einen Namen, indem er seine öffentliche Reputation erhöht. Peter hingegen gibt seinen Namen nur Magelone preis, grenzt ihre geheime Liebesgemeinschaft von der Öffentlichkeit des Hofs ab und zieht sie in einen Bereich privater Vertrautheit zurück, der nur ihnen beiden zugänglich ist. Während Peter in der Öffentlichkeit des Hofs bewundert und gepriesen wird, grenzen sich die „heimlich" und „verborgen" Liebenden in dem Maße, wie sie sich ihrer Liebe bewußt werden, von ihrer Umwelt ab. Zwar bleibt vor allem Magelone auch dabei noch an ständische Rücksichten gebunden, überwindet sie aber mit der Sprache des Herzens und ihrem eigenen Willen, der ihre Neigungen, nicht ihre Pflichten realisieren helfen soll. „Mein Herz saget mirs", bescheidet sie ihre Amme, daß ihr Liebster nicht niederen Standes sein könne, „denn ich wil und beger in zu haben / und kein Gedancken sol mir in mein Hertz steigen noch kommen / einen andern zu lieben und begeren (...)" (18): vor allem nicht jemand, den ihr nur die Rücksicht auf Vater und Land vorschreibt. Peter und Magelone wagen den Versuch einer, wenn auch begrenzten privaten Autonomie. Sie handeln unabhängig von ihren ständischen Pflichten und versuchen, zueinander in „rein menschliche Beziehungen" zu treten. Im zeitgenössischen Roman, z. B. im Floyris-Roman oder auch bei Wickram, wird diese Gefühlskultur in Traumbildern, Gesprächen und Briefen noch weiter verfeinert. „Briefe schreibend entfaltet sich das Individuum in seiner Subjektivität." 38 Peter und Magelone schreiben keine Briefe, nutzen aber die Amme als postillon d'amour: sie ist die heimliche Vertraute der geheimsten Regungen, nicht nur die Repräsentation der höfischen Normen und Gebote. Das private Glück der Liebenden allerdings hat keinen Bestand. Zwar setzt Magelone Peter „in besitzung (ihres) Leibs" und „verheißt (ihm) trewlich ( . . . ) keinen andern zu nemmen denn euch" (30), doch ist ihnen damit der Hof auch verwehrt. Sie fliehen vom Hof in den wilden Wald, sind aller gesellschaftlichen Bande ledig, damit aber auch der Macht von Glück und Unglück, Zufall und Schicksal ausgesetzt. 39 Nicht ihr Armutswunsch, sondern Fortuna zwingt sie zur Trennung voneinander, zu Leid und Schmerz, aber auch zur erneuten Suche, zur Überantwortung an Gottes Gnade und den Verzicht auf den eigenen „wil und beger". » Ebda., S. 66. 39

Vgl. dazu Alfred Dören: Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance. Vorträge der Bibl. Warburg II. Leipzig 1922-23.

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Hatte vor allem Magelone zunächst auf ihren persönlichen Wünschen und Neigungen beharrt, so ist sie nun auch zu einem Leben in Demut und Dienst bereit: nicht gezwungenermaßen, sondern aus Einsicht in die Notwendigkeit. Zwar werden, anders als in der ,Guten Frau', ihre Individualisierungsversuche nicht einfach in die kollektive .Ordnung der Dinge' und Gottes zurückgenommen oder negiert, wohl aber reglementiert. Freiheit soll als Unfreiheit realisiert, „unbedingtes Glücksverlangen zugunsten sittlichen Strebens zurückgedrängt" werden. 40 Erst diese Schule des Verzichts aber befähigt Magelone und Peter zu Herrschaftsnachfolge und Fürstenamt. Sie fallt ihnen nicht zu, sondern muß verdient werden. Die ,Gute Frau' endet mit dem Wunder erneuter Vereinigung. Zwar unterliegen Graf und Gräfin einer doppelten Wandlung, bleiben sich aber gleich. Anders als die Gräfin von Berry hingegen ist Magelone nicht von Anfang an die gute Frau, sondern wird erst dazu gemacht. Zwar verzichtet sie nicht auf ihre Liebe zu Peter, lernt aber Selbstbeherrschung, das Hintanstellen individueller Wünsche und den uneigennützigen Liebesdienst von Trost und Hilfe für andere. Z.B. sieht Magelone die klaren Beweise für Peters Tod „und wer nit wunder gewesen, daß ihr Hertz vor leyd wer zerbrochen in irem leib / jedoch wie ein tugentreiche und weise Tochter / die ihre hoffnung in Gott allein setzt / saget sie : ( . . . ) kehret euch gegen Gott dem Allmächtigen / und dancket im umb alles das er euch erzeigt hat". (60 f.) Und auch ihre glückliche Wiedervereinigung mit Peter, der erneute, nun öffentlich legitimierte Ehebund und die Herrschaftsübernahme erweisen sich als Ausdruck ihrer Zucht und Tugend, ihrer Anpassung an die gesellschaftlichen Normen und ihrer Befähigung zu Herrschaft und Fürstenamt. In der zeitgenössischen, insbesondere der protestantischen Ehe- und Soziallehre steht dieser Zusammenhang von Gehorsam, familiärer und gesellschaftlicher Ordnung im Mittelpunkt, „oeconomia" und „Politeia christiana", Familie, Staat und Fürstengewalt ergänzen sich und dienen gleichermaßen der Einübung in Konditionierung und Reglementierung aller Lebensbereiche, wie sie für den frühmodernen Staat charakteristisch ist. „Die Familie besorgt" - so Horkheimer - „als eine der wichtigsten erzieherischen Agenturen die Reproduktion der menschlichen Charaktere, wie sie das gesellschaftliche Leben erfordert, und gibt ihnen die unerläßliche Fähigkeit zu dem spezifisch autoritären Verhalten, von dem der Bestand der gesellschaftlichen Ordnung weitgehend abhängt." 41 Die Ehe ist Grund40

41

Max Horkheimer: Egoismus und Freiheitsbewegung. In: M . H . : Kritische Theorie: Eine Dokumentation. Bd. II. Frankfurt/Main 2 1972, S. 11. M. Horkheimer: Autorität und Familie. In: M . H . : Kritische Theorie Bd. I, S. 330. Zu Ehe und Familie im frühen 16. Jahrhundert vgl. auch Richard van Dülmen: Entstehung des frühneuzeitlichen Europa 1550-1648 ( = Fischer Weltgeschichte Bd. 24). Frankfurt/Main 1982, S. 193 f. (.Kultur und Alltag - Familie und Haushalt'), mit weiterführender Literatur.

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läge und Bewährungsfcld dieser sozialen Reglementierung. Zwar sei - so betonen Luther und seine Schüler immer wieder - die persönliche Zuneigung zwischen Mann und Frau Voraussetzung einer christlichen Ehe, ihr gesellschaftlicher Zweck aber, die Ordnung im Hause zu stiften, Kinder und Gesinde zu treuen Untertanen, Staatsdienern oder aber Staatslenkern zu erziehen und das Leben im Haus als ununterbrochenen Gottesdienst zu organisieren, darf davon nicht in Frage gestellt werden. Warbeck und Spalatin dürften die ,Schöne Magelone' als Exemplum einer derart freien Unfreiheit verstanden haben. Zwar sind individuelle Wünsche und Affekte nicht eo ipso des Teufels, sondern Gaben Gottes, bedürfen aber der sozialen, religiösen und habituellen Disziplinierung, indem — so Spalatin - „die Eltern auch ein fleyssigs aug und achtung auff die Kinder, bevor auff die töchter haben". 42 Warbecks ,Magelone' dient diesem Zweck, geht darin aber nicht auf, sondern entwirft auch ein neues und zukunftweisendes Bild vom Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, Freiheit und Unfreiheit, Pflicht und Neigung. Ausgangspunkt meiner Überlegungen war die Struktur- und Motivanalogie zwischen ,Guter Frau' und ,Magelone', die beide dem EustachiusTyp des erbaulichen Minne- und Abenteuerromans zuzurechnen sind, sich aber hinsichtlich der Emanzipations- und Verselbständigungstendenzen ihrer Helden und dem Entwurf idealer Bilder von Ehe, Familie und Herrschaft voneinander unterscheiden. Ich versuchte, diesen Unterschieden auf die Spur zu kommen, indem ich die für den Eustachiustypus charakteristische Mischung von Minne, Weltflucht und Herrschaftslegitimation als Gattungsproblem reflektierte. Denn Warbecks .Magelone' setzt die Gattungsgeschichte des Minne- und Abenteuerromans fort, modifiziert sie aber auch. Dieser Paradigmenwechsel aber verweist auf neue Darstellungsmodi des Prosaromans im 15./16. Jahrhundert, insbesondere seine neue ,Form der Individualität', aber auch die Abkehr von historischer Authentizität, wie sie für die ,Gute Frau' und exemplarisches Erzählen überhaupt charakteristisch ist. In der Überlieferungsgeschichte der .Magelone' wird diese Beweiskraft einer faktisch geschehenen Handlung zurückgedrängt. Beginnt Warbecks Textfassung von 1527 noch mit einer historischen und geographischen Einleitung, in der die historische Faktizität des Erzählten zumindest behauptet wird, so hat Sigmund Feyerabend in seinem ,Buch der Liebe' von 1587 darauf verzichtet. Die .Schöne und kurtzweilige Histori' wird nicht mehr als historisch wahr, sondern als wahrscheinlich vorgestellt; sie bedarf nicht mehr der Legitimation durch res factae, sondern führt in den Grenzbereich von res factae und res fictae. Für die weitere Romangeschichte waren damit wichtige Voraussetzungen geschaffen. 43 42 43

G. Spalatin: Sendbricff, s. o. Anm. 34 Vgl. dazu die Angaben in Anm. 36.

Detlef

KREMER

/ Nikolaus

WEGMANN

(Bielefeld)

Geld und Ehre Zum Problem frühneuzeitlicher Verhaltenssemantik im .Fortunatus' Als gegen Ende des 15. Jahrhunderts der Junker Fortunatus - Titel- und Hauptfigur der 1509 in Augsburg erschienenen neuhochdeutschen Druckprosa - einem Grafen seine Dienste anbietet, da ist es ihm ausdrücklich nicht um geldlichen Lohn zu tun: „gnaediger herr ich beger kainen Ion / dann darnach ich dien / darnach lonent mir."1

So spricht Fortunatus im Gestus desjenigen, der sich scheinbar vorbehaltlos auf die allgemein verbindliche Geltung des feudalen Schutz- und Gehorsamsverhältnisses verlassen kann. Doch das Vertrauen in die Sicherheit traditionaler feudaler Selbstverständlichkeit ist brüchig geworden: denn wie in diesem Einzelfall Fortunatus, der als Junker erzogene Sohn eines verarmten „edle(n) purger(s) / altz herkommens", 2 sehr wohl Entlohnung und seinen finanziellen Vorteil im Blick hat, so steht auch allgemein die Verbindlichkeit des mittelalterlichen Ordnungsgefüges nicht mehr außer Frage. Wenn - um nur ein Beispiel herauszugreifen - der englische König unter dem ehrwürdigen Gewände seiner theologisch verbürgten, feudalen Schutzfunktion zu seiner privaten Bereicherung dem Besitz seiner Untertanen nachjagt, so markiert das sehr genau eine historische Übergangssituation, in der die traditionalen Normen- und Wertgeflechte in Bewegung geraten, neue Verhaltensregeln aber noch nicht zum Standard geworden sind. „der künig sendet in seiner (eines Edelmanns, Verf.) frawen hauß gar eylentz das man fragt und luogte wa die klainat waren / wiewol im der edelman lieb was / doch liesse er den klainaten vester nachfragen dann dem frommen mann / darbey man wol merckt / wenn es an das guot get / das alle liebe auß ist."3

Solche Übergangszeiten sind für die historischen Individuen mit dem Zwang verbunden, neue Handlungsorientierungen und Sinnperspektiven zu erproben. Übergangszeiten zeichnen sich durch eine epochale Verände1 2 3

Fortunatus, nach der Editio Princeps von 1509, hrsg. v. Hans Gert Roloff, Stuttgart 1981, S. 9 f. ebd., S. 5. ebd., S. 33.

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rung der verfügbaren „Sinnverarbeitungsregeln" 4 aus. Umschichtungen innerhalb der historischen Semantik bezeichnen die Ausdifferenzierung von Sinnsystemen auf einer „höherstufig generalisierten"5 Ebene von relativer Situationsunabhängigkeit. In diesem weiten Verständnis bleiben sie noch durchgängig auf eine Pragmatik des historischen Alltagslebens bezogen. Signifikant für die Evolution von Sinn und mithin für ihre Rekonstruktion werden sie erst im Rahmen einer gepflegten Semantik"6, die selbst wieder hochabstrakte Typisierungen der Formen von Sinnorientierung vorgibt. Von alltäglichen Sinnfunktionen ist sie zwar um mindestens zwei Stufen abstrahiert, dennoch bezeichnet sie keine idealtypischen Werte, sondern einen realen Vorrat an Aktualisierungsmöglichkeiten, ein übergreifendes Archiv für Realisationschancen von Sinn. In den Formen gepflegter Semantik speichert sich traditionsfahige Kommunikation. Für den Übergang vom Mittelalter zur frühen Neuzeit, in dem die kollektiven Verbindlichkeiten und der theologische Rahmen des Feudalismus durch private Geldgier und egoistische Selbstbehauptung relativiert sind, versucht der .Fortunatus' angemessene Verhaltensmöglichkeiten zu entwerfen, tragfähige Orientierungsmuster zu erarbeiten, die der frühkapitalistischen Phase der frühen Neuzeit taktisch angemessen erscheinen. In der ungefähr gleichzeitig erschienenen .Ulenspiegel'-Druckprosa gibt der Braunschweiger Zollschreiber Herman Bote ein weiteres Beispiel für kluge Selbstbehauptung und individuelle Durchsetzung für eine solcherart unsichere Zeit. Die Figur des Ulenspiegel erscheint als „Zerstörer jeder Form von Gemeinsamkeit und kollektiver Abhängigkeit, sei es in Gestalt der Familie, der Dorfgemeinschaft, des zünftigen Handwerks oder des Dienstes am feudalen Hof' 7 . Gegenüber Fortunatus ist Ulenspiegel jedoch nicht als positive Leitfigur konzipiert, sondern wirkt als abschreckendes Exempel, mit dem in einer Art negativer Normenrealisation vor einem weiteren moralischen 4

5 6 7

Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Band 1, Frankfurt/Main 1980, S. 19; Veränderungen auf der Ebene der Interaktion und ihrer Semantik, die Ausbildung neuer bzw. das Verwerfen überlieferter Verhaltensorientierungen, fungieren in Luhmanns Konzept soziokultureller Evolution als wichtige Indikatoren für strukturelle Differenzierungen der Gesellschaft. Interaktion steht bei ihm jedoch nicht als sekundäre, von grundlegenderen gesellschaftlichen Strukturen ableitbare Größe, sondern zählt zusammen mit „Organisation" und „Gesellschaft" zu den drei nicht aufeinander reduzierbaren Grundtypen sozialer Systeme. Soziale Evolution bezeichnet dann die - je nach historischer Gesellschaftsformationspezifische Relation zwischen diesen Parametern, so daß sich in der abstrakten systemtheoretischen Perspektive kultureller „Fortschritt" als „zunehmende Differenzierung der Ebenen (zeigt), auf denen sich Interaktionssysteme, Organisationssysteme und Gesellschaftssysteme bilden." (Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, Bd. II, Opladen 1975, S. 13) ebd. ebd. Werner Röcke, Der Egoismus des Schalks, in: Till Eulenspiegel in Geschichte und Gegenwart, hrsg. v. Th. Cramer u.a., Bern 1978, S. 37.

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Niedergang und der restlosen Auflösung der traditionellen Ständeordnung gewarnt werden soll.8 Über eine signifikante Ausweitung des geldwirtschaftlichen Sektors und eine Intensivierung besonders der städtischen Ökonomie läßt sich der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit allgemein als ein langsamer Wechsel von schichtenhierarchischer funktionaler Differenzierung der Gesellschaft interpretieren. In seiner soziologischen Evolutionstheorie unterscheidet Niklas Luhmann drei historisch aufeinander folgende Differenzierungstypen von Gesellschaft: archaische Gesellschaften gliedern sich nach einem segmentären Prinzip, für feudale Gesellschaften gilt eine schichtenhierarchische und für moderne Gesellschaften eine funktionsspezifische Differenzierung. Entlang diesem Ablösemodell läßt sich die Entstehung der frühen Neuzeit als eine zunehmende Ausdifferenzierung von primär funktional, d. h. nicht mehr in erster Linie hierarchisch organisierten Subsystemen der Gesellschaft interpretieren. Ein anschauliches Beispiel dafür stellt die Ausbildung der Fernhandelsökonomie. Dieser allmähliche, in unterschiedlichen Schüben und Brüchen ablaufende Prozeß erreicht in Deutschland erst gegen Ende des 18. Jhs. einen irreversiblen, die Struktur der Gesamtgesellschaft bestimmenden Entwicklungsstand. 9 Dem allgemeinen, gesellschaftshistorischen Befund entspricht auf der Ebene der Semantik ein ebenso langwieriger und vielfach intermittierter Wechsel von Qualität zu Leistung. 10 In der Auflösungsphase der feudalen Ständegesellschaft entscheiden so nicht mehr ausschließlich die zugeschriebenen Merkmale von Herkunft und Stand über eine erfolgreiche Identität, sondern zunehmend auch Selbstbehauptung und individueller Leistungseinsatz. Es handelt sich weniger um eine ererbte Identität, als um eine, die im Kampf mit den anderen Individuen allererst verdient werden muß. Diese noch sehr vorsichtige Individualisierung hat eine Reihe von Implikationen. Zunächst und allgemein bedeutet sie eine wachsende Distanz 8

9

10

Vergleiche hierzu etwa: Peter Honegger, Ulenspiegel. Ein Beitrag zur Druckgeschichte und zur Verfasserfrage, Neumünster 1973; Bernd Ulrich Hucker, Hermen Bote, Der Dichter der Hanse und sein Ulenspiegel, in: Text & Kontext 5, 1977. Vergleiche grundsätzlich dazu: N. Luhmann, Differentiation of Society, in: Canadian Journal of Society 2 (1977), S. 29-53; ders., Evolution und Geschichte, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 2, Opladen 1975, S. 150-170. Der Leitformel ,von Qualität zu Leistung', ergänzt noch um die zivilisatorische Kurve ,von außen nach innen' - seit Nietzsche fester Bestandteil der Zivilisationsgeschichte - geht Luhmann in seinen neueren historischen Analysen zur Entwicklung der Interaktionssemantik nach. Vgl.: Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 1, Frankfurt/Main 1980 (bes. darin: Interaktion in Oberschichten: Zur Transformation ihrer Semantik im 17. und 18. Jahrhundert, S. 72-162), Band 2, Frankfurt/Main 1981.

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von Interaktion und Gesellschaft, die sich im konkreten Alltagshandeln als eine gesteigerte individuelle Distanzierungsmöglichkeit von der Gesamtgesellschaft äußert. Eine weitere Bedeutungsebene läßt sich als Multiplikation von Handlungsspielräumen beschreiben, die als soziale Mobilität charakteristische Probleme, aber auch Chancen entwickelt und insgesamt eine stärkere Differenzierung des Interaktionsspektrums bedingt. Auf diesen Hintergrund muß der .Fortunatus' projiziert werden. Für die geburtsadelige Oberschicht thematisiert er u. a. den Typus des machiavellistischen Taktikers in der Figur des englischen Königs, der losgelöst von feudalen Regeln seine individuellen Vorteile sucht, und des Königs von Cypern, der in der Phase der Unsicherheit eine Allianz mit den kapitalkräftigen Großkaufleuten anstrebt. Vor allem aber für die unterhalb der hierarchischen Spitze situierten Schichten resultiert aus der neuen Situation, in der eine soziale Hierarchie nicht mehr mit der faktischen, hier besonders ökonomischen Machtverteilung identisch ist, eine größere soziale Mobilität, die dem Typus des bürgerlichen Aufsteigers und Karrieristen seine historische Chance zuweist. Angesichts der wenig entwickelten (je systemspezifischen) Funktionalisierung der Gesellschaft stellt sich ihm jedoch die höchst schwierige Aufgabe, seine Ziele über eine Gratwanderung zwischen der Anerkennung repräsentativer Qualitäten und individueller Selbstbehauptung zu realisieren. Neben dem beiläufigen Typ des skrupellos, mit brutaler Gewalt und verbrecherischen Mitteln seinen Vorteil suchenden Aufsteigers, der in Andrea Gestalt annimmt 11 , erarbeitet der,Fortunatus' vor allem Verhaltensmuster für bürgerliche Aufsteiger 12 aus der Schicht der großen Fernkaufleute, die er in der genealogischen Abfolge von Theodorus zu Fortunatus und zu dessen Söhnen Ampedo und Andolosia variiert. Alle drei Generationen sehen sich der grundsätzlichen Schwierigkeit ausgesetzt, Erfolge aus ökonomischer Leistung in die Skala der askriptiven Qualitäten von Herkunft und Geburt zu übersetzen, die für eine feudalhierarchisch organisierte Gesellschaft unverzichtbar sind. Das Lösungsangebot dieses Textes, der nicht zufallig im oberdeutschen Handels- und Finanzzentrum Augsburg erscheint, kreist um eine Verhaltensweise, die über eine taktische Vermittlung von Repräsentation und Leistung eine vorsichtige Integration in den Herrenstand anstrebt. In dieser Zeit sind die funktionalen Äquivalente für die qualitativen „avantages de nature" 13 kaum in Ansätzen gesellschaftlich konventionalisiert. Deswegen " Vgl. Fortunatus, a.a.O., S. 36ff. 12 Vgl. zu einer differenzierten Behandlung des „Verbürgerlichungstheorems" für die frühe Neuzeit: Jan-Dirk Müller, Melusine in Bern. Zum Problem der „Verbürgerlichung" höfischer Epik im 15. Jahrhundert, in: Literatur. Publikum. Historischer Kontext, Bd. 1, hrsg. v. Joachim Bumke u.a., Bern 1977. 13 Vgl. N. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 1, a.a.O., S. 93.

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folgt der Text in der Lebensgeschichte des Fortunatus, des vom Glück Erwählten, dem Gefalle eines Verhaltenstyps der Zweigleisigkeit: gesellschaftlicher Erfolg stellt sich nicht nur in Folge ökonomischen Kalküls ein, sondern auf der Basis von Leistung und Repräsentation zugleich. Angestrebt wird nicht ein schrankenloser Ökonomismus, sondern ein taktischer Kompromiß, ein kluges Ausbalancieren von „Geld und Ehre", dem zweifellos meistgebrauchten Begriffspaar des .Fortunatus'. Der Text bemüht sich um eine tragfähige Vermittlung zweier widersprüchlicher Interaktionstypen. All dies gewinnt zusätzliche historische Konturen - und möglicherweise auch Hinweise auf das Gattungsproblem des .Fortunatus' - auf dem Hintergrund der „allgemeinen kommunikativen Verhältnisse" (Giesecke) in dieser Übergangszeit. Von hier erst lassen sich für den ,Fortunatus' Möglichkeitsbedingungen angeben, die unterhalb der hochabstrakten Bezugsebene einer sozial-evolutiven Differenzierungstypologie liegen, aber gleichwohl diesen letzten Bezugspunkt nicht aufgeben. Das 15./16. Jahrhundert ist so gesehen auch (oder: vor allem?) die Zeit radikaler Veränderungen im Bereich dessen, was an sozialer Kommunikation möglich ist: der Freiheitsraum für soziale Kommunikation erhöht sich sprunghaft. Gutenbergs Erfindung erscheint unter dieser Perspektive eher als ein Detail, als ein weit weniger dramatisches Ereignis, als es eine chronistische Geschichtsschreibung suggeriert. Generell nämlich kann man in diesem Zeitraum einen veränderten Umgang mit Schriftlichkeit beobachten, so daß Gutenbergs Neuerung ,nur' den ökonomischen Durchbruch dieses neuen Verhältnisses markiert. 14 Wie anders wäre auch die erstaunlich schnelle Akzeptanz des neuen Mediums zu erklären.15 Welche unmittelbaren und mittelbaren Folgen dieser Medieninnovation zuzuschreiben sind, dürfte noch kaum vollständig bekannt sein. Interessieren soll hier jedoch allein die entgrenzende, die Expansion sozialer Kommunikation freisetzende Dimension dieses Wandels. Die folgenden Hinweise sind aus naheliegenden Gründen knapp ausgefallen. Hier geht es um eine Argumentationsskizze, weniger um Vollständigkeit. Bereits die Organisation des neuen Mediums, seine wissenssoziologisch gesprochen: soziale Implementierung, ist hier anzuführen. Entgegen 14

15

Ein vielzitiertes Indiz dafür sind die mit den Namen Diebold Lauter, Hans Windeberg oder etwa Johannes Büschler verknüpften Veränderungen in der Handschriftenproduktion. Bereits vor der Einführung drucktechnischer Verfahren werden hier in eigens eingerichteten Schreibstuben über den Kundenauftrag hinaus auf einen Markt hin Handschriften vervielfältigt. Die Drucktechnik scheint den Wandel in der Einstellung zur Schriftlichkeit nur verstärkt, nicht aber initiiert zu haben. Vgl. Hans Lülfing, Die Fortdauer der handschriftlichen Bücherherstellung nach der Erfindung des Buchdrucks - ein buchgeschichtliches Problem, in: Buch und Text im 15. Jh., hrsg. v. L. Hellinga und H. Härtel (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung Bd. 2), Hamburg 1981, S. 17-26. So argumentiert auch R. Hirsch, auf umfangreiches Material gestützt, in: ders., Printing, Selling and Reading 1450-1550, Wiesbaden 2 1974, S. 15f.

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der mittelalterlichen Tradition etabliert sich die neue Schicht der Verleger/ Drucker keineswegs im überkommenen Zunftsystem, unterliegt daher auch bei der Herstellung und Verbreitung der Drucke keinem Zwang. Der Buchdruck, so R. Hirsch: „grew up outside the guild system and was therefore free from restrictions and void of protection."16 Auch die jetzt möglich gewordene stärkere Anonymisierung des Verhältnisses von Autor (Text) und Publikum paßt in dieses Bild wachsender Kommunikationschancen. So bricht der gedruckte volkssprachliche Text mit der bis dahin gültigen Praxis, die Literatur nur innerhalb schon „vorverständigter Rezeptionsgemeinschaften"17 mit jeweils festgelegten Erwartungen kannte. Der wachsende Abstand zwischen den Teilnehmern der literarischen Kommunikation erscheint so als produktive Distanz, da sich Verbreitung, Rezeption oder Themenwahl der Drucke über bisherige Konventionen leichter hinwegsetzen können. Zuletzt sei noch auf das Faktum der Schriftlichkeit selbst eingegangen. Darunter fallt nicht nur die materielle Qualität der Schrift, die jetzt dank der Drucktechnik die nahezu beliebige Reproduzierbarkeit - mit entsprechenden Vorteilen in der Zugänglichkeit - erlaubt. Weniger offensichtlich, möglicherweise aber folgenreicher sind die Möglichkeiten, die in der neuen Schriftsprache des .gemein teutsch' liegen. Dieses besondere Kommunikationsmittel ist nämlich keineswegs als bloße Übersetzung einer zuvor schon mündlich geäußerten oder handschriftlich fixierten Kommunikation zu verstehen.18 Deutlich wird die neue Qualität des .gemein teutsch' im Vergleich zu den bis dahin herrschenden sprachlich-kommunikativen Verhältnissen. Folgt man Gieseckes Untersuchungen zur Kommunikation im Mittelalter, so fallt als generelles Merkmal die jeweilige Begrenztheit, ja schon Zersplitterung der kommunikativen Verhältnisse ins Auge. Der Vielzahl der kommunikativen Aufgaben entsprach ein je eigenes, in seiner Funktion begrenztes - und gerade in dieser Begrenzung eine sichere Ver-

16 17

18

R. Hirsch, a.a.O., S. 12. J. D. Müller, Gattungstransformation und Anfange des literarischen Marktes. Versuch einer Theorie des frühen deutschen Prosaromans, in: Textsorten und literarische Gattungen. Dokumentation des Germanistentages in Hamburg vom 1.-4. April 1979, Berlin o. J., S. 435. Eher ist davon auszugehen, daß - wie auch M. Giesecke mit Hinweis auf die (auch historische) Forschungsliteratur anmerkt - „Schrift und gesprochene Sprache völlig unterschiedliche Wurzeln und Funktionen besitzen", also auch ganz unterschiedliche Kodierungsund Dekodierungsanforderungen stellen. Vgl. M. Giesecke, Schriftsprache als Entwicklungsfaktor in Sprach- und Begriffsgeschichte, in: Semantik und Begriffsgeschichte, hrsg. v. R. Koselleck, Stuttgart 1979, S. 262-302, hier bes. S. 270 und 280; dazu auch ausführlich: ders., .Volkssprache' und .Verschriftlichung des Lebens' im Spätmittelalter - am Beispiel der Genese der gedruckten Fachprosa in Deutschland, in: Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters, hrsg. v. H. U. Gumbrecht ( = Begleitreihe zum GRLMA, Vol. 1) Heidelberg 1980, S. 39-71.

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ständigung garantierendes - Kommunikationsmittel, wie etwa die Kanzlei-, Rechts- und Geschäftssprache, die höfische Prosa etc. einschließlich der noch weitergehenden dialektalen Differenzierungen.19 Das .gemein teutsch', wenn auch in vielem noch Programm, steht dagegen quer zu vielen dieser .Regionalsprachen', zeichnet sich umgekehrt gerade durch die ihr eigene verallgemeinernde Tendenz aus. Möglich wird so ein Abbau sprachlicher - und das heißt zugleich kommunikativer Begrenzungen, die soziale Kommunikation auf relativ engbegrenzte, durch die unterschiedlichen Kommunikationsmittel zudem voneinander abgeschottete Felder beschränken. Erst mit dieser volkssprachlichen Schriftsprache, so wäre weiter zu vermuten, ist die Bedingung gegeben für die Formulierung neuer - und d. h. eben nicht mehr auf bisherige Kommunikationsfelder eingeschränkter - Erfahrungen und Sachverhalte. Innerhalb dieses stark expandierenden Möglichkeitsraums sozialer Kommunikation spielt der spätmittelalterliche Roman eine prominente Rolle. Eine Auszeichnung, die er möglicherweise seiner wohl allgemeinsten gattungspoetologischen Eigenschaft verdankt: da der Roman diejenige Gattung ist, die am wenigsten durch poetologische Vorschriften reglementiert wird und dementsprechend auch kaum auf bestimmte kommunikative Bezüge festgelegt ist, bietet er sich in dieser Situation erhöhter Kommunikationschancen als besonders geeignetes Experimentierfeld an. Akzeptiert man diese Ausgangslage, so gibt der sprunghafte Anstieg des sozialen Kommunikationspotentials dem Roman zugleich ein strukturbildendes Problem vor. Sicherte vor dem Erfolg der frühneuhochdeutschen Druckprosa eine stark regionalisierte Sprachen- bzw. Schriftenvielfalt das Gelingen der Kommunikation - und zwar eben gerade durch die jeweilige Begrenzung und Spezialisierung des Kommunikationsmittels - so geht diese Erfolgsgarantie mit dem skizzierten Fortfall eingrenzender Kommunikationsschranken verloren. Anders gesagt: der enorme Zuwachs an Kommunikationschancen müßte durch eine Zunahme an entsprechenden Codierungsformen (von sinnhafter Kommunikation) aufgewogen werden. Wie schwierig das ist - dafür zeugen exemplarisch Texte wie eben der .Fortunatus*. Seine schon oft konstatierte formale Heterogenität - wohl das formale Kennzeichen des spätmittelalterlichen Romans - erklärte sich nach dieser Überlegung als Ausdruck genau dieses Problems eines Überschusses an noch kaum regulierten Kommunikationsmöglichkeiten. Was sich so einerseits als Vorzug der Formenvielfalt darstellt, erweist sich in gattungstypologischer Hinsicht als ausgesprochenes Problem. Denn sowohl die Disparität der überlieferten „Prosaromane" untereinander als auch die Formenheterogenität der einzelnen Texte macht es unmöglich,

" Vgl. M. Giesecke, Schriftsprache, a. a. O.

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„rekurrente Elemente auf allen Ebenen der Texte zu beschreiben und in einer Gesamtstruktur zu hierarchisieren" 20 . Es sei denn, man will sich mit den relativ unspezifischen Merkmalen „deutschsprachig", „Buchdruck" und „Prosa" begnügen, wobei man allerdings in Kauf nehmen muß, schließlich jegliche Gattungsdifferenz zugunsten eines einzigen Funktionstyps .Frühe deutschsprachige Druckprosa'" 21 aufzugeben. Offensichtlich braucht es Zeit, bis sich die Semantik auf die veränderten Kommunikationsbedingungen eingestellt hat. Vor allem spezielle formale oder stilistische Figuren und Normierungen, die diesem, im historischen Maßstab gesehen, plötzlichen Überschuß an Kommunikationschancen auf produktive Weise korrespondieren, scheinen zunächst noch nicht gefunden. Es bleibt bei einer für den spätmittelalterlichen Roman typischen „bricolage" (K. H. Stierle), die weitgehend frei, ohne an eine feste literarische Norm gebunden zu sein, aus dem überlieferten Bestand an Textformen und Handlungsdramaturgie zitiert und kombiniert, ohne daß sich eine deutlich abgrenzbare Gattungsform auskristallisierte. 22 Unsere These ist daher, daß die eingangs zum funktionalen Definitionskriterium für die Gattung des Romans (nicht nur des Romans...) postulierte Aufgabe der Kanalisierung und Typisierung von Sinn im Fortunatus vor allem über .inhaltliche' Momente versucht wird. Damit ist jedoch nicht so sehr ein bestimmter, bis dahin unbekannter Begriff oder Sachverhalt gemeint, der hier debütierte. Entscheidend dürfte dagegen die quer zu allen formalen Versatzstücken aus den unterschiedlichsten Gattungstraditionen durchgehaltene Leitdifferenz von Geld und Ehre sein. Sie löst die alte, dem traditionellen moralisch-theologischen System verpflichtete Differenz von Weisheit und Reichtum ab - auch wenn sie im Fortunatus noch immer als Exempel zitiert wird. Über diese neu gesetzte Differenz entwickelt nun der .Fortunatus* sein Orientierungsangebot. Das narrative Darstellungsmittel, dessen sich der Text dabei bedient, ist die genealogische Abfolge, erlaubt sie doch die Verknüpfung selbst stark differierender Handlungen. Es bietet sich an, diesem wohl traditionsreichsten Formgebungsmuster zu folgen. Daß es sich bei der Gratwanderung zwischen Qualität und Leistung um einen ausgesprochen schwierigen Weg handelt, dafür steht schon ganz 20

21

22

Jan-Dirk Müller, Gattungstransformation ..., a.a.O., S. 437, vgl. dagegen: Hans-Gert Roloff, Stilstudien zur Prosa des 15. Jhs., Köln-Wien 1970, bes. S. 190ff.; Renate Wiemann, Die Erzählstruktur im Volksbuch .Fortunatus', Hildesheim/New York 1970, bes. 287 ff. Inge Leipold, Untersuchungen zum Funktionstyp .Frühe deutschsprachige Druckprosa'. Das Verlagsprogramm des Augsburger Druckers Anton Sorg, in: DVjS 48, 1978, S. 264 ff. Auch K. H. Stierle sieht in dieser Unstetigkeitsstelle in der Geschichte des Romans eine fiir die weitere Entwicklung der Gattung produktive Chance: „Die Verwilderung des Romans als Ursprung seiner Möglichkeiten" so der Titel und die These seiner anregenden Arbeit über den spätmittelalterlichen Roman in den lateinischen Ländern. Vgl. K. H. Stierle, in: Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters, a.a.O., bes. S. 260f.

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oberflächlich das doppelte Scheitern von Fortunatus' Familie: sowohl sein Vater als auch seine beiden Söhne sind ihr, auf je verschiedene Weise, nicht gewachsen. Worin bestehen nun die Fehler des offenbar zur Patrizierschicht seiner Heimatstadt Famagusta auf Cypern gehörigen Vaters? 23 Der Text selbst läßt bei der Beantwortung dieser Frage keinerlei Unklarheit aufkommen: „hewt verkaufft er ainen zinß / den andren tag versatzt er ain gelegen guott. das traib er so lang und vil biß das er nicht mer zu verkauften noch zu versetzen hett / und kam also zu armuot / het sein junge tag unnützlich verzert / unnd ward so arm das er weder knecht noch maegt vermocht und muoßt die guot fraw Graciana selber kochen unnd waeschenn als ain armes verkaufftes weib."24 Der Vater Theodoras läßt sich als Nicht-Adeliger derart auf ein verschwenderisches, rein repräsentatives Leben ein, daß er über dem „kostlichen stand mitt stechenn / turnieren / dem künig gen hoff tzu reytten / unnd ander sachcnn / Darmit er groß guot on ward" 2 5 vollständig versäumt, seine bürgerliche Identität stets neu zu .verdienen'. Die Vernachlässigung seiner Einkommenssicherung hat zur direkten Folge, daß sein ehemaliger, von den Eltern mühsam erworbener Reichtum bei seinem Tode durchgebracht ist. Die Einsicht in sein Scheitern, die er erst kurz vor seinem Tod dem Sohn Fortunatus gewährt, kommt für ihn selbst zu spät: „ O lieber sune darumb ich trauren daran hastu kain schuld / ich kan auch niemant schuldigen / dann die angst und not darinnen ich bin hab ich mir selbs gemacht / unnd wenn ich gedeck an so groß eer und guot so ich gehebt hab und das so unnutzlich on worden bin / das mir meine vordem so treulichen gespart hond / Als ich billich und von rechts wegen auch gethon solt haben / " » Sein einziges Vermächtnis für Fortunatus ist eine hauptsächlich auf feudale Körperlichkeit abgestellte Erziehung zum Junker - „ich kan jagen / payssen und was tzu waidwerck gehoert und darzu verwesen ainen raysigen knecht / wann es tzu schulden kommpt." 2 7 - , nicht jedoch die dafür unabdingbare feudale Absicherung des Standes oder die nötigen Geldmittel. Der „Fortunatus" legt eine solche Erziehung in all ihrer historischen Unzulänglichkeit bloß: „das selb ersach der sun der was nun bey achzehen jaren alt / unnd kund nichts dann ploß einen namen schreiben und lesen /' ,28 . Somit ist - als typischer Fall einer Karriere - eine charakteristische NullSituation geschaffen, die noch mit der gleichfalls geläufigen Figur des Vgl. Fortunatus, a.a.O., S. 3f. « ebd., S. 7. 25 ebd., S. 6. 26 ebd., S. 7. 27 ebd. S. 9. 2" ebd. S. 7. 23 2

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Ortswechsels, des Ausziehens nach seinem Glück, verknüpft wird. Gleich die folgenden Abenteuer jedoch lassen den unerfahrenen Jüngling den kämpferischen Grundzug der unsicheren Krisenzeit am eigenen Leib spüren. Gleich ob Fortunatus den Intrigen seiner Konkurrenten in der Dienerschaft des Grafen von Flandern erliegt, die zu seiner Vertreibung eine Art Aktiengesellschaft gründen 29 , von Dirnen bis zur letzten Krone ausgenommen wird oder nach der willkürlichen Rechtsauslegung des englischen Königs nur knapp dem Galgen entkommt, jedesmal findet er sich als Spielball brutaler Verhältnisse wieder, in denen nur das Prinzip rücksichtsloser Selbstdurchsetzung gilt. Mit seinem ausgeprägten Hang zur sentenzenhaften Verkürzung bringt der Text den Mangel an rechtlicher Verbindlichkeit auf die griffige Formel: „wem ward der hett. da bedorfft nyemandt rechnung umbgebenn."30 Typologisch interessant ist, daß diese Formel praktischer Erfahrung für alle gesellschaftlichen Bereiche Geltung beansprucht: ihr unterstehen sowohl das Leben am Hof, das Privatvergnügen als auch der Kaufmannsdienst. Erst nachdem der Text ihn dreimal als Opfer dieser Verhältnisse und seiner eigenen Unerfahrenheit vorgeführt hat, wird Fortunatus aus dem gesellschaftlichen Kampfzusammenhang herausgehoben und in den märchenhaften Raum des „wilden Waldes" enthoben. Hier verschafft ihm eine Glücksbotin, die Jungfrau des Glücks, die Bedingung der Möglichkeit einer erfolgreicheren Auseinandersetzung mit der harten gesellschaftlichen Realität.31 Aus ihrem alternativen Angebot wählt Fortunatus zeilsicher dasjenige, was er im finstren Wald zunächst zwar am wenigsten gebrauchen kann, das sich aber auf lange Sicht als eine ausgesprochen starke Hilfe erweist: er schlägt die naheliegenden feudalen Repräsentatiortsqualitäten wie „Stercke" oder „Schoene" 32 aus und sichert sich statt dessen die Möglichkeit zu nie versiegendem Reichtum in der mythischen Form eines Geld-„seckels" 33 . Mit der Wahl dieses Instruments erscheint die höchst komplizierte Aufgabe der Kapitalsicherung und -Vermehrung, die im Rahmen des risikoreichen Fernhandels kaum ohne ein gewisses Quantum „fortuna" zu gewährleisten war, aus sich selbst heraus lösbar, ohne daß die Regeln und Funktionsweise einer nicht-feudalen, monetären Ökonomie näher auszuführen wären. 34 *> Vgl. ebda, S. 14. » ebd., S. 38. 31 Den Fortuna-Aspekt untersucht ausfuhrlich: Wolfgang Haubrichs, Glück und Ratio im .Fortunatus', in: LiLi 50, 1983, S. 28-47. " ebd., S. 46. 33 ebd., S. 23. 34 Vgl. auch: Michael Neriich, Kritik der Abenteuerideologie. Beitrag zur Erforschung der bürgerlichen Bewußtseinsbildung 1100-1750, 2 Bde, Ost-Berlin 1977, hier bes. S. 104,

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Die kennzeichnende, ganz dem Augenblick verhaftete Wankelmütigkeit und Unkalkulierbarkeit des Glücks ist damit in die Dauer des märchenhaften, kontinuierlichen Geldstroms aus dem magischen „seckel" gebannt. Daß der märchenhafte Geldsack nicht eines bestimmten sozialgeschichtlichen Bezuges entbehrt, darauf verweist Ernest Mnadel, der für die Handelsfahrten des Francis Drake zwischen 1577 und 1580 einen 120fachen Profit angibt: „Aber auch abgesehen von solchen Sensationserfolgen waren die durchschnittlichen Handelsspannen enorm. Es liegt so über dem Seehandel der Zeit etwas Legendäres und Märchenhaftes, sowohl in der Exotik und Kostbarkeit der zurückgebrachten Waren wie auch (und vor allem) in der Möglichkeit einer geradezu wunderbaren Geldvermehrung, .. ,35 Angesichts feudaler Machtverhältnisse und der daraus resultierenden permanenten Gefahr, als Nicht-Adeliger seines Reichtums gewaltsam entledigt zu werden, muß Fortunatus sehr schnell erkennen, daß der Besitz des Wundersäckels allein nicht zur sozialen Selbstbehauptung genügt. Ein Waldgraf von Nundragon, den Fortunatus als ein „nit . . . geborner edelman"36 unvorsichtigerweise bei einem Pferdekauf überbietet, setzt ihn, kaum hat er den distanzierten Märchenwald verlassen, nachdrücklich über die faktische Machtverteilung in Kenntnis: er raubt ihm nicht nur die Pferde und seine gesamte Barschaft, sondern er hinterläßt auch keinerlei Zweifel darüber, daß Fortunatus' körperliche Integrität gänzlich der Willkür seiner feudal legitimierten Gerichtsgewalt37 unterstellt ist: „o du schalck woltestu mir das mein entpfrembden / du solt wissen das mir dein leib und guot verfallen ist / wann was in dem wald ist / das gehört mir zu / und ist mein aigen gout.' .Fortunatus sprach / .gnädiger herr / ich hab umb solliche e w e r gerechtigkait gantz nicht gewißt / dann das ich g o t lobet und het es für ain gotzgab.' Der graff sprach / .mir ligt nicht daran das du es nit gewißset hast / hast du nit gehoert? w e r nit waißt der soll fragen / unnd kurtz rieht dich darnach / heüt nym ich dir als dein gout und morgen das

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Bd. 1: Den Griff in die Märchenkiste erklärt Neriich mit der Unfähigkeit des Autors die von ihm konstatierte Bedeutung und Wirkung des frühkapitalistischen Monetarismus mit einer adäquaten bürgerlichen Ethik zu bemänteln und zu rechtfertigen." Abgesehen von dem hier implizierten Ideologiebegriff der „Verschwörung" und „Bemäntelung" trifft sicherlich zu, daß die Regeln des Kapitalbildungsprozesses in den Märchenrequisiten verschwinden. 35 Ernest Mandel, Marxistische Wirtschaftstheorie, Frankfurt/Main 1970, S. 115, zitiert bei: Ch. Enzensberger, Literatur und Interesse, Bd. 2, Beispiele, München 1977, S. 27. 36 Fortunatus, a.a.O., S. 50. 37 Das Problem kluger bürgerlicher Selbstbehauptung angesichts feudaler Machtverhältnisse rückt Walter Raitz ins Zentrum seiner neuen „Fortunatus"-Darstellung: Walter Raitz, .Fortunatus", München 1984. » ebd., S. 51.

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Nachdem Fortunatus nur knapp der feudalen Willkür des Waldgrafen entgangen ist, sieht er ein, daß es eines vorsichtigen Umgangs mit seinem plötzlichen Reichtum bedarf. Er sieht sich gezwungen, eine direkte Konkurrenz mit den Vertretern des Herrenstandes zu vermeiden und auf eine repräsentative Vermittlung seines Reichtums zu achten: „nun hab und vermag ich wol sovil an parem gelt / als ir alle die hie sind und tarf es nit prauchen nach meim willen, ich kenn wol / sy haben land und leüt / was sy gebieten das muessen ir underthon Volbringen / Hueb ich ettwas an / moecht nit yderman gefallen / so hett ich niemmand der mir beystand thette. Darumb sprach er zou im selb / ,mir zimmet nit hye den junckherren zu machen noch grosse kostlichait zu treiben." 39

Der „ungeborene" Fortunatus muß erkennen, daß es ihm, solange er seine finanziellen Möglichkeiten nicht mit „land und leüt", den feudalen Standesqualitäten schlechthin, abgesichert hat, nicht dienlich ist, den Herren herauszukehren und seinen Reichtum ohne taktische Rückversicherung in den feudalen Machtverhältnissen demonstrativ einzusetzen. Und so ist diese Erfahrung auch nicht umsonst. Noch vor seinem nächsten Kontakt mit der Gesellschaft zollt Fortunatus den repräsentativen Spielregeln seinen Tribut: er kleidet sich angemessen, verschafft sich ein Pferd und erscheint nur noch in Bekleidung seines Dieners. Er versetzt sich - mit einem Wort - in ein „eerlich" Aussehen. 40 Der Erfolg seiner Klugheit bleibt nicht aus. Umgehend wird ihm „Ehre" - als „symbolisch generalisierte Interaktionsfähigkeit" in der Oberschicht 41 - zugebilligt: anläßlich der Hochzeit eines Herzogs wird Fortunatus im Kreis der Edelleute bewirtet. Bei einer entsprechend taktischen Selbstbeherrschung des plötzlich reich Gewordenen - so der Schluß scheint die Integration des Aufsteigers durchaus im Bereich des Möglichen. Zu dem hier entwickelten Interaktionstypus eines kaufmännischen Aufsteigers gehört wesentlich ein großes Maß an Risikobereitschaft, ohne das die fortwährend durch fremde, bedrohliche Welten führenden Handelsreisen kaum zu bestehen waren. 42 Fortunatus ist erneut klug genug, sich dazu der Ratschläge und tatkräftigen Mithilfe des lebenserfahrenen und weitgereisten Lüpoldus zu versichern, der als älterer Edelmann darüber hinaus jene feudale

" 40 41 42

ebd., S. 52f. ebd., S. 53 und darüber hinaus beinahe auf jeder anderen Seite. N. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, a.a.O., Bd. 1, S. 96. Nicht zufallig fuhren die frühen Kaufmannszusammenschlüsse in England unter dem Etikett „merchant adventures". Neriich weist daraufhin, daß fortuna als Begriff (Schicksal, Glück) und als Allegorie (Frau Fortuna) schon früh synonym mit adventure gebraucht wird", (Nerlich, a. a. O . , Bd. I, S. 87) und daß finanzielle Gewinne, sei es bei Handelsinvestitionen oder bei Geldtausch, über den Risikoeinsatz auch kirchlich legitimiert waren (vgl. a . a . O . , S. 87).

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Interaktionsfáhigkeit besitzt, die Fortunatus für sich erst herstellen muß. 43 Die weiteren Ereignisse bestätigen, daß Fortunatus mit dessen Einstellung seinen eigenen Mangel an Lebenserfahrung, Weltgewandtheit und „Ehre" erfolgreich ausgleichen kann. Wie sorgfaltig der „Fortunatus" auf die taktischen Implikationen dieses Verhaltenstyps im Übergang von Qualität zu Leistung reflektiert, das zeigt deutlich der Aufenthalt des Titelhelden in Venedig. In diesem Zentrum kaufmännischen Reichtums erkennt er sofort seine größeren Bewegungsspielräume, die es ihm erlauben, sein Geld offen einzusetzen: „Und als Er nun gen Venedig kam / freüwet er sich unnd gedacht / ,hye seynd vil reycher leüt / hye tarffestu dich auch lassen mercken das du gelt habest' /"«

Hier kann er sich dann auch uneingeschränkt mit denjenigen Luxusgütern umgeben, die bei seiner bevorstehenden Rückkehr in die Heimatstadt Famagusta seinen Reichtum von Anfang an in einem sinnfälligen Rahmen von Selbstverständlichkeit erscheinen lassen. Umgeben von der Aura abenteuerlich erworbenen Reichtums kann er in seiner Heimatstadt den bislang ausgesparten, wohl aber entscheidenden Schritt zur Absicherung seines Aufstiegs in die feudale Oberschicht nachholen: schleunigst sichert er sich den Schutz von Land und Leuten, den er in der Waldgrafenepisode so schmerzlich vermissen mußte. Zudem empfiehlt sich dem Aufsteiger Fortunatus eine baldige Rückversicherung bei den herrschenden Herrenständen: „Und bey dem palast lyeß er gar ain schoene kirchen bawen und umb die kirchen ließ er dreüzehen heüsser bauwen und machen und stifftet da ein probstey unnd tzwelff caplaen" 45

Das Wohlwollen des Klerus erwirbt er durch großzügige Stiftungen, wie er sich dem König von Cypern durch Geschenke und demonstrative Unterwürfigkeit anempfiehlt. Offensichtlich arbeitet der Text an einem historischen Kompromiß zwischen der feudalen, in Ansätzen bereits absoluten Machtspitze und der materiellen Reichtum anhäufenden Schicht der großen Fernkaufleute. Denn wie der großräumige Transaktionen tätigende Fernkaufmann dringend des Schutzes der territorialen Machthaber bedarf, so müssen auch die Fürsten erkennen, daß sie auf den gesellschaftlichen Nutzen des Handelskapitals angewiesen sind. 46 Es liegt konsequent in der Strategie des Textes aus der Vgl. Fortunatus, a. a. O., S. 56, „Wie Fortunatus einen altenknecht zu ainem diener auffnam, genannt Lüpoldus, der weitt erfaren unnd ym vil land bekannt waren." 44 Fortunatus, a.a.O., S. 81. « ebd., S. 82. 46 Auf die Frage, warum trotz der lockenden Reichtümer so wenige Kaufleute sich auf Fernreisen einlassen, findet der Erzähler eine Antwort u. a. in der großen Unsicherheit der Reiserouten" „Das ander das so boeß weg ist / von bergen und wiltnuß / von dieben und 43

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Konvergenz beider Schichten die Feudalisierung bzw. Nobilitierung folgen zu lassen. Um dem „bürgerlichen" Reichtum des Kaufmanns Fortunatus die politische Spitze zu brechen, verheiratet der König von Cypern ihn mit einer angesehenen Adelstochter: „,Ich hab wol verstanden wie du so ain kostlichs gesaeß und kirchen lassest bauwen und nun muott hast dir ainen gemahel zu nemen / hab ich sorg / du moechtest aine nemen dir mir nitt gevellig waere und hab betracht / dir ainen gemahel von allen eeren zu geben / dardurch du und dein erben geeret werden sollen.'"47 Die unterstellte Affinität von Hochadel und Großkapital wird im choreographischen Bild sinnlich greifbar: anläßlich der Brautwerbung steht Fortunatus direkt „neben dem kuenig" 48 . Die Behandlung des landständigen, mittleren Adels fügt sich diesem Programm nahtlos ein. Das negative Vorbild seines Vaters vor Augen, verzichtet Fortunatus klug darauf, sich mit Angehörigen dieser Schicht auf Turniere einzulassen. Anstatt dessen stiftet er selbst welche, auf denen dann der mittlere und kleinere Adel gemäß der Tradition seine Repräsentation pflegt. Ohne sich mit ihnen auf eine unnötige Konfrontation einzulassen, kann Fortunatus einfach die historische Tatsache ausnutzen, daß sie zwar das begehrte Land, aber keinen Pfennig baren Geldes haben: „Hye ist der graf von Ligorno / der hat not und muoß bar gelt haben / und hat ain schloß und stat drey meil von hynnen hayßt Larchonube /(...)/ die wellen wir ym abkauffen / land und leütt und alle aigenschaft /"49 Nichts liegt näher, als daß Fortunatus, seines Geldsäckels gewiß, den Grafen aus seiner finanziellen Notlage befreit und dafür im Gegenzug das „gar kostliche" Schloß des Edelmannes seinem eigenen Besitz einverleibt. Der mittlere Adel kommt lediglich als Funktion der Feudalisierung des Aufsteigers in Betracht. Das Projekt eines ständischen Kompromisses - anschaulich in den fortwährenden Zweiklang von „Geld und Ehre" zusammengedrängt steuert auch die Zweigleisigkeit seiner Hochzeit: nach der repräsentativen Selbstdarstellung auf der Ebene des Hochadels findet die zweite Vorstellung seiner Hochzeit etwas später in Kreisen des Bürgertums statt. 50 Soziale Integration, die auf erfolgreichen Leistungseinsatz zurückgeht, ist jedoch kein einmaliger, mit der Nobilitierung abgeschlossener Akt,

mordern. Das dritt das kayner seinen leib allso wagen will / und ym so grosse untrew anthon". (Fortunatus, a.a.O., S. 107) 47 ebd., S. 85. « ebd., S. 86. 4> ebd., S. 93. 5« ebd., S. 95.

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sondern bedarf der fortwährenden Sicherung und Balancierung. So kann sich der über Handelstätigkeit und Geldwirtschaft in die Herrenschicht Aufgestiegene keinesfalls als Rentier auf dem einmal Erreichten ausruhen, sondern er muß diesen Aufstieg immer wieder neu absichern. Es ist dies eine zentrale Notwendigkeit des hier entworfenen Interaktionstyps der Zweigleisigkeit, der eben feudale und kapitalistische Motive verknüpfen muß. Aiich Fortunatus' zweite große Handelsreise fügt sich diesem Programm ein, obwohl der Text sie lediglich auf eine zufallige Laune des Fortunatus zurückführt. Gemäß des Ratschlags, den ihm ein Londoner Zuhälter einst gab, daß nämlich Kapital zu seiner Erhaltung fortwährend in Handelsware reinvestiert werden muß, begibt Fortunatus sich erneut auf große Fahrt. Auf dieser Reise nach Alexandria - neben London und Venedig ein weiterer zentraler Schauplatz des zeitgenössischen Fernhandels - erweist sich auffällig, daß der favorisierte Verhaltenstyp keineswegs mit einer moralisierenden Legitimation der Kaufmannstätigkeit „gemildert" wird. Rücksichtslos nimmt Fortunatus vielmehr dort seinen Vorteil wahr, wo die geltenden Machtstrukturen dies erlauben, und steckt dort zunächst zurück, wo die Gelegenheit weniger günstig erscheint. Nicht so sehr geht es um den Aspekt einer rechtschaffenen innerweltlichen Askese - die immerhin, wenn auch beinahe folgenlos, als moralische Auflage in die Übergabebedingungen der Glücksbotin aufgenommen ist 51 - als darum, bestehende Kräftekonstellationen auf den jeweiligen individuellen Nutzen hin auszuwerten. Hier wird eher ökonomisch gerichteter Machiavellismus empfohlen, als eine Kaufmannsethik, wie sie für das 18. Jahrhundert geläufig ist. So läßt Fortunatus sich hinterhältig beim Sultan von Alexandria einführen und stiehlt ihm, nachdem er zunächst konkurrierende Kaufleute skrupellos ausgeschaltet hat, das „Wunschhuetlin", ein weiteres märchenhaftes Requisit. Kaltblütig nützt er dabei die Gutgläubigkeit und Naivität des Sultans aus und aktualisiert mit dieser Kampfbereitschaft und klug eingesetzten Aggressivität eine weitere Schicht dieses favorisierten Interaktionstyps. Mit dem erfolgreichen Diebstahl des Zauberhuts hat Fortunatus sein magisches Geldsäckel um ein nicht minder vermögendes Instrument ergänzt, für das räumliche Distanzen kein Problem mehr sind. 52

ebda, S. 47. Hier macht die Glücksbotin u. a. folgende Auflage: „Das erst / su solt auf den tag feyren / uff den tag kain eelich werk vollbringen / unnd auaff den tag alle jar in woelchen land du seyest / frag haben / wo ain armer man ain tochter hab die manber sey ir ainen man gaebe unnd es vor armuot nit vermag / die soltu eerlich klaiden iren vater und muoter und sy begaben und erfreüwen mit vierhundert stuck goldes des selben lands werschafft.'" Fortunatus, a. a. O., S. 47. s2 Vgl. ebd., S. 107.

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Eine Interpretation dieses Wunderhutes sieht sich vor die Schwierigkeit gestellt, kaum einen Anhaltspunkt in den Handlungssequenzen des Textes zu finden. Zumeist wird es - besonders in den Andolosia-Episoden lediglich zum Vergnügen und zur Befriedigung der Publikumserwartungen nach unerhörten Begebenheiten eingesetzt. Wenn man jedoch das Geldsäkkel als mythische Form des Kapitalisierungsprozesses im Rahmen des Fernhandels interpretiert, mit dessen Hilfe, geknüpft an ein klug taktierendes Verhalten, ein Großteil des in der Tat großen Handelsrisikos ausgeschaltet werden konnte, dann läßt sich die Funktion des Wunschhütleins direkt hier anschließen und angeben, warum nicht etwa eine ebenso denkbare Tarnkappe gewählt wurde. Mit diesem umfassende „Ubiquität" 53 verleihenden Wunderinstrument auf dem Kopf kann der kalkulierende Kaufmann nicht nur die Risiken der unsicheren Handelswege ausschalten (und zugleich auch enorm Zeit sparen), es könnten sich auch ungeahnte neue geographische und gleichzeitig handelsmäßig nutzbare Perspektiven eröffnen. Eine Möglichkeit, mehr sicher nicht, die die zahlreichen Entdeckungsfahrten des ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jhs. wenn nicht veranlaßt, dann wenigstens fortgetragen haben. Das Orientierungsangebot des Textes für die Auflösungsphase der traditionellen Gesellschaft, das seine positiven Konturen vornehmlich im Verhalten des Fortunatus erhält, wird weiter in der negativen Rahmung der beiden Söhne Ampedo und Andolosia ausgeführt. Beide tradieren nämlich keineswegs den vorsichtigen, d. h. immer auch getarnten zweckrationalen Einsatz jener die Welt erschließenden Medien, den Fortunatus ihnen auf dem Sterbebett ans Herz legt. Ihre - nicht minder typischen - Verhaltensweisen werden, wenn auch abgestuft, hier eindeutig kritisiert. Am schlechtesten schneidet Ampedo ab, der mit seinem ängstlichen Wunsch nach einem bescheidenen, zurückgezogenen Rentierdasein und einem mehrmaligen Ohnmachtsanfall überhaupt nicht den Anforderungen einer risikobereiten, entscheidungsfreudigen Kaufmannsexistenz genügt. Nur zu offensichtlich wird dieses Urteil, wenn es dann heißt, daß er in einer Art Schwächeanfall über der Nachricht von Andolosias Entführung zu Tode gekommen sei.54 Aber auch dem draufgängerischen Andolosia geht ein wesentliches Attribut eines erfolgreichen Kaufmanns ab, das dem Aufsteiger Fortunatus noch stets geläufig war: das Wissen, daß der erkämpfte soziale Status nur durch ein taktisches Balancieren von individueller Durchsetzung und Anerkennung faktisch geltender, feudal repräsentativer Machtverhältnisse, kurz: durch Vermittlung von Geld und Ehre, zu erhalten ist. Andolosia löst diese lebensnotwendige Einheit auf, verabsolutiert einseitig Ehre und 53 Neriich, a.a.O., Bd. 1, S. 109. Vgl. Fortunatus, a.a.O., S. 122ff. und S. 189ff.

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Genuß und verkennt so, daß diese für ihn nur auf der Basis von Reichtum möglich sind. 55 Er begeht einen Fehler, der sich bei demjenigen leicht einschleichen mag, der ins gemachte Nest von Geldsäckel und Wunschhütlein gelegt wurde. Ob er eine Gräfin als Frau ausschlägt, sich wie ein Herzog auffuhrt oder sich gar auf die englische Königstochter kapriziert, immer hinterläßt seine Anmaßung deutliche Spuren eines uneingeschränkt die Durchsetzung seiner individuellen Interessen und Lüste verfolgenden Machiavellisten, der seine soziale Herkunft aus der Kaufmannsschicht vergessen hat. Bei aller Sympathie, die der Text dem selbstbewußt auftretenden Andolosia in seiner Auseinandersetzung mit dem englischen König entgegenbringt (trotz eines vom König gegen ihn verhängten Holzboykotts gelingt es ihm unter riesigem Geldaufwand, sein angekündigtes Gastmahl mittels exklusiver Gewürze — als Brennmaterial benutzt! - kochen zu lassen) bleibt doch kein Zweifel darüber, daß er zu weit geht und dazu auch noch höchst unklug handelt: in einem Anfall von Geltungsdrang, „auß unbedachtem muot" 56 , entdeckt er der Königstochter die Quelle seines Reichtums und verstößt damit gegen das Gebot taktischer Geheimhaltung, wie es die politischen Verhaltensmaßregeln von Machiavelli bis Gracian den Aufsteigern empfehlen sollten. Mit stolz geschwellter Brust verkündet Andolosia: „die weil ich disen seckel hab / so gebrüst mir kaines gelts"57 Das ist zwar richtig, ebenso richtig aber war die Warnung seines Vaters, daß er nicht mehr lange im Besitz des märchenhaften Reichtums sein würde, wenn er erst dessen Geheimnis aufgedeckt hätte. Und in der Tat wechselt in einem inszenierten Schäferstündchen das Geldsäckel seinen Besitzer. Mit gleicher Unbedachtsamkeit bringt er schließlich auch das zweite „Kleinad", den Wunschhut, durch, und es bedarf schon eines tiefen Griffs in die Zauberkiste des Märchens und der Nigromantie, motiviert sicherlich auch durch die Publikumserwartungen nach unerhörten, ungewöhnlichen Dingen, um mittels Hörnern und Zauberäpfeln Andolosia noch einmal vorübergehend in den Besitz der „Kleinaden" zu setzen. Der in Andolosia personifizierte Interaktionstyp ist aber schon vorher zu deutlich auf Konfrontation mit dem Herrenstand und auf einen bloßen „abenteürer" 58 , der das Risiko nur um des Risikos sucht, ausgerichtet, als daß dieser Besitz von langer Dauer sein könnte. Auf dem Hochzeitsturnier des cyprischen Königssohnes begibt sich Andolosia, wie schon sein Großvater, in unnötige Konkurrenz mit altständiVgl. ebd., S. 126, wo Andolosia seine Entscheidung gegen das Vermächtnis seines Vaters trifft: „es ist aber nit wol zu thuon / wann eer ist ob allem reichtum". * ebd., S. 138. " ebd. 58 ebd., S. 148 und vielfach verstreut. 55

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schem Adel, kommt „allweg kostlicher und baß gerüst auff den plan dann der anderen kainer, ( . . . ) und thet allweg das best / in allen ritterlichen spylen" 59 , hält sich nicht an die Regeln der sozialen Hierarchie und besiegt auch gesellschaftlich Höherstehende. Zwei Grafen, Theodorus und Lymosi, die als Repräsentanten des mittleren Adels der Allianz zwischen Königshaus und kaufmännischem Reichtum schon seit längerem mißtrauisch und neidisch zugeschaut haben 60 , nehmen Andolosias Affront zum erwünschten Anlaß, den „Geldsack" Andolosia aus dem Weg zu räumen, nachdem man ihm zuvor noch gewaltsam das Geheimnis seines märchenhaften Reichtums abgerungen hatte. Gemäß der ebenso richtigen wie kaltschnäuzigen Sentenz: „todter man macht kainen krieg" 61 bereiten die beiden intriganten Grafen der langjährigen Verbindung von Großadel und Handelskapital ein jähes Ende. So behandelt der Text Andolosias Scheitern nicht in erster Linie moralisierend, sondern er legt den Finger genau auf die taktischen Schwachstellen seines Verhaltens. Mit dem abschließenden Tod der Akteure - es gibt also ausdrücklich keine familiengeschichtliche Fortsetzung etwa nach dem Muster eines großen Handelshauses - und dem gänzlichen Verschwinden der „Aufsteigerinstrumente" ist dann auch dem historischen Zusammenhang Rechnung getragen, daß der Balanceakt von Geld und Ehre, Qualität und Leistung, eine höchst schwierige, mit hohen Risiken verbundene Aufgabe bleibt. Der rasante Aufstieg der oberdeutschen Frühkapitalisten und ihr ebenso schneller Niedergang innerhalb von ca. nur 100 Jahren mag hier als historischer Bezugspunkt dienen. Auch der Schluß des Textes, das erneute Zitat der traditionellen, moralisch-theologisch gewichteten Differenz von Reichtum und Weisheit, die im zweiten Augsburger Druck, vielleicht auf dem Hintergrund der sogenannten „Wucher- und Monopoldiskussion" 62 , gestrichen wurde, ändert

w ebd., S. 182. «> ebd., S. 183. 61 „Es find ain schalck den andern / unnd als sy nun gesellen waren / Fieng graff Theodorus an unnd sprach zu seim gesellen / dem graffen von Lymosy wie da ainer genant Andolosia waer / so kostlich und trib so grossen übermuott / und doch kain geborner man waere / darab er ainen verdrieß het / er naem groß eer ein / und wurd geert für grafen und ander wol geboren leüt / und het doch weder land noch leüt / und ob er auch nit verdriessen darab het. Der graf von Lymosy sagt / ,ja / ich unnd ander edelleüt haben auch ain verdriessen darab. Er ist aber so wol gewoellt von dem künig / dem leüchtt unnd schenckt er was er begeret / und der künig erlangt grossen undanck vonn seinen edelleüten / das er yn also vorder hat.'" Fortunatus, a.a.O., S. 183. 62 Vgl. im Anschluß an Jurij Striedter: Dieter Kartschoke, Weisheit oder Reichtum? Zum Volksbuch von Fortunatus und seinen Söhnen, in: Literatur im Feudalismus, hrsg. v. D. Richter, Stuttgart 1975 (Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften Bd. 5), S. 244.

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daran nichts, zumal wenn beim abschließenden Lob auf Salomons Weisheit besonders darauf verwiesen wird, daß er „dardurch ( . . . ) der reichest künig der erden wordenn ist" 63 . Und der Hinweis, daß die „jungfraw des gelücks" 64 und ihr „seckel" „auß unseren landen verjaget / und in dieser weit nit mehr tzu finden" 65 seien, ließe sich als eine nachdrückliche Aufforderung zu dem in dieser frühen Druckprosa propagierten Interaktionstypus lesen, der seine Eckpfeiler in strategischem Denken, Umsicht, kalkulierender Askese, aber auch ausgewogener Risikobereitschaft und Aggressivität findet.

Fortunatus, a.a.O., S. 195, vgl. dazu auch: Kartschoke, a.a.O., Walter Raitz, Zur Soziogenese des bürgerlichen Romans. Eine literatursoziologische Analyse des „Fortunatus", Düsseldorf 1973, S. 93. 64 Fortunatus, a.a.O., S. 195. " ebd. 63

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(Konstanz)

Literaturgeschichte als Mentalitätsgeschichte? Überlegungen zur Problematik einer neueren Forschungsrichtung In neueren sozialgeschichtlich ausgerichteten Arbeiten zur Literatur des Mittelalters standen zunächst — im Rekurs auf verfassungsgeschichtliche Untersuchungen zur Geschichte des mittelalterlichen Adels - ständische Probleme des sozialen Aufstiegs bzw. Statusverlusts der Autoren wie ihres Publikums im Zentrum des Interesses. Seit einigen Jahren werden jedoch auch verstärkt Ansätze der in Frankreich diskutierten Überlegungen zur Erforschung der kollektiven Mentalitäten berücksichtigt. Diese histoire des mentalités ist ein Ergebnis jenes Anspruchs auf eine histoire totale, auf die Erforschung der Totalität geschichtlich-gesellschaftlicher Lebenszusammenhänge, wie ihn die Sozialhistoriker im Umkreis der Zeitschrift Annales E. S. C. und der ehemaligen 6. Sektion der Ecole Pratique des Hautes Etudes, neuerdings der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales erhoben haben.1 1

Eine erste Einführung in die ideologische Programmatik, die methodischen Konzepte und Themenbereiche der AnnaUs-Sch\i\c bieten die Darstellungen von Traian Stoianovich, French Historical Method. The Annales Paradigm. Ithaca/London 1976; Claudia Honegger, Geschichte im Entstehen. Notizen zum Werdegang der Annales. In: M. Bloch (u.a.), Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse. Hg. von C. H. Frankfurt 1977 (édition suhrkamp 814), S. 7-44; Michael Erbe, Zur neueren französischen Sozialgeschichtsforschung. Die Gruppe um die Annales. Darmstadt 1979 (Erträge der Forschung 110). Zu den Aufgaben einer histoire des mentalités im Besonderen haben zahlreiche Vertreter der Annales-Gruppe Stellung genommen: etwa Georges Duby, Histoire des mentalités. In: L'Histoire et ses méthodes. Paris 1961 (Encyclopédie de la Pléiade 11), S. 937-966; Alphonse Dupront, D'une histoire des mentalités. In: Revue roumaine d'histoire 9 (1970) S. 381-403; Jacques Le Goff, Les mentalités. Une histoire ambiguë. In: Faire de l'Histoire. 3. Bd. Nouveaux objets. Sous la direction de Jacques Le Goff et Pierre Nora. Paris 1974 (Bibliothèque des histoires), S. 76-94; Philippe Ariès, L'Histoire des mentalités. In: La Nouvelle Histoire. Sous la direction de Jacques Le Goff et Roger Chartier, Jacques Revel. Paris 1978 (Les encyclopédies du savoir moderne), S. 402—423. Als Vorläufer einer histoire des mentalités, die in der A/inaies-Giuppe seit etwa 1960 konsequent verfolgt wird, gelten Marc Bloch, Les rois thaumaturges. Paris 1924 und Lucien Febvre, La sensibilité et l'histoire. Comment reconstituer la vie affective d'autrefois? (1941). Dt.: Sensibilität und Geschichte. Zugänge zum Gefühlsleben früherer Epochen. In: Honegger (Anm. 1), S. 313-334, die sich schon früh auf die Erforschung kollektiver Mentalitäten konzentriert haben. Zur kritischen Auseinandersetzung mit Anspruch und Terminologie dieser Richtung vgl. Thomas Nipperdey, Kulturgeschichte, Sozialgeschichte, historische Anthropologie. In: VSWG 55 (1968), S. 145-164; Gerd Tellenbach, .Mentalität'. In: Geschichte, Wirtschaft, Gesellschaft. Festschrift für Clemens Bauer zum 75. Geburtstag.

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Dabei gewinnen neben den materiellen Fakten, den sozialen, demographischen und technischen Gegebenheiten des menschlichen Lebens, und neben den expliziten Handlungen der Menschen die sog. mentalen Gegebenheiten ein vorzügliches Interesse: jene Bilder und Vorstellungen, die die Menschen einer bestimmten Epoche von sich und der Welt haben, ihre geheimsten Befürchtungen und Hoffnungen, ihre emotionalen Einstellungen zu den grundlegenden Lebenssituationen wie Geburt, Krankheit, Sexualität und Tod. Aus dieser Verlagerung des Interesses von den sog. objektiven Fakten der gesellschaftlichen Wirklichkeit auf die überindividuellen psychischen Faktoren ist schließlich ein großangelegtes Programm geworden, das auf breiter Basis und in Zusammenarbeit mit Ethnologen, Anthropologen und Psychologen den allmählichen Wandel in den Anschauungsformen, Verhaltensnormen und Reaktionsweisen einzelner Gruppen untersucht. Und es ist nur konsequent, wenn etwa Georges Duby2 die histoire des mentalités in eine übergreifende Geschichtskonzeption einbindet, die Fernand Braudels Schichtenmodell einer Geschichte der durée courte, der oscillations conjoncturelles, und der longue bzw. très longue durée folgt. Denn auch der Mentalitätshistoriker stehe vor einem sehr komplexen Faktenmaterial, das ganz unterschiedliche Fragestellungen erfordert und sehr verschiedene Einsichten vermittelt: am ergiebigsten erscheinen zunächst die den événements der durée courte vergleichbaren, auf der Oberfläche sofort durchschlagenden Veränderungen der Einstellungen zu sein. Das sind die von den herausragenden Persönlichkeiten formulierten oder initiierten brüsken Verhaltensexplosionen, die folgenreiche Veränderungen im Miteinanderumgehen, in den Lebensformen nach sich ziehen. Diese Phasen abrupter Umstellungen seien aber begleitet von einem Generationen überdauernden Prozeß eines langsamen Verhaltenswandels der oscillations de longues amplitudes und schließlich von attitudes profondes de longue et très longue durée. Sie prägen als biologische und kulturelle Grundvoraussetzungen der Weltsicht und Lebenseinstellungen die jeweilige Zivilisation und verändern sich nur in Jahrhunderte übergreifenden Schüben. Sie repräsentieren das stabile, ja immobile Element der Gesellschaftsgeschichte und finden das besondere Interesse einer histoire des mentalités, die entgegen der Fortschrittsgläubigkeit der Ereignisgeschichte den Blick auf das geschichtsbildende Moment der lenteur, des Verharrens, richtet. Dies zeigt sich sehr deutlich an den Fragestellungen und Untersuchungsgegenständen. Zwar wenden sich auch die Mentalitätshistoriker den

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Hg. von Erich Hassinger, J. Heinz Müller und Hugo Ott. Berlin 1974, S. 11-30; Rolf Reichardt,,Histoire des Mentalités'. Eine neue Dimension der Sozialgeschichte am Beispiel des französischen Ancien Régime. In: IASL 3 (1978), S. 130-166 und Klaus Herbers, Ludolf Kuchenbuch, .Konjunktur' und .Mentalität'. Beobachtungen zur französischen Mediävistik. In: Lendemains 4 (1979) Heft 16, S. 25-42. Duby (Anm. 1), S. 948 ff.

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auffallenden événements historiques zu, den politischen Morden, Volksaufständen, kriegerischen Aktionen, soweit sie Auskunft über die bei den Beteiligten wirksamen Einstellungen und ihre schlaglichtartig beleuchteten Verhaltensänderungen geben. Wir kennen das etwa aus Jean Dhondts3 Arbeit über den von Galbert von Brügge berichteten Mord an dem Grafen von Flandern, aus Laduries4 Carnaval de Romans, aus Georges Dubys5 Bouvines-Buch und den Arbeiten Robert Mandrous zu den Hexenprozessen.6 Sehr viel intensiver werden jedoch die langfristigen gruppenspezifischen Haltungen und Verhaltensweisen untersucht: etwa in Le Goffs Arbeiten zum mittelalterlichen Zeitbegriff,7 in seinen Studien zu den mittelalterlichen Intellektuellen8 und Kaufleuten9, vor allem aber in Untersuchungen über die Rolle, die der Familie, der Sexualität, den Extremsituationen wie Geburt, Liebe und Tod im Leben der Menschen zukommen.10 Diese Fragen gehören seit etwa 1960 zu den zentralen Diskussionsthemen der Annales und sind in jüngster Zeit durch die Arbeiten von Philippe Ariès" über Kindheit und Tod und Georges Duby12 über die Ehe im Mittelalter auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden. Ziel dieser Einzelbemühungen um die structures mentales ist freilich immer ein Gesamtpanorama, das - wie im Falle des Montaillou-Buches von Le Roy Ladurie13 - an einem kleinräumigen Beispiel in einem synchronen Schnitt die gesamte Lebenspraxis der verschiedensten Sozialgruppen zu einem bestimmten Zeitpunkt vorstellt oder wie bei Mandrous14 Introduction à la France moderne - auf breiter Basis die

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Jean Dhondt, Les .solidarités* médiévales. Une société en transition: la Flandre en 1127-1128. In: Annales E.S.C. 12 (1957), S. 530-560. Emmanuel Le Roy Ladurie, Le Carnaval de Romans. De la Chandeleur au mercredi des Cendres 1579-1580 (1979). Dt.: Karneval in Romans. Stuttgart 1982. Georges Duby, Le dimanche de Bouvines 17. Juillet 1214. Paris 1973 (Trente journées qui ont fait la France 5). Vor allem Robert Mandrou, Magistrats et sorciers en France au XVII e siècle. Une analyse de psychologie historique. Paris 1968 (Civilisations et Mentalités). Jacques Le Goff, Au moyen âge: Temps de l'Eglise et temps du marchand (1960). Dt.: Zeit der Kirche und Zeit des Händlers im Mittelalter. In: Honegger (Anm. 1), S. 393-414. Ders., Les intellectuels au moyen âge. Paris 1957 (Le temps qui court 3). Ders., Marchands et banquiers du moyen âge. Paris 1956 („Que sais-je?" 699). Vgl. dazu vor allem die bei Honegger (Anm. 1) und Erbe (Anm. 1) aufgeführten Arbeiten von Flandrin. Philippe Ariès, L'enfant et la vie familiale sous l'ancien régime (1960). Dt.: Geschichte der Kindheit. Vorwort von Hartmut von Hentig. München, Wien 1975. Ders.: L'homme devant la mort (1977). Dt.: Geschichte des Todes. München, Wien 1980. Georges Duby, Medieval Marriage. Two Models from Twelfth Century France. Baltimore and London 1978; Ders., Le chevalier, la femme et le prêtre. Le mariage dans la France féodale. Paris 1981. Emmanuel Le Roy Ladurie, Montaillou, village occitan de 1294 à 1324 (1975). Dt.: Montaillou. Ein Dorf vor dem Inquisitor 1294-1324. Frankfurt, Berlin, Wien 1980. Robert Mandrou, Introduction à la France moderne (1500-1640). Essai de Psychologie historique. Paris 1961 (L'évolution de l'humanité. Bibliothèque de synthèse historique 52).

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materiellen Lebensvoraussetzungen, gesellschaftlichen Organisationsformen und emotionalen Einstellungen, intellektuellen Ambitionen und kulturellen Ausdrucksformen einer Epoche präsentiert. Zugleich sind aber mit den struetures mentales bzw. den mentalites collectives vornehmlich die wenig reflektierten, die verborgenen gruppentypischen Vorstellungsgeflechte gemeint, die den expliziten Verhaltens- und Denknormen zugrunde liegen, aber nicht unbedingt mit diesen übereinstimmen. Deshalb konzentriert sich das Interesse der Mentalitätshistoriker auf bestimmte Quellentypen und Materialien, in denen sich nicht-offizielles Verhalten und seine psychischen Hintergründe relativ breit dokumentiert: die Verhörprotokolle der Inquisitionsverhandlungen und Hexenprozesse, Traumberichte, hagiographische Texte, die Polemik der Geistlichen gegen ,heidnisch'-subkulturelle Bräuche, dahinterliegende Mythen, rituelle Formen und Symbole.15 Diese Dokumente zielen gerade auf die ,ungeschichtlichen', die dunklen, tabuisiert-stigmatisierten Seiten menschlichen Handelns, auf geheim-unoffizielle Praktiken und die übersinnlich-numinosen Aspekte des Lebens ab. Sie bieten dem Mentalitätsforscher wertvolle Informationen über die aus dem offiziellen Normensystem ausgegrenzten untergründig-geheimen Verhaltensdispositionen, die zumeist unterdrückten spontanen Emotionen und die gegen den .Fortschritt' gerichteten verborgenen Einstellungen, die in einem archäologischen Verfahren der Spurensicherung sichtbar gemacht werden. Dieser Ausrichtung auf die tiefliegenden stabilen struetures mentales einer Gesellschaft entspricht ein zunehmendes Interesse für die Geschichte der unterdrückten und bislang abgedrängten Gruppen: der Frauen, der Jugend und ,subkulturellen' Vereinigungen. Dabei spielen fiktionale literarische Texte mit ihren dezidierten und .außergewöhnlichen' Problemformulierungen eine ambivalente Rolle. Zwar rekurrieren die ^«/ra/w-Historiker immer wieder mit Vorliebe auf literarische Verhaltensentwürfe, die als besonders aussagekräftige Imaginationen des normalerweise Verdrängten und als prägnante Beispiele für bestimmte Muster eines spontan-unkonventionellen Verhaltens herangezogen werden.16 Im Ganzen gelten jedoch dichterische Texte als Sonderfälle. Sie bieten reichhaltige Informationen über programmatische Einsichten, sind aber gerade deshalb für eine Geschichte der ausgegrenzten Gruppen,

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Dieses Interesse zeigt sich sehr deutlich in der Aufsatzsammlung von Jacques Le Goff, Pour un autre Moyen Age (1977). Dt.: Für ein anderes Mittelalter. Zeit, Arbeit und Kultur im Europa des 5.-15. Jahrhunderts. Ausgewählt von Dieter Groh. Eingeleitet von Juliane Kümmell. Frankfurt, Berlin, Wien 1984 (Ullstein Materialien. Sozialgeschichtliche Bibliothek 35180), deren letzte Beiträge der Opposition von kirchlicher Kultur und Volksüberlieferung, der Bedeutung des Traums in der Kultur und der Kollektivpsychologie und dem Melusine-Mythos gilt. V g l . dazu die programmatischen Äußerungen bei Duby, Histoire des mentalités (Anm. 1), S. 961 ff.

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der ausgeblendeten Vorstellungssysteme und verschwiegenen Reaktionen eine eher ungünstige Quellenbasis. Auf dieses Dilemma verweist etwa Duby, wenn er im Gespräch mit Guy Lardreau fragt: „Wäre aber eine Geschichte der Mentalitäten, eine Geschichte imaginärer Vorstellungsmuster denkbar, die sich lediglich auf das Außergewöhnliche stützte?"17 Dennoch übt die Forderung nach einer histoire des mentalités gerade auf den Literarhistoriker eine besondere Faszination aus. Das zeigt sehr deutlich die Entwicklung der in Deutschland mit den Arbeiten des Romanisten Erich Köhler wieder einsetzenden sozialgeschichtlich orientierten Forschung, die sich in den letzten Jahren zunehmend der französischen Mentalitätsgeschichte öffnet.18 Denn dieses Programm einer Nouvelle histoire scheint eine Lösung für das zentrale Problem aller sozialgeschichtlichen Interpretationsversuche anzubieten: für jene immer wieder bedauernd konstatierte Kluft zwischen den gesellschaftlichen Fakten und der literarischen Textreihe. Im Falle der Dichtung des 12. und 13. Jhs. betrifft das vor allem die von den Historikern als Folge des fürstlichen Landesausbaus beschriebenen tiefgreifenden und vielfaltigen Veränderungen im Standesgefüge des Adels, die - das ist die Überzeugung der Literarhistoriker - auf breiter Ebene auch in der Literatur, und zwar gruppenspezifisch in die verschiedensten Texte bzw. Texttypen aufgefächert, verarbeitet worden sind. Der Abstand von dem gesellschaftsgeschichtlichen Faktenmaterial und der literarischen Darstellung ist bislang mit mehr oder weniger überzeugenden Spekulationen über die psychischen Hintergründe und Auswirkungen dieses Bewältigungsprozesses überbrückt worden. Eine histoire des mentalités würde mit ihrem Insistieren auf den gruppentypischen emotionalen Einstellungen, auf den Selbstinterpretationen und Verhaltensmustern genau diese für das Verständnis literarischer Produktion und Rezeption entscheidende psychische Zwischenschicht zwischen der gesellschaftlichen und literarischen Wirklichkeit in den Blick rücken. Damit sind allerdings signifikante Akzentverschiebungen verbunden. Zum einen wurde von der Literaturwissenschaft das breite Themen- und Fragerepertoire der histoire des mentalités eingeengt auf ein relativ schmales Spektrum von Gefühlskonstellationen und sozialpsychologischen Faktoren.

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Georges Duby, Guy Lardreau, Dialogues (1980), Dt.: Geschichte und Geschichtswissenschaft. Dialoge. Frankfurt 1982 (suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 409), S. 61. Etwa Volker Mertens, Laudine. Soziale Problematik im Iwein Hartmanns von Aue. Berlin 1978 (Beihefte zur ZfrPh. 3), S. 7; Ders., Gregorius Eremita. Eine Lebensform des Adels bei Hartmann von Aue in ihrer Problematik und ihrer Wandlung in der Rezeption. München 1978 (MTU 67) oder Petra Giloy-Hirtz, Deformation des Minnesangs. Wandel literarischer Kommunikation und gesellschaftlicher Funktionsverlust in Neidharts Liedern. Heidelberg 1982 (Beihefte zum Euphorion 19) und Gert Kaiser, Liebe außerhalb der Gesellschaft. Zu einer Lebensform der höfischen Liebe. In: Liebe als Literatur. Aufsätze zur erotischen Dichtung in Deutschland. Hg. von Rüdiger Krohn, München 1983, S. 79-97.

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Zum andern ist - zumindest für die Germanistik - die spezifische Rezeption bzw. Weiterführung bestimmend, die die histoire des mentalités durch Rolf Sprandels 19 Konzept einer Mentalitätenforschung und Arno Borsts 20 Panorama mittelalterlicher Lebensformen erfahren hat. Sprandel generalisiert mit seiner an der umgangssprachlichen Verwendung des deutschen Mentalitätsbegriffs orientierten Umformulierung die structures mentales zu gruppenspezifischen Ausprägungen des - wie es bei ihm heißt - „Vorstellens und Verhaltens" (S. 9) und übergeht dabei die durch Georges Duby, in Deutschland vor allem durch Gerhard Oexle 21 inzwischen vorgelegten Versuche einer Differenzierung und Präzisierung des Bereichs der mentalités collectives. Anders Arno Borst, der sich mit seinem breit angelegten, aber begrifflich scharfen Konzept der Lebensformen als den das Zusammenleben tragenden, sozial eingeübten Verhaltensweisen auf einen sehr spezifischen Ausschnitt der von der histoire des mentalités angesprochenen Gegenstandsbereiche konzentriert: auf die vermittelbaren, d.h. artikulierbaren Einstellungen und Verhaltensweisen, die gerade für das Verständnis literarischer Texte von besonderer Bedeutung sind. Beide Konzepte haben die neuere literarhistorische Forschung entscheidend geprägt, aber vornehmlich im Sinne einer inhaltlichen Umsetzung: entweder als Suche nach den Spuren bestimmter kollektiver Einstellungen in den Texten oder als Frage nach der sozialpsychologischen Aussagekraft sog. literarischer Lebensformen, d.h. thematischer Komplexe, die als Träger verborgener, gelegentlich auch verdrängter Sinnpotentiale gesehen und auf ihre untergründige Geschichte der sich wandelnden Einstellungen befragt werden. Der Rekurs sozialgeschichtlich orientierter Literarhistoriker auf die histoire des mentalités hat demnach nicht dazu geführt, daß die noch unbefriedigenden Hypothesen zu den gruppenpsychischen Hintergründen einer literarischen Verarbeitung gesellschaftlicher Prozesse nun durch Informationen über die im weitesten Sinne mentalités collectives der in Frage kommenden Gruppen konkretisiert und differenziert worden sind. Die Zuwendung zur französischen Mentalitätsforschung bedeutet vielmehr eine deutliche Verlagerung der literarhistorischen Interessen und damit einen thematischen Paradigmenwechsel. Denn während man sich bisher vornehmlich um die explizit gesellschaftsthematische Textebene bemüht und vor allem auf die mehr oder weniger deutlich formulierten Probleme von Herrschaft und Dienst, fürstlicher Regierungspraxis und adeliger Vasallität geachtet hat,

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Rolf Sprandel, Mentalitäten und Systeme. Neue Zugänge zur mittelalterlichen Geschichte. Stuttgart 1972. Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter. Frankfurt 1973. Vgl. die vorsichtig abwägende und perspektivenreiche Auseinandersetzung mit Dubys Geschichtskonzeption und methodischem Programm in dem Aufsatz: Die .Wirklichkeit' und das .Wissen*. Ein Blick auf das sozialgeschichtliche Œuvre von Georges Duby. In: HZ 232 (1981), S. 61-91.

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konzentriert sich nun der Blick auf die literarische Darstellung von .Gefühlen' in ihren institutionalisierten Konstellationen, auf Spuren verdrängten Bewußtseins. Sie werden als Indikator für Veränderungen in den verborgenen gruppentypischen Vorstellungsgeflechten einer Epoche betrachtet, als die Realität überschreitende utopische Formen der psychischen Bewältigung von Lebensproblemen oder als Imaginationen neuer emotionaler Möglichkeiten im Zusammenleben. Die methodischen und sachlichen Probleme dieses Vorgehens sind freilich unübersehbar. Denn bei der Analyse der explizit gesellschaftsthematischen Ebene der Texte war zumindest ein Vergleich der literarischen Darstellung mit den in historischen Quellen dokumentierten Sachverhalten möglich, so daß sich - etwa im Falle von Rechtsproblemen oder Fragen der sozialständischen Hierarchie - die spezifische - normenbestätigende, normendifferenzierende oder kritische - Leistung von Texten zwar mit hermeneutischen Schwierigkeiten, aber doch einigermaßen klar entschlüsseln ließ. Bei der Frage nach literarischen Formen der Bewältigung von Veränderungen in dem komplizierten System der emotionalen Dispositionen, Verhaltensnormen und Wirklichkeitsaneignung ist hingegen die Möglichkeit einer vergleichenden Kontrolle der dichterischen Darstellung an außerliterarisch dokumentierten affektiven Einstellungen und emotionalen Konstellationen erschwert, ja sogar ausgeschlossen, sobald es sich um die Rekonstruktion einer verborgenen Geschichte des Verdrängten handelt. Deshalb garantiert die Verlagerung des literarhistorischen Interesses von explizit gesellschaftlichen Themen auf sog. mentale Strukturen nicht jene seit der Diskussion der Prager Strukturalisten immer wieder erörterte Differenzierung des bislang vorherrschenden literatursoziologischen Konzepts einer eher unvermittelten Analogie bzw. Homologie von literarischen und gesellschaftlichen Fakten. Im Gegenteil, sie scheint sogar eher eine Phase einer methodisch noch unsicheren, vorgeblich sozialgeschichtlich orientierten Literaturbetrachtung einzuleiten. Ihr Ergebnis sind Analysen, die die Gefühlskonstellationen der literarischen Darstellung nachzeichnen, die Relikte einer verdeckten Geschichte der geheimen emotionalen Einstellungen aufspüren und in notwendigerweise zirkelhaften Spekulationen die programmatischen Entwürfe der Dichtung im Spannungsfeld von spontanen Reaktionen und normativer Fixierung vorstellen. Um hier methodische Klarheit zu gewinnen, ist es wichtig, die Implikationen einer Übernahme bzw. Weiterführung mentalitätshistorischer Fragestellungen präzise zu bestimmen und die Schwierigkeiten wie Möglichkeiten einer Zuwendung zur histoire des mentalités an verschiedenen literarischen Paradigmen zu erproben. Mit der höfischen Liebeslyrik des 12. und der dominikanischen Nonnenliteratur des 14. Jhs. wähle ich zwei in gattungstypischer, kulturhistorischer und funktionsgeschichtlicher Hinsicht extrem divergierende Textbereiche, um zumindest ansatzweise einen

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Eindruck von der methodischen Vielfalt der histoire des mentalités zu vermitteln und zugleich die jeweils sehr unterschiedlichen Voraussetzungen für die literarhistorische Argumentation zu verdeutlichen. Die französische und deutsche Liebeslyrik des 12. Jhs. bietet einer histoire des mentalités ein äußerst ambivalentes Bild. Als eine auf Repräsentation angelegte poésie formelle mit durchgehend rhetorisch strukturierten und seriell ablaufenden Sängeraussagen scheint sie sich zunächst jeder Frage nach den in ihr artikulierten représentations mentales zu entziehen. Gleichzeitig liefert sie aber möglicherweise vorzügliche Informationen für eine histoire des mentalités, die sich für die gruppenspezifischen Einstellungen zum anderen Geschlecht, zur Sexualität und Erotik, für die Verhaltensdispositionen und modelle in diesem Bereich und für die sich langsam verändernden kompliziert ineinandergeschobenen Systeme von Doktrin, Verhaltensmustern und spontan-elementaren Bedürfnissen interessiert. Denn diese Dichtung präsentiert - zumindest in dem Typus des Werbungslieds, des sog. grant chant courtois - in virtuos variierten Ich-Aussagen des Sängers über seinen aussichtslosen Dienst an einer höfischen Dame eine spezifische Liebeskonzeption, die Liebe als Dienst und Sehnsucht entwirft und dabei der Frau den Part der zurückhaltenden, abweisenden Liebesherrin, dem Mann die Rolle des selbstanalysierenden, seine Position im Spannungsfeld von Dame und höfischer Gesellschaft reflektierenden Dienenden zuweist. Mit dieser Dichtung existiert seit Beginn des 12. Jhs. eine literarische Vorstellung von weltlicher Liebe, die das nicht mehr nur negativ besetzte Liebesverlangen in Selbstreflexion und ein Erziehungsprogramm umsetzt. Auffallend und erklärungsbedürftig ist dabei die Konzeption des fin' amors, einer auf Unerfüllbarkeit des Begehrens ausgerichteten Liebe, die sich in Klagen des Sängers über die Aussichtslosigkeit seiner Bemühungen, in Selbstvorwürfen und Selbstzweifel, aber auch in aggressiver Polemik gegen die Härte der Dame äußert. Eine mentalitätsgeschichtlich orientierte Literaturbetrachtung wird in diesen Texten spezifische Antworten auf komplizierte gruppenpsychische Konstellationen sehen und deshalb zuerst nach Hinweisen auf verborgene mentalités collectives fragen, auf Formen der Triebsteuerung und -sublimierung, auf tiefsitzende Einstellungen zur Sexualität und zum anderen Geschlecht oder auf Vorstellungen vom Verhältnis Einzelperson - Gesellschaft, um danach die .verarbeitende', therapeutische und mentalitätsbildende Leistung der Texte zu ermitteln. Diese Fragen sind natürlich nicht neu. Sie sind in der Geschichte der Minnesangforschung immer wieder diskutiert worden, gewinnen nur in den letzten Jahren im Rahmen einer anvisierten histoire des mentalités eine neue Aktualität. So hat bereits im Jahre 1936 Norbert Elias22 der Liebeskonzeption der Trobadors wie auch den courtoi22

Norbert Elias, Uber den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde. (1936). Frankfurt 1976 (suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 158/159).

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sen Umgangsformen des mittelalterlichen Adels als frühen Beispielen einer gelungenen Affektsteuerung eine dominante Rolle in seiner zivilisationsgeschichtlichen Gesellschaftstheorie zugewiesen. Ihre Nähe zur histoire des mentalités ist erst sehr viel später gesehen worden. 23 Etwa zur gleichen Zeit, im Jahre 1939, beschäftigt sich Ignace Feuerlicht24 - zur Erklärung der affektiven Erhöhung der Dame im Minnesang - mit der spezifischen Sozialisation der adeligen Herren durch ihre Knappenerziehung. Sie habe bei den Betroffenen nicht nur eine schwärmerische Verehrung der Hofherrin, sondern - mit ihrem abrupten Wechsel von den Frauengemächern in die rauhe Männerwelt - auch eine besondere psychische Labilität bewirkt, die sich noch in der Poesie der erwachsenen Herren dokumentiere. Damit sind - wenn auch punktuell und noch nicht sehr reflektiert - bereits Fragen einer historischen Psychologie angesprochen, die dann in den 70er Jahren auf breiter Basis im Umkreis der von Lloyd deMause herausgegebenen Zeitschrift History of Childhood. Journal of Psychohistory25 diskutiert und in dem programmatischen Sammelband The History of Childhood zusammengestellt worden sind.26 Aber auch in dezidiert sozialhistorischen Arbeiten zur Trobadorlyrik waren immer zugleich auch Überlegungen zu den gruppenpsychischen Hintergründen präsent, etwa bei Erich Köhler,27 der die sexuellen Frustrationen des besitzlosen, an den Adelshöfen in reinen Männergruppen lebenden niederen Rittertums für das Insistieren der Sänger auf ihren sexuellen Wünschen verantwortlich macht. Inzwischen sind diese Fragenkomplexe wieder deutlicher in den Vordergrund des Interesses getreten: es wird verstärkt eine Art Krisenbewußtsein diagnostiziert, ein Ungenügen an den durch christliche Morallehre und Eherecht festgelegten Verhaltensformen 23

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In Frankreich erst im Jahre 1973 mit der französischen Übersetzung. Zu den positiven Stellungnahmen der Annales-Historiker François Furet und Emmanuel Le Roy Ladurie vgl. den Überblick bei Johan Goudsblom, Aufnahme und Kritik der Arbeiten von Norbert Elias in England, Deutschland, den Niederlanden und Frankreich. In: Materialien zu Norbert Elias' Zivilisationstheorie. Hg. von Peter Gleichmann, Johan Goudsblom und Hermann Körte. Frankfurt 1979 (suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 233), S. 17-100, hier S. 60 ff. Ignace Feuerlicht, Vom Ursprung der Minne (1939). In: Der provenzalische Minnesang. Ein Querschnitt durch die neuere Forschungsdiskussion. Hg. von Rudolf Baehr. Darmstadt 1967 (Wege der Forschung 6), S. 263-302. Diese im Jahre 1973 gegründete Zeitschrift, die mit dem 4. Band (1978/79) in The Journal of Psychohistory. A Quarterly Journal of Childhood and Psychohistory umbenannt wurde, war zunächst das öffentliche Diskussionsforum eines Projekts, das im Gegenzug gegen Ariès' Thesen zur Geschichte der Kindheit auf psychoanalytischer Basis historische Konkretisationen von Kindheit untersuchte und dabei zu ganz anderen Einschätzungen kam. (1974). Dt.: Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit. Hg. von Lloyd deMause. Frankfurt 1980 (suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 339). Erich Köhler, Die Rolle des niederen Rittertums bei der Entstehung der Trobadorlyrik (1964). In: E. K., Esprit und arkadische Freiheit. Aufsätze aus der Welt der Romania. Frankfurt 1972, S.9-27, hier S. 25.

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im Umgang der Geschlechter, eine Auflösung alter Rollenzuweisungen im sexuellen Bereich, die - zumal bei der häufig konstatierten psychischen Labilität und Unausgeglichenheit der adeligen Herren - die Herausbildung jener merkwürdigen Liebeskonzeption begünstigt habe. 28 Sie sei eine spezifische Angst-Reaktion einer durch selbstbewußtes Frauenverhalten verunsicherten Männergesellschaft, die den zivilisatorisch-triebregulierenden Ansprüchen und religiös motivierten Ausbruchsversuchen der Frauen mit einem anspruchsvoll-moralischen Liebeskonzept entgegentrete, das dem adeligen Herrn auf allen Ebenen eine Umkehr seiner bisherigen Lebenspraxis auferlege. Berühmtestes Fallbeispiel für diese sozialpsychologische Rekonstruktion der Entstehung des fin' ¿j/worr-Gedankens ist - schon seit Reto R. Bezzola29 - Wilhelm IX., der als machtgewohnt-jähzorniger Fürst auf den Rückzug adeliger Damen seiner engsten Umgebung in die religiöse Reformgemeinschaft von Fontevrault zunächst mit aggressiv-ausfalligen Liedern reagiert, dann aber - in ironischer Überbietung des Anspruchs religiös bewegter Damen - eine extreme Liebeskonzeption der obediensa und bumilitat entworfen habe. Die fin' a/worx-Konzeption der Trobadors und deutschen Minnesänger wird damit zum Paradebeispiel einer Rekonstruktion des komplizierten Geflechts von verborgenen Einstellungen, Verhaltensnormen und Veränderungen im Umgang des Adels zum anderen Geschlecht, von Individualbzw. Kollektivreaktionen auf eingreifende Schockerlebnisse und Bewältigungsversuchen sexueller Verunsicherung und Frustrationen, von heimlichen Männerphantasien und programmatischen Entwürfen eines courtoisen Verhaltens. Diese Einbindung der höfischen Liebe in ein psychohistorisches Spektrum von Sexualitätsvorstellungen, Sehnsucht nach freien Liebesbeziehungen und gesellschaftlichen Kodifizierungsversuchen ist jedoch nicht unproblematisch. Dabei geht es nicht um die Frage der Evidenz im Sinne einer richtigen oder falschen Rekonstruktion der psychohistorischen Dispositionen für das Interesse des Laienadels an einer solchen Liebesvorstellung. Vielmehr scheinen mir gerade im Falle der Minnelyrik praktisch sämtliche Voraussetzungen zu fehlen, die ihre Lokalisierung in einem Spannungsfeld von adeligen Ehezwängen, verdrängter Sexualität, männlicher Unsicherheit und ambivalenten Einstellungen zur Frau erlauben. Und zwar nicht nur wegen der prekären Quellenlage zur sensibilité einzelner Sozialgruppen im Mittelalter, die notwendigerweise zu einem zirkulären Verfahren der Rekon-

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Vgl. etwa Bernd Thum, Aufbruch und Verweigerung. Literatur und Geschichte am Oberrhein im hohen Mittelalter. Aspekte eines geschichtlichen Kulturraums. Waldkirch i. Br. 1979, S. 373 ff. oder das Nachwort von Helmut Brackert zu dem Band: Minnesang. Mittelhochdeutsche Texte mit Übertragungen und Anmerkungen. Hg., übersetzt und mit einem Anhang versehen von H.B. Frankfurt 1983 (Fischer Taschenbuch 6485), S. 270ff. Reto R. Bezzola, Guillaume IX et les origines de l'amour courtois. In: Romania 66 (1940/ 41) S. 145-237.

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struktion verborgener psychohistorischer Fakten aus der literarischen Darstellung führt. Entscheidender ist die grundsätzliche Frage nach der Angemessenheit einer sozialpsychologischen bzw. psychohistorischen Entzifferung der fin' amors- Konzeption im Kontext von Sexualitätsverhalten, verborgenen Ängsten und Identitätsproblemen des Adels. Denn die Suche nach verdeckten psychischen Dispositionen für die Produktion und Rezeption des grant cbant courtois setzt die Entscheidung voraus, daß die typenbestimmenden Sängerklagen über den aussichtslosen Dienst an einer abweisenden Dame und die damit verbundenen Vorstellungen einer Liebe als erotische Sehnsucht prinzipiell einer gruppenpsychologischen Interpretation zugänglich sind. Diese Prämisse ist jedoch ausgesprochen problematisch bei einem literarischen Typus, der bekanntlich gerade nicht das Psychogramm eines masochistisch-liebenden Sängers bietet, sondern in seriell ablaufenden Ich-Aussagen über den eigenen Zustand in anderen literarischen Bereichen bereits gängige, vor allem geistliche Postúlate einer Adelsethik zu einem spezifischen Liebesprogramm zusammenbindet. Jedenfalls weist in der Vitenliteratur die programmatische Figur des .Adelsheiligen' 30 vergleichbare Zuschreibungen einer Umkehrung normaler adeliger Verhaltensstandards auf. Sie hat bereits seit dem 8. Jh. ein neues geistliches Konzept von Adelsethisierung initiiert. Die Parallelen zum Rollenprogramm des Minnesängers sind besonders deutlich bei jenen Aspekten des fin' amors-Ideals, die sich einer psychohistorischen Interpretation geradezu anzubieten scheinen: dem Konzept von adeliger Unterwerfung, Dienstbereitschaft, humilitas und Ausharren im Leid, dem conversio-Gedanken des Vergleichens von ehemaliger Frivolität und jetzigem Leiden oder der Vorstellung einer tiefgreifenden Entfremdung zur Gesellschaft - alles Details eines in der geistlichen Literatur bereits breit ausgefacherten Programms einer ethischen Überhöhung des adeligen Lebens. Sie erfahren hier - in den Reflexionen des liebenden Sängers - eine charakteristische 30

Zum Typus des zuerst in merowingischen Viten des 7. Jahrhunderts auftretenden adeligen Heiligen, der in weltlichen Geschäften agiert, aber neue Nonnen setzt, vgl. Karl Bosl, Der .Adelsheilige'. Idealtypus und Wirklichkeit, Gesellschaft und Kultur im merowingerzeitlichen Bayern des 7. und 8. Jahrhunderts. Gesellschaftsgeschichtliche Beiträge zu den Viten der bayerischen Stammesheiligen Emmeram, Rupert, Korbinian. In: Spéculum Historiale. Geschichte im Spiegel von Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung. Hg. von Clemens Bauer, Laetitia Boehm, Max Müller. Freiburg, München 1965, S. 167-187; Friedrich Prinz, Frühes Mönchtum im Frankenreich. Kultur und Gesellschaft in Gallien, den Rheinlanden und Bayern am Beispiel der monastischen Entwicklung (4. bis 8. Jh.). München 1965; Joseph-Claude Poulin, L'idéal de sainteté dans l'Aquitaine carolingienne d'après les sources hagiographiques (750-950). Quebec 1975 (Travaux du laboratoire d'Histoire religieuse de l'Université Laval 1). Die weitere Entwicklung dieser Umkehrung adeliger Verhaltensstandards verfolgt Hagen Keller, ,Adelsheiliger' und Pauper Christi in Ekkeberts Vita sancti Haineradi. In: Adel und Kirche. Gerd Teilenbach zum 65. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern. Hg. von Josef Fleckenstein und Karl Schmid. Freiburg, Basel, Wien 1968, S. 307-324.

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Zuspitzung auf ein ambitioniertes Verhaltensprogramm im Rahmen weltlicher Liebe. Ein Ergebnis dieser kombinatorischen Transformation von geistlichen Legitimationsmustern in die Reflexionen des adeligen Sängers über seine Liebessehnsucht ist der grant chant courtois, ein spezifisches Liedgenre, das der Hofgesellschaft im institutionalisierten Rahmen eines rhetorisch-artifiziellen Liedvortrags auf der Basis etablierter geistlicher Deutungsangebote, aber im thematischen Bereich einer weltlichen Liebeskunst die Möglichkeit einer ambitionierten Selbstdarstellung bietet: als Protagonisten einer auf freiwilligem Dienst, Selbstüberwindung und Introspektion ausgerichteten höfischen Adelsethik. Bei diesem literarhistorischen bzw. ideologiegeschichtlichen Verständnis der fin' amors-Konzeption, das von einer Umsetzung geistlicher Modelle adeliger Selbstdarstellung in ein Liebesprogramm ausgeht, verschließen sich die Sängerreflexionen gegenüber mentalitätsgeschichtlichen Untersuchungen im Sinne einer sozialpsychologischen bzw. psychohistorischen Rekonstruktion verborgener Vorstellungsbereiche der Geschlechterbeziehungen. Damit ist jedoch nur ein bestimmter Bereich der histoire des mentalités ausgeblendet, nämlich das methodische Programm einer archäologischen Spurensuche nach dem Verborgenen, Verschwiegenen und Flüchtigen, für das sich - wie ich meine - der grant chant courtois wenig eignet. Sinnvoll scheint mir für den Literarhistoriker hingegen eine Kooperation mit der histoire des mentalités zu sein, sobald er das besondere Interesse des Adels an dieser Transformation geistlicher Legitimationsmuster in ein Liebesprogramm zu verstehen sucht. Denn damit sind Fragen des Zusammenwirkens von geistlichen Erziehungskonzepten und adeligen Vorstellungen von Liebe und Ehe angesprochen, die seit 1972 im Umkreis des AnnalesThemas Familles et société31 diskutiert worden sind. Hier bietet sich ein interdisziplinäres Gespräch vor allem mit Georges Duby 32 an, der in den Familienbeziehungen den entscheidenden Zugang zu den sich langsam wandelnden structures mentales der mittelalterlichen Adelsgesellschaft sieht. Denn er untersucht schon seit etwa 20 Jahren von den verschiedensten Seiten her die allmähliche Umstrukturierung des frühmittelalterlichen Familienverbands zur patrilinear geordneten Adelsfamilie des Hochmittelalters

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Dieses Oberthema ist in den folgenden Jahren in verschiedenen Ausdifferenzierungen weitergeführt worden: „Systèmes familiaux" (Bd. 32, 1977), „Généalogies et familles" oder „Les rituels de parentés" (Bd. 33, 1978); neuerdings sehr direkt auf unsere Frage bezogen: „Amour, mariage, parenté" (Bd. 36, 1981). Vgl. den frühen Aufsatz: Structures de parenté et noblesse dans la France du Nord aux XI e et XII e siècles (1967). In: G. D., Hommes et structures du moyen âge. Recueil d'articles. Paris, La Haye 1973 (Le savoir historique 1), S. 267-285, seine Hinweise auf die grundsätzliche Bedeutung dieses Themenkreises für seine Geschichtskonzeption in dem Gespräch mit Guy Lardreau (Anm. 17), S. 171 ff. und schließlich seine beiden Arbeiten zur Ehe im Mittelalter (Anm. 12).

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in ihren vielfaltigen Auswirkungen auf das ökonomische Verhalten des Adels, auf seine soziale Hierarchisierung, seine Heiratspraxis und die Stellung wie Einschätzung der Frau. Leider haben diese weitausgreifenden Familienstudien - abgesehen von der Arbeit über die Rolle der jeunes33 in der mittelalterlichen Adelsgesellschaft - in der Minnesang-Forschung bislang noch wenig Beachtung gefunden. Dubys eigene Überlegungen zur spezifischen Funktion der adeligen Liebesdichtung des 12. Jhs. im Spektrum von adeliger Lebensrealität und kirchlicher Propaganda sind zwar wenig hilfreich, da er selbst von sehr direkten thematischen Korrelationen zwischen dem Heiratsverhalten des Adels, seinen latenten Ängsten und den literarischen Verhaltensentwürfen ausgeht.34 Dennoch bietet sein FamilienProjekt, das diesen für die histoire des mentalités zentralen Themenbereich in aller Breite von prosopographischen Untersuchungen bis zu sozialpsychologischer Kommentierung eherechtlicher Diskussionen abschreitet, gerade dem Literarhistoriker eine Fülle an Informationen für eine funktionsgeschichtliche Betrachtung der Adelsliteratur. So zeichnen etwa seine neueren Arbeiten über die Ehe im Mittelalter, zumal das 1981 erschienene Werk Le chevalier, la femme et le prêtre eindrucksvoll die Stationen eines komplizierten, oft durch punktuelle politische Situationen gesteuerten und deshalb auch .inkonsequenten' Zusammenspiels unterschiedlicher Faktoren nach: ökonomisch-sozialen Veränderungen in den Adelsfamilien, eine neue Heiratspolitik, der wachsende Einfluß der Kirche auf familienrechtliche Probleme, programmatische Ehe-Vorstellungen der Geistlichen und ein verändertes Auftreten der Frauen im Familienkreis. Diese einzelnen Stränge können sich kaleidoskopartig und punktuell zu oft irritierend-divergierenden Ausdrucksformen verschiedener représentations mentales verbinden. Das zeigen jene im geistlichen wie weltlichen Bereich formulierten programmatischen Theorien über Liebe und Ehe, die den seit dem 11. Jh. sichtbaren Prozeß einer tiefgreifenden Veränderung der adeligen Familie begleiten. Im Rahmen dieser Überlegungen zu dem Zusammenwirken von adeliger Lebenspraxis und Ideologie verliert auch die fin' amors-Konzeption des grant chant courtois ihre merkwürdige Sonderstellung. Sie spielt mit ihrem Insistieren auf dem Dienstgedanken und der beklagten Aussichtslosigkeit des BemüGeorges Duby, Au XII e siècles: lesjeunts dans la société aristocratique. In: Annales E. S. C. 19 (1964), S. 835-846, vor allem durch Erich Köhler. Wie wenig allerdings Dubys historische Beispiele die von Köhler vorgestellte Gruppe des niederen Rittertums abdecken, zeigt Ursula Liebertz-Grün, Zur Soziologie des,amour courtois'. Umrisse der Forschung. Heidelberg 1977 (Beihefte zum Euphorion 10), S. 104-107. Vgl. etwa seine Ausführungen in dem 11. Kapitel von: Le chevalier, la femme et le prêtre (Anm. 12): frauenfeindliche Texte unterstützen den ökonomisch notwendigen Eheverzicht vieler Adelssöhne in der zweiten Hälfte des 12. Jhs., die Artusromane entwerfen hingegen den unverheirateten jeunes eine literarische Wunschwelt einer durch Heirat erzielten Herrschaft und die höfische Liebe ist schließlich ein für diese unverheirateten jemes bestimmtes Erziehungsmodell.

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hens eine provozierende, aber typenspezifische Vorstellung von den Möglichkeiten einer Mann-Frau-Konstellation, in allerdings extremer Zuspitzung, durch und unterstreicht dabei vor allem die Wirkungsmächtigkeit geistlicher Verhaltenslehren. Sie werden von der adeligen Hofgesellschaft nicht nur mehr oder weniger bereitwillig akzeptiert, sondern sogar in ein Liebeskonzept integriert, das dem Gedanken weltlicher Liebe wie auch dem adeligen Herrn einen höchsten moralischen Anspruch zuweist. Einzelheiten dieses Komplexes von adeliger Lebensrealität, kirchlicher Ehelehre, geistlichen Verhaltensnormen und dichterischen Imaginationen höfischer Liebe bedürfen noch einer genaueren Analyse. Beste Voraussetzungen findet aber der Literarhistoriker bei einer histoire des mentalités, die mit ihrem Schwerpunkt Familles et parentés neben den materiellen Fakten der Veränderung adeligen Heiratsverhaltens und den theoretischen Positionen des Eherechts von vornherein die zentrale Zwischenschicht adeliger Ideologiebildung mitberücksichtigt. Etwas anders sind die literarhistorischen Probleme im Falle der sog. Frauenmystik des 14. Jhs. gelagert, jenes Corpus von Vitentexten, die in süddeutschen Dominikanerinnenkonventen entstanden sind und in Form einzelpersönlicher Viten ausführlich das begnadete Leben einer herausragenden Schwester vorstellen oder in einer Sammlung von Kurzviten verstorbener und noch lebender Schwestern über die aszetische und spirituelle Atmosphäre eines gesamten Konvents informieren.35 Diese Texte, die in der Regel auf eigenhändige Aufzeichnungen einzelner Schwestern zurückgehen, differieren hinsichtlich ihrer Entstehung: die Vitensammlungen sind in einem langen Entstehungsprozeß von den Schwestern selbst zusammengestellt worden, die einzelpersönlichen Gnaden-Viten hingegen verdanken sich einer produktiven Zusammenarbeit der Schwestern mit ihren Beichtvätern. Sie regen nicht nur die Niederschrift der Gnadenerlebnisse an, sondern fungieren auch als vertraute Schreiber, Redaktoren und Autoren der Gnadenviten. Beide Texttypen vermitteln mit ihren detaillierten Angaben über die Gebetspraxis, die asketischen Übungen, Visionen und göttlichen Gnaden, über die literarischen Interessen und Kontakte der Schwestern ein sehr eindringliches Bild von einigen literarisch aktiven, mit den berühmtesten Mystikern und den neuesten geistlichen Texten vertrauten Konventen, die bei ihren Mitgliedern eine anspruchsvolle, selbständige Spiritualität und ein spezifisches Selbstbewußtsein in den Rollenzuweisungen als heilige Mittlerinnen zwischen Gott und der Christenheit ermöglichen. Bis vor kurzem dominierte allerdings in der Forschung weniger ein theologisches oder literarhistorisches Interesse an diesen Texten, sondern 35

Zur Information über diese Textgruppe und die damit verbundenen literarhistorischen Probleme vgl. Siegfried Ringler, Viten- und Offenbarungsliteratur in Frauenklöstern des Mittelalters. Quellen und Studien. Zürich und München 1980 (MTU 72).

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ein kulturhistorisches bzw. sozialpsychologisches Verständnis. Man sah in ihnen theologisch bedenkliche und literarisch anspruchslose Dokumente einer unkontrollierten, trivialisierenden, ja sogar pathologischen Rezeption dominikanischer Lehrtätigkeit. 36 Als Ergebnis der kirchlichen Institutionalisierung der religiösen Frauenbewegung seien zahlreiche Dominikanerinnenkonvente entstanden, in denen theologisch interessierte, aber nur wenig ausgebildete Frauen gelebt hätten. Ihre gebremsten gesellschaftlichen Aktivitäten, ihre in die Klosterdisziplin gezwungenen religiösen Bedürfnisse und sexuellen Frustrationen hätten einen forcierten Rückzug in die abgeschlossene Welt der asketischen Übungen, Visionen und sehr direkten Vereinigung mit dem göttlichen Bräutigam begünstigt. Und auch neuere feministische Arbeiten knüpfen an diese Forschungstradition an, wenn hier der kreatürlich-sinnliche Umgang der Dominikanerinnen mit dem göttlichen Partner als ein bewußter Ausbruch der Frauen aus den Fesseln einer von Männern dominierten Theologie und als ein sehr dezidiertes Programm einer spezifisch weiblichen, sinnlichen Erfahrungsmöglichkeit betrachtet wird. 37 Erst neuerdings wird stärker der beherrschende hagiographische Impetus betont, der für jene den modernen Leser irritierenden Textmerkmale verantwortlich sei: 38 für den ruhig-distanzierten, stilistisch anspruchslosen Berichtsstil des legendarischen Erzählens, der auf ausgesuchte Formulierungen verzichtet, sondern in stereotyp-repetierend einsetzenden Abschnitten exemplarische Fakten eines zunehmend heiligmäßigen Lebens aneinanderreiht. Hagiographischen Mustern folgt auch der inhaltliche Ablauf dieses Lebens der asketischen Übungen und göttlichen Wunder. Seine Realisierung

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Diese Einschätzung, die auch noch die neueren Arbeiten zur Frauenmystik bestimmt, beruht auf dem Gegensatzpaar von cogiitio intelUctualis und cognitio experitntalis und entsprechend von spekulativer und praktischer Mystik, wobei den Dominikanerinnen der Part einer naiven Umsetzung der anspruchsvollen, z. T. unverstandenen Lehren der dominikanischen Prediger in ein spirituelles Leben der Askese, Entrückung und Sehnsucht nach einer mehr oder weniger konkret vorgestellten ttnio mystica zugewiesen wird. Vgl. dazu die forschungskritischen Überlegungen bei Ringler (Anm. 35), S. 7 ff. Am dezidiertesten in dem bislang noch unveröffentlichten Vortrag von Margret Bäuerle und Lucie Braun, Weibliches Schreiben? Frauenmystische Texte des Spätmittelalters, der jedoch in überarbeiteter Form im Rahmen einer Geschichte der schreibenden Frauen im Metzler Verlag erscheinen wird. Diese Sicht beruht allerdings auf einer nicht unproblematischen, weil unhistorischen und verzerrten Bewertung jener .erotischen' Bildsprache Mechthilds von Magdeburg wie auch der Kind-Jesu-Visionen, Schwangerschaftssymptome oder detailrcalistischen unio-Vorstellungen der Dominikanerinnen, deren eigenständig theologischen Anspruch eines Insistierens auf der Inkarnation Christi kürzlich zurecht Alois M. Haas, Traum und Traumvision in der deutschen Mystik. In: Spätmittelalterliche geistliche Literatur in der Nationalsprache. Bd. 1. Salzburg 1983 (Analecta Cartusiana 106), S. 22-55, hier S. 51 ff., betont hat. Vor allem durch Ringler (Anm. 35), der das „legendarische Erzählen" ins Zentrum seiner gattungsgeschichtlichen Überlegungen stellt (S. 336 ff.).

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in Phasen der Gottesferne und verstärkten Wunder, der Krankheiten und Entrückung beruht auf traditionell hagiographischen Motiven und Themen, die in einer charakteristischen Zuspitzung zu einem Gnaden-Leben verarbeitet worden sind. Diese literarhistorische Einbindung der dominikanischen Nonnenliteratur des 14.Jhs. in die literarische Viten-Tradition ist eine entscheidende Voraussetzung für ein adäquates literarhistorisches Verständnis dieser Texte: denn dadurch konzentriert sich das Interesse nicht mehr in erster Linie auf die Authentizität des berichteten Gnadenlebens und seine möglichen psychohistorischen Hintergründe, sondern auf die Intentionen der Biographen, und d. h. auf die potentielle Gebrauchsfunktion der Vitentexte. Damit ist eine methodische Neuorientierung verbunden, die im Bereich der modernen Hagiographieforschung seit einigen Jahren mit großem Erfolg mit Fragestellungen der histoire des mentalités kombiniert worden ist. Denn gerade hagiographische Texte bieten sich einer Erforschung des Kollektivbewußtseins an, sobald man sich weniger auf die Person des Heiligen als auf das in den Texten vermittelte Konzept von Heiligkeit konzentriert. Und tatsächlich ist die Heiligkeit in ihrer prekären Zwischenstellung als Produkt der kollektiven Vorstellungen der Gläubigen wie der speziellen Interessen der Hagiographen zum Ausgangspunkt und zentralen Gegenstand einer von Georges Duby immer wieder geforderten Erforschung der Rolle des Imaginären in der mittelalterlichen Gesellschaft geworden.39 Grundlegend ist dabei - im Anschluß an Pierre Delooz' religionssoziologische Arbeiten40 - die Unterscheidung von saint réel und saint construit, von sainteté vécue und sainteté imaginée. Sie bietet die Voraussetzung für den Versuch einer Rekonstruktion einer Geschichte der sainteté imaginée in ihrer Bedeutung als Indikator für Veränderungen im religiösen Kollektivbewußtsein. Dabei unterscheidet etwa André Vauchez in seiner Arbeit über den Wandel der Vorstellungen von Heiligkeit vom 13. bis 15. Jh. im Sinne von Braudels und Dubys Schichtenmodell einer durée longue und durée courte zwei Ebenen: eine Grundschicht an epochenspezifischen religiösen représentations und images mentales, die sich im Laufe der Jahrhunderte nur unmerklich ändere, und ein hierarchisches System religiöser Vor-

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Vgl. die Überlegungen von Poulin (Anm. 30) und Wilhelm Pohlkamp, Hagiographische Texte als Zeugnisse einer .histoire de la sainteté'. Bericht über ein Buch zum Heiligkeitsideal im karolingischen Aquitanien. In: Frühmittelalterliche Studien 11 (1977), S. 229-240, der am Beispiel der Arbeit von Poulin - den methodischen Gewinn einer in die histoire des mentalités integrierten Hagiographieforschung herausstellt. Ebenso auch André Vauchez, La sainteté en Occident au* derniers siècles du moyen âge d'après les procès de canonisation et les documents hagiographiques. Rom 1981 (Bibliothèque des Ecoles Françaises d'Athènes et de Rome 241) und Donald Weinstein, Rudolph M. Bell, Saints and Society. The Two Worlds of Western Christendom, 1000-1700. Chicago, London 1982. Pierre Delooz, Sociologie et canonisations. Préface de Gabriel Le Bras. La Haye 1969 (Collection Scientifique de la Faculté de Droit de l'Université de Liège 30), S. 7.

Literaturgeschichte als Mentalitätsgeschichte?

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Stellungen an der Oberfläche, das relativ direkt dem Einfluß kultureller Strömungen, theologischer Reflexion und politischen Erfordernissen unterliege und entsprechend deutliche, gelegentlich sogar abrupte Veränderungen aufweise. 41 Auf dieser Ebene ließen sich dann auch differierende Heiligkeitskonzepte, etwa die des ,Adelsheiligen', der asketischen Mystikerin oder des intellektuellen Theologen, herauslösen und in ihrer gesellschaftsgeschichtlichen Relevanz als eine spezifische Reaktion auf politischkulturelle Veränderungen, als Faktoren eines spirituellen Konzepts und als ein charakteristischer Ausdruck sich wandelnder kollektiver religiöser Bedürfnisse analysieren. Unter dieser Perspektive verliert auch die Vitenliteratur der süddeutschen Dominikanerinnen des 14. Jhs. ihren Sonderstatus als spezielle Form einer trivialisierend-konkretisierenden Realisierung dominikanischer Predigttätigkeit, die auf spezifischen individual- bzw. gruppenpsychischen Dispositionen der Nonnen beruhe. Vielmehr gehören die Nonnenbücher, vor allem aber die einzelpersönlichen Gnaden-Viten der Christine Ebner, Adelheid Langmann oder Margarete Ebner zu jenem - besonders auf Frauen ausgerichteten - Typus von Aufzeichnungen eines spirituellen Lebens der Askese, Krankheit, Entrückung und des göttlichen Gnadenverkehrs, der im 13. Jh. mit den Lebensbeschreibungen brabantischer Frauen einsetzt und im 14./15. Jh. vornehmlich in Italien weite Verbreitung findet. Sie vertreten im breiten Spektrum von Heiligkeitsvorstellungen eine sehr charakteristische Variante: ein auf die Betrachtung des Leidens Christi und die innere conversio des Herzens ausgerichtetes zurückgezogenes Leben zunehmender göttlicher Begnadigung, an dem nur wenige auserwählte Personen teilhaben. Während aber in den lateinischen Texten des brabantischen und italienischen Raums die verschiedensten Möglichkeiten eines spirituellen Frauenlebens als Begine, Zisterzienserin, Klarissin oder Terziarin durchgespielt werden,42 konzentrieren sich die volkssprachigen Gnaden-Viten des deutschen Raums auf das geregelte Leben von Dominikanerinnen. Sie vermitteln mit ihren strengen Übungen des Gebets, der körperlichen Askese und Buße, ihrer strikten Klausur und ihren Beispielen des Gehorsams zugleich Modelle dominikanischen Zusammenlebens, die im 15. Jh. in den Auseinandersetzungen um die Ordensreform zu zentralen Diskussionspunkten werden.

" Vauchez (Anm. 39), S. 625-629. Zu dem im 13. Jh. im brabantisch-Lutticher Raum und in Italien gepflegten Typus der ,Mystiker'-Vita vgl. vor alleni Simone Roisin, L'hagiographie cistercienne dans le diocèse de Liège au XlII'siècle. Louvain, Bruxelles 1947 (Université de Louvain. Recueil de Travaux d'Histoire et de Philologie 3 e série, 27 e fase.) und A. Mens, L'Ombrie italienne et l'Ombrie brabançonne. Deux courants religieux parallèles d'inspiration commune. Paris 1967 (Etudes franciscaines N. S. XVII, Supplément annuel).

42

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Jedenfalls bietet das von Vertretern einer histoire des mentalités anvisierte Programm einer sociologie de la spiritualité occidentale gute Voraussetzungen für ein der inhaltlichen Stereotypie und kollektiven Entstehung dieser Texte angemessenes Verständnis der deutschen Nonnenliteratur des 14. Jhs. Sie gilt dann nicht mehr vornehmlich als Zeugnis einer vorbildlich gelebten Spiritualität, sondern wird in ihrer konzeptuellen Bedeutung der Vermittlung von Heiligkeitsvorstellungen, von spirituellen Programmen und ordensreformatorischen Postulaten gesehen. Sehr gut ließe sich das an der reichen Literaturproduktion zeigen, die im 14. Jh. in dem Dominikanerinnenkonvent Engelthal im Umkreis Christine Ebners entstanden ist:43 Christines Engelthaler Schwesternbuch, die Aufzeichnungen ihrer Offenbarungen der Jahre 1344—52, die GnadenLeben des Kaplans Friedrich Sunder, Christine Ebners und Adelheid Langmanns und schließlich die fragmentarische Vita der Schwester Gertrud. Diese Vielfalt an Texten, die untereinander enge literarische Verbindungen, z. T. sogar wörtliche Übereinstimmungen aufweisen, geben einen Eindruck von dem regen literarischen Leben in diesem Konvent. Zugleich vermitteln diese verschiedenen Texte sehr differierende Vorstellungen eines heiligmäßigen Lebens mit typenspezifischen inhaltlichen Ausprägungen. Das Leben des Kaplans Friedrich Sünder ist entschieden auf Gnadenerlebnisse im Umkreis seiner Messehandlungen konzentriert, Adelheid Langmann erfährt ihre Gnaden in einer Folge von Lehrgesprächen und Christine Ebner bietet in dem Revelationen-Text das Bild einer selbstbewußten, literarisch aktiven, innerhalb wie außerhalb des Klosters geachteten Visionärin, an die sich bedeutende Persönlichkeiten wenden. In ihrem umfangreichen Lebensbericht hat sie jedoch eher die Rolle einer ihren einsamen geistlichen Übungen gewidmeten Schwester, die sich dem Konventsleben möglichst entzieht, umso intensivere Kontakte mit ihren Beichtvätern pflegt, die sich um die Niederschrift ihrer Gnadenerlebnisse kümmern. Jeder Text präsentiert demnach einen besonderen saint construit, einen konstruierten Heiligen, dessen sainteté imaginée sich im wesentlichen aus traditionellen, auf einen bestimmten Heiligentypus zugespitzten Elementen zusammensetzt. Gemeinsam ist freilich allen Texten ihre Zugehörigkeit zu jenem Konzept einer asketisch-mystischen Heiligkeit, das sich seit der Mitte des 14. Jhs. vehement durchsetzt: im Rückgriff auf Vorstellungen des 13. Jhs. stellt es eine auf humilitas, poenitentia und meditatio gegründete, sehr persönliche und zugleich elitäre Form der Gotteserfahrung vor. Die Engelthaler Literatur setzt zwar mit ihren literarischen Beziehungen zu anderen deutschen Texten eigene Akzente. Aber dennoch ist auch sie mit ihren verschiedenen Gnaden-Viten an jenem überregionalen Prozeß der Spiritualisierung und Zirkelbildung

43

Ein eindrucksvolles Bild von Engelthal als eines literarischen Zentrums im 14. J h . vermittelt Ringler (Anm. 35), S. 370 ff.

Literaturgeschichte als Mentalitätsgeschichte?

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des geistlichen Lebens beteiligt, der neue Modelle eines heiligmäßigen Lebens und neue Formen der Frömmigkeit hervorgebracht hat. Die spezifische Ausdifferenzierung dieser übergreifenden Entwicklung in regional sehr unterschiedliche literarische Formen der Hagiographie wäre dann das Aufgabenfeld einer literarhistorischen Forschung, die den Fragestellungen und Methoden der histoire des mentalités aufgeschlossen ist. Sie müßte am Beispiel der dominikanischen Vitenliteratur des 14. Jhs. die komplizierte Wechselbeziehung von literarischen Traditionen, kirchen- bzw. ordenspolitischen Entwicklungen und sich wandelnden religiösen Bedürfnissen der Gläubigen analysieren. Die höfische Liebeslyrik des 12. und die dominikanische Nonnenliteratur des 14. Jhs.: zwei unterschiedliche Texttypen und doch sind die Ergebnisse unserer Diskussion über die Möglichkeiten einer Applikation mentalitätsgeschichtlicher Fragestellungen vergleichbar. Denn in beiden Fällen wäre die von Vertretern der histoire des mentalités propagierte Suche nach verborgen-unbewußten gruppenpsychischen Vorstellungsgeflechten eher ein literarhistorischer Rückschritt in ein psychologisierendes Verständnis literarischer Themen. Die fin' amors-Konzeption der Trobadors wie die Gnaden-Leben der Dominikanerinnen bieten programmatische Verhaltenskonzepte und damit zwar eindringliche Informationen über gruppenspezifische Vorstellungen eines vorbildlichen Lebens, jedoch in ihren einzelnen literarischen Motiven und Themen keine psychohistorischen Zeichen, die Auskunft über die verborgenen Einstellungen und psychischen Bewältigungsstrategien des mittelalterlichen Adels bzw. der süddeutschen Dominikanerinnen geben. Der Literarhistoriker ist deshalb auf andere Formen einer Zusammenarbeit mit der histoire des mentalités angewiesen. Die Voraussetzungen dazu sind allerdings - schon aufgrund der Forschungslage - sehr verschieden. Der Minnesang-Forscher betritt im wesentlichen methodisches Neuland. Er muß erst Klarheit über die methodischen Implikationen einer Auseinandersetzung mit den von der histoire des mentalités erarbeiteten Fragen und Themenbereichen gewinnen, zumal er sich auf deren Überlegungen zur besonderen Aussagekraft der literarischen Texte nicht verlassen kann. Er wird - wie ich meine - besonders erfolgreich sein, wenn er an die aus dem Annales-Thema Familles et parentés erwachsenen Arbeiten zu dem Nebeneinander und Ineinandergreifen von adeliger Lebenspraxis, geistlichen Verhaltensnormen, kirchlichen Einflußmöglichkeiten und adeligen Ideologieentwürfen anknüpft, um auf dieser Basis den programmatischen Status des fin' a/worr-Gedankens zu profilieren. Im Gegensatz zu dieser im Bereich der Minnesangforschung noch offenen Diskussion hat im Falle der dominikanischen Nonnenviten des 14. Jhs. die neuere Hagiographieforschung bereits mit ihrer Unterscheidung von condition véritable und représentations mentales ein gutes Instrumentarium für die Erforschung der in die literarischen Texte eingegangenen und mit ihnen vermittelten kollektiven images spirituelles erarbeitet. Hier bedeutet die Frage der histoire des mentalités

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nach den in die Texte eingeschriebenen Heiligkeitskonzepten eine Befreiung aus den eingefahrenen Bahnen einer unhistorischen Rekonstruktion und eröffnet eine neue Einschätzung dieses Literaturtyps als Produkt und Initiator kollektiver religiöser Vorstellungen.

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(Köthel/Stormarn)

Ältere deutsche Literatur und Psychoanalyse Übersicht I.

Einleitung 1. Überhaupt eine Psychologie in der Altgermanistik? 2. Neuere Literaturwissenschaft und Psychoanalyse: Diskussionsstand 3. - warum nicht vergleichbar in der Altgermanistik? II. Einwände gegen die Psychoanalyse in der Altgermanistik 1. - zunächst noch: gegen sie in der Literaturwissenschaft allgemein Dilettantismus Reduktionismus 2. Besonderheit des Verhältnisses Altgermanistik: Psychoanalyse 3. Spezifische Einwände gegen Psychoanalyse in der Altgermanistik: Psychoanalyse hätte es mit den „Archetypen der Kleinfamilie" zu tun; sie sei eine Individualpsychologie, aber im Mittelalter gab es kein Individuum III. Bedenken theoretisch-methodologischer Art 1. Die Richtigkeit der Psychoanalyse ermitteln oder bestreiten? 2. Zerrformen der Anwendung von Psychoanalyse in der Altgermanistik IV. Ansatzpunkte für Psychoanalyse bei der Untersuchung mittelalterlicher Literatur 1. „Alterität" der mittelalterlichen Literatur 2. Der Mythos des Helden (hero pattern) 3. Märtyrer- und Heiligenlegende 4. „Schicksalsroman" und ,,-novelle" 5. Psychoanalyse und Schemaliteratur 6. Mehrstufigkeit des Untersuchungsverfahrens V. Untersuchung von Renaissanceliteratur 1. Unterschiedliche Tendenzen in der Epik 2. Neue Kleinformen der Erzählung 3. Sexuelle Motive 4. Forderungen VI. Fragestellungen im einzelnen 1. Witztheorie 2. Obszönität in der älteren Literatur

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3. 4. 5. 6.

Einzelprobleme Motivforschung Produktions- und Rezeptionsbedingungen Linguistik des Obszönen

Bei der Erforschung älterer deutscher Literatur wie überhaupt in der Mediävistik haben die Wissenschaftler zu keiner Zeit auf die Anwendung psychologischer Kategorien verzichtet, etwa wenn Textinterpretation, Dichtungsgeschichte oder kulturhistorische Analysen gefordert waren. Zu unserer Zeit wurde, nicht zuletzt gerade gegen die Altgermanistik, der Vorwurf des „Fachidiotismus" erhoben; in früherer nahmen die Altgermanisten zuweilen nicht Anstand, immer wieder einmal im Handumdrehen als Spezialisten anderer Fächer, darunter der Seelenkunde, aufzutreten. So etwa schricb K a r l W c i n h o l d in seinem B u c h „ D i e d e u t s c h e n F r a u e n in d e m

Mittelalter": „Langsam wie die Muschel erschließt sich das Herz der deutschen Jungfrau, um dem geliebten Manne die Perle treuer, unendlich beglückender Weiblichkeit zu spenden. Das echte deutsche Mädchen sieht in ihm nicht das männliche Wesen, nicht den Vergnüger und Ernährer, sondern den Freund, den Vertrauten, den treuen Gefährten in Freud und Leid diesseits und jenseits des Grabes. Die deutsche Liebe ist unvergänglich und hofft die Unsterblichkeit; die undeutsche entsteht und vergeht mit der Stunde des Rausches, und ihr graut vor längerem Leben als in einer Spanne Zeit. Die deutsche Liebe ist fromm und kindlich wie Gretchen, die undeutsche ist wie die Semiramis der Sage."1 Sätze, die sich unter mehrerlei Aspekt auswerten ließen: .Fachsprache der Germanistik im 19. Jahrhundert';,Wissenschaftssprache und Metaphorik'; wohl auch, aus dem Abstand von drei bis vier Menschenaltern, unter dem Aspekt der unfreiwilligen Komik. Ich zitiere in anderer Absicht. Mir geht es um den Beweis, wenn er denn nötig wäre, daß Mediävistik sich einst ungescheut als Psychologie zu gerieren vermochte. Vor erst einem Menschenalter schrieb ein Mediävist des 20. Jahrhunderts, E. R. Curtius, folgende Sätze: „Derselben Zeit (um 1150) entstammt ein achtzig Strophen umfassendes lateinisches Gedicht - das ,Liebeskonzil von Remiremont' - , das uns von den erotischen Orgien eines lothringischen Nonnenklosters eine zynische Beschreibung gibt: es ist die Freigeisterei der Leidenschaft. Die sittlichen Normen des Christentums werden naiv-schamlos mit Füßen getreten."2 Wiederum: Ich möchte nicht auf den Inhalt der Behauptung eingehen, nicht die Frage stellen, ob der von Curtius herangezogene Text wirklich eine - noch dazu „zynische" „Beschreibung" von „erotischen Orgien" gebe (und nicht vielmehr genau das, was wir heute eine „Theoriediskussion" nennen würden), sondern 1 2

Bd. 1, 2 Wien 1882, S. 229; Hervorhebung von mir (W.B.) Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 4 Bern etc. 1963, S. 132.

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darauf verweisen, daß der Verfasser nicht zu knapp auf psychologische Termini zurückgriff („erotisch", „Orgie", „Leidenschaft", „schamlos", „naiv"). Jeder Altgermanist gerät ständig an Aufsätze und Monographien, in deren Titeln Begriffe begegnen wie „Charakter", „Schuld", „Sühne", „Wahn", „Liebe", „Minne", „Ehe", „Treue". Weiterhin muß er bei der Befassung mit älterer deutscher Dichtung auch solche Motive registrieren, die, obzwar vielfach noch in einer Zone sozialer Toleranz angesiedelt, hineinreichen in bedenklichere, z.T. mit juridischen Sanktionen belegte Gebiete: voreheliche Liebe, Ehebruch, Notzucht, Kuppelei, Brautraub, Prostitution; wohinter denn endlich eine (dritte) Zone bedenklichster Erscheinungen sichtbar wird: „obszöner", gar „perverser" Motive, bei deren Notifizierung die Literaturgeschichtsschreibung hierzulande, bis hin zu de Boors und Newalds bekanntem Werk, traditionell vermittels einer reichhaltigen, nochmals psychologisierenden Lexik reagiert, die, nebst mindestens hundert vergleichbaren Lexemen, die von Curtius benutzten enthält oder solche wie „gröbste Roheiten", „Unflat" (aufgelesen aus Rupprichs Beitrag zu der schon erwähnten Literaturgeschichte3). Mithin: benötigte man, tatsächlich oder vermeintlich, in der Forschung oder Historiographie, beschreibend oder bewertend psychologische Begrifflichkeit, so zögerte man nicht, sie heranzuziehen. Jedoch blieb es in aller Regel, wie nicht zuletzt jene Lexik der empörten Distanzierung indiziert, bei der soeben von Wucherpfennig kritisierten „unreflektierten Verwendung von Alltagspsychologie" 4 . Ein Mangel, derti bereits Ende der sechziger Jahre ein Romanist, der über die Obszönität in den altfranzösischen Fabliaux arbeitete, abzuhelfen versuchte, indem er sich, gegen die Konvention auch seiner Disziplin, an der modernen Sexualwissenschaft orientierte.5 Wenig später trat hierzulande im Gefolge der Studentenbewegung und der von ihr geförderten „Methodendiskussion", eigentlich einer „Theoriediskussion", die ihren Ausgang bei der Kritik der „werkimmanenten Literaturinterpretation" nahm, in der neueren Literaturwissenschaft eine neue Lage ein. Es ergab sich damals, daß - merkwürdigerweise zu demselben Zeitpunkt, als im Fachgespräch der Psychologen „Die Krise der Psychoanalyse"

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Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock, 2. T.: Das Zeitalter der Reformation 1520-1570 ( = de Boor/Newald, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfangen bis zur Gegenwart, Bd. 4/2), München 1973, S. 172. Dilettantisches Reduzieren? Für eine sozialpsychologische Literaturerklärung, in: Literaturpsychologische Studien und Analysen, hg. von W. Schönau ( = Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Bd. 17), Amsterdam 1983, S. 15-39; hier S. 17. Wolf-Dieter Stempel. Mittelalterliche Obszönität als literarästhetisches Problem, in: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, hg. von H.R. Jauß, München 1968, S. 187-205.

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heftig diskutiert wurde 6 - die psychoanalytische Theorie, zunächst vereinzelt, seither verstärkt, für die Dichtungsinterpretation in Aufnahme kam. Diese Aneignung der Psychoanalyse vollzog sich in unterschiedlichen Phasen: eine erste war durch die Herausgabe von Readern gekennzeichnet (mit z. T. Materialien aus der Frühzeit der Psychoanalyse, aus den Anfangen der Begegnung von Psychoanalyse und Literaturwissenschaft sowie aus dem angloamerikanischen und französischen Bereich 7 ); es folgte ein Abschnitt, worin der Streit um die Möglichkeit der Anwendung von Psychoanalyse bei der Literaturinterpretation überwog; inzwischen scheint eine neue Phase erreicht zu sein, als deren Merkmale hervortreten: umsichtige Perfektionierung psychoanalytisch fundierter Untersuchungsmethodik (beispielshalber: Carl Pietzcker, „Einführung in die Psychoanalyse des literarischen Kunstwerks", 19838), groß angelegte literarhistorische Darstellung auf Grundlage der Psychoanalyse (Beispiel: Wolf Wucherpfennig, „Kindheitskult und Irrationalismus in der Literatur um 1900", 19809) sowie die Bemühungen, Ergebnisse psychoanalytischer Literaturforschung für den Deutschunterricht fruchtbar zu machen 10 . Scheut man das Risiko nicht — der Vorwurf schrecklicher Vereinfachung liegt allzu nahe - so ließe sich mit aller Behutsamkeit der zur Zeit erreichte Stand in der neueren Literaturwissenschaft vermöge einiger Kriterien umreißen. Ein Überblick ergibt m. E. die Prävalenz der folgenden Tendenzen: - als bei der Dichtungsinterpretation am besten brauchbare wissenschaftliche Psychologie, nach Prüfung vieler Einwände, dennoch die Psychoanalyse Freuds und seiner Schule zu rezipieren; - die Frage, ob die Heranziehung der Psychoanalyse bei der Dichtungsinterpretation akzessorisch oder obligatorisch sein solle, im letzteren Sinne zu beantworten; - die Psychoanalyse des literarischen Werks nicht von vornherein auf einzelne Bestandteile davon einzuengen, vielmehr auf die Gesamtheit seiner inhaltlichen und formalen Aspekte auszudehnen; 6

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8 9 10

Titel eines Aufsatzes von Erich Fromm, in: ders., Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie, ^Frankfurt/M. 1971, S. 193-228 (zuerst 1970). Zur Gesamtorientierung und wegen der einzelnen Titel: Hans-Sievert Hansen, Forschungsbericht: Neuere deutsche Beiträge zur psychoanalytischen Literaturbetrachtung (1971-1976), in: Lit. i. Wiss. u. Unterr. 11 (1978), H. 2, S. 97-117. (Vollständiger Titel:) . . . am Beispiel von Jean Pauls „Rede des toten Christus", Würzburg. (Vollständiger Titel:) . . . Friedrich Huch und seine Zeit, München DU 34 (Okt. 1982), H. 5: Psychoanalyse und Literatur; hierin Überlegungen von Schönau, Psychoanalyse im Literatur-Unterricht?, S. 5-20; ein Unterrichtsversuch von Frank, Einführung in psychoanalytische Literaturbetrachtung, S. 24-38 u.a.; Rainer Werner, Stundenblätter/Psychoanalyse und Literatur: Exemplarische Analysen für die Sekundarstufe II, Stuttgart 1983; diesen Bemühungen um etwa ein Jahrzehnt voraus war Hans-Sievert Hansen mit seinem Band: Einführung in die psychoanalytische Literaturbetrachtung ( = studien/seminarberichte aus dem IPTS, Nr. 17), Kiel 1974.

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- die Psychoanalyse des literarischen Werks nicht als Alternative zur sozialgeschichtlichen Betrachtung auszugeben, schon gar nicht als deren Ersatz, sondern jene mit dieser zu verbinden (u.a. deshalb die Erforderlichkeit eines mehrstufigen Untersuchungsverfahrens 11 ). In der Altgermanistik ist kein ähnlich starker Wandlungsprozeß konstatierbar. Zwar entstehen seit etwa einem Jahrzehnt ebenfalls Forschungsarbeiten, bei denen psychoanalytische Kategorien Verwendung finden.12 Jedoch es kann nicht die Rede davon sein, daß die Entwicklung der Untersuchungsmethodik literarischer Werke auf psychoanalytischer Grundlage annähernd denselben Stand erreicht hätte wie in der Wissenschaft von der neueren deutschen Literatur. Wie drängend indes die Problematik auch in der Altgermanistik hervortritt, bewies letzthin die Tagung „Psychologie in der Mediävisitk", die im März 1984 in Steinheim/Murr stattfand, initiiert von Germanisten aus der Mitgliedschaft der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft bzw. aus dem Mitarbeiterkreis des Deutschen Literaturarchivs Marbach/Neckar. 13 Die dortige Diskussion stand unter der Leitfrage - so ließe sich das Tagungsthema variieren - : Eine wissenschaftliche Psychologie in der Altgermanistik, aber welche? Die Psychoanalyse, oder - ? Zunächst eine Bitte um Nachsicht: Ich muß die Vortragssituation zusätzlich dadurch komplizieren, daß ich mich eines Verstoßes gegen die alte Empfehlung für Vortragende schuldig mache, die nach dem Bericht Xenophons Sokrates befolgte: von den anerkannten Wahrheiten auszugehen. 14 Statt dessen befasse ich mich in einem ersten Schritt mit einigen Unsicherheiten, Schwierigkeiten und legitimatorischen Problemen, die mit der von mir gewählten Thematik zusammenhängen. Und zwar beziehe ich mich teils nochmals auf solche Einwände, die gegen psychoanalytische Verfahrensweise in den Literaturwissenschaften überhaupt erhoben wurden, teils auf solche, die in der Sicht der Mediävistik tatsächlich oder dem Anschein nach stärker auftreten als in der neueren Literaturwissenschaft. In einem zweiten Schritt habe ich sodann zu prüfen, ob sich in der Mediävistik nicht gleichwohl mögliche Ansatzpunkte für psychoanalytische Untersuchungsverfahren und Fragestellungen im einzelnen ergeben. Dabei bleibt vieles hier aus Gründen der Zeitbeschränkung notgedrungen kursorisch. Generell wird gegen denjenigen, der es mit der Psychoanalyse in den Literaturwissenschaften probiert, der doppelte Vorwurf erhoben: des „dilettantischen Reduzierens" 15 . Dazu merkte Wucherpfennig 1983 an: „GeWie in den Modelluntersuchungen von Wucherpfennig und Pietzcker, wie Anm. 8 f. Einen Forschungsbericht gebe ich in diesem Referat nicht, da ein solcher zur Zeit von Bernd Urban erarbeitet wird; erscheint 1985, vgl. Anm. 13. 15 Der Protokollband, der die Tagungsbeiträge enthält, ist für 1985 angekündigt, hg. von Ulrich Müller, Hans-Dieter Mück und Jürgen Kühnel, Göppingen, n Mem. 4. B. 6. Kap. " Wie Anm. 4, S. 16 ff. u. 21 ff. 11

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genübcr dem Rückgriff etwa auf die Theologie- oder Philosophiegeschichte" sei der „Dilettantismus-Vorwurf' nie erhoben worden, „obwohl auch dieser von einer konsequent textimmanenten Position aus abgelehnt wird. Tatsächlich geht es im Grund um die Art des Wissens, das mit psychoanalytischer Literaturerklärung ins Spiel kommt, um das gern verdrängte Wissen von den sinnlichen Bedürfnissen der Menschen." 16 Zum Dilettantismus-Vorwurf: Was muß der Literaturwissenschaftler, der die Psychoanalyse einbeziehen möchte, über sie lernen? Hierzu führte Louis Fraiberg 1960 aus: Weder brauche der Literaturwissenschaftler selber Psychoanalytiker zu werden noch müsse er sich einer Lehranalyse unterziehen. Aber er sollte wissen, was die Aufgaben und Ziele der Psychoanalyse seien; wie sie funktioniere; was sie an Erfolgen und Mißerfolgen aufzuweisen habe; was sie als sichere Tatsachen erwiesen habe und was bloße Hypothese sei; welche Grenzen sie nicht überschreiten könne; unter welchen Bedingungen sie auf andre als ihr ursprüngliches Gebiet anwendbar sei.17 Der Reduktionismus-Vorwurf besagt: „Psychoanalytische oder soziologische Interpretationen nähmen dem Text seine Individualität, indem sie ihn auf ein Schema reduzierten." Hiergegen führte Wucherpfennig aus: Grundsätzlich beruhe „alles Begreifen auf Reduktion, also darauf, eine komplexe Erscheinung auf einen einfacheren Zusammenhang zurückzuführen. (...) Es kommt also nicht darauf an, ob überhaupt reduziert wird, sondern darauf, ob auf Wesentliches oder Unwesentliches, wobei das Wesentliche übrigens nichts Einfaches, eine Grundaussage oder ähnliches, sondern der leitende innere Widerspruch des Textes sein wird." 18 Vor Jahrzehnten bereits fragte Freuds Schülerin Lou Andreas-Salomé, ob man bei psychoanalytischer Arbeit der Gefahr erläge, eine Fülle von Erscheinungen auf die „Monotonie weniger typischer Grundmotive" zu reduzieren. Freud bekundete seine Überzeugung, es seien im Seelenleben „große allgemeine Rahmenmotive" sowie daneben „Füllmotive" aufzufinden, „die nach den Erlebnissen des einzelnen wechseln". 19 Psychoanalytische Kategorien auf Literatur angewendet, ließe sich ableiten, daß der Gesamtfundus literarischer Texte eine nahezu unendliche Zahl von Kombinationen der „Rahmen-" sowie „Füllmotive" enthielte, sämtliche in Verbindung mit sonstigen Gestaltungsmitteln: sprachlichen, linguostilistischen, gattungsspezifischen usw. Eine Besonderheit des Verhältnisses der Altgermanistik - oder besser: der Altgermanistinnen und -germanisten - zur Psychoanalyse besteht darin, 1" F.bd. S. 21. 17 Psychoanalysis and American Literary Criticism, Detroit 1960, S. 238 f. 18 Wie Anm. 4, S. 21 f. 19 L. A.-S., In der Schule bei Freud. Tagebuch eines Jahres (1912/13), hg. von E. Pfeiffer, München 1965, S. 43; Freud, Aus den Anfangen der Psychoanalyse. Briefe an Wilhelm Fließ, hg. von M. Bonaparte u.a., Frankfurt/M. 1962, S. 195.

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daß es sich über weite Strecken um ein gar nicht bestehendes Verhältnis handelt. Forschende und Lehrende verneinen entweder großenteils die Erforderlichkeit der Diskussion oder verhalten sich ohne Begründung zur Psychoanalyse ablehnend. So vermißt, wer sich als Altgermanist in der Psychoanalyse umgesehen hat, die Einbeziehung von deren Ergebnissen recht häufig selbst dort, wo sich die Einbeziehung anböte, u. a. beim Inzestund Kastrationsmotiv in der Dichtung. Zumindest würde man die Überlegung erwarten, ob die Einbeziehung vielleicht nützlich sei. Ähnlich allerdings in den anderen philologischen Disziplinen. So erscheint befremdlich, daß Jauß bei Erörterung der Vorschläge, die Reform des Mittelalterstudiums betreffend, zwar die „angepriesenen modernen Methoden der strukturalen Linguistik, Semiotik, phänomenologischen oder soziologischen Literaturtheorie" streift20, hingegen die Psychoanalyse nicht einmal erwähnt; befremdlich nicht zuletzt deshalb, weil nicht lange zuvor (1974) Köhler in seinen „Thesen zur Literatursoziologie" die Hinzunahme der Psychoanalyse wie ebenfalls der Archetypenlehre Jungs angeraten hatte.21 Dem wortlosen Übergehen der Psychoanalyse benachbart ist die Ablehnung ohne Begründung oder mit pauschaler Bewertung dieserart: „Psychoanalytische Mythen- und Märcheninterpretationen dienen daher vielleicht der Erbauung, enthalten aber keinerlei Erkenntnisgewinn, weshalb ich sie ablehne." (Göttner-Abendroth22) Fand eine kritische Auseinandersetzung statt, so wurde gegen die psychoanalytische Verfahrensweise in der Altgermanistik speziell wiederum ein doppelter Einwand erhoben: die Psychoanalyse sei, weil aus den Erfahrungen mit Patienten aus neuzeitlichen Kleinfamilien gewonnen, nicht bei der Erforschung mittelalterlicher Verhältnisse am Platze, die andere Familienformen zeigen. Und: als Individualpsychologie könne die Psychoanalyse nicht auf ein Zeitalter Anwendung finden, worin Individuen, ja sogar die Möglichkeit von Individualität nicht vorhanden gewesen seien. Der Kritik: psychoanalytische Kategorien bei der Erforschung mittelalterlicher Texte zu bemühen, käme einem Arbeiten mit den „Archetypen der Kleinfamilie" gleich23, wäre entgegenzuhalten, daß sie in zweifacher 20

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Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956-1976, München 1977, S. 10. (Genau:) Einige Thesen zur Literatursoziologie, in: GRM N. F. 24 (1974), Bd. 55, S. 257-264, hier S. 262 (These Nr. 16). Die Göttin und ihr Heros. Die matriarchalen Religionen in Mythos, Märchen und Dichtung, ^München 1982, S. 234. Ulrich Wyss, Rezension des Sammelbands „Literatur im Feudalismus" (hg. von D. Richter, Stuttgart 1975), in: Int. Archiv f. Sozialgesch. d. deutschen Literatur, Bd. 2 (1977), S. 199-211, hier S. 209. - Zur Charakterisierung der Verfahrensweise des Rezensenten mag Erwähnung finden, daß der Beitrag W. Beutins in dem o.e. Sammelband u.a. mit der Bemerkung kritisiert wird, B. benutze den Terminus „unterbewußt" statt richtig „unbewußt" (Wyss zitiert B., benannt die betr. Seitenzahl und bringt wegen der Korrektur einen

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Weise unfundiert erscheint: nämlich insoweit sie eine Aussage über die Psychoanalyse ist und indem sie eine über die Geschichte der Familie in Europa impliziert. Von der Geschichtswissenschaft sind bis zur Gegenwart noch keinesfalls ausreichende Erkenntnisse über den Wandel der Familienstruktur im Verlauf der Jahrhunderte zur Verfügung gestellt worden24, so daß jedenfalls die grobe Zuordnung: ältere Zeit - Großfamilie / jüngere Zeit - Kleinfamilie im Einzelfall nicht immer gilt. Für die ältere Literatur, soweit darin Familienstrukturen widergespiegelt sind, darf deshalb nicht ausschließlich von Großfamilien ausgegangen werden (was u. a. die vermutlich berühmteste Familie älterer Zeit zeigt, in die uns Lukas in der Weihnachtsgeschichte Einblick gewährt). Auf der anderen Seite haben Freud und seine Schule nie beansprucht, etwa den Ödipuskomplex ausschließlich der Kleinfamilie zuzusprechen bzw. der „Kernfamilie" den „Kernkomplex". Sie betrachteten ihn im Gegenteil als Konstante in den Wandlungen der Familienstruktur, als zwar nicht überhistorisches, wohl aber bestimmte historische Epochen übergreifendes Phänomen. Dem Einwand, die Psychoanalyse wäre als Individualpsychologie bei der Erforschung solcher Epochen nicht am Platz, die keine Individuen kannten, muß ebenfalls von zwei Seiten begegnet werden: von der Geschichtswissenschaft sowie von der Psychoanalyse her. In der Geschichte kann ermittelt werden: Wo - und wann - gibt es das Individuum, das menschliche Individuum mit je spezifischem Charakter? Und wo - und wann - gibt es das Bewußtsein der Individuen von ihrer Individualität, deren bewußte Ausformung und Pflege? Entsprechend sollte in der Literatur sorgfaltig unterschieden werden zwischen der einfach vorhandenen Darstellung von Individuen bzw. dem Fehlen von Individualität sowie ihrer bewußt intendierten Darstellung im Sinne bürgerlicher Selbsterfahrung.25 Das einfache Vorkommen in der Geschichte: Einmal davon abgesehen, daß die Individualitätsproblematik über das Mittelalter zurückverfolgt werden kann bis in die Antike26, so läßt sich diese Frage überhaupt schwerlich mit dem Hinweis auf eine bestimmte, historisch nachweisbare Zeitgrenze beantworten. Zwar hat Jacob Burckhardt, der maßgebliche Urheber der seither anhaltenden Diskussion, als terminus a quo die Anfange der Renaissance im Italien des 13. Jahrhunderts festgehalten27, was seine Progenitur

24

25

26 27

Hinweis auf das Handbuch von Laplanche/Pontalis). Wer indes die zitierte Seite bei B. nachschlägt, wird finden, daß es hier ganz richtig heißt „das Unbewußte". Zur Diskussion der Frage vgl. aus jüngster Zeit Jürgen Kuczynski, Geschichte des Alltags des deutschen Volkes, Studien Bd. 1 (1600-1650), «Köln 1982, S. 234 ff. Die Klärung des Sachverhalts verdanke ich Wolf Wucherpfennig (in einem Briefwechsel aus dem Frühjahr 1984). Erich von Kahler, Untergang und Übergang. Essays, München 1970, S. 75. Die Kultur der Renaissance in Italien, Köln o. J., S. 97ff. (Abschnitt „Die Entwicklung des Individuums").

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bis in unsre Zeit dazu verleitete, nach zeitlich so oder so bestimmbaren Anfängen der Individualität in der Geschichte Ausschau zu halten, manchen Forscher zudem, gerade in dem von ihm besprochenen Autor-Subjekt das jeweils früheste Individuum einer nationalen Geschichte zu vermuten. So schreibt Holborn: „Als erster Deutscher brachte Hutten nicht die stereotypen Gedanken eines Standes oder Berufes, sondern das spontane Gefühl und das sehnsüchtige Verlangen eines ausgeprägten Individuums frei und offen zum Ausdruck." 28 Kaegis Mitteilung zufolge pflegte Ernst Walser derlei Auffassungen, wonach im Mittelalter zumindest das „ausgeprägte" Individuum nicht existierte, zu ironisieren: „Man habe den Eindruck, als hätte im Mittelalter immer gleich ein ganzes Rudel Menschen zusammenstehen müssen, um einen Gedanken zu fassen."29 Burckhardt selber schon hielt Ausnahmen für nötig, z. B. durch Verweis auf eine durch Liutprand von Cremona überlieferte, dem 10. Jahrhundert zugehörige Reihe von Charakteren30, und es wäre nicht schwer, diese Reihe zu erweitern um Namen wie denjenigen Adalberts von Bremen (in Adams von Bremen „Gesta Hammaburgensis Ecclesiae Pontificum"), den Abaelards u. v.a.m. Indes ergibt sich uns aus der Geschichte der Dichtung ein abweichender Befund. Während die historischen Quellen, vor allem Geschichtswerke, Autobiographien, Briefe uns wenigstens das einfache Vorhandensein des Individuums dokumentieren, ist in der Dichtung des Mittelalters, soweit es sich bei ihr um die „Schemaliteratur" handelt (Märtyrer- und Heiligenlegende; Heldendichtung; höfischer Roman u. a.), keine Darstellung von Individuen erkennbar, allenfalls Ansätze dazu. Wohl aber erschließt sich dem forschenden Blick immer wieder erneut das Faktum der individuellen Benutzung vorgegebener Schemata durch die mittelalterlichen Dichter, somit auch die Wirksamkeit einfach vorhandener jeweiliger Dichterindividualitäten. Sodann ist richtig, daß mit der beginnenden Renaissance die Hinweise darauf nicht fehlen, daß die bewußte Ausformung und Pflege der Individualität anfangen und zunehmen, bis gegen 1500 der bewußt intendierte Ausdruck von Selbsterfahrung als Möglichkeit recht breit gegeben ist; Beleg dafür in der deutschen Literatur u.a. die Selbstbekundungen bedeutender Dichter der Reformationszeit in der Lyrik bekenntnishaften Charakters (z. B. Hutten, Luther, Zwingli, Murner, Sebastian Franck). Auch bezeugen die Interpretationen von Kunstwerken durch die Zeitgenossen damals, daß bereits die jeweilige Handschrift der Kunstproduzenten, das Werk in seiner Einmaligkeit erkennbar geworden ist. Scheitert wegen des einfachen Vorhandenseins von - sich ihrer Individualität womöglich nicht bewußten - Individuen, auch wegen individuali28 29

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Ulrich von Hutten, Göttingen 1968, S. 8. Werner Kaegi, Über die Renaissanceforschung Ernst Walsers, ( = Einführung in:) E. W., Ges. Studien zur Geistesgeschichte der Renaissance, Basel 1932, S. XI-LX, hier S. XXXV. Wie Anm. 27, S. 98.

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sierender Ausnutzung vorgegebener Schemata der Versuch, mit dem Argument des Fehlens der Individualität im Mittelalter die Psychoanalyse aus der Mediävistik auszuschließen, so bietet auf der anderen Seite die ¡psychoanalytische Theorie selber Argumente, dem genannten Versuch zu begegnen. Zwar vertraten ursprünglich maßgebliche Theoretiker der Psychoanalyse gegensätzliche Anschauungen über deren theoretischen Status, .poch breitete sich seit den Klarstellungen Erich Fromms (1932) die Einsicht aus, wonach der Psychoanalyse nicht einzig „das Gebiet der Personalpsychologie reserviert" bleibt. 31 Tatsächlich lenkten schon in der Frühzeit die Begründer der Psychoanalyse ihr Interesse auf solche Erscheinungen wie kollektive Phantasien (Mythen, Religionen). Seit mehr als einem halben Jahrhundert gibt es beachtliche Anstrengungen, die Psychologie der Massen überhaupt sowie temporärer Massenphänomene psychoanalytisch zu erforschen. 32 So läßt sich Freuds Abhandlung „Massenpsychologie und IchAnalyse" neben anderem als ein Beitrag auch zur Frage der Individualitätsentstehung lesen. Die Überlegungen in diesem Werk erweisen sich partiell als literaturtheoretischer und - historischer Art, wenn Freud den Ursprung von Individualität verbunden denkt mit der Wirksamkeit des „ersten epischen Dichters", der den heroischen Mythos erfand. Diesen Mythos bewertete Freud als den ersten Schritt hinaus aus der Massenpsychologie, wenngleich einen etwas verdächtigen, da der (phantasierte) Held niemand anders als der Dichter selber sei, so daß die Lüge des heroischen Mythus offenkundig werde; milder formuliert: dessen phantastischer Charakter. 33 Eine Theorie, die in jüngerer Zeit abgewandelt in Erich Köhlers Ausführungen wiederkehrte. Köhler sah die Anfange des Individuums im modernen Europa verbunden mit der Entstehung des „Helden" des höfischen Romans, datierte sie mithin gegen Burckhardt nicht in die Renaissance, sondern ins Mittelalter, ins 12. Jahrhunden zurück. 34 Vor Sichtung möglicher Ansatzpunkte für psychoanalytische Untersuchungsverfahren und vor Rekapitulation einzelner Fragestellungen sollen noch einige Bedenken theoretisch-methodologischer Art zur Sprache gebracht werden, die sich bei - und aus - der Anwendung von Psychoanalyse auf die Literatur ergeben. Wie kann der Altgermanist sich von der Richtigkeit der psychoanalytischen Theorie überzeugen? Kann er sie beweisen? - Nein, beweisen kann Über Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie: Bemerkungen über Psychoanalyse und historischen Materialismus (1932), in: wie Anm. 6, S. 9—40, hier S. 13 (in Widerlegung von Auffassungen W. Reichs). 32 Z.B. Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: GW 13, S. 71-161; Wilhelm Reich, Massenpsychologie des Faschismus, 2o. O. o. J. (repr. o.O. o. J.). " Wie Anm. 32, S. 152. 34 Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik. Studien zur Form der frühen Artus- und Graldichtung, 2 Tübingcn 1970, S. 96 u.ö.

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er sie ebensowenig, wie er sie widerlegen kann. Ein Fehler wäre, so hielt schon W. Reich (1929) Kritikern aus anderen Disziplinen entgegen, „ohne genügende Sachkenntis die psychoanalytische Theorie empirisch zu kritisieren und ihre Befunde zu bestreiten".35 Er braucht sie jedoch auch nicht zu beweisen, ebensowenig wie er, wenn er die Unterstützung der Theologie, Kirchengeschichte, Profangeschichte, Linguistik usw. beansprucht, deren Aussagen zu verifizieren verpflichtet wäre. Was der Literaturwissenschaftler bei Einbeziehung der Psychoanalyse wissen kann, ist, daß er sich „auf weithin erforschtem Gebiet" bewegt und von Ergebnissen ausgeht, „die in der Therapie und in der Traumanalyse gewonnen wurden". 36 Wenn etwas ihm die Richtigkeit der psychoanalytischen Theorie zu demonstrieren vermag, muß dies nichts anderes sein als das, worin er selber sich als Fachmann bewährt: die eigene Arbeit an den Texten; beispielshalber wenn er „nicht auf beliebige, sondern auf typische Phantasien" stößt und sich zudem wo-' möglich „durch ein Verfahren" abzusichern imstande ist, „das dem der freien Assoziation entspricht".37 Wie unumgänglich es für den Altgermanisten ist, den Diskussionsstand in der neueren Literaturwissenschaft im Auge zu behalten - deren Abtrennung von der älteren Philologie dabei kein Hindernis sein darf-, ergibt sich aus der Notwendigkeit, auch in der Altgermanistik die unterschiedlichen Zerrformen der Anwendung von Psychoanalyse auf Literatur zu kritisieren, wobei die in der neueren Literaturwissenschaft zutage getretene Kritik an solchen den Blick nicht wenig schärfen wird. Die Mehrzahl der Analytiker, die sich mit Literatur befaßten, wandte sich „nahezu ausschließlich den unbewußten Phantasien zu, die sich allenthalben in Träumen, neurotischen Symptomen, in Riten, Märchen und eben auch in literarischen Texten auffinden lassen", berücksichtigte in der Regel jedoch nicht, „wie der Kunstcharakter eines Werkes psychoanalytisch zu erschließen sei"; wogegen von seiten des Literaturwissenschaftlers die Frage kommen müßte, ob nicht „der Text in all seinen Details und gerade in seinem Kunstcharakter psychoanalytisch begriffen werden kann - und muß". 38 Nun gibt es in der Altgermanistik, gerade in den ohnehin eher spärlichen Versuchen, Psychoanalyse auf ältere Literatur anzuwenden, die Tendenz, den Kunstcharakter des Werks als eines Ganzen zu vernachlässigen: - entweder dadurch, daß eine Fragmentierung des Texts vorgenommen und lediglich noch einzelne Bestandteile einer psychologischen Betrachtung unterzogen werden. Beispiel: die isolierte Erläuterung des Wahns im „Iwein". Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse, (jetzt) in: Bernfeld/Reich/Jurinetz/Sapir/ Stoljarov, Psychoanalyse und Marxismus. Dokumentation einer Kontroverse, eingel. von H. J. Sandkühler, Frankfurt/M. 1970, S. 137-188, hier S. 146. * Pietzcker, wie Anm. 8, S. 30. " Ebd. 3« Ebd. S. 9 f. 15

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- Oder durch selektiven Gebrauch psychoanalytischer Forschungsergebnisse, indem bloß Teilbestände der Psychoanalyse für die Textinterpretation fruchtbar gemacht werden. Beispiel: In dem jüngst (1983) erschienenen Aufsatz von Aglaja Hildenbrock: „Heinrich Kaufringers ,Die Rache des Ehemannes' in psychoanalytischer Betrachtung"39 zieht die Verfasserin einzig die psychoanalytische Symbollehre heran, als sei diese die Psychoanalyse selber, und deutet mit ihrer Hilfe u. a. das Zahnausreißen als Kastrationssymbol. Hiermit indes wird die Aufklärung über die Meinung des Texts nur bescheiden vorangetrieben. Die übergeordnete Frage ist nicht die nach der Deutungsmöglichkeit des Zahnausreißens als vielmehr, die Richtigkeit der Deutung vorausgesetzt, die nach dem Stellenwert des Kastrationsmotivs in der Novelle, im Gesamtwerk Kaufringers und in der Literatur der Zeit. Ansatzpunkte für psychoanalytische Verfahren bei der Untersuchung mittelalterlicher Literatur: Um der Forderung zu genügen, einen Text in seinem Kunstcharakter psychoanalytisch zu begreifen, muß der Altgermanist in der Tat genau das reflektieren, auf was man in der Reformdiskussion so energisch gepocht hat: die „Alterität" der mittelalterlichen Literatur.40 Nur daß man diese häufig in Sachverhalten am ehesten suchte wie der historischen Sprachgestalt der Texte, ihrer ständischen Gebundenheit, ihrer weltanschaulich-religiösen Geprägtheit usw., seltener jedoch in derjenigen Qualität der Mehrzahl aller mittelalterlichen Denkmäler, worin deren Alterität am tiefsten gründet: in ihrer Eigenart als Schemaliteratur. Unter Vernachlässigung des Problems der Schemaliteratur in der Antike - etwa des „antikischen Schematismus" im „Liebesroman"41 - und in der Neuzeit, bis hinein in unsre Gegenwart, muß als das hervorstechende Merkmal eines Großteils der mittelalterlichen Texte, auch der ausgesprochen „hochliterarischen", dies eine festgehalten werden: daß die einzelnen Werke auf bestimmte Schemata, „Grundmuster" oder „patterns" zurückzuführen sind.42 39

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42

In: Karl-Heinz Schirmer (Hg.), Das Märe. Die mittelhochdeutche Versnovelle des späteren Mittelalters, Darmstadt 1983 ( = WdF 558), S. 281-291. Dazu das in Anm. 20 benannte Werk! Otto Weinreich, Nachwort zu: Heliodor, Aithiopika (Die Abenteuer der schönen Chariklea). Ein griechischer Liebesroman, übers, von R. Reymer, Zürich 1950, S. 323-376, hier S. 370. Zur Begrifflichkeit: „Grundmuster" z. B. bei Peter Wapnewski, Hartmann von Aue, ^Stuttgart 1964 ( = Sammlung Metzler Nr. 17), S. 74; „hero pattern": bei Lord Raglan (1936); dazu vgl. Jan de Vries, Heldenlied und Heldensage, Bern etc. 1961, S. 281 f. (verweist auch auf den Begriff „Motivenkomplex" bei J . G . von Hahn, 1876; benutzt selber, neben „Schema", noch den Begriff „Modell"); Göttner-Abendroth, wie Anm. 22, S. 176, verwendet den Terminus „Struktur" in ähnlichem Sinne; wegen der psychoanalytischen Beiträge zur Problematik vgl. Freud, u. a. in: Der Mann Moses und die monotheistische Religion, GW 16, S. 101-246, hier v. a. S. 106 ff. (mit Verweis auf O. Rank); Otto Rank, Der Mythos von der Geburt des Helden. Versuch einer psychologischen Mythendeutung, 2 Leipzig etc. 1922, hier besonders S. 79 f.; Wolfgang Beutin, Psychoanalytische Kategorien bei der Untersuchung mittelhochdeutscher Texte, in: D. Richter (Hg.), Literatur im Feudalismus, Stuttgart 1975 ( = Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften, Bd. 5), S. 261-296; ders.,

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Obwohl auch in der lyrischen Dichtung nachweisbar (z. B. „Tagelied"), ist doch insbesondre in der Erzählliteratur die Vorherrschaft des Schematismus auffallig. So hat Wapnewski unter Aufnahme einer Formulierung Sparnaays auf die Fülle jener Erzählungen, Mythen und Sagen verwiesen, die zurückzuführen seien auf das „Grundmuster": „Inzestuöse Geburt..., Aussetzung, Erziehung durch Pflegeeltern niedern Standes, Hervortreten in die Welt, Heldentaten, Erkennung durch die Mutter."43 Es ist nichts anderes als jenes Grundmuster, um dessen Aufhellung sich die psychoanalytische Literaturforschung seit Rank bemühte, das Schema des Heldenmythos (bzw. des „Mythos von der Geburt des Helden"). Wie weit das Prädikat „Schemaliteratur" auf die mittelalterliche deutsche Epik zutrifft, sieht man, wenn man erkennt, daß das Grundmuster des heroischen Lebenslaufs oder „hero pattern", zumindest aber konstituierende Motive daraus sämtlichen Dichtungen eignen, worin Stoffe aus einem der folgenden Stoffkomplexe verarbeitet sind: der Geschichtsdichtung um Alexander; der Nibelungensage zusamt Dietrich, Hildebrand, Wolfdietrich u.a.; dem Karlskreis mit Roland, Rennewart u. a.; dem Artuskreis, auch Lanzelot usw.; den evangelischen Berichten und Legenden um Jesus, Judas, Pilatus, Gregorius u. a.44 Indem der letztgenannte Stoffkomplex im Mittelalter zugleich die Ausgangsbasis für die Entwicklung des Dramas bildete, wiederholte sich, formal betrachtet, der bekannte Vorgang der altgriechischen Literaturgeschichte: von der „Heroengeschichte", der „mit dem Heroenkult verbundenen Mythologie", führte der Weg zur Tragödie.45 Neben dem „hero pattern" ist das der Märtyrer- und Heiligenlegende das nächste wichtige. Wie H. Günter darlegte, läßt sich in diesem Genre „die ungeheure Fülle . . . bei einem umfassenden Überblick auf verhältnismäßig überschaubare Gruppen von Motiven" reduzieren, wobei als Äquivalent der heldischen Taten die Wunder erscheinen, daneben jedoch oft erneut die Bekämpfung von Drachen und anderen wilden Tieren, und es fehlen nicht die bekannten Motive des Inzests, der Verwandtentötung usw.46 Insgesamt arbeitet die Legendendichtung abermals mit dem - hier ins Christliche transponierten - Grundmuster, dem Schema eines auf andere Art wieder „heroischen" Lebenslaufs, einer Vita nach (metaphysischem) Heilsplan, wie er im Grunde selbst noch im „Simplicissimus" durchschimmert.

Zum Lebensweg des .Helden' in der mittelhochdeutschen Dichtung (Erec, Iwein, Tristan, Parzival). Bemerkungen aus psychoanalytischer Sicht, in: LiLi 7 (1977), H. 26, S. 39-57.

«J Wie Anm. 42 (a.a.O.). 44

45

44

Gunhild und Uwe Pörksen, Die .Geburt' des Helden in mittelhochdeutschen Epen und epischen Stoffen des Mittelalters, in: Euph. 74 (1980), S. 257-286, hier S. 263ff. Karl Kerenyi, Die Mythologie der Griechen, Bd. 2: Die Heroen-Geschichten, 2 München 1968, S. 24. Psychologie der Legende. Studien zu einer wissenschaftlichen Heiligen-Geschichte, Freiburg 1949, S. 2; (Inzest:) S. 54, (Drachenkämpfe u.ä.:) S. 69ff.

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Ein dritter Schematismus, der in diesen Konnex gehört, ist der außer in der Antike im europäischen Mittelalter und in der Neuzeit ebenfalls häufig anzutreffende des „Liebesromans", in der Literaturgeschichte auch unter dem Etikett „Schicksalsroman" figurierend. Ihm wäre in der späteren mittelalterlichen und frühen neuzeitlichen Dichtung eine Form der Novelle beizuordnen, die „Schicksalsnovelle" heißen könnte. Gemeint ist stets der „Rahmen von Sichverlieren und -wiederfinden eines Liebespaares" (Köhler47), ein Grundmuster, welches allerdings, und darin dem heroischen Lebenslauf vergleichbar, in zwei unterteilt erscheint, je nach der Art des Ausgangs; mit glücklichem z. B. Heliodors „Aithiopika", die altfranzösische Dichtung von „Aucassin und Nicolette", wie im 18. Jahrhundert selbst noch Wielands „Oberon"; mit unglücklichem neben vielen anderen die antike, in der mittelhochdeutschen Literatur in Gestalt einer Versnovelle vertretene Geschichte von „Hero und Leander", eine große Zahl von Renaissancenovellen48 usw. Soweit die mittelalterliche Dichtung sich als Schemaliteratur erweist, steuert die Psychoanalyse zur Erforschung ein Doppeltes bei; ihre Deutung der Schemata sowie die Untersuchung der Dialektik von Schematismus und dessen individualisierender Anwendung ( = der Hauptweg zur psychoanalytischen Erschließung des Kunstcharakters eines Werks der Schemaliteratur). Am ausführlichsten hat die psychoanalytische Literaturforschung sich mit dem „Schema des Heldenlebens" befaßt. Sie ermittelte dessen ödipale Grundstruktur und entzifferte die heroischen Taten als Aufruhrhandlungen eines Sohns gegen die Vaterimago49, das dominierende Prinzip der vaterrechtlich organisierten Familie und Gesellschaft, in der Dichtung oft durch Herrscher und Tyrannen vertreten, auch durch (totemistische) Ungeheuer als „Vatersurrogate", wobei sich in dem Kampfpreis, einer „befreiten Jungfrau", das inzestuös begehrte Liebesobjekt erraten läßt. Die christliche Märtyrer- und Heiligenvita unterscheidet sich von der Heldendichtung, wie Ilse Nolting-Hauff (1978) ausführte, durch die extrem „offene" Behandlung des Inzests (samt drastischer Selbstbestrafung) ebenso wie durch die „heroisierende Bearbeitung traumatischer historischer Erfahrungen... ausschließlich im Zeichen eines passiven Heroismus" (d. i. Tötung durch eine „negative Vaterfigur", nachfolgende Belohnung durch die - vermöge Abspaltung von dieser gewonnene - Figur des „guten Vaters").50 Im „Schicksalsroman" 47

48 49 50

Trobadorlyrik und höfischer Roman. Aufsätze zur französischen und provenzalischen Literatur des Mittelalters, Berlin 1962 (= Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft, Bd. 15), S. 220 (auch über den Begriff „Schicksalsroman"). Vgl. u. a. die 3. Dekade im „Novellino" des Masuccio (Nr. 31 ff.). Otto Rank, wie Anm. 42, S. 120. Zur Psychoanalyse der Heldendichtung. Das Rolandslied und die einfache Form ,Sage', in: Poetica 10 (1978), S. 429-468, hier S. 467.

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und in der „Schicksalsnovelle" ist es immer die - vom Erzähler oder von den Protagonisten ausdrücklich beschworene - Macht des „Schicksals", die einem Liebespaar härteste Bewährungen auferlegt, nicht selten bis zum Tode beider (krasse Form: Tötung durch einen Blitzschlag in der Hochzeitsnacht51). Die auferlegten Bewährungsproben und Strafen stellen die Sühne für etwas Verbotenes dar, einen sexuellen Wunsch oder Vollzug. Wer aber verbirgt sich hinter dem „Schicksal"? Die Protagonisten empfinden es (oder: die Natur, das Gewitter, den Sturm, das Weltgeschehen), diese „äußersten und fernsten Gewalten", „immer noch wie ein Elternpaar mythologisch —" und glauben „sich mit ihnen durch libidinose Bindungen verknüpft". 52 Zuweilen tritt an die Stelle des Schicksals in der Erzählung auch wieder ein Verwandter: Vater (vgl. Boccaccio IV, 1, „Guiscardo und Ghismonda"), Bruder o.ä. Läßt sich jedoch wie in den Geschichten mit glücklichem Ausgang das Schicksal durch beharrliches Tun des Liebespaares versöhnen, so besteht das versöhnende Opfer häufig in sexueller Enthaltsamkeit (Virginität wie z.B. in den „Aithiopika", überhaupt Askese und vergleichbaren Bußhandlungen, beispielshalber in der „Histori von der schönen Magelona"), was wiederum auf den sexuellen Charakter des „Vergehens" zurückweist. Wie die psychoanalytische Literaturforschung einerseits versuchen kann, die einzelnen Gattungen der Schemaliteratur als Beleg der zeittypischen Phantasiestruktur bestimmter Stände einer Epoche zu verstehen, z. B. den höfischen Roman als kollektive Standesphantasie der Aristokratie (Frankreich, 12. Jahrhundert, in Deutschland eine Generation später), so geht es ihr auf der andern Seite darum, die einzelnen Werke dieses Genres wiederum auf die mit ihnen gegebenen individualisierenden Verwirklichungen des Grundmusters hin zu untersuchen. Dazu wird ein mehrstufiges Verfahren benötigt: - Die Analyse unter dem Gesichtspunkt der variierenden Benutzung des Schemas. Welche seiner Bestandteile verwendete der Autor, worauf liegt das Schwergewicht, welche ließ er aus? Wo nahm er eine auffällige Veränderung am Schema vor? Wie wurden die zugehörigen Einzelmotive angeordnet, welche wiederholt? usw. - Der Versuch, die besondere Phantasiestruktur des Autors zu ermitteln. Hierbei verfugt der Mediävist bekanntlich nicht oder so gut wie nie über biographische und autobiographische Zeugnisse neben dem Œuvre, wodurch er sich in einer deutlich schlechteren Position befindet als der neuere Philologe. Ihm bleibt außer den auf Stufe 1 erzielten Ergebnissen nur,

Heliodor, wie Anm. 41, S. 71; Bandello, Novelle Nr. 14; das Motiv im 19. Jh. noch bei Geibel, GW in 8 Bdn., Stuttgart 1893,2. Bd., S. 260 (in: Julian. Fragment eines erzählenden Gedichts, 1850). « Freud, GW 13, S. 381. 51

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Schlüsse zu ziehen aus der Vergleichung mit eventuell sonstigen Werken desselben Dichters, mit jedenfalls vorhandenen Denkmälern derselben Gattung und mit weiteren Bearbeitungen desselben Stoffkomplexes, wenn möglich: auch aus anderen Epochen. So konnte Rank beispielsweise Besonderheiten der Phantasiestruktur Hartmanns von Aue kenntlich machen.53 Ahnlich wie Federn „bedeutendes Wissen von der Geschichte und Geistesart der Völker" als Voraussetzung der Mythenforschung benannte54, ist auf der Untersuchungsstufe 2 die eingehende Kenntnis eines breiten Spektrums von Dichtungen zumindest des Mittelalters die unerläßliche Basis. - In günstigen Fällen, etwa beim höfischen Roman, sollte die Untersuchung bis zu einer dritten Stufe weitergeführt werden: der Interpretation des Texts als einer „individuellen Einheit gesellschaftlicher Widersprüche".55 Erweist sich schon die Gesamtgattung als kollektive Standesphantasie, die in Gestalt der „aventiure" die Loslösung des Helden aus der Gemeinschaft erzählt, die heldischen Täten des in der Vereinzelung sich Bewährenden sowie seine Reintegration in den ritterlichen Kreis oder Familienverband, so ein jedes besondere Werk der Gattung als besondere Variante jener kollektiven Phantasie. Und ist nach Köhlers Erkenntnis die Entstehung des höfischen Romans als Gattung eine Antwort auf die politische Legitimationskrise des Adels im europäischen Hochmittelalter, Reaktion auf den Zwang zu seiner Selbstbehauptung zwischen Klerus hier und Unterschichten dort, so wäre das einzelne Werk als die jeweils variierte Beantwortung der immer selben sozialgeschichtlichen Problematik zu begreifen, damit auch als ein Moment der Sozialgeschichte der Zeit. Psychoanalytische Verfahren bei der Untersuchung von Renaissanceliteratur: Die Entwicklung der europäischen Literatur in der Epoche des Übergangs zur Neuzeit (im folgenden: Renaissance) bringt zwei übergeordnete gattungsgeschichtliche Neuerungen: Die Schemaliteratur befindet sich in einem Prozeß voranschreitender Auflösung. Dieser ist nicht widerspruchsfrei insofern, als gegenläufig eine Tendenz zur Bewahrung, gar zur Rekonstitution der Schemaliteratur besteht. Und: Es entstehen neue Genres, kleinere sowie das große des modernen Prosaromans, sämtlich in Reaktion auf die Änderungen im Bereich der Schemaliteratur, z.T. in ausgesprochener Opposition zu dieser. Unterschiedliche Tendenzen bilden sich am meisten in der Epik heraus. Zu den vorhandenen Stoffkomplexen wie Alexandergeschichte, Nibelungensage usw. tritt zunächst noch ein weiterer hinzu, ein neuer von einer frappierenden Fruchtbarkeit: der Amadis. „Der roman vom Amadis und 53 M 55

Psychoanalytische Beiträge zur Mythenforschung. Ges. Studien aus den Jahren 1912 bis 1914, Leipzig etc. 1919, S. 196ff. und 207ff. Märchen - Mythus - Urgeschichte, in: H. Meng (Hg.), Psychoanalyse und Kultur, München 1965, S. 131-143, hier S. 143. Pietzcker, wie Anm. 8, S. 166.

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die lange reihe seiner weit untergeordneten nachfolger und fortsetzer nimmt im 16ten jahrhundert in Europa die stelle ein, welche in den vorangehenden jahrhunderten die langatmigen epischen dichtungen vom sagenkreiße (sie!) Arturs behaupteten", merkte Adelbert von Keller an56, ohne zu bedenken, ob der ladel nicht genausogut die Amadisliteratur trifft, jene immer erneuerten Variationen des bekannten Grundmusters heldischer Lebensläufe, im Grunde eine späte Aufschwellungsform des „hero pattern" in Prosa. Daneben wird dasselbe Grundmuster in der Renaissance dadurch weitergeführt, daß Werke der mittelalterlichen Literatur in frühneuzeitlichen Prosaumsetzungen erscheinen (in Deutschland: sog. „Volksbücher"). Dem Auflösungsprozeß der Schemaliteratur zu verdanken sind auf ihre Weise die bedeutendsten epischen Produktionen der Epoche, die in satirischer, parodistischer oder travestierender Absicht nochmals die alten Stoffkomplexe exploitieren, u. a. Ariosts „Orlando fiirioso" (Karlskreis), Rabelais57, der „Don Quijote" (schon Parodie auf den Ritterroman aus dem Gefolge des Amadis). Als Parodien des „hero pattern" enthüllen sich ferner bestimmte Beispiele aus den kleineren Genres, darunter in Deutschland an der Spitze das beliebte Märchen vom „tapferen Schneiderlein"58. Obzwar von den Verfassern subjektiv kaum je so intendiert, erweisen sich als objektiv ausgesprochene Gegenentwürfe zum „hero pattern" alle diejenigen Erzählungen, in denen die (unheldischen) Lebensläufe der Helden „von unten" gegeben werden, vor allem der Schelmenroman. In seiner Nähe stehen in Deutschland die Schwankzyklen, deren Helden in unterschiedlicher Weise dazu bestimmt sind, Literaturgeschichte zu machen (Faust, Eulenspiegel). Zu den Helden „von unten" zählen last not least auch Frauen. Die Neuerung heißt: eine Frau im Mittelpunkt einer Großerzählung weltlichen Charakters, wenngleich als Dirne, „Ertzbetrügerin und Landstörtzerin" (die„Picara Justina" 59 , Grimmelshausens „Courasche"). Den Lebenslauf einer Heroine 54

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Anmerkungen des Herausgebers, in: Amadis. Erstes Buch, hg. von A. v.K., Stuttgart 1857 ( = BLV Nr. 40), S. 434. Das Pantagruel-Buch entspricht wiederum dem „hero pattern", vgl. dazu Kindlers Literatur Lexikon, Bd. 3, Zürich 1967, Sp. 461 („Grundschema"). Martin Montanus, „Von einem konig, schneyder, rysen, einhorn und wilden Schwein", in: Schwankbücher (Hier: „Wegkürzer", Nr. 5), hg. von J. Bolte, Tübingen 1899 ( = BLV Nr. 217), S. 19fT.; Beliebtheit des Märchens: Will-Erich Peuckert, Deutsches Volkstum in Märchen und Sage, Schwank und Rätsel, Berlin 1938 ( = Deutsches Volkstum, Bd. 2), S. 76; vgl. Christa Bürger, Die soziale Funktion volkstümlicher Erzählformen - Sage und Märchen, in: Projekt Deutschunterricht, Bd. 1: Kritisches Lesen - Märchen, Sage, Fabel, Volksbuch, hg. von H. Ide, Stuttgart 1971, S. 26-56 (S. 49ff. arbeitet die Verfasserin bezüglich dieses Märchens mit den Begriffen: „durchaus Subversives", „emanzipatorisch"); Göttner-Abendroth, wie Anm. 22, S. 161 f. hingegen bewertet es als „Parodie auf die matriarchale Herrschaftsstruktur" (und als angeblichen Beleg fiir den „Patriarchalisierungsprozeß von Märchen"). Andrea Perez ( = Francisco Lopez de Ubeda), Die Landstörtzerin Iustina Dietzin Picara genandt, Frankfurt/M. 1626 (repr. Hildesheim etc. 1973); die Geschichte „einer schäm • vnnd Ehrlosen Weibspersonen" (S. 8).

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wenigstens anzudeuten, gab es im Mittelalter bereits Ansätze, jedoch die zaghaftesten, z. B. in der Marthalegende40. Den weiteren Weg des Romans in der Neuzeit charakterisiert sodann die von E. von Kahler umrissene Tendenz der „Verinnerung" (die Konzentration auf das Innere, die Individualität des Helden als Postulat ausgeführt in der Romantheorie Blanckenburgs, 177461): Es kommt im Zeitalter der Heraufkunft der Bürgerherrschaft nicht mehr in erster Linie auf die ritterlichen Taten in der (Außen-)Welt an. Als wahrhafter Adel gilt der des Inneren, der „Tugend", der „Seele" („interior": wichtige Kategorie der christlichen Lehre, u. a. in der Abfolge Paulus - Augustinus - Luther); entsprechend beschreibt der Romanautor fortan das Innere seiner Protagonisten, mehr: das Werden des „Inneren" des Helden.62 Auffallig nicht zuletzt das Hervortreten neuer Kleinformen der Erzählung; es ist der heute noch am ehesten gelesene Anteil des Gesamtbestands der Renaissanceliteratur: die Facetie; der erzählende Dialog; der Witz mit seiner Vorform, der Zote; Schwank und Novelle, die letztgenannten z. T. lebendig bis in unsere Gegenwart. In seinem Kapitel „Der moderne Spott und Witz" erklärte J. Burckhardt beide, „womöglich in der siegreichen Form des Witzes", als „Korrektiv" jedes „höher entwickelten Individualismus überhaupt".63 Indes trafen Spott und Witz in der Renaissance nicht einzig das gleichzeitige menschliche Individuum, sondern - da der Blick sich ebenfalls auf das Menschlich-Allzumenschliche in den Heiligen und Helden älterer Zeit lenkte - die Heiligenlegende und den heldischen Lebenslauf gleichermaßen. Die literarischen Kleinformen eröffneten neue Möglichkeiten, durch die ihnen eigenen Mittel zur Auflösung der Schemaliteratur beizutragen. So etwa kritisierte und parodierte Boccaccio in seinem „Decamerone" die Legenden- und Exempeldichtung.64 Das Ende der Legende in den nördlichen Regionen des Kontinents kam im 16. Jahrhundert mit dem Protestantismus, der sie als „Lügende" verwarf. Wiederum andere Texte aus den kleinen Genres enthüllen sich als Reduktionsformen der Heldendichtung, wie denn etwa Kirchhof am Ende der Epoche griechische und römische Heroengeschichten in die Kleinform des Schwanks - oder was er dafür hält - umgießt („Wendunmuth"). Andere Inhalte aus dem Bereich Jacobus de Voragine, Die Legendi Aurea, übers, von R. Benz, Heidelberg o. J. (zuerst 1917/21), S. 514. 61 Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, Leipzig etc. 1774 (repr. Stuttgart 1965), S. 355if. und 388. 62 E. v. Kahler, wie Anm. 26, S. 149 ff. findet die „Charakterisierung eines baren Individuums, abgelöst von allem Typischen", erstmals gegeben in der Schilderung der Madame Dorsin durch Marivaux (Vie de Marianne). « Wie Anm. 27, S. 112. 64 Hans-Jörg Neuschäfer, Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzäh lung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit, München 1969 ( = Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, Bd. 8), S. 52f., 56ff., 90f. 60

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der Kleinformen können ihre Herkunft aus dem heroischen Lebenslauf ebensowenig verleugnen; sie nehmen sich wie isolierte Absprengsei daraus aus. Wie keiner anderen Gruppe von Genres haftet den Kleinformen der Renaissance der Ruch des Obszönen an. Im Detail betrachtet, begegnen neben Motiven, die bereits in der Antike und im Mittelalter geläufig waren (Liebe, Ehe usw.), die oben erwähnten bedenklicheren wie z. B.: voreheliche Liebe, Ehebruch, Notzucht, Kuppelei, Brautraub, Prostitution und - zu keiner Zeit so zahlreich bezeugt - die am meisten prekären (so die konventionelle Literaturgeschichtsschreibung): obszöne, gar perverse Motive. Die schier unendliche Fülle der Motive, eingeschlossen die letztgenannten, aus dem Gesamtbereich der Sexualität in Facetie, Schwank und Novelle, dazu im erzählenden Dialog, in der Causerie usw., ist ein - wenn nicht das Hauptcharakteristikum der Literaturgeschichte der Renaissance, von den frühen Italienern des Trecento und Chaucer über die Italiener, Burgunder u.a. des 15.Jahrhunderts bis hin zu den Italienern, Franzosen, Spaniern und Deutschen des 16. und 17. Jahrhunderts. Was ergibt der - freilich fast bloß in der Idee mögliche - Überblick über die Materialmenge bezüglich der darin verarbeiteten sexuellen Motive? Legt man die psychoanalytische Lehre der Aufeinanderfolge unterschiedlicher Entwicklungsstufen der Geschlechtlichkeit des Menschen (orale, anale, phallische, genitale Phase) zugrunde, so zeigt sich der Fundus der Texte aus den kleinen Genres quasi als ein komplettes Tableau der Geschichte menschlicher Sexualentwicklung. Nicht so, daß man in einem jeden Erzähltext auch nur annähernd das Totum der Ontogenese erwarten dürfte, aber doch so, daß ein jeder einen Ausschnitt, eine Partie, vielleicht lediglich einen Tupfer zu dem Gesamttableau beisteuert. Zentriert ist das zunächst undurchdringlich erscheinende Gewimmel nachweislich um die dem Kernkomplex zustehenden Motive des Inzests und der Kastration.65 Für die psychoanalytische Erforschung der Renaissanceliteratur gilt nicht minder wie bei Erforschung der mittelalterlichen Literatur das Gebot, daß die eingehende Kenntnis eines möglichst breiten Spektrums der Werke mitgebracht werden sollte, obwohl dem für die Renaissancezeit noch schwerer Rechnung zu tragen ist. Dennoch: Wer sich anschickt, bloß ein vereinzeltes Textstück oder eine Novellensammlung zu analysieren, kann zu nichts andrem als zu einem verzerrten Resultat gelangen. Was müßte der moderne Betrachter sonst wohl zu einer Novelle sagen, deren ganzer Inhalt aus der Tötung eines Paars durch Blitzschlag in der Hochzeitsnacht besteht? Wie würde er diese ästhetisch bewerten? Und was, wenn der Inhalt nichts einschließt als die Kastration eines Pfarrers (beinahe obligatorisches Motiv 65

Wolfgang Beutin, Sexualität und Obszönität in der Erzählliteratur des Spätmittelalters und der Renaissance, Tagungsbeitrag Steinheim 1984, wie Anm. 13.

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jedes Novellisten)? - Im übrigen benötigt, wer die Aufarbeitung der Renaissanceliteratur unter Zuhilfenahme der Psychoanalyse erstrebt, wiederum das beschriebene mehrstufige Untersuchungsverfahren, Modifikationen nicht ausgeschlossen. Für beides: die psychoanalytische Untersuchung der Literatur der Renaissance ebenso wie für die der mittelalterlichen lautet die Forderung (mit C. Pietzcker), „daß das Kunstwerk zunächst als Ganzes in allen seinen Momenten psychoanalytisch begriffen werden muß, weil nichts an ihm ist, das nicht durchs produzierende Subjekt gegangen wäre" 66 . Um nochmals dem Einwand des Reduktionismus zu begegnen: Das bedeutet einerseits zwar, „auf unbewußte Strukturen" aufmerksam zu werden, die sich „als allgemeine . . . nicht zufällig" ergeben, anderseits jedoch auch, „die unterschiedlichen Ausprägungen des jeweiligen Schemas" zu erkennen (Schema hier meint: die „ödipale" Struktur einer Phantasie); wer die Schemata ebensowohl im menschlichen Seelenleben wie in der Literaturgeschichte, die in ihrer Art u.a. eine Geschichte des Seelenlebens der Menschen ist als uninteressant mißachtet, um die Erfassung des Individuellen nicht zu versäumen, könnte sich von Pietzckers Wort warnen lassen: „Wem an dem Besonderen liegt, der muß zunächst auf das Allgemeine schauen, um dann erst das Besondere aus ihm herzuleiten. Sonst läuft er Gefahr, gerade das Allgemeine und Mechanische undialektisch für die Individualität des jeweiligen Werks und letztlich sogar seiner selbst zu halten." 67 Zum Abschluß in Kürze: sechs Fragestellungen im einzelnen, bei deren Bearbeitung der Altgermanist Unterstützung vonseiten der Psychoanalyse beanspruchen kann. (1) Bei der Erforschung der spätmittelalterlichen und Renaissanceliteratur sind wir damit konfrontiert, daß Witz, Spott, Satire, Komik spürbar stärker hervortreten, und ganz generell die komischen Genres. Weshalb eigentlich? Wir sind damit zudem erneut vor das Problem gestellt: Was ist z. B. ein Witz, wie unterscheidet er sich von der Zote, von der Komik usw.? 68 Die Steinheimer Tagung zeigte, daß inzwischen auch die germanistische Mediävistik an Freuds Abhandlung „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten" nicht mehr vorübergeht und sie etwa bei der Aufklärung der Komik im Schwank und Schwankzyklus zu benutzen versteht. Wiederum möchte vielleicht der Skeptiker gegenfragen: Heißt das nicht abermals, eine moderne Theorie auf Äußerungen anwenden, die gar nicht Äußerungen moderner Zeit sind? Nein. Zum einen griff Freud bei der Entwicklung

" Wie Anm. 8, S. 35. " Ebd. S. 85 f. 68 Keine Problemlösung bedeutet es, wenn man z. B. die Kategorien „Witz" und „Humor" miteinander identifiziert wie z.B. Werner R. Schweizer, Der Witz, Bern etc. 1964, S. lOf. (mit Verwerfung der Theoriebildung bei J. Paul und S. Freud).

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seiner Witztheorie auf alte Erzählbestände zurück, auch Novellistisches, das zumindest in einem Fall bis ins Hochmittelalter zurückzudatieren ist. 69 Zweitens ist der Wandel des Witzes, auch des Witzbestands seit der Renaissance kein grundlegender, wenn auch ein partieller. Freuds Witztheorie erlaubt es uns zudem, die Befunde älterer Theoretiker des Witzes wiederzuerschließen, darunter solcher der Renaissance, die, an der Antike geschult, sich schon um Wesenserklärung und Einteilungsmöglichkeiten der komischen Genres bemühten. So verwies Castiglione für die Witzentstehung auf die Wichtigkeit des „Herzens" 70 , was nichts andres bedeutet, als daß er den Anteil des Unbewußten an der Witzproduktion hervorheben wollte. (2) In der Altgermanistik liegt die Aufgabe vor uns, den in Wahrheit doch recht beträchtlichen Anteil der obszönen Texte aufzuarbeiten. Zu diesem Zweck sind verfehlte Einstellungen z. T. noch erst abzubauen. Ich nenne: die empörte Distanzierung; die Bestrebung, den Umfang des Anteils obszöner Denkmäler herunterzuspielen 71 ; Obszönität unter den Gesichtspunkten der „Ästhetik des Häßlichen", der „nicht mehr schönen Künste" oder eines „Grenzphänomens der Ästhetik" abzuhandeln; sie aufzuspalten durch Ausweisung der „Perversitäten" aus ihrem Umkreis, die hiernach der „harten Pornographie" zufallen würden 72 usw. Aus Sicht der Psychoanalyse verbietet sich die Abtrennung der obszönen Erscheinungen voneinander (der Sexualität im engeren Sinne, des „Skatologischen", der „Perversitäten"), weil auch sie als Momente des einen, wenngleich widersprüchlichen Entwicklungsprozesses der menschlichen Sexualität begriffen werden. Soweit sich dessen Teilerscheinungen in der älteren deutschen Dichtung widerspiegeln, bleiben sie daher Gegenstand der einen Wissenschaft von der älteren deutschen Literatur. (3) In der Dichtung des Mittelalters zählen zu den häufigsten Motiven: Virginität, Keuschheit, Askese u.a., dazu konträre wie: „Sünde", „Buhlerei", Prostitution und benachbarte. Selbst wo nicht „erotische Orgien" Thema sind, was gelegentlich schon vorkommt, vielmehr die „sittlichen Normen des Christentums" gültig bleiben, wiewohl ihre temporäre Verletzung vielleicht gerade geschildert wird, erhebt sich ja die Frage, ob der Wissenschaftler den Text vom Boden eben dieser Normen aus interpretieren

" Wie Anm. 65 (Tagungsbeitrag), dort Anm. Nr. 35 (wegen Freud, GW 6, S. 73; Novellino Nr. 114; Pauli Nr. 502). 70 Das Buch vom Hofmann, übers, von F. Baumgart, Bremen o. J., S. 168; Baumgarts Tadel in der Einl. (S. XLIV), C. gebe eine „unverhältnismäßig lange Erörterung der verschiedenen Arten von Witz, Scherz, Spaß und Schwank" sieht m. E. an der Relevanz der Thematik für das Zeitalter vorbei. 71 Hanns Fischer, Studien zur deutschen Märendichtung, 2 Tübingen 1983, S. 102f.; KarlHeinz Schirmer, Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle, Tübingen 1964, S. 216 f. Wie Anm. 5, S. 200f. (folgt hier der Annahme H. Gieses).

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oder ob er nicht gerade sie mit zum Gegenstand der Betrachtung machen will, selbst auf die Gefahr hin, in ältere Zeiten zurückgeführt zu werden, also etwa das Virginitätsideal aus dem „Virginitätskomplex der Antike" herleiten zu müssen 73 . Die erste deutsche Dichterin, die Nonne Hrotsvith von Gandersheim, war sich nach ihrem Eingeständnis durchaus der Eigenart ihrer Themen bewußt, wenn sie ihre Schamröte beim Dichten erwähnte und den Zwang, „den abscheulichen Wahnsinn derer, die sich mit verbotener Liebe befassen", poetisch abzubilden. 74 Verbotene Liebe (was immer sie sei), die in Hrotsviths Drama „Abraham" begegnende Motivreihe: Virginität/Prostitution/Askese u. a. sind von der Mediävistik unserer Tage kaum noch im Lichte der „sittlichen Normen des Christentums" wissenschaftlich erfaßbar. Hier benötigen wir die Literaturpsychologie ebenso, wie wir sie bei der Bewältigung der in der Dichtung manifesten kulturpsychologischen Probleme der älteren (und nicht bloß der älteren) Jahrhunderte benötigen, darunter solch diffiziler wie: Antiklerikalismus, Antijudaismus, Antifeminismus, Hexenwahn u. a. (4) Die Dichtungsgeschichte kennt das Phänomen der Abwandlung literarischer Motive, ihrer Ersetzung durch gleichwertige oder gegensätzliche, der Einfügung neuer, wo zuvor keines vorhanden war usw. Hier wird die Literaturpsychologie die „psychischen Mechanismen" zu erkunden haben, mit deren Hilfe, oft unter dem Druck der Verdrängungstendenz, die Veränderungen vor sich gingen. Beispiele: In der Novelle des Vriolsheimers 75 werden zwei Hasenbraten gesucht, die verschwunden sind. Der Ritter wähnt den Pfarrer auf der Flucht mit ihnen und setzt ihm nach. Dieser aber, der mit dem Verlust nichts zu tun hat, flieht aufgrund eines Winks der Edelfrau: der Ritter verdächtige ihn, ein Verhältnis mit ihr zu haben. So legt er die Drohung des Verfolgers, er wolle ihm „beide abnehmen", zumindest jedoch einen, notwendigerweise falsch aus. Der Blick auf die Märchenfassung 76 späterer Zeit zeigt, wie geändert wurde: der Gast, durch den Hausherrn bedroht, fürchtet jetzt - um seine Ohren (psychologisch: „Verlegung von unten nach oben"). Die umgekehrte Tendenz ist: Ein verpöntes, weil perverses Motiv wird in einen gegebenen Stoff neu eingebaut, wo es zuvor nicht vorhanden war, und dem Leserbewußtsein zugänglich gemacht. So erzählt Pauli das Exempel von dem Mönch, der im Rausch eine Bürgersfrau, deren Gast er ist, vergewaltigt und den Gastgeber ermordet. 77 Jörg Wickram machte daraus die viel ausführlichere Kriminalgeschichte von einem Einsiedler, der, ebenfalls im Rausch, „sein eigen 73

74 75 76 77

Karlheinz Deschner, das Kreuz mit der Kirche. Eine Sexualgeschichte des Christentum«, Düsseldorf etc. 1974, S. 240. Dulcitius/Abraham. Zwei Dramen, übers, von K. Langosch, Stuttgart 1964, S. 47. NGA Nr. 16. Grimms K H M Nr. 77. Johannes Pauli, Schimpf und Ernst, hg. von J. Bolte, 2 Tie., Berlin 1924, hier T. 1, S. 155.

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schwester ermort" 78 , notabene: nach vorangegangener inzestuöser Notzucht; dies das neu eingefügte Motiv. Dem schaltete der Autor sogar noch ein zweites neu vor: den Rückzug des Bruders in die Einöde als Vorgeschichte; psychologisch, vom Bruder her gesehen, der unbewußte Versuch der Inzestvermeidung. (5) Bei Erschließung der Produktions- ebenso wie der Rezeptionsverhältnisse älterer Literatur könnte der Rückgriff auf die psychoanalytische Kunsttheorie sich als nützlich erweisen, z.B. auf das von Freud (1908) vorgestellte allgemeine Modell der Phantasiearbeit. 79 Im Vergleich dazu blieben germanistische Spekulationen derselben Zeit über Kunstarbeit leicht in Tautologien und trivialen Lyrismen stecken, wie es etwa die „akademische Rede" Behaghels „Bewusstes und Unbewusstes im dichterischen Schaffen" (1906) belegt. Darin heißt es: „ . . . es ist gewiss kein Zufall, dass das Tun des Dichters besonders leicht sich verknüpft mit einer anderen Art der Erregung, die ihrerseits auch gesteigertem Lebensgefühl entspringt, dass es so gerne geneigt ist, mit erotischen Bildern zu spielen, und es ist kein Zufall, dass die lyrische Leier am heftigsten erklingt, wenn der knospende Lenz durch die Lande zieht." 80 (6) Als letzten Aspekt erwähne ich hier den sprachhistorischen und den Beitrag der Psychoanalyse dazu, insbesondere zur Lexik des Obszönen.81 Außer mit der obszönen Lexik hat es der Altgermanist mit den benachbarten Problemen der obszönen Metaphorik sowie der Euphemismen und Periphrasen zu tun, Feldern, auf denen bereits der Amerikaner H. Kratz mit seiner materialreichen, etwa 500 S. umfassenden Untersuchung „Über den Wortschatz der Erotik im Spätmittelhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen" 82 vorgearbeitet hat. Leider versäumten Fischer und Schirmer, dies Buch für ihre Schriften über die Novellistik des Spätmittelalters auszuwerten. Nicht zuletzt deshalb gelangten sie zu unhaltbaren Aufstellungen über die Obszönität in den von ihnen erforschten Texten.83 Etwa Rollwagenbüchlein Nr. 72. Hinweis hierauf bei Pietzcker, S. 63; bei Freud GW 7, S. 217f.: „Die seelische Arbeit knüpft an einen aktuellen Eindruck, einen Anlaß in der Gegenwart an, der imstande war, einen der großen Wünsche der Person zu wecken, greift von da aus auf die Erinnerung eines früheren, meist infantilen Erlebnisses zurück, in dem jener Wunsch erfüllt war, und schafft nun eine auf die Zukunft bezogene Situation, welche sich als die Erfüllung jenes Wunsches darstellt, eben den Tagtraum oder die Phantasie, die nun die Spuren ihrer Herkunft vom Anlasse und von der Erinnerung an sich trägt. Also Vergangenes, Gegenwärtiges, Zukünftiges wie an der Schnur des durchlaufenden Wunsches aneinandergereiht." 80 Gießen 1906; vielleicht Geibel-Reminiszenz, vgl. dessen Gedichte „Dichterleben", GW, wie Anm. 51, Bd. 1, S. 94, und „Im März", Bd. 2, S. 23 f. 81 U. a. Sandor Ferenczi, Über obszöne Worte, in: Schriften zur Psychoanalyse, 2 Bde., hg. von M. Balint, hier Bd. 1, S. 59-72, sowie Äußerungen Freuds (z.B.: GW 6, S. 134; 10, S. 299 f.). «2 Diss. Ohio 1949. «3 Wie Anm. 71. 78

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Schirmer behauptete, die Umschreibung für den Koitus „nach Art eines ritterlichen Kampfspieles" (z. B. eine Lanze stechen) deute immer schon auf den Bereich hin, in dem sie verstanden werde, den höfischen nämlich. 84 Er verkannte, daß die Periphrase bzw. Metapher für Sexuelles zunächst auf nichts anderes verweist als auf die Sphäre der Sexualität, und so wird sie von den Rezipienten verstanden worden sein, nicht nur bei Hofe. Schrieb vielleicht der Salernitaner Masuccio allein für Leser aus dem Adels- und Klerikerstand, als er in seiner 5. Novelle den verwegenen Schlachtruf kreierte? Da lesen wir: „Der Pfarrer... warf" Massimilla „also ohne weiteres auf ein Ruhebett, und zum ersten Rennen wohlgerüstet, legte er Hand an sein Gewaffen und mit dem Feldgeschrei: ,Der Papst ziehe in Rom ein!' beförderte er es kunstgerecht an das dafür bestimmte geschaffene Ziel, und zwar so, dass er es bei jedem Stoss den Altar und Chor von Sankt Peter sehen Hess."85 Meine Kritik an altgermanistischen Forschungsbeiträgen würde mißverstehen, wer sie als Kollegenschimpf auffassen wollte. Vielmehr soll sie eine letzte, aber wie ich meine: übergeordnete Problematik verdeutlichen: Eine Akzeptanz der Psychoanalyse in der Altgermanistik könnte in Zukunft womöglich verhindern helfen, daß die Gelehrten, statt ein Problem zu erkennen und es zu bearbeiten, wo es gegeben ist, es unter dem Zwang der Verdrängung mißkennen und eskamotieren. So vermag Literaturpsychologie beizutragen zur Erfüllung der immerwährenden Pflicht aller Altgermanisten: Selbstkritik an ihrer eigenen Tätigkeit und am Wissenschaftsprozeß des Faches zu üben um des vornehmsten Ziels altgermanistischer Forschung willen, welches lautet: die Aufklärung über ältere deutsche Literatur vorurteilsfrei weiterzutreiben.

. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Univcrsität Halle-Wittenberg. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, Jahrgang III (Halle), 1953/54, S. 887-899; hier: S. 887. Ebda. Vgl. über Baeseckes gescheiterten Versuch einer umfassenden Darstellung der althochdeutschen Literaturgeschichte Werner Schröder: Grenzen und Möglichkeiten einer althochdeutschen Literaturgeschichte. Berlin: Akademie-Verlag, 1959 ( = Berichte über die Verhandlungen der

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gaben sich überzeugt davon. Durfte man sich dermaßen für „unüberwindlich" erklären? Viele glaubten, sie sollten das. Und darin zeigten sie ihr "besseres" und „eigneres", kurz: ihr deutsches Wesen. Gerade das Hildebrandslied, dieses ehrwürdige Monument, seitdem die Brüder Grimm, die Dioskuren der aufschäumenden germanischen Elementarkunde, im Jahre 1812 für seine gehörige Verbreitung in der gebildeten Welt gesorgt hatten9, mußte unstreitig für das nationale Gemüt größte Bedeutung erlangen, als dieses sich mehr und mehr mit dem beschäftigte, was es, mit Aplomb und eigentlich schon immer, für seinen „eigensten" Aspekt hielt10, jetzt und erst recht in Zukunft. Unablässige Selbstbespiegelung ganzer Germanistengenerationen im gefahrlichen Paradigma, angeleitet von ihren Lehrern. Sieghaft, ohne Selbstüberwindung, die hier vielleicht angebracht gewesen wäre, rekonstruierten sie den heldischen Zweikampf in seinem Verlaufe, dessen Ausgang die karge Überlieferung zu berichten verschmäht hatte. In dem tragischen Heroismus, der in der Gestalt des alten Recken, welcher noch einmal als der Champion seines Herrn in die Schranken tritt, zum Vorschein kommt, ein Konflikt, der aus der Tatsache entsteht, daß Hildebrand die Heimat, den Weg zurück in das „Vaterland", wie die Germanisten es gerne nennen, nur um den Preis gewinnen kann, daß er, in Treue fest, dem Prinzip germanischer Gefolgschaftsbindung den eigenen Sohn opfert, was, glaubte man, war darin zu erkennen? Im wütigen Heldenmut, der machte, daß der berserkr die Probe bestand, zwar nicht gänzlich unversehrt, doch, nach sechzig Sommern und Wintern, letztlich ungebrochen, darin schimmerte anscheinend etwas auf und in unsere über tausend Jahre vom Ereignis entfernte Gegenwart herüber. Ein Beispiel für die eigenartige Macht der Literatur. Mit dem Verhältnis von Kunst und Leben hat es seine besondere Bewandtnis. Etwas reizte wohl zur Identifikation. Es muß etwas Ursprünglichstes gewesen sein - so originär wie der zur diätetischen Form kultivierte Superlativ. Darin gedeiht die germanistische Flora und Fauna prächtig. Nichts ist romantischer, als was man gewöhnlich Welt und Schicksal nennt,

Sächsischen Akademie der Wissenschaften ^u Leipzig, Philologisch-historische Klasse, Band 105, Heft 2). ® Die beiden ältesten deutseben Gedichte aus dem achten Jahrhundert: Das Lied von Hildebrand und Hadubrand und das Weißenbrunner Gebet %um erstenmal in ihrem Metrum dargestellt und herausgegeben durch die Brüder Grimm. Cassel: bei Thurneisen, 1812. 10 Merkwürdigerweise gibt es, soweit ich sehe, keine Untersuchung, die diese Seite der Rezeption des alten Heldenliedes zum Thema genommen hätte. Auch van der Kolk geht in seinem forschungsgeschichtlichen Überblick mit keiner Silbe auf die problematische Spätwirkung des heroischen cantus firmus ein; vgl. Helmich van der Kolk: Das Hildebrandlied. Eine forschungsgeschichtliche Darstellung. Academisch Proefschrift, Vrije Universiteit tc Amsterdam, 12. Mai 1967. Amsterdam: Scheltema & Holkema (1967). Die ideologiekritischen Arbeiten über die Rolle der Germanistik im Dritten Reich behandeln, wenn sie sich auf Texte beziehen, vorzugsweise die Bedeutung des Nibelungenliedes für die NaziPropaganda.

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schrieb Novalis in einem seiner Aphorismen", und er setzte hinzu: Wir leben in einem kolossalen (im Großen wie im Kleinen) Roman. Eine hellsichtige Bemerkung. Sie hat sich seither vielfach bewahrheitet. Haben nicht zahlreiche deutsche Historiker und Philologen den literarischen Traum v o m Heldenzeitalter ihrer Nation geträumt? Mit den Ergüssen ihrer Feder haben sie dafür gesorgt, daß er unter die Leute kam 1 2 . Aber wieso es dessen noch bedurfte, ist eine interessante Frage. Denn die Geschichte der romantischen Orientierung ist lang. Sie beginnt früh, tief in der Vergangenheit. Wer ihr folgt, muß allerdings wissen, daß er dabei sozusagen einen Entwicklungsroman erlebt, der ihn mit den Höhen und Tiefen des Daseins vertraut macht. Eine für unsere Art typische F o r m , an die Probleme heranzugehen. Welt und Schicksal, ein kolossales Thema für die Germanistik, und seine Behandlung verläuft in der Regel nach dem von ihren Artisten geprägten Gattungsmuster. Den romantischen Roman der Menschheit gestaltet die Germanistik, da er, im Großen wie im Kleinen, ihrem kolossalen Programm gleichkommt. Indem sie die Vergangenheit als Zukunft vorausentwarf, die ihre Weissager uns und den anderen Völkern bereiten wollten, hat sie mitgearbeitet an der politischen Dramaturgie eines furiosen Verhängnisses. In einer heißen Probe ohnegleichen, das wollte auch sie, sollte die verspätete Nation abgerichtet werden, gedrillt für das Muspilli, bereit gemacht, im Endstreit, " Novalis S. 133. 12

Was den Bereich der Schule betrifft, bietet das Werk von Frank einen Überblick; vgl. Horst

Joachim Frank: Dichtung, Sprache, Menschenbildung. Geschichte des Deutschunterrichts von den Anfängen bis 1945, 2 Bde. (München): Deutscher Taschenbuch Verlag (1976) ( = dtv Wissen-

schaftliche Reihe, 4271^272).

Die Versuche einer „Auseinandersetzung mit der Vergangenheit" der Germanistik, wie sie Ende der sechziger Jahre, verspätet und aufs Ganze gesehen zaghaft, in Gang kamen, sind für diesen kurzen Zeitabschnitt dokumentiert bei Gisela Herfurth, J ö r g

Hennig, Lutz Huth: Topographie der Germanistik. Standorthestimmungen 1966-1971. Eine

Bibliographie. Mit einem Vorwort von Wolfgang Bachofer (Berlin): Erich Schmidt (1971). Ideologiekritische Arbeiten über die Geschichte des Faches haben diese bisher noch nicht in allen Bereichen verdeutlichen können. In der Regel beginnen die zusammenfassenden Darstellungen mit Scherer, während sie von der vorhergehenden Epoche allenfalls noch die Leistung Georg Gottfried Gervinus' würdigen. Vgl. z. B. den Überblick über die

Methoden der Literaturgescbichtsschreibung von Horst Albert Glaser, in: Grundlage der Literatur-

und Sprachwissenschaft. Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold und Volker Sinemus, Band 1: Literaturwissenschaft (6. Auflage), Band 2: Sprachwissenschaft. In Zusammenarbeit mit Rolf Dietrich und Siegfried Kanngießer (München): Deutscher Taschenbuch Verlag (1980, '1973; 1974) ( = dtv Wissenschaft, 4226-4227), Bd. I, S. 413-^31; vgl. auch Materialien

%ur Ideologiegeschichte der deutseben Literaturwissenschaft. Von Wilhelm Scherer bis 1945. Mit einer Einführung herausgegeben von Gunter Reiss, Band 1: Von Scherer bis %um Ersten Weltkrieg. Band 2: Vom Ersten

Weltkrieg bis 1945, Tübingen: Max Niemeyer (1973) ( =

Texte %ur

Wissenschaftsgeschichte der Germanistik IV-V) ( = Deutsche Texte. Herausgegeben von Gott-

hart Wunberg, 21-22).

Hier sei noch verwiesen auf Bernd Pcschken: Versuch einer germanistischen

Ideologiekritik.

Goethe, Lessing, Novalis, Tieck, Hölderlin, Heine in Wilhelm DUtheys und Julian Schmidts Vorstellungen, Stuttgart: Metzler (1972) ( = Texte Methler, 23).

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der dem Weltenbrand vorausgeht, die Rolle des feurigen Elias zu spielen, der ihn, nach dem Orakelspruch, mit seinem herabträufelnden Blut entzündet. Das Phänomen, von dem Novalis sprach, der Ursprung als Ziel der Geschichte, die Wiederkehr der Dämmerung im spätzeitlichen Frührot, war zu seiner Zeit schon alt. Auch nicht unbekannt, nur daß diese Tatsache heute vielleicht noch nicht genügend untersucht und bedacht worden ist. Im „patriotischen Blut- und Wundenkult" feierten die Dichter der Kiopstockzeit den Krieg als sakrale Opferhandlung auf dem Altar des Vaterlandes13. Hermann und Thusnelda posierten in Oper und Bardiet. Man sah die Sieger über das welsche Gezücht sich auf der Schaubühne bekränzen mit Eichenlaub und Feldblumen. Der Verfasser des Meßtasu und der Hermanns Schlacht15 verdiente sich daneben patriotische Lorbeeren als Sprachreiniger16. Begibt man sich weiter zurück in die Vergangenheit, so sieht man, daß

in den Akademien der Gelehrten, in den literarischen Genossenschaften anerkannt großherziger Männer, in den Musenbünden der Schulfüchse, in den Zünften der als Schäfer mimikrierenden Ticht-Meister und bei all den poetischen Sektierern des Barockzeitalters17, die uns manchmal etwas befremdlich vorkommen, ein Polyhistorismus gepflegt wurde, dessen Aspektreichtum noch heute beeindruckt. Er war das Erbe des Humanismus, das ihnen durchaus etwas galt. Man nennt sie mit einem Sammelnamen „Sprachgesellschaften", aber diese Bezeichnung hinkt den weitgespannten Zielen dieser Vereinigungen doch hinterher. In der Sprache ihrer Zeitgenos13

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Vgl. darüber Gerhard Kaiser: Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag %um Problem der Säkularisation, Wiesbaden: Franz Steiner, 1961 (= Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte in MainAbteilung für abendländische Religionsgeschichte. Herausgegeben von Joseph Lortz, Band 24), S. 124-138. Ich benutze die Ausgabe: Der Meßias, Erster Band [I.-V. Gesang nebst der Abhandlung I in der heiligen Poesie] Der Messias. Zweyter Band [ V I . - X . Gesang nebst der Abhandlung

Von der Nachahmung des griechischen Sylbenmaßes im Deutschen], 2 Bde. in 1 Faszikel, Carlsruhe: bey Christian Gottlieb Schmieder, 1775. 15

Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne von Friedrich Gottlieb Klopstock. Mit Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Heinrich Düntzer, Leipzig: F. A. Brock-

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haus, 1876 (= Bibliothek der Deutschen Nationalliteratur des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts). Vgl. Renate Baudusch-Walker: Klopstock als Sprachwissenschaftler und Orthograpbiereformer. Ein Beitrag %ur Geschichte der deutseben Grammatik im 18.Jahrhundert, Berlin: AkademieVerlag, 1958 (= Deutsche Akademie der Wissenschaften Berlin. Veröffentlichungen der Sprachwissenschaftlichen Kommission, 2), S. 54—100. Einen forschungsgeschichtlichen Überblick bietet Christoph Stoll: Sprachgesellschaften

im

Deutschland des 17.Jahrhunderts. Fruchtbringende Gesellschaft, Aufrichtige Gesellschaft von der Tannen, Deutschgesinnte Genossenschaft, Hirten- und Blumenorden an der PegnitElbschwanenorden, München: List Verlag (1973) (= List Taschenbücher der Wissenschaft. Literatur als Geschichte: Dokumente und Forschung, herausgegeben von Gert Sautermeister, Wilfried F. Schoeller, Klaus Vondung, 1463), S. 147-206. Vgl. auch Karl F. Otto, Jr.: Die Sprachgesellschaften des 17.Jahrhunderts, Stuttgart:

Metzler, 1972 (= Sammlung Methler, Realien \ur Literatur, Abt. D: Literaturgeschichte, 109).

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sen sahen die organisierten Heiler allerdings, mit Recht, einen wichtigen Indikator des allgemeinen Verfalls. Das volkspädagogische Purgatorium, mit dem sie diesen aufzuhalten oder zum Besseren hin zu wenden gedachten, glich jedoch oft einer Roßkur. So feite auch ihre stupende Gelehrsamkeit viele der Mitglieder solcher Sodalitäten nicht vor eifernder Germanomythie. Man muß nur einige ihrer Schriften zur Hand nehmen, um dessen gewahr zu werden. Der die Streitaxt schwingende pittoreske Teutobold, der auf Sitte bedacht ist, dieweil er in Römerblut badet, stolzierte in ihren Träumen durch Germaniens waldreiche Kulisse. Man kennt die Vielwisserei, welche als Manier der Zeit erscheint, weder in ihrem fabelhaften Ausmaß noch in den Verästelungen ihrer zahlreichen Sparten schon zur Genüge, aber man begreift, daß die Erwartung, in einem von fremden Heerscharen so lange blutig heimgesuchten Lande müßte der nationale Tenor dem Lärmen und Lamentieren nicht beigemengt sein, die aus dieser schrecklichen Zeit bis zu uns herüber dringen, übertrieben wäre. Nur erklärt dies noch nicht die wahre Lust, mit der der patriotische Stentor sich bereits damals so überaus vernehmlich machte. Abgehalfterte Haupt-Leute betraten die literarische Szene, schwärmten vom großen Schlachten. Daradiridatumtarides Windbrecher von Tausend Mord, ein anderer Bramarbas, machte auf sich aufmerksam. Mit Pot^-Blit^ und Schwefel-Donner-und-Salpeter-GcschwAieX taten sich marodierende Buben auch als Maulhelden hervor. Und wie jede richtige Satire wurde auch diese bald von der deutschen Wirklichkeit eingeholt und übertroffen. Die Germanistik aber quittierte die Gemütserhitzungen der Patrioten, die nach ihrem Aufschwung beim Höhenflug am Luftwiderstand geistig zu wachsen begannen, mit dem Dank der Fachwelt. Die enzyklopädische Kultur der Epoche war auf verstandesklare Distinktionsfahigkeit angewiesen, auf säuberliches Trennen und sorgfaltiges Ordnen. Dies stößt nicht immer auf Verständnis. Das formlos Rohe, wenn es nur stark war, bekam manchmal Vorrang. Es gab Zeiten, in denen die Tugenden des Scheidens und des Messens im Rückblick bei den Spezialisten für diese Ära nicht gut wegkamen, sondern in denen der Zunft mehr an den Zeugnissen des nationalen Sursum corda gelegen war. Denn das Ungebärdige, wenn man zeigen konnte, daß es schon immer zum deutschen Wesen gehört hatte, ließ sich trefflich stimulieren, um mit ihm im politischen Waffengang, zu dem viele Gelehrte sich aufgerufen wähnten, Wirkung auf die Gegenwart zu erzielen. Die Kreise aber, in denen schon in viel älterer Zeit die nationale Chimäre zum Fetisch erhoben wurde, waren keineswegs solche des literarischen Unter- oder Hintergrundes. Rechtschaffene Männer, wie sie sich in teutschgesinnten Sozietäten zusammentaten, beteten sie an. Puristische Konventikel18, in denen biderbe Charaktertypen gegen vnartig 18

Organisationen wie der „Allgemeine Deutsche Sprachverein" und Institutionen wie das (sich großspurig so nennende) „Deutsche Sprachpflegeamt", die jedoch in Wirklichkeit

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Raimund Kemper nicht die Sprachpflege zu pflegen pflegten, sondern deren Ziele mit Sprache insoweit zu tun hatten oder haben, daß in ihnen ausprobiert wurde oder wird, wie man diese durch wirksame Regulierung politisch unter Kontrolle bringt - diese Dezernate staatlicher Reinigungsdienste haben sich immer wieder bewußt in die Nachfolge jener altpatriotischen Bünde des siebzehnten Jahrhunderts gestellt und die Sprachgesellschaften des Barocks ausdrücklich zu ihren „Vorläufern" erhoben. Daß sie die Möglichkeit dazu hatten, sagt natürlich einiges über die Sprachgesellschaften aus, auch wenn man einräumen muß, daß dieselben bis heute noch nicht hinreichend, das heißt auf der Basis aller erhaltenen Archivalien, erforscht sind. Vgl. zum Beispiel Friedrich Kluge: Der Kampf um die deutsche Sprache. Vortrag im Deutschen Sprachverein Weimar am 6. Februar 1887 gehalten, Weimar: Hof-Buchdruckerei, 1887. - Derlei „Kampf'-Metaphorik wird in den späteren einschlägigen Veröffentlichungen dieses sprachpolitischen Neo-Weimaraners und „Jüngers der Deutschkunde", wie er selbst seine Leser (im „Vorwort" von 1918 des im folgenden genannten Werkes) charakterisiert, beibehalten, und zwar in seiner Sammlung Von Luther bis Lessing. Sprachgesibicht/iche Aufsätze, vierte, durchgesehene Auflage, Straßburg 1904, mit dem neuen Untertitel Aufsätze und Vorträge %ur Geschichte unserer Schriftsprache in fünfter, durchgesehener Auflage erschienen in Leipzig: Quelle & Meyer, 1918. (Mir hat auch die zweite Auflage, Straßburg: Karl J. Trübner, 1888, vorgelegen. Aus dem „Vorwort" dieser Auflage die Stichwörter: „Nationalitätsgefühl" - „Lutherjubiläum" - „das zweite Centenarium der ersten Universitätsvorlesung in deutscher Sprache" - „die Feier von Huttens Geburtstag" - „die sprachschöpferische Gewalt [sie!] unseres Reichskanzlers" - „die Heroen unserer Geschichte" - „die siegreiche Bekämpfung des Lateinischen". Ein Ensemble von Themen, die im ideologischen Konzert des Deutschtums niemals fehlen.) Vgl. auch Friedrich Kluge: Deutsche Sprachgeschichte. Werden und Wachsen unserer Muttersprache von ihren Anfängen bis %ur Gegenwart, Leipzig: Quelle & Meyer (1920), hier vor allem S.340f. Dort liest man - an die Adresse der „Widersacher, die die Pflege und Reinheit der Muttersprache mit verhaltenem oder offenem Grimm erfüllt" (S.341), über die es keinen „Sieg" ohne Kampf gibt, und entsprechend: „Ohne Kampf auch kein Sieg für unser Deutsch" - unter anderm die folgenden, bezeichnenden Passagen: „Das Erbe der Väter, das sich stets befestigt und gemehrt hat, bleibt uns ewig treu wie des Himmels Licht. [...] Es hat uns vom Tiefstand notvoller Zeiten auf die Höhe der Menschheit geführt, wo deutscher Geist in hellem Glanz für uns und für andere strahlt. Ein großes Volk findet große Führer, und unsere Weltstellung bestimmt auch unsere Sprache. [ . . . ] Aber unsere Sprache ist das herrliche Gefäß, in dem Volk und Führer sich und ihre völkische und persönliche Eigenart spiegeln. Unser Volkstum war Germanentum und ist Deutschtum; das ist die Einheit des Bluts und des geschichtlichen Erlebens. [ . . . ] Dichter und Denker lehren uns, sie < sc. unsere Muttersprache > zu lieben und gebieten uns, ihr zu dienen. Sie verheißen uns über Nachbarn Ruhm und Weltherrschaft [...]. Die deutsche Geschichte, die uns Luther und Bismarck, Schiller und Goethe geschenkt hat, verheißt dem Deutschtum noch neue große Tage [...]. Nichts fordert unsere Zeit gebieterischer von uns allen als ernste Pflichterfüllung gegen Deutschtum und Muttersprache. Wem es damit ernst ist, der ehrt auch jene Spracharbeit, die unserm Deutschtum gilt. [...] Ehren wir alle die Muttersprache, da wär's ein Fest, Deutscher mit Deutschen zu sein! Wer für unsere Sprache arbeitet, kämpft für unser Deutschtum. So mühen wir uns um eine heilige Sache, wenn uns das Wohl der Vaterlands am Herzen liegt, indem wir für Pflege und Reinheit der Muttersprache eintreten. Die Verwelschung wäre viel tiefer [!] eingerissen, die Pflege des Deutschen wäre nicht so erfolgreich betrieben, hätte nicht im Dreißigjährigen Krieg Deutschlands Not die Herzen so vieler Vaterlandsfreunde zu den Waffen gerufen. Ohne Kampf auch kein Sieg [...]" Hier wird der Dreißigjährige Krieg typologisch mit dem Weltkrieg identifiziert - eine frappante Geschichtsklitterung, die aber erlaubt, das, was sich die Trabanten des Deutschen

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Sprachvereins politisch vorgenommen haben, mit dem Hinweis auf die Leistung der Sprachgesellschaften des siebzehnten Jahrhunderts zu legitimieren. Das „Verwelschungs"Trauma macht die Pflege der Reinheit des sprachlichen Mutterschoßes notwendig, eine „heilige" Sache, wie man liest, und außerdem zum Wohle des Vaterlandes. Die deutschen Söhne sollen aufmerken. Ein Sprachvereinsmeier mit dem Bestreben, die deutsche Sprache reinzuwaschen. Es offenbart, im xenophoben Pathos, das für die Phraseologie seiner Ergüsse kennzeichnend ist, den psychoneurotischen Kern teutschtümelnder läutolalien. Der Erbfeind wird kräftig bedroht - mit verbalen Pollutionen. Solche Aggressivität entspringt aber nicht einem sozusagen einwandfreien Verhältnis zur Muttersprache. Sie ist vielmehr Ausdruck eines verdrängten Hasses - auf die Mutter, von der die Spuren aller unsauberen Vermischungen abgeschrubbt werden müssen, welche sich die Dame von Zeit zu Zeit leistet. Der Muttersprachenkomplex entsteht bei manchen deutschen Sprachmeistern aus gewissen Erfahrungen mit dem Lustinstrument ihres Deutschtums, der deutschen Sprache, die ihnen diese nicht erspart hat. Sie werden folgerichtig zu Säuberungsspezialisten, weil in einer Riege, die unter dem Zwang patriotischer „Pflichterfüllung" und serviler Ertüchtigung im gehobenen „Dienst" am Vaterland angetreten ist, Gefühlsambivalenzen unstatthaft sind. So erfolgt die Triebabfuhr, indem der germanische Bastard gegen die stattgehabte „Verwelschung" wütet. Die war ihm entschieden zu „tief', sagt er, „eingerissen". Daher läßt er jetzt das „Blut" seines Nachbarn über diesen kommen. An einer anderen Stelle seines sprachwissenschafdichen Werkes fordert derselbe Apostel eine „allgemeine deutsche Reichsaussprache"; s. Friedrich Kluge: Unser Deutsch. Einführung in die Muttersprache. Vorträge und Aufsätze, Leipzig: Quelle & Meyer, 1907 ( = Wissenschaft und Bildung. Einzeldarstellungen aus allen Gebieten des Wissens. Herausgegeben von Paul Herre), S. 143 (im Kapitel: „Ein Reichsamt für deutsche Sprachwissenschaft", S. 140-146). Vgl. auch den Bericht über die Jahresversammlung des deutschen Sprachvereins Weimar, sowie Vortrag dts Herrn Dr. Ernst Wülcker: „Die Verdienste dtr fruchtbringenden Gesellschaft um die deutsche Sprache". Den Mitgliedern dts deutseben Sprachvereins Weimar überreicht vom Vereins-Vorstande, Weimar: Hof-Buchdruckerei, 1888. Eigenartigerweise, und dies verdient besondere Beachtung, war es gerade der „sprachpflegerische" Purismus jener alten Vereinigungen, der die, sich als Nachfahren gerierenden und von paranoider Befleckungsangst geschüttelten, sprachpolitischen Hochdeutschmeister im Deutschen Sprachverein in ihren eigenen Umtrieben motivierte. Der Verein sieht, wie aus dem zitierten Bericht über die Jahresversammlung hervorgeht, seinen Zweck in der Zusammenstellung Schwarzer Listen unerwünschter Fremdwörter, die dann „den höheren Lehranstalten zur Nachahmung zugefertigt" [sie!] werden. Das Niveau, auf dem diese Kampagnen sich abspielten, wenn das Niveau derer, auf die sie Eindruck machen sollten, entsprechend war, wie man wohl annehmen muß, läßt leider nicht den Schluß zu, daß die Lächerlichkeit derartiger Aktivitäten, wie sie in ihren schwülstigen Verlautbarungen aussehen, sie ungefährlich machte. Das Gegenteil ist der Fall. Ich gebe eine Probe zum Beweis: „Erst als auf den Schlachtfeldern Frankreichs der Aar des neuen Deutschen Reiches seine Schwingen zum machtvollen Fluge entfaltet hatte, besann sich unsere Nation mehr und mehr auf die Pflicht, die Muttersprache reinzufegen von den fremden Schmarotzern" (S. VII). Man habe den „Allgemeinen Deutschen Sprachverein" seinerzeit aus diesem Geiste gegründet, und der habe „viel zur Blutauffrischung unserer Muttersprache beigetragen" (S. VII). Dies dürfe aber „nicht wieder in die Saugnäpfe deutschfeindlicher Auslandspolypen geraten" (S. IX). Und wir finden weitere sinnige Passagen, in denen das Pickelhaubengemüt sich erbricht und ein koprologisches Konkokt von sich gibt, dessen Essenzen es zuvor aus dem Mythos gestohlen hatte, der freilich unter solcher Sprachpflege schon längst zum sogenannten „Nordischen Gedanken" verkommen war. Dieser trat dann als der Schweiß der „zusammengeschweißten deutschen Stämme" ans Licht:

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teutsebe Sprach-Verderber donnerten19, brachten dem Abgott ihrer Heimatliebe Rauchopfer dar. Aber es waren ideologische Sumpflichter, die solchermaßen über der Walstatt aufgingen. Phantasmatisch gaukelten sie im hyperboreischen Qualm und waren noch in unserem Jahrhundert geeignet, aufgenordet zu werden zur wotanesken Mitternachtssonne. Das Europa der Vaterländer wurde dank den Bemühungen führender Experten des Nordischen Gedankens in eine eigenartige Beleuchtung getunkt. Es war in der „nationalen Romantik vor der Romantik", wie man es nennen könnte, daß die Idee urtümlicher Einigkeit ausgeheckt wurde: Ideen statt Grundlagenforschung - ein sicherlich berechtigter Vorwurf, den man der Germanistik in vieler Hinsicht machen muß, das hat, wie man sieht, auch schon seine Vorgeschichte. Es entstand die Vorstellung, die manches erklären konnte und vielleicht auch vieles rechtfertigen sollte, als hätten sich die ältesten Eisenbeißer in einem einheitlichen Dialekt miteinander „In dem furchtbaren Weltendrama, das sich im Westen, Osten und Süden unseres Erdteiles abspielt, ist den zu einem großen, starken Reiche zusammengeschweißten deutschen Stämmen von der Vorsehung die führende Rolle zugeteilt worden. Der Geist, der den Arm der Deutschen stählt in dem Kampf gegen die Arglist und Bosheit ihrer Feinde, strömt aus ihrem gemeinsamen Heiligtum der Sprache, verjüngend und kräftigend wie Urds Bronnen unter der Weltesche Yggdrasil, auf deren Wipfel der Adler horstet. Diesen Geist von allen fremden Schädlingen zu befreien, ihn zu läutern und rein zu erhalten, gehört zu den großen Aufgaben unseres Volkes in der neuen Zeit. Das mens sana in corpore sano der Alten muß uns Deutschen inskünftig soviel bedeuten wie: in einem gesunden Körper waltet auch ein gesunder Sprachgeist" (S.IX).

V[ictor] M[artin] Otto Denk: Fürst Ludwigen Anbalt-Cöthen und der erste deutsche Sprachverein. Zum 300jährigen Gedächtnis an die Fruchtbringende Gesellschaft. Mit vielen Abbildungen, Marburg: N . G . Elwert'sche Verlagsbuchhandlung < G . B r a u n > , 1917. Zur angemessenen Würdigung der Tätigkeit der Sozietäten vgl. Ferdinand van Ingen:

Überlegungen %ur Erforschung der Sprachgesellschaften. In: Internationaler Arbeitskreis für deutsche Barockliteratur. Erstes Jahrestreffen in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel 27.-31. August

1973. Vorträge und Berichte

(Redaktion: Paul Raabc, Barbara Strutz), Wolfenbüttel:

(Herzog August Bibliothek) 1973 ( = Dokumente des Internationalen

Arbeitskreises für deutsche

Barockliteratur, Band 1), S. 82-106. " Mir liegen in einer Kopie folgende Besprechungen vor:

1. Der unartig teutscher Sprache Verderber. Beschrieben durch einen Liebhaber der redlichen teutsehen Sprach. Gedruckt im Jahr unserer Erlösung MDCXLIII. 8. 3.bogen. In: Kritische Versuche, ausgefertigt durch einige Mitglieder der Deutschen Gesellschaft in Greifswald, Band 1, Greifswald: J . J . Weitbrecht, 1742, S. 194-204.

2. (J.L. A. Rust): Kritische Nachricht von einer sonderbaren Ausgabe des seltenen Buches: der unartig Teutscher Spracbverderber, von dem Jahre 1650. Eine Einladungsschrift auf die Feier, womit das hohe Geburtsfest Sr. ältesten regirenden hoebfürstt. Durch!, des Fürsten Viktor Friederichs Anhalt=Bernburg &c. am 20." des Herbstmonats 1762 begangen wurde, von J.L. A. Rust, Aeltesten der Gesellschaft.

In: Schriften der Fürst!. Anhaltischen

Deutschen Gesellschaft,

Band 1, Quedlinburg u. Bern-

burg bey J . H . Schwans Witwe u. Reußner, 1766, S. 137-163. Das 45 Seiten umfassende Original wird mit dem einem gewissen Chr. Schorer zugeschriebenen Werk in Verbindung gebracht, das 1648 unter dem Titel Neue ausgeputzte Sprach=

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verständigt: der uralten teutschert Haubt- und Heldensprache2*1, gegenwärtiger deutscher Zunge nah verwandt, was das Entscheidende war. Was traf man nicht für Anstalten, wieviel Scharfsinn wurde nicht aufgeboten, um ihre umständlich und akribisch bloßgelegten Strukturen als Pietät heischende Reliquien einer universalen Ur-Grammatik21 zu erweisen. So trat das vaterländische Recken-Idiom, altvaterisch, wie es war, zu den klassischen drei „heiligen Sprachen" in konkurrierende Beziehung, dem Lateinischen, Griechischen und Hebräischen. Doch welch ein Reservoir unvorgreiflicher Gedanken! Welch eine Art der Verständigung wurde durch dieses Mittel,

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Posaun an die unartigen tiutscben Sprach= Verderber erschienen ist. Die jüngere Schrift scheint eine arge Vergröberung des Sprach = Verderbers von 1643 zu sein. Diesen habe ich in einer Kopie des in Göttingen aufbewahrten Exemplars vor mir: Der | Vnartig \ Teutscber \ Sprach = | Verderber. \ Beschrieben \ Durch \ Einen Liebhaber der redlichen \ alten teutseben Sprach. | - Gedruckt / im Jahr unserer Erlösung /1 M DC XIJ/I. Zusammenhange mit Grimmelshausens Deß Weltberuffenen Simplicissimi Pralerey und Gepräng mit seinem Teutseben Micbel sind gegeben; vgl. die Ausgabe von Rolf lärot, Tübingen: Max Niemeyer, 1976 ( = Grimmelshausen: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Unter Mitarbeit von Wolfgang Bender und Franz Günter Sieveke herausgegeben von Rolf lärot). Was den fremdenfeindlichen Purismus der Sprachgesellschaften betrifft, vgl. Karl Dissel: Die spraebreinigenden Bestrebungen im siebzehnten Jahrhundert. In: Festscbrijt zur Einweihung des Wilhelm - Gymnasiums in Hamburgam 21. Mai 1885. Herausgegeben von dem Direktor [d. i. Prof. Dr. Hermann Genthe] und Lehrerkollegium desselben, Hamburg: Otto Meissner, 1885, S. 97-113. Die Arbeit schließt mit einem schneidigen Ausspruch, der Luther in den Mund gelegt wird: „Die Sprache ist die Scheide, in welcher der Geist als ein Schwert steckt, - rostet einmal die Scheide, so wird auch die Schneide angefressen!" S. ferner H[einrich] Schultz: Die Bestrebungen der Spracbgesellschajten des XVII. Jahrhunderts für Reinigung der deutschen Sprache, Göttingen: Vandenhoeck Sc Ruprecht's Verlag, 1888; Hans Wolff: Der Purismus in der deutseben Litteratur des siebzehnten Jahrhunderts, Diss. phil. Strassburg. - Strassburg: Universitäts-Buchdruckerei von J. H. Ed. Heitz < Heitz & Mündel > , 1888; Adolf Socin: Schriftsprache und Dialekte im Deutseben nach Zeugnissen alter und neuer Zeit. Beiträge z*r Geschichte der deutseben Sprache. (Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Heilbronn 1888), Hildesheim, New York: Olms. 1970, S. 350-359: „Das Deutsche im Kampf gegen die Fremdwörter und als Schulsprache"; Karl Dissel: Philipp von Zesen und die Deutscbgesirmte Genossenschaft, Hamburg: Gedruckt bei Lütcke & Wulff, Eines Hohen Senates, wie auch des Johanneums Buchdruckern, 1890 ( = Wissenschaftliche Beilage zum Osterprogramm des Wilhelm-Gjmmuiums in Hamburg 1890); Cornelie Prange: Ein Jahrzehnt deutscher Sprachreinigung. Von 1640-1650. Ein Spiegel der gleichzeitigen Streitschriften- und Satirenliteratur gegen das Fremdwort, Diss. phil. Freiburg (30. März 1921) [Typoscript-Durchschlag]. Gerhard Söhn: Gegen ,Sprachmengerei und kauderwelsche abrf. Die Spracbgesellscbaften des 17.Jahrb. In: der literat. Zeitschrift für Literatur und Kunst (Herausgeber: Schutzverband Deutscher Schriftsteller Hessen e.V.), 11. Jahrgang, Nummer 1, Frankfurt, den 15.Januar 1969, S.6; Ferdinand van Ingen: Die Spracbgesellscbaften des 17.Jahrhunderts. Versuch einer Korrektur. In: Daphnis, Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur, Band 1, Berlin, New York, 1972, S. 14-23. Vgl. dazu die Proben bei Stoll, aaO., S. 60-110. Zur Beurteilung dieser Bestrebungen vgl. die interessante Arbeit von Erika Ising: Woljgang Raths Schriften zur deutseben Grammatik < 1612-1630> . Teil I: Abhandlung. Teil II: Textausgabe, Berlin: Akademie-Verlag, 1959 (= Deutsche Akademie der Wissenschaften z" Berlin. Veröffentlichungen der Sprachwissenschaftlichen Kommission, 3).

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das schon vorweg als vom Zweck geheiligt galt, angebahnt. In dieser Konstellation mußte es offenbar werden, welch wackere Geisteskindschaft sich da mit Grobheiten hervortat. Immerhin bestand Aussicht, wenn der zur Rede greifende Held diese sprachliche Keule nur brav schwang, so er bei Kräften blieb, mit dem ungeschlachten Instrument schließlich auch den geschmeidigsten Gegner zu ermüden. Auf diese Weise geriet das Kauderwelsch der teutonischen Flegel mitten zwischen die erhabene Dreiheit der alten Sprachen. Fortan bedrohte es die Kultur und war doch nur, in seiner Bedeutung für die römische Zivilisation, ein Veteranen-Volapük. Schon unter Karl dem Großen begann man auf das Deutsche zu pochen. Heutige Philologen zeigten sich davon entzückt. Längst war man darauf aus gewesen, den entscheidenden Anteil des Deutschen an der archaischen lingua universalis22 bekanntzugeben. Von dieser wollten die Grammatiker alle Sprachen herleiten. Besonders aber in der deutschen, wollten Protogermanisten dartun, hätten bestimmte Grundmuster die Jahrtausende überdauert, sogar die babylonische Verwirrung. Woher wohl solche Denkfiguren stammen mögen? Deutschem Sang und deutscher Sage, deutschem Wein und deutschem Schein, ihnen haftete etwas an, das sie zu beredten Zeugen der historia litteraria antediluviana machte. Nicht nötig, darauf hinzuweisen, daß eine solche in Umrissen tatsächlich anno 1713 veröffentlicht worden ist23. Wie weit hatte, noch bevor ihr die Romantik zum Aufschwung verhalf, es die Altertumskunde nicht schon getrieben! Über die Epoche des Humanismus, um sie in diesem Rückblick nicht ganz zu übergehen24, trügt vielleicht der erste Schein. Doch diese Zeit enthielt, lange bevor der Auswurf des kollektiven Seelengrundes an seiner

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Zum Begriff der „Harmonie der Sprachen" s. bei Ising, aaO., Teil I, S. 36-38, wo auch auf die Fruchtbringende Gesellschaft hingewiesen wird. Im Zusammenhang der Geschichte der Sprachwissenschaft wird dies Problem behandelt von Hans Arens: Sprachwissenschaft. Der Gang ihrer Entwicklung von Jer Antike bis %ur Gegenwart (2. Auflage). Band 1: Von der Antike bis ^um Ausgang des 19. Jahrhunderts. Band 2: Das 20.Jahrhundert (Frankfurt am Main): Fischer Athenäum Taschenbuch Verlag (1974) ( = Fischer Athenäum Taschenbücher Sprachwissenschaft, 2077, 2078), Bd. I, S. 62 ff., insbesondere S. 72 ff. Ich habe in meinem Buch über Die Redaktion der Epigramme des Celtis, Kronberg/Ts.: Scriptor, 1975 (= Scriptor Hochscbulschriften. Literaturwissenschaft, 9) auf diesen Versuch aufmerksam gemacht. Vgl. meine Beurteilung ebda. S. 240-241 sowie den bibliographischen Nachweis. Vgl. hierzu Klaus von See: Deutsche Germanen-Ideologie. Vom Humanismus bis %ur Gegenwart (Frankfurt < M >): Athenäum (1970) und, zusammenfassend, Frank L. Borchardt: German Antiquity and Renaissance Mjth, Baltimore and London: The Johns Hopkins Press (1971). Ich verweise noch auf folgende Arbeiten: Georg Voigt: Die deutsche Kaisersage. In: Historische Zeitschrift, 26. Band, München, 1871, S. 131-187; dazu Adolf Schmidt: Bibliographisches xjtr deutschen Kaisersage. In: Centraiblatt für Bibliothekswesen, 9. Jahrgang, Leipzig, 1892, S. 226-228. Paul Joachimsohn: Die humanistische Geschieht Schreibung in Deutschland. Heft I: Die

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Anfänge. SigismundMiisttrlin, Bonn: P. Hanstein, 1895; Paul Joachimsen: Geschichtsauffassung und Gescbicbtscbreibung in Deutschland unter dem Einfluss des Humanismus. Erster (einzig erschienener) Teil, Leipzig und Berlin: B. G. leubner, 1910 ( = Beiträge %ur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance. Herausgegeben von Walter Goetz, Heft 6); Paul Joachimsen: Der Humanismus und die Entwicklung des deutseben Geistes. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 8. Jahrg. Halle/Saale, 1930, S. 419—480, insbesondere S. 443 ff. Friedrich Gotthelf: Das deutsche Altertum in den Anschauungen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, Berlin: Alexander Duncker, 1900 ( = Forschungen %ur neueren Literaturgeschichte, herausgegeben von Franz Muncker, XIII); zum 18. Jahrhundert vgl. Willy Scheel: Klopstocks Kenntnis: des germanischen Alterthums. In: Vierteljahrsschrift fiir Literaturgeschichte, 6. Band, Weimar, 1893, S. 186-212. Walter Steinhauser: Eine deutsche Altertumskunde aus dem Anfang des 16.Jahrhunderts. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, 66. Band, Berlin, 1929, S. 25-30; Joachim Wagner: Äußerungen deutseben Nationalgefühls am Ausgang des Mittelalters. In: Deutsche Vierteljahrsschrift fiir Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 9. Jahrg., Halle/Saale, 1931, S. 389-424; Walther Köhler: Du deutsche Kaiseridee am Anfang des 16.Jahrhunderts. In: Historische Zeitschrift, Band 149, München und Berlin, 1934, S. 35-56. Deutschlands Paul Hans Stemmermann: Die Anfänge der deutschen Vorgescbicbtsforschung. Bodenaltertümer in der Anschauung des 16. und 17.Jahrhunderts, Diss. phil. Heidelberg (24. Mai 1933), Quakenbrück i. Hann.: Handelsdruckerei C. Trute, 1934; H. Dannenbauer: Germanisches Altertum und deutsche Geschichtswissenschaft, Antrittsvorlesung, Tübingen: J. C. B. Mohr < Paul Siebeck > , 1935 ( = Philosophie und Geschichte. Eine Sammlung von [ ortragen und Schriften aus dem Gebiet der Philosophie und Geschichte, 52). Ulrich Paul: Studien %vr Geschichte des deutschen Nationalbewußtseins im Zeitalter des Humanismus und der Reformation, Berlin: Emil Ebering, 1936 ( = Historische Studien, unter Mitwirkung [ . . . ] herausgegeben von Emil Ebering, Heft 298). Wilhelm Frenzen: Germanienbild und Patriotismus im Zeitalter des deutschen Barock. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 15. Jahrg., Halle/Saale, 1937, S. 203-219; Hermann Menhardt: Altdeutsche Dichtung in den Wiener Vorlesungen des Vädianus 1512-1513. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, 75. Band, Berlin, 1938, S. 39-48. Theobald Bieder: Geschichte der Germanenforschung. Erster Teil: 1500 bis 1806. Zweite, vermehrte und verbesserte Auflage, Leipzig: Hase & Koehler (1939; '1921) ( = Deutsches Ahnenerbe. Reihe A: Grundwerke, Bd. 2); Hermann Gumbel: Volk und Reich im Schrifttum der Reformbewegung. In: Von deutscher Art in Sprache und Dichtung (herausgegeben im Namen der germanistischen Fachgruppe von Gerhard Fricke, Franz Koch und Klemens Lugowski), III. Band, Stuttgart und Berlin: Kohlhammer, 1941, S. 147-168. Gerald Strauss: The Image of Germany in tbe Sixteentb Century. In: The Germanic Review, Volume XXXIV, New York, 1959, S. 223-234; Dietrich Kurze: Nationale Regungen in der spätmittelalterlichen Prophetie. In: Historische Zeitschrift, Band 202, München, 1966, S. 1-23. Helmut Brackert, Hannelore Christ, Horst Holzschuh: Einleitung. Zur gesellschaftlichen Funktion mittelalterlicher Literatur in der Schule. Historisch-kritische Bestandsaufnahme. In: Mittelalterliche Texte im Unterricht, herausgegeben von Helmut Brackert, Hannelore Christ, Horst Holzschuh, 2 Tie, München: Beck, 1973, 1976 ( = Literatur in der Schule, Bde. I II; Beck'sehe Elementarbücher), Bd. I, S. 11-69. Bodo Gotzkowski: Untersuchungen Barbarossa-Biographie < 1520> desJohannes Adelphus und ihr Verhältnis Volksbuch < 1519> vom Kaiser Friedrich. In: Daphnis, Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur, Band 3, Berlin, New York, 1974, S. 129-146. Interessant das Urteil Grillparzers, vgl. Eugen Thurnher: Grillparzfr und die altdeutsche Dichtung. In: Strukturen und Interpretationen. Studien %ur deutschen Philologie gewidmet Blanko Horacek %um 60. Geburtstag. Herausgeber: Alfred Ebenbauer, Fritz Peter Knapp, Peter Krämer, unter Mitwirkung von Klaus Zatloukal, Wien, Stuttgart: Wilhelm Braumüller, 1974 ( = Pbilologia Germanica, herausgegeben von Helmut Birkhan, I), S. 321-339.

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Oberfläche gerann, sich verdickte und krustig wurde an der Außenhaut, was tief im Innern zu apoplektischen Reaktionsbildungen fuhren mußte, die den Ideologiefluß aufstauten, wobei im Organismus dann nicht nur die Volksseele zu kochen begann, sondern jedesmal auch die antisemitische Ader schwoll, lauter Anzeichen, welche auf die spätere Entwicklung vorausweisen. Der Humanismus darf in mancher Beziehung als das Wiegenalter der deutschen Ideologie bezeichnet werden. Denn wir finden einige der grellsten Affekte dieses Syndroms bei den fuhrenden Schriftstellern dieser Jahrzehnte. Mit Fug könnte man einige der humanistischen Gelehrten als Germanisten bezeichnen. Sie brachten nämlich durch ihre Bemühungen um die nationale Vergangenheit die deutsche Altertumskunde hervor und begründeten sie, ihren antiquarischen Hunger sättigend, als Fach. Als erste haben Historiographen dieses Schlages der Verkörperung des nationalen Eigensinns, der Ahnen-Statue allen „Deutschtums", das heldenmäßige K o stüm geschneidert. Und das nach einer wohl etwas zu hitzigen Lektüre der Germania des Cornelius Tacitus25. 25

Vgl. Paul Joachimsen: Tacitus im deutschen Humanismus. In: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur, M.Jahrgang 1911 = Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur und fur Pädagogik, 27. Band, Leipzig und Berlin: Teubner, 1911, S. 697-717.

Hans Tiedemann: Tacitus und das Nationalbewußtsein der deutseben Humanisten Ende des

15. und Anfangdes

16.Jahrhunderts,

Diss. phil. Berlin, 30. Januar 1913 (Berlin: Emil Ebering);

Hedwig Riess: Motive des patriotischen Stolpes bei den deutschen Humanisten, Diss. phil. Freiburg

(18. VII. 1933), Berlin: [ohne Angabe des Verlags oder der Druckerei], 1934; Ludwig Sponagel: Konrad Celtis und das deutsche Nationalbewußtsein, Diss. phil. Heidelberg, Bühl-

Baden 1939 (gleichzeitig als Heft 18 der Bausteine %ur Volkskunde und Religionsgeschichte erschienen). Zur Rolle des Nikolaus von Kues bei der Entdeckung der Germania des Tacitus in Fulda und ihrer anschließenden Weitergabe an italienische Handschriftensammler vgl.

Ludwig Pralle: Die Wiederentdeckung des Tacitus. Ein Beitrag \ur Ceistesgeschichte Fuldas und %ur Biographie des jungen Cusanus, Fulda: Parzeller, 1952 (= Quellen und Abhandlungen %ur Geschichte der Abtei und der Diözese Fulda, XVII). Aeneas Silvius: Germania und Jakob Wimpfeling: „Responso et Replicae ad Eneam Silvium",

herausgegeben von Adolf Schmidt, Köln, Graz: Böhlau, 1962; Enea Silvio

Piccolomini: Deutschland. Der Brieftraktat an Martin Mayer und Jakob Wimpfelings „Antworten und Einwendungen gegen Enea Silvio", übersetzt und erläutert von Adolf Schmidt, Köln, Graz: Böhlau, 1962 (= Die Geschichtsschreiber der deutseben Vorzeit. Nach den Texten der Monumenta Germaniae Histórica in deutscher Bearbeitung herausgegeben von Karl Langosch, dritte Gesamtausgabe, Band 104); Jacques Ridé: La Germania i Enea Silvio Piccolomini et la „Réception" de Tacite en Allemagne. In: Etudes Germaniques, 19* année, Paris, 1964, S. 274-282.

Johannes Cochlaeus: Brevis Germaniae descriptio < 1512> mit der Deutscblandkarte des Erhard Et^laub von 1512 [rede: 1501]. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Karl Langosch, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1960 ( = Ausgewählte Quellen %ur

deutschen Geschichte der Neuheit. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, herausgegeben von Rudolf Buchner, Band I); über das Wirken dieses Pädagogen und Theologen vgl. jetzt

Remigius Bäumer: Johannes Cochlaeus < 1479-1552> . Leben und Werk im Dienst der katholischen Reform, Münster: Aschendorff (1980) (= Katholisches Leben und Kirchenreform im

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Die Literatur, wieder stellt es sich heraus, steht am Anfang. Sie bildet (oder bietet) Ausgangspunkte. Mit ihr beginnt oft eine Aszendenz. So segnete sie auch hier das fromme Beginnen. Heraus kam die Allegorie des Wesens, an dem die Welt genesen sollte. Die Begegnung mit der Literatur ist darum ein Sakrament. Sie erschüttert das Gemüt der Studiosusse. Und die politischen Kannegießer unter diesen erzielen den Gnadenstand, wenn sie sich ihr vermählen. Das haben viele Germanisten getan. Um Karl Lachmann zu variieren: „Schwerlich zum Nutzen für die Wissenschaft, aber ganz bestimmt zum Schaden für ihre Seelen." Welt und Buch, wo sie sich zeigen, erscheinen in ihrer Inversion26. Die Gefahr, daß jene am Ende nur noch aus diesem hervorgeht, die Welt aus dem Buch, zeichnet sich ab. Sie ist ernst zu nehmen wie alle papierenen Drohungen, welchen wir heutzutage, mit unserem für die Problematik der mediatisierenden Medien geschärften Bewußtsein, nicht mehr einfach ausweichen können. Gleicht nicht das Leben einer Lektüre27? Solange, bis die nackten Tatsachen auf ihrer Spur es erschlagen; es hält sich noch als Metapher. Da kommt es natürlich sehr darauf an, was einer liest. Das symbolische Signum, ein sinnreiches Zeichen, dessen Lehre gebannt war in die rätselhafte Figur eines alten Abgotts, dem der abenteuerliZeitalter der Glaubensspaltung. Vereinsscbriften der Gesellschaft %ur Herausgabe des Corpus Catholicorum, herausgegeben von Erwin Iserloh, 40).

Jürgen von Stackelberg: Tacitus in der Romania. Studien %ur literarischen Rezeption des Tacitus in Italien und Frankreich, Tübingen: Max Niemeyer, 1960; Jacques Ride: L'image du

Germain dans la pensée et la letterature allemandes de la redécomerte de Tacite à la fin du XVPm

siede. < Contribution à Fitude de la genise d'un mytbe > . Thèse présentée devant PUniversité de Paris IV - le 24 janvier 1976 - . Tome I—III, Lille: Atelier Reproduction des Thèses, Université de Lille III; Paris: Diffusion Librairie Honoré Champion, 1977; Ludwig Krapf:

Germanenmythus und Reichsideologie. Frühhumanistische Re^eptionsveisen der taciteiscben „Germa-

nia", Tübingen: Max Niemeyer, 1979 (= Studien %ur deutseben Literatur, herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann und Friedrich Sengle, Band 59). Hingewiesen sei außerdem auf die Untersuchung von Giulia Mazzuoli Pomi: Uuma-

nista tedesco Konrad Celtis e le primi legioni universitarie sulla Germania di Tacito. In: Filologia e critica. Studi in onore di Vittorio Santoli, T. 1, Roma: Bulzoni, 1976 ( = Studi di filologia tedesca, 26

6), S. 195-214. Vgl. hierzu meinen demnächst erscheinenden Vortrag Bilder, Schrift und Buch. Rede %ur

Eröffnung der Mannheimer Ausstellung lrSet%en und Drucken", gehalten am 30. September 1984. 27

Vgl. das Kapitel „Das Buch als Symbol" bei Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Fünfte Auflage, Bern und München: Francke (1965), S. 306-352; s. auch Ernst Robert Curtius: Schrift- und Bucbmetaphorik in der Weltliteratur. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 20. Jahrgang, Halle/ Saale, 1942, S. 359-411. Vgl. ferner Hans Blumenberg: Paradigmen einer Metapborologie. In: Archiv für Begriffsgeschichte. Bausteine zu einem historischen Wörterbuch der Philosophie, Band 6, Bonn, 1960, S. 7-142 nebst Register S. 301-305, insbesondere S.22, S.77ff. und S.82f.; Rolf Engelsing: Das Bucb-Gleicbnis. In: Archiv für Kulturgeschichte, 60. Band, Köln, Wien, 1978, S. 363-382; vor allem Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt (Frankfurt am Main): Suhrkamp (1981).

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che Simplicissimus28 einst auf einem Spaziergang begegnete, in jene Statua eines alten teutschen Helden, eine ganz echt aussehende Verkörperung: vornen mit einem großen Schwaben=Lat^, wie der Erzähler die imposante Skulptur beschreibt29, entpuppte sich bald, in einer Serie von Verwandlungen, als ein höchst zweifelhafter Wechselbalg. Der Sinn dieser (schon von dem Schuhmacher Hans Sachs gestalteten30) Allegorie offenbart sich dem Simplex in drastischen, miteinander verketteten Metamorphosen. Auch die plastische Form bietet dem Begriff keinen Halt, wieviel weniger der Idee. Das anfängliche, heldentümliche Äußere unterliegt der Veränderung im Kreislauf des kreatürlichen Lebens. Selbst der altfränkische Heroismus ist unbeständig, und auf ihn ist kein Verlaß, denn der wabn betreiigt. Doch die Beter vor den starren Bildnissen wollen dies nicht verstehen. Daher werden die ur-ältlichen Götzen und die Statuen der Helden in allen Epochen immer wieder ausgegraben, verehrt, angehimmelt. Als nationale Eigenart bctrachtct, ist die dcutschc Idololatrie grotesk und absurd. Und nicht minder die Hoffnung auf Erlösung durch Gewalt, die man sich - wer weiß, vielleicht noch heute - von einem Teutschen Helden verspricht. Denn wir sind noch immer ein waffenstarrendes Volk. Jupiter werde ihn erwecken31, so liest man, um mit der Schärffe deß Schwerdsyi das Strafgericht über die anderen Völker der Erde zu bringen, weil diese sich der neuen (das heißt: altdeutschen) Ordnung nicht fügen. Dieser gewaltig starke Täter will ihnen, wenn sie nicht Ruhe geben und sich nicht bekehren 28

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Zitiert wird nach der Ausgabe Grimmelshausen: Der Abentbeurlicbe Simplicissimus Teutscb und Continuatio des abentbeurlicben Simpiicissimi, herausgegeben von Rolf Tarot, Tübingen: Max Niemeyer, 1967 (= Grimmelshausen: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, unter Mitarbeit von Wolfgang Bender und Franz Günter Sieveke herausgegeben von Rolf Tarot). Das IX. Capittl der Continuatio, Überschrift (vgl. S. 469): Baldanders hombt Simplicissimo, und lernet ihn mit mobilien und immobilien reden und selbige verstehen, aaO., S. 505-508; Zitat S. 505. In zwei verschiedenen Versionen, datiert auf den 31. Juli 1534 beziehungsweise auf den 19. Mai 1549. Die ältere Version ist in der Ausgabe der Sämtlichen Fabeln und Schwanke von Hans Sachs. In chronologischer Ordnung nach den Originalen herausgegeben von Edmund Goetze. Zweite Auflage besorgt von Hans Lothar Markschies, l.Band, Halle/ Saale: VEB Max Niemeyer, 1953 ( = Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. und XVII.Jahrhunderts, Nr. 110-117), S. 123-126 (Nr. 37). In der Fußnote dazu S. 123 wird die Stelle nachgewiesen, wo man die jüngere Version gedruckt findet. Der Unterschied der Fassungen wird schon an der Einkleidung der geschilderten Begegnungen deutlich (Natureingang, Spaziergangsmotiv im ersten, Traumvision im zweiten Falle). Grimmelshausen hat vermutlich die ältere Version als Anregung für seine Episode benutzt. Die Jupiter'-Episode im 3. Buch des Simplicissimus, aaO., III.—VI. Kapitel, S. 207-220; die folgenden Zitate aus dem IV. Kapitel. Vgl. auch Günther Weydt: DonQuicbote Teutscb. Studien %ur Herkjmft des simplicianischen Jupiter. In: Euphorion, Zeitschrift für Literaturgeschichte, 51. Band, Heidelberg, 1957, S. 250-270, dazu später das Kapitel „Don Quijote, der wahnsinnige Schäfer und Jupiter Teutsch" von Günther Weydt: Nachahmung und Schöpfung im Barock. Studien um Grimmelshausen, Bern und München: Francke (1968), S. 138-154 und S. 436-438. Grimmelshausen, aaO., S.212.

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oder gehorsamen werden, auf einen Schlag die Köpfe herunterhauen33 und vor den Hindern legen - Kyffhäuser-Phantastereien eines donquijotesken Narren, wie ihn Grimmelshausen in der Gestalt seines Jupiter auftreten läßt. Den hat die Lektüre altüberlieferter Heldengeschichten gant\ htrnscbelltg gemacht34. Das kommt davon, wenn einer sich in die Literatur versteigt. Es blieb, dies nur nebenbei, germanistischen Konfessoren an deutschen Universitäten vorbehalten, die satirische Prophezeiung als solide Vorhersage zu begrüßen35. Man pries es, daß sie zu unseren Lebtagen ihre Erfüllung fand. Die Literatur eilt häufig ihrer Zeit voraus. Doch wehe, wenn diese sie einholt. Dann folgt die Tat dem blutigen Wort, und der Satiriker muß die Waffen strecken. Es sollte so weit kommen, daß namhafte Vertreter der germanistischen Wissenschaft so taten, als hätte Grimmelshausen mit besagtem Büchernarren keine Schreckensvision an die Wand gemalt, sondern die „Forscher" waren allen Ernstes der Meinung, der Dichter habe, indem er seinen Idioten die Gestalt eines heroischen Endlösers erfinden ließ, dem deutschen Helden Adolf Hitler über die Jahrhunderte hinweg zugejubelt - früher als alle märzgefallenen Professoren36.

" Ebda. S. 213. Ebda. S.387 (5.Buch, V.Kapitel: Simplicius l a u f f t Botten-weis / und vernimmt in Gestalt Mercurii von dem Jove, was er eigentlich wegen deß Kriegs und Friedens im Sinn habe). 35 Wir lesen zum Beispiel bei Julius Petersen mit Bezug auf Grimmelshausens „Heilsverkündung" (S. 20, gemeint ist Jupiters Prophezeiung, „das Lichtbild aller Sehnsüchte dieses Zeitalters") Sätze, in denen die diversen Verrichtungen des nationalen Drein schlägers ganz im Ernst als „Maßnahmen praktischer Vernunft" bewertet und „bereits der Aufklärungszeit zugerechnet" sind als deren Frucht (S. 21). Und dann heißt es über diese „Phantasie", mit beziehungsreicher Anspielung: „Mit dem antidynastischen Gedanken des aus der Tiefe des Volkes als Gotteswunder aufsteigenden Führers griff sie sogar um mehrere Jahrhunderte voraus" (S.21); vgl. Julius Petersen: Die Sehnsucht nach dem Dritten Reich in deutscher Sage und Dichtung, Stuttgart: Metzler, 1934. Zehn Jahre früher hatte Petersen eine Abhandlung veröffentlicht unter dem Titel Grimmelshausens „Teutscher Held'. In: Euphorion, Zeitschrift für Literaturgeschichte, 17. Ergänzungsheft < Grimmelshausen > , Leipzig und Wien: Carl Fromme, 1924, S. 1-30. Vgl. danach noch Julius Petersen: Grimmeisbausens Simplicissimus als deutscher Charakter. In: Von deutscher Art in Sprache und Dichtung (herausgegeben im Namen der germanistischen Fachgruppe von Gerhard Fricke, Franz Koch und Klemens Lugowski), III. Band, Stuttgart und Berlin: Kohlhammer, 1941, S. 201-239. 36 Vgl. den Aufsatz von Karl Otto Conrady: Germanistik in der Diskussion. Über einige Prinzipien der Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit, der zuerst 1965 erschien und dann mit einer Nachschrift von 1972 wiederabgedruckt wurde in dem Sammelband von Karl Otto Conrady: Literatur und Germanistik als Herausforderung. Skizze* ""d Stellungnahmen (Frankfurt am Main): Suhrkamp (1974) ( = subrkamp tasebenbuch, 214), S. 240-257 und S.286f. Der Artikel enthält, neben ebenfalls hier Einschlägigem, wie zum Beispiel: Vor Adolf Bartels wird gewarnt. Aus einem Kapitel mißverstandener Heimatliebe (S. 227-232) und: Ebrfurchtslose Germanistiki Notwendige Notizen z*m Thema „Literaturwissenschaft im Dritten Reich" (S. 233-238), eine Auseinandersetzung mit der Arbeit von Wolfgang Fritz Haug: Der hilflose Antifaschismus. Zur Kritik der Vorlesungsreiben über Wissenschaft und NS an deutseben 34

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Novalis hat allerdings gemeint, daß die Bücherwelt, gemessen an der wirklichen Welt, übertreibe. Zwar entspringen beide aus derselben Quelle, schrieb er, aber jene erscheint in einem freien, beweglicheren Medio - daher sind dort alle Farben ff eller - weniger Mitteltinten - die Bewegungen lebhafter - der Ausdruck hyperbolisch.37 Wie aber, wenn es sich anders verhielte und die wirkliche Welt zuletzt doch nichts wäre als eine aus Büchern entsprungene Phantasmagorie? In Zeitläuften, da, was in lauthals funkischem Gegröle allen Volksgenossen, die es nicht glauben wollten, kundgetan wurde38, SA marschiert, auf Straßen, welche nunmehr leergefegt waren von „Asphaltliteraten", wollte auch die Avantgarde der Kulturwissenschaften energisch darauf aus sein, dem nationalen Schlagetot seinen angestammten Platz im Pantheon ihres Heroenkultus freizukämpfen und zu sichern39. Die Führer der Entscheidungsschlachten hielten Einzug in Walhalla, während die Fakultäten, inzwischen schon in der Säuberung von nichtarischcm Blut befindlich, auf Huldigungsfeiern das heldische Erbgut und seine Rettung über die Äonen hinweg priesen, das „ewige" Deutschland, nun furchtbar einig, wie alle es gewollt und „Germanisten" es insonderheit beschworen hatten. Hermann der Cherusker orakelt in Kleists Drama über die nach ihm benannte Schlacht40:

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Universitäten (Frankfurt am Main): Suhrkamp (1967) ( = edition suhrkamp, 236); ich benutze die 3., überarbeitete und ergänzte Auflage 1970. Ein lehrreiches Exempel behandelt mit großer Akribie Paul Egon Hübinger: Thomas Mann, die Universität Bonn und die Zeitgeschichte. Drei Kapitel deutscher Vergangenheit ans dem Lehen des Dichters 1905-1955, München, Wien: R. Oldenbourg, 1974; zu diesem Buch vgl. die Kritik von Karl Otto Conrady: Thomas Mann und die Universität Bonn. In: Neue Rundschau, 86. Jahrgang, Frankfurt am Main, 1975, S. 346-349. Novalis S. 130. Vgl. die Analyse von Albrecht Schöne: Über politische Lyrik im 20. Jahrhundert. Mit einem Textanhang, Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht (1965) ( = Kleine Vandenboeck-Reibe, 228/ 229); s. besonders die Texte des SA-Barden Herybert Menzel. Vgl. sodann die semantische Analyse des Gedichtes Hitler Baldurs von Schirach (S. 22-25) und des Liedes der Deutschen von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (S. 25-29) bei Ingrid Girschner-Woldt: Theorie der modernen politischen Ljrik, Berlin: Verlag Volker Spiess, 1971; s. auch Alexander von Bormann: Das nationalsozialistische Gemeinscbaftslied. In: Die deutsche Literatur im Dritten Reich. Themen - Traditionen - Wirkungen, herausgegeben von Horst Denkler und Karl Prümm, Stuttgart: Reclam (1976), S. 256-280. Vgl. Belegsammlung und Auslegung von Wendula Dahle: Der Einsat% einer Wissenschaft. Eine spracbinhaltliche Analyse militärischer Terminologie in der Germanistik 19)3—1945, Bonn: H. Bouvier, 1969 (= Abbandjungen %ur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Band 71.) Siehe auch die hierher passende Kollektion Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg. Mit einer Einleitung herausgegeben von Klaus Böhme, Stuttgart: Reclam (1975) (= Universal-Bibliothek, Nr.9787). Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe (herausgegeben von Helmut Sembdner), 2 Bde. (zweite, vermehrte und auf Grund der Erstdrucke und Handschriften völlig revidierte Auflage), München: Carl Hanser, 1961. Hier Bd. I, S. 533-628: Die Hermannsschlacht. Ein Drama, I. Akt, 3. Auftritt, Zitat vv. 307-310 (S. 544).

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Wenn sich der Barden Lied erfüllt, Und, unter einem Königss^epter, Jemals die gan^e Menschheit sieb verein.. So läßt, daß es ein Deutscher führt, sieb denken. Inzwischen weiß die Welt: Was ein Deutscher denkt, das tut er auch. Als die eigentliche „hohe" Periode des Mittelalters wurde, wie Johann Jacob Bodmer zu sagen beliebte, der schwatbiscbe Zeitpunct entdeckt41. Das sollte was heißen. „Nur in diesem einen Jahrhundert gelang - in Leben und Kunst - der wesensgemäße Ausdruck des Deutschen in einer reinen Form", ertönte, mit Bezug auf die Naumburger Stifterfiguren, die Stimme des Fräuleins Gertrud Bäumer42 auf der feministischen Rechten. So hielten

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Vgl. zum Beispiel Johann Jacob Bodmer: Von der Epopöe des Altscbwäbischen Zeitpunetes. In: Literarische Denkmale von verschiedenen Verfassern, Zürich: bey Orell, Geßner, Füßlin, und Comp, 1779, S. 1-19; zu Bodmers Sammlung von Minnesingern aus dem schwaebischen Zeitpuncte CXL Dichter enthaltend; durch Ruedger Manessen, weiland des Rathes der uralten Zjrich, 2 Tie., Zyrich: Conrad Orell und Comp, 1758,1759, vgl. auch das Urteil Jan-Dirk Müllers, S. 340, in dem Aufsatz f . f . Bodmers Poetik und die Wiederentdeckung mittelhochdeutscher Epen. In: Euphorion, Zeitschrift für Literaturgeschichte, 71. Band, Heidelberg, 1977, S. 336-352. Max Wehrli: Johann Jakob Bodmer und die Geschichte der Literatur, Frauenfeld, Leipzig: Huber, 1936 (= Wege %ur Dichtung Zürcher Schriften sjer Literaturwissenschaft, herausgegeben von Emil Ermatinger, Band XXVII); Wolfgang Bender: Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger, Stuttgart: Metzler, 1973 (= Sammlung Methler. Realien \ur Literatur, Abt. D: Literaturgeschichte, 113). Gertrud Bäumer: Der ritterliche Mensch. Die Naumburger Stifterfiguren. In 16 Farbaufnahmen von Walter Hege, Berlin: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung, Deutscher Kunstverlag (1941), S. 11. Die zeitgemäßen Töne sind vernehmlich: „Aber aus der schillernden Vielfältigkeit und Vielseitigkeit erschien nie wieder ein Menschenbild, das wie dieses < sc. das mittelalterliche > aus der ungebrochenen Einheit der Glaubensmächte mit den Lebensmächten, des Einzelnen mit der Gemeinschaft des Volkes geprägt war. Heute geht es dem deutschen Volke bewußter und dringlicher als vergangenen Jahrhunderten ,um die Gestalt des deutschen Menschen'." (Ebda.) Und im Zeichen der gewaltsamen „Heimholungen" ganzer Länder Europas ins Reich Hitlers beziehungsweise der furiosen Ausdehnung deutschen „Lebensraums" in die Regionen der Nachbarvölker haben solche Sätze ihre eigene Stringenz. Da wird vom „deutschen Volk" mit vielsagenden Worten behauptet: „Es sucht von neuem der Einheit Gestalt zu geben, die es noch im Blute trägt" (ebda.), und „Eben die Unruhe der Erneuerung [siel] hat die Augen geöffnet, daß hier das vollendete Bild deutschen Wesens, hier unsere Klassizität ist" (S. 12). Ähnlich, teilweise wortwörtlich übereinstimmend, hatte die Verfasserin jedoch schon früher am Beispiel der Naumburger Plastiken das „rassige Barbarentum" dieser mittelalterlichen Deutschen, da es „in Zucht genommen" sei durch „tiefsten religiösen Ernst", als großartige „seelische Leistung" gefeiert - „und in dieser Frömmigkeit zugleich alle dunklen Blutkiäfte dieses Volkstums". Vgl. Gertrud Bäumer: DU Frauengestalt der deutschen Frühe, Berlin: F. A. Herbig, 1929, S. 3. An gleicher Stelle wird über den „Blutzusammenhang von Generationen" orakelt, durch den das „geschichtliche Leben" des Volkes „im Wandel sein Wesen

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Frauen damals nach dem Reinen Ausschau, und da vielen von ihnen nach dem bekannten Sprichwort alles rein war, gelang es ihnen unschwer, die, was die Ausdrucksform des reinen Deutschtums betrifft, in der Tat evidente Übereinstimmung des schwaehischen mit dem damals gegenwärtigen Ztitpunct herauszustellen. Dann war da noch der Traum von Größe. War seine Realisierung nicht der Abklatsch einer megalomanen literarischen Invention? Doch hör: - nichts ist sp groß dem Hohenstaufen, hatte Kaiser Friedrich Barbarossa, als sei er schon ein später Preuße, in Grabbes gleichnamiger Tragödie verkündet43 und damit den Ereignissen vorgegriffen. Vor einigen Jahren pilgerten Hunderttausende nach Stuttgart. Dort wurde die Hinterlassenschaft des Waiblingischen Geschlechts in einer großen Ausstellung der gaffenden Nachwelt vorgeführt. Vorsitzender des K u r a t o r i u m s , d a s die A u s s t e l l u n g betreute, w a r der damalige Ministerpräsi-

dent des Landes Baden-Württemberg, ein notorisch „furchtbarer Jurist". Der rief damals auch das „Staufer-Jahr" aus, dessen Feierlichkeiten die Republik in Bewegung setzten. „Vom Sinn dieser Ausstellung" handelt sein „Vorwort" zum Katalog44, welcher in alle Welt verkauft wurde. Für ihn verbindet sich dieser „Sinn" mit einem Hinweis des Antidemokraten Johannes Haller im Zusammenhang mit Barbarossa und Heinrich VI. auf das, „was Erinnerungen im Leben der Völker bedeuten"45. Was diese Erinnerung bedeutete, als man sie in eine Präfiguration des „Dritten Reiches" umfälschte, haben seinerzeit viele Menschen als tödliche Lektion gelernt. „Ob Mensch, ob Volk, ob Kontinent: wenn sie nicht wissen, wo sie herkommen, wie sollen sie wissen, w o sie hingehen?" 44

Wo der herkam, der das schrieb, weiß man seither. Börnes Feststellung, der von der „langen Nacht des Mittelalters" gesprochen hatte (was auf die bewahrt" (S. 1). Und „dies wesenbaft und insofern zeitlos Deutscht" will die Bäumer „suchen" mit ihrer „Betrachtung", bei der ihre „Deutung" der Kunstwerke „nur Führer sein" soll (ebda. S. 3; Hervorhebungen im Original). Sie will sozusagen die metaphysische Wesensgleichheit des wahrhaft Deutschen herausstreichen, so wie es ihr in ihrer Sammlung von Frauenbildnissen, nach ihren eigenen Worten, um die „Offenbarung" der „metaphysischen Wesensgleichheit der .wahren Frau'" zu tun ist; vgl. Gertrud Bäumer: Gestalt und Wandel. Frauenbildnisst, Berlin: F. A. Herbig (1939), S.XVI. 43 Christian Dietrich Grabbe: Werke md Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe in sechs Bünden, herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Bearbeitet von Alfred Bergmann, 6 Bde., Emsdetten/Westf.: Verlag Lechte; Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1960, 1961, 1963, 1966, 1970, 1973. Die „Tragödie in fünf Akten" Kaiser Friedrich Barbarossa steht in Bd. II, S. 3-105; Zitat S.19. " Hans Filbinger: „Vom Sinn dieser Ausstellung". In: Die Zeit der Staufer. Geschichte - Kunst - Kultur. Katalog der Ausstellung Stuttgart 1977, herausgegeben im Auftrag des Württembergischen Landesmuseums Stuttgart von Reiner Haussherr u.a., 5 Bde. (Stuttgart 1977-1979), Bd. I, S . V - X . 45 Ebda. S. VIII. « S.IX.

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Romantik gemünzt war), wird als „gedankenlos" verworfen, hingegen wird behauptet, die Staufer hätten „so etwas wie menschliche Freiheit schützen" wollen47. Es ist die „Freiheit" dessen, der gleichzeitig die Veste Stammheim erbauen ließ. Wie „frei" und „menschlich" es dort zugeht, steht jedoch auf einem andern Blatt. Am Ende zieht sich dieser Christ, Toynbee im Munde führend, der die „quasi schicksalsbestimmten Abläufe" in der Geschichte empirisch „dargetan" habe48, auf die Position Spenglers zurück, der nach der „Machtergreifung" seine Visionen der „weißen" und der „farbigen Weltrevolution" und des kommenden globalen Cäsarismus mit kurzem Begleitbrief Hitler persönlich andiente49: „Geschichte kennen, heißt das Schicksal ahnen"50. Die Staufer-Ausstellung hat Epoche gemacht. Doch hat man wenig davon gehört, wie es die Wissenschaftler selbst empfinden, daß die ehrliche Arbeit vieler von ihnen, will sie vorankommen, sich an solche Ägide binden muß. Ein naseweiser Kommentator lobte die Zunft der Historiker, die das neue Unternehmen Barbarossa des ehemaligen Marinerichters vorbereitet hatten, mit der treffenden Feststellung51, „jetzt endlich" sei „der Sozial-Mief des kleinen Mannes" bei ihnen „unter den Tisch gekehrt". Wir lassen dahingestellt, ob die deutsche Geschichtswissenschaft samt ihren philologischen Annex-Disziplinen sich je des sogenannten „kleinen Mannes" habe erbarmen wollen, dessen Not hier als „Sozial-Mief' diffamiert wird. Ganz bestimmt aber hat sie einiges sowohl unter den Tisch als auch unter den Teppich gekehrt. Wir ahnen, daß, was dermaßen Laut gibt, schon wieder im Schwange geht und, wenn die Verspritzer solcher Mitteltinten nur nicht nachlassen, es zu begießen, in der wirklichen Welt, dem Papier entwachsen, bald einer neuen Blütezeit gewärtig sein darf. Der Schwabe Friedrich Schiller hatte schon das Mittelalter rehabilitiert52:

S. VIII f. « S.IX. 49 Vgl. Oswald Spengler: Jobre der Entscheidung. Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung (München): Deutscher Taschenbuch Verlag (1961) (= dtv 12); s. auch das „Vorwort" von H. Kornhardt, S.5-9, hier S.8. so Die Zeit dtr Stau/er, aaO., S. IX. 51 So paraphrasiert bei Otto Borst: Alltagsleben im Mittelalter. Mit zeitgenössischen Abbildungen (Frankfurt am Main): Insel (1983) ( = insel tascbenbucb, 513), S. 17. Vgl. zum Problem dieses neuartigen „Historismus des Touristen", der in dem Besucherstrom zum Vorschein kommt, die Erwägungen unter der Überschrift Die Staufer und kein Ende? von Arno Borst: Reden über die Staufer, Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein (1981) (= Ullstein Sachbuch. Ullstein Buch Nr. 34052), S. 179-187. 52 Friedrich Schiller: Sämtliche Werke (auf Grund der Originaldrucke herausgegeben von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert in Verbindung mit Herbert Stubenrauch), 5 Bde., München: Carl Hanser (1958, 1959, 1959, 1958, 1959); die Historischen Schriften Schillers in Bd. IV, 1958.

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Raimund Kemper Waren gleich die Zeiten der Kretagiige ein langer trauriger Stillstand in der K u l t u r , waren sie sogar ein Rückfall der Europäer in die vorige Wildheit, so war die Menschheit doch offenbar ihrer höchsten Würde nie vorher so nahe gewesen, als sie es damals war,

schrieb der Jenenser Geschichtsprofessor in einer Abhandlung 53 im Jahre 1 7 9 2 . W a s w i r vorjenen finstern

Jahrhunderten

voraushaben mögen, s o k o n s t a t i e r t

er, sei doch höchstens nur ein vorteilhafter Tausch, auf den wir allenfalls ein Recht haben könnten stol% V se'ni4-

Er unterstrich weiter ihre Vorbildlichkeit55, indem er meinte: Der verachtende Blick, den wir gewohnt sind auf jene Periode des Aberglaubens, des Fanatismus, der Gedankenknechtschaft werfen, verrät weniger den rühmlichen Stol% der sich fühlenden S t ä r k e als den kleinlichen Triumph der S c h w ä c h e , die durch einen ohnmächtigen Spott die Beschämung rächt, die das höhere Verdienst ihr abnötigt56.

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Vorrede zu Niethammers Bearbeitung der Geschichte des Malteserordens von Vertot, aaO., Bd. IV, S. 991-996, Zitat S.992. Friedrich Immanuel Niethammers Übertragung der Histoire des chevaliers hospitaliers de S.Jean de Jerusalem von Abbé René Aubert de Vertot aus dem Jahre 1726 erschien 1792/93 in Jena bei Christ. Heinr. Cunos Erben in 2 Bänden unter dem Titel: Geschichte des Malteserordens nach Vertot, von M. N. [d. i. Magister Niethammer] bearbeitet und mit einer Vorrede versehen von Schiller. * AaO., Bd. IV, S.991. 55 Über Schillers historische Studien vgl. den Abschnitt „Schillers geschichtswissenschaftliche Arbeiten" in der Geschichte der deutschen Literatur 1789 bis 1830. Von Autorenkollektiven; Leitung und Gesamtbearbeitung Hans-Dietrich Dahnke < 1789-1806 > und Thomas Höhle in Zusammenarbeit mit Hans-Georg Werner , Berlin: Volk und Wissen Volkseigener Verlag, 1978 ( = Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis %ur Gegenwart, 7. Band), S. 101-107. Vgl. auch Golo Mann: Schiller als Historiker. In: Merkur, Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, XIII. Jahrgang, Stuttgart, 1959, S. 1120-1137; Ursula Wertheim: Zeitstück" und historisches Drama" in Schillers Werken. Ein aktuelles Problem für den Dichter unserer Zeit, S. 163-188, und Edith Braemer/Ursula Wertheim: Einige Hauptprobleme in Schillers „Wallenstein", S. 189-214, in: Edith Braemer/Ursula Wertheim: Studien %ur deutseben Klassik, Berlin: Rütten & Loening (1960). Zum Problem der dramatischen Wirkungsabsicht in Schillers Darstellung geschichtlicher Zusammenhänge und Charaktere im historiographischen Werk wie auf der Schaubühne s. Gert Ueding: Schillers Rhetorik. Idealistische Wirkungsästbetik und rhetorische Tradition, Tübingen: Max Niemeyer, 1971 ( = Studien deutseben Literatur, herausgegeben von Richard Brinkmann, Friedrich Sengle und Klaus Ziegler, Band 27), S. 143 ff., insbesondere S. 170-175. * AaO., Bd.IV S.991. - Wir lesen weiter (ebda.): Der Vorzug hellerer Begriffe, besiegter Vorurteile, gemäßigterer Leidenschaften, freierer Gesinnungen - wenn vir ihn wirklich erweisen imstande sind - kostet uns das wichtige Opfer praktischer Tugend, ohne die wir doch unser besseres Wissen kaum für einen Gewinn rechnen können und (ebda. S.991 f.): Dieselbe Kultur, welche in unserm Gehirn das Feuer eines fanatischen Eifers auslöschte, hat ^gleich die Glut der Begeisterung in unseren Herfen erstickt, den Schwung der Gesinnungen gflähmt, die tatenreifende Energie des Charakters vernichtet.

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Das traditionelle Ressentiment gegen die Aufklärung ist schon lange heimisch bei den Gebildeten und, wie man sieht, erst recht in der akademischen Sphäre57. Es wurde bald zum Leitmotiv der dort gespielten Sphärenmusik. Nur die hohe rhetorische Kunst, Ausdruck einer in der klassischen Schule des Humanismus erworbenen Disziplin des Denkens, bewahrte die kultivierten Zeitgenossen einstweilen noch vor dem Absturz in platte Polemik gegen Vernunft und Freiheit. Daß dieser (vorerst noch literarische) Feldzug, einmal in Gang gebracht, vulgär enden würde, im tötenden Triumph der Wortkartaune, stand das etwa nicht zu befürchten? Wird doch schon hier mit einer an Perfidie grenzenden Artistik der Charakterisierung das emotionale gegen das rationale Prinzip ausgespielt, kompakter Stol% gegen berechnende Engherzigkeit veranschlagt und eine wie auch immer beseelte Kraft (Stärke), die sich in Gewalttätigkeit, in Unterdrückung und Terror und in bis zur Mordlust blindgläubigem Eifer ausgetobt hat, gar als Verdienst hingestellt, als böte der Gang der Universalgeschichte dafür eine Rechtfertigung, gegenüber der Nüchternheit einer Verstandespraxis, welche in solcher Optik nichts gewesen wäre als ein Sieg der Zaghaftigkeit! Und es wird noch, scheinheilig Gewissenserforschung simulierend, der Eindruck erweckt, als entspringe die aufklärende Kritik an einer nur durch Leidenschaft motivierten Entschlossenheit, bedient sie sich noch dazu des Spottes, alleine dem Gefühl der Ohnmacht gegenüber den schwungvollen Verrichtern: Aber hat man erst diese vor Augen, wenn man die Quellen studiert, was wäre an dem Gefühl der Machtlosigkeit verwerflich? Es muß einen doch beschleichen bei dem Anblick. Wird das kritische Argument deswegen falsch? Nur weil der Kritiker, außer seiner Kritik, über keine Armaturen verfügt? Haben die Kreuzzüge, bewaffnete Wallfahrten, die Menschheit wirklich ihrer höchsten Würde näher gebracht? Die Diffamierung des aufgeklärten „Rationalismus" verzichtete allerdings bald auch auf solche Subtilitäten und wurde rabiat. Novalis indessen stellte der „Vernunftreligion" mit ihrem Parteigeist, ihrer Philologie und ihrer Toleranindem er sie als modernen Unglauben und den Apparat ihrer Wissenschaft, in eindrucksvollem Gleichnis, als eine sich seihst mahlende Mühle vergegenwärtigt, reifender undfarbiger die Poesie gegenüber wie ein geschmücktes Indien dem kalten, toten SpitzbergenDa haben wir's: Was soeben noch als Vorzug hellerer Begriffe und freierer Gesinnungen hingestellt worden war, wird im selben Atemzug als „Kälte" des Gebinu, als „Erlöschen" des Eifers, als „Lähmung" des Charakters denunziert und als seelischer Erstickungstod beschrieben. Die unheilvolle Manier, mit der deutsche Ideologen den angeblich vorhandenen Schwung der Gesinnungen von ehedem gegen den endlich erreichten Sieg der Vernunft über das Vorurteil ausspielen, so daß dieses doch wieder als erstrebenswert erscheint, hat in solchen Passagen eine ihrer Wurzeln. 5« Novalis, aaO., Zitate S. 101 und S. 104. Über das utopische Indien-Bild der deutschen Romantik vgl. A. Leslie Willson: A Mytbical Image: Tbe ideal of India in German Romanticism, Durham, N.C.: Duke University Press, 1964, zu Novalis hier S. 147-169. 57

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Die Vernunft ist kalt, ist tot. In der deutschen Ideologie ist dies seit je ein unumstößlicher Befund. Hardenbergs heiliger, nein: „heißer" Enthusiasmus eifert gegen die Anacboreten in den Wüsten des VerstandesM. Was ist auch dessen kleinlicher Triumph gegen das Gefühl einer sich fühlenden Stärke? Wir sind dicht an dem Punkt, da irrationale Vorstellungen und Träume zu irrnationalen Clichés werden und Poesien in Parolen umschlagen, mit denen die, die sie gebrauchen, dann um sich schlagen60. Das Mittelalter ein deutsches Verhängnis. Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, so zeichnete Novalis in seinem berühmten Essay61 das Bild jener längst vergangenen Epoche, das nun bestimmend sein (und es auch tatsächlich sehr, sehr lange bleiben) sollte, aller sorgfältigen Detailphilologie zum Trotz62. M

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Novalis, aaO., S. 104. Zum geistesgeschichtlichen und biographischen Zusammenhang dieses Denkens vgl. Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin, 6. Auflage, Leipzig und Berlin: B.G. Teubner, 1919, S. 268-348; Walther Rehm: Orpheus. Der Dichter und die Toten. Selbstdeutung und Totenkult bei Novalis - Hölderlin - Rilke (Reprografischer Nachdruck der 1. Auflage, Düsseldorf 1950; 2., durchgesehene Auflage), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1972, S. 15-148; Joachim Stieghahn: Magisches Denken in den Fragmenten Friedrichs von Hardenberg < Novalis > , Diss. phil. Freie Universität Berlin (15.2.1962), Berlin: Ernst-Reuter-Gesellschaft der Förderer und Freunde der Freien Universität Berlin, Dissertations-Druckstelle, 1964; Heinz Ritter: Der unbekannte Novalis. Friedrich von Hardenberg im Spiegel seiner Dichtung, Göttingen: Sachse Sc Pohl (1967); Curt Grützmacher: Novalis und Philipp Otto Runge. Drei Zentralmotive und ihre Bedeutungsspbäre: Die Blumt - Das Kind - Das Licht, München: Eidos Verlag, 1964; Manfred Frank: Das Problem „Zeit" in der deutschen Romantik. Zeitbewußtsein und Bewußtsein von ZeitUcbkeit in der jrübromantischen Philosophie und in Tiecks Dichtung, München: Winkler (1972). Vgl. hierzu meinen Aufsatz: Eine Wissenschaft Jm Einsät^". Zu einem Buch über Na^j-Jargon in germanistischen Zeitschriften ^wischen 1933 und 1945. In: studi germanici, Rivista dell' Istituto Italiano di Studi Germanici, Nr. 53-58, Sonderheft, Jg. 1981-1982, Roma, 1985, S. 279-318. Die Christenheit oder Europa < 1799 > , aaO., S. 93-108. Vgl. die ausführliche Interpretation dieses Aufsatzes Hardenbergs von Wilfried Malsch: „Europa". Poetische Rede des Novalis. Deutung der französischen Revolution und Reflexion auf die Poesie in der Geschichte, Stuttgart: Metzler, 1965. Zum ideologischen Hintergrund dieses literarisch-rhetorischen Versuchs vgl. W. D. Robson-Scott: The Literary Background of the Gothic Revival in Germany. A Chapter in the History of Taste, Oxford: Clarendon Press, 1965; Hans Georg Schenk: Geist der europäischen Romantik. Ein kulturhistorischer Versuch (aus dem Englischen von Ursula Sturm), Frankfurt: Minerva (1970). Vgl. auch Golo Mann: Friedrich von GentGeschichte eines europäischen Staatsmannes, Zürich/Wien: Europa Verlag (1947). Zur Entstehung des romantischen Obskurantismus vgl. Hans Graßl: Aufbruch %ur Romantik. Bayerns Beitrag %ur deutschen Geistesgescbichte 1765-1785, München: Beck, 1968. Zum Mittelalter-Bild der Germanistik in und seit ihren Anfingen vgl. u. a. Mittelalterre^eption. Texte %ur Aufnahme altdeutscher Literatur in der Romantik, herausgegeben, eingeleitet und mit einer weiterführenden Bibliographie versehen von Gerard Kozielek, Tübingen: Max Niemeyer (1977) ( = Deutsche Texte, herausgegeben von Gotthart Wunberg, 47); Ulrich

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Wyss: Die wilde Philologie. Jacob Grimm Widder Historismus, München: C. H. Beck (1979) ( = Edition Beck); Hartmut Froeschle: Ludwig Ublond und die Romantik, Köln, Wien: Böhlau, 1973. Zu Grimm s. auch Wilhelm Scherer: Jacob Grimm, Neudruck der zweiten Auflage mit Beigaben aus der ersten Auflage und Scherers Rede auf Grimm besorgt von Sigrid v. d. Schulenburg, Berlin: Dom-Verlag (1921) ( = Der DomschatBand 9); Werner Neumann und Burkhard Löther: Gedanken %ur bevorstehenden Ehrung Jacob Grimms 1963. In: Weimarer Beiträge, Zeitschrift für deutsche Literaturgeschichte, Jahrgang 1963, Heft III, S. 469-484; Helmut de Boor: Gedenkrede auf Jacob Grimm aus Anlaß seines 100. Todestages. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 86. Band, Tübingen, 1964, S. 1-24; Ludwig Denecke: Jacob Grimm und sein Bruder Wilhelm, Stuttgart: Metzler, 1971 ( = Sammlung Methler. Realienbücher für Germanisten, Abt. D: Literaturgeschichte, 100). Auf welche Weise gerade Wilhelm Schoof, der „fruchtbarste Grimmforscher" (Denecke), das Werk der Brüder für faschistische Zwecke ausschlachtete, wird in bundesdeutschen Bibliographien der Schriften dieses Spezialisten (so beispielsweise auch von Denecke) geflissentlich nicht erwähnt. Ich nenne nur die folgenden (mir in einigen Fällen nur in von der Fernleihe - mit teils nicht ganz vollständigen bibliographischen Angaben - übersandten Kopien vorliegenden) Artikel Wilhelm Schoofs: Jacob Grimm und die schleswig-holsteinische Fragt. In: Der Schleswig-Holsteiner, Grenzlanddeutsche Monatshefte, 20. Jahrgang, Flensburg: Verlag Heimat und Erbe, 1939, S. 59-61 [Es handelt sich wohl um das 4., d. h. das April-Heft; vermutlich ist jedes Heft neu paginiert mit S. 1 ff.]; „Was unsere Sprache redet, ist unseres Leibes und Blutes." Jacob Grimm und die deutsche Sprache. In: Deutscher Wissenschaftlicher Dienst [Jg. 1], Stuttgart [ . . . ] 1940, Nr.20, 11.11.1940, S. 5-6; Volk und Rasse bei Jacob Grimm. In: Rasse, Monatsschrift für den Nordischen Gedanken, herausgegeben im Auftrage des Nordischen Ringes in der Nordischen Gesellschaft von Richard v. Hoff, Schriftwalter: M. Hesch, 8. Jahrgang, Leipzig und Berlin: B. G. Teubner, 1941, S. 265-268; auch in: Die Neue Schau, Monatsschrift für das kulturelle Leben im deutschen Haus, herausgegeben von Karl Vötterle, Neue Folge der Zeitschrift „Lied und Volk", 4. Jahr [1942/43], Kassel-Wilhelmshöhe: Bärenreiter, Heft 1/2 - April/ Mai 1942, S.20; Jakob Grimms deutsches Denken. In: Mainzer Anzeiger, Mainz, 18.3.1942, S. 2; Jakob Grimm und der nordische Gedanke. In: Die Neue Schau, Monatsschrift für das kulturelle Leben im deutschen Haus, herausgegeben von Karl Vötterle, Neue Folge der Zeitschrift „Lied und Volk", 4. Jahr [1942/43], Kassel-Wilhelmshöhe: Bärenreiter, Heft 11/12 Februar/März 1943, S. 168, zugleich erschienen in: Deutsche Polarzeitung [? Jg.], Nr. 78, Tromsö, 3. April 1943, S.2; Bekenntnis Z" Deutschland. Die Vaterlandsliebe Jakob Grimms. In: Schwarzwälder lägblatt, Jahrgang 70, Nr. 77, Ausgabe Donaueschingen, 1.4.1943, S. 4; Die Brüder Grimm und die Juden. In: Saarbrücker Zeitung, seit 1761 das führende Heimatblatt der Saar, [unleserlich] Jahrgang, Nr. 147, Saarbrücken, l . J u n i 1944, S. [?]. Ich beziehe mich auf die folgenden bibliographischen Listen: Veröffentlichungen von Dr. Wilhelm Schoof über die Brüder Grimm. In: Neues Magazin für Hanauische Geschichte < Mitteilungen des Hanauer Geschichtsvereins > , 2. Band [Hanau], 1951-1954, Nr. 4,1954, S. 83-88 (zuvor, S. 81 f., eine Würdigung Schoofs von „Bt."; im „Inhaltsverzeichnis" des Bandes ist Schoof als Urheber des Verzeichnisses seiner Veröffentlichungen ausgewiesen); Wilhelm Scboof. Verzeichnis seiner Schriften. Im Auftrag des Hersfelder Zweigvereins zusammengestellt von Friedrich Weishaar. In: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde, Band 67, Kassel und Basel, 1956, S. 277-283. Nach dem „Zusammenbruch" ging es, wie ich einer dieser Listen entnehme, im selben Stile weiter: Jacob Grimm - Kronzeuge deutscher Einheit. In: Welt und Leben, Deutsche Pressekorrespondenz 1954, 2. Wo solche Kronzeugungsfähigkeit heute wieder fröhliche Urständ feiert, wird man sagen, Jacob Grimm habe auch die Parole Schlesien bleibt unser ausgegeben.

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Mächtige Führernaturen hatte das Mittelalter hervorgebracht. Man ergoß sich in Bewunderung jener auserwählten, mit wunderbaren Kräften ausgerüsteten Männer61. Man fuhr wieder fort, sich nach ihnen zu sehnen. Sie waren und blieben die Helden, mit denen die völkische Ahnung einer gewaltsam zu vollstrekkenden Überwindung der ungeliebten Gegenwart stattliche, blendende Inkarnationen heraufbeschwor, heilandmäßige Allesbewältiger. Die Muse kam dem Gemüt in seiner dumpfen Verlegenheit, da es vor der aus der Einsicht der Vernunft zu vollbringenden Umwälzung, der Forderung des Tages, in die Ferne auswich, zu Hilfe, indem sie solche Figuren sang, die es hinrissen. In der Entrückung und Verzückung der Gesichte wurde die europäische Geschichte erneut zum Mythos stilisiert. Sie wurde der Kritik, welche ihre Wirkung noch kaum entfaltet hatte, wieder entzogen. So wurde aus Wissenschaft Ovation an die erfahrnen Steuerleute auf dem großen unbekannten Meere, in deren Obhut man alle Stürme geringschätzen und zuversichtlich auf eine sichre Gelangung und Landung an der Küste der eigentlichen vaterländischen Welt reebnen durfte*. Die Apostel der eigentlichen Vaterländerei mußten nur noch auf den Gedanken kommen, lebende Gestalten des Zeitgeschehens als Reinkarnation solcher Autorität auszuschreien. Mit Königen und Kaisern und ihren litzenbetreßten Paladinen war in Deutschland noch immer Staat zu machen.

63

Novaiii, aaO., S.93.

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Ebda. - Hardenberg macht hier Gebrauch von einer bedeutsamen symbolischen Chiffre, auf deren Geschichte hier nur hingewiesen werden kann. Zu den Ursprüngen dieser semantischen Tradition in der Literatur des klassischen Altertums vgl. die Bibliographie \ur antiken Bilder spracht. Unter Leitung von Viktor Pöschl bearbeitet von Helga Gärtner und Waltraut Heyke, Heidelberg: Carl Winter, 1964, s.v. S c h i f f , Schiffahrt, Schiffbruch, Seefahrt, Stesturm; zur patristischen Exegese der einschlägigen Symbolik im Rahmen der christlichen

Ekklesiologie s. Hugo Rahner: Griechische Mythen in christlicher Deutung (vom Autor neu

durchgesehene Ausgabe, dritte Auflage), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft,

1966, S. 281-328; Hugo Rahner: Symbole der Kirche. Die Ekklesiologie der Väter, Salzburg:

Otto Müller (1964), S. 239-406, S. 432-564.

Vgl. außerdem Eckart Schäfer: Das Staatsschiff. Zur Präzision eines Topos. In: Toposforsebung. Eine Dokumentation,

herausgegeben von Peter Jehn (Frankfurt/M.): Athenäum

(1972) (= Respublica literaria. Studienreihe \ur europäischen Bildungstradition vom Humanismus bis %ur Romantik,

herausgegeben von Joachim Dyck, Band 10), S. 259-292; Michael

Schilling: Imagines Mundi. Metaphorische Darstellungen der Welt in der Emblematik, Frankfurt

a. M., Bern, Cirencester/UK: Peter D. Lang (1979) ( = Mikrokosmos. Beiträge %ur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforscbung, herausgegeben von Wolfgang Harms, Band 4), insbesondere S. 154-197: „Das Meer der Welt"; Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Para-

digma einer Daseinsmetapber (Frankfurt am Main): Suhrkamp (1979) (= suhrkamp taschenbucb Wissenschaft, 289). Was die einschlägigen Bildprogramme der Epoche der Romantik betrifft, sei auf

Wystan Hugh Auden: Tbe Enchafid Flood, or The Romantic Iconography of tbe Sea, New York:

Random House (1950), verwiesen. Hier werden ,Meer' und .Hafen' als Ausdruck politischer Zustände bestimmt.

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Gegen das Gepränge dieser eschatologischen Schaustellerei65 erweisen sich Versuche, auf dem Boden der Fakten zu bleiben beziehungsweise diesen überhaupt erst zu finden und zu klären, im Endeffekt als vergeblich. Der sogenannte Positivismus in der Literaturwissenschaft66, desgleichen die Nachzügler in seinem Gefolge67, die es auch heute noch gibt, da diese Schule nie ganz ausgestorben ist, mußten, alles in allem genommen, scheitern68. 65

Vgl. hierzu Hans Mayers Essay Kaspar, der Fremde und der Zufall. Literarische Aspekit der Entfremdimg. In: Hans Mayer: Das Geschehen und das Schweigen. Aspekte der Literatur (2. Auflage) (Frankfurt am Main): Suhfkamp (1970) ( = edition subrkamp, 342), S. 101-125, zu Hardenberg vor allem S. 105 ff. 66 W. M. Simon: European Positivism in tbe Nineteenth Century. An Essay in Intellectual History, Ithaca, New York: Cornell University Press (1963), insbesondere S. 238-263: „Positivism in Germany" (Scherer fehlt in dem Buch auffallenderweise völlig. Weder im Register noch in der umfangreichen Bibliographie taucht sein Name auf. Für diese Entscheidung des Verfassers ließen sich durchaus verständliche Gründe geltend machen); Karl Voßler: Positivismus und Idtalismus in der Sprachwissenschaft. Eine spracbpbilosopbiscbe Untersuchung, Heidelberg: Carl Winter, 1904. Vgl. auch den Überblick und die Bewertung bei Bertrand Russell: Wisdom of tbe West: a historical survey of Western Philosophy in its social and political setting, Editor: Paul Foulkes (London: Rathbone Books, 1959). (Reprinted): Crescent Books (1977), S. 274ff.; John Desmond Bernal: So^ialgescbicbte der Wissenschaften. Science in Historj, 4 Bde. (Reinbek): Rowohlt (1970) ( = rororo bandbucb, 6224-6227), Bd.II S.532f. und S.550, Bd.III S.694 und S. 798, Bd. IV S.1003 und S. 1011 f.; s. auch die Darstellung der „Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts" bei Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Mit einem Sch/ußkapitel Die Philosophie im 20.fabrbundert und einer Übersiebt über den Stand der pbilosophiegeschichtlichen Forschung, herausgegeben von Heinz Heimsoeth, 15., durchgesehene und ergänzte Auflage, Tübingen: J.C.B. Mohr , 1957, S. 536-581, besonders §44 und §45. 67 Vgl. das Kapitel „Aufstieg und Fall des Positivismus" bei Jost Hermand: Synthetisches Interpretieren. Zur Methodik der Literaturwissenschaft (München): Nymphenburger Verlagshandlung (1968) ( = ¡ammlung dialog), S. 17-34; s. auch den zusammen mit dem schon erwähnten Kapitel und einigen weiteren unter der Überschrift „Der Methodenpluralismus seit 1900" (S. 15 ff.) stehenden Abschnitt „Nationale, völkische und rassische Aspekte", S. 60-79. Vgl. auch den von Lothar Köhn verfaßten und eingerichteten Abschnitt „Der positivistische Ansatz" in: Jürgen Hauff, Albrecht Heller, Bernd Hüppauf, Lothar Köhn, KlausPeter Philippi: Metbodendiskussion. Arbeitsbuch %ur Literaturwissenschaft, 2., durchgesehene Auflage, Band I—II (Frankfurt am Main): Athenäum (1972), hier Bd.I, S. 29-100; Posithismus im 19.Jahrhundert. Beiträge Z" seiner geschichtlichen und systematischen Bedeutimg, herausgegeben von Jürgen Blühdorn und Joachim Ritter, Frankfurt am Main: Klostermann, 1971 ( = Fritz-Thyssen-Stiftung: Studien \ur Philosophie und Literatur des 19.fabrbunderti, Band 16). 68 Positivismus und Materialismus waren als Ideologie in Deutschland nie besonders gut gelitten. Im „Krisen"-Gerede der konservativen Kulturkritik über die sog. „trügerischen -ismen" rangiert insbesondere der Positivismus als Prügelknabe Nr. 1. Es hat Tradition, daß die Neumetaphysiker diesen Begriff, den im übrigen kein Theoretiker, am wenigsten aber die enragierten Kritiker selbst, genau definiert haben, dazu benutzen, um den wissenschaftlichen Empirismus, der darauf besteht, daß Fakten erweislich sein müssen, um als solche in übergeordneten Zusammenhängen Geltung beanspruchen zu können, zu diskreditieren, als beruhe er auf den Fehlschlüssen des gesunden Menschenverstandes und als ginge es ihm um bloße Akkumulation von Tatsachen, um damit einen quantitativen

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Der Hauptvertreter dieser Richtung 69 hatte inbrünstig bekannt 70 : „Wir fliegen nicht gleich zu den letzten Dingen empor." Die „Weltanschauungen" seien „um ihren Credit gekommen", meinte er. Ob er wohl gewußt hat, wovon er da redete - während alle Bereiche des Lebens vom preußischen Kasernenschliff erfaßt wurden? Wachstumsprozeß zu bewirken, der dann als Erkenntnisfortschritt gefeiert würde. Es ist jedoch zu bezweifeln, daß die Vertreter des Positivismus, als dessen Inkarnation in der Literaturwissenschaft, als Schulhäuptling, zumeist in erster Linie Wilhelm Scherer genannt wird, so engstirnig waren, wie der polemische Topos behauptet, der in dem Vorwurf gipfelt, den noch Karl Jaspers erhob, indem er die Verarmung der deutschen Universität beklagte, an der es „nur noch endlose Tatsachen, keine Idee mehr gibt" (vgl. Karl Jaspers: Die Idee der Universität, Berlin 1923; mir liegt diese Arbeit in zwei jeweils von der ersten beziehungsweise der zweiten Ausgabe abweichenden [veränderten und ergänzten] Fassungen vor. Die zweite erschien in Berlin: Springer, 1946 ( = Schriften der Universität Heidelberg, Heft 1), die dritte als Gemeinschaftsprodukt von Karl Jaspers und Kurt Rossmann unter dem Titel: Die Idee der Universität. Für die gegenwärtige Situation entworfen, Berlin, Göttingen, Heidelberg: Springer, 1961. Zitat hier S.68, entsprechend in der Auflage von 1946 S.43. In dieser wären auch die Kapitel „Kommunikation" (S. 59 ff.), „Institution" (S.65ff.) und „Der Kosmos der Wissenschaften" (S. 73 ff.) zu vergleichen, in denen Jaspers seine kritischen Gesichtspunkte entfaltet. Er sieht die Gefahr „geistwidriger Verselbständigung" (S. 83) bloß „angegliederter" Fächer und spricht von dem „endlos vielfachen Aggregat" (S. 82) des instruierten Wissenschaftsbetriebs, ja sogar (S. 81) von dem Anblick eines „geistigen Warenhauses". Die Träger der Tradition, meinte dieser kritische Philosoph, hätten dadurch versagt, daß sie „die tiefe Begriffswelt der Metaphysik" aus den Augen verloren hätten. Diese Erklärung gleitet ins Legendarische hinüber, so triftig im übrigen die Beobachtungen und Befunde formuliert werden. Als ob im deutschen Bildungsgehege nicht genug der ewig -tümelnden Metaphysiker ihre „tiefen" Begriffe tummelten! Dazu bedürfen sie wahrlich keiner Ermunterung mehr. Es ist seit langem periodisch Mode, das „Spezialistentum" zu beklagen, das, wie es Friedrich Meinecke zu veranschaulichen suchte, dem Entblättern einer Rose gleiche: „ . . . und nun bleiben die Blätter liegen und wachsen nicht wieder zusammen" (Friedrich Meinecke: Erlebtes. 1962-1919 (unveränderter Nachdruck der beiden Bände Erlebtes 1862-1901; Strassburg - Freiburg - Berlin 1901-1919), Stuttgart: K. F. Koehler (1964), S. 68. Als Ausweg aus der solchermaßen herbeidefinierten „Krise" wird dann gewöhnlich ein Programm zur Förderung einer Elite empfohlen, aus der dann wieder die Kader wachsen könnten, die, nach Max Schelers Wort, „als Vorbilder und Führer auf das Gan^e des Lebens der Nation < zu > wirken" vermögen - mit welchem Erfolg, ist inzwischen welthistorisch sichtbar. Vgl. Max Scheler:

Von %wei deutseben Krankheiten. In: Der Leuchter. Weltanschauung und Lebensgestaltung (Herausge-

ber: Alexander von Gleichen-Russwurm), Darmstadt: Otto Reichl, 1919, S. 161-190, Zitat S. 186. Gegenüber dieser Einstellung fallt Nietzsches Kritik an der scharwenzelnden Unterwürfigkeit der Universitäten vor der Bürokratie und an ihrem exzessiven politischen TeutoNationalismus freilich stark ins Gewicht. Dazu vgl. Frederic Lilge: The Abuse of Learning. The Failure of the German University, New York: Macmillan, 1948, vor allem S. 84-130 (die Kapitel „Criticism and Satire of Academic Culture: Nietzsche" und „The Growth of Modern Irrationalism and Fascist Mythology"). Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Essay von Jost Hermand: Der verdrängte Naturalismus in der Sammlung seiner Abhandlungen unter dem Titel: Der Schein des schönen Lebens. Studien %ur Jahrhundertwende (Frankfurt): Athenäum (1972) ( = Athenäum Paperbacks - Germanistik, herausgegeben von Willy Erzgräber, Iring Fetscher, Reinhold Grimm, Walter Hinck, Klaus von See), S. 26-38.

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Es heißt nicht den Militarismus schmähen, wenn man ihn eine „Weltanschauung" nennt; just als solche machte er sich damals breit und gemein. Die deutsche Seele spürte tiefes Verlangen nach dem Tritt. Allerunterwürfigste Mentalität wollte den Kommißstiefel in Aktion erleben, wie er den Erbfeind zerstampfte. Die Lust, die dabei zu empfinden war, stimulierte in der eigenen Brust das Verlangen nach Subordination, die sogar eine Ausdrucksform des sozialen Ehrgeizes wurde. Hiergegen war kein Aufkommen. Die Renaissance von Zopf und Knute bevölkerte den kasernalen Kraal mit solchen, die aus der Erreichung der Pubertät ihre Berechtigung zum Einjährig-Freiwilligen ableiteten. Die Nation machte ihre Jugend dem orthozentrischen Monokel gefügig, und statt der Vernunft regierte die alte teutonische Tollwut, die schon die Römer das Fürchten gelehrt hatte. Eine üppig sprießende, .erneuerte' Romantik jubelte sich in kultischen Formen empor, denen die Wackere Neue Welt einer angeblich mittelalterlichen Ständeordnung Richtmaß war. Wie sehr glichen nicht auch die intellektuellen Gebäude der zeitgenössischen Wissenschaft, in den Linien ihrer Aufrisse, der Architektur der sakral angehauchten Bauten des sogenannten Zweiten Rokoko! Aus dem deutschen Normgesicht aber äugte ein Untertan heraus, Weltanschauung passend zur Physiognomik. Akademische Kreise mühten sich derweil mit einer Neubewertung der mittelalterlichen Ostkolonisation ab, womit sie dem politischen Gewicht der Ostelbier im Reich Rechnung trugen. Die dem kollektiven Seelengrund unauslöschlich eingebleute ewige Hab-acht-Stellung verbürgte allgemein

69

Zur Würdigung Scherers vgl. Oskar Walzel: Wachstum und Wandel. Lebenserinnerungen. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Carl Enders (Berlin): Erich Schmidt (1956), S. 27-29; Erich Rothacker: Einleitung in die Geisteswissenschaften, Tübingen 1920; ich benutze die zweite, photomechanisch gedruckte, durch ein ausfuhrliches Vorwort ergänzte Auflage, Tübingen: J . C . B . Mohr , 1930, S. 207-253 (S. 190ff. das Kapitel „Der

Positivismus"); Otto Wirth: Wilhelm Scberer, Josef Nadier and Wilhelm Dillhey as Literaiy Historians,

Diss. phil. Chicago 1937 [Typoscript; war mir nicht zugänglich]; Friedrich

Bonn: Ein Baustein \ur Rehabilitierung der Scbererscbule. Zur 30. Wiederkehr von Bertbold Lit\manns Todestag, Emsdetten : Verlag Lechte [1956]. Die maschinenschriftliche Dissertation von Dietrich Grohnert: Untersuchungen %ur

literaturwissenschaftlicben

Methode Wilhelm Scberers, Potsdam 1963, war mir bisher ebenfalls

nicht erreichbar.

Vgl. ferner: Peter Salm: Drei Riebtungen der Literaturwissenschaft.

Scberer - Waigel -

Staiger, aus dem Englischen übertragen von Marlene Lohner, Tübingen: Max Niemeyer,

1970 ( = Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft,

2), S. 5-35; Franz Greß: Germanistik

und Politik. Kritische Beiträge %ur Geschichte einer nationalen Wissenschaft (Stuttgart-Bad Cannstadt): frommann-holzboog, 1971 ( = problemata,

[8]), S. 31-69; (Catherine Inez Lee: Wilhelm

Scherer's Two-fold Approach to Literature. In: The Germanic Review, Volume 51, New York, 1976, S. 209-228. 70

Wilhelm Scherer: Die neue Generation. In: Wilhelm Scherer: Vorträge und Aufsätze %ur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Oesterreich, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1874, S. 408—414; Zitat S.411. Der Aufsatz stammt aus dem Jahre 1870.

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Empfänglichkeit für alles, was von „oben" kam, selbst auf universitärer Plattform, wo man diese Haltung übrigens noch heutigentags, sobald man die akademische Laufbahn betritt, einübt. Damals war es allerdings das Verdienst des Germanisten Friedrich Gundolf, die eschatologische Kulturüberwindung, zu der alle Parteien, die Unterschiede zwischen sich auslöschend, da sie „oben" nunmehr nur noch als „Deutsche" gekannt sein wollten, angetreten waren, in die unvergessene Formel zu stanzen: „Der deutsche Gedanke empfangt seinen Befehl von der Ewigkeit"71. Dies war, in dem Glauben, als sei das Gemetzel eine Katharsis und als ginge es dabei um das sogenannte Göttliche im Menschen, zweifellos jene Apotheose, durch welche die im Wilhelminismus verkörperte romantische und imperiale Idee zu sich selbst kam. Wie man sieht, waren im Gedanklichen die Ausschweifungen ins Reich der fixen Einbildungen weiterhin beliebt. Auch erlaubt waren sie, schienen doch Irrtümer von Rang bei den meisten der Geistigen nicht zu befürchten. Raisonnieren und Gehorchen blieb der preußische Modus der Dialektik: denken, wie man wollte, daß gedacht, und tun, was erwartet wurde. Indem die universitäre Forschung sich dazu hergab, aus ihren Institutionen Heldenbeschreibungsanstalten zu machen, entstand ein Wind, der schrill in die Ruhmesfanfaren althergekommener Kaiserherrlichkeit fuhr, so daß ihre Musik im Ertönen die politischen Hoffnungen der Deutschen gewaltig aufblies und -blähte, bis diese von der Weltgeltung ihrer Art und Kunst überzeugt waren. Die borussische Repräsentationsekstase ihres Dünkels wurde von Literaturgeschichte und Historiographie immer zeitgemäß in eine zeitlose Frohbotschaft umgemünzt. Die rührte vom Papier aus, auf dem sie stand, als Epiphanie der Verheißung die deutschen Herzen an. Eine pompöse Gewißheit des Heils, die da laut schallend und schmetternd im Siegerkranz kundtat, von ihrer Erfüllung erfüllt zu sein. Auf dieser Kulturstufe werden mahnende Stimmen mühelos übertönt. Wir sehen auch die deutsche Wissenschaft weithin im Taumel der Zollernseligkeit und wundern uns nicht. Dies mußte so sein, wo selbst die auf Zahlen und Fakten gerichtete Forschung, geltungsbewußt, pathetisch daherkam und sich im Bratenrock wichtig machte. Wie man das am besten anstellt, hatte der völkische Zusammenschluß sie gelehrt, der ihrer Feier 72 jetzt den Rahmen

71 72

Friedrich Gundolf: Tat und Wort im Krieg. In: Frankfurter Zeitung (Erstes Morgenblatt), 11.10.1914. Vgl. unten Anmerkung 148. Wolfgang Frhr. von Löhneysen: Der Einfluß der Reichsgründimg von 1871 auf Kunst und Kunstgeschmack in Deutschland. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, XII. Jahrgang, Köln, 1960, S. 17-44; Thomas Nipperdey: Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19.fahrhundert. In: Historische Zeitschrift, Band 206, München, 1968, S. 529-585; Francis G. Gentry: Mittelalterfeiern im 19.Jahrhundert. In: Reinhold Grimm und Jost Hermand < Hrsg. > : Deutsche Feiern mit 21 Abbildungen, Wiesbaden: Akademische

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bot wie ihrer Expansion die Richtung. Wenig fruchtete, was einzelne in einem A n f l u g v o n Besonnenheit schrieben 7 3 : „Wir fragen, wo sind die Thatsachen, für welche ein neues Verständniß eröffnet wird? Mit schönen Ansichten, mit geistreichen Worten, mit allgemeinen Redensarten ist uns nicht geholfen. Wir verlangen Einzeluntersuchungen, in denen die sicher erkannte Erscheinung auf die wirkenden Kräfte zurückgeführt wird, die sie ins Dasein riefen." Und weiter: „Diesen Maßstab anzulegen haben wir von den Naturwissenschaften gelernt." W i e weit reichten überhaupt derartige Erwägungen? Was konnten sie denn ausrichten? D e r frühe Tod Wilhelm Scherers, so daß ihm erspart blieb, seine Grundsätze auf die härteste Probe gestellt zu sehen, ist wie ein Symbol. Wenn es bei ihm, im gleichen Kontext, v o n „der" Naturwissenschaft heißt, daß sie „als Triumphator auf dem Siegeswagen einher" ziehe, „an den wir Alle gefesselt" seien 74 , so wird, betrachtet man die Entwicklung im

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Verlagsgesellschaft Athenaion (1977) (= Athenäum Literaturwissenschaft, Band 5), S.9-24. Vgl. auch Ulrich Schulte-Wülwcr: Das Nibelungenlied in der deutseben Kunst des 19. und 20.Jahrhunderts, Gießen: Anabas-Verlag (1980) (= Kunstwissenschaftliche Untersuchungen des Ulmer Vereins, Verbandfür Kunst- und Kulturwissenschaften, herausgegeben von Michael Brix, Klaus Herding, Berthold Hinz, Band IX); Ulrich Schulte-Wülwer: Die bildenden Künste im Dienste dtr nationalen Einigung. In: Germanistik und deutsche Nation 1806-1848. Zur Konstitution bürgerlichen Bewußtseins. Unter Mitarbeit von Reinhard Behm, Karl-Heinz Götze, Ulrich Schulte-Wülwer und Jutta Strippel herausgegeben von Jörg Jochen Müller, Stuttgart: Metzler (1974) (= Literaturwissenschaft und So^ialwissenscbaften, 2), S. 273-296. Zur Beurteilung dieser Aufsatz-Sammlung vgl. Rainer Gruenter: Die ,jiicbt%uendekommende" Germanistik. In: Euphorion, Zeitschrift für Literaturgeschichte, 69. Band, Heidelberg, 1975, S. 444-447. Scherer: Die neue Generation, aaO. Zur Beurteilung Scherers vgl. auch den im Pathos seiner militärischen Metaphorik überschwenglichen Artikel von Herbert Cysarz: Wilhelm Scherers Programmatik und Poetik. In: Worte und Werte. Bruno Markwardt %um 60. Geburtstag, herausgegeben von Gustav Erdmann und Alfons Eichstaedt, Berlin: de Gruyter, 1961, S.42-50. Cysarz spricht z.B. von Scherers „Feldherrngröße und -kunst" (S. 43), seiner „Napoleonischen Taktik" in der Literaturgeschichtsschreibung (S. 54), von dem „Schriftengeschwader" (S. 44), der „Generaloffensive des Empirismus" (ebda.) sowie von Scherers Fähigkeit, „mit der Präzision und Vehemenz eines Torpedos in die Ziele seiner Sachforschung zu stoßen" (ebda.). Der Krieg hat anscheinend nicht ausgereicht, um alle diesbezüglichen Sehnsüchte zu stillen, die ein Germanistenherz bewegen. Interessant jedenfalls, daß die Rezeption gerade von solchen, einer spezifischen Tradition verpflichteten Motiven getragen wird. Weitaus nüchterner ist das Kapitel über Scherer von Erich Rothacker: Einleitung in die Geisteswissenschaften, aaO., S. 190ff., insbesondere S. 207-253. Gunter Reiss hat durch eine Untersuchung mit dem Titel Germanistik im Kaiserreich. Wilhelm Scherers ,Poetik' als wissenschaftsgeschicbtUches Dokument seine Neuausgabe dieses Werkes eingeleitet (S. IX-XLII); vgl. Wilhelm Scherer: Poetik. Mit einer Einleitung und Materialien %ur Re^eptionsanalyse, herausgegeben von Gunter Reiss, Tübingen: Max Niemeyer [München]: Deutscher Taschenbuch Verlag (1977) ( = Deutsche Texte, herausgegeben von Gotthard Wunberg; dtv Wissenschaftliche Reibe, 4290). Herangezogen wurden auch: die zweibändige Sammlung von Wilhelm Scherer: Kleine Schriften, herausgegeben von Konrad Burdach und Erich Schmidt. 1. Band: Kleine Schriften

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Nachhinein, diese Bemerkung vordergründig auf nicht viel Widerspruch stoßen 75 . Aber sah nicht der Glaube an die Macht der Naturwissenschaft, wenn sich die Geisteswissenschaften beinahe vorbehaltlos zu ihm bekannten, einem Verzicht ähnlich? War die Naturwissenschaft so nachahmensoder nacheifernswert? Hatten die andern Disziplinen hiergegen keinerlei Bedenken? Konnten sie selbst denn so wenig Substantielles vorzeigen? Wenn zum Beispiel die Literaturwissenschaft, sagen wir wenigstens in ihrem germanistischen Sektor, nach bestem Vermögen geltend gemacht hätte, was von ihrem Standpunkt aus bei der Anwendung des Prinzips der Kausalität, auf das Scherer anspielte und das seine Kritiker meist zum Angelpunkt ihrer Polemik machen, beachtet werden müsse, sie hätte zur Erkenntnis jener im Sozialen wie im Geistigen und Seelischen „wirkenden Kräfte", auf die seiner Auffassung nach die „Erscheinungen", das heißt in diesem Falle die literarischen Texte und historischen Dokumente, aber gewiß auch die anderen zum Vorschein gebrachten Dinge und Ereignisse der Zeit „zurückzuführen" seien, noch manch nennenswerten Beitrag leisten können. Doch anstatt sich auch in diesem Bereich, bei der Reduktion des Phänomens auf die in ihm zum Ausdruck kommenden Produktivkräfte, als kritische Disziplin zu etablieren oder zu bewähren, zog sie es oftmals vor, die ideologischen Nebel- und Schwebelwerfer zu betätigen, um solchermaßen die Erfahrungswissenschaften zu verteufeln. Wo reiner Geist sein Wesen treibt, wird keine Vermischung mit dem Materiellen geduldet. Die deutsche Literaturwissenschaft folgte der Ideenbahn. Sie mied den Weg, der sie tiefer durch das Dickicht der Tatsachen geführt hätte; das ideale Ziel lag wohl auch nicht in seiner Nähe. Beschritt sie ihn dennoch einmal, so zumeist zögernd oder nur für kurze Etappen. Auf weite Strecken sah sie kaum auf die Grundlagen, kümmerte sich jedenfalls insgesamt zu wenig darum. Fakten waren ihr oft zu „trivial", um weitere Erwägungen über sie anzustellen. Sie verwarf den Positivismus wieder, statt ihn zu entwickeln. Sie benutzte diese Bezeichnung gar zu gerne als Schimpfwort. Sie mutete,

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alldeutschen Philologie, herausgegeben von Konrad Burdach. 2. Band: Kleine Schriften %ur neueren Litteratur, Kunst und Zeitgeschichte, herausgegeben von Erich Schmidt, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1893; außerdem die Geschichte des Elsasses von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Bilder aus dem politischen und geistigen Lehen der deutschen Westmark. In zusammenhängender Erzählung von Ottokar Lorenz und Wilhelm Scherer, zweite, neu durchgesehene Auflage, Berlin: Franz Duncker, 1872, in dessen „Vorrede" (S. III—X) ich den (unmittelbar nach der Eroberung geschriebenen) Satz finde: „Von deutscher Einheit, von neuer deutscher Macht und Herrlichkeit haben zuerst die Dichter gesungen, und die Männer der That sind dann nicht ausgeblieben" (S. X), sowie die sprachhistorischen Studien von Wilhelm Scherer: Zur Geschichte der deutschen Sprache, Berlin: Franz Duncker, 1868. Auf die Einfuhrung (S. 11-43) zur Ausgabe der Briefe Scherers und seines Schülers Schmidt sei hier noch ausdrücklich hingewiesen; vgl. Wilhelm Scherer/Erich Schmidt: Briefwechsel. Mit einer Bibliographie der Schriften von Erich Schmidt, herausgegeben von Werner Richter und Eberhard Lämmert (Berlin): Erich Schmidt (1963).

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im Ergebnis, der Nation zu, ausgerechnet durch Preisgabe der Ratio und des in dieser beschlossenen kritischen Vermögens einer Rationalität Herr zu werden, als deren zukünftige Ausdrucksform sich bereits damals die vom „Geist" abgetrennte, .rationell' arbeitende Technokratie ankündigte, die in den Materialschlachten unseres Jahrhunderts zum Schwur kam. In Deutschland kann man sich die Hände beschmutzen und zur Not auch die Weste, aber der Geist sei „rein" und hat es zu bleiben. Was auch immer in Wirklichkeit geschieht, seine Empfängnis ist allwegs ohne Makel. Und so soll es schon in frühster Zeit gewesen sein. Es war ausgerechnet Wilhelm Scherer, der 1873, als frischbestallter Ordinarius, in einem Vortrag auf dem Rathaus zu Straßburg, wohin er gerade berufen worden war, behauptete76: „Der alte Germane ist das, was wir heute einen Idealisten nennen würden." Novalis hatte klar gesehen, wozu man die Geschichte .heranziehen' konnte, und formuliert, was sie bedeutete: An die Geschichte verweise ich euch, forscht in ihrem belehrenden Zusammenhang nach ähnlichen Zeitpunkten, und lernt den Zauberstab der Analogie gebrauchen71. Sein forschender Blick erfaßte die politischen Verhältnisse. Der belehrende Zusammenhang konnte mit Hilfe der alten Methode des ,typologischen' Denkens, welche im Mittelalter die vorherrschende war, aufgefunden oder hergestellt werden. Denn dieses Verfahren sucht Analogien, sinngemäße Verbindungen und strukturelle Gleichartigkeit zwischen verschiedenen Ereignissen verschiedener Epochen, aufzuzeigen: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft kommen dabei scheinbar zur Deckung. Sie werden in ihrer zeittypischen Signatur - in dem, was der Interpret dafür ausgibt - assimiliert. Die Geschichte wird so dargestellt, als „ringe" man in ihr stets um dasselbe Ziel. Durch solche Art des Vergleichens kommt allerlei im Muster überein: Vorgänge in ihrem Verlauf; Personen in ihren Funktionen; Situationen und Konstellationen. Die so aufbereitete Geschichte wird zum doktrinären Exempel. Es geht um sichtbar gemachte Kongruenz und den Eindruck kontinuierlicher Prozesse in konzentrisch angeordneten Zyklen. Solche Behandlung des Stoffes aktiviert das belehrende Moment. Und was nicht ins Schema paßt, bleibt draußen. Dort aber herrscht „Chaos", konturloses Durcheinander, Greuel der Verwüstung. Ungleiches kann schon auf diese Weise ausgemerzt werden, daß man es überspringt: Ähnlich währt am längsten. Die bestehenden Verhältnisse zeigen sich zuletzt so verändert, daß ein

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Wilhelm Scherer: Über den Ursprung der deutseben Nationalität. Vortraggehalten im Ratbaussaale Straßburg am 25. Februar 1873. In: Wilhelm Scherer: Vorträgt und Aufsätze, aaO., S. 1-20; Zitat S. 20. Vgl. noch Oskar Walzel: Wilhelm Scbtrer und seine Nachwelt. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, 55. Band, Stuttgart, 1930, S. 391-400.

-n Novalis S. 102.

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gleichgestecktes Konzept in ihrer .Ordnung' erkennbar ist. So heißt es die Analogie in der Tat handhaben wie einen Zauberstab. Die mit Hilfe der Typologie herauszuarbeitende Ähnlichkeit der Zeitpunkte - dieser Begriff nach dem Bodmerschen Sprachgebrauch im Sinne von „Zeitalter", „Epoche", verstanden — entsprang einem agitatorischen Plan. Danach sollte, im drohenden politischen Auseinanderfall, die Idee der Wiederkehr den Rekurs auf ganz bestimmte, angeblich jetzt aktuelle „alte" Erfahrungen erleichtern, um im propagierten Stolz auf sie wie auf das immergleiche eigene Wesen alle Gegensätze zu verdecken und alle Zeichen der Umwälzung zu übertünchen. Das Vergangene sollte nicht verloren sein, sondern im Spiegel des Gegenwärtigen aufleuchten, dieses beleben und beseelen. Wer es berührte, sollte von seiner Art „bezaubert" werden. Es sollte zwischen dem Alten und dem Neuen gewissermaßen eine sympathetische Übertragung zuwege kommen, ein Austausch oder Hinüberfließen der Kraft, Blutspende, Befruchtung. Die Vergangenheit wurde zum Talisman der Gegenwart gemacht. Der romantische Historiker sah sich aber insofern an die nationale Geschichte zurückverwiesen, als er vielleicht die Hoffnung hegen durfte, dort die belehrenden Zusammenhänge, auf die es ihm ankam, leichter aufzuspüren. So führte der rege Gebrauch des wiedergefundenen Zauberstabs der historischen Analogie auch zu einer Verengung des Gesichtsfeldes. Novalis hatte mit seinem geschichtstheologischen Appell eine universale Restauration im Blick78. Die Vorstellung der Christenheit im mittelalterlichen Europa diente ihm zum Modell seines unerschöpflichen Romans79. Jedoch haben die Ereignisse der Zeit der Napoleonischen Kriege und der sogenannten „Befreiung", angeblich vom französischen Joch, dafür gesorgt, daß seine abendländische Perspektive alsbald aufs Nationale verkürzt wurde. Bei den verschiedenen Renaissancen, die der ,Europa'-„Gedanke" seither erlebt hat, was sich bis in unsere Tage fortsetzt, sollte diese Beziehung übrigens als



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Vgl. Peter Küpper: Die Zeit als Erlebnis des Novalis, Köln, Graz: Böhlau, 1959 (= Literatur und Leben, neue Folge, herausgegeben von Richard Alewyn, Band 5), S. 33-39: „Die Christenheit oder Europa"; Rudolf Ibel: Weltschau deutscher Dichter. Novalis, Eichendorff, Mörikt, Droste-Hülsboff, Frankfurt am Main, Berlin, Bonn: Moritz Diesterweg [Neuausgabc ohne Angabe des Erscheinungsjahres], Zur ästhetischen Theorie Hardenbergs vgl. Rolf-Peter Janz: Autonomie und soziale Funktion der Kunst. Studien %ur Ästhetik von Schiller und Novalis, Stuttgart: Metzler, 1973; zu seiner Affinität zur Mathematik vgl. Martin Dyck: Novalis and Mathematics. A Study of Friedrich von Hardenberg's Fragments on Mathematics and its Relation to Magic, Music, Religion, Philosophy, Langtage, and Literature, Chapel Hill: The University of North Carolina Press [1960] ( = University of North Carolina Studies in the Germanic Languages and Literatures, Nr. 27). Vgl. ansonsten Eberhard Lämmert: Zum Wandel der Geschichtserfabrung im Reflex der Romantbeorie. In: Geschichte - Ereignis und Erzählung, herausgegeben von Reinhart Koselleck und Wolf-Dieter Stempel, München: Wilhelm Fink, 1973 (= Poetik und Hermeneutik. Arbeitsergebnisse einer Forschungsgruppe, V), S. 503-515.

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ideologische T a r n u n g g u t e D i e n s t e leisten; er v e r d e c k t e die h e g e m o n i a l e n A m b i t i o n e n , die n o c h stets d e r e i g e n t l i c h e K e r n d e r R e s t a u r a t i o n s v e r s u c h e g e w e s e n sind 8 0 . A n d e r Stelle w e l t b ü r g e r l i c h e r A u f g e s c h l o s s e n h e i t i m U m gang m i t d e r G e s c h i c h t e m a c h t e sich i m Z u g e d e r neuen, romantischen Orientierung ein u m sich selbst k r e i s e n d e r Nationalismus breit 8 1 , dessen R e c h t f e r t i g u n g in e i n e r b l u m i g e n S p r a c h e a n g e m e l d e t w u r d e . S o lautete der Z w e c k d e r V e r g a n g e n h e i t s f o r s c h u n g z u m Beispiel in d e r an o r g a n o l o g i schen V e r g l e i c h e n dieser A r t s o reichen A u s d r u c k s w e i s e W i l h e l m G r i m m s 8 2 formelhaft: „den Baum des deutschen Lebens zu tränken aus eignem Quell". D i e „ z w e i t e Renaisssance", in die m a n jetzt eintrat, w u r d e „ v ö l k i s c h " . 80

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Vgl. Claus Träger: Geschichte und Romantik, Frankfurt/Main: Verlag Marxistische Blätter, 1984 ( = Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie, herausgegeben von Manfred Buhr, 103), S. 26 {F.: „Zum philosophisch-politischen Geschichtssinn der Frühromantiker", S.65ff.: „Der Weg in die apologetische Geschichtsideologie". J . H. Plumb: Die Zukunft der Geschichte. Vergangenheit ohne Mythos (aus dem Englischen übersetzt von Christa Dericum), München: List (1971) ( = List Taschenbücher der Wissenschaft. Geschichte, Band 1571). Ich verweise auf die beiden Sonderbände Nr. 70 und Nr. 75 der Zeitschrift Das Argument, Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, Berlin, beide 1972, mit dem Titel Kritik der bürgerlichen Geschichtswissenschaft < I—II > . Mit Beziehung auf die Literaturgeschichtsschreibung vgl. vor allem die Untersuchungen von Günter Hess: Die Vergangenheit der Gegenwartsliteratur. Anmerkungen %um letzten Kapitel deutscher Literaturgeschichten um 1900. In: Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. Vorträge und Berichte der Stuttgarter Germanistentagung 1972. In Verbindung mit Hans Fromm und Karl Richter herausgegeben von Walter Müller-Seidel, München: Wilhelm Fink, 1974, S. 181-204; s. auch Irene S. Cannon-Geary: The Bourgeoisie Looks at Itself: The Sixteenth Century in German Literarj Histories of the Nineteenth Century (Göppingen): Kümmerle, 1980 ( = Goppinger Arbeiten %ur Germanistik, herausgegeben von Ulrich Müller, Franz Hundsnurscher und Cornelius Sommer, Nr. 280). So zitiert bei Karl-Heinz Götze: Die Entstehungder deutseben Literaturwissenschaft als Literaturgescbichte. Vorgeschichte, Ziel, Metbode und soziale Funktion der Literaturgescbicbtsscbreibung im deutseben VormärIn: Germanistik und deutsche Nation, aaO., S. 167-226 und S. 334-346; Zitat S. 168, jedoch mit falschem Nachweis der Fundstelle (s. S. 335 Anmerkung 7; dort wird die Antrittsrede in der Akademie. Gehalten am 8.Juli 1841 als Quelle angegeben. In dieser Rede findet sich das betreffende Zitat nicht, allerdings eine andere, für die Ideologiegeschichte der Germanistik ebenso bedeutsame Äußerung: „Die deutsche Alterthumswissenschaft hat den Ruhm, zu einer Zeit entstanden zu sein, wo fremde Gewalt auf Deutschland lastete. Sie wollte, soweit es bei ihr stand, den Geist stärken, dessen Kraft langsam wächst, dessen Erfolg sicher ist. Sie wird diesen Ursprung nicht verläugnen, sondern daran fest halten, dass Sicherung und Wiederbelebung des Vaterländischen ihr letztes Ziel ist." Vgl. Kleinere Schriften von Wilhelm Grimm, herausgegeben von Gustav Hinrichs, 4 Bde., Bd. I—III Berlin: Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung Harrwitz und Gossmann, 1881, 1882, 1883; Bd. IV Gütersloh: C. Bertelsmann, 1887, Zitat Bd.I, S.506, die ganze Rede S. 505-507). Auch die von Götze genannte Jahreszahl 1843 paßt nicht zu dem von ihm in der Anmerkung genannten Text (1841). Aus dem Jahre 1843 finde ich jedoch in einer Vorlesung folgende hierher passende Bemerkung Wilhelm Grimms:

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Die Sieger beerben alle, die jemals gesiegt haben. Ihre Historiographen erfassen die Konstellationen, in die die sieghaften Nachfahren zu ganz bestimmten früheren Epochen getreten sind. Gelehrte deuten den Triumph, der die Herrschenden in pomphaftem Zug über die Reliquien der Hekatomben hinwegfuhrt, die der Sieg gekostet hat. Diese und alle voraufgegangenen Opfer werden in den Schriften der „Propheten mit umgekehrtem Gesichte" (Gervinus) postum erneuert. Die Geschichtsschreibung wird zur Liturgie einer Auferstehungsfeier. Die Botschaft, die sie bringt, hat eine Legende zum Inhalt. In ihr finden die Tatsachen, die die Herrschaft stützen, aus der verkehrten Sicht ihre Legitimation für künftige Dauer. Wie die Vollbringer angeblicher Erlösungen die Geste der überwindenden Tat sorgsam einstudiert haben, so verstehen es ihre Herolde, der von ihnen verbreiteten Kolportage, welche nunmehr als „Geschichte" zu fungieren hat, die Aura der aus dem Verborgenen aufgestiegenen Wahrheit wie einen Mantel umzuhängen83. Doch der ist wintschajfen alse ein ermel. Konformismus der Glaubensüberzeugung, als Regulation eines zur offiziellen Mythe, das heißt ethischen Norm und sozialen Tradition, erhobenen Gerüchts, erweist sich als der Fluch der großen Tat. Georg Gottfried Gervinus starb in dem Jahr, in dem die fünfte Auflage seiner Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschetf84 zu erscheinen begann (1871). Wie schon seit einer der früheren Ausgaben hieß das fünfbändige Werk, das Walter Benjamin einen „der ersten Versuche zur deutschen Geistesgeschichte" genannt hat85, nun auch wieder Geschichte der

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„Man gräbt einen verschütteten Brunnen auf, nicht damit jemand auf dem Wasserspiegel sein eigenes Gesicht wohlgefällig beschauen könne, sondern damit seine Quelle heraufdringe und den Boden, da wo er dürr und unfruchtbar geworden ist, tränke und befruchte. [...] nicht die Sonne allein, der günstige Himmel, wenn ihn das Geschick über uns ausbreitet, kann das Gedeihen der Pflanze sichern, sie muss auch aus der Tiefe ihre Säfte ziehen und Triebkraft empfangen. Die Geschichte ist der Boden unter uns, in dem wir Wurzel schlagen." Wilhelm Grimm hat dieses vegetabile Gleichnis in unzähligen Variationen verwendet. Die zitierte Passage steht in der Einleitung ^ur Vorlesung über Hartmanns Erek, in: Kleinere Schriften, aaO., Bd. IV, S. 577-617, hier S.611. - Die Entwicklung, wenn es denn eine war, verlief übrigens genau in die von Grimm, wenigstens an dieser Stelle, ausdrücklich verworfene Richtung: Der Deutsche fand Vergnügen daran, „sein eigenes Gesicht wohlgefällig zu beschauen" - ein Caliban als Narziß vor dem Spiegel der Ereignisse, voll Bewunderung sich selbst vergötternd. Ich verweise auf die Untersuchung charismatischer Ausdrucksmuster und Phänomene von Günter Lanczkowski: Virborgene Heilbringer, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1977. Zuerst 1835-1842 in fünf Bänden in Leipzig herausgekommen. Die Äußerung wird von Walter Boehlich in dem weiter unten (Anmerkung 97) angeführten „Nachwort", S. 182, zitiert. Das Buch, dem Boehlich das Zitat entnahm, ist mir momentan nicht erreichbar. In den mir vorliegenden Ausgaben des Essays von Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reprodie^ierbarluit ist das Zitat jedoch nicht auffindbar; vgl. Walter Benjamin: Schriften (herausgegeben von Th. W. Adorno und Gretel Adorno

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deutschen Dichtung6. Der Verfasser hatte das Buch noch einer „Erneuerung" unterziehen wollen und den „Umbau" teilweise auch schon selbst in Angriff nehmen können, um der „zahllosen Detailforschung" der letzten Jahrzehnte auf dem Gebiete der Literaturgeschichte nach Möglichkeit Rechnung zu tragen87. Trotzdem bekam seine Schrift auch hierdurch nicht mehr jene Aktualität, die ihr weiterhin Erfolg beschieden hätte. Es ist ein merkwürdiges Phänomen, daß eine der bedeutendsten Leistungen der Germanistik plötzlich nicht mehr gefragt war, so daß man die Wirkung, die nach der jüngsten Auflage von ihr hätte ausgehen sollen, in der Geschichte des Faches nirgends mehr deutlich nachweisen kann. Der Ruhm des Autors88 war verblaßt. Gervinus war sich dessen selbst genau bewußt. Sein Vorwort zum Neudruck der Literaturgeschichte89 ist ein deprimierendes Gespräch mit seinen „abgeschiedenen Freunden", den Brüdern Grimm und Dahlmann, denen sein Buch gewidmet war. Vor ihnen will er seinen unzeitgemäßen Versuch rechtfertigen90, „warum ich in dieser Zeit der schrankenlosen patriotischen Hoffnungen des deutschen Volkes nicht lieber seiner politischen Gegenwart als seiner literarischen Vergangenheit Theilnahme und Thätigkeit zugewandt halte?"

Schroff wendet er sich ab von der „berauschten Begeisterung über unsere Gegenwart" und „deren schwindelnde Erwartungen von unserer nächsten Zukunft"91. Er verwirft die Erfolge Bismarcks und setzt ihnen - ausgerechnet - das Beispiel Napoleons III. warnend entgegen, des Usurpators und Autokraten, jenen „französischen Gewalthaber aus seinem persönlichen Herrscherthume", den sein verdientes Geschick „in die selbstgegrabene Grube der Vernichtung hinabschleuderte"92. Solche Mahnungen ergehen im Augenblicke des höchsten deutschen Triumphes. Gervinus beschwört unter Mitwirkung von Friedrich Podszus), 2 Bde. (Frankfurt a. M.): Suhrkamp, 1955, Bd. I, S. 366-405 und Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, herausgegeben von Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Hella Tiedemann-Bartels, Tillman Rexroth, I, 2 (Frankfurt am Main): Suhrkamp (1980) ( = Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, werkausgabe edition suhrkamp, 2. Band), S. 431-508. - Korrekturnote: Das Zitat stammt aus dem Essay Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker, in der Ausgabe der Gesammelten Schriften Walter Benjamins, II, 2 = werkausgabe edition suhrkamp, 5. Band, S. 465-505, hier S. 492. 86 Ich benutze diese Ausgabe; s. G. G. Gervinus: Geschichte der deutschen Dichtung, 5 Bde., Bd. I—II: 5., völlig umgearbeitete Auflage, Bd. III-V: 5. Auflage, herausgegeben von Karl Bartsch, Leipzig: Wilhelm Engelmann, 1871, 1871, 1872, 1873, 1874. 87 S. das „Vorwort", Bd. I, S.V-VIII, geschrieben im November 1870. 88 Hierüber orientiert die „Einführung" von Gotthard Erler zu der von ihm herausgegebenen Sammlung einer Anzahl der von Georg Gottfried Gervinus verfaßten Schriften ^ur Literatur, Berlin: Aufbau-Verlag, 1962, S.V-LXXIV. *> AaO. 90 Ebda. S.Vf. « S.VI. 92 S.VI.

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mit beinahe Schillerschem Pathos die rächende „Nemesis" der Geschichte, „die selten ihre Spiele in so deutliche Scene setzt"93. Die Einigung Deutschlands unter der Führung Preußens verdrießt ihn als der Irr-Lauf einer Politik, die dem deutschen Volke freie Bestimmung in der Gewißheit seiner selbst hätte bescheren sollen. So aber hatte die Geschichte eine Richtung genommen, die Gervinus als Historiker keineswegs behagte94. Kennzeichnete nicht schon die hybride Stilisierung zum „Enkel Widukinds" und „heldischen Roland", die sich die Propagandisten einfallen ließen, den „Alten aus dem Sachsenwald" zum politischen Abenteurer? Gewalttat, die das Einigungswerk Bismarcks dem Wesen nach war, erheischte der durch sie erreichte Zustand in hohem Maße Affirmation. Die Wissenschaft aber schien, wie alle staatstragenden Kreise im Reich, besonders stark aufgerufen beizupflichten. Die Geschichte ging damit über Gervinus' Standort hinweg. Literarhistorie als Kaisermanöver, wie sie jetzt zu glänzen begann, war doch nicht sein hall95. Er attestierte seinen toten Freunden96, „sie hätten auch die großen Kriegsthaten von 1870 nicht für den Riesenschwamm gehalten, der die tiefe Unbefriedigung über die inneren Zustände Deutschlands mit Einem Zuge austilgen würde; denn wie bewundernswerth diese Thaten seien: Dem, der die Tagesgeschichte nicht mit dem Auge des Tages, sondern mit dem Auge der Geschichte ansieht, erscheinen sie trächtig an unberechenbaren Gefahren, weil sie uns auf Wege führen, die der Natur unseres Volkes und, was viel schlimmer ist, der Natur des ganzen Zeitalters zuwiderlaufen".

Mochte sich Gervinus in bezug auf die Natur „unseres Volkes" wie „des ganzen Zeitalters" Illusionen hingeben, in bezug auf die Folgen einer Politik, die mit dem „Riesenschwamm", durch aufsaugendes Wegputzen, schöpferisch sein will, hat er sich nicht getäuscht. Doch war er, als er seinen Befürchtungen Ausdruck verlieh, wissenschaftlich schon längst isoliert97. » S.VI. 94 Vgl. Knut Hennies: Fehlgeschlagene Hoffnung und Gleichgültigkeit. Die Literturgeschicbte von G. G. Gervinus im Spannungsverhältnis ^wischen Fundamentalpbilosopbie und Historismus, Frankfurt am Main, Bern, New York: Peter Lang (1984) ( = Gießener Arbeiten %ur Neueren Deutseben Literatur und Literaturwissenschaft, herausgegeben von Dirk Grathoff und Erwin Leibfried, Band 4). 95 Vgl. die Darstellung von Rolf-Peter Carl: Prinzipien der Literaturbetracbtmg bei Georg Gottfried Gervinus, Bonn: H. Bouvier, 1969 ( = Literatur und Wirklichkeit, herausgegeben von Karl Otto Conrady, Band 4), besonders die Ausfuhrungen über die Kriterien der literarischen Wertung bei Gervinus. Vgl. auch das Urteil Walter Benjamins über die Leistung des Literarhistorikers Gervinus in dem kurzen, 1931 geschriebenen Essay: Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft. In: Walter Benjamin: Der Stratege im Literaturkampf. Zur Literaturwissenschaft, herausgegeben von Hella Tiedemann-Bartels (Frankfurt am Main): Suhrkamp (1974) ( = suhrkamp taschenbuch 176), S.7-14, hier S.8. 96 Gervinus, „Vorwort", S. VII. 97 Vgl. die Würdigung des Gervinus im „Nachwort" von Boehlich zu seiner Ausgabe von Georg Gottfried Gervinus: Einleitung in die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts,

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Bereits im Jahre 1853 war dem Heidelberger Professor aus Anlaß der Veröffentlichung seiner Einleitung in die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts „wegen Aufforderung zum Hochverrat und wegen Gefahrdung der öffentlichen Ruhe und Ordnung" 98 vor dem Großherzoglich Badischen Hofgericht der Prozeß gemacht worden". Im Nachlaß des Angeklagten, welcher auf der Universitätsbibliothek in Heidelberg verwahrt wird, findet sich dazu noch ein Dokument, mit dem der „Engere Senat" der Hochschule „dem Herrn Hofrath Professor Dr. Gervinus" eröffnete, ihm sei auf Grund einer ministeriellen Entschließung die akademische Lehrbefugnis entzogen100. In der Anklageschrift, datiert in Mannheim auf den 12. Januar 101 , hatte der Staatsanwalt den Vorwurf erhoben, Gervinus habe die monarchische Staatsform, „oft in höhnenden Schilderungen", als die „nothwendige Feindin aller gedeihlichen, materiellen und geistigen Entwicklung" hingestellt und sie „dem Hasse und dem Abscheue zu überliefern" getrachtet. Der Akkusator hatte richtig betont, daß der Verfasser der Einleitung in die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts, die noch im selben Monat gerichtlich und polizeilich beschlagnahmt wurde102, als „Zweck" ins Auge gefaßt hatte „auszuführen, daß, einem bestimmten Gesetz der geschichtlichen Entwicklung folgend, die demokratischen Grundsätze trotz allen Hindernissen und Hemmungen in einem stetigen Fortschreiten begriffen seien" 103 .

Der Staat bringt die Wissenschaften zur Raison, und diese erweist sich als die seine. Forschung wird dann als Laiendienst am Kultus der Nationalität begriffen, deren Entstehung in Deutschland, das soeben Frankreich niedergeworfen hatte, in Anwendung der geschichtsanalogischen Interpretationsregel, in der Rückwendung konsequent, aus dem Kriegertum der Germanen abgeleitet wurde, das eine Tradition begründet habe, welche allein das ,Heil' der Zukunft in sich berge. Die Zeiten werden „groß^ genannt, die solche Phantasien durch die Ereignisse zu bestätigen scheinen. So redete dann auch der Empirist Scherer104, und er lobte die „Gesinnung", die „Hinge-

herausgegeben von Walter Boehlich (Frankfurt am Main): Insel (1967) ( = Sammlung msil 24/1), S. 179-211. 98 Boehlich, aaO., S. 203. - Das inkriminierte Buch war im Dezember 1852, doch schon mit der Jahreszahl 1853, herausgekommen. 99 Walter Boehlich hat die Akten veröffentlicht; vgl. Der Hocbverratspro^eß gegen Gervinus, herausgegeben von Walter Boehlich (Frankfurt am Main): Insel (1967) ( = Sammlung insel 24/2). •o° Boehlich, „Nachwort", aaO., S.210f. '' S.7. i04 Prosa der Wissenschaft mit gekonntem Schwung: „An den Grenzen dieses nationalen Prozesses, die wie die hohen Berge gleichsam die Wasserscheiden des menschlichen Geistes bestimmen, an diesen vielumrungenen, umworbenen und blutgetränkten Grenzen lag neben anderen Ländern in langgestreck-

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bung", die „Opferwilligkeit" 105 - ohne zu erkennen zu geben, daß ihm bewußt war, daß die „Opfer" zumeist von anderen als der neuen Priesterkaste der Professoren getragen wurden. Die akademische Lehr- und Forschungsfreiheit, heute verfassungsmäßig garantiert, war in Wirklichkeit immer ein Gespenst. Die Geschichte der deutschen Universität ist reich an Beispielen dafür, daß es in tönenden Deklarationen öffentlich beschworen werden und sogar in Gedanken spuken durfte, in der Praxis aber zu verschwinden hatte, sobald regierungsamtliche Stellen dies aus sogenanntem höheren Interesse verfügten. Wer das nicht wahrhaben wollte, mußte es büßen. Das Phantom konnte der Wissenschaft keine Immunität geben. Was die Germanistik betrifft, so äußerte sich, wie beispielsweise aus dem Jahre 1875 überliefert wird 106 - die Universität, um die es ging, trägt heute den Namen Humboldts - , der Vertreter des Berliner Kultusministers eindeutig, indem er im Preußischen Abgeordnetenhaus feststellte: „Die Universitäten - das muß zugegeben werden - haben doch im eigentlichen Sinne keinen selbständigen Zweck, sondern sind Theile eines größeren Organismus und werden in ihrer eigenen Autonomie nachgeben müssen, w o es sich um allgemeine Maßregeln handelt, welche das Ganze erfordert".

Sie gaben nach. In Zeiten, die so „groß" waren, taten sie es freudig.

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ter Ausdehnung das Elsaß mit seinen Erinnerungen an Ariovist und Chnodomar und seinem festen Grund von deutschem Recht und Sitte. Wird es seine deutsche Nationalität bewahren? Es wäre ein Irrtum, wenn man dächte, daß sich irgend jemand vor 1000 Jahren diese Frage vorgelegt hätte, welche seit 200 Jahren so natürlich [I] geworden ist. Damals wäre die Antwort im Elsaß selbstverständlich gewesen; aber wenn südlich vom Elsaß die deutschen Burgunder [!] vollständig verwälschten, so darf und muß man eine Antwort fordern, warum das Elsaß nicht französisch geworden, und Dank unserer großen Zeit nun niemals werden wird." Geschichte des Elsasses, aaO., S. 12. „Auch unser Volk hat sich ein Banner erobert, aber nicht dem Römer abgewonnen, sondern aus dem Hort der eigenen Brust hervorgezogen, ein Banner, das es hochhielt im Strome der Geschichte und das es seinen späten Enkeln vererbte, wie Ingo, als einen Talisman, als ein Zauberding, auf daß sie würdig leben der großen Ahnen. Und dieser Talisman - er hat uns bis jetzt nicht verlassen. Denn wir wissen es wohl, unser Heil beruht auf der selbstlosen Gesinnung, auf der Hingebung, auf der Opferwilligkeit, auf dem Idealismus." So lesen wir in dem oben schon zitierten Vortrag Über den Ursprung der deutschen Nationalität (aaO., S. 20). Die Instanzen aber scheinen zu wissen, daß die Fahne, die die Professorenschaft periodisch hißt, in der Tat nicht den Römern abgewonnen ist. So konnte die preußische Regierung, ohne daß Widerstand gegen ein derartiges Ansinnen zu erwarten gewesen wäre, für die Verleihung des germanistischen Lehrstuhls an der neuen KaiserWilhelms-Universität die propagandawirksame Mystik des Hasenpaniers, die da aus dem Hort der eigenen Brust abgesondert wurde, als Schandlohn eintreiben. Franz Greß, der die Stenographischen Berichte über die Verbandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom ¡.Januar 1875 einberufenen beiden Häuser des Landtages. Haus der Abgtordneten, Bd. 1 , Berlin 1875, ausgewertet hat, zitiert den Fall in seinem Buch Germanistik und Politik, aaO., S.61.

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Die Worte, die einige Kollegen vom Fach dem toten Gervinus 1871 ins Grab nachriefen 107 , folgten in der Einschätzung seiner Person und seiner Leistung der Linie, die fast zwanzig Jahre vorher durch den Großherzoglich 107

Sie sind bei Carl: Prinzipien der Literaturbetraehtung bei Georg Gottfried Gervinus, aaO., S. 186-189 verzeichnet. Außer dem, was der „wider die Unzucht der Revolution" polemisierende Treitschke im fünften Band seines das 19. Jahrhundert behandelnden Gcschichtswerkes über Gervinus verlauten läßt, sind besonders die Ausfuhrungen Rankes und Hillebrands hervorzuheben. Vgl. Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, neue Ausgabe, 5 Teile [in 5 Bdn.], Leipzig: S. Hirzel, 1927, Bd.V, S. 417-421; Leopold von Ranke: Georg Gottfried Gervinus. Rede %ur Eröffnung der zwölften Plenarversammlung der historischen Commission. In: Historische Zeitschrift, 27. Band, München, 1872, S. 134-146; Karl Hillebrand: G.G. Gervinus. In: Preußische Jahrbücher, 32.Band, Berlin, 1873, S. 379-428. Hillebrands Polemik wurde anscheinend in der Redaktion der Jahrbücher etwas gemildert. Der Essay wurde dann in seine Sammlung Zeiten, Völker und Menschen aufgenommen und in eine Gruppe von Schriften eingereiht, in denen sich der Verfasser mit der „extravaganten Selbstbewunderung" auseinandersetzt, welche er am „zünftigen Gelehrtenthum" in Deutschland entdeckt hatte. Er schreibt darüber: „Daß aber ,der Fluch der hohen Meinung' unserm Gelehrtenstand geistig wie sittlich unsäglichen Eintrag gethan, Hochmuth, Kastensinn, Beschränktheit in die freieste Bildung Europa's, die deutsche, einzuführen droht, und so deren Verbreitung, wie deren Ruhm hindernd im Wege steht, dessen wird man erst im Auslande recht inne, wenn man Hunderte von gebildeten, humanen und billigen Deutschen sich, oft umsonst, abmühen sieht den schlimmen Eindruck auszulöschen, den die Taktlosigkeit einzelner Vertreter der .deutschen Wissenschaft' bei den auswärtigen Freunden hervorgebracht". So die Meinung des wie Carl Schurz 1849 aus den Rastatter Kasematten Entflohenen, dem Heinrich Heine, dessen Sekretär er wurde, später, auf seinem Krankenlager, den Romanzero diktiert hatte, über den deutschen Lehrstand (im „Vorwort" zu dem Band, in dem außer dem Gervinus-Essay auch eine Besprechung der ersten Unzeitgemäßen Betrachtung Nietzsches unter dem Titel Einiges über den Verfall der deutschen Sprache und der deutseben Gesinnung, S. 281-299, zu finden ist, ebenso der Aufsatz Ueber historisches Wissen und historischen Sinn, S. 300-326, in dem es heißt: Die Kriege von 1866 und 1870 hätten „die cigenthümliche Wirkung gehabt", unter anderm, „den deutschen Gelehrtenhochmuth bis zum Paroxysmus zu steigern", s. S. 301). Daß Hillebrand ausgerechnet in Gervinus seinen Abscheu personifiziert sah, ist merkwürdig. Er entwickelte freilich selbst noch Sympathien für die Ansichten eines Paul de Lagarde. Ich benutze Hillebrands Schriften in folgenden Ausgaben: Karl Hillebrand: Zeiten, Völker und Menschen. 1. Band: Frankreich und die Franzosen. Vierte, verbesserte und vermehrte Auflage, 1898. 2. Band: Wilsches und Deutsches. Zweite, verbesserte und vermehrte Auflage, 1892. 3. Band: Aus und über England. Zweite, verbesserte und vermehrte Auflage, 1892. 4. Band: Profile. Dritte Auflage, 1907. 5. Band: Aus dem Jahrhundert der Revolution. Dritte Auflage, 1902. 6. Band: Zeitgenossen und Zeitgenössisches. Dritte Auflage, 1907. 7. Band: Culturgeschichtliches. Aus dem Nachlasse, herausgegeben von Jessie Hillebrand, 1885. Dieser letzte Band erschien (wie die übrigen der ersten Auflage) in Berlin bei Robert Oppenheim, die oben angeführten Bde. 1-6 der späteren Auflagen in Straßburg bei Karl J. Trübner. Der Aufsatz über G. G. Gervinus steht in Bd. II, S. 197-280.

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Badischen Justizapparat markiert w o r d e n w a r 1 0 8 . D e r Heidelberger Literarhistoriker w a r v o m liberalen Republikaner zum Verfechter demokratischer Überzeugungen g e w o r d e n 1 0 9 , während der romantische Idealismus seiner Zunftgenossen seine Volte in die andere Richtung schlug, wie es den politischen Bedürfnissen der in der Zeit nach der gescheiterten R e v o l u t i o n herrschenden Clique entsprach 1 1 0 . D e r Historismus ging mit geilem D r a n g aufs g r o ß e Ganze. Mit jener ersten W i e d e r v e r e i n i g u n g , die der Welt das Z w e i t e Reich beschert hat, fühlte er sich dann v o r e r s t am Ziel angelangt. J e d o c h ärgerte es seine Repräsentanten noch immer, daß ihnen G e r v i n u s beinahe ein halbes Jahrhundert v o r dieser Zeit schon w a r n e n d ins S t a m m b u c h geschrieben hatte 1 1 1 : „Nie hoffe doch jemand, mit einer unnatürlichen Begeisterung und nationalen Eitelkeit und Großthuerei, die uns dazu so übel ansteht, in deutschen Geschichten ersetzen zu wollen, was ihnen an innerer Fülle der Begebenheiten abgeht oder an großen Charakteren." Heuchelei ist der Tribut, den eine zum K o m m e n t v e r k o m m e n e „Ehre" eintreibt. Die bismärckischen Troßbuben, denen ein G e r v i n u s zum G e s p ö t t

Zu Hillebrand vgl. das „Nachwort" von Uhde-Bernays, eine ausführliche Würdigung unter dem Titel Joseph und Karl HHUbrtmd, Vater und Sohn, in: Karl Hillebrand: Unbekannte Essays, aus dem Französischen und Englischen übersetzt und mit einem biographischen Nachwort „Joseph und Karl Hillebrand" herausgegeben von Hermann Uhde-Bernays, Bern: Francke (1955), S. 283-396. 108 Auf den perfiden Tenor der postumen Schmähungen „auf das frische Grab" hat zuerst Franz Mehring: Die Lessing-Legende (herausgegeben von Hans Koch), Berlin: Dietz, 1963 ( = Franz Mehring: Gesammelte Schriften, herausgegeben von Thomas Höhle, Hans Koch, Josef Schleifstein, Band 9), S. 50 (vgl. besonders die Anmerkung) aufmerksam gemacht. Sein Urteil lautet: „Um der Philosophie der spießbürgerlichen Rente und der Philosophie des ausbeuterischen Kapitalismus freie Bahn zu schaffen, mußte der letzte Rest des bürgerlichen Idealismus mit Knütteln totgeschlagen werden". Vor der schon genannten Arbeit von Karl-Heinz Götze, der den Sachverhalt in seinen Ausführungen über Die Entstehung der deutschen Literaturwissenschaft als Literaturgeschichte referiert und kommentiert (S. 215, S. 219 u. ö.), kann man wegen ihrer gravierenden Mängel nur warnen. Das bezieht sich auch auf die Zitate, die manchmal vor Ungenauigkeit nur so strotzen. 109 Vg] dazu Rudolf Unger: Gervinus und die Anfänge der politischen Literaturgeschicbtscbreibmg in Deutschland. Eine Säkularerinnerung. Redt, gehalten in der öffentlichen Sitzung am 10. November 19)4. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften ¡¡u Göttingen, Philologisch-historische Klasse, neue Folge, Fachgruppe IV: Nachrichten aus der Neueren Philologie und Literaturgeschichte, 1. Band, 1934-37, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1937, S. 71-94 (= Abhandlung Nr. 5: Nachrichten aus dem Jahr 1935, Berlin: Weidmann, 1935). 110 Vgl. das abwägende Urteil Boehlichs, „Nachwort", aaO., S. 182ff. 111 In seiner berühmten Besprechung der Otfrid-Ausgabe E. G. Graffs sowie der Wolfram-vonEschenbach- und der Walther-von-der-Vogelweide-Ausgaben Karl Lachmanns, wieder abgedruckt in einer von Carl Winter herausgegebenen Faksimile-Ausgabe; vgl. G.G. Gervinus: Zur Geschichte der deutschen Literatur. Rezensionen aus den Heidelberger Jahrbüchern der Literatur, 26.Jahrgang 18)3, Heidelberg: Carl Winter (1973), S. 544-594, Zitat S.555.

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wurde, denunzierten seine Art, Literatur politisch aufzufassen; der Nutzen, den sie für die Gegenwart aus der Literatur zogen, entsprach ihrem Gebrauchswert als historischer Draperie. Novalis hatte, als er seine philosophischen Betrachtungen auf seine eigenen Tage lenkte112, um diese im Sinne seiner Utopie zu richten, nicht umsonst vom politischen Schauspiel unsrer Zeit geredet. Die Theater-Metapher113 machte von jetzt an jurore. Die Amönitäten des Professorentums ließen dessen herausragende Vertreter im neuen Reich, sieht man auf ihr politisches Gebaren, sowohl die Helden des kolossalen Romans sein, den das Weltleben für die Erben der Romantik darstellte, als auch zu Propugnatoren des letzten Gefechts avancieren, das gegen die Aufklärung geführt werden mußte. Die Kulissenschieberei mit pseudomittelalterlichen Staffagen, welche sich der deutsche Imperialismus entlieh114, um sein wahres Gesicht ins rechte Licht zu rücken115, das die Bühnenbeleuchter116 aus angeblich ewiger Quelle speisten, machte sich als Bekennertum bezahlt117. Wenn Friedrich Nietzsche die großen nationalen Kriege der Gegenwart hellsichtig als eine Folge des historischen Studiums bezeichnete118, so hat die „verschwärmte Bildungsbarbarei" der Germanistenromantik (Thomas Mann), die jetzt ihr nord- und mordgläubiges Evangelium verkündete119, an diesem Ergebnis entscheidend Anteil. Im deutschen 112 Novalis, aaO., S. 105. " 3 Vgl. dazu Dieter Arendt: Der ¡poetische Nihilismus in der Romantik. Studien ?um Verhältnis von Dichtung und Wirklichkeit in der Friibromantik, 2 Bde., Tübingen: Niemeyer, 1972 ( = Studien ^ur deutseben Literatur, herausgegeben von Richard Brinkmann, Friedrich Sengle und Klaus Ziegler, Band 29), vor allem das Kapitel „Das barocke Emblem des theatrum mundi und das romantische Bild vom Welttheater", S. 73-104. 1,4 Vgl. Jost Hermand: Germania germanicissima. Zum präfaschistiscben Arierkult um 1900. In: Jost Hermand: Der Schein des schönen Lebens, aaO., S. 39-54. 115 Nachdrücklich verweise ich auf das Buch von Hans Bernd Gisevius: Der Anfang vom Ende. Wie es mit Wilhelm 11. begann, Stuttgart: Deutscher Bücherbund (1971), in dem gezeigt wird, daß die Theatralik des „Unholds aus Braunau" in den öffentlichen Auftritten des Kaisers schon ihre Vorformen entwickelt hatte. i " Vgl. das Kapitel „Idee und Realität" (S. 155-192), vor allem den Abschnitt „Der Olymp des Scheins" (S. 182 ff.) bei Richard Hamann/Jost Hermand: Gründerzeit, München: Nymphenburger Verlagshandlung (1971) ( = Epochen deutscher Kultur von 1870 bis %ur Gegenwart, Band 1). 1,7 Vgl. dagegen Mommsens Klage über die Zufriedenheit seiner Landsleute mit dem „pseudokonstitutionellen Absolutismus"; s. Albert Wucher: Theodor Mommsen als Kritiker der deutschen Nation. In: Saeculum, Jahrbuch für Universalgeschichte, Band 2, Freiburg-München, Jahrgang 1951, S. 256-270, Zitat S.263. 118 Siehe darüber Ernst Bertram: Literaturwissenschaft und Geschichte, herausgegeben von Hartmut Buchner, Sonderausgabe, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1966 ( = Libelli, Band CCXII), S. 11. 119 Klaus-Peter Philippi: Volk des Zorns. Studien %ur ¡poetischen Mobilmachung in der deutseben Literatur am Beginn des Ersten Weltkriegs, ihren Voraussetzungen und Implikationen, München: Wilhelm Fink (1979). Zum Vergleich s. auch Rudolf Buchner: Die deutsche patriotische Dichtung vom Kriegsbeginn 1870 über Frankreich und die elsässiscbe Frage. In: Historische Zeitschrift, Band 206, München: 1968, S. 327-336.

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Hundsgemeinwesen fungierten akademische Ariosophen nun als Sekundanten des aristokratisch-großbürgerlichen, alldeutschen Kartells, das, in der Erinnerung an Sedan schwelgend, die biologische Überlegenheit seines gewappneten Phänotyps ideologisch geltend machte. Die Nation, von den Erzeugnissen des offiziellen Historismus120 in ihrem herostratischen Impuls nur bestärkt, anstatt daß das Lesen ihr Selbstvertrauen lädiert hätte 12 ', rüstete sich, den antirevolutionären Chiliasmus122 in die Tat umzusetzen, den ihre Bildungselite als Erbgut in Empfang genommen 123 hatte: Alte und neue Welt sind im Kampf begriffen, die Mangelhaftigkeit und Bedürftigkeit der bisherigen Staatseinrichtungen sind in furchtbaren Phänomenen offenbar geworden™. Es sollte sich aber noch herausstellen, daß es ein gefährliches Handwerk ist, in Deutschland Endzeit-Stimmung zu verbreiten. Denn dies führte mit dazu, daß der deutsche Elan in seiner pathologischen Exaltation (Romain Rolland) zu rasen begann125. Die Destination der Geschichte, für unumstöß-

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Hierzu vgl. die Abschnitte „Geschichte als .Reisegepäck der Nation'" und „Die politische Rolle der deutschen Historiker" von Manfred Schlenke: Geschichtsdeutung und Selbstverständnis im 19. und 20. Jahrhundert < Arbcitsgruppenbtricht > . In: Das Nürnberger Gespräch: Haltungen und Fehlbaltungen in Deutschland, Freiburg: Rombach (1966), S. 71-105, hier S. 72 ff. und S. 78 ff. (Sonderdruck). In dem Sinne, wie es George Steiner ausgeführt hat: Sprache und Schweigen. Essays über Sprache, Literatur und das Unmenschliche (deutsch von Axel Kaun) (Frankfurt am Main): Suhrkamp (1969) ( = suhrkamp taschenbucb 123). Vgl. die Analyse dieses in der deutschen Geistesgeschichte (seiner Ansicht nach seit der Romantik) konstanten Syndroms durch Hermann Glaser: Spießer-Ideologie. Von der Zerstörung des deutseben Geistes im 19. und 20.Jahrhundert. Neue, ergänzte Ausgabe mit einem einleitenden Essay zur Wirkungsgeschichte des Buches (Köln: Verlag Wissenschaft und Politik Berend von Nottbeck, 1974) ( = Bibliothek Wissenschaft und Politik, Band 2) und die kritische Charakteristik dieses Buches bei Klaus Vondung: Völkisch-nationale und nationalsozialistische Literaturtheorie, München: List (1973) ( = List Taschenbücher der Wissenschaft. Literatur als Geschichte: Dokument und Forschung, Band 1465), S. 179-181. Glasers Fazit lautete: „Mit der Machtergreifung Hitlers trat die Krise nicht ein, sondern nur zutage" (aaO., S. 25). Z u r analytischen Differenzierung dieser Sicht in soziologischen Kategorien vgl. M. Rainer Lepsius: Extremer Nationalismus. Strukturbedingungen vor der nationalsozialistischen Machtergreifung, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer (1966) (= Veröffentlichungen der Wirtschaftshochschule Marnheim. Im Auftrag des Senats herausgegeben von H . G . Schachtschabel, Band 15). Vgl. Heinz Schlaffer: Ergebnis und Methode. Vorbürgerliche Heroik in der bürgerlichen Gesellschaft. Probleme so^ialgeschicbtlicber Werkinterpretation. In: Heinz Schlaffer: Der Bürger als Held. So^ialgescbicbtüche Auflösungen literarischer Widersprüche (2. Auflage) (Frankfurt am Main): Suhrkamp (1976) ( = edition suhrkamp 624), S. 126-156. Novalis S. 105. Aus einem handschriftlichen Brief von Romain Rolland, 18.10.1914 aus Genf, an Karl Wolfskehl: Europa ist einer pathologischen Exaltation preisgegeben, der bald eine tiefe Niedergeschlagenheit folgen wird; auszugsweise abgedruckt in: Karl Wolfskehl 1869-1969. Leben und Werk in Dokumenten. Eine Ausstellung der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek 20. Okt. bis 14. De%. 1969 (Konzeption und Katalog: Manfred Schlösser. Aufbau der Ausstellung: Erich Zimmermann), Darmstadt: Agora (1969), Nr. 268 (S.220).

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lieh erklärt, wirkte fatal, da so alle Bemühungen, die Welt nach vernünftigen Grundsätzen einzurichten, von vornherein als thöricht verworfen waren: O! daß der Geist der Geister euch erfällte, und ihr abließet von diesem thörichten Bestreben, die Geschichte und die Menschheit modeln, und eure Richtung ihr geben126.

Empfohlen wird hier eine Art von Metaphysik, um der Geschichte mit der Kraft des Glaubens abzutrutzen, was sie bereithält. Die Menschheit soll, anstatt ihr Richtung zu geben, sich darin üben, gläubig ihren Verbeißungen und Winken

folgen127.

Das Vertrauen in die mystische Geschichtswende? Die Peripetie der Aufklärung? Das Connubium von Wahn und Wahrheit? Der „subjektivierte Occasionalismus" der politischen Romantik128 als „Begleitaffekt", als „eine Art lyrischer Umschreibung des Erlebnisses"129, in die er die menschliche Geschichte auflöst. Man solle von ihr lernen, mit ihr gleichen Schritt

halten13°,

doch ohne konkrete Autorität, „immer ohne eignen Entschluß, eigne Verantwortung und eigne Gefahr"131. Man mag dies Tremolo der Gedanken für Erleuchtung ansehen, politisch aber führt diese „intellektuelle Musik" (Carl Schmitt) zum Opportunismus. Wo solches Konvertitentum allgemein wird, kommt es zur Herstellung der rechtmäßigen Throne und zur Erhebung der rechtmäßigen Wissenschaft auf den Thron: Der Legitimismus und seine Sophisten richten sich ein. Die Restauration der Staatswissenschaft bildet die herrschende Theorie132. Mit dem Zauberstab der Analogie, wenn der Geschichtsforscher ihn rührt, desavouiert er seine Urteilsfähigkeit. Das Kontrastive, Andersartige, Fremde der mittelalterlichen Verhältnisse deckt er zu. Statt verstehen zu wollen, fühlt er sich ein. Wissen ersetzt er durch Stimmungswerte. Statt Sachkenntnis sucht er zuvorderst den gemüthaften Aufschwung, lebt sich hinein in eine Wahnwelt, die über einer ungeliebten Gegenwart ihren Himmel wölbt. Eine solche Wissenschaft ist gemeingefährlich. Ein Geschichtsdenken, das nicht den kritischen Vergleich beabsichtigt, welchen die Analogie nicht leisten kann, sondern bloß auf Identifikation aus ist133, verliert Novalis S. 102. Ebda. 128 Carl Schmitt: Politische Romantik. Ich benutze die zweite Auflage, München und Leipzig: Duncker & Humblot, 1925. Schmitt S. 225 und S.224. 1» Novalis S. 102. ' 3 ' Schmitt S.224. 132 Carl Ludwig von Haller: Restauration der Staatswissenschaft oder Theorit des natürlich-geselligen Zustands, der Chimäre des künstlich-bürgerlichen entgegengesetzt, 6 Bde., Neudruck der 2. Auflage Winterthur 1820, 1820, 1821, 1822, 1834, 1825, Aalen: Scientia, 1964. 133 Vgl. die aus einem Vortrag über Das Mittelalterbild des Nationalsozialismus und die deutsche Geschichtswissenschaft hervorgegangene Studie von Karl Ferdinand Werner: Das NS-Ce-

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d i e D i s t a n z 1 3 4 u n d m ü n d e t i n d e n K u l t . D a n n w i r d d e r F ü h r e r als a u f e r s t a n denes N u m e n zum Typus religiöser Autorität verklärt. Dann w i r d

ein

rassiges P a r f ü m aus alter Sage abgefiltert. D a n n f ü h r t , w a s m a n schon 1 9 1 4 beobachten konnte, der P a r o x y s m u s progressiver G r o ß m a n n s s u c h t in den U n i f o r m f a s c h i n g des K r i e g e s 1 3 5 . D a n n w e r d e n , w a s i m A u g u s t des g e n a n n ten J a h r e s der Fall w a r , täglich 5 0 0 0 0 K r i e g s g e d i c h t e v e r f a ß t , also in n u r einem Monat anderthalb Millionen136. Im Zusammenbruch der Werte aber g e d e i h t die W e r t s c h ö p f u n g . U n d germanistische W o r t s c h ö p f u n g , u m hier n e b e n den S c h l a c h t e n b a n k i e r s auch der geistigen P r o f i t e u r e des

Elends

dieser Welt zu gedenken137, macht dem Volk den Fusel der Siege u n d ihres

scbicbtsbild und die deutscht Geschichtswissenschaft, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: W. Kohlhammer (1967). 134 Vgl. den von Schlenke, aaO., S. 86 zitierten Brief von Friedrich Meinecke, der darin über Hitlers Siege äußert: „Freude, Bewunderung und Stolz auf dieses Heer müssen zunächst auch für mich dominieren. Und Straßburgs Wiedergewinnung! Wie sollte einem da das Herz nicht schlagen! Es war doch eine erstaunliche und wohl die größte positive Leistung des Dritten Reiches, in vier Jahren ein solches Millionenheer neu aufzubauen und zu solchen Leistungen zu befähigen." Das Schreiben ist auf den 4. Juli 1940 datiert. Es heißt darin, deliberierend, weiter: „Und die Hoffnung regt sich leise, daß von diesem Heer aus nun auch im Innern ein freierer Atemraum für unsereinen sich bilden könne. Ich will, wie gesagt, in Vielem, aber nicht in allem, umlernen." 135 Vgl. Fritz Fischer: Krieg dir Illusionen. Die deutsche Politik von 1911 bis 1914, Düsseldorf: Droste, 1969. Ich verweise auf die von Fritz Fischer durch die Veröffentlichung des Buches Griff nach der Weltmacht Anfang der sechziger Jahre ausgelöste Kontroverse und das Auftreten der Historikerzunft gegen die „Kriegsschuldlüge". Vgl. Armin Hebels Rezension des oben genannten Buches in: Das Argument, Sonderband Nr. 70, aaO., S. 288-290. 136 Nach einer statistischen Hochrechnung von Julius Bab „mindestens 50000 Gedichte täglich" bei bis Ende 1917 anhaltender „Hochflut" der Produktion! Bab war damals vom Herausgeber der Zeitschrift Das literarische Echo mit der Berichterstattung über diese Erzeugnisse beauftragt worden, legte seine Sammlung 1914 bis 1918 in einer zwölf Hefte umfassenden Anthologie (Berlin: Morawe & Scheffelt) vor und veröffentlichte dann 1920 in Stettin ein Verzeichnis unter dem Titel Die deutsche Kriegslyrik 1914-191S. Eine kritische Bibliographie. S. die Beurteilung der Arbeiten Babs bei Philippi: Volk des Zorns, aaO., S. 8ff. und S. 108 (Anmerkung 10). 13? Vgl. den Abschnitt „Der heilige Krieg" in der Abhandlung von Rudolf Schenda: Schundliteratur und Kriegsliteratur. Ein kritischer Forschungsbericht %ur So^ialgeschicbte der Jugendlesestoffe im Wilbelminiscbtn Zeitalter. In: Rudolf Schenda: Die Lesestoffe der Kleinen Leute. Studien %ur populären Literatur im 19. und 20.Jahrhundert, München: Beck (1976) ( = Beck'sehe Schwarbe Reihe, Band 146), S. 78-104 und S. 159-178, hier S. 94-97. Schenda urteilt: „Die deutschen Gelehrten fanden zu Kriegsbeginn keinerlei Gegensatz zwischen deutschem Geist und deutschem Militarismus" (S. 96), und er zitiert, mit anderen Beispielen für den „Chauvinismus übelster Sorte", den Philosophatsch aus den Patriotischen Besinnungen, die Werner Sombart 1915 unter dem Titel Händler und Helden publiziert hat, der die Eroica und die Egmont-Ouvettüre zum „echten Militarismus" erklärte und seine Erkenntnisse in dem Wahrspruch gipfeln ließ:

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Ruhms bekömmlich. Denn tief im Innern ist jeder nationale Altertumsprofessor ein heimlicher Drachentöter, und der pneumopathische Michel tritt jetzt gewappnet auf. Lange genug hat er die Erinnerung an den Landsturm heilig gehalten. In der schimmernden Wehr eines Erzengels 1 3 8 stößt er v o m Katheder herab seine Lanze in die Weichteile des Lindwurmgeziefers hinein - der deutsche Nationalheilige, den die mittelalterlichen Maler so oft darge-

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„ Militarismus ist der zum kriegerischen Geist hinaufgesteigerte [sie!] heldische Geist. Er ist Potsdam und Weimar in höchster Vereinigung." Und ihm erschien „der Krieg selbst als ein Heiliges, als das Heiligste auf Erden". In der Sammlung Htssiscbt Kriegsgedicbte. Zur Erinnerung an die denkwürdige Zeit der Kriegsjabre 1914¡15, Darmstadt: H. Hohmann (1915), finden sich S. 11 die von einem Wilhelm Fabricius, einem Privatgelehrten in Darmstadt, verfaßten Strophen: Der deutsche Micbel fürchtet Gott Und sonst nichts auf der Welt, Trug lang genug der Feinde Spott; ]et\t steht er auf als Held, Zeigt sieb als Heitger Michael Im blanken Eisenkleid, Sein Auge blitzet ^ornesbel!, Sein Schwert klirrt an der Seit'. Doch ruhig schreitet er %um Heer Mit festem Mannesmut; Den überwältigt nimmermehr Die falsche Drachenbrut! Der alte Hader ist mm tot, Nur Deutsche gibt es noch; Dem ganzen Volk gebeut die Not Zu wehren fremdem Jocb. Der Väter Geist, der braust darein, Daß alles Morsche bricht, Und alle helfen, Groß und Klein, In beitger Liebtspfliebt.

Heil dir, o Volk und Vaterland, Das sieb so schön erneut! Wo ist das Hei\, das nicht empfand Die Größe dieser Zeit/ Das Lied steht unter dem Titel Mobilmachung 1914. Man beachte, wie in der 4. Strophe die von Wilhelm II. ausgegebene Devise, daß er nun „keine Parteien mehr" kenne, sondern „nur noch Deutsche", aufgegriffen und verarbeitet ist. Der sogenannte Hader, welcher hier für verwerflich erklärt wird, was die Verdammung der Opposition bedeutet, das sollte noch die Signatur der Weimarer Republik werden, ein Propaganda-Ausdruck, mit dem die sozialen Antagonismen der Epoche gemeint sind. Die altertümliche Vokabel wird in polemischer Absicht gewählt und denunziert, dieweil unter deren Vorzeichen Konflikte offen ausgetragen werden, Demokratie und Parlamentarismus, deren gewaltsame Abschaffving beschlossene Sache ist. Man beachte ferner die Anmerkung 139 erwähnte Zeichnung des Kaisers aus dem Jahre 1896. Deren Motiv ist wohl vom Dichter hier direkt übernommen und in seinem Gedicht weiter ausgeführt worden.

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stellt haben. Kein Geringerer als Wilhelm II. hat ihn so gesehen und gezeichnet139. Freilich die Zipfelmütze, sein ewiges Attribut, hat er wohl noch aufbehalten unterm Helm. Und ist er vielleicht auch noch nicht ganz erwacht, so schätzt er sich doch glücklich, sein entfremdetes Wesen gegen sein eigentliches, ursprüngliches eingetauscht zu haben. So wächst auch ein Professor über sich hinaus, indem er, an der Berliner Universität, den gefallenen Studenten zum ewigen Monument die Worte weiht: invictis victi

victurix*°.

Von den Lehrkanzeln aber wird zu den Waffen gerufen. Die Parole, die den Pazifismus bannt, heißt: „Heerlos, wehrlos, ehrlos!"141

- eine Vision, die man aufbehalten sollte für das kommende Reich des Friedens. Unsere Geistesheroen haben die Rolle der Parzen gespielt in der glü

henden Finsternis einer Nacht voll Blut und Betrug. Sie vergriffen sich am Altertum, an den Idealen und Kunstformen der Überlieferung142, um ihre 139

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Die vom Kaiser selbst signierte Zeichnung trägt den Titel Der deutsche Michael als Friedenshü ter und wurde am 10. Oktober 1896 in der Illustrierten Zeitung, Leipzig und Berlin, veröffentlicht. Sie liegt mir in einer Reproduktion vor, die als Bildbeigabe den Vortrag von Gisela Brude-Firnau illustriert: Preussiscbe Predigt. Die Reden Wilhelms II. Erschienen in: The Turn of the Century. German Literature and Art, 1890-1915. The McMaster Colloquium on German Literature, edited by Gerald Chapple and Hans H. Schulte, Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann, 1981, S. 149-170 (Sonderdruck). Inschrift auf dem Gefallenendenkmal der Berliner Universität; vgl. Theodor Eschenburg: Aus dem Universitätslehen vor 193). In: Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus. Eine Vortragsreibe der Universität Tübingen mit einem Nachwort von Hermann Diem. Herausgegeben von Andreas Flitner, Tübingen: Rainer Wunderlich Verlag Hermann Leins (1965), S. 24-46, hier S.38. Es berührt merkwürdig, das Bekenntnis des Tübinger Staatsrechtslehrers zu erfahren, bis zum Zeitpunkt der Vorbereitung dieses Vortrags „so gut wie keine einzige" der professoralen Propagandaschriften gelesen zu haben, so daß ihm erst jetzt „die große Bedeutung eben dieser Kriegsliteratur deutscher Gelehrter für die Entwicklung des deut sehen Universitätslebens in der Nachkriegszeit klar geworden" sei (S. 27)1 Noch merkwür diger, wie Eschenburg dann noch feststellen kann: „Von Propaganda verstanden die Gelehrten nichts" (S. 28)1 Sie stammt aus einer Greifswalder Rektoratsrede von 1924; s. Eschenburg, aaO., S.40. In derselben Rede auch die Versicherung, man wolle „des läges warten, bis daß der deutsche Held komme, er komme als Prophet oder als König" (ebda.). Eschenburg bringt noch eine Anzahl von Beispielen aus dem universitären Milieu, wie daß derjenige, der sich zur Demokratie bekannte, „in den weiten Kreisen der Professorenschaft" gesellschaftlich als „anrüchig" galt (S. 36). Und das „Schrifttum der expansiven Kriegszielpolitik von gelehrter Hand" stelle eine „fast unglaubhafte Mischung von Exzentrik, Verranntheit und Rabulistik dar, wie man sie, wenn man es nicht wüßte, von einem Universitätslehrer nicht vermuten würde" (S. 30). Man fragt sich allerdings angesichts solchen Staunens, das ja nicht ganz vereinzelt ist, bei wem die Herren denn eigentlich studiert haben. Vgl. NS-Literaturtheorie. Eine Dokumentation mit einem Vorwort von Cornelius Schnauber, herausgegeben von Sander L. Gilman (Frankfurt a. M.): Athenäum (1971) (= Schwerpunkte

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Selbsttäuschung damit zu futtern und das Schicksalsgarn daraus zu spinnen, dessen man bedurfte, um die Sicht auf den wahren Inhalt der Kämpfe zu verhängen und die nicht zuletzt von ihnen entfesselte kollektive Leidenschaft auf der Höhe der großen geschichtlichen Tragödie zu halten. Der hohe Mut der Interpreten kann insofern auch anderen gefahrlich werden. Die aber waren bestens für den feldgrauenvollen Kriegseinsatz präpariert. Die akademischen Kommissionen für die Erziehung zur Mordbereitschaft taten sich dabei gütlich an ihren atergalen Quodlibets, die sie den Studenten, bevor diese in das, wie es euphemistisch hieß, Stahlgewitter getrieben wurden, nahebrachten. Für die Betroffenen bot die nationale Mythe143 ein Verfahren der Initiation, der Metamorphose in Jung-Siegfriede, nicht im Wege der Verfremdung, sondern des magischen Gestaltentauschs, indem sie sich die kriegerische Überlieferung144 anverwandelten. Die Falschmünzerei, die dermaßen von privilegierten Philogermanen im Staatsdienst betrieben wurde, die im Gebrauch von Fremdwörtern den Straftatbestand „geistigen Landesverrats" ausmachten145, ist noch immer ungesühnt. Aus dem Germanismus stammen die Rezepte, die „ab- und auskochende Germanistik", wie

Germanistik, 2); Hans Rothfels: Die Geschichtswissenschaft in den dreißiger Jahren. In: Deutsches

143

Geistesleben und Nationalsozialismus, aaO., S. 90-107, hier S. 102 über das Schlagwort von den Geschichtswissenschaftlern als der „geistigen SA", das in Umlauf gekommen sei, so Rothfels, seit der Rektor der Königsberger Universität, ein Geschichtsphilosoph, Plato den „ersten SA-Mann" genannt hatte. Vgl. die Zusammenstellung von Uwe-K. Ketelsen: Völkisch-nationale und nationalsozialistische

Literatur in Deutschland 1890-1945, Stuttgart: Metzler, 1976 ( = Sammlung Methler. Realien

Zjtr Literatur, Abt. D: Literaturgeschichte, 142). 144 Die Zeiten des Faustrechts in Deutschland scheinen mir allemal diejenigen gewesen z" sein, worin unsre Nation das größte Gefühl der Ehre, die mebrste körperliche Tugend und eine eigne Nationalgröße gezeiget hat, schrieb Justus Moser in einem Essay: Der hohe Stil der Kunst unter den Deutschen; s. Justus Moser: Patriotische Phantasien, Auswahl und Nachwort von Siegfried Sudhof, Stuttgart: Reclam (1970) ( = Universal-Bibliothek Nr. 683/84/84a), S.65-70, und fügte hinzu, jeder Kenner müsse das mittelalterliche Faustrecht, mögen es auch die bequemen Gelehrten in Schlafmützen vielleicht verachten und verschreien, im Vergleich zur modernen Kriegsverfassung als

ein Kunstwerk des höchsten Stils bewundern (Zitate S. 65). 145

Peter v. Polenz: Sprachpurismus und Nationalsozialismus. Die ,Fremdwort - Frage gestern und heute. In: Germanistik - eine deutsche Wissenschaft, aaO., S. 111-165, hier S. 116 (das entsprechende Zitat stammt von Eduard Engel aus dem Jahre 1919). Dieser Beitrag von Polenz sowie weitere einschlägige Arbeiten auch in dem Sammel-

band Nationalismus in Germanistik und Dichtung. Dokumentation des Germanistentages in München vom 17.-22. Oktober 1966, herausgegeben von Benno von Wiese und Rudolf Henß (Berlin): Erich Schmidt (1967). Besonders zu erwähnen sind die Artikel von Theodor Kochs:

Nationale Idee und nationalistisches Denken im Grimmschen Wörterbuch, S. 273-284, eine Replik auf Walter Boehlichs Kritik am lexikographischen Konzept des Unternehmens, und von

Max Behland: Nationale und nationalistische Tendenzen in Vorreden zu wissenschaftlichen Werken. Einleitendes Referat zKr Arbeitsgemeinschaft von Heinrich M. Heinrichs, S. 334—346 (auf der Basis einer leider nur bis 1932 geführten Belegsammlung).

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Raimund Kemper

m a n sie mit R e c h t g e n a n n t h a t 1 4 6 , b r a u t e die M i s c h u n g , sie w a r s c h o n i m m e r brisant, d e r H i t l e r e f f e k t d e s Jeus ex maebina tat d a n n d a s Seine. E s w a r der Z u g der Zeit, „ i m m e r wieder U n e r h ö r t e s zu g l a u b e n " 1 4 7 , d e n n die G e s c h i c h t e hielt n o c h m a n c h e Ü b e r r a s c h u n g bereit. Was a l s o soll d a s „Gegreine und Getobe um zerstörte Kunstschätze" im K r i e g , schrieb F r i e d r i c h G u n d o l f 1 4 8 . E s sei schließlich d e u t s c h e s Ideal, „über dem Geist die Gestalt", und „über dem ewigen Wort die zeitliche Tat zu vergessen" 1 4 9 . A u c h d i e zeitgemäße Schandtat. D e n n : „Wer stark ist zu schaffen, der darf auch zerstören" 150 . D i e rasende Pedanterie des m a g i s c h e n M e c h a n i s m u s eines a u s d e r nationalen V e r g a n g e n h e i t e n t b u n d e n e n T r a u m e s 1 5 1 findet s o ihr S p r a c h r o h r . Lichter,4i

147

U l r i c h S o n n e m a n n : D i e ab- und auskochende Germanistik und die deutsche Literatur. Von Pensumibevältigungen. In: U l r i c h S o n n e m a n n : Die Schuten der Sprachlosigkeit. Deutschunterricht in der

Bundesrepublik (2. Auflage) (Hamburg): Hoffmann und Campe (1970) ( = Standpunkte), S. 67-84. Sonnemann hebt einen meines Erachtens bedeutsamen Sachverhalt hervor: die Armseligkeit der deutschen Sprache im Bereich von Wissenschaft und Unterricht, ein Zustand, der sich bereits in einem Vergleich des an deutschen Lehranstalten verwendeten Duden, „der auf die Bedürfnisse von Nachwuchs für Industriebüros auf das philiströseste reduziert erscheint, mit dem Webster oder dem Larousse" zeigt „welche den Schülern der westlichen Sprachräume seit Generationen empfohlen werden"; man beachte nur „etwa die Auskünfte schon dieses ,normalen' Webster über Strukturaspekte des Wortschatzes ebenso wie über dessen genetische Lineaturen [...]" (S. 75). Fazit: „Paradox endet so der Ursprungskult in Verkafferung: dem Traditions- und Geschichtslosen" (ebda.). Ein Ausspruch von Emil Staiger, vgl. R. Hinton Thomas: Tradition and tbe Germanisten. In: The Discontinuous

141

Tradition.

Studies in German Literature

in honour of Ernest

Ludwig

Stahl,

edited by P.F. Ganz, Oxford: Clarendon, 1971, S.l-13, hier S.7. In dem bereits zitierten Artikel in der Frankfurter Zeitung Tat und Wort im Krieg. In dem schon angeführten Katalog Karl Wolfsktbl 1869-1969 ist der Text unter der Nummer 271 (S. 221 f.) auszugsweise wiedergegeben. Über den Verfasser vgl. Clem Neutjens: Friedrith Gundolf. Een methodologisch onder^oek

van %ijn betangrijkste werken, Hasselt: Uitgeverij Heideland (1968) ( = Bibliotheek voor Litera-

tuurwetenscbap onder redactie van J. Aerts, A. Van Elslander, H. Uyttersprot); s. auch die Beiträge über Gundolf in: Euphorion, Zeitschrift für Literaturgeschichte, 75. Band, H e i d e l b e r g , 1981, 2. H e f t : Aus Anlass

von Friedrich Gundolfs 100. Geburtstag

und 50. Todestag.

Darin vor allem die Arbeit von Peter Küpper: Gundolf und die Romantik, S. 194-203. 149

151

Tat und Wort im Krieg, a a O .

Ebda. Dieses dictum des Ekstatikers bewegt sich auf derselben Ebene wie das monitum eines bekannten bayerischen Politikers an die Deutschen: „Ein Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungen erbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen", so überliefert in der Frankfurter Rundschau vom 13. September 1969 als kognitive Erleuchtung dieses blinden leiresias nicht von Konnersreuth, sondern von Kreuth. In dem Buch Deutsche Männer des Germanisten Gustav Roethe, eines „hemmungslosen" Antidemokraten (Eschenburg, aaO., S. 38), steht zu lesen:

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prozession und Blutopfer geben ihm sein ästhetisches Fluidum und seine ethische Rehabilitation, womit er den Verdacht einer doppelten Reinheit nährt. Die Hoffnungen der Deutschen aber oszillierten wie je zwischen ökonomischem und politischem Elend der Gegenwart und den kaschierten Glanzbildern einer verkitschten Erinnerung, zu der die Vergangenheit mittels Unterschlagung ihres fürwahr nicht geringeren menschlichen Elends uminterpretiert wurde von Forschern152, die nie gelernt hatten, ihre regressiven Phantasien zu zügeln. Sie waren Götzendiener153, die Pseudo-Germanen

1,2

153

„Männer machen die Geschichte, die Helden legen ihr Festkleid an. Immer noch ist uns Deutschen, wenn auch oft erst nach hartem Harren, der große Deutsche gekommen, der die Uhr unserer Geschichte wieder richtig stellte." Dies wurde 1922 veröffentlicht. Ein Jahr später machte der Horologe aus Braunau am Inn seinen ersten Versuch, die „Uhr unserer Geschichte" gewaltsam auf die „richtige" Zeitrechnung zu drehen. Vgl. Klaus Ziegler: Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft im Dritten Reich. In: Deutsches Geistesleben um/ Nationalsozialismus, aaO., S. 144-159. Von Roethe ist auch der Satz überliefert, daß der „Held seinen schlimmsten Feind in den Vielen, den viel zu Vielen" habe. Er steht in einer Kaisergeburtstagsrede von 1906, die von Roethe 1927 in einem Buch mit dem sinnigen Titel Deutsche Denkreden wieder ediert wurde; vgl. darüber im Katalog Karl Wolfskebl 1869-1969, aaO., Nr. 270 (S.221). Einen charakteristischen Auftritt Roethes in der Universität im November 1922 hat Graf Kessler in seinen Aufzeichnungen festgehalten, vgl. Harry Graf Kessler: Tagebücher 1918-1937, herausgegeben von Wolfgang Pfeiffer-Belli (vierte Auflage) (Frankfurt am Main): Insel (1979), S.347f. Vgl. hierüber Wüter Muschg: Studien %ur trapseben Literaturgeschichte, Bern und München: Francke (1965), darin den Essay: Germanistik? In memoriam Eli^a M. Butter, S. 228-261; ferner Walter Muschg: Die Zerstörung der deutseben Literatur, München: Paul List [ohne Angabe des Erscheinungsjahres] (= List-Bücher 156), darin S. 185-200: Josef NadJers Literaturgeschichte und S. 172-184: Zerschrotete Dichtung. Als Pendant dazu vgl. Robert Minder: Heidegger und Hebel oder die Sprache von Meßkirch, in: Robert Minder: Dichter in der Gesellschaft. Erfahrung/m mit deutscher und französischer Literatur (Frankfurt am Main): Suhrkamp (1972) (= suhrkamp tasebenbueb 33), S. 234-294. Zu Nadler vgl. Otto Nickel: Literaturgfscbicbte hintenherum oder Dichter, Menschen und Nadler. In: Die Wuidlung. Eine Monatsschrift, Jahrgang I, Heidelberg, 1945/46, S. 383-397 und Dolf Stern berger: Auditur et altera pars. Leserbriefe und Bemerkungen des Herausgeben %ur Polemik ge&n NadJers Literaturgeschichte, ebda. S. 866-870 sowie Kurt Rossmann: Ober nationalistische Literaturgescbicbtsscbreibung. Noch einmal: Josef Nadlers ,Literaturgeschichte der deutseben Stämme und Landschaften', ebda. S. 870-884. Vgl. noch Paul Gerhard Völker: Die inhumane Praxis einer bürgerlichen Wissenschaft. Zur Metbodengeschichte der Germanistik. In: Marie Luise Gansberg/Paul Gerhard Völker: Metbodenkritik der Germanistik. Materialistische Literaturtheorie und bürgerliche Praxis, 3., unveränderte Auflage, Stuttgart: Metzler (1971) (= Texte Methler 16), S.40-73. Hegel, sagt Nietzsche, habe in die von ihm durchsäuerten Generationen jene Bewunderung vor der „Macht der Geschichte" g/tpflan%t, die praktisch alle Augfnblicke in nackte Bewunderung des Erfolgfs umschlägt und zum Götzendienste des Tatsächlichenführt: für welchen Dienst man sichjetzt die sehr mythologische und außerdem recht gut deutsche Wendung ,Jen Tatsachen Rechnung tragen" allgemein eingeübt bat. Wer aber erst gelernt bat, vor der „Macht der Geschichte" den Ricken zu krümmen und den Kopf zu beugen, der nickt zuletzt ebinesenbaft-meebaniseb sein ,Ja" zujeder Macht, sei dies nun eine Regierung oder eine öffentliche Meinung oder eine Zahlen-Majorität, und bewegt seine Glieder

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der neuen Zeit waren „volksbewußter" als die echten alten154. Sie lieferten dem Willen zur Macht die zündende Phrase155 als automatische Waffe. Diese führte das Reich auf die Höhe seiner selbst156. Damit erfüllte sie die alte Prophetie, welche gesagt hatte, es werde solange Blut über Europa strömen, bis die Nationen ihren fürchterlichen Wahnsinn gewahr »erden, der sie im Kreise herumtreibt^1. Wie in allen Utopien, so wird auch in dieser das Friedensfest zuletzt auf den rauchenden Walstätten mit beißen Tränen gefeiert1**. So mußte das deutsche, tatgewaltige Wort in der Gewalttat enden, aus der unsere gegenwärtig geübte Nibelungenreue hervorgeht, die darin besteht, daß in unseren „westlichen" Rüstungsanstrengungen unsere Angst vor unseren vergangenen, unvergänglichen Taten gleichsam zur gepanzerten Erinnerung an unsere kommenden wird, welche sie antizipiert. Die gegenwärtige (und offenbar anhaltende) „Popularität" des Mittelalters159, seine „Aktualität" und der Erfolg „gediegen aufgemachter" fachgtnau in dem Takte, iit dem irgendeine „Macht" am Faden zieht. Enthält jeder Erfolg in sich eine vernünftige Notwendigkeit, istjedes Ereignis der Sieg des Logiseben oder der „Idee" - dann nur hurtig nieder auf die Knie und nun die ganze Stufenleiter der „Erfolgt" abgekniet! Was, es gäbe keine herrschenden Mythologien mehr? Was, die Religionen wären am Aussterben? Seht euch nur die Religion der historischen Macht an, gebt acht auf die Priester der Ideen-Mythologie und ihre zersebundenen Knie! Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In: Friedrich Nietzsche: Werke, herausgegeben von Karl Schlechta, 5 Bde. (Nachdruck der 6., durchgesehenen Auflage 1969) (Frankfurt/M., Berlin, Wien): Ullstein (1976,1976, 1976,1972, 1972) ( = Ullstein Buch Nr. 2907-2911), Bd. I, S. 209-285, Zitat S. 263. 154 Vgl. Wolfgang Emmerich: Germanistische Volkstumsideologie. Genese und Kritik der Volksforsebung im Dritten Reich, Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde e. V. (1968) ( = Volksleben. Untersuchungen des Ludwig- Ubland- Instituts der Universität Tübingen, herausgegeben von Hermann Bausinger unter Mitarbeit von Martin Scharfe, Rudolf Schenda und Herbert Schwedt, 20. Band); Jost Hermand: Bewährte Tümlichkeiten. Der völkisch-nazistische Traum einer ewigdeutschen Kunst. In: Die deutsche Literatur im Dritten Reich, aaO., S. 102-117; Jost Hermand: Gralsmotive um die Jahrhundertwende. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 36. Band, Stuttgart, 1962, S. 521-543. 155 Vgl. Walter Muschg: Von der Schändung der Sprache. In: Walter Muschg: Pampbiet und Bekenntnis. Aufsätze und Reden, ausgewählt und herausgegeben von Peter André Bloch in Zusammenarbeit mit Elli Muschg-Zollikofer, Ölten und Freiburg im Breisgau: WalterVerlag (1968), S. 344-347; s. dort auch den Beitrag Die Traditionslosigkeit der deutseben Literatur, S. 377-383. Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen (3. Auflage), Leipzig: Reclam (1970) (= Ridami Universal-Bibliothek, Band 278); Jean Pierre Faye: Totalitäre Sprachen. Kritik der narrative« Vernunft. Kritik der narrativen Ökonomie (aus dem Französischen von Irmela Arnsperger), 2 Bde. (Frankfurt/M., Berlin: Ullstein, 1977). Fritz K. Ringer: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutseben Mandarine 1890-19}3 (aus dem Amerikanischen übersetzt von Klaus Laermann) (Stuttgart): Klett-Cotta (1983). • 57 Novalis S. 106. •5« Ebda. 159 Hans-Jürgen Bachorski: Brückenschlägen - Hakenscblagen. Erzählen über'i Mittelalter. In:

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wissenschaftlicher Werke „aus Mediävistenfedern" beim breiten Publikum160, ebenso die „fast schon beängstigende Geschäftigkeit" der „mit der älteren Literatur befaßten Vertreter der Germanistik"161 auf einschlägigen Veranstaltungen - symptomatische Erscheinungen, wie übereinstimmend festgestellt wird, doch was zeigen sie an? Eine „neue Romantik"? Oder eine neues Verhältnis zur Tradition? Welche Art von Illusion wird hier genährt? Welche Möglichkeiten der Beschäftigung mit dem Mittelalter werden gezeigt? Welches Bild der vergangenen Epoche wird da präsentiert? In welcher Absicht? Welche Rolle kommt in diesem Vorgang einer Rückbesinnung auf verlorene Zeiten und Geschehnisse insbesondere den Germanisten zu? Was hat diese unverhoffte Rezeption für Voraussetzungen, nachdem vor noch nicht allzu langer Zeit namentlich die Altgermanistik totgesagt wurde? Welchen Linien folgt sie? Im Cbronicon Novaliciense^62, einem Geschichtswerk höchst sonderbaren Charakters aus dem elften Jahrhundert, entstanden im Kloster Novalese im Tal von Susa zwischen Südfrankreich und Italien unweit der langobardischen Grenze163, findet sich eine merkwürdige Anekdote. Diese Erzählung ist auch noch anderweit in der mittelalterlichen Literatur überliefert, so beispielsweise in der mittelhochdeutschen Dichtung LohengrinX(A. Der Ver-

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Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, 30. Jahrgang (Frankfurt am Main), 1983, Heft 4, S. 34-41, Zitat S.34. Ludolf Kuchenbuch: Der gute Griff nach der Kultur. Zur Attraktivität neuerer BiUber über das Mittelalter, ebda., S. 29-34, Zitat S.29. Ulrich Wyss: Spiegel, Traum, Allegorie. Über Mittelalterbiuber, ebda., S. 21-29, Zitat S.21. Cbronicon Novaliciense (tuque ad a. 1048) edente V. Cl. Ludowico Conrado Bethmann Ph. D. In: Mottvmenta Germaniae histórica [...] edidit Georgivs Heinricvs Pertz. Scriptorvm tomvs VII. Hannoverae MDCCCXLVI. - Unveränderter Nachdruck Stuttgart: Hierscmann, New York: Kraus, 1963, S. 73-133; s. auch die zweite Ausgabe: Cbronicon Novaliciense ex recensione Bethmanni. In usum scholarum ex Monumentis Germaniae historiéis recudí fecit Georgius Heinricus Pertz. Hannoverae, impensis bibliopolii Hahniani, 1846 ( = Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum). Max Manitius: Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters. I. Band: Von Justinian bis \ur Mitte des sehnten Jahrhunderts. II. Band: Von der Mitte des Reimten Jahrhunderts bis \um Ausbruch des Kampfes %wischen Kirche und Staat. III. Band: Vom Ausbruch des Kircbenstreites bis %um Ende des zwölften Jahrhunderts (unveränderter Nachdruck der 1911, 1923, 1931 erschienenen ersten Auflage), München: Beck (1959, 1965, 1964) ( = Handbuch der Altertumswissenschaft, herausgegeben von Walter Otto, I X . Abteilung, 2. Teil, 1 .-3. Band), Bd. II, S. 294-299. Vgl. auch Wilhelm Wattenbach/Robert Holtzmann: Deutschlands Gescbicbtsquellen im Mittelalter. Die Zeit der Sachsen und Salier, erster Teil, 1. und 2. Heft: Das Zeitalter des Ottonischen Staates < 900-1050> , Neuausgabe, besorgt von Franz-Josef Schmale (reprografischer Nachdruck der Ausgabe von 1967), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1978, S. 327-328. Lobengrin. Zum ersten Mal kritisch herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Heinrich Rückert (unveränderter reprografischer Nachdruck der Ausgabe Quedlinburg und Leipzig 1858 < Deutsche National-Literatur, 36. Band > ), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1970, Strr. 747,8-748,10 ( = vv. 7468-7479), S.198.

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fasser der (in einem elf Meter langen Rotulus erhalten gebliebenen) Novaleser Chronik aber hatte seine Darstellung mit vielen Sagengeschichten angereichert, so daß man sich mit seinem Werk „mitten in den Anfangen der romantischen Dichtung der romanischen V ö l k e r " befindet 1 6 5 . Die Brüder G r i m m haben besagte Anekdote in ihre Sammlung Deutsche Sagefi 166 aufgenommen und ihr folgende Fassung gegeben: Als nach langen Jahren Kaiser Otto III. an Jas Grab kam, wo Karls Gebeint bestattet ruhten, trat er mit %wei Bischöfen und dem Grafen Otto von Laumel (der dieses alles berichtet hat) in die Höhle ein. Die Leiche lag nicht wie andere Tote, sondern saß aufrecht, wie ein Lebender auf einem Stuhl. Auf dem Haupte war eine Goldkrone, den Zepter hielt er in den Händen, die mit Handschuhen bekleidet waren, die Nägel der Finger hatten aber das Leder durchbohrt und waren herausgewachsen. Das Gewölbe war aus Marmor und Kalk sehr dauerhaft gemauert. Um hinein gelangen, mußte eine Öffnung gehrochen werden; sobald man hineingelangt war, spürte man einen heftigen Geruch. Alle beugten sogleich die Knie und erwiesen dem toten Ehrerbietung. Kaittr Otto legte ihm ein weißes Gewand an, beschnitt ihm die Nägel, und ließ alles Mangelhafte ausbessern. Von den Gliedern war nichts verfault, außer von der Nasenspitze fehlte etwas; Otto ließ sie von Gold wiederherstellen. Zuletzt nahm er aus Karls Munde einen Zahn, ließ das Gewölbe wieder zumauern und ging von dannen. Nachts darauf soll ihm im Traume Karl erschienen sein und verkündigt haben, daß Otto nicht alt werden und keinen Erben hinter sieb lassen werde.167 Diese Episode, 1 8 1 8 veröffentlicht 1 6 8 , ist ein Gleichnis. W i e Kaiser Otto, so haben die Historiker und die Philologen die Gräber der Toten geöffnet,

Manitius, aaO., S.296. Deutsche Sagen. Gesammelt durch die Brüder Grimm (neu herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Hanns Floerke), 2 Bde., Berlin: Propyläen [ohne Angabe des Erscheinungsjahres]. 147 Deutsche Sagen, Bd. II S. 140-141. Der lateinische Text aus dem Chronicon Novaliciense hat folgenden Wortlaut: Pest multa itaque annorum turritula tertius Otto imperator ¡miens in regionem, M Caroli taro iure tumulata quitsetbat, declinavit utique ad lotum sepulture illius cum duobus episcopis et Ottone comité Laumtllensi; ipse vero imperator fuit quartus. Narr abat autem idem comes hoc modo dicens: „Intratirnus ergo ad Karo/um. Non enim iacebat, ut mos est aliontm defunetorum torpora, sed in quandam cathedram teu vwus residebat. Coronam auream erat coronatus, steptrum tum mantonihus indutis tenens in manihus, a quibus iam ipse ungule perforando protesteront. Erat autem supra se tugftrium ex calce et marmoribus valde compositum. Quod ubi ad emù venimus, protinus in eum foramen frangendo fecimus. At ubi ad eum ingressi sumus, odorem permaximum sentivimus. Adoravimus erg» eum statim poplitibus flexis ac ienua; statimque Otto imperator albis eum vestimentis induit, ungulasqm incidi!, et omnia deficientia circa eum reparavit. Nil vero ex artibus suis putrescendo adbuc iefetera!, sed de sumitate nasui sui parum minus erat; quam ex auro ilice fecit restituì, abstraensque ab illius bort dentem unum, reaedificato tuguriolo abiit." (Text in beiden oben, Anmerkung 162, zitierten Ausgaben identisch). Die Brüder Grimm haben die Nachricht, daß der Tote Kaiser Otto im Traum erschienen sei, vermutlich aus dem Lohengrin in ihre Nacherzählung übernommen. - und, was den Erfolg Heines vollendete: die Frauen waren seine leidenschaftlichen Parteigängerinnen. Deutschland, und mit ihm England und Frankreich, hat es verlernt, sich auf ein Buch zu freuen, wie es einem Heineschen gegenüber geschah, und es mit ungeduldiger Neugier und einer Hingabe, die Abneigung und Verwerfung keineswegs ausschloß, zu genießen und zu zerlesen. Man konnte den Autor hassen, verurteilen, verachten, aber man stand unter dem Zauber seines Talents, und nur wenige waren stark oder pedantisch genug, um den Anstifter so in jedem Sinne reizender Ärgernisse aus der Welt zu wünschen."46 Wenn dieser begeisterte Rückblick auf bezwingende Lektüreeindrücke zutrifft, und nicht Campes anfangliche und Heine endgültige Verkennung, so wird man sich fragen, weshalb das Wissen um diese außerordentliche Wirkung des Spätwerks, das Bismarck und Marx zugleich lasen, verlorengegangen ist. Ich möchte dafür in erster Linie weder national-antisozialistische noch rassistische Gründe verantwortlich machen, sondern innerliterarische. Um die Jahrhundertwende, der eigentlichen Bruchstelle weit vor der NS-Zeit, trafen zwei Vorgänge aufeinander, die Heine als veraltet oder flach erscheinen ließen. Die eine Entwicklung ist die zum massenhaft nachgeahmten Lieder-Heine, von dem selbst das Buch der Lieder, das Zentralstück dieses Strangs, „entdornt" war.47 Zugleich schien Heines Werk nicht mehr dem strengen und vertieften Kunstanspruch der Ästhetik Nietzsches standhalten zu können hierfür ist Georges Lyrikanthologie ein Gradmesser. Es mußte ein weiters halbes Jahrhundert vergehen, ehe wenigstens die Spät-Lyrik des Roman^ero wieder in ihrem Glanz tragischer Ironie erkannt und die Vermittlungsstränge hin zum Symbolismus und hin zu Nietzsche beschrieben wurden. Wie aktuell solch eine Gefahr innerliterarischer Klimaveränderungen ist, könnte man leicht an den Schwierigkeiten demonstrieren, auf die Brecht heute trifft. Zu den neueren Heine-Legenden zählt dagegen die Vermutung, Heine sei Zeit seines Lebens von den Deutschen abgelehnt worden. Es sind vor

44

47

Ludwig Speidel, Heinrich Heines Memoiren. In: L. S. Persönlichkeiten. Biographischliterarische Essays (Schriften, Bd. I), Berlin 1910, S. 170 ff. Erich Mayser, H. Heines Buch ¿er Lieder im 19. Jahrhundert (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik, 58), Stuttgart 1978; Günter Häntzschel, Ein entdornter Heine. Zur Sozialgeschichte der Lyrik des 19. Jahrhunderts. In: Heine-Jahrbuch 21 (1982), S. 89 ff.

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allem die Heine-Klischees der Berufskritiker seiner Zeit, die, aus ganz unterschiedlichen Lagern kommend, diesen Eindruck vermitteln und Heines Anstößigkeit als politischer Schriftsteller, und sogar als sozialistischer Schriftsteller, überbewerten. Die Beachtung Heines durch die Leser seines Spätwerks ist die schlagendste Antwort auf diese Vermutung. Dies gilt auch für den Prosaschriftsteller, wodurch Heines Paris-Artikel der vierziger Jahre in den Vordergrund rücken. Zählt man die verschiedenen Ausgaben in deutscher Sprache, die unautorisierten Ausgaben in Philadelphia und Amsterdam, die spätere Strodtmannsche Ausgabe im Originalverlag zu den vielen Auflagen in rascher Folge, die diese zeitgeschichtlichen Artikel in der französischen Fassung Lutece erlebten, dann zeichnet sich eine zentrale Rolle im Spätwerk ab, die nur wenig hinter dem Erfolg der Lyrik zurückbleibt. Eine literarhistorische Konsequenz ergibt sich durch die Schärfe der Epochenzäsur von 1848. Ich möchte dafür, wiederum aus der Zeit kurz nach der Jahrhundertwende stammend, eine repräsentative Äußerung aus dem von Goedeke begründeten Grundriß %ur Geschichte der Deutschen Dichtung heranziehen. Dort heißt es 1905 lapidar: „Mit dem Revolutionsjahr 1848 hörte die Bedeutung Heines, die er bis dahin gehabt haben mochte, völlig auf, und nur die persönliche Teilnahme seiner Freunde richtete die Aufmerksamkeit auf ihn."48 Fällt es schwer, solcher Äußerung noch einen wissenschaftlichen, d.h. wahrheitsorientierten Wert beizumessen, so hat der politische Unterton erst durch die Grenzziehung des Jahres 1848 als Epochenscheide, als Beginn des Realismus, eine größere Wirksamkeit gewinnen können. Selbst Sengles überragender Darstellung ist es nicht gelungen, für die Jahre 1815-1848 als allgemein akzeptierte Epochenbezeichnung „Biedermeier" durchzusetzen und weiterhin wird man mit konkurrierenden, in sich selbst wiederum aufgefächerten Kennzeichnungen wie Spätromantik (besonders durch den vergleichenden Blick auf Rußland und Frankreich sinnvoll), Restaurationszeit, Junges Deutschland, Vormärz rechnen müssen. Gegenüber diesen heterogenen Einschätzungen wirkt „der Realismus" wie ein monolithischer Block. Der vergessene Erfolg von Heines Spätwerk kann zu einem spannungsreicheren Bild auch dieser Jahrzehnte beitragen. Oppositionell-sozialkritische Literatur, die nur dem Jungen Deutschland, das man ja gerne im Jahr 1840 verschwinden läßt, anzugehören scheint, entfaltet sich neben Heine z. B. in den fünfziger Jahren durch Mündts Literaturgeschichte und seine Paris-Skizzen, in den Spätromanen Gutzkows, der in seiner Person den Aufbruch des Naturalismus noch unmittelbar vorbereitet. Heines Spätwerk ist dadurch ein Beispiel für eine verschüttete, nicht nur epigonenhaft trivialisierte Kontinuität. 48

Karl Goedeke, Grundriß zur Geschichte der Deutschen Dichtung, Bd. VIII (Dresden 2 1905, fortgeführt von Edmund Goetze), S. 537; vgl. Bernd Füllner, Heinrich Heine in deutschen Literaturgeschichten. Eine Rezeptionsanalyse, Frankfurt/M. 1982, S. 176.

Bernd

KORTLÄNDER

(Düsseldorf)

„... nehmen Sie, was Ihnen ansteht." Zum Problem .Edition und Interpretation' am Beispiel von Gedichten der Annette von Droste-Hülshoff 1. Mein Beitrag zu unserem Thema ist ein Bericht aus der Arbeit an einem Band der Historisch-kritischen Ausgabe ( = HKA) der Werke und Briefe Annette von Droste-Hülshoffs. Am Beispiel einer Gedichtgruppe bzw. an einem Gedicht aus dieser Gruppe will ich zwei Punkte innerhalb dieser Arbeit beschreiben, an denen mir ein methodischer Rückgriff auf Textinterpretation als Mittel der editorischen Praxis sinnvoll erscheint. Zunächst geht es um die Frage, ob eine Gedichtgruppe in der Ausgabe geschlossen erscheinen soll oder nicht; dann um das für die Droste charakteristische Problem der Alternativvarianten. Der Erörterung des ersten Punktes muß ein kurzer Abriß der Editionsgeschichte meiner Beispieltexte vorausgehen. Es handelt sich um eine Folge von 6 Gedichten, die die Droste am 17.4.1844 mit einem Begleitbrief versehen an Levin Schücking schickte. Dieser plante zusammen mit Emanuel Geibel einen Musenalmanach auf das Jahr 1845 und hatte die Freundin um Beiträge gebeten. Der Almanach kam mangels geeigneter Beiträge nicht zustande.1 Die Gedichthandschrift verblieb zunächst im Besitz Schückings.2 Später wurde die erste Seite des Autographs abgetrennt, blieb verschollen und ist erst seit 1971 wieder für die Droste-Forschung zugänglich. Das Blatt enthält - in dieser Reihenfolge - die Reinschrift der Gedichte 1. Der sterbende General, 2. Mondesaufgang, 3. Gemüt und 4. Sylvesterabend (v. 1-53). Der Rest des Briefes mit den übrigen Versen von Sylvesterabend und den kompletten Gedichten 5 und 6, Einer wie viele und viele wie einer und Der Nachtwandler verblieb im Schücking-Nachlaß. Vier Gedichte, und zwar die vier ersten, verteilte Schücking ohne Vorwissen der Droste - in zwei Fällen auch ohne ihre Billigung - an ihm 1

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Levin Schücking an die Droste, 26.4.1844. In: Briefe von Annette von Droste-Hülshoff und Levin Schücking. Hrsg. von Conrad Muschler. Leipzig J1928, S. 270. Dort heißt es: Es scheint, daß [...] E. Geibels Name anrüchig bei den Poeten ist, dem bis jet\t laufen wenig Beiträge ein. [...] Linau [...] nannte ihn ,jtie letzte Eule auf den Trümmern von Thron und Altar". Zur Geschichte des Manuskripts vgl. Winfried Woesler: Droste-Handschriften in Coligny. In: Kleine Beiträge zur Droste-Forschung 1972/73. 1973, S. 93-99.

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befreundete Herausgeber. Sie erschienen auf der Basis von z. T. fehlerhaften Abschriften Schückings noch zu Lebzeiten der Dichterin in verschiedenen Sammelwerken.3 Die Letzten Gaben von 18604, neben dem Geistlichen Jabr von 1851 die zweite Ausgabe aus dem Nachlaß der Droste, enthalten dann alle sechs Gedichte, vier verstreut in der Gruppe, die Gemüt und Leben betitelt ist, Der Nachtwandler und Der sterbende General unter Erzählende Gedichte. Für den Text griff die Bearbeiterin Jenny von Laßberg, die Schwester der Droste, nur in zwei Fällen auf den Erstdruck zurück. Bei den vier anderen Gedichten stellte sie einen Text aus den Konzepten her, der insgesamt kläglich ausfiel.5 Der von Karl Schulte Kemminghausen, Bertha Badt und Kurt Pinthus herausgegebenen kritischen Ausgabe der Sämtlichen Werke lag 1925 das erste Blatt der Reinschrift bereits nicht mehr vor. Sie konnte deshalb bei den vier publizierten Gedichten nur den Erstdruck bringen, bei den übrigen beiden Texten zog sie die Reinschrift heran. Allerdings übernahm sie ohne weitere Begründung die Anordnung der Letzten Gaben.6 Die zweibändige Studien-Ausgabe im Winkler-Verlag von 1973/78, herausgegeben von Günther Weydt und Winfried Woesler,7 ist dann die erste Edition überhaupt, die in allen 6 Fällen auf die Reinschrift zurückgreift. In ihr erscheinen die 4 zu Lebzeiten gedruckten Texte in Bd. 1 unter Gedichte in Ein^elveröffentlichungen, dort nach der Chronologie des Erstdrucks eingeordnet, die beiden restlichen Texte in Bd. 2 im Rahmen der hier ebenfalls der Chronologie des Erstdrucks folgenden Nachlaßgedichte. 2. Mein erster Diskussionspunkt lautet jetzt: In welcher Anordnung soll eine wissenschaftliche Edition diese Textgruppe abdrucken? Ich will zunächst ganz zum Ausgangspunkt zurückgehen und die Autorin selbst zu Wort kommen lassen, die sich zu diesem Punkt relativ ausführlich und engagiert geäußert hat - eine Äußerung, die im übrigen den hier erwähnten Editoren, mit Ausnahme Jenny von Laßbergs, bekannt war. Die Droste 3

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Es erscheinen: Nr. 1 und 4 in: Vom Rhein. Leben, Kunst und Dichtung. Jg. 1847. Hrsg. von Gottfried Kinkel. Essen 1847, S. 335-338; - Nr. 2 in: Rheinisches läschenbuch auf das Jahr 1846. Hrsg. von Carl Dräxler-Manfred. Frankfurt [1845], S. 231 f.; - Nr. 3 in: Charitinnen. Phantasiestücke und Humoreske, [ . . . ] hrsg. von Woldemar Nürnberger [d. i. Eduard Boas]. Landsberg 1847, S. 214-216. Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter von Annette Freiin von Droste-Hülshoff. Hannover

1860.

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Vgl. die Kritik dieser Ausgabe durch Gustav Eschmann bereits bald nach ihrem Erscheinen, publiziert erst in: Annette von Droste-Hülshoff. Ergänzungen und Berichtigungen zu den Ausgaben ihrer Werke. Münster 1909. Die Bearbeiterin der Gedichte, Bertha Badt, vermerkt lapidar: Auch bei den Nachlaß gedickten wurde Schückings [er galt damals noch als allein verantwortlich für die Letzten Gaben] Anordnunggewährt. (Sämtliche Werke. Bd. 1, München 1925, S. 380.) Werke. 2 Bde. München 1973/78.

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schreibt in besagtem Brief vom 17.4.1844 an Schücking: Von den Gedichten nehmen Sie, was Ihnen ansteht. Und sie fahrt weiter unten fort: Die ¡¡herschickten [Gedichte] müssen Sie in dieser Reibenfolge lassen; ich habe sie oft genug anders probiert, wo sie dann immer heterogen oder ähnlich zusammenkamen. Der „Sterbende Generat' B. nimmt sich nach jedem der andern - durchgängig etwas sentimentalen -plump aus, steht vornan aber recht gut. Der „Nachtwandler" macht sieb auch nirgends als am Ende, am wenigsten neben dem „General", wohin er sonst seiner Balladennatur nach gehörte, und „Gemüt' und „Einer aus Vielen" haben große Ähnlichkeit, sogar in einzelnen Ausdrücken, um nebeneinander stehen. Auch macht sich, wie ich es geordnet, die Abwechslung des Versmaßes bei weitem am besten. Sollten Sie aber das eine oder andere Gedicht gan% ausmustern, so entstehen freilich wieder verbotene Annäherungen, und ich muß mich dann auf Ihren Geschmack verlassen, da ich nicht weiß, wen die schwarte Kugel t r i f f t . Und in einem Notabene zum gesamten Brief heißt es noch: „Mondesauf gangf' und „Gemüt' haben auch etwas viel Ähnliches; was meinen Sie, wenn das letzte („Gemüt") und „Einer aus Vielen" die Plätze wechselten? Sehen Sie mal selbst nach!9 Die Briefstelle läßt sich unter zwei Aspekten zusammenfassen: 1. Aspekt: Die Autorin9 hat die sechs Gedichte als zusammenhängende Gruppe10 für einen geschlossenen Abdruck konzipiert und angeordnet. Dafür spricht zunächst die Handschrift, in der die Texte fortlaufend hinter8 9

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Karl Schulte Kemminghausen (Hrsg.): Die Briefe der Annette von Droste-Hülshoff. Gesamtausgabe. 2 Bde. Jena 1944. Hier: Bd. 2, S. 309-312. Die Diskussion um die Rolle des .Autorwillens' in der Editionswissenschaft kann inzwischen als weitgehend abgeschlossen gelten. Keine wissenschaftliche Edition wird sich noch ernsthaft dieses früher sehr beliebten Rechtfertigungsarguments für zweifelhafte editorische Entscheidungen bedienen, soweit es auf bloßer Spekulation über etwaige Befindlichkeiten des Autors oder gar auf Intuition beruht. Andererseits wird aber ebenso kein Editor dokumentarisch faßbare Willensbekundungen des Autors ignorieren. Eine solche liegt mit dieser Briefpassage vor, und deshalb hat die Entscheidungsfindung hier einen legitimen Ansatzpunkt. Sicher ließe, um dem Verdikt des .Testamentseditors' zu entgehen, der aus der Briefstelle deutlich werdende Widerspruch in der Intention der Autorin sich auch objektivieren als Widerspruch zwischen handschriftlicher und gedruckter Überlieferung. Das würde an der Problemlage und an meinem Lösungsvorschlag allerdings nichts ändern, ihre Darstellung allenfalls ein Stück unverständlicher, da unanschaulicher machen. Im Vortrag habe ich hier und im folgenden auch den Begriff .Zyklus' gebraucht, den ich auch weiterhin für anwendbar halte, allerdings in einem relativ weiten Sinn, wie er im übrigen in der germanistischen Literatur sehr verbreitet ist. Legt man aber die systematische Definition des Begriffs zugrunde (vgl. dazu Claus-Michael Ort: Artikel .Zyklische Dichtung'. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 4. Berlin/New York 21984, S. 1105-1120), so trifft diese auf die behandelte Gedichtfolge nicht zu. Inwieweit eine solche strenge Definition angesichts des Materials gerade aus der Literatur der 1. Hälfte des 19. Jh. überhaupt sinnvoll ist, sei hier dahingestellt. Um Mißverständnisse zu vermeiden, habe ich für diese schriftliche Fassung des Vortrags den Terminus zugunsten des allgemeineren Begriffs .zusammenhängende Gruppe' aufgegeben. Ich verstehe darunter eine Gedichtfolge, deren Einzeltexte nicht nur thematisch zusammenstehen, sondern sich wechselseitig erhellen, und deren Beziehungen darüber hinaus ein bedeutungsvolles Kompositionsmuster erkennen lassen.

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einander und offenbar in einem Zug niedergeschrieben sind. Dafür spricht weiter die - auch von der Autorin selbst - ausdrücklich hervorgehobene enge thematische Verwandtschaft der beiden als Rahmengedichte vorgeschlagenen balladesken Stücke und der vier sentimentalen, d. h. mehr reflexiven Binnengedichte, von denen drei sogar wegen Ähnlichkeit nicht zusammenrücken sollen, eine im übrigen unlösbare Rechenaufgabe. Schließlich spricht dafür auch die Aussage im selben Brief, daß sie noch sechs bis acht Gedichte in der Feder habe, die sie demnächst schreiben wolle" - woraus man rückschließen darf, daß nicht ohne Absicht zunächst diese sechs fertiggestellt wurden. 2. Aspekt: Die Autorin stellt die Realisierung des Abdrucks ganz in das Belieben des Herausgebers Schücking. Sie überläßt ihm die Entscheidung, ob nun Gemüt oder Einer wie viele als dritter Text erscheint, stellt ihm frei, das eine oder andere Gedicht ganz wegzulassen und den Rest dann auch neu zu ordnen und hat später auch zumindest in zwei Fällen (Mondesaufgang und Gemüt) nichts dagegen, daß die Texte als Einzeldrucke erscheinen. Diese Haltung ist ein Beispiel für die insgesamt unprofessionelle Einstellung der Droste zu ihrer eigenen Rolle als publizierender Autorin. Selbst beim Druck der Ausgabe von 1844 vermied sie peinlich jeden direkten Kontakt zum Verleger Cotta und schaltete Familienmitglieder oder - und das in der Hauptsache - Schücking zwischen. Auch den drei Herausgebern der hier in Rede stehenden Gedichte, die sich alle brieflich mit der Bitte um Druckerlaubnis an sie wandten, hat sie in zwei Fällen nur indirekt über Schücking, in einem Fall überhaupt nicht geantwortet. Daß diese absolut ungewöhnliche Zurückhaltung allerdings weitgehend Produkt schließlich verinnerlichter familiärer und gesellschaftlicher Zwänge war, zeigen die Briefstellen deutlich genug, in denen die Droste sich über die Schicksale ihrer zum Druck gelangten Texte äußert.12 Fazit: Die mehr oder weniger deutlich erklärte Absicht zur Bildung einer zusammenhängenden Gruppe und zu deren Gliederung steht neben einem Freibrief an den Herausgeber, der diese Absicht zur Disposition stellt. 3. Wir wollen jetzt die möglichen Argumente in der Frage: Wiedergabe als Gruppe oder nicht? Revue passieren lassen. Das Zusatzproblem der Feingliederung bei einer positiven Entscheidung bleibt der Einfachheit halber ausgeklammert. Bezogen auf eine Edition beinhaltet diese Frage 11

Briefe [Anm. 8], Bd. 2, S. 309 f.: Wenn ich von einem Dutzend geschrieben habe, so war dies halbwegs nur in spe; ich habe sechs oder achten noch die Ideen und die eine oder andere Strophe fertig [...]

'2 Vgl. z.B. den Brief an L. Schücking, 26.5.1842 (Briefe [Anm. 8], Bd. 2, S. 37), wo sie über ihre Empfindung bei der Entdeckung eines unautorisierten Eingriffs in die Judenbuche

schreibt: Zuerst war ich fiirnig, grimmig wie eine wilde Kat^e, und brauste im Sturmschritt nach Deisendorf; auf dem Rückwege war ich aber schon abgekühlt [...].

,.. .nehmen Sie, was Ihnen ansteht."

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zugleich das Problem der Einweisung in die Gliederung der Ausgabe, allerdings nur dann, wenn man sich für den Abdruck als Gruppe entscheidet, in dem ja zu Lebzeiten gedruckte Texte mit zu Lebzeiten nicht gedruckten zusammenträten. Betrachten wir zunächst die Argumente für die Nichtberücksichtigung der gruppenbildenden Intention. Wir können es ganz konkret entlang der Editionsgeschichte tun, denn wie aus deren Darstellung bereits hervorging, hat keine der bisherigen Droste-Ausgaben die 6 Texte als zusammenhängende Gruppe aufgefaßt. Am wirksamsten und was die Begründung angeht zugleich völlig undurchschaubar war der Anordnungsvorschlag der Letzten Gaben. Die dort getroffene Zusammenstellung der Gedichte wurde, wie bereits bekannt, auch noch von der kritischen Ausgabe von 1925 — und natürlich darüber hinaus in den auf dieser fußenden populären Ausgaben bewahrt. Ich will hier auf eine nähere Diskussion dieses Vorschlags nicht eingehen, da er unter dem Aspekt einer wissenschaftlichen Edition offensichtlich irrelevant ist. Den zweiten und unter diesem Aspekt einzig diskussionsfahigen Vorschlag machten dann die Herausgeber der Winkler-Ausgabe von 1973/78, und derselbe Vorschlag liegt auch der Gliederung der z. Zt. entstehenden Droste-HKA zugrunde. Sie folgen, wie bereits erwähnt, einem der heute in HKAs üblichen Schemata: Die autorisierte Sammlung der Gedichte von 1844 bleibt unangetastet, der Rest wird in den Kategorien ,Zu Lebzeiten gedruckt' - .ungedruckt' geordnet, eine Vorgehensweise, die im Blick auf den Gesamtkorpus der Droste-Gedichte gut geeignet scheint.13 Mögliche Argumente für die Aufteilung des nicht in Sammlungen Aufgenommenen in .gedruckt' - ,ungedruckt' lassen sich samt ihren Konsequenzen sehr anschaulich anhand der beiden z. Zt. entstehenden Heine-Ausgaben exemplifizieren. Das erste Argument ist vom Autor aus formuliert und begreift, indem Gedrucktes von Ungedrucktem geschieden wird, die Publikation als einen bewußten Akt mit Wirkungsabsichten. In der Düsseldorfer HeineAusgabe (DHA), die diesem Argument folgt, erscheinen deshalb z. B. im 13

Das deshalb, weil der Kernbestand der Droste-Lyrik weitgehend zu Lebzeiten gedruckt vorlag, und innerhalb des ungedruckten Bestands eine sinnvolle Abschnittsbildung recht einfach ist. Der Gesamtkorpus ihrer Lyrik gliedert sich wie folgt: Es existieren insgesamt 326 Gedichte (.echte Zyklen' als ein Titel gezählt). Davon erschienen 126, also ca. 39%, zu Lebzeiten; genau 100 in der Ausgabe der Gedichte von 1844, 26 an anderen Orten: 8 in den Gedichten von 1838, 18 verstreut in Zeitungen, Zeitschriften und Almanachen. Wir besitzen folglich 200 echte Nachlaßtexte. 64 davon gehören zum Geistlichen Jabr, 7 in seinen direkten Umkreis. Von den verbleibenden 129 Titeln sind genau 30 in die 40er Jahre, die entscheidende lyrische Schaffensperiode der Droste zu datieren. Bei den restlichen 99 haben wir kindliche Reimereien bzw. den Ton berühmter Vorbilder nachahmende Jugendgedichte vor uns. Innerhalb der 30 späten Nachlaßgedichte ist noch einmal eine Gruppe von Widmungsgedichten zu unterscheiden, insgesamt 12, die in einigen Fällen reine Gelegenheitsarbeiten sind.

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zweiten Band drei kleinere Texte, die bereits zu Lebzeiten, aber sehr wahrscheinlich ohne Wissen des Autors zum Druck kamen, unter ,Zu Lebzeiten nicht gedruckt'. 14 Das zweite Argument ist von der Öffentlichkeit her formuliert. Es versteht unter der Publikation einen öffentlichen Akt, der - gewollt oder nicht - Folgen für die zeitgenössische Rezeption des Autors haben kann. Die Weimarer Heine-Ausgabe, die sich auf dieses Argument stützt, stellt deshalb die besagten Texte der DHA zu den ,Zu Lebzeiten gedruckten', ebenso - und wiederum im Gegensatz zur DHA - in Bd. 1 die von Heines Jugendfreund Friedrich Steinmann 1840 herausgebrachten frühen Gedichte, gegen deren Publikation der Autor öffentlich protestierte. Zwar fallen die Differenzen im Fall Heine nicht sehr ins Gewicht, doch scheint mir das zweite Argument das klar schwächere zu sein. Der historistischc Gcstus (,wic ist es bis zum Zeitpunkt von Heines Tod gewesen'), der den intentionalen Aspekt unterschlägt und auch als Publikation behandelt, was das Bild des Autors bewußt entstellt, böte strenggenommen nicht einmal eine Handhabe, Fälschungen auszuscheiden, die Heine unterschoben wurden, weil auch sie z.T. noch über 1856 hinaus als Heine-Texte gelesen worden sind. Wirklich brisant wird dieses Problem im Fall Heine erst bei den Zensureingriffen, ein Punkt, der hier nicht vertieft werden kann.15 Die Winkler-Droste-Ausgabe scheint sich nun genau auf dieses schwächere Argument zu stützen, was man, da die Kategorisierung nicht problematisiert wird, jedoch nur indirekt erschließen kann. 16 Es blieb den Herausgebern allerdings auch keine andere Wahl, da bei den undeutlichen Aussagen der Autorin ein unzusammenhängender Abdruck nur von dieser Position her zu rechtfertigen ist. Das Problem verschärft sich im Fall der Droste-Ausgaben - Winkler wie HKA - noch deshalb, weil zwischen ,Zu Lebzeiten gedruckt' und ,ungedruckt' - anders als bei Heine - zugleich eine Bandgrenze liegt. Die Gedichtgruppe müßte, um als solche entdeckt

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Es handelt sich um die Gelegenheitsgedichte Der Kopf ist leer, das Her% ist voll; Die Kircbe siebst du auf diesem Bilde und Die Erste bah' ich unter mir. Vgl. DHA Bd. 2, S. 188. Die Weimarer Heine-Säkularausgabe verfolgt für zensierte Texte das Prinzip, im Text die zensierte Fassung zu reproduzieren den durch die Zensur beeinträchtigten Textstellen jedoch den Manuskripttext ah Fußnote beizugeben (s. das Vorwort zu dieser Ausgabe, Bd. 1 K, S. 18). Daß der Rückgriff auf den Druck und nicht - soweit vorhanden - auf die handschriftliche Druckvorlage (wie in der DHA) zu Problemen führen kann, zeigt jedoch die Behandlung der Zensurlücken in Cap. XXIV des Atta Troll (Bd. 2, S. 290). Hier fehlen die angekündigten Fußnoten. So erscheinen der sicher unautorisierte Abdruck des Gedichts Schloß Berg ebenso wie der wohl auch nicht autorisierte Druck eines Briefauszuges (Bd. 1, S. 476-480 bzw. 563 f.) unter ,Zu Lebzeiten gedruckt'. In beiden Fällen folgen die Texte allerdings als ,Anhang' auf ihre jeweilige Gruppe, was zeigt, daß den Herausgebern das Problem bewußt war.

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zu werden, auf die geduldige Benutzung zweier Text- und Apparatbände hoffen. Der Diskussion der Argumente für eine Perpetuierung der von Schükking - aufgrund des ihm von der Droste erteilten Freibriefes - vollzogenen Aufsplitterung der Gedichtgruppe hat jetzt die Frage nach Begründungsmöglichkeiten für einen zusammenhängenden Abdruck zu folgen. Einziger Anhaltspunkt ist zunächst die aus der Handschrift und der Briefstelle zweifelsfrei ableitbare ursprüngliche Intention, die Gedichte als Gruppe und in einer bestimmten Reihenfolge zu publizieren. Um das Gewicht dieses Arguments beurteilen zu können, bleibt nichts anderes übrig, als danach zu fragen, wie stark diese Intention in den Texten selbst verankert ist. Es ist mit anderen Worten auf dem Wege der Interpretation zu prüfen, ob es sich tatsächlich um eine Folge eng aufeinander bezogener Gedichte handelt oder ob ihre Zusammenstellung eher einen äußerlichen und zufalligen Charakter hat. Ich muß mich hier darauf beschränken, einige Stichworte zu liefern und will in einem zunächst noch weitgehend textimmanenten Durchlauf versuchen, die Verbindungslinien aufzuzeigen, die sich durch die Texte hindurch ziehen.17 Das Eingangsgedicht erzählt die Geschichte vom sterbenden General, dem auf dem Totenbett nicht die Erinnerung an vergangene Ruhmestaten, sondern an einen Akt der Nächstenliebe und echtes Mitgefühl die Hoffnung auf Erlösung gibt. Die vier letzten Zeilen fassen die aus der Geschichte zu ziehende Lehre sehr deutlich - wohl deshalb nannte die Autorin dieses Gedicht auch plump - zusammen: Die Seele, der Viktorie nicht, / Nicht Fürstenwort gelöst den Fluch, ¡Auf einem Tropfen Menschlichkeit / Schwimmt mit dem letzten Atemzug / Sie lächelnd in die Ewigkeit. Damit ist zugleich das Grundthema des gesamten Zyklus angeschlagen: Der Preis der Innerlichkeit, das Setzen auf eine Befreiung von innen heraus, die rückbezogen bleibt auf eine im Christlich-Religiösen begründete Weltvorstellung. Das zweite Gedicht, das bekannte Mondesaufgang, nimmt das Thema von Schuld und Erlösung auf. Der auf dem Menschen lastende Fluch, hier als sich steigernde Angstvision eines verkümmerten Herfens, das Einsam mit seiner Schuld und seiner Pein (v. 31 f.) vor seinem Richter steht, aus dem Naturbild entwickelt, wird, zunächst im Bereich dieses Bildes bleibend, durch das fromme (v. 34) und milde (v. 48) Licht des heraufziehenden Mondes gelöst, der die Schreckensszenerie in Bilder der Menschlichkeit verwandelt. In den beiden letzten Zeilen des Gedichts erfolgt eine Wendung zur Kunst: der Mond, selbst Widerschein einer mächtigeren Lichtquelle, wird in seiner 17

Der einzige, der bislang - wenngleich nicht systematisch - den Aspekt der Gruppenzugehörigkeit bei der Interpretation berücksichtigt hat, ist Clemens Heselhaus in: Annette von Droste-Hülshoff. Werk und Leben. Düsseldorf 1971, S. 286-292.

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erlösenden Funktion verglichen mit dem Gedicht, dieses wird gleichsam als Abglanz des Himmlischen begriffen. Ich kann hier nicht auf die Implikationen dieses Vergleichs für eine Rekonstruktion des Drosteschen Kunstverständnisses eingehen. Immerhin dürfte aber bereits klar sein, daß sich nicht zuletzt durch die enge Bezogenheit dieses Textes auf das ihm in der Gruppe vorausgehende und - wie wir noch sehen werden - folgende Gedicht, Interpretationsversuche verbieten, die den religiösen Aspekt unterschlagen. Das wird durch das sich anschließende Gedicht Gemüt nachdrücklich bestätigt. Bereits in der zweiten Strophe wird die für Mondesaufgang charakteristische Lichtmetaphorik wieder aufgenommen, wenn es über das Gemüt heißt: Du, irdisch heilig wie die Träne, / Und himmlisch heilig wie das Licht! (v. 11 f.) In diesem Zitat deutet sich bereits an, wie Gemüt das Thema von Mondesaufgang fortführt. Das Gemüt - ein zentraler Begriff bei der Droste und in ihrer Zeit - ist Quelle des Fühlens und Empfindens, es ist der Ort, von wo aus sich der Blick durch die Realität hindurch auf die Realitäten der Phantasie hin öffnet, mithin auch Ursprungsort der Poesie, die ihre Kraft zu Überhöhung und Verklärung freilich nicht aus sich selbst bezieht, sondern - wie bereits in Mondesaufgang - auf ,den Himmel' verwiesen bleibt. Insgesamt ist das Gedicht ein radikales Bekenntnis zu einer religiös begründeten Innerlichkeit und variiert damit abermals den Grundgedanken des gesamten Zyklus. Das folgende Sylvesterabend nimmt nach den beiden dem Bereich ,Kunst und Leben' gewidmeten Texten den Faden des Eingangsgedichtes wieder auf. Wie dort wird aus der Vergegenwärtigung des Todesgedankens die Frage nach dem ,Was bleibt?' gestellt, und wieder stimmt das Gedicht, gegen alle nach außen gekehrten Werte, das hohe Lied der Innerlichkeit an, das diesmal im Preis der Mutterliebe gipfelt. Entsprechend dem von der Droste zugrunde gelegten Anordnungsprinzip der ,variatio' folgt mit Einer wie viele und viele wie einer ein Text zum Thema ,Kunst'. Die Verbindung zu Gemüt und Mondesaufgang ist sehr eng - ein Umstand, der der Autorin, wie ihr Schwanken hinsichtlich der Zuordnung beweist, genau bewußt war. Das Gedicht ist jenen mit,Gemüt' begabten Menschen gewidmet, denen der künstlerische Ausdruck ihrer Empfindungen versagt bleibt. Ihnen wird zugerufen, daß die Kunst im Hinblick auf die Fähigkeit zur Empfindung immer etwas Abgeleitetes und Zweitrangiges sei. In direkter Anlehnung an das Gemüt-Gcdicbt heißt es: Denn reich ist nur der Träume Land,j ... / Denn stark ist nur der Liebe Hand. (v. 46/48) Das Gedicht beinhaltet, genau wie Mondesaufgang, die nachdrückliche Absage an jeden Autonomieanspruch der Kunst. Was zählt, ist allein das heiße (v. 54) Bemühen um das Ideal (v. 53), um der Gottheit Bild (v. 80), und Kunst kann nicht mehr sein als ein immer schon abgeschwächter Ausdruck dieses Bemühens. Das Abschlußgedicht der Gruppe, Der Nachtwandler, ist dem Eingangsgedicht spiegelbildlich zugeordnet. Es erzählt erneut die Geschichte eines Mannes, der am Ende seines Lebens steht, der aber, im

. nehmen Sie, was Ihnen ansteht."

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Gegensatz zum sterbenden General, keine Erlösung von seinem Fluch findet. Bereits dieser erste Durchgang durch die Texte, der, um zu einer Interpretation zu werden, sicher noch erheblicher Ausarbeitung bedürfte, bestätigt einigermaßen unzweifelhaft die der Gedichtfolge innewohnende kompositionelle Struktur. Solche Gruppenbildungen sind für das Werk der Droste insgesamt, aber auch für das vieler ihrer Zeitgenossen von Heine bis Mörike, besonders charakteristisch. Wie groß der Gewinn einer von der Gruppenstruktur ausgehenden gegenüber einer bloß auf den Einzeltext sehenden Interpretation sein kann, haben meine knappen Bemerkungen hoffentlich schon verdeutlicht. Die Interpretation der Gedichtfolge liefert also das Argument für einen zusammenhängenden Abdruck, ein Argument freilich, das sich allein auf die Intentionalität der Texte stützen kann, nicht auf die - ja durchaus schwankende - Intention der Autorin. Diesem von den Texten ausgehenden Einweisungs- und Anordnungsvorschlag steht der von ihrer Rezeptionsrespektive Druckgeschichte ausgehende gegenüber. Hier liegt der eigentliche und zentrale Punkt, an dem der Herausgeber eine Entscheidung treffen muß. Er kann sie nur treffen in Rückbezug auf sein Verständnis von Sinn und Zweck der von ihm konzipierten HKA. Ich will die Entscheidung nicht übermäßig dramatisieren. Immerhin sollte anhand dieses Beispiels auf einen Fall hingewiesen werden, wo sich das historisch-dokumentarische Interesse einer Ausgabe mit ihrem kritischen Interesse kreuzt, kritisch hier eben nicht nur verstanden als auf die Wortgestalt der Texte gerichtet, sondern darüber hinaus auf ihre Sinngestalt. Die Begründung für meine Entscheidung dieses Falles, die eine Entscheidung für den geschlossenen Abdruck ist, kann naturgemäß nur im Rückverweis auf die Interpretation der Gedichtfolge und die dort aufgewiesene enge Verzahnung der Texte bestehen. Die praktische editorische Konsequenz dieses Vorschlages wäre es, die Gedichtgruppe in den Ausgaben zwischen Ein^elgedichte Lebzeiten und Nachlaßgedichte einzuordnen. Bezogen auf die Gliederung der DrosteHKA sollten sie den Band Nachlaßgedichte eröffnen,18 wobei mir für diesen Vorschlag neben dem echten Nachlaßcharakter von zwei Texten und dem zumindest zweifelhaften Autorisationsgrad von zwei Drucken noch ein weiteres Argument zu Gebote steht, das ich als zweiten Beispielkomplex zum Thema .Edition und Interpretation' noch etwas ausführlicher entwikkeln will. 4. Denn genau besehen hat sich bereits Schücking bei drei der vier zu Lebzeiten gedruckten Texte als Nachlaßeditor betätigt, wenn man unter 18

Eine mögliche Kompromißlösung wäre ein doppelter Abdruck der vier bereits zu Lebzeiten gedruckten Texte einerseits unter Ein^elgedicbte Lebzeiten, andererseits innerhalb der Gedichtgruppe im Rahmen der Nacblaßffdicbte.

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Nachlaßedition u. a. auch solche Fälle versteht, wo der gedruckte Text auf im einzelnen nicht deutlich autorisierten Entscheidungen des Herausgebers beruht. Die Droste hatte Schücking nämlich nicht etwa eine in jeder Hinsicht abgeschlossene und druckfertige Reinschrift zugesandt, sondern fünf der sechs Gedichte enthalten sogenannte Alternativvarianten, Stellen, an denen die Autorin sich nicht für einen Text entscheiden konnte und deshalb eine oder auch mehrere alternative Möglichkeiten in Klammern z. T. direkt in die fortlaufende Niederschrift einblendete. Alternatiwarianten sind ein für die Manuskripte der Droste ganz besonders typisches Phänomen. Man findet sie in beinahe allen ihren Konzepten und gelegentlich - wie im Fall unserer Gedichtgruppe - auch in den Reinschriften. Eine ihrer Ursachen ist in diesem Fall sicher in der Rolle zu suchen, die Schücking für die Arbeit der Droste spielte: Er war so etwas wie ihr Lektor, dem sie kritische Stellen vorlegte und mit dem sie dann über ,den besten Text' diskutierte. Man kann das sehr schön an ihren Briefen während der gemeinsamen Arbeit am Druck der Ausgabe von 1844 verfolgen. Gerade im Blick auf unser Problem ist hervorzuheben, daß sie dabei Schückings Vorschläge durchaus nicht immer akzeptierte, sondern gelegentlich auf der anderen Lösung bestand oder eine völlig neue entwarf. Auch in unserem Fall hat sie möglicherweise darauf gehofft, über die Problemstellen in eine briefliche Diskussion einzutreten. Daß es dazu nicht mehr kam, lag zum einen am Scheitern des Musenalmanach-Plans, zum anderen dann an dem sich 1844 schon abzeichnenden Bruch der Freundschaft. Im bereits oben zitierten Brief vom 17.4.1844 schrieb sie Schücking bezüglich des Variantenproblems: Sit sehn, an Varianten habe ich's nicht fehlen lassen, bald darüber, bald daneben geschrieben, wie es der Raum mit sich brachte. Sie müssen hierbei immer die vorhergehende und folgende Strophe berücksichtigen und kämen - vielleicht - nicht alle Ihnen besser scheinenden Lesarten zugleich benutzen, sonst könnte es Wiederholungen geben; Endreime oder einzelne Ausdrücke, die an beiden Stellen offenbar bezeichnender wären, aber der Nachbarschaft wegen einmal geopfert werden müssen, und esfragt sich nur wo? Kur.j, brechen Sie die Sache nicht gar arg übers Knie; es sindja nur sechs Gedichte, die können Sie mir Gefallen wohl ein paarmal überlesen Das Dilemma, vor dem der Editor steht, ist, glaube ich, deutlich bezeichnet: Die Autorin konnte sich selbst nicht entscheiden und schob die Entscheidung dem Herausgeber zu. Die weitere Geschichte der Texte brachte es dann mit sich, daß mit .Herausgeber' nicht nur Schücking, sondern jeder prospektive Editor dieser Gedichte angesprochen bleibt. Denn daß die Droste Schücking nicht zu jeder beliebigen Entscheidung autorisierte, geht aus der Geschichte ihrer Zusammenarbeit, aber auch aus der Briefstelle deutlich hervor. Die Entscheidungshilfen, die sie selbst anbietet und die abermals ihre Fixierung auf das Prinzip der Variation bekräftigen, sind im übrigen nur sehr bedingt tauglich. Ihre Kriterien zielen Briefe [Anm. 8], Bd. 2, S. 309.

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offenbar auf Variation nicht nur innerhalb eines Gedichtes, sondern über das Einzelgedicht hinaus, was ihre Rekonstruktion äußerst schwierig macht; und sie können, selbst vollständig rekonstruiert, allenfalls einen Begründungsaspekt für die Entscheidung liefern, keinesfalls aber Eindeutigkeit herstellen, was die Autorin sonst ja schon selbst hätte tun können. Die Frage ist also erneut, welche Argumente dem Editor für eine begründete Lösung der Probleme zur Verfügung stehen. Ich will auch hier wieder einige wichtige durchspielen und beziehe mich dabei auf das Gedicht, Mondesaufgang. Es bietet genau eine Alternativvariante. In Vers 5 kann es heißen entweder: Der See verscbimmerte mit leisem Stöhnen oder Der See verschimmerte mit leisem Dehnen. Zuerst seien, wie schon in der Anordnungsfrage, mögliche historisch fundierte Lösungsvorschläge untersucht, bei denen wiederum ein vom handschriftlichen Befund und vom Autor her argumentierender von einem sich auf die Druckgeschichte und die Rezeption beziehenden Vorschlag zu unterscheiden ist. Denkbar sind u.a. folgende Argumente: 1. Das überlieferte Konzept zur Reinschrift zeigt Stöhnen ohne Varianz. 2. In der Reinschrift ist Stöhnen die zuerst niedergeschriebene Variante; es ist eine beim Übergang vom Entwurf zur Reinschrift zu beobachtende Eigenart der Droste, sich eher für die frühere Variante zu entscheiden. 3. Stöhnen ist auch für den damaligen Sprachgebrauch die .schwierigere Lesart'; aus den brieflichen Diskussionen mit Schücking ist die Vorliebe der Droste für solche Lesungen bekannt; andererseits kommt das Wort bei ihr häufig vor und läßt sich auch verschiedentlich im Zusammenhang mit Naturerscheinungen nachweisen; dabei als Reimwort in: der Wipfel Stöhnen (Die Verbannten, v. 9); müde die Luft am Strande stöhnt (Am Bodensee, v. 3); Die Bohlen weichen mit Gestöhn (Die Vergeltung, v. 20); die Unke stöhnet {Der Fmdator, v. 56). Im letzten Fall reimt es auf Wie der Teich sich dehnet, womit auch die Verwendung von Dehnen im selben Kontext wie in Mondesaufgang belegt ist. Man sieht, daß diese Argumente eine Entscheidung zwar fördern, in diesem Falle der Tendenz nach wohl eher in Richtung der Variante Stöhnen, daß sie aber kaum ausreichen, um eine solche Entscheidung plausibel zu machen. Die Winkler-Ausgabe, die als einzige neuere Ausgabe Stöhnen liest, stützt sich dabei auf das Prinzip, generell im Fall von Alternativvarianz jeweils die erste Variante in den Text aufzunehmen. Dieses Prinzip macht dann einen Sinn, wenn sich tatsächlich - wie z. B. meist in den Entwurfshandschriften - eine durchgehend niedergeschriebene Grundschicht ausmachen läßt, die dann erst im nachhinein an einigen Stellen variiert wird. 20 20

Entwickelt und mit guten Ergebnissen angewandt wurde es von Winfried Woesler für seine

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Das ist aber im Fall dieser Reinschrift häufig nicht so. Die Autorin schrieb vielmehr die Varianten meist direkt nacheinander nieder. Dann ist das Prinzip, immer die erste Variante in den Text zu übernehmen, reiner Dezisionismus und als Grundlage für die Entscheidungen einer HKA sicher nicht geeignet. Ohnehin ist der Rückzug auf eine früheste Textschicht nur dann in Erwägung zu ziehen, wenn mehrere Alternatiwarianten und damit auch mehrere textliche Kombinationsmöglichkeiten existieren. Im Fall von Mondesaufgang, wo der graphische Befund dafür sprechen könnte, daß Dehnen erst nachträglich eingesetzt wurde, haben wir aber zwei durch ein einziges variantes Wort voneinander abgegrenzte Textfassungen vor uns, und es besteht überhaupt kein Anlaß, aufgrund des Zeitkriteriums die ,frühe' vor der .späteren' Fassung auszuzeichnen. Der von Rezeptions- und Druckgeschichte her argumentierende Lösungsvorschlag hat auch hier wie schon in der Frage der Gruppenbildung den Vorzug der Eindeutigkeit. Legt man ihn zugrunde, hat man, dem auf Schückings Abschrift zurückgehenden Erstdruck folgend, Dehnen zu lesen. Hier wird schlicht konstatiert, was war, das Begründungsproblem wird auf den Herausgeber Schücking zurückgeschoben. Der Verweis auf die Entscheidung eines früheren Herausgebers, dessen Autorität in diesem Fall, wie wir gesehen haben, zudem durchaus bezweifelt werden darf, kann aber ebensowenig ein zureichendes Argument der Textkritik sein wie der Hinweis auf die Wirkungsgeschichte. Auch diesmal scheint mir der Weg aus der Zweideutigkeit der Intention der Autorin über den Versuch herauszuführen, die Intention des Textes zu bestimmen. Das ist hier schwieriger als beim vorher diskutierten Problem der Gedichtgruppe. Ging es dort um den Nachweis des strukturellen Zusammenhangs einer ganzen Textfolge, so geht es hier um ein einzelnes Wort, an dem sich schwerlich eine ganze Interpretation aufhängen läßt. Die Frage kann eigentlich nur lauten: Welche Verschiebungen ergeben sich durch das Einsetzen des einen oder anderen Wortes zunächst für das engere textliche Umfeld, dann möglicherweise für das gesamte Gedicht, und welche Implikationen haben diese Verschiebungen?21 Dazu wieder nur einige textimmanente Stichworte: Die Variante Dehnen fügt sich ohne Zweifel problemloser in den Kontext der ersten Strophe ein, die insgesamt auf optischen Eindrücken aufgebaut ist. Das leise Dehnen beschreibt den in

21

Edition des Gtistlichtn Jahres (vgl. ders.: Probleme der Editionstechnik. Überlegungen anläßlich der neuen kritischen Ausgabe des Gtistlichtn Jahres der Annette von DrosteHülshoff. Münster 1967.) Zur Begründung dieses methodischen Ansatzes einer Interpretation varianter Textstellen in Nachlaßgedichten vgl. Gunter Martens: Die Funktion des Variantenapparates in Nachlaßausgaben expressionistischer Lyrik. In: Die Nachlaßedition. La publication de manuscrits inédits. Akten des [...] französisch-deutschen Editorenkolloquiums Paris 1977. Bern usw. 1979, S. 81-95 ( = Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A, Bd. 4).

„ . . . nehmen Sie, was Ihnen ansteht."

367

der Dämmerung allmählich seine Konturen verlierenden See, wobei Jeise im Sinne von ,leicht', .unmerklich' zu verstehen ist. Das Bild paßt insofern genau in den Rahmen der umliegenden Rede vom Zerschmelzen, Verschimmern, Zerfließen, allesamt Beschreibungen des Übergangs, die den verhalten wehmütigen Ton dieser ersten Strophe begründen. Die Variante Stöhnen dagegen führt zu einem komplexeren Text. Schon die Tatsache, daß jetzt zwischen den optischen ein akustischer Eindruck auftaucht, macht aufmerksam, erst recht natürlich die ungewöhnliche Zuschreibung der akustischen Qualität an den See. Viel deutlicher als im Fall Dehnen wird hier die Ebene der poetischen Beschreibung in Richtung auf Metaphorisierung überschritten, der See gleichsam anthropomorph gesehen. Der .stöhnende See' fügt der ruhig-melancholischen Stimmung der Strophe einen hier noch sehr unbestimmten Ton von Angst und Gequältsein hinzu, dessen voller Sinn dann erst im Mittelteil des Gedichts entfaltet wird. Insofern macht das Wort den Leser bereits an dieser frühen Stelle skeptisch gegenüber der sanften Wehmut der Naturbilder in den beiden ersten Strophen. Man könnte die Exegese sicher noch weiter treiben und z. B. über die mit dem Wort .Stöhnen' verbundenen Assoziationen nachdenken, doch will ich meinen kurzen Exkurs hier abbrechen. Natürlich führen auch diese .textkritischen' Beobachtungen noch nicht direkt zu einer editorischen Konsequenz. Sie sind, zusammen mit der Prüfung der übrigen Argumente, notwendige Voraussetzungen einer Entscheidung, die der Editor letztlich nur von seinem Verständnis des Gedichts und, im Fall dieses sehr prominenten Droste-Gedichts, auch von seinem Verständnis des Gesamtwerks der Autorin her fallen kann. Versteht er die einander zugeordneten Eingangs- und Schlußstrophen von Mondesaufgang ganz als Ausdruck resignativer Alterserfahrung, so wird er wahrscheinlich Dehnen einsetzen und so dem einleitenden Naturbild seine in sich geschlossene melancholische Stimmung belassen. Das tat Schücking, dessen DrosteBild insgesamt stark von der Vorstellung der nach innen gekehrten, weitabgewandten .Seherin' bestimmt war.22 Geht es ihm dagegen um die Brüche in beiden Textpassagen, die in der Entgegensetzung von Sonne und Mond in der Schlußstrophe auch eine deutliche Wendung ins Ideologische nehmen23, so wird er eher die Variante Stöhnen berücksichtigen und auf diese Weise die Geschlossenheit des Naturbildes auflockern. Ein solcher Editor wird wahrscheinlich ein Droste-Bild vertreten, das die historischen Bezugspunkte ihres Werkes in den Vordergrund rückt.

22 23

Vgl. die Zusammenstellung von Fünf Droste-Rezensionen Schückings in: Jb. der DrosteGesellschaft Bd. 5. 1972. S. 72-101. Vgl. die Hinweise bei Bernd Kortländer: Annette von Droste-Hülshoff und die deutsche Literatur. Kenntnis-Beurteilung-Beeinflussung. Münster 1979. S. 193.

368

Bernd Kortländer

Wie bei jeder Interpretation ist auch bei solchen Textbeobachtungen ein Ausweichen vor den eigenen Interessen weder möglich noch wünschenswert. Spätestens an diesem Punkt sollten nach meinem Dafürhalten diese Interessen auch in den Ausgaben selbst offengelegt werden. Die dafür vorgesehene Rubrik ,Zur Textgestaltung' kann sich nicht auf das Abhaken der vom Befund her möglichen Argumente und das mehr oder weniger hilflose Bekenntnis zur Dezision beschränken, sondern sie muß auch die interpretatorische Begründung liefern. Nur so kann deutlich werden, nicht nur, daß die jeweilige Entscheidung prinzipiell veränderbar und überholbar ist, sondern unter genau welchen Bedingungen sie es ist. Erst dann, scheint mir, wird eine H K A an solchen Stellen wirklich zum Ausgangspunkt bzw. zum Bestandteil eines sinnvollen, d. h. begründeten wissenschaftlichen Gesprächs.

Hans-Joachim

SIMM

(Frankfurt)

Zur sozialgeschichtlichen und editionsphilologischen Stellung sogenannter Lese- und Studienausgaben deutscher Klassiker Der Buchmarkt zeigt eine nie dagewesene Fülle unterschiedlichster Klassikerausgaben, von der bibliophilen Einzelausgabe ohne editorische Begründung (als ein Beispiel sei hier die Münchner Hilliard-Collection angeführt) über den ,Reader', der Textauszüge, Interpretationen, Dokumente und Illustrationen versammelt (wie in der Reihe ,Die großen Klassiker' des Andreas & Andreas Verlags) bis zur kritischen und kommentierten Originaledition im Taschenbuch (beispielsweise in manchen Reclam-Ausgaben). Neben den .großen' Klassiker-Verlagen der Bundesrepublik, Hanser, Artemis & Winkler und Insel sowie teilweise C. H. Beck, neben der Neugründung des Deutschen Klassiker Verlags bewerben auch Mail-OrderSpezialisten wie Franklin Mint, die genannte Hilliard-Collection und zahlreiche andere Versender den Markt. Die DDR ist mittels Direktverkauf über besondere Buchhandlungen und über Lizenzen mit den Programmen des Aufbau-Verlags, von Rütten Sc Loening, Kiepenheuer, Insel, List, Diederich, Hinstorff, Union und anderen vertreten; die Tempel-Klassiker werden nach wie vor vertrieben, Kröner, die Nymphenburger Verlagshandlung, Diederichs, die Deutsche Verlagsanstalt, Leske, Wunderlich, Klett-Cotta, Metzler, Niemeyer, Vandenhoeck & Ruprecht, Kohlhammer, de Gruyter sind oder waren bis vor kurzem präsent mit verschiedenen Spezialangeboten; schließlich machen noch Verwerter wie Parkland und Pawlak mit Neben- oder Sonderausgaben von sich reden. Dazu kommen die Taschenbuchreihen, die keineswegs nur von Lizenzen leben, wie Reclam, dtv, Ullstein, Insel, Goldmann mit Einzel- und sogenannten Kassettenausgaben - sowie schließlich die Reprint-Verlage. So bietet der Buchmarkt inzwischen derart zahlreiche Facetten an klassischer Literatur, daß es einer eigenen Untersuchung wert wäre, die zugrundeliegenden Klassikerbegriffe zu beschreiben und zu analysieren. Das geradezu inflationäre Spektrum reicht von der altsächsischen Genesis über die Manessische Liederhandschrift zu Seuses Predigten und Klajs Friedensdichtungen, von Harsdörffers ,Frauenzimmergesprächspielen', von Schnabels ,Insel Felsenburg' und Wezeis ,Belphegor' über Auerbachs Dorfgeschichten und Saars Novellen bis zur fünfzehnten gleichzeitigen Ausgabe des .Grünen Heinrich' und zu den zahllosen Verwertungsausgaben der Klassiker des 20. Jahrhunderts.

370

Hans-Joachim Simm

Die .Klassiker-Müdigkeit', die sich in den wirtschaftlichen Rezessionsphasen der letzten 15 Jahre verschiedentlich abzuzeichnen schien, ist längst einer verstärkten Aktivität der Verlage und einer offenbar ebenso gestiegenen Bereitschaft des Publikums gewichen, Klassiker (wieder) zu lesen oder zumindest zu kaufen. Dabei kann die Werbewirksamkeit von Jubiläen kaum unterschätzt werden, ob bei Heine, Fontane, Kleist, Lessing, Jean Paul oder letzthin bei Goethe. Was sich hierbei im Einzelfall als Wiederentdeckung mittels solider Studienausgaben (wie etwa bei Jean Paul) bezeichnen läßt, bleibt in anderen (wie teils im Goethe-Jahr 1982) Ausdruck kommerzieller Eilfertigkeit im Massenangebot der niederen Qualität. So sehr diese Lage der Dinge unter dem Aspekt genereller Verbreitung klassischer Literatur als positives Zeichen und letztlich sogar als Ergebnis wissenschaftlicher Bemühungen um die deutsche Literatur gesehen werden kann, so fragwürdig ist - unter dem Aspekt der Benutzbarkeit, Brauchbarkeit - die Flut von Einzel- und Auswahlausgaben, von Anthologien und Lesebüchern, von Luxusausgaben und Faksimiles, von Sämtlichen und Gesammelten, von Ausgewählten und ,Einfachen' Werken in ein, zwei oder drei Bänden. Der Klassikermarkt wird inzwischen geradezu durch einen Verdrängungswettbewerb gekennzeichnet, in dem sich die qualitativen und quantitativen Kriterien einzelner Editionen häufig kaum noch unterscheiden lassen, was vor allem zu einer Verunsicherung des Publikums führt, und der, so denke ich, eine Neubesinnung auf die sozialhistorische Funktion ebenso wie auf die philologische Qualität der Editionstypen 1 , insbesondere der Lese- und Studienausgaben, nötig macht. Die Leseausgaben haben sich bekanntlich aus den Nachdrucken des späten 18. Jahrhunderts entwickelt; es entstand jener Typus einer zunächst unkommentierten, teils lediglich mit einem Nachwort oder einer Einleitung versehenen Ausgabe 2 . Sie wurde vor allem im Streit um die Verwaltung der Klassikerrechte im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem sozialgeschichtlich brisanten Thema. Die Dominanz des Verlegers Johann Friedrich Cotta, dessen literarischer Geschmack allem fortschrittlich Zeitgenössischen gegenüber recht 1

2

Vgl. dazu v. a. Klaus Kanzog: Prolegomena zu einer historisch-kritischen Ausgabe der Werke Heinrich von Kleists. Theorie und Praxis einer modernen Klassiker-Edition. München 1970. S. 15. Siegfried Scheibe: Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hg. v. Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971. S. 1-44; hier bes. S. 1. - Ausführlich dazu Herbert G. Göpfert, dem der Verfasser entscheidende Kenntnisse und Einsichten in die Editions- und Verlagskunde verdankt, in: Edition aus der Sicht des Verlags. In: Texte und Varianten. S. 273-283; bes. S. 274 f. (wieder abgedruckt in: H. G. G.: Vom Autor zum Leser. Beiträge zur Geschichte des Buchwesens. München 1971. S. 106-118.

Zur Stellung sogenannter Lese- und Studienausgaben deutscher Klassiker

371

begrenzt war, hatte in der ersten Jahrhunderthälfte zu einem restriktiven Kanon geführt, so daß letztlich als Klassiker nur galt, wer von Cotta selbst - eben in Leseausgaben - verlegt wurde. Dadurch verschwand die Breite des Klassikerkanons des aufgeklärten und europäischen 18. Jahrhunderts zugunsten einiger weniger Größen der literarischen Vergangenheit - Klopstock, Wieland, Herder, Lessing und an der Spitze Goethe und Schiller sowie einiger ephemerer Randfiguren der literarischen Zeitgeschichte.2® Die Monopolstellung und restaurative Verlagspolitik Johann Friedrich Cottas forderte jedoch bald eine Gegenbewegung heraus, die unter bildungspolitischen Aspekten den enggezogenen Klassikerkanon zu erweitern suchte, in dem sie sich sowohl der Literatur der Vorklassik als auch der romantischen und der zeitgenössischen Dichtung zuwandte und gleichzeitig versuchte, die epigonalen Tendenzen Georg von Cottas und seiner Autoren, wie Roquette, Müller von Königswinter, Mosen, Zedlitz zu überwinden. Die prinzipielle Kritik an der Ideologie des Cotta-Verlags fand eine zusätzliche Bestätigung in der Unzulänglichkeit seiner Editionen, die scharfen Angriffen ausgesetzt waren. Im .Börsenblatt' vom 24. Januar 1866 umreißt der Leipziger Verlagsbuchhändler A. H. Payne programmatisch die Hoffnung der Verleger auf das Jahr 1867, in dem die Klassiker frei werden sollten: „Beruhigen Sie sich, Herr von Cotta! Sie haben sich ganz unnützer Weise alterirt; der Unterzeichnete wird nur das tun, wozu er die gesetzlichen und rechtlichen Befugnisse hat, und halten, was er verspricht; aber er erklärt Ihnen heute schon, daß Ihre bombastischen Redenarten ihn nicht hindern werden, eine bessere Ausgabe der Schiller'schen Werke zu liefern, als Sie es jemals im Stande sein dürften; denn für die Zukunft wird das bloße Aufdrucken Ihrer Firma auf dem Titelblatte das deutsche Publikum schwerlich veranlassen, Ihre Ausgabe irgendeiner anderen vorzuziehen." Der Kanonerweiterung diente vor allem der Bibliotheksgedanke, der sich ab 1867, nach Beendigung des „ewigen Verlagsrechts", teils in Form von Raubdrucken schon vorher, in zahlreichen Verlagsreihen manifestierte. Sowohl die frühe ,Groschen-Bibliothek' Joseph Meyers als auch die späteren nach 1867 urheberrechtlich möglich gewordenen,Nationalbibliotheken' des Bibliographischen Instituts, Alfred Kröners, Friedrich Arnold Brockhaus', Grotes, Prochaskas, allen voran aber Gustav Hempels 3 zeigen einen breiteren Klassikerbegriff: „Statt der Cotta'schen Ladenhüter vom Schlage Alxinger, Pyrker und Steigentesch umfaßte diese Edition (Hempels Biblio-

2'

3

Vgl. Eva D. Becker: .Klassiker' in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung zwischen 1780 und 1860. In: Zur Literatur der Restaurationsepoche 1815-1848. Forschungsreferate und Aufsätze. Hg. v. Jost Hermand und Manfred Windfuhr. Stuttgart 1970. S. 349-370; hier S. 362. Hempels Bibliothek war 1879 mit 714 Lieferungen abgeschlossen.

372

Hans-Joachim Simm

thek) auch die Werke Bürgers, Gellerts, Körners, Musäus', Chamissos, Hauffs, Kleists, Seumes und Jean Pauls." 4 Der Kanon verengte sich jedoch rasch erneut, was aus der Tatsache der .Verkürzung' der Bibliotheken im Laufe der Jahre erhellt: immer mehr .Bibliotheken' entstanden mit immer weniger Titeln - und was auch daran abzulesen ist, daß nur einige wenige Autoren, wie Goethe, Schiller, Herder, Jean Paul, Lessing und Wieland - jener Kernbestand der deutschen Klassiker im 19. Jahrhundert - Mehrfachauflagen erhielten. Überdies verhinderte die Stoffgläubigkeit des Positivismus5 zusammen mit dem Nachholbedarf der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts eine durchgehaltene Konzeption der Sammlungen und führte zu qualitativ und quantitativ recht heterogenen Ausgaben, zu einer Beliebigkeit und Zufälligkeit auch der Erscheinungsfolge einzelner Lieferungen, die häufig nicht mehr komplettiert wurden. Auch die großen Reihenwerke des 19. Jahrhunderts, wie die historische-kritische Unternehmung von Joseph Kürschners .Deutscher NationalLiteratur' in 168 Bänden, die .Deutschen Literatur-Denkmale', die .Bibliothek des Literarischen Vereins' (und noch die große Sammlung des 20. Jahrhunderts, die .Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen'), zeigen diese Tendenz. Als einzige der damals gegründeten Bibliotheken lebt Reclams,Universalbibliothek' bis zur Gegenwart fort. Die Idee der Einzelausgaben war tragfahig, die ,bunte Reihe', die Beseitigung jeder zeitlichen und nationalen Beschränkung, wurde zum Erfolgsprinzip. Entscheidend trug auch der geringe historische Abstand zum 18. Jahrhundert, zur Weimarer Klassik, zur Vorgeschichte der eigenen Gegenwart, zu den recht unproportionierten Bibliothekskonzeptionen bei, in denen ästhetische Kriterien kaum Geltung beanspruchen konnten. So wurden Autoren wie Schenkendorf, Zschokke, Halm, Werner, Tiedge u. a. teils mit gleich umfangreichen Ausgaben bedacht wie die oben genannten. Ferner war die editorische Ausstattung, waren Textgestalt, Einführung und Kommentare qualitativ sehr unterschiedlich. Die Kritik an der Unzulänglichkeit der Editionen Cottas hatte zwar zur Veränderung des Editionstypus der Leseausgabe, doch letztlich nur teilweise zu besseren Ausgaben geführt. 6 Der weitreichende Anspruch und die bildungspolitischen Ziele der neuen Klassikerausgaben (Werbeslogan Joseph Meyers: „Bildung macht

4

5

6

Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848 bis 1880. 2 Bände. Hg. v. Max Bucher, Werner Hahl, Georg Jäger und Reinhard Wittmann. Stuttgart 1975f. ( = Epochen der deutschen Literatur. Materialienbände); hier Bd. 1. S. 179. Die rein stoffliche Aktualisierbarkeit galt als Zeichen der Klassizität; vgl. Realismus und Gründerzeit. Bd. 1. S. 181. Georg Witkowski: Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke. Ein methodologischer Versuch. Leipzig 1924. S. 16 f.

Zur Stellung sogenannter Lese- und Studienausgaben deutscher Klassiker

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frei") dienten im Grunde doch nur sehr enggezogenen bildungsbürgerlichen Interessen, die eine kritische Rezeption der Klassiker eher verhinderten, als daß sie eine dauerhafte und kritisch-konstruktive Auseinandersetzung ermöglichten. Diese Gefahr wurde bereits in der zeitgenössischen Diskussion angesprochen, die von den verschiedensten Standpunkten aus publizistisch geführt wurde. Schon unmittelbar vor, während und nach der Entstehung des Klassikermarktes wurden die soziologischen und editorischen Kriterien diskutiert, die die Geschichte des Klassikerbegriffs und der Klassikerausgaben weiterhin entscheidend bestimmt haben. Während beispielsweise Rudolf Gottschall die Klassiker als nun endlich verfügbares „Nationaleigenthum" 1867 im .Börsenblatt' hymnisch besang, mahnte ein anonymer Artikel aus dem .Börsenblatt' desselben Jahres vor der buchhändlerischen Spekulation und vor der Entstellung der Texte durch gedankenlos kompilierte Ausgaben.7 Dagegen begrüßte Adolf Enslin das Freiwerden der Klassiker und die Möglichkeit, daß das deutsche Publikum im internationalen Vergleich der Bildung aufhole. Gleichzeitig setzte er seine Hoffnungen in die gegenüber den Cotta'schen Volksausgaben editorisch bessere Qualität der neuen Ausgaben: „Ein anderer großer Vortheil, den die Freigebung der Classiker uns in Aussicht stellt, ist der, daß wir endlich in den Besitz correkter und kritischer Ausgaben gelangen werden." 8 Eine vehemente Polemik gegen vermeintlich reaktionäre Implikationen des umstrittenen Klassikerbegriffs übte die .Gartenlaube', deren Herausgeber, Ernst Keil, die heftigsten Angriffe gegen Hempels Unternehmen richtete, in einem Artikel ebenfalls von 1867: „Da sitzen nun die Männer der Finsterniß und des Rückschrittes, zerkäuen sich die Nägel und sinnen und halten geheimen und offenen Rath miteinander, wie sie die Welt um ein paar hundert Jahre zurückschrauben und mit den Lumpen vermoderter Anschauungen mindestens die Canäle verstopfen können, durch welche der Geist, den sie nicht zu tödten vermögen, der lichte und fröhliche Geist der Befreiung und Humanität, der Erlösung von herabdrückenden und trennenden Vorurtheilen bald in gewaltig brausender Strömung, bald mit dem linden Wehen des Frühlings-

7

a

Rudolf Gottschall: Die Classiker als Nationeigenthum. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 34/261 (1867). S. 2870. - Das Börsenblatt zitiert in der Nr. 34/175 (31.7.1867). S. 1889f. einen Angriff der .Deutschen Zeitung' auf Hempels Bibliothek. Adolf Enslin: Unsere Classiker und die Verlagsrechte. In: Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft. Bd. 2., Heft VII. Leipzig 1868. S. 109-119; bes. S. 118. - Vgl. auch Birgit Sippell-Amon: Die Auswirkung der Beendigung des sogenannten ewigen Verlagsrechts am 9.11.1867 auf die Editionen deutscher „Klassiker". In: Archiv für Geschichte des Buchwesens. Bd. XIV. Frankfurt a.M. 1974. Sp. 349-516.

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hauches in die große Maße des Volkes drängt. Die Verblendeten! Auf ihrer Fahne steht, was das Jahrhundert nicht mehr will: Bevormundung des menschlichen Denkens und Fühlens nach von oben her vorgeschriebener Satzung .. ,"9 Mancher warnte vor der starren Einengung des Klassikerbegriffs, vor der bildungsbürgerlichen Fixierung eines Kanons, forderte dagegen Erneuerung, Aktualisierung im Sinne der kritischen Diskussion und Fortsetzung der geistigen Bemühungen der Klassiker selbst. Für Nietzsche bestand die einzige Art, Klassiker zu ehren, darin, „daß man fortfahrt, in ihrem Geiste und mit ihrem Mute zu suchen, und dabei nicht müde wird. Dagegen ihnen das zu nachdenkliche Wort,Klassiker' anzuhängen und sich von Zeit zu Zeit einmal an ihren Werken zu .erbauen', das heißt, sich jenen matten und egoistischen Regungen überlassen, die unsere Konzertsäle und Theaterräume jedem Bezahlenden versprechen; auch wohl Bildsäulen stiften und mit ihrem Namen Feste und Vereine bezeichnen - das alles sind nur klingende Abzahlungen, durch die der Bildungsphilister sich mit ihnen auseinandersetzt, um im übrigen sie nicht mehr zu kennen, und um vor allem nicht nachfolgen und weitersuchen zu müssen. Denn: es darf nicht mehr gesucht werden; das ist die Philisterlosung." ,0 Auch wenn nach 1900 eine gewisse Kanonerweiterung auf unbekanntere Romantiker, das Junge Deutschland, auf die Gattungen ,Brief und .Tagebuch' festzustellen ist, vor allem aber auch eine Internationalisierung, eine weltliterarische Programmerweiterung, so des Insel Verlags, blieb der Zirkel der breiter rezipierten Klassiker doch noch immer recht eng angesteckt. Anton Kippenbergs Versuch, die Klassiker aus dem Bereich des Philisterhaften zu .erlösen', blieb in Fragen des Ästhetischen, der Typographie und des Buchformats (z. B. der verschiedenen Großherzog-WilhelmErnst-Ausgaben) stecken. So kannte man in Deutschland nach wie vor nur wenige Klassiker, nur wenige wurden populär: „Zwischen dem, was dem Literar-Historiker in irgend einer Hinsicht wichtig und bedeutend erscheint, und dem, was Allgemeingut des Volkes zu werden, in sein Sinnen und Denken überzugehen verdient, muß ein Unterschied gemacht werden." Dieser Satz Karl Frenzels11 galt noch immer. Hier zeigte sich eine verhängnisvolle Trennung in akademische Gelehrsamkeit einerseits und Popularität andererseits, eine Differenz, die sich auch in den Editionstypen ausdrückte: Für die Wissenschaft waren erschienen ' .Literatur und Kunst für das Bürgerhaus. Zum Auferstehungsfeste unserer großen Meister'. In: Die Gartenlaube 15 (1867). S. 572. 10 Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen (1873). In: F. N.: Werke in 3 Bänden. Hg. v. Karl Schlechte München 1982. Bd. 1. S. 144f. " Karl Frenzel: Die Classiker frei! In: Die Presse (Wien) Nr. 304 (5.11.1867).

Zur Stellung sogenannter Lese- und Studienausgaben deutscher Klassiker

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oder entstanden noch die (historisch-)kritischen Ausgaben Herders, Lessings, Luthers, Goethes. Fürs breitere Publikum dagegen genügten noch immer die einfachen, unkommentierten, ausgewählten und auch textlich gekürzten Leseausgaben. Hierzu gehört auch die in der Gründerzeit begonnene Tradition der illustrierten Prachtausgaben. Das Buch diente dem Ausweis der Zugehörigkeit zur bürgerlichen Kultur; es war ein Bestandteil des Sozialprestiges. Erst in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts entstand ein Mischtyp von kommentierten Leseausgaben 12 , der nicht nur das breiter werdende Interesse an sowohl textlich zuverlässigen als auch die nötigen Verständnishilfen bereitstellenden Editionen signalisierte, sondern vermutlich auch Effekt eines immer größeren Konkurrenzdrucks unter den Verlagen war, so bei Bong wie bei Meyers Klassikern im Bibliographischen Institut. Auch der Cotta Verlag hatte bereits zu Beginn des Jahrhunderts versucht, die Tradition der Textqualität wieder aufzunehmen. Hier entstanden die (kritische) Jubiläumsausgabe der Werke Goethes (1902-1907), von Eduard von der Hellen fast als Prototyp einer Studienausgabe herausgegeben, und die Schiller-Säkular-Ausgabe. 13 Ganz allmählich setzte sich ein stärkeres Editionsinteresse durch, das vorerst noch im Bann der exakten Wissenschaften stand. Der Rausch des naturwissenschaftlichen Zeitalters schlug sich etwa seit 1880 in objektivistischen, an der klassischen Philologie geschulten Editionstechniken nieder. Wesentlicher Bestandteil der Verwissenschaftlichung der Editorik war auch die Tendenz zur Vollständigkeit von Werkausgaben, gegenüber den früheren Auswahlen, sowie der Gedanke der nominellen Verlagsbibliotheken, d. h. der zur Bibliothek sich gruppierenden Verlagsprogramme. Ein deutliches Indiz für die weitere Verbreitung des Interesses an textlich zuverlässigen und kommentierten Klassikerausgaben ist Georg Witkowskis Methodologischer Versuch' zur .Editionstechnik neuerer Schriftwerke' von 1924. Hier wurden bereits Regeln der Textgestaltung, der Textredaktion und orthographischen Modernisierung aufgestellt (Lautstandsprinzip), die noch heute gültig sind. 14 Entscheidend ist Witkowskis Wendung gegen die als Reaktion auf das naturwissenschaftliche Objektivitätsdogma entstandene Mode des sogenannten Anempfindens von Texten; er trat für Kommentare, auch bei nichtwissenschaftlichen Ausgaben, ein, die sich erstens nach dem Leserbe-

12

13 14

Kanzog, Prolegomena. S. 35. Anm. 13. Dort auch noch immer gültige Ansätze zur Definition einer Studienausgabe/Leseausgabe (S. 29 ff.). Vgl. Liselotte Lohrer: Cotta. Geschichte eines Verlags. 1659-1959. Stuttgart 1959. Witkowski, Textkritik. S. 102. - Witkowski hat S. 121 ff. auch Titeldefinitionen aufgestellt (für .Werke' und insbesondere die unberechtigte Bezeichnung .Gesammelte Werke'), die noch heute brauchbar sind.

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dürfnis richten und zweitens dem unmittelbaren Textverständnis dienen sollen 15 - eine Forderung, die, modifiziert, ebenfalls heute noch maßgeblich ist für Lese- und Studienausgaben. Dennoch blieben, bis in die vierziger Jahre hinein, trotz einiger gelungener Beispiele für kommentierte Leseausgaben, die schon den Charakter von Studienausgaben annahmen - wie der Lessing-Edition von PetersenOlshausen, der Novalis-Ausgabe von Kluckhohn-Samuel oder auch der Büchner-Edition von Fritz Bergemann im Insel Verlag - , die unkommentierten Textausgaben dominierend. Durch hohe Auflagen und einen entsprechend niedrigen Ladenpreis kam man so nicht zuletzt der gesellschaftspolitisch sich verfestigenden Rolle des Kleinbürgertums entgegen. Mit dem Jahr 1945 würde man eine entscheidende Zäsur auch oder gerade für Klassikerausgaben annehmen. Der traditionelle oder konservative Kanon und die vorherrschende Editionspraxis erwiesen sich jedoch als derart nachhaltig wirksam - hinzu kam die Tatsache, daß durch die hohen Kriegsverluste Texte zunächst einmal nur bereitzustellen waren - , daß auch die ersten Klassikerausgaben 1946 in der Regel nur unkommentierte Auswahlausgaben waren. Der editorische Anspruch war bekanntermaßen gering. Es genügte der unkritische Abdruck älterer Vorlagen, und wichtiger als Kommentare waren knappe Einführungen und Begründungen der Auswahl, Begründungen, die sowohl aktualisieren als auch den überzeitlichen Wert klassischer Traditionen aufzeigen sollten. Hier liegen die ersten Leistungen der Verlage Hanser und Winkler. 16 Verdeutlicht wurde das Anknüpfen an eine frühere Tradition, die zwischenzeitlich unterbrochen oder verfälscht worden war, sowie der Versuch einer neuen, von den vorausgegangenen Ereignissen unbelasteten Vergegenwärtigung durch die Tatsache, daß manche der damaligen Ausgaben von zeitgenössischen Schriftstellern herausgegeben wurden (so im Hanser Verlag Eichendorff von Eugen Roth, Mörike von Georg Britting, Brentano von Curt Hohoff, Hebel von Paul Alverdes). 17 Die in den fünfziger Jahren einsetzende Tendenz zur Wissenschaftlichkeit führte dazu, daß, sofern nicht historisch-kritische Ausgaben vorlagen, vielfach anhand der Originalausgaben ein bis in die Interpunktion hinein möglichst genauer Text auch für Lese- und Studienausgaben erarbeitet 15 16

17

Witkowski, Textkritik. S. 127 ff. zur Studienausgabe. Vgl. Göpfert: Edition aus der Sicht des Verlags. In: Texte und Varianten. S. 273-283 sowie ders.: Kommentierung von Klassikerausgaben aus der Sicht des Verlags. In: Probleme der Kommentierung. Kolloquien der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Frankfurt a. M. 1970 und 1972. Referate und Diskussionsbeiträge. Hg. v. Wolfgang Frühwald, Herbert Kraft und Walter Müller-Seidel. Bonn-Bad Godesberg 1975 ( = Kommission für germanistische Forschung. Mitteilung I). S. 91-103; bes. S. 92ff. S. H.G. Göpfert in .Geschichtlicher Überblick' zu: Der Carl Hanser Verlag 1928-1978. München 1978. S. 26.

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wurde (z. B. in der 2. Auflage der Kleistausgabe Helmut Sembdners von 1961). Im Zuge des Abbaus der textimmanenten Interpretation (des new criticism) und zusammen mit einem intensiver werdenden Interesse am geschichtlichen und sozialhistorischen Umfeld der Texte wurden nun Kommentare nötig, auch der Abdruck von Zeugnissen und Dokumenten, sowie angesichts der sich rasch vervielfachenden Forschungsliteratur bibliographische Hinweise. Hier ist insbesondere auf die Arbeiten Herbert G. Göpferts zu verweisen. In diesen Jahren wurde der im Prinzip noch heute gültige Typus der kombinierten Lese- und Studienausgabe, die den interessierten Laien ebenso wie den Wissenschaftler ansprechen sollte, etabliert.18 Dieser Ausgabentypus sollte die Divergenz aufheben zwischen den historisch-kritischen Editionen gigantischen Ausmaßes und höchst unzureichenden Ausgaben, die lediglich irgendeine lextfassung boten und den sogenannten Laien unterschätzten. Der neue Typus orientiert sich an der Grunderfordernis der Editorik neuerer Texte: der Erarbeitung eines gesicherten, d.h. des vom Autor tatsächlich veröffentlichten und von allen fremden Zutaten gereinigten Textes - und seiner zweckmäßigen, adressatenorientierten Vermittlung. Was Karl-Heinz Hahn und Helmut Holtzhauer 1966 forderten, hat auch für heutige Studienausgaben letztlich noch Gültigkeit: „... ist sie (die Philologie) verpflichtet, alles beiseite zu lassen, was nur Fleiß und nur Genauigkeit und nicht zugleich sinnvoll und brauchbar ist, muß Alexandrinismus nicht als Weg betrachten, der zum Dichterwort führt." 19 Gegen den Steinbruch- oder Rüstkammer-Zuschnitt der .Anhänge* von Editionen spricht sich auch Ulfert Ricklefs aus, um dagegen die Herstellung einer notwendigen „Erkenntnisspannung" 20 zwischen Text und Kommentar zu fordern. Die Lese- und Studienausgabe, unterhalb des Idealfalls einer - erschwinglichen - historisch-kritischen Ausgabe sämtlicher Werke eines Autors, übernahm - und dies auch, wenn eine historisch-kritische Ausgabe vorhanden war - immer mehr die Aufgabe, sowohl den zuverlässigsten greifbaren Text und gültigen Textbestand eines Autors als auch mehr und mehr den der Klassiker insgesamt zu präsentieren. Entsprechend wichtig wurde - und wird weiterhin - die editorische Ausstattung dieses Typus.

18

19

20

Vgl. die von Göpfert 1966 gegebenen Hinweise auf den Charakter der Ausgaben des Carl Hanser Verlags als Leseausgaben, „Interimsausgaben", die keine ,endgültige' Textgestalt geben wollten. Zit. bei Kanzog, Prolegomena. S. 37 f. Kanzog differenziert hier Studienund Leseausgabentypus; Wolfgang Frühwald: Formen und Inhalte des Kommentars wissenschaftlicher Textausgaben. In: Probleme der Kommentierung. S. 9 faßt die Typen zusammen. Karl Heinz Hahn, Helmut Holtzhauer: Wissenschaft auf Abwegen? Zur Edition von Werken der neueren deutschen Literatur. In: Forschen und Bilden Nr. 1 (März 1966). S. 14-22; hier S. 22. Ulfert Ricklefs: Zur Erkenntnisfunktion des literaturwissenschaftlichen Kommentars. In: Probleme der Kommentierung. S. 33-74; hier S. 36.

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Das breitere Publikumsinteresse an textlich genauen und präzis-ausführlich kommentierten Ausgaben ist zuallererst Indiz für eine neue Sicht auf die Geschichte, für ein neues Verhältnis zu Geschichte und Gegenwart. „Historisches Interesse verweist ( . . . ) auf eine breite Suche nach Identifikation, die in der literarischen Deutung und Diagnose vergangener Epochen den Schlüssel zur eigenen finden möchte. Klassiker werden wieder gelesen, weil sie über alle historische Distanz und Fremdheit hinweg mit der ihren zugleich unsere eigene Geschichte aussagen." 21 Der immer stärker werdende Sog von Wissenschaftlichkeit, größere Bandzahlen und höhere Umfange sowie dementsprechend steigende Ladenpreise hatten jedoch auch eine Kehrseite, sie schränkten nicht nur den Leserkreis ein, sondern stabilisierten letztlich auch den vorhandenen konservativen Klassikerkanon. Um ein weiteres Publikum anzusprechen, wurden seit den sechziger Jahren aus dem bestehenden Fundus verschiedener Verlage konsequent Reihen von Einzel- und Auswahlausgaben entwickelt ein Phänomen, das - bis in die jüngste Zeit in verschiedenen Ausprägungen sich zeigend - doch nur scheinbar eine Erweiterung des Klassikerbegriffs darstellt. Ebenso ist die in den siebziger Jahren beginnende Publikation unbekannterer Namen zu werten: blieb doch das selbstverständliche Reagieren der Verlage auf sozio-kulturelle Trends, Tendenzen und Moden, gemessen an der schieren Quantität des Vertriebs traditioneller Klassiker(namen), von marginaler Bedeutung. 22 Die vorhandene Titelvielfalt wie die zahllosen Derivat- oder Verwertungsausgaben einer Standardedition können leicht darüber hinwegtäuschen, daß sie, in einer neopositivistischen Zeit des Sammeins und Sichtens, lediglich die Alibifunktion bekommen haben, die Tatsache einer letztlich doch vorherrschenden engen Perspektive zu verschleiern. Damit wird ein erwachendes Geschichtsbewußtsein durch tatsächliche Begrenzung der Vielfalt der Geschichte wieder eingeschläfert. Der museale Vorrat und die totale kulturkommerzielle Verfügbarkeit der Geschichte tragen in Wahrheit nur zur Tradierung und Stabilisierung der Verhältnisse bei. Die sich hier abzeichnende Scheinliberalität dient überdies nicht nur der Verfestigung eines bestimmten Känons, sondern trägt mittelbar auch durch die schier grenzenlose Facettierung zur literaturpolitischen ,Entschär-

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22

Gottfried Honnefeldcr in der Einleitung zu: Warum Klassiker? Ein Almanach zur Eröffnungsedition der Bibliothek Deutscher Klassiker. Frankfurt a. M. 1985. S. X. Die Verkaufszahlen einzelner Titel innerhalb von Reihen variieren in der Weise stark, daß bekannte Titel, auch wenn Konkurrenzausgaben in größerer Zahl vorhanden sind, sich erstaunlich gut verkaufen. Demgegenüber werden unbekanntere Titel zwar durch Reihenzusammenhänge mitgetragen, bleiben jedoch im Verkauf deutlich hinter bekannteren Namen zurück.

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fung' der klassischen Literatur bei. Die Unsicherheit in der Neubestimmung eines Klassikerkanons, die Unfähigkeit zur Definition hat nicht nur etwas Befreiendes, sondern öffnet auch einer erneuten Willkür und Beliebigkeit in der Publikation und in der Art der Edition die Tore. So stellt eine unkommentierte, bibliophil aufgemachte Ausgabe, beispielsweise von Abraham a Sancta Clara, ebenso wie eine extrem ausfuhrlich kommentierte und mit einer Fülle von Forschungsergebnissen versehene Edition von, sagen wir, Goethes ,Werther', den Leser vor die nämlichen Probleme. Beides führt zur Hilflosigkeit gegenüber einer Literatur, die auf zeitgemäße Vermittlung angewiesen ist. Eine gefahrliche Korrelation von ökonomischem Kalkül und wissenschaftlichem Byzantinismus zeichnet sich hier ab. Denn sowohl das erste wie das zweite Beispiel kennzeichnen einen Neutralisierungsprozeß, der letztlich zum Paradoxon einer .hypertrophen Ausdünnung' des Literaturcharakters der Texte führt. Der berechtigte Wunsch nach einer verfügbaren Vielfalt der Literatur als auch nach zuverlässigen sowie aktuell zugänglichen, gleichermaßen historisch detailliert aufgeschlüsselten Texten eskaliert zum Teil in eine sowohl textlich als auch im Bereich des Kommentars synthetische Figur des Umgangs mit Literatur. Dem korrespondiert auf der anderen Seite eine fast schon kunsthandwerklich zu nennende Produktion auch von kanonabweichenden Texten als Part pour l'art, die die Verlage in Form von sogenannten Geschenkbüchern anbieten und sie damit ihres möglichen kulturkritischen Charakters berauben (hier seien nur als pars pro toto und, um die Bandbreite dieser Ausgaben vor Augen zu führen, die ArnoSchmidt-Bibliothek, die Bibliophilen Taschenbücher, die Artemis-Geschenkbücher und letztlich auch die Manesse-Bibliothek angeführt). Der wissenschaftliche Anspruch einerseits sowie der Zwang zu ökonomischem Kalkül andererseits (Zyniker sprechen von den Klassikern als reinem Verpackungsproblem) stellt die Verlage von Lese- und Studienausgaben vor ein wirtschaftliches und kulturpolitisches Dilemma. Auf der einen Seite sind an diesen Typus inzwischen derart hohe editorische Anforderungen gestellt worden, daß sie in zahlreichen Fällen historisch-kritische Ausgaben ersetzen müssen. Lese- und Studienausgaben sind vielfach zu den maßgeblichen Ausgaben geworden (so bei Fontane, Lichtenberg u.a.). 23 Sie sind keineswegs nur .Ableger' von historisch-kritischen Ausgaben, was sie schließlich auch gar nicht sein können. Daß sie wissenschaftliche Ausgaben, angesichts eingeschränkter Förderungsmittel, teils sogar ersetzen müssen, erhöht nur ihre Bedeutung. Auf der anderen Seite, da die Investitionen für Klassikerausgaben immens hoch sind, stehen auch die traditionellen Verlage vor der Notwen23

Im Ansatz schon Scheibe, Grundprinzipien. S. 11.

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digkeit der Verwertung oder Koproduktion, sei es in eigenen Reihen, sei es im Taschenbuch oder in Buchgemeinschaften. Solche kommerziellen Vorgaben können jedoch zu technisch-editorischen und inhaltlichen Vorentscheidungen führen, die die Textgestalt ebenso wie die Konzeption und den Umfang von Ausgaben betreffen. Da angesichts der beschriebenen Vielfalt auf dem Buchmarkt die Verlage von Lese- und Studienausgaben in der programmatischen Akzentuierung und Selektion immer größere Verantwortung für die aktuelle Rezeption der Klassiker, für die interpretatorische Perspektive auf die klassische Literatur insgesamt tragen, ist gerade der Kombinationstypus entsprechend sorgfaltig weiterzuentwickeln. So haben in ihm textkritische Überlegungen bereits mehr und mehr Raum erhalten. Neben dem Abdruck eines zuverlässigen Lesetextes werden weitere Fassungen und Varianten aufgenommen, teils in synoptischer Parallelisierung, teils lemmatisiert im Kommentar. Ein besonderes Problem stellt die Textkonstitution, die Frage der Textgestalt dar. Heftig umstritten sind die Prinzipien der orthographischen Modernisierung des Textes, der sogenannten Textredaktion, die in der Gefahr steht, zum Element des erwähnten synthetischen Umgangs mit Literatur zu werden. Im besten Falle jedoch soll sie, die Textredaktion, indem sie einen Text nur insoweit modernisiert, als sie den historischen Lautstand und die Eigentümlichkeiten der Schreibweise nicht nivelliert, sowohl die gegebene historische Distanz verdeutlichen als auch zur Aktualisierung der Texte beitragen. Es kann keine Rede davon sein, daß - wie manchmal unterstellt wird 24 - Lese- und Studienausgaben die historische Schreibweise radikal normalisieren, also dem Dudengebrauch anpassen. Nicht Aufhebung der historischen Instanz ist das Ziel einer überlegten Textredaktion, sondern Vermittlung des historischen Textes, auch seines Sprachgewands mit seinen entscheidenden Elementen, an gegenwärtige Leser. Die heute als Fehldeutung erscheinenden Texteingriffe mancher Ausgaben der sechziger Jahre werden in den neuesten Ausgaben nicht wiederholt. Einem stärkeren Bewußtsein, einer größeren Behutsamkeit gegenüber dem Originaltext korrespondiert eine ebenso größer gewordene Skepsis gegenüber der als gleichermaßen historisch variabel begriffenen gegenwärtigen Sprachnorm. Gerade in neuester Zeit werden auch Probleme der Textanordnung und -präsentation von verschiedenen Standpunkten aus neu beantwortet (Gliederung nach Gattungen oder chronologische Anordnung). Hierin arti J kuliert sich eine neu erwachte Sensibilität für interpretierbare Textzusammenhänge, wie sie frühere Leseausgaben nur selten gezeigt haben. Die

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Vgl. Norbert Oellers: Angleichung, Normalisierung, Restitution. Die Editio hybrida als Schicksal der deutschen Klassiker. In: Probleme neugermanistischer Editionen. Hg. v. N. Oellers und Hartmut Steinecke. Berlin 1982 ( = ZfdPh 101. Sonderheft) S. 29-42; bes. S. 32-35.

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weiter vorherrschende Tendenz zur Gesamtausgabe (wobei freilich weder der Werkbegriff noch der der .sämtlichen' Werke bisher gültig definiert werden konnte) ist an vielen Lese- und Studienausgaben zu sehen, von der Vervollständigung bei jeweiligen Neuauflagen über die Ergänzung durch neue Abteilungen oder Supplement-Bände bis zu Konzeptionen, die bei Erfolg einer zunächst in sich geschlossenen Auswahl Erweiterungen in Aussicht stellen. 25 Die Kombinationsausgabe hat sich gegenüber der kommentierten Leseausgabe 26 der sechziger Jahre bereits entschieden gewandelt. Der Anteil der Elemente einer Studienausgabe ist immer größer geworden, wobei diese allerdings ihre Charakteristika ebenfalls verändert hat. Ihr Kennzeichen ist nicht mehr die Exemplarität versus Repräsentivität (die Studienausgabe als ausgreifend kommentierte Einzelausgabe eines Werkes) 27 , sondern die repräsentative Auswahl, wenn nicht die Gesamtaufnahme eines Œuvres, in der Erkenntnis, daß allein der bestimmte Zusammenhang der Textsorten interpretatorisch aussagefahig ist. Auch die Kommentare in Kombinationsausgaben sind selbstverständlich vom höheren Standard betroffen - so werden Neuauflagen zu Neuausgaben, was in manchen Fällen zu einem ökonomisch nur schwer zu verkraftenden und manchmal auch das Leserbedürfnis übersteigenden abundanten Kommentieren führt. Entscheidende Bestandteile des Kommentars einer modernen Lese- und Studienausgabe sind nicht mehr nur allein die Dokumentation von Zeugnissen zur Entstehung und Wirkung der Texte28, die Berücksichtigung von Textkritik, Quellenkritik, Textanalyse und Werkrezeption 29 , sondern darüber hinaus die textbezogene Darstellung von Suprastrukturen bestimmter Werkkomplexe - entgegen der anachronistischen Praxis eines interpretierenden Nachworts - , insbesondere aber die Reflexion über die hermeneutischen Implikationen des Edierens und Kommentierens selbst 30 . Die These vom .Editor als Autor' wird in besonderem Maße in den neuesten Lese- und Studienausgaben reflektiert. In der Konsequenz des zuerst von Witkowski und dann von Göpfert geforderten Abbaus der Ideologie des überzeitlichen Dichterworts soll der „Auswahlphilologe" die Bedingungen der Möglichkeit seines Erkennens, Ordnens und Vermitteins aufzudecken versuchen: „Der bescheiden .hinter' dem Dichtertext verborgene Herausgeber, der sein Subjektsein, seine individuel-

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24 27 28 29 30

So die neuerscheinende Herder-Ausgabe im Hanser Verlag sowie einige Editionen im Deutschen Klassiker Verlag. Zur kommentierten Leseausgabe vgl. Göpfert, Kommentierung. S. 91-103; bes. 92-99. Vgl. Kanzog, Prolegomena. S. 32. Vgl. Kanzog, Prolegomena. S. 29 ff. Vgl. Frühwald, Formen und Inhalte. S. 13 f. Bereits die Titelgebung der Editionszusätze (.Anhang' oder .Kommentar') sowie die Kommentargliederung selbst stellen Interpretationselemente dar.

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len, falschen, richtigen, wahrheitssuchenden Entscheidung aus Akkuratesse nicht durchschaubar machen will (weil er es nicht gelernt hat), ist ein irreführendes Image, das vom Markt muß." 31 Kunstwerk wie Herausgeber sind als gleichermaßen nicht-autonom erkannt; beides hat eine Edition zu berücksichtigen, die als angemessene Vergegenwärtigung und Vermittlung historischer Texte begriffen werden soll 32 .

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Klaus Briegleb: Der Editor als Autor. In: Texte und Varianten. S. 91-116; hier S. 114. S. 116 faßt Briegleb seine Ausfuhrungen zur These zusammen: „Aus der doppelten, sozialphilologischen Kompetenz des historisch-kritisch arbeitenden Philologen, aus seiner Bekanntschaft mit den Textbeziehungs- und Sozialbeziehungsstrukturen literarischer Sprache und Sprachanhörung entwickelt die praktische philologische Vernunft, also auch die Auswahlphilologie, ihren Mitsprache-Auftrag in der Gesellschaft. Dabei kann auch wiederum, als konkrete Auftragsdefinition in publizistischer Situation, die Selbstkontrolle des Auswahlphilologen .strukturell richtig' nur als Kontrolle seiner Vermittlungen und Kritik im Rahmen der handelnden Literatur verstanden werden, die ihren zeitgenössischen Redeanspruch mit dem Studium und nicht-fiktiven Entwurf sozialer Sprach- und Verstehenszustände verbindet". - So im Prinzip auch Göpfert, Edition aus der Sicht des Verlags. In: Texte und Varianten. S. 281 f.: „Nüchtern gesagt, weder Texte Wielands noch Jean Pauls z.B. können vom heutigen Leser ohne Kenntnis von Wortbedeutungen, Zitaten, historischen Anspielungen und dergl. voll vergegenwärtigt werden. Dafür haben sich zwei verschiedene Arten von Apparaten ergeben: die eine verzichtet bewußt auf inhaltliche Interpretation, die andere bringt diese bewußt mit ein; die Verfechter der einen Art wollen dem bleibenden Text möglichst wenig subjektive Ansichten zufügen, die von fluktuierenden Zeitströmungen, wissenschaftlichen Schulmeinungen und dergl. abhängig und mithin überholbar sind, die Verfechter der anderen Art wollen dem Leser den Text unter Einbeziehung heutiger Deutungsmöglichkeiten weitgehend zugleich erschließen. Eine Synthese aus beiden Absichten und Möglichkeiten scheint noch nicht gefunden (selbst in historisch-kritischen Ausgaben stehen diese beiden Typen noch einander gegenüber). Stellt die eine höhere Anforderungen an den Leser, so kommt die andere seinen gegenwärtigen, damit aber auch seinen wechselnden Wünschen stärker entgegen. Läßt sich hieraus eine soziologische Differenzierung der Leserschichten, an die sich beide Arten wenden, herauslesen? Wendet sich der eine Typ tatsächlich an breitere Kreise, verengt sich der andere zum Fachbuch für Literarhistoriker?". Nach dieser Konstatierung einer noch vorhandenen Dichotomie beschreibt Göpfert die wichtigste Konsequenz aus einer möglichen Synthese: „Gelänge es, die Ansprüche beider Ausgaben in einem Typ zu vereinigen, so wäre die ärgerliche und im Grunde widernatürliche Trennung in Ausgaben vorwiegend für den .genießenden' und vorwiegend für den wissenschaftlich arbeitenden Leser beseitigt." - Vgl. auch Erhard Weidl: Das Elend der Editionstechnik. In: Edition und Wirkung. Hg. v. Wolfgang Haubrichs ( = Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. J g . 5. Heft 19/20). Göttingen 1975. S. 191-199; bes. S. 195 f. - Maßgebliche Strukturhinweise zum Kommentar von modernen Studienausgaben, der Kombination aus Lese- und traditioneller Studienausgabe, gibt Jochen Schmidt: Die Kommentierung von Studienausgaben. Aufgaben und Probleme. In: Probleme der Kommentierung. S. 75-89; bes. S. 98 ff. Vgl. die Ausführungen von Norbert Oellers: Probleme der Briefkommentierung. In: Probleme der Brief-Edition. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Tutzing 1975. Referate und Diskussionsbeiträge. Hg. v. Wolfgang Frühwald, Hans-Joachim Mähl und Walter Müller-Seidel ( = Kommission für germanistische Forschung. Mitteilung II). Bonn-Bad Godesberg 1976. S. 105-123. - Sowie ders. über .Aspekte der Rezeptionsforschung'. In: Edition und Wirkung. S. 68-81; bes. S. 68 f.

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Sowohl die Editoren als auch die Verlage sollten sich des besonderen Stellenwerts und der steigenden Bedeutung des beschriebenen neuen Typus der kombinierten Lese- und Studienausgabe bewußt werden. Dies betrifft nicht nur die genannten Charakteristika, sondern auch die Marktbedingungen, deren verschiedene Faktoren wie Auflagenhöhe, Ladenpreis, Adressaten und die auch hiervon abhängige editorische und äußere Gestalt einer Ausgabe interpretatorische Funktionen besitzen. Das wirtschaftlich-kulturpolitische Dilemma, vor dem die Verlage von Lese- und Studienausgaben stehen (langsamer Umsatz und immer schnelleres .Veralten' von Textfassungen und Kommentaren einerseits33 sowie die Aufgabe der Vermittlung und Kanonerweiterung andererseits) ist meines Erachtens lösbar. Erstens sind inzwischen die technischen Voraussetzungen für neue Verwertungssysteme gegeben, die, ohne einschneidende Konzeptionsvorgaben34 für die Originaleditionen, eine neue literaturpolitische Perspektive eröffnen. Die weitere Verbreitung und ständige, kostenreduzierte Verbesserung von Ausgaben einzelner Texte, von Textgruppen oder Gesamtwerken mit zugehörigen Kommentaren wird möglich. Was den engen Klassikerkanon betrifft, so gewinnt endlich der Bibliotheksgedanke neue und erhöhte Bedeutung, der es erlaubt, um einen Kernbestand der großen Namen gleichzeitig, Entdeckungen' - und dies im Rahmen einer Kombinationsausgabe - zu machen und damit einem erweiterten Literatur- und Klassikerbegriff Raum zu schaffen. Nicht die vorschnelle Aktualisierung oder die Konstruktion einer Vorläuferschaft35 kann zu einer angemessenen Vergegenwärtigung und Kanonerweiterung führen. Diese ist heute nicht mehr allein über den einzelnen Autor und sein Werk zu leisten, sondern vor allem über den historischen Zusammenhang und die Traditionen, in denen die Autoren selbst standen. Denn erst als literarische und kulturelle Landschaft, im synchronen und diachronen System sind Geschichte und Literaturgeschichte begreifbar, verstehbar als Grundlage der eigenen Gegenwart. Man kann die Klassiker als lebendige Vergangenheit nur adäquat vergegenwärtigen, indem man sie in ihrem eigenen kulturgeschichtlichen Kontext präsentiert.

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Galt i960 noch eine Alterungszeit von etwa 80 Jahren für den Text und 20 Jahren für den Kommentar, so ist dieser Zeitraum inzwischen auf 50 bzw. 10 Jahre ,geschrumpft*. Anders als bei Buchgemeinschafts- oder läschenbuchkooperationen, die zu rigiden Konzeptionsvorgaben führen können. Zum Erbe-Begriff in der DDR vgl. u.a. Karl Robert Mandelkow: Die literarische und kulturpolitische Bedeutung des Erbes. In: Hansers Sozialgeschichte der Deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. v. Rolf Grimminger. Bd. 11: Die Literatur der DDR. Hg. v. Hans-Jürgen Schmitt. S. 78-119; bes. S. 91, 93.

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Überdies scheint es nötig, ebenso wie die Forderung nach „Einheitlichkeit in der Begriffssprache" 36 historisch-kritischer Editionen seit langem besteht, zwischen Editoren und Verlagen Einigung über eine benutzerfreundliche homogene Struktur von Lese- und Studienausgaben zu erzielen. Die vorstehenden Überlegungen sollten lediglich das Bewußtsein schärfen für die kulturpolitische Verantwortung, die Klassikerverlage und Editoren wahrzunehmen haben.

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Vgl. Gunter Martens: Textdynamik und Edition. Überlegungen zur Bedeutung und Darstellung variierender Textstufen. In: Texte und Varianten. S. 165-201; bes. S. 166.

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SCHLAFFER

(Stuttgart)

Ursprung, Ende und Fortgang der Interpretation Kein anderes Gebiet der Literaturwissenschaft ist so fragwürdig geworden wie das, in dem sie lange ihre Mitte gesehen hatte: die Interpretation der Werke. Ich möchte das Dilemma, in das Praxis und Theorie der Interpretation geraten sind, durch die Einsicht in Genese und Verfall dieser philologischen Aufgabe erhellen - nicht ganz ohne Hoffnung, daß der Rückblick auf den Weg den Blick für den Ausweg schärft. Klar ist eine Aufgabe, wenn sie sich zum ersten Mal stellt. Will August Wilhelm Schlegel die deutschen Leser mit Dantes „Göttlicher Komödie" vertraut machen, so kennt und nennt er die Hindernissse, die er beseitigen, und die Hilfen, die er geben muß, um ein Werk zu verstehen, das nicht zum Kanon klassischer Lektüre gehört. Zunächst gelte es, die Vorurteile einer angeblichen aufgeklärten Kritik aufzulösen, die „einen dürren Scheiterhaufen aus moralischen oder ästhetischen Regeln" bereithalte, um diese Dichtung des dunklen Mittelalters wie einen Häretiker zu verbrennen. Aus der Abwehr einer solchen Verurteilung durch den zeitgenössischen Geschmack zieht die vermittelnde Tätigkeit des Übersetzers und Interpreten Schlegel das Pathos historischer Gerechtigkeit. Verstehen, d. h. „in die Zusammensetzung eines fremden Wesens eindringen, es erkennen, wie es ist, belauschen, wie es wurde", erfordert desto mehr Mühe, je fremder das Werk durch den historischen Abstand geworden ist. „In unserem Zeitalter ist Dante selbst seinen Landsleuten ( . . . ) wenig bekannt. Seine Dunkelheit wird ihnen immer undurchdringlicher, seine Sprache fremder, der männliche Klang seiner Verse rauher und barbarischer." 1 Ehe er Dantes halb verschollenes Werk in die Gegenwart zurückruft, eröffnet August Wilhelm Schlegel einen Einblick in Dantes gänzlich untergegangene „Welt", in den inneren Zustand der florentinischen Republik, die Parteikämpfe Italiens, den Charakter der damaligen Theologie, die literarischen Traditionen und poetischen Innovationen des 13. Jahrhunderts. Seinem Ziel, die Divina Comedia besser zu verstehen, sind solche Vorkenntnisse nicht äußerlich, denn sie tragen dazu bei, befremdliche, ja abstoßende Züge an ihr historisch einsichtig, sogar ästhetisch genießbar zu machen. Ich gebe ein Beispiel: „Daß Dante so häufig lateinisch in seine Gedichte

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August Wilhelm Schlegel, Dante. Über die Göttliche Komödie (1791), in: A. W. S., Kritische Schriften und Briefe, hg. von Edgar Lohner, Bd. 1, Stuttgart 1962, S. 67 f.

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mischt, gibt manchen Stellen für uns einen komischen Anstrich; bei seinen Zeitgenossen mußte es einen ganz anderen Eindruck machen. Nicht nur waren damals die beiden Sprachen einander noch näher, und ihre Grenzen weniger bestimmt gezogen als jetzt, sondern das Lateinische schien auch mehr Würde zu haben als das Italienische, welches eben daher den Namen lingua volgare erhielt, weil jenes die Sprache der Gelehrten, der Höfe und endlich der Kirche und des Gottesdienstes war. Ein Gedicht so heiligen Inhalts glaubte also Dante eben durch den Gebrauch des Lateinischen zu adeln. Zudem lag oft in den Worten selbst etwas Geheimnisvolles und Andachtweckendes, welches durch Übertragung in die gewöhnliche Sprache weggefallen wäre." 2 Die Aufgabe, die sich Schlegel stellt, teilt er mit der historischen Philologie des 18. Jahrhunderts, deren Schüler - speziell der Heynes und Herders - er war: das Unbekannte soll bekannt, das Mißverstandene verstanden, das Vergangene gegenwärtig werden. Deshalb bildet die Arbeit des Philologen eine Opposition und Kompensation des aktuellen Literaturbetriebs: sie sorgt sich um das, was nicht ohnehin gelesen wird. Es leuchtet daher ein, daß die neueren Philologien mit der Erforschung der unbekanntesten Literatur beginnen, der des europäischen Mittelalters. 3 Um die abgelegenen, aber bedeutenden Werke dem Vergessen und Verkennen zu entwinden, geht solche philologische Rettung jedoch nicht den heute üblichen Weg der Aktualisierung, d. h. des bequemen Wiederfindens aktueller Meinungen im Früheren. Historisches Verstehen versucht vielmehr eine Vergegenwärtigung des Vergangenen, die das zeitgenössische Bewußtsein nicht verdoppelt, sondern erweitert. Alle Regeln des Verstehens, soweit sie formuliert sind, gehen nur auf den einen Zweck, die ursprüngliche Individualität vom verzerrenden Zugriff späterer Verwendungen und aktueller Vorurteile zu befreien. Herder fordert vom Interpreten der Psalmen: „Den Empfindungen, die in den Psalmen herrschen, trete man weder als Feind entgegen, noch als blinder Vertheidiger vor: sie sind Charakterzüge einzelner Menschen, und müssen als solche erklärt werden, ohne daß man sie sogleich als Muster heiliger Empfindungen in alle Welt verschwemmen dörfte. David hatte seine Affekten und Sorgen als Flüchtling und als König: wir sind keins von beiden, dörfen also weder Feinde verwünschen, die wir nicht haben, noch gegen sie als Sieger großthun; aber verstehen und schät-

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Ebd., S. 86 f. Allerdings konnte es schon damals notwendig werden, selbst zeitgenössische Werke durch eine verstehende Kritik zu retten, wie sie August Wilhelm Schlegel an „Hermann und Dorothea", Friedrich Schlegel an „Wilhelm Meisters Lehrjahren" unternehmen. Es hatte sich nämlich am Ende des 18. Jahrhunderts das Bildungsniveau der Leser wie der Autoren so stark differenziert, daß anspruchsvolle Dichtung, wie die Goethes, dem richtigen Verständnis ähnliche Schwierigkeiten bereitete wie längst vergangene Literatur.

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zen müssen wir diese Empfindungen lernen." 4 Das fremde Werk soll also, auch wenn es zum eigenen wird, eine fremde Erfahrung vermitteln, so daß selbst der historische Unterschied einen Bestandteil ästhetischer Attraktion bildet. 5 Solche hermeneutischen Grundsätze, wie Herder sie aufstellt, wie Schlegel sie befolgt, sind uns so geläufig geworden - obwohl wir sie nicht immer beachten - , daß wir leicht vergessen, welcher Energie zur Negation es bedurfte, um ihnen Geltung zu verschaffen. Herder liest einen biblischen Text, die Psalmen Davids, ohne die Vorgaben der theologischen Tradition zu respektieren. Solange die Bibel das Buch schlechthin war - weil als einziges göttlich inspiriert - , mußte es die Wahrheit für alle Zeiten, für jedes Leben enthalten. Um diesem Anspruch zu genügen, übernahm die christliche Exegese aus der Homer-Deutung das Verfahren der Allegorese, das hinter dem schlichten Wortlaut geheime, den Weltsinn enträtselnde und deshalb für jedermann bedeutsame Botschaften zu entdecken gebot. Obgleich Luther die allegorische Auslegung zurückgewiesen hatte, sicherte sich die protestantische Theologie weiterhin die Privilegien einer hermeneutica sacra. Damit grenzte sie sich von der hermeneutica profana der Philologen ab und unterdrückte lange die Fragen nach Genese, Textqualität und historischer Umgebung der Hl. Schrift. - Diese Reservate, von der Bibelkritik der Aufklärung angefochten, gibt Herder preis. Er erklärt das Alte Testament zum Buch unter Büchern; 6 es ist „Ebräische Poesie". Historisches Verstehen hindert Texte daran, sich durch normative und applikative Verwendung „in alle Welt verschwemmen" zu lassen; statt dessen will es dem „bestimmten Einzelnen" (Schleiermacher) an ihnen gerecht werden. 7 In der Mitte des 18. Jahrhunderts wird erstmals gefordert, den Johann Gottfried Herder, Vom Geist der Ebräischen Poesie, T. 2 (1783), in: H., Sämtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Bd. 12, Berlin 1880, S. 209. 5 Darin sah bereits Bodmer den Reiz eines Studiums mittelhochdeutscher Poesie: „Was uns diese Gedichte vornehmlich empfiehlt, ist das Vergnügen, das wir haben, in denselben die Zeitkürzungen unsrer Väter, die vor 600 Jahren gelebt haben, zu genießen und mit ihnen in ihrer Sinnes- und Geistesart zu denken." (Von den Gedichten Twein [sie!] und Tristran, Deutsches Museum, April 1780, S. 345). 6 Mit hermeneutischen Argumenten kritisiert Schleiermacher die hermeneutische Sonderstellung der Bibel, jenes „allgemeinen Bildungsbuches", „aus welchem alles mußte genommen werden." Er widerlegt die Annahme, die Hl. Schriften seien inspiriert und daher an „die ganze Christenheit" gerichtet gewesen, durch den Hinweis auf ihre ursprünglichen Adressaten: „sie sind ja alle an bestimmte Menschen gerichtet und konnten auch in Zukunft nicht richtig verstanden werden, wenn sie von diesen nicht waren richtig verstanden worden. Diese konnte aber nichts anderes als das bestimmte Einzelne darin suchen wollen, weil sich für sie die Totalität aus der Menge der Einzelheiten ergeben mußte. Also müssen wir sie ebenso auslegen und deshalb annehmen, daß, wenn auch die Vecfasser tote Werkzeuge gewesen wären, der heilige Geist durch sie doch nur könne geredet haben, so wie sie selbst würden geredet haben." (F. D. E. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, hg. von Manfred Frank, Frankfurt 1977, S. 86 f.). 7 In der Verteidigung des „bestimmten Einzelnen" liegt der Grund für die im 18. Jahrhundert

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„nexus" des Einzelwerks, seine distinkte Ganzheit und Einheit zu begreifen. 8 Einzelwerke müssen in einer Vielzahl existieren und trotz der Unterschiede der Zeiten und Gesinnungen im Bewußtsein des Interpreten liberal nebeneinander leben. Die Entstehung einer uneingeschränkten Hermeneutik von Weltliteratur setzt voraus, daß die Ausnahmestellung der einen heiligen Schrift wie der wenigen klassischen Schriften beseitigt wird - was Herder bei der historischen Deutung der Psalmen und A . W . Schlegel bei der historischen Rettung der „Göttlichen Komödie" als ihre Absicht erklären. Für das Eine Buch gab es die Exegese, für die klassischen Bücher die Kommentare, erst von vielen Büchern gibt es Interpretationen im modernen Sinne. Applikation und Imitation werden unmöglich, sobald die Pluralität der literarischen Welten erkannt und anerkannt ist. Keine andere Art von Wiederholung erlaubt sie als die imaginäre Aneignung durch Interpretation. Allein schon deshalb muß solche Aneignung imaginär bleiben, weil der historische Blick an den fremd gewordenen Texten die Formbedingtheit der Inhalte bemerkt, was deren Übernahme als geglaubter und gelebter Sinn ausschließt. Einer universal erweiterten Hermeneutik, die aufklärende Kritik mit historischem Verstehen verbindet, sind alle Werke gleich nah und fern, gültig und ungültig, geschichtlich und fiktiv. Der Akt des Verstehens rückt sie von der unmittelbaren Lebenspraxis ab und gewährt ihnen zugleich eine neue mittelbare Bedeutung: außer Kraft gesetzte und dadurch ästhetisch gewordene Lebens- und Weltbilder für die erinnernde Phantasie zu gewinnen. Es kann nicht verwundern, daß der Ursprung der Interpretation im eigentlichen Sinne im 18. Jahrhundert liegt, in dem Jahrhundert, das durch die verstärkte Erkundung anderer Kulturen - in der geographischen Ferne, in der geschichtlichen Frühe, in der sozialen Tiefe - Erfahrungen von Fremdem macht, die weder durch Tradition noch durch Negation in die eigene Lebenswelt zu integrieren sind. Verstehen versucht, diesen real unwiederholbaren Welten einen virtuell bedeutungsvollen Platz in der unabschließbaren Geschichte des Menschenmöglichen einzuräumen. Interpretation entsteht im Zeitalter der Vernunft. Sie ist die rationale Rede vom Irrationalen. Sie entmächtigt das Unverständliche, Suggestive - das, ernst genommen, Wahnsinn wäre oder auslösen müßte - und macht es

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zunehmende Neigung zur biographischen Interpretation, wofür der zwischen Christian Gottlob Heyne und Carl Friedrich Cramer geführte Streit über die allegorische oder biographische Deutung eines Klopstock-Gedichts aufschlußreich ist; vgl. Anselm Haverkamp, .Saving the Subject', Poetica 14 (1982), S. 72-79. So von Christian David Jani in der seinem Horaz-Kommentar vorangestellten Einleitung „De Poesi Lyrica, inprimis Horatiana" (1778); vgl. Ernst A. Schmidt, Das Interesse am horazischen Einzelgedicht, in: Geschichte des Textverständnisses am Beispiel von Pindar und Horaz, hg. von Walther Killy, München 1981, S. 21-23.

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unter dem Titel der Fiktion einer erregenden, aber risikolosen Teilnahme zugänglich. Was vor und neben der Interpretation an Formen des Umgangs mit Literatur existiert, hat diese Wendung zur Hermeneutik des Fremden nicht vollzogen, sondern steht im Dienst des traditionellen Lebenssinns oder des aktuellen Lebenszwecks: Klassiker, die - wie etwa Horaz - zitiert werden, benötigen für einige wenige Verse einen Kommentar, aber keine Interpretation; die Hl. Schrift bedarf, um ihre Verbindlichkeit für die Gegenwart zu erweisen, der Applikation und, wo der Wortlaut Schwierigkeiten bereitet, der Allegorese, aber nicht der Interpretation; der Neuerscheinungen des Literaturbetriebs nimmt sich die Rezension an, um dem Publikum die Wahl der Lektüre zu erleichtern, aber nicht die Interpretation. Sie, die Interpretation, ist von solchen Pflichten freigesetzt, um gerade das NichtKlassische, das Nicht-Applizierbare, das Nicht-Aktuelle dem ästhetischen Leser zu vermitteln. Hat sie erst einmal diesen Freiraum zugestanden erhalten, so tendiert Interpretation dazu, ihren Geltungsbereich auszudehnen, ja als einzig legitime Anschauung von Literatur aufzutreten. Dies gelingt, sobald die historische Kritik den Nachweis führt, daß der originale Horaz fremd geworden ist, daß die Bibel überwiegend aus Fiktionen besteht und daß die Werke der lebenden Autoren wie die der Klassiker erst verstanden werden müssen, ehe ein Urteil über sie erlaubt ist. Seit Klopstock reklamieren die Dichter eine der Religion entlehnte und dennoch autonome Würde der Poesie, wodurch rückwirkend auch die Bedeutsamkeit vergangener Dichtung gehoben und ihre sorgfaltigere Vermittlung zur Aufgabe wird. Schließlich befördert sogar die sprunghafte Zunahme der Neuerscheinungen und ihrer Kritik mittelbar das Geschäft des Interpretierens, da die ständige Selbstüberschreitung der Gegenwart das Bewußtsein von Aktualität und Historizität (d.h. vom Fremdwerden des Eigenen) gleichzeitig erzeugt. Historisches Verstehen wertet normative Bücher ab und nicht-normative auf. Dieser Prozeß konnte nur außerhalb normativ interpretierender Institutionen erfolgreich verlaufen, außerhalb von Kirche und Schule, außerhalb auch der kirchlich beaufsichtigten und schulisch organisierten Philologenfakultät alten Stils. Denn Verstehen setzt die Bereitschaft zu zwangloser Verständigung voraus und ist daher auf eine liberale, tolerante, pluralistische Gesellschaft angewiesen, deren Liberalität, Toleranz und Pluralität durch hermeneutische Erfahrungen wiederum gestärkt wird. Welchen sozialen Wandel die verstehende Textinterpretation impliziert, hat Odo Marquard erhellt: „Die Hermeneutik entschärft also - potentiell tödliche - Streitsituationen, indem sie das rechthaberische Textverständnis in das interpretierende verwandelt: in ein Textverständnis, das mit sich reden läßt; und wer mit sich reden läßt, schlägt möglicherweise nicht mehr tot. Aus dem absoluten und rigorosen Text wird der konziliante Text; aus dem total

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engagierten wird der relativ neutralisierte Leser: und der konzilianteste Text ist der literarische Text, der neutralisierteste Leser ist der literarische Leser. Die moderne Genesis der literarischen Hermeneutik ist - als Replik auf den tödlichen Streit um das absolute Verständnis der heiligen Schrift - die Genesis des konzilianten Texts und des neutralisierten Lesers." 9 Den intellektuellen Revolutionen des 18. Jahrhunderts zugehörig, steht am Ursprung der Interpretation keine akademische Disziplin. Zwar hat in Göttingen, der Reformuniversität jener Epoche, die Altphilologie von Gesner über Heyne bis zu Friedrich August Wolf partiell die historischästhetische Perspektive übernommen, die Winckelmann und Herder entworfen hatten, die ersten und bedeutendsten Interpreten älterer Dichtung waren jedoch freie Literaten und Kritiker. Ihnen war der Zwang zur fatalen Entscheidung zwischen akademisch streitenden Methoden noch fremd, in die unser Jahrhundert auseinandergelegt hat, was jene Begründer problemlos vereinigten, sofern es irgend die Erkenntnis der Literatur beförderte. Textkritische, formale, gattungspoetische, biographische, ideen- und sozialgeschichtliche Beobachtungen wirken im historischen Verstehen zusammen, ohne daß die verschiedenen Operationen mit eigenen Begriffen ausstaffiert würden, die dann unvermeidlich in Opposition zueinander geraten, sofern sie nicht als Teildisziplinen auseinandertreten. Diese schöne Unordnung endet, sobald sich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert die neusprachlichen Philologien an den Universitäten etablieren und ihren zunächst zweifelhaften wissenschaftlichen Rang durch Anlehnung an die ältere und strengere Tradition der Altphilologie zu stützen suchen. An methodische Überlegungen gewöhnt, entwickelt vornehmlich sie eine Lehre der Interpretation, obwohl Interpretieren keine genuin altphilologische Leistung darstellt. Praxis wie Theorie der Interpretation sind im 19. Jahrhundert eher integrativ als antagonistisch gesonnen. So bescheidet sich die wichtigste philologische Methodenlehre, die von August Boeckh, damit, die verschiedenen gebräuchlichen Zugänge zur Literatur der Vergangenheit miteinander zu versöhnen, und, soweit möglich, zu systematisieren. Er führt unter den Oberbegriffen des „objectiven" und „subjectiven" Verstehens die „grammatische", „historische", „individuelle" und „genetische Interpretation" auf, 10 gestattet also weiterhin eine Vielfalt von Hinsichten, die sich gegenseitig ergänzen sollen und es dennoch nicht weiter als bis zur „Approximation" an ihren Gegenstand bringen. Deshalb hält Boeckh einen zweiten, nicht genauer explizierbaren Weg des Verstehens offen, den der „Congenialität". 11 Diese ironische Alternative von gründlicher Methodik 9

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Odo Marquard, Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, in: Text und Applikation ( = Poetik und Hermeneutik 9), München 1981, S. 585. August Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, hg. von Ernst Bratuschek, Leipzig 1877, S. 83. Ebd., S. 86.

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und freier Divination wird die Hermeneutik ins 20. Jahrhundert begleiten. Daß literarische Interpretation als akademischer Auftrag Anerkennung gefunden hat, ist ein zweideutiger Erfolg. Denn die wissenschaftliche Umgebung drängt erst die Fragen nach der wissenschaftlichen Zuverlässigkeit des neuen Unternehmens auf. Den zunächst beruhigenden Antworten folgen schnell beunruhigende Einschränkungen. Kann etwas als wissenschaftlich gelten, wenn es sich mit „Approximation" begnügen muß? Kann etwas lehrbar sein, wenn es der „Congenialität" bedarf? Kann es dann überhaupt eine Entscheidung über richtige und falsche Interpretationen geben? In jener unauffälligen skeptischen Passage aus Boeckhs zuversichtlicher „Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften" zeichnet sich eine Verlegenheit ab, die die weitere Theoriegeschichte der Interpretation bestimmt. Um dieser Verlegenheit zu entgehen, propagiert die philologische Methodendiskussion zwei einander entgegengesetzte Auswege, die beide szientifischen Anforderungen genügen sollen: 1. den Versuch, endlich die eine strenge, unbeirrbare Methode der Interpretation zu finden, die über bloße „Approximation" hinaus zur Gewißheit gelangt; 2. den Verzicht auf den Anspruch, durch Interpretieren sichere Resultate zu erhalten - denn „Congenialität" ist nur ein spottender Euphemismus für die Unüberprüfbarkeit des Verhältnisses zwischen dem Interpreten und dem Text. Aber selbst diesem enttäuschenden Befund waren schließlich - und damit gelangen wir in die jüngste Zeit - hoffnungsvolle Aspekte abzugewinnen. Wenn es keine nachvollziehbare Methode der Interpretation gibt, so darf man erstens vermuten, daß die Texte selbst nicht auf eindeutige Interpretierbarkeit hin, angelegt sind, sondern Leerstellen für variable Auffüllungen darbieten, und zweitens lassen sich immerhin die historischen Abfolgen der Interpretationen beschreiben, die dann allerdings zu bloßen „Rezeptionen" herabgestimmt werden, ohne daß sich dabei die Äußerungen des professionellen Interpreten vor denen eines gewöhnlichen Lesers oder eines späteren weiterdichtenden Autors auszeichneten. - Nahe liegt dem Ursprung der Interpretation ihr logisches Ende - auch wenn fast zweihundert Jahre nötig sind, bis es eine Tatsache der Wissenschaftsgeschichte wird. Verführerisch ist der Zauber radikaler Konzepte. Wenn ich dagegen für eine besonnene Rückkehr zu den Möglichkeiten philologisch-historischen Verstehens plädiere, so muß mein Vorhaben altmodisch und glanzlos wirken, da es an wissenschaftsgeschichtlich bekannten Leistungen festhält und mit kleinen Erkenntnisfortschritten rechnet. Zu der schlagenden, wenngleich nicht treffenden Formel „Wir brauchen keine Hermeneutik, sondern eine Erotik der Kunst", mit der Susan Sontag ihre schlichten Einwände „Against Interpretation" abschließt, werde ich sicherlich nicht die zitable Gegenformel finden. - Das stärkste, weil pragmatische Argument für Interpretation liegt in den Anfangen, die ich erläutert habe: die Entdeckung

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literarischer Welten der Vergangenheit wäre ohne die Anstrengung, sie verständlich und damit erst zugänglich zu machen, gar nicht denkbar gewesen. Wären sie nicht durch historisch verstehende Interpretationen gerettet worden, so wüßten wir nichts von jenen Werken. Jetzt, nachdem wir genügend von ihnen zu wissen glauben, erklären wir Interpretation leichten Herzens für überflüssig. Wenn die ursprüngliche Aufgabe der - methodisch noch nicht peinlich befragten - Interpretation sich damit beschied, Hinführung zum Werk zu sein, so hatte Boeckhs Einsicht in den lediglich approximativen, d.h. ,annähernden' Wert hermeneutischen Bemühens ihren guten Sinn. Sie respektiert eine Grenze. Interpretation verweist auf das Werk, ohne es ersetzen zu wollen. Ihre scharfen Kritiker haben es leicht, da die Abbildung ästhetischer Sinnformen in wissenschaftlicher Begriffssprache immer inadäquat bleiben wird. Anders als mathematische oder linguistische Verfahren besitzt die auf das Werk bezogene Interpretation keine systematisch-logische Struktur, deren Objektivität immanent kontrollierbar wäre; auch deshalb nicht, weil der Aufbau von Kunstwerken - im Unterschied zu dem der Natur, der Sprache und der Gesellschaft - keinen Gesetzen notwendig gehorcht, sondern Korrespondenzen frei wählt. Interpretationen sind bestenfalls plausibel, d. h. mit der ästhetischen Erfahrung des Lesers verträglich. 12 Sie können jedoch diese Erfahrung nicht erübrigen - für die Erotik der Kunst ist weiterhin ihr Liebhaber zuständig. Approximation schließt zwar die Erreichbarkeit totalen, aber nicht die Verbesserbarkeit partiellen Verstehens aus. Wenn die alten Instanzen, die das Ziel der Auslegung vorgeschrieben hatten, entmächtigt sind, fallt der wissenschaftlichen Hermeneutik die Rolle zu, wahrscheinliche von unwahrscheinlichen Interpretationen zu unterscheiden. Gegen den Aktualisierungsdruck von Allegorese und Rezeption sollen die philologischen Prinzipien den Rahmen möglicher Deutung verengen. Zwar garantiert die Bestimmung der grammatischen, historischen, individuellen und generischen Eigenart eines Textes nicht schon per se die Richtigkeit der Interpretation, aber sie verhindert immerhin deren Beliebigkeit. Erst die Vernachlässigung dieser Vorsichtsmaßnahmen ließ beim .Interpretieren* jene Willkür einreißen, die Interpretation überhaupt diskrediert hat.

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So möchte ich die von Heide Göttner, Logik der Interpretation, München 1973, entwickelte These abschwächen: „.Wissenschaftliche Objektivität' ist also in genau dem Grad fur Interpretationen möglich, als die in ihnen vorkommenden Hypothesen Bestätigung finden." (S. 60) Einzelne pointierte Hypothesen - in diesem Fall die Frage, ob Walthers „Nemt, frowe, disen kränz" eine Pastourelle sei oder nicht - sind gewiß empirisch zu entscheiden. Aber die eigentlichen Ansprüche von Interpretationen beginnen erst dort, wo sie dem ganzen Werk gerecht werden wollen und nicht nur ein Einzelproblem, wie das der Gattungszugehörigkeit, zu lösen haben.

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Wenn wir sehen, wie fraglos geschichtliches Denken bei Herder und Schlegel der ästhetischen Rettung vergangener Dichtung dient, wie leicht sich noch für Boeckh die historische Methode philologischer Erkenntnis mit der künstlerischen Autonomie des so erkannten Werks verknüpft, dann möchte man die spätere Geschichte unseres Faches fast tragisch nennen. Denn das Mittel und sein Zweck entzweien sich. Historische Perspektive und ästhetisches Ziel treten als Literaturgeschichte und Werkinterpretation einander feindlich gegenüber. In dem Maß, wie Geschichte zur Leitwissenschaft des 19. Jahrhunderts avancierte, stellten auch die Philologen an der Literatur einseitig den dokumentarischen Charakter heraus und umstellten sie mit historischen Dokumenten. Dem positivierbaren Wissen, also gerade dem, was an und neben den Werken abgestorben war - die Biographie des Autors, die Realien des Stoffs, die Parteiungen des Literaturbetriebs, die Tendenzen der Politik - , widmeten Literaturhistoriker ihren Fleiß. Die Werke versanken wieder unter dem Schutt, der mit ihnen ausgegraben worden war. Da heute unter den Titeln einer Sozial-, Kommunikations-, Funktionsund Wirkungsgeschichte der Literatur diese restlose Historisierung wiederkehrt, durch rigorose Theorien noch unduldsamer geworden, sind Einwände gegen sie kein Anachronismus. Wer die Interpretation der Werke für kein erledigtes oder verfehltes Geschäft ansieht, muß ihren Sonderstatus unter den historischen Erscheinungen rechtfertigen. 13 Ich nenne vier Gründe, weshalb die Werke der Geschichte entgehen, der sie entstammen: 1. Werke sind langfristig vorhanden. Auch wenn der Autor und seine zeitgenössischen Leser gestorben sind, können jene diesen ersten Kommunikationszusammenhang überleben. Für den, der das alte Buch liest, ist es wieder neu. Sein Ort ist nicht das Archiv, sondern die Bibliothek, wo es auf den Abruf durch eine anonyme, noch nach Jahrhunderten existente Öffentlichkeit wartet. Werke sind unsterblich. 2. Wer ein Werk aus der Vergangenheit liest, vergißt den Abstand der Zeiten. Die sinnliche Gewalt ästhetischer Erfahrung zieht auch den späteren Leser in eine phantastische, zeitlose Welt. Verse Waithers von der Vogelweide oder die Gestalt Mignons sind für uns unmittelbarer und intensiver gegenwärtig als die damaligen geschichtlichen Ereignisse und Strukturen. 3. Die Wirkung der Literatur bei den Zeitgenossen und ihr literarischer Wert fallen nicht zusammen. Deshalb kommt die Literaturhistorie, die es vermeiden möchte, Kotzebue und Clauren mehr Raum zu gönnen als Hölderlin und Büchner, um ein ästhetisches Urteil über 13

Vgl. Heinrich Anz, Geschichte und Literaturgeschichte, in: Geist und Zeichen. Fs. Arthur Henkel, Heidelberg 1977, S. 26.

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die Werke nicht herum. Sie muß die reale Rezeption durch eine ideale korrigieren 14 und so entscheiden, was des Gedächtnisses wert ist. 4. Alle Werke sind geschichtlich lokalisiert, aber sie gehen nicht in dieser Umgebung auf. Bereits durch ihre immanenten Formstrukturen (z. B. Metrum und Reim) heben sie sich bewußt als imaginative Synthesen inselhaft aus dem Fluß der Geschichte heraus. Werke sind eine „Unterbrechung der offenen Kontinuitäten des alltäglichen Lebens". 15 Dies soll kein Plädoyer für die Rückkehr zur werkimmanenten Interpretation sein. Sie hat, so berechtigt ihre Opposition gegen eine den Werken äußerliche Literaturgeschichte auch war, die Möglichkeiten von Interpretation zugleich übertrieben und verkürzt. Übertrieben, da sie annahm, das Wesentliche an einem Werk sei intuitiv zu fassen; verkürzt, da sie erklärte, historisch-philologisches Wissen entbehren zu können. Ich möchte an dem berühmtesten Gegenstand der werkimmanenten Interpretation, Mörikes „Auf eine Lampe", zeigen, daß die Vernachlässigung des Wißbaren und die damit einhergehende Neigung zum Tiefsinn ein genaueres Verständnis des Gedichts hintertrieben haben. Auf eine Lampe Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du, An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier, Die Decke des nun fast vergeßnen Lustgemachs. Auf deiner weißen Marmorschale, deren Rand Der Efeukranz von goldengrünem Erz umflicht, Schlingt fröhlich eine Kinderschar den Ringelreihn. Wie reizend alles! lachend, und ein sanfter Geist Des Ernstes doch ergossen um die ganze Form Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein? Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst. An diesem Gedicht demonstrierte Emil Staiger programmatisch seine „Kunst der Interpretation". Bekanntlich hat der letzte Vers eine lange Diskussion mit so illustren Teilnehmern wie Heidegger und Spitzer ausgelöst. Umstritten war, ob „scheint" als lucet oder als videtur zu lesen sei, so daß sich die Deutung des ganzen Gedichts an die Leitbegriffe idealistischer Ästhetik wie Kunst, Schönheit, Ideal, Schein, Spiel anschloß. - Ein anderer Weg hätte näher gelegen. Aus Mayncs Mörike-Kommentar weiß Staiger, daß die Schlußzeile einem Vers aus „Faust II" ähnelt: „Die Schöne bleibt sich selber selig" (V. 7403). Dies sagt Chiron über Helena. Staiger hat wohl 14

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Argumente für die Korrektur von Tradition und Rezeption durch Interpretation trägt vehement vor: Jean Bollack, Über die Voraussetzung wissenschaftlicher Beschäftigung mit Literatur, Wissenschaftskolleg 1982/83, S. 47-66. Karlheinz Stierle, Die Absolutheit des Ästhetischen und seine Geschichtlichkeit, in: Kolloquium Kunst und Philosophie, hg. von Willi Oelmüller, Bd. 2, Paderborn 1983, S. 247.

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versäumt, die Stelle nachzuschlagen; sonst könnte er „die Schöne" nicht als Abstraktum im Sinne von ,die Schönheit' mißverstehen: „wie es der Schöne zumute ist". 16 So kommt ihm gar nicht die Frage, wie es der „Schönen", nämlich Helena, in Mörikes Gedicht zumute ist. Staiger bemerkt auch, daß die Überschrift des Gedichtes an Epigramme der Anthologia Graeca erinnert; die Parallele sieht er in der analogen Situation von „Epigonen", an denen uns „ein zärtlicher Hauch von Resignation" entzücke.17 Doch die Beziehung ist exakter zu bestimmen. In Mörikes „Gedichten" schließt „Auf eine Lampe" eine längere Reihe von Epigrammen im griechischen Stil ab: alle in Distichen, überwiegend Erotika. In der Anthologia Graeca, die Mörike in diesen Jahren las und teilweise übersetzte, sind sämtliche Epigramme auf eine Lampe Erotika: sie gelten der Lampe, die im „Lustgemach" der Geliebten brennt und den Liebesakt beleuchtet. Wer auf den erotischen Zusammenhang zwischen dem gräzisierenden Pseudoepigramm und der aus Fausts Griechenland herbeizitierten Helena aufmerksam geworden ist, wird an der Lampe bestätigende Zeichen entdecken: ihr „Efeukranz" ist dem Dionysos heilig, die „Kinderschar" bilden Eroten, die Begleiter der Venus. Die orgiastischen Götter haben in Erz und Marmor ihre Spur hinterlassen. Allerdings: es ist ein „fast vergeßnes Lustgemach", in dem die Lampe hängt. In dieser konkreten Bedeutung mag man den „zärtlichen Hauch der Resignation" tatsächlich verspüren. Das Erotische, das in diesem Gedicht steckt, ist darin versteckt. An der Sublimierung ins „Kunstgebild" hat Mörike den Unterschied seiner Existenz und seiner Zeit zum griechischen Original dargestellt. Wie ein Kommentar zur „Lampe" lesen sich zwei Epigramme Mörikes, in nächster Nähe zu dem Gedicht stehend und entstanden, in denen er den erotischen Ursprung des ästhetischen Spiels thematisiert. „Unter der Muse/Schutz", heißt es in dem „An eine Sängerin", „enthüllt" diese „den lieblichen Grund ihres Gemütes". Es sind also Amors „ewige Mächte", die „in des Schönen Gestalt" wirken. Weil Helena in ihrem Schein lebt, ist die „schöne Lampe" schön. Die abgeleitete Schönheit der Kunst ist die Statthalterin jener ersten Schönheit, die Eros schuf. Das andere Epigramm, es stammt aus demselben Jahr (1846) wie „Auf eine Lampe", heißt „Keine Rettung": Kunst! o in deine Arme wie gern entflöh ich dem Eros! Doch, du Himmlische, hegst selbst den Verräter im Schoß.

Obgleich ich lediglich einen einzigen Aspekt des Gedichts rekonstruiert habe,18 scheint mir dadurch die Verbesserbarkeit von Interpretationen er16 17 18

Emil Staiger, Die Kunst der Interpretation, Zürich 1955, S. 28. F.bd., S. 29. Es ist nicht sinnvoll, alle überhaupt möglichen Fragen an einen Text zu stellen, wie sie die gängigen Einführungen ins Interpretieren schematisch vorgeben. Vielmehr genügt es, sich um jene besonderen Verstehensschwierigkeiten zu kümmern, die das besondere Werk bereitet.

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wiesen. Man erfahrt mehr über die Immanenz eines Gedichts, wenn man sie überschreitet. Die dabei notwendigen Erkenntnisschritte halten sich im Rahmen von Boeckhs philologisch-historischer Methodologie. Die Behauptung, Interpretationen seien verbesserungsfahig, impliziert die These, Interpretationen ließen sich von Rezeptionen sondern. Denn Rezeptionen sind unverbesserlich. Verstehen oder Mißverstehen wiegen für die Rezeptionsästhetik weniger schwer als die Produktivität neuer Bedeutungen (ein Kriterium, nach dem zweifellos dem Mißverstehen der Vorrang gebührt): „in der fortschreitenden Aisthesis und Auslegung" entfalte das Original „eine Bedeutungsfülle, die den Horizont seiner Entstehung bei weitem übersteigt". 19 Gegen die Annahme, Rezeption und Interpretation seien weder zu unterscheiden noch zu entscheiden, sprechen mehrere Gründe. 20 Ich führe sie auf, da die von Jauß und Iser zuerst vorgetragenen Einwände gegen den Geltungsanspruch von Interpretationen auch in jüngeren literaturwissenschaftlichen Konzepten fortwirken: 1. Es gibt schlichte Irrtümer. Hegel deutet viel in die Blicklosigkeit antiker Statuen hinein, da er nicht wissen könne, daß deren Augen ursprünglich bemalt waren. Hegels Vermutung sagt also nichts über die griechische Plastik, aber sie kann manches über die Wirkung ihres späteren Zustands verraten; zwischen diesen beiden Geltungsbereichen interpretierender Sätze läßt sich unschwer unterscheiden. 2. Rezeption hat nicht die Form des Wissens, sondern die der Erinnerung an Personen und ihre Geschichten, an Bilder und Stimmungen. Sie ist daher nicht unmittelbar und verlustlos in der Alltags- oder Wissenschaftsprosa wiederzugeben. Deshalb dokumentiert das Material, das der Rezeptionsgeschichte vorliegt, nicht wirkliche ästhetische Rezeptionen, vielmehr die Verlegenheit, in welche die Leser geraten, wenn sie ihre Leseerfahrungen im nachhinein an öffentliche Standards und ungefähre Interpretationen anzupassen versuchen. 3. „Bedeutungsfülle" zeigt sich kaum in der Rezeptionsgeschichte literarischer Werke. Nicht Vielfalt, sondern Einfalt des Verständnisses ist das Resultat vermeintlich voraussetzungsloser Lektüre. 4. Die Rezeptionsästhetik behandelt literarische Werke, als handelte es sich um Mythen, d. h. als besäßen sie keinen eindeutigen Wortlaut. Die unbestimmte Gestalt des Mythos erlaubt entgegengesetzte Aus" Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt 1982, S. 89. In seinen Untersuchungen zu einzelnen literarischen Werken differenziert Jauß allerdings zwichen Interpretation, Rezeption und Konkretisation eines Werks. 20 Die folgenden Argumente übernehme ich teilweise aus einem Thesenpapier, das Gisbert Ter-Nedden und ich im Oktober 1979 zum Kolloquium des Fachbereichs Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz vorgelegt haben. - Auch diesen Passauer Vortrag hat G. Ter-Nedden korrigiert und ergänzt.

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legungen und mannigfaltige Aktualisierungen. Dieses Modell mythischer und mythenbildender Freizügigkeit taugt aber nicht, um die Besonderheit literarischer Kultur zu verstehen, die gerade in Absetzung vom mythischen Erzählen entstanden ist und fortschreitend die auktoriale, schriftliche Bestimmtheit eines Werks zum Bestandteil des literarischen Wissens und der ästhetischen Erfahrung gemacht hat. Für Mythen ist die Rezeptionsgeschichte zuständig 21 - wie für literarische Werke die philologische Interpretation. 5. Seine theoretische Rechtfertigung holt sich der Verzicht auf objeki v e Interpretation bei der lebensphilosophischen Hermeneutik von Heidegger bis Gadamer, die die Subjekt-, Vorurteils- und Standortgebundenheit des Interpreten zur letzten Wahrheit erklärte und verklärte. Gleicht dieses Argument nicht einer Logik, die allgemeine Verkehrsregeln für überflüssig erklärt, weil sie so oft von den individuellen Verkehrsteilnehmern verletzt werden? Was es in der Literaturwissenschaft seit den Sechziger Jahren an Neuem gegeben hat, divergiert in Extreme und trifft sich dennoch unter dem Gesichtspunkt der Interpretation darin, daß das Leerstellen- und Rezeptionstheorem der Konstanzer Schule als .interpretierende' Beliebigkeit Praxis wurde. In marxistischen, psychoanalytischen, zuletzt feministischen, grünen und pazifistischen Aktualisierungen hat Interpretation ihr florierendes Ende gefunden. Ihnen allen ist das Verlangen gemeinsam, aus der Dichtung .Wahrheiten' herauszulesen, die heutige Weltbilder bestätigen und heutige Lebenspraxis leiten könnten. Im modernen Gewand nehmen solche Auslegungen wieder den Platz der einstigen Allegorese ein. Interpretation als überprüfbare und fortschreitende Erkenntnis ist aber nur möglich, wenn sie sich dem Dienst an aktuellen Bedürfnissen entzieht und jene Wahrheitsfrage nicht stellt. Ein Rückblick auf den Ursprung der Interpretation mag lehren, was durch diese philologische Bescheidung zu gewinnen ist.

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Darin liegt das methodische Recht von Hans Blumenbergs „Arbeit am Mythos" (Frankfurt 1979).

Kurt

WÖLFEL

(Bonn)

Zur aktuellen Problematik der Interpretation literarischer Werke 1 Der Titel von Heinz Schlaffers Referat über „Ursprung, Ende und Fortgang der Interpretation" zitiert eine paradoxe Sprachfigur, die von weither kommt, nämlich aus dem Mythos, und die in der Literatur ein vielfaltig verzweigtes Leben hat in den Geschichten, die von der Fortdauer eines Totgesagten sprechen - etwa als „Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs". Absichtslos geschieht das gewiß nicht; denn über die Versicherung der .Lebensgläubigkeit' hinaus, die darin enthalten ist, signalisiert diese Titelwahl, worin der Referent die Überlebensfahigkeit der Interpretation gegründet sieht. Darin nämlich, daß sie der Erkenntnis und der Beschreibung eines unerschöpflichen Grundes sich widmet, der in der unvergänglichen Einmaligkeit der literarischen Werke („Werke sind unsterblich") auf immer besondere Weise als deren Gemeinsames zutage tritt. Zur Benennung dieses Grundes taugt der Ausdruck „Reich der Bilder", genauer noch jene Formel, die Mephisto Faust bei dessen Gang zu den Müttern mit auf den Weg gibt: „Gestaltung, Umgestaltung, Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung." Und so mutet Schlaffers Beschreibung des Verhältnisses, in das sich der Interpret - tendenziell damit auch dessen Leser - zu den literarischen Werken setzt, denn auch wie eine Explikation der mephistophelischen Aufforderung an: „Entfliehe dem Entstandnen In der Gebilde losgebundne Reiche! Ergetze dich am längst nicht mehr Vorhandnen; Wie Wolkenzüge schlingt sich das Getreibe, Den Schlüssel schwinge, halte sie vom Leibe!" 1 Ohne diese Bildlichkeit gesprochen - von der ich freilich nicht glaube, daß sie das Gemeinte ins Vage zöge - heißt das: Schlaffers Referat stellt Interpretation als historisch-philologische (und .ikonologische') Erkenntnis der Werke durch wissens- und regelgeleitetes Verstehen dar. Er beschreibt den Ursprung solcher literaturwissenschaftlicher Interpretation als Einholung philologischer Praxis durch den Historismus des späteren 18. Jahrhun1

Goethe, Faust II, V. 6276 fr., zuvor: V. 6287 f.

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derts. Er begegnet der aktuellen Rede vom problematischen, ja dubiosen Geschäft „wissenschaftlicher" Interpretation dadurch, daß er ihre Grenzen anerkennt, ihre Reichweite behauptet, das ihr zukommende Deutungspotential versichert und so ihre Berechtigung nicht nur, sondern auch ihre Unverzichtbarkeit postuliert. Lassen wir Interpretation als ein solches objektivierbares historischphilologisches Verfahren gelten, dann ist Schlaffers Argumentation einsichtig; und wie man in den Zeiten bürgerlicher Ehrbarkeit für die Alltagsethik den Satz parat hatte, Anständigkeit verstehe sich von selbst, so könnte man, von den schlafferschen Thesen aus darauf drängend, daß dergleichen Ethik auch unseren wissenschaftlichen Alltag bestimme, sagen: historisch-philologische Solidität verstehe sich von selbst. Mir scheint, wir wissen, solange wir uns ernsthaft auf diesem Boden bewegen, in den meisten Fällen ja auch recht gut, ob unsere Schritte gesichert sind oder nicht. Wir brauchen dabei das „Gefühl" gar nicht ins Spiel zu bringen, keinen intuitiven Irrationalismus im Sinne von Emil Staigers Schelling-Zitat, daß es zwar einen geistreichen, aber keinen seelenvollen Irrtum gebe. 2 Es ist das „unbestochene, von Vorurteilen freie" philologische Wissen und Gewissen, das uns versichert, ob unsere Deutung ein „Richtiges" faßt, oder ob wir, im Ungefähren umhergetrieben, ein unter gewissen, geschraubten Bedingungen auch mögliches Bedeuten behaupten: ob wir z. B. Goethes Rede von der „verteufelt humanen" „Iphigenie" als eine verstehen dürfen, die sich gegen die Verteufelung humaner Autonomie richtet, wie Rasch das will. 3 Oder, weniger punktuell bezogen, ob wir noch vom Sinnpotential eines literarischen Werkes reden, oder ob wir es zu einer bloßen Enklave des Sinnpotentials gemacht haben, das unsere Fragestellung mitbringt; ob unsere Interpretation darin besteht, daß wir das ABC des Werkes zu buchstabieren lehren, oder darin, das Werk zu zwingen, unser eigenes ABC zu wiederholen. Jene Fälle punktueller Deutungswillkür scheinen mir keinen besonderen Streitwert zu haben. Heikler ist es mit jener interpretatorischen Praxis, bei der eine mikroskopische Scharfaugigkeit um den Preis erkauft wird, daß das Ganze des Werkes aus dem Gesichtskreis verschwindet. Dergleichen scheint mir von bedenklicher Aktualität. Je größer das Kollektiv der Interpreten wird, desto monomanischer gebärdet sich der einzelne, dessen Verhältnis zur Forschungstradition dann an jenen Geisterfahrer erinnert, der die Warnung des Radiosprechers, ein Geisterfahrer halte sich auf der Autobahn auf, mit dem Kommentar begleitet: „Einer? Dutzende!" Schlaffer hat von dem gehandelt, was Interpretation aus der Perspektive ihres Geworden-Seins sei und sein könne. So faßt und behauptet er ihre literaturwissenschaftliche Vernunft. Mein Korreferat geht von der 2 3

Die Kunst der Interpretation, Zürich 1955, S. 15. Wolfdietrich Rasch, Goethes „Iphigenie auf Tauris" als Drama der Autonomie, München 1979.

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aktuellen Praxis der Interpretation aus, deren Zustand, soweit er als problematisch erscheint, ich nicht in solchen Kontroversen wie der zwischen produktions- und rezeptionsgeschichtlicher Betrachtung gründend erachte. Der Abstand zwischen der interpretatorischen Praxis der einen und der anderen Seite ist da nicht so groß, daß beide einander für indiskutabel erklärten. Sie können im Problembereich historisch-philologischen Verstehens verkehren. Wenn sich also in Schlaffers Referat über die Herkunft des problematischen Zustands heutiger Interpretationen wenig Bescheid findet, dann gibt es dafür vor allem zwei Gründe. Der eine besteht darin, daß er die Frage unerörtert gelassen hat, ob und, wenn ja, wie von den literarischen .Werken' der avantgardistischen Moderne, also von Prozessen im Bereich der ästhetischen Produktion selbst aus, die Postulate, die Schlaffers Argumentation und Beschreibung zugrunde liegen, außer Kraft gesetzt worden sind. Der andere ergibt sich daraus, daß Schlaffer seiner Beschreibung der historischen Genese der litcraturwisseiischaftlichen Interpretation einen

Begriff von ihr zugrunde gelegt hat, aus welchem Faktoren ausgegrenzt sind, die in dieser Genese bereits eine Rolle spielen und zwar eine, von der die Sicherheit und Integrität historisch-philologischer Erkenntnis von Anfang an problematisiert wird. Ich versuche, dieses Ausgegrenzte zu benennen und folge zu diesem Zweck Schlaffers Gang zurück ins 18. Jahrhundert. 2 In seiner Bestimmung der Interpretation, die „Hermeneutik des Fremden" zum Zweck seiner imaginativen Aneignung betreibt, zieht Schlaffer eine scharfe Trennungslinie zur Rezension, deren Aufgabe Publikumsberatung angesichts der Fülle neu erscheinender Werke der Literatur sei. Das ist einsichtig und zweckdienlich, deckt aber den historischen Phänomen- und Problembereich nicht ab, sondern partiell zu. Der Schnitt, der Interpretation und Rezension scheidet, mag von chirurgischer Reinheit sein, ist aber auch eine Art von Amputation, insofern nämlich, als damit die weitere Größe außer acht bleibt, von welcher die Rezension nur eine Konkretion neben anderen ist: die literarische Kritik. Ihre Beachtung läßt eine komplexe Beziehung zur Interpretation zutage treten. Sie wird bereits in der simplen Überlegung gegenwärtig, ob nicht - wie das im außerdeutschen Sprachraum selbstverständlich ist - der Begriff des Literaturkritikers den des Interpreten mitumfaßt, Interpretation demnach nicht anders als die Rezension eine Form von Literaturkritik ist. Der historischen Interpretation „fremder" Texte geht zeitlich die Kritik .lebendiger' Werke vorauf, und zwar bereits verstehende, nicht mehr normativ urteilende Kritik. Um zur Verdeutlichung ein historisches Datum zu geben: wenn A. W. Schlegels Aufsatz über „Hermann und Dorothea" eine Interpretation heißen darf, warum dann nicht auch Engels Essay über „Emilia Galotti"?

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Solche Kritik fragt nicht nach den „außer Kraft gesetzten und dadurch ästhetisch gewordenen Lebens- und Weltbildern", sondern ist grundsätzlich auf Aktualität ausgerichtet, versteht das Werk als Rede von und aus meinem Leben und meiner Welt. Daß ihr Verstehen notwendig ist, resultiert daraus, daß sie das Werk wie seinen Autor als Individualität anerkennt und würdigt. Als Individualität ist es ein anderes als ich, als dieses andere ist es mir sowohl mögliches Fremdes als auch mögliches Zugehöriges, und je nach dem Maße vollzogener Identifikation oder Unterscheidung kann die Kritik aneignende oder distanzierende Vermittlung von Werk und Leser sein. Den Raum, in welchem ein solcher Verkehr zwischen der Kritik und den Werken stattfindet, nennen wir literarische Öffentlichkeit. Kanonische Werke haben darin keinen Ort mehr, nur mehr mögliche exemplarische. Auch solche Texte können, nach Odo Marquards Benennung, „konziliant" heißen, d. h. sie dulden andere, differente Texte neben sich. Auch die verstehende Kritik ist „konziliant", indem sie zu unterscheiden weiß zwischen der Entschiedenheit ihrer Stimme, mit der sie einem Werk .Bürgerrecht' in der res publica litteraria zuerkennt oder verweigert, und der Usurpation alleinigen, diktatorischen Stimmrechts (ständiger Vorwurf in der literarischen Polemik der „Kunstrichter" des 18. Jahrhunderts!). Andererseits entspricht solcher Konzilianz durchaus nicht der „neutralisierte Leser" Marquards. Nicht Neutralisierung aller möglichen ästhetischen Erfahrungen im Zeichen der allgemeinen In-Aktualität der ästhetischen Bilder kennzeichnet das literaturkritische Deuten der Werke, sondern engagierte Parteinihme. Denn wenngleich allgemeiner Konsens das ideale Ziel der .republikanisch' verfaßten literarischen Öffentlichkeit ist, so ist doch Fraktionsbildung die Form, die den Verlauf dessen bestimmt, was jeglichem Konsens vorausgehen muß, des Miteinander-Redens. Aktuelles, auf menschheitliche, gesellschaftliche, politische Belange bezogenes Verstehens-Interesse .parteilichen' Charakters trägt und treibt also die kritische Auseinandersetzung mit den Werken und hat sich auch von der Praxis literaturwissenschaftlicher Interpretation nie anders als um den Preis von deren Sterilität abgelöst. Als die Bezugsinstanz verstehender Aneignung und kritischer Vermittlung der Werke begriff das Zeitalter der Aufklärung (noch) ein menschlich-gesellschaftlich Allgemeines: den sensus communis, Gemeinsinn, an welchem jedermann als vernunftfahiges Kulturgeschöpf teilhat. Er versicherte, daß die Sphäre des Ästhetischen, trotz der Anerkennung ihrer Autonomie, sich nicht zu einem selbstreferentiellen System abschloß; und er versicherte damit auch, daß literarische Öffentlichkeit überhaupt sein konnte - im Unterschied zu spezial-wissenschaftlicher Exklusivität. In dieser Öffentlichkeit sind beide, die literarischen Werke und deren kritisch-verstehende Deutung, zu Hause; und bis zum heutigen Tag hat die akademisch gewordene Literaturwissenschaft, so sehr sie sich fachwissenschaftlich .spezialisiert' hat, gerade in ihrer interpretatorischen Praxis die Tendenz nicht aufgegeben, zu einem - wie immer auch beschaffe-

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nen - literarischen, also nicht fachwissenschaftlich kupierten Publikum zu sprechen. (Wenn sich heute das Konzept einer Wissenschaft der Literatur geltend macht, das um der .echten' Wissenschaftlichkeit willen die Rede über Literatur nur mehr als empirisch-statistische, mathematisch-logische, technische etc. erlauben will, und sie dadurch nur mehr für den Spezialwissenschaftler zugänglich macht, dann gehört zu solcher Emigration der Literaturwissenschaft aus dem Gesamtbereich der Literatur folgerichtig die wissenschaftliche Exkommunikation von Literaturkritik und Interpretation. Ein solches Konzept scheint mir freilich aus der Verlegenheit nicht herauszufinden, daß das auf solche Weise gehäufte Wissen immer nur ein instrumentelles bleiben kann, eine Art von Messer, das zu seinem Zweck gelangt, wenn es sich an einem zweiten Messer wetzt. Seine Verwertung findet in den sprichwörtlich gewordenen Nischen statt, die der Betrieb unserer Akademien für das Tun und Treiben seiner spezialwissenschaftlichen Wirte einrichtet.) Daß der gesellschaftlich-institutionelle Charakter von Literatur im „Strukturwandel der Öffentlichkeit" (Habermas) zu einer problematischen Größe geworden ist; daß infolge dessen die heutige Literaturinterpretation die Verlegenheit darüber nicht los wird, was denn gesellschaftlich das Allgemeine sei, aus dem heraus und auf das hin sie ihre Rede führe, ist eine Erfahrung, die jeder Interpret wird teilen können. Unsere Wissenschaft versorgte sich von Anfang an, aus aufklärerischen und romantischen Quellen gespeist, mit Kultur- und Bildungsideen bürgerlich-humanistischer, kosmopolitischer oder nationaler Tinktur. Die Werke interpretierend, bezog sie mehr oder minder unbefangen die Formen und Gehalte der Literatur auf entsprechend geartete Gemeinschaft und Gemeinsamkeit. Wenn der Interpret das hervorbringende und das aufnehmende Subjekt seines Tuns „Wir" nannte, dann hatte er ein kollektives Ganzes im Sinn, wie verschieden auch immer das heißen mochte: wir Bürger, wir Gebildeten als Träger von Sitte, Kultur, Humanität, wir Deutschen, endlich auch: wir nordische Rasse. So ließ sich Literaturwissenschaft zusammen mit Literatur als gesellschaftlich integrierte Institution erachten, gemeinschaftsbezogen. Die „deutsche Katastrophe" hat dem ein Ende gesetzt; und die Bemühung der danach weiterschreibenden oder neubeginnenden Interpreten, sich auf solche Gemeinschaftlichkeit erneut zu beziehen, gewissermaßen auf eine Internationale gebildeter, sittiger Individuen bürgerlichen Gepräges, fand nicht zufallig in einem Schweizer Gelehrten ihren beredesten Sprecher; denn eine Art von Schweizer Asylgemeinschaft war es ja wohl auch, was man meinte. Die akademische Protestbewegung der 60er Jahre brach in dieses gepflegte Gehege von wohlmeinender Unglaubwürdigkeit ein: mit der Berufung auf eine neue kollektive Verbundenheit, deren Zentral- und Leitbegriff „Emanzipation" war. Es ist evident, daß sich das zwar schlecht mit dem Bestehenden vertrug, sehr gut aber mit dem traditionellen Selbstverständnis unserer Wissenschaft als gesellschaftliches Institut.

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Auch in der heute virulenten .Wende' hat diese Öffentlichkeitsorientierung der interpretatorischen Praxis überdauert im - wenn auch meist partialisierten - Weiterleben der Emanzipations-Devise, in der feministischen Literaturkritik, im Wechsel von ökonomischer zu ökologischer, von der Revolutions- zur Friedensthematik. Im übrigen aber wird diese ,Wende', soweit sie nicht schlichtweg Verdrängung gezeitigt hat, durch das Aufkommen einer Art kritischer Interpretation gekennzeichnet, die zu einer realen Öffentlichkeit, ja zu einem gesellschaftlich Allgemeinen, sei es selbst utopischen Charakters, keine Beziehung mehr herzustellen vermag. Das Ich der interpretierenden Rede und sein - idealer - Adressat werden da zu vereinzelten Einzelnen, deren Identität als Subjekte überdies von eher phantasmatischer Beschaffenheit ist, so daß die Interpretation des literarischen Werkes, die, solange sie den Anspruch auf Wahrheitsfahigkeit erhebt, immer auch ein Vorgang der Selbstvergegenständlichung und Selbstkonstituierung des deutenden Subjekts ist, dieses sich nicht einmal mehr als sein eigener münchhausenscher Zopf-Zieher behaupten läßt: der Kopf, an welchem der rettende Zopf zu hängen in der Lage wäre, stellt sich ja gerade als ,missing link' dar. So ist aus dem .Gespräch der Geister', das von der Kritik ehemals in der literarischen Öffentlichkeit geführt wurde, ein .Geistergespräch' geworden, das in einem leeren Raum irrlichternd ein „Irritationspotential" (in das sich das literarische Werk, das ehemals „utopisches Versprechen" war, verkehrt hat) zu erhellen bemüht ist. Von solcher Subjektivitätsproblematik aus öffnet sich der Zugang zu einem zweiten Faktor, der, aus dem 18. Jahrhundert stammend, in die Interpretation literarischer Werke eingeht und sie problematisiert. Ich meine eine Art und Weise der verstehenden Aneignung eines Werkes, die wiederum das Gegenteil von .Neutralität' ist, nämlich Okkupation. Paradigmatisch, und als Extremfall zugleich, kann dafür stehen, was Karl Philipp Moritz im „Anton Reiser" über seinen Umgang mit Werken Goethes und Klingers schreibt. Sie werden ihm nicht Medien gesellschaftlicher Kommunikation, sondern er bezieht sie so auf sich selbst, daß sie ihm als Mittel zur Regulierung des eigenen seelischen Haushalts dienen. Das literarische Werk realisiert sich dabei nach Maßgabe seiner Aktualisierbarkeit für die unmittelbaren psychischen und existentiellen Bedürfnisse des Leser-Ichs. Moritz versteht den Text als eine Rede, in welcher er selbst verstanden wird, deutet ihn als das ihn selbst Bedeutende. Das Werk bringt ihn, der sich in ihm selbst objektivieren kann, zu sich selber. Ein solcher Leser ist wie jener Stotternde, der entdeckt, daß er singend sich ohne Hemmnis auszusprechen und mitzuteilen vermag: im Gesang und Nachgesang des poetischen Werkes, d. h. in dessen imaginativer Einholung, tritt er aus seinem stotternden Dasein heraus in ein neues, reineres Element. Diese Art, sich zum literarischen Werk zu verhalten, ist von individuellem Verstehensinteresse bestimmt. Sie ist, freilich ohne den extrem subjekti-

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vistischen Charakter, den sie bei Moritz hat, von Anfang an in die von Schlaffer beschriebene interpretatorische Praxis mit eingegangen und wirkt z.B. auch dort ein, wo der Abstand zwischen dem Interpreten und dem literarischen Werk dessen Fremdheitscharakter evident sein läßt: was anderes ist es denn, was Winckelmann, Herder, die Romantiker zu Hermeneuten der griechischen, orientalischen, mittelalterlichen Kunst werden läßt, als das Interesse an der ,Lebensfulle', die sie in ihr, im Verhältnis zur eigenen Lebenswelt, erfahren, und nach welcher die Erfahrung des Mangels der eigenen Welt sie verlangen läßt? Sie holen das Ferne und Fremde als Reichtum ein; aber das „Was" dieses Reichtums, die Besonderheit des von ihnen verstehend und deutend Eingeholten, ist doch bestimmt von der Besonderheit jenes Mangels. Die Unentbehrlichkeit dieses individuellen Verstehensinteresses scheint mir evident, wenn anders Interpretation nicht zu der dürren Sache philologischer Betriebsamkeit verkommen soll, deren Bild Nietzsche in „Wir Philologen" drastisch genug gezeichnet hat. Es ist die - entneutralisierende - Energiequelle des Interpreten, Voraussetzung dafür, daß ein Werk überhaupt für ihn bedeutend, damit deutbar, also Gegenstand der Interpretation wird. Freilich macht die Unentbehrlichkeit des individuellen Verstehensinteresses dieses nicht zum zureichenden Grund einer Interpretation. Eine bloß subjektzentrierte, verstehende Aneignung funktionalisiert das Werk in einer Art von Einverleibungsakt, dessen natürliche Folge die Ausscheidung alles Unverdaulichen ist. Eigensinnig sucht die so reduzierte Interpretation nach dem, was dem jeweiligen Verstehensinteresse antwortet, und läßt den Eigen-Sinn des Werkes, d. h. die Organisation des Ensembles seiner Teile zu einem selbstzentrierten Ganzen, außer acht. So wird, was primäre Bedingung dafür ist, daß mir die Augen aufgehen für das Bedeuten eines literarischen Werkes, zugleich auch der Grund für meine Myopie, und die Übereinkunft zwischen individuellem Verstehens- und objektivem Erkenntnisinteresse ist die problematische Aufgabe alles interpretatorischen Bemühens. 3 Die bisher vorgetragenen Bedenken laufen darauf hinaus, den Schein subjektiver Voraussetzungslosigkeit, in welchen Schlaffer den Interpreten literarischer Werke gestellt hat, zwielichtig zu machen, und in der Ursprungsgeschichte der Interpretation bereits die Subjektivitäts- und Aktualitätsbezogenheit zu entdecken, aus welcher die Problematik einer Wissenschaftcharakter beanspruchenden Interpretationspraxis vornehmlich datiert. Der nicht „neutralisierte" Leser rückte dabei in den Fokus meiner Betrachtung. Fragt man nach dem Entwurf von dessen Widerpart, nach der Gegenwart des „neutralisierten Lesers" im Raum oder im Vorfeld der

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Ursprungsgeschichte der Interpretation, dann findet man ihn aufs entschiedenste gerade bei dem Autor vorgestellt, den ich eben noch als Exempel einer subjektivistischen Inbesitznahme der Werke zitiert habe. Moritz hat in seinen kunsttheoretischen Schriften über die Autonomie ästhetischer Gegenstände sein eigenes, in „Anton Reiser" beschriebenes Verhalten zum Kunstwerk als den diametralen Gegensatz des .wahren* ästhetischen Verhaltens verurteilt. „Völlige Uneigennützigkeit des Gemüts", Verzicht auf „jede spezielle Beziehung auf mich", Tilgung aller „Rücksicht auf sich selbst" lauten die Formeln, mit denen er dieses wahre Verhalten, d.h. eines, das der Wahrheit des Werkes innewerden kann, beschreibt. 4 Seinen Grund hat dieses radikal gegenläufige Konzept im Begriff des Kunstwerks als eines Gebildes (mikro-)kosmischen Charakters, eines von immanenter Zweckmäßigkeit geordneten Ganzen, das „den Endzweck und die Absicht seines Daseins in sich selbst hat" 5 . Komplementär zu dieser Übertragung der griechischen Kosmos-Vorstellung auf das Kunstwerk wird dem Betrachter desselben das Verhalten zudiktiert, das die griechische Philosophie als „theoria" beschrieben hat: Anschauung des Ganzen in seiner Harmonie, eine Tätigkeit jenseits aller lebenspraktischen Verrichtungen und Interessen, die höchste aller erreichbaren im menschlichen Dasein. 6 Interpretation eines literarischen Werkes, in den Kontext solcher Kunstmetaphysik gestellt, wäre dann die Rede von der in der Anschauung erfaßten Totalität des Kunstwerks, und davon, wie dieses - nach einer Formulierung Moritz' - „in allen seinen Teilen sich in sich selber" spiegelt 7 . Daß dieses Konzept in die Theorie und Praxis der Interpretation eingegangen ist, liegt auf der Hand. Noch Peter Szondi hat den „Absolutheitscharakter" des Kunstwerks damit begründet, daß es „ein Ganzes, ein Mikrokosmos sein" wolle, und er hat damit das - „freilich problematisch" genannte - Postulat verbunden, „ein Werk solle nur aus sich selbst interpretiert werden": als dieser einzigartige Mikrokosmos ist es „nach eigenem Gesetz" gebildet und nur von ihm aus deutbar. 8 Begriff der Interpretation und Begriff des Kunstwerks fügen sich so zusammen, daß dessen Momente zu den Direktiven jener werden. Die Interpretation stellt das Werk als individuelle Totalität vor, die das „Ganze" (Gesellschaft o. a.) widerspiegelt, und hat die Aufgabe, es in seiner Spiegelbildlichkeit und in seiner Individualität hinsichtlich der Bildinhalte wie der Reflexionsformen zu explizieren. Eine solche Interpretation fordert den „objektiven" Interpreten, wobei objektiv heißen soll: dem Werk dienend. Der Interpret untersteht der Aufgabe, sich nach dem Maße des Werkes < Werke in zwei Bänden, Berlin/Weimar 1976, 1. Bd., S. 166, 206. 5 Ebda, S. 281. 6 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1177 b. 7 a.a.O., S. 281. 8 Schriften, Frankfurt 1978, Bd. 1, S. 276.

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deutend zu bewegen, nicht im Geleit werkfremder Begriffe bzw. Interessen. Er hat den ihm nur vom Werk selbst zuweisbaren Punkt zu finden, von dem aus er mit Herder dem Leser seiner Interpretation sagen kann: Hier stehe, oder Du siehst (vom Werk) nichts als Karikatur. Ein Indikator dafür, daß die heutige Interpretationspraxis solche, mit den Begriffen Ganzheit, Einheit, Individualität verbundenen Bestimmungsmomente nicht mehr gelten läßt, entdeckt sich an der - fast üblich gewordenen - synonymen Verwendung der Vokabeln „Analyse" und „Interpretation"; denn das Tun des Analytikers ist dem des Interpreten gegenläufig. Er zerlegt ein Gebilde in die Bestandteile, aus denen es sich zusammensetzt, führt ein Resultat zurück auf Resultanten allgemeinen Charakters. Er konstatiert also stets nur die Vorfindlichkeit eines außerhalb des gegebenen, individuellen Gegenstands Gewußten in oder an diesem Gegenstand. Sein Erkenntnisobjekt ist nicht das Werk hinsichtlich seiner individuellen Besonderheit und Ganzheit, sondern ein Text hinsichtlich seiner "Ifcil-Elcmciitc, die er auf die Allgemeinheit literarischer, soziologischer, psychologischer, linguistischer oder sonstiger Faktoren bezieht. Es geht mir nicht darum — und es wäre unsinnig - , die literaturwissenschaftliche Zweckdienlichkeit solcher Textanalysen in Frage zu stellen. Was in Frage steht, ist, ob nicht mit der Gleichsetzung von Analyse und Interpretation eine Begriffsvertauschung erfolgt, die sich von einer Entscheidung grundstürzenden Charakters herleitet: der nämlich, die Rede vom literarischen Werk prinzipiell zugunsten der Rede vom Text außer Kraft zu setzen. Es ist nicht mehr nur eine Tendenz heutiger Interpretationspraxis, in diesem Sinn statt Werk-Deutung Textanalyse zu treiben. Die individuelle Einheit des Werkes wird dabei zusammen mit der individuellen Identität seines Autors verabschiedet, es gilt nicht mehr als das von der Einbildungskraft des Dichters Hervorgebrachte, diese nicht mehr als „schaffend" oder „schöpferisch", eher als eine Art Medium, durch dessen Rede hindurch ein Anderes, Nicht-Ich, sich bekundet. Nicht die Interpretation macht das erkennbar, sondern die ,Dechiffrierung' des Textes als einer Zeichenflut, deren .Sender' Gesellschaft, Psyche, Sprache heißt und deren Vorhandensein Herrschaft, Gewalt, Verdrängung etc. bedeutet. Zur Entschlüsselung eines solchen, zur Signallandschaft wechselnder Botschaften gewordenen Textes hat ein Interpret, der nach der Poetizität des Textes oder nach der - als der idealen Einheit des Werkes verstandenen - Intention des Autors fragen wollte, nichts mehr beizutragen. Das Autor-Ich ist abgesetzt, und die dürftige Rolle, die ihm noch zu spielen erlaubt wird, läßt sich recht gut mit der jenes „betrunknen Kerls" vergleichen, den uns Schoppe in Jean Pauls „Titan" vorstellt, wie er „sein Wasser in einen Springbrunnen hineinließ und die ganze Nacht davor stehen blieb, weil er kein Aufhören hörte und mithin alles, was er fort vernahm, auf seine Rechnung schrieb"9. * Jean Paul, Werke, hg. v. N. Miller, München 1966, 3. Bd., S. 767. Es bedarf kaum der

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Es ist ein anderes, ob die Interpretation das literarische Werk als Resultat eines Zusammen-, In-, ja Gegeneinanderwirkens von subjektivem Kunstwillen und solchen Faktoren begreift, die jenseits dieses Willens im Subjekt, in der Sprache bzw. Schrift, im ,Produktionsbereich' Literatur etc. vorgegeben sind; oder ob die Interpretation die Frage nach dem subjektiven Form- und Aussagewillen überhaupt als obsolet beiseite legt. Im letzteren Fall ist Schlaffers Begriff der Interpretation als historisch-philologische Erkenntnis nicht aufgehoben, sondern im Grunde erloschen; denn Philologie selbst ist damit zu Grabe getragen. Kein Logos spricht in den Texten, sondern dessen Antipoden sind die Akteure, denen der Analytiker auf der Spur ist; und zu solcher Spurensuche bedarf es anderer Auskünfte, als die philologisch betriebene Literaturwissenschaft sie zu geben in der Lage ist. Man kann diese Tendenz zur Emigration der Textgenese aus Philologie und Literaturgeschichte an einer Beobachtung gegenwärtiger interpretatorischer Praxis sichtbar machen: Jede Interpretation eines Werkes postuliert implizit - zumindest dann, wenn das Werk eine gewisse Umfanglichkeit hat - eine Hierarchie innerhalb des Gesamttextes, wodurch die einzelnen Textstellen oder -partien unterschiedlich gewichtete Bedeutsamkeit zugewiesen bekommen. Von .Unbeträchtlichem' reicht diese Rangordnung der Teile und Elemente bis zu dirigierenden Schlüsselstellen. In der Deutungstradition bildet sich darüber ein relativer Konsens heraus. Es entsteht eine konventionelle „Lektüre", wie sie im allgemeinen in die Literaturgeschichten aufgenommen und „kanonisiert" wird, und in welcher dann wenige Sätze, Wörter, Bilder des Gesamttextes säulenhaft das ganze Sinn-Gebilde tragen. „Wilhelm Meisters Lehrjahre" können als eklatantes Beispiel dafür dienen. Innovationen innerhalb der Interpretationsgeschichte vollziehen sich als Infragestellung solcher Verfestigungen; Neubestimmungen der Rangordnung erfolgen, eine neue Hierarchie stellt sich her. (Fragwürdig wird der Geltungsanspruch solcher Innovationen übrigens dann, wenn sie die in der alten Deutungskonvention ganz oben stehenden Textstellen nicht nur absetzt, sondern gewissermaßen überhaupt mit Platzverweis straft. Will die neue Lesart Anmerkung, daß auch die als Philologie, Kunst- und Geisteswissenschaft sich verstehende Interpretation, die an der Rede vom Werk als eines, von einem Autor absichtsvoll hergestellten Sinngebildes und Artefakts festhält, die Intention des produzierenden Subjekts nicht als die einzige, das Werk bzw. die Deutung bestimmende Instanz erachtet. Daß der Autor als Interpret seines Werkes keine fraglose Autorität besitzt, ist ein hermeneutischer Gemeinplatz; und es liegt auf der Hand, daß in den meisten Fällen, d.h. wo immer die Werke ohne Kommentar und Deutung des Autors überliefert sind, die Rede von der Intention des Autors eine methodische Hilfsformel ist: den Gebilde-Charakter des Werkes postulierend, spricht der Interpret das an diesem von ihm Erkannte einem produzierenden Subjekt als dessen Form- und Aussagewillen zu. In diesem Sinne meint „Goethe" oder „Kleist" nicht das biographische Ich des Dichters außerhalb seines Gedichts, sondern das ,ideale' Subjekt des Textes/Werkes.

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Interpretation des Werkes sein, dann ist .Aufhebung', nicht Exekution der zuvor dirigierenden Schlüsselstellen geboten.) Problematischen Charakter hatten in der früheren Praxis der Interpretation solche .innovatorische' Deutungen, in denen der Interpret das Werk gewissermaßen auf eine Nadelspitze stellte und von einem einzigen, neuen .Punkt' aus dessen Sinngehalt zu erfassen behauptete. Gegenwärtig ist eine entgegengesetzte Tendenz aktuell, die nämlich, alle im Gesamttext vorfindlichen Elemente aus jeglicher hierarchischen Bezogenheit aufeinander zu entlassen und zu einem anarchischen Kollektiv von Bedeutungsträgern zu machen. Der Text beginnt im Licht einer unabsehbaren Bedeutungsvielfalt zu strahlen und lockt, in einer Art von „gold rush", die Scharen der Interpreten herbei, die sich versprechen, wo immer auch sie zu graben begännen, fündig zu werden. „Anything goes" wäre die Devise dieser Interpretationspraxis - als Ausdruck eines embarras de richesse verstanden. Wie kann es dazu kommen? Die Hierarchisierung der Elemente des Gesamttextes in der traditionellen Interpretation gründet im Postulat einer ästhetischen und ideellen Einheit und Ganzheit des Textes als Werk - in einem Postulat, das selbst dann methodisch regulative Kraft hat, wenn diese „Einheit" oder „Ganzheit" nur als relativ verstanden, ihnen nur ein intentionaler Charakter zugesprochen wird. Sie zu begreifen und zu explizieren war das herkömmliche Geschäft der Werkinterpretation. An deren Stelle tritt nun etwas, das den Namen .Symptomatologie' tragen könnte - wobei vom medizinischen Sinn dieses Wortes das Moment des .Pathologischen' durchaus mit hereinspielt. Die .anarchisch' versammelten Elemente des Gesamttextes gewinnen ihr Bedeuten nicht mehr von einer ideellen Einheit und als individuell verstandenen ästhetischen Ganzheit des Werkes aus bzw. nicht mehr auf sie hin, sondern kraft ihrer Beziehung auf einen - wie immer auch gearteten Signifikanten (oder eine Mehrzahl derselben), der sich durch sie oder mit ihnen signalisiert. Der Text trägt .Merkmale' an sich, er ist durchsetzt von Merkmalen punktuellen Charakters, die, als solche erkannt, weitere Textstellen gleichfalls in ihrer Merkmalhaftigkeit sichtbar werden lassen, so daß schließlich ein ganzes Netz solcher Merkmale den Text überzieht - ein Netz, das noch dadurch erweiterbar wird, daß von den als Merkmalen erkannten Textstellen aus sich Konnotationen entdecken lassen, mit denen im Text nicht Vorhandenes zu einem mitwirkenden Anwesenden befördert wird. Was sich so herstellt, ist nicht mehr die Einheit des Textes als Werk, sondern ein unabsehbares Ensemble vielheitlicher Signifikationen. Ich habe mir nicht vorgesetzt, von dem zu sprechen, was zu diesen Tendenzen geführt habe. Daß wir in ihnen zum einen den Reflex moderner - „avantgardistischer" - Entwicklungen im Bereich der Kunstproduktion vor uns haben, zum anderen die Replik auf aktuelle wissenschaftliche Theoriebildungen, liegt wohl auf der Hand. Meine Fragestellung und Perspektive

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ist bestimmt durch den in Heinz Schlaffers Referat dargelegten Begriff eines Interpretierens, das sich unter die Bedingungen von Literaturwissenschaft als historisch-philologische Disziplin stellt. In den angedeuteten Tendenzen scheinen mir die Geltungsbedingungen dieser Wissenschaft außer Kraft gesetzt zu werden. Sie werden beseitigt wie Barrieren, hinter denen sich ein offener Raum präsentiert, der eine neue Bewegungsfreiheit verspricht. Die historisch-philologische Hermeneutik wird dabei unter das Verdikt gestellt, das im gegenwärtigen Weltzustand nahezu universale Aktualität gewonnen hat: „Nichts geht mehr!" Die positivierende Antwort darauf heißt, oder kann doch auch heißen: „Anything goes!" Verstehen wir beide Sätze zusammen als Äußerungen dessen, was Nietzsche im „Willen zur Macht" als den „Gesamt-Anblick des künftigen Europäers" angekündigt hat: „ein kosmopolitisches Affekt- und Intelligenz-Chaos", dann können wir, in freilich sehr weiträumiger Betrachtungsweise, die heutige Problematik der Interpretation zurückbeziehen auf jene Faktoren, von denen ich im vorausgehenden Teil dieses Referats gesprochen habe: der Interpret trägt seine subjektive Identitätsproblematik in die historischen Texte hinein und macht sie zu deren antwortenden Gegenbildern; die .aufklärende' Kritik in ihrer aktuellen Form decouvriert die ästhetischen Gebilde, an denen sie vor zweihundert Jahren die profanierte, von Mythos und Dogmatik befreite Selbstvergegenwärtigung und -Verständigung einer humanen Gesellschaft erörterte, als Manifestationen fortdauernder Zwänge und verweigert ihnen den Sonderstatus, den sie gegenüber allen anderen Gebilden menschlicher Produktivität zugesprochen bekommen haben. Was als ihre - geistbezogene - ,Form' galt, stellt sich als .Maschine', Produkt verborgener Mechanismen, heraus. Sie sind zu .Kindern der Not' geworden, von denen sie die Ästhetik des deutschen Idealismus einmal emphatisch unterschied, und sie stehen damit nicht mehr als das in Rede, was sie einer „Interpretation der Werke" sind: einmalige, einzigartige Gegenstände ästhetischer Erfahrung.

Friedrich

KITTLER

(Freiburg/Br.)

Literatur und Literaturwissenschaft als Word Processing Literaturwissenschaft arbeitet im selben Medium wie Literatur. Sie ist Diskurs über eine bestimmte Sorte von Diskursen und, im Normalfall, Buch über Bücher. Diese seltsame Nähe, in harten Wissenschaften undenkbar und auch in Kulturwissenschaften nicht allgemein, hat oft genug den methodischen Leitfaden abgegeben. Zumal hermeneutischc Theorien der Literatur setzen auf den Zirkel einer Selbigkeit, die als Geist oder Sprache gleichermaßen Gegenstand und Verfahren, Interpretandum und Interpreta

tion umschließt. Dieser Einschluß wird aber zum Kurzschluß im genauen Maß, wie er als Wahrheit und Methode überhaupt auftritt. „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache", hieß es im gleichnamigen Buch. 1 Einem solchen Universalitätsanspruch von Interpretation steht die einfache Tatsache entgegen, daß alle Diskurse Information sind, aber nicht alle Informationen Diskurs. Wenn Literaturwissenschaft nicht in den Zirkeln und Fallen, in den Autoreferenzen und Tautologien kreisen soll, die ihr unterm Titel Interpretation aufgegeben sind, dann am ehesten im Rückgang auf Materialität oder Medialität ihrer Gegenstände. Seit zweihundert Jahren, als den Leuten eine Gemeinschaft von Literaturinterpreten beschert wurde, steht die Literatur unter allen möglichen Fragestellungen in Rede - nur nicht unter der elementaren, daß ihre Texte eine spezifische Form von Datenverarbeitung unter anderen sind. Diese professionelle Vergeßlichkeit hatte Gründe. Solange kein Film und kein Grammophon, kein Computer und kein Word Processor das unvordenkliche Monopol textueller Datenverarbeitung gebrochen hatte, konnte Literaturwissenschaft die Materialität ihrer Gegenstände in der Tat überspringen, um statt dessen bei Sinn und Bedeutung, bei Inhalt und Form anzusetzen. Das Denken von Dichtern oder auch das Dichten von Denkern beschäftigte die ideengeschichtliche Literaturwissenschaft, bürgerliche Ideologie oder industrielle Revolution die übliche Literatursoziologie - aber für die Technologie von Büchern selber blieben jener Idealismus und dieser Materialismus gleichermaßen blind. Es war dagegen Foucaults entscheidender Schritt, Diskurse zu definieren als Ereignisse von angebbarer Materialität und von begrenzten Effekten 1

Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 'i960, S. 450.

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(nicht etwa von unendlichen wie im franko-amerikanischen Dekonstruktionismus). Insofern ist die Möglichkeit selber von Diskursanalyse strikt synchron mit modernen Medientechnologien. Erst auf dem Hintergrund anderer, nicht textueller Datenflüsse wird es denkbar, daß Rede oder Diskurs nicht der ontologische Ehrentitel oder Besitz der Menschheit ist, sondern - in genauer Umkehrung des aristotelischen Satzes - nur eines von vielen Informationsnetzwerken, die Männer und Frauen in Besitz nehmen können. Die methodischen Annahmen der Diskursanalyse folgen aus diesem Grundsatz. Bei aller Seltsamkeit oder Dunkelheit ermöglichen sie gleichwohl einen fröhlichen Positivismus der Einzeluntersuchungen. Informationsnetze nämlich lassen sich nur analysieren, wenn sie nicht mit den Leuten verwechselt werden, die in sie geraten. Aus einem philosophischen Diskurs, der den Diskurs als Besitz des Menschen definierte (£