Germanistik - Forschungsstand und Perspektiven: Teil 1 Germanistische Sprachwissenschaft, Didaktik der Deutschen Sprache und Literatur [Reprint 2016 ed.] 9783110861501, 9783110100594


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German Pages 691 [692] Year 1985

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Die Geisteswissenschaften in der Hochschulpolitik des letzten Jahrzehnts
Vorträge der Sektionen „Germanistische Sprachwissenschaft“. Sektion A
Sektion A I: Lexikologie und Lexikographie
Lexikologie und Wortgeschichte
Deutsche Wörterbücher - ihre Geschichte und Zukunft
Methodologische Prinzipien der Bedeutungsermittlung und Bedeutungsbeschreibung
Einige Anmerkungen zur heutigen Lexikographie
Zum Verhältnis von germanistischer Lexikologie und Lexikographie
Zur Typologisierung der zweisprachigen Wörterbücher
Sektion A II: Sprachgeschichte
Sprache und Politik im 19./20. Jh.
Gruppensprache und Sprachgeschichte
Zur Entwicklung der Prosasyntax im 15. und 16. Jahrhundert
Wortfamilienforschung als Grundlage einer Bedeutungsgeschichte des deutschen Wortschatzes
Johann Christoph Adelungs und Jacob Grimms Auffassungen von Sprachentstehung und Sprachentwicklung
Wortfamilien im Althochdeutschen
Der sog. modale Infinitiv im Lichte der historischen Wortbildungslehre
Was bedeutet das deutsche Präterium?
Sektion A III: Ortssprachen, Stadtsprachen, Regionalsprachen
Ortssprachen-Analysen, Prinzipien und Probleme
Kommunikation in der Stadt. Bericht aus einem Projekt
Gesprochene Sprache im Ruhrgebiet
Substandard als Regionalsprache
Sektion A IV: Sprachkritik und Sprachbewertung
Zur Einführung
Sprache und Politik
Die Rückkehr der Mythen in die Sprache der Politik
Herrschaft durch Sprache durch Herrschaft über Begriffe
Chancen der Sprachkritik
Was die Wanzen tötet, tötet auch den Popen
„Niederländer, blickt nach dem Osten!“ Die „Nederlandsche Oost-Compagnie“ in der NS-Sprachpolitik
Zur normierenden Rolle der Linguistik
Vom Juristen-Deutsch
Schriftlichkeit und Mündlichkeit – Vereinheitlichung und Verständlichkeit
Glaubwürdigkeit
Argumentation in politisch-parlamentarischer Debatte
Vorträge der Sektionen „Didaktik der deutschen Sprache und Literatur". Sektion D
Sektion D I: Literaturdidaktik
Historisches Wissen oder produktive Vernunft
Historisches Wissen oder produktive Vernunft
Nachspielen oder nachdenken
Szenische Interpretation von Dramentexten
Sektion D II: Sprachdidaktik
Die Funktion der Linguistik für die Ausbildung von Deutschlehrern
Thesen zum Verhältnis zwischen Sprachlernen, Sprachdidaktik und Schriftkultur
Schriftspracherwerb und Schriftsprachlichkeit
Zum Verhältnis von Deutschdidaktik und Bildungssoziologie am Beispiel der kommunikativen (Aufsatz-)Didaktik
Didaktik der deutschen Sprache und Literatur
Die kanonischen deutschen Adhortative im Auslandsdeutschunterricht
Sektion D III: Mediendidaktik
Ergebnisse der Medienforschung in ihrer Bedeutung für den Deutschunterricht
Der jugendliche Leser im Kontext der Medien
,Vertrauenswürdigkeit‘ als dominante Textstruktur in politischen Medientexten
Jugendfilm und produktive Filmanalyse
Theaterkritiken als mediendidaktische Informationsgrundlage
Sektion D IV: Praxis des Deutschunterrichts
Das Wissen der Deutschlehrer, das Wissen der Deutschdidaktiker und das Wissen der Bildungspolitiker
Alfred Schütz und seine Bedeutung für die Deutschdidaktik
Sprachspiele und die didaktische Modellierung von Wissensstrukturen
Wissenschaftsorientiertes Lernen im Sprachunterricht
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Germanistik - Forschungsstand und Perspektiven: Teil 1 Germanistische Sprachwissenschaft, Didaktik der Deutschen Sprache und Literatur [Reprint 2016 ed.]
 9783110861501, 9783110100594

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Germanistik — Forschungsstand und Perspektiven Herausgegeben von Georg Stötzel

GERMANISTIK Forschungsstand und Perspektiven Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984 herausgegeben von Georg Stötzel 1. Teil: Germanistische Sprachwissenschaft Didaktik der Deutschen Sprache und Literatur

w DE

G_ Walter de Gruyter · Berlin · New York 1985

CIP- Kur^titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Germanistik - Forschungsstand und Perspektiven : Vorträge d. Dt. Germanistentages 1984 / hrsg. von Georg Stötzel. Berlin ; New York : de Gruyter NE: Stötzel, Georg [Hrsg.]; Deutscher Germanistentag - ( * )

* Zi- * missi- (*)

p[p(wV)] .umschreiten, durchforschen' p(wV) .weggehen' .hingehen, dahin gelangen' durchgehen; (hin)durchdringen; dahingehen' p(p(wV)) .hindurchziehen' p(wV) .weggehen; vergehen' .fortfahren, ans Ziel gelangen' .vorausgehen' .weggehen; voranschreiten' .vorangehen; hervor-; ver-' (p(p))(wV) .(jemandem) begegnen' .entgegenfahren, -treten' p(wV) ,wandeln; dahingehen; hervor-; geschehen' p-p-(wV) ,sich hineinbegeben; angreifen, er-' p(p(wV)) ,hingehen, aufsuchen' P(wV) .herabsteigen' .weggehen; vergehen' p(p(wV)) .dahingehen' p(wV) .hineingehen' .entfliehen, verlorengehen' .hervor-, weggehen; durchlaufen; erfahren' p(p(wV) .herausfahren' .zergehen' P ( w V ) .fehlgehen, sich vergehen'

hôhfart ist erst in dem frühmittelhochdeutschen Text ,Wessobrunner Glaube und Beichte' überliefert. Vgl. Otto Gröger, Die althochdeutsche und altsächsische Kompositionsfuge, Zürich 1911, S. 356. kir(h)fart, das bei Starck/Wells nicht gebucht wird, war in althochdeutschen Denkmälern nicht zu ermitteln; dasselbe gilt für ubarfartalîgo und ubarfartalmga. furifartâri ist frühmittelhochdeutsch, da erst beim ,Wiener Notker' (vgl. Otto Weinreich, Die Suffixablösung bei .den Nomina agentis während der althochdeutschen Periode, Berlin 1971, S. 201) bezeugt. Die Adverbien der Partizipien werden wie diese den Flexionsformen des zugehörigen Verbs zugeordnet, es sei denn, daß formale und/oder semantische Abweichungen den Ansatz eines selbständigen Wortes erfordern.

Wortfamilien im Althochdeutschen

mitinâhnidarhera3i-samane- (*) ubar- (*) «/"-(+*) binaumbi- (*) untar- * (*) widar(i)- (*) (*) (*) far-betti ? * st. N. 1.1.1 ferien (*) sw.V. missi- * * ubar- (*) * feri-nâwa * sw. F. -scai * st. M. -seif* st. N.

I .mitfahren; (gegen jemanden) verfahren' I .nachfahren, verfolgen' / .hinabsteigen' p(p(wV))/ .herniederfahren' (p(p))(wV)/ .zusammenkommen, aufeinandertreffen' p(wV)/ .durchqueren; überschreiten; -winden' I .auffahren, sich erheben' p(p(wV))/ .hinauffahren, emporsteigen' p(wV)/ .herumgehen; umherziehen' / .zwischen (etwas) gelangen' / ,herausfahren, wegziehen' / .entgegenfahren, -treten; zurückkehren' / .auseinandergehen; vergehen' / .hinzukommen, sich hinbegeben' (wV)(wS)/ .Sänfte, Tragbett' (wV)Vjan/ ,zu Schiff fahren; fortschaffen; steuern' (p(wV))Vjan/ .abweichen, abirren' p((wV)Vjan)/ ,(im Wasser) hinterherfahren' / ,(ein Gewässer) überqueren, übersetzen' / ,mit dem Schiff hinausfahren' ((wV)Vjan)(wSôn/jôn)/ ,Fährschiff ((wV)Vjan)(wS)/ .Fährgeld' /.Fährschiff

1.1.2 fuoren (+*) sw.V. (wV)Vjan/ .führen, bringen' aba- * p((wV)Vjan)/ .wegschaffen' dana- (*) / .wegführen, vertreiben' dara/ .hinführen, -bringen' fir- (*) / .wegführen, hinübertragen; fortgehen' fram- (+) / .vorwärtsführen, fort-; beseitigen' gi- (*) / .zusammentragen, hinführen' ana- * p(p((wV)Vjan))/ ,herzutragen, einführen' fram- * p-p-((wV)Vjan)/ .fortführen; fortschreiten' heimp((wV)Vjan)/ .heimführen' hera/ .(sich) herbegeben' hiñaj .wegführen, -nehmen' in- (*) I ,herbeiführen, -bringen' intI .wegnehmen, entführen' ir- (*) / .wegnehmen, -tragen' p(p((wV)Vjan))/ .vertreiben' mitip((wV)Vjan)/ .mitführen, -ziehen' ubar- * / .hinübertragen' ûfI .hinauftragen'

148

Jochen Splett umbi- (*) û(*) tvidar(+*) (*) fuorótt (*) sw. V.

/ / / / /

((wV)Sô)Vôn/ .nähren, speisen'

1.2.1 far (*) st. Ν. »r- * fara st. F. fora-faro ? * sw. M. ubar- * ferio (*) sw. M. fora- *

fir-faranî ( + ) st. F.

fram-gi- * ir-

.herumtragen, -bewegen' .heraustragen, -führen, vertreiben' .zurückführen' .zerstreuen, vertreiben; zerstören' .herbeiführen, -bringen'

(wV)S/ .Überfahrtstelle, Hafen' p((wV)S) ,Hafen(einfahrt) ' (wV)Sò , Z u g ' (p(wV))San .Vorläufer, Herold' .Übertreter (des Gesetzes)' ((wV)Vjan)Sjan .Fährmann, See-' p(((wV)Vjan)Sjan) .Seemann auf dem Vorschiff ((p(wV))Vpart2)S .Vergangenheit' ((p(wV))Vinf)S .Vergänglichkeit' ((p[-p 2 -](wV))Vinf)S .das Wegziehen, Auswanderung' ((p(wV))Vpart2)S .Erkenntnis' ((p(wV))Vinf)S .Beweisführung'

1.2.2 gi-fuori (*) st. N . ala- * un- ( + *) fuor a ( + * ) st. F. ubarfuora-gebo sw. M.

p((wV)Vjan)S .Aufwand; Vorteil; (p((wV)Vjan)A)S Bequemlichkeit; Haus' p(p((wV)Vjan)S) .gesamtes Gerät, p((p((wV)Vjan)A)S) Hausrat' .Verlust; Unheil; Unbequemlichkeit' (wV)Sò ,Fahrt, Weg; Zug; Nahrung, Speise' P ((wV)SÔ) .Übermaß im Essen' ((w V) Sô)(( wV) San) .Nahrungsspender' (((wV) Sô) + (w V)) San

%eihhan-fuoro * sw.M. ((wS) + ((wV)Vjan))San .Tierkreis'

ana-gi-fuort-t * ((p(p((wV)Vjan)))Vpart2)S .Anfahren (mit Worten)' [st. F.

Wortfamilien im Althochdeutschen

149

1.3.1 ein-far Adj.

(wA)[(wV)A]/ .allein umherziehend'

/aranti * Adj. un- *

((wV)Vpartl)A/ .beweglich' p(((wV)Vpartl)A)/ .unbeweglich'

un-int-faran Adj. ir-faran ? *

p((p(wV))Vpart2)A/ .nicht verlorengegangen' ((p(wV))Vpart2)A/ .(alters)erfahren'

1.3.2 gi-fuori * Adj.

p((wV)Vjan)A/ .günstig, geeignet; bequem' p(p((wV)Vjan)A)/ .unpassend; unbequem'

unscif-fuorenti

* Adj.

scuob- *

((wS)+(((wV)Vjan)Vpartl))A/ .Schiffe tragend, schiffbar' (((wV)Vjôn) + (((wV)Vjan)Vpartl))A/ .Schuppen tragend, schuppig*

un-int-fuorit Adj.

p(p((wV)Vjan)Vpart2)A/ .nicht entzogen'

1.4.2 gi-fuoro (*) Adv.

(p((wV)Vjan)A)AD/ .angemessen, passend; bequem' (p(p((wV)Vjan)A))AD/ .unangemessen'

un- * 2.1.1 ana-far-t-ôn (*) sw. V. *

((p(wV))sS)Vôn. .r (p((wV)sS))Vôn/ ' a n 8 r e l f e n ' p((p P ((3v)!s))îôn)/ - a n g r e i f e n ·

ana-gi- *

, ,

,

anfahren anfahren
AnStUrm' A n S n f P .Weggang' .das H e r a n s t ü r m e n ' ,Feldzug'

,das V o r a u s f a h r e n ' p((wV)sS)' I .das K o m m e n ' (wS)((wV)sS)/ ,Feldzug' I .Himmelfahrt; Himmelsbahn' pftwvjsS)/ I I ((wP)sP)((wV)sS)/ (wSX(wV)sS)/ I

San8' Hinscheiden< .Eintritt; E i n g a n g ' .das H e r a b s t e i g e n ' .Reisegesellschaft' ,Schiff(s)fahrt' . L a u f der S t e r n e '

,Hin

.Überfahrt; das Überschreiten' p((wV)sS)' / .Himmelfahrt' / .Umlauf, Kreis-' (wS)((p(wV))sS) . ä h u h U m l a u f (wS)(p((wV)sS))/ , ) a t l r U C h e r U m l a u t p((wV)sS)/ .Übersiedlung' p((wV)sS)/ ' H i n w e g f ü h r u n g ; Auszug; ( w S ) ( ( w V ) s S ) / .Wasserlauf" ((wV)S)((wV)sS)/ .Reise'

(*)

%uo- * fart-betti * st. N . ú^-fart-buob + fart-man * st. M . -nest * st. Ν . -stat st. F. fart-muodi Adj.

p((wvjsS)/ ' W l e d e r k e h r ; Widerwärtigkeit' / .Zugang, Zufahrt' ((wV)sS)(wS)/ .Sänfte, Tragbett' S l i s ä ' · 8 ^ * ' ^ · ^ " · ) ' ( ( w V ) s S ) ( w S ) / .Wanderer, R e i s e n d e r ' ( ( w V ) s S) (( w V ) s S)/ , R e i s e p r o v i a n t ' / .zugängliche Stelle' ( ( w V ) s S ) ( ( w V ) s A ) / . v o n der R e i s e e r m ü d e t '

Wortfamilien im Althochdeutschen

gi-fer-ti (*) st. N.

151

p((wV)sS)Sja/ ,Weg, Verhalten'

gi-fer-to (*) sw. M.

p((wV)sS)Sjan/ .Gefährte, Begleiter'

gi-fer-ta sw. F.

p((wV)sS)Sjôn/ .Gefährtin, Begleiterin'

fer-t-îgî * st. F.

(((wV)sS)sA)S/ .Passierbarkeit'

ir-far-unga * st. F. 2.2.2 fuor-âri * st. M.

fir-fuor-ida * st. F. in- * Zi-*

untar-fuor-nissa * st. F. gi-fuor-nuss-ida * st. F. fuor-sal * st. Ν.

gi-fuor-sam-î * st. F.

(p(wV))sS/ .Versuch, Experiment' ((wV)Vjan)sS/ .Träger' (p((wV)Vjan))sS/ .Verschwender' (p((wV)Vjan))sS/ .Wegziehen, Auswanderung' I .(invectio) Einführung?; Anfahren (mit Worten)?' I .Verschwendung, Verlust'

(p[(wV)Vjan])sS/ ,(subvectio) Herbeischaffung, Transport' [(p((wV)Vjan))sS]sS H , ; , f (P((wV)V )a n))sS + s S / (((wV)Sô)VônisS, χ τ , , . H m e · ο/ ,Nahrung(smit6V ((wV)So)sS' ' ((p((wV)Vjan)Sja)sA)S/ .Nützlichkeit, Bequemlichkeit'

m-gi-fuor-sam-ida st. F. (p[(p((wV)Vjan)Sja)sA]sS), „ · , p([(p((wV)Vjan)Sja)sA])sS/ · ™ « fuor-mga * st. F. 2.2.3 fur-t (*) st.M.

·, η 1 5

(((wV)So)Vôn)sS/ .belebende Kraft' (wV)sS/ .Furt'

2.3.1 - _ un-ubar-far-lth * Adj. un- * widar- *

un-^uo- ? *

p([p(wV)]sA)/ unüberwindlich' p[(wV)sA]/ .unzugänglich' (p(wV))sA/ .(remeabilis) zurückkehrend' p([p(wV)]sA)/ .unzugänglich'

152

Jochen Splett

duruh-farant-hh

* Adj.

un- * un-ir- *

.undurchdringlich, / unzugänglich, unbegreiflich' ((p(wV))Vpartl )sA/ .vergänglich'

(*?) fer-t-îg

(*) Adj.

eban-

((wV)sS)sA/ .marschbereit; flüchtig; beweglich'

([wA][(wV)sS])sA ((wA)+((wV)sS))sA/ .gleichmäßig umlaufend' ([p[wV]]sS)sA p(([wA][(wV)sS])sA) p(((wA) + ((wV)sS))sA)/ .ungleichmäßig umlaufend' p(([p[wV]]sS)sA) ((p(wV))sS)sA ä lich< (p((wV)sS))sA / ' 8 g ([wA][(wV)sS])sA hoc 6 ([(wA) + (wV)]sS)sA' ' p(((wV)sS)sA), .. .. , P((wV)sS)sa/ . ^ ^ f ^ g ^ H , unwegsam;

unhi»«höh- ( + * ) un- * ^

((p(wV))Vpartl)sA/ .(penetralis) durchdringend' p(((p(wV))Vpartl)sA)/ undurchdringlich, unzugänglich'

*

í ^ v í S I / ^kehrend' (p((wV)sS))sA'

un-Zuo- *

p([(p(wV))sS]sA) p([p((wV)sS)]sA) /

duruh-far-t-lîh

* Adj.

^ Uch« u ,UnZUgangllCtl

([p(wV)]sS)sA , , (p[(wV)sS])sA' > t f e n n b a r

2.3.2 gi-fuor-hafi

* Adj.

dorn-fuor-ig * Adj. korn- * seim- *

(p((wV)Vjan)Sja)sA/ .vorteilhaft, geeignet' ((wS) + ((wV)Vjan))sA/ .dornig, stachlig' / ,korntragend' I ,(flavus) honigtragend?; honigartig?'

gi-fuor-lth*

Adj.

(p((wV)Vjan)Sja)sA. , (p((wV)Vjan)Aja)sA / ' a n 8 e m e s s e n > b e c ï u c m

gi-fuor-sam

* Adj.

(p((wV)Vjan)Sja)sA/ .vorteilhaft, passend, bequem'

Wortfamilien im Althochdeutschen

153

2.4.1 un-duruh-farant-lîhho * (p(((p(wV))Vpartl)sA))AD/ .undurchdringlieh' [Adv. 2.4.2 -

gi-fuor-lîhho * Adv. ((p((wV)Vjan)Sja)sA)AD ((p((wV)Vjan)Aja)sA)AD/ .angemessen, bequem' (p((wV)Vjan)Aja)sAD ([p((wV)Vjan)Sja]sA)AD/ .aufwendig, kostspielig?' gi-fuor-samo * [Adv.

((p((wV)Vjan)Sja)sA)AD/ .angemessen, passend; zur Hand, unmittelbar'

Robert

HINDERUNG

(Bayreuth)

Der sog. modale Infinitiv im Lichte der historischen Wortbildungslehre 1. Einleitung Vor einigen Jahren stand in der „Süddeutschen Zeitung" ein Artikel mit dem Titel „Die Vergangenheit holt uns immer wieder ein."1 Es ging darin u. a. um die Frage, inwieweit die Strukturen des Dritten Reichs, so wie sie sich dem heutigen Beobachter darstellen, für den damaligen Zeitgenossen überhaupt erkennbar gewesen sein konnten. Staaten „mit ganz vergleichbaren Merkmalen" hätten sich doch „durchaus auch als veränderungsfähig' erwiesen. Dem Zeitgenossen von 1938 habe Hitler als „unvergleichlich erfolgreicher Mann" erscheinen müssen. Sind es also nicht, so fragt der Verfasser, Besserwisser, die glauben, „das habe man doch alles vorhersehen und vorherwissen können". Freilich: Alle, auch die Zuschauer seien schuldig geworden, wenn natürlich auch die Mörder und die entsetzten Zeugen des Mordens „nicht vergleichen" seien.2 Der Verfasser, Historiker von BeruP, versucht also, sich in die Lage der damaligen Zeitgenossen zu versetzen und zu erkennen, was damals erkennbar war und was man tun konnte bzw. hätte tun können. Es ist die Frage nach der damals möglichen Politik. Kein Wunder, daß sprachlich dabei das ganze Arsenal der Ausdrücke aufgeboten wird, die die Welt unter dem Gesichtspunkt der Machbarkeit und Veränderbarkeit sieht. Modalverben stellen sich ein, Adjektive auf -bar, -lieh, -fähig und schließlich auch der sog. modale Infinitiv. Damit soll zu Beginn nur kurz der Kontext angedeutet werden, in dem der modale Infinitiv und die mit ihm gleichwertigen Adjektive vorkommen. 2. Zum syntaktischen Status des sog. modalen Infinitivs Daß die Adjektive auf -bar, -lieh usw. mit dem mod. Inf. „gleichwertig" seien, impliziert eine bestimmte unorthodoxe Auffassung über den syntaktischen Status dieser Infinitive. In letzter Zeit haben sich hauptsächlicher 1

2 3

Klaus Scholder, Die Vergangenheit holt uns immer wieder ein. Über den Umgang mit unserer jüngsten Geschichte. In: SZ 27./28.1.1979, S. 163. Hervorhebungen R. H. „Historiker und Theologe", entsprechend dem redaktionellen Einführungstext.

Der sog. modale Infinitiv

155

Syntaktiker damit beschäftigt.4 Für sie waren die Bildungen u. a. deswegen interessant, da es sich scheinbar um Passivkonstruktionen handelt. Es interessierte darum auch die Frage, inwieweit der Agens bei diesen „Konstruktionen" ausgedrückt ist oder nicht.5 Ich möchte mich diesen Bildungen von einer ganz andern Seite her nähern, wobei ich mich auf Hermann Paul berufen kann. Die Ausdrücke vom Typ vergleichen, loben usw. würden „vom Sprachgefühl als ein Präd.fikativ]" aufgefaßt6, sagt er und verweist zum Beleg auf einen Satz Lessings: (1) der Rath ist nicht übel und zu befolgen Hier steht der mod. Inf. befolgen in derselben syntaktischen Position wie das Adjektiv übel (oder nicht übel), und es scheint daraus zu folgen, daß der mod. Inf. selber eine Art Adjektiv ist. H. Gelhaus, der 1977 eine umfassende Dokumentation zum mod. Inf. vorgelegt hat7, ist dies offensichtlich entgangen. Er stuft nämlich sowohl den Infinitiv entscheiden in (2) und den Quasi-Infinitiv charakterisieren in (3) als dieselbe Erscheinung, und zwar eben modale Infinitive ein: (2) Es ist natürlich schwer, entscheiden, ob und wie stark die neue Urlaubsumgebung auf Hindenburg eingewirkt hat (Gelhaus 90) (3) Ludwig Thoma ist nicht leicht vçu charakterisieren (Gelhaus 90) Es scheint Gelhaus zu entgehen, daß der Infinitiv in (2) einen ganz andern syntaktischen Status hat als in Beispiel (3). Nur in (2) handelt es sich m. E. um einen echten, abhängigen, und zwar satzwertigen Infinitiv. Er wird regiert vom unpersönlichen Ausdruck es ist schwer. Daß es sich hier um eine eindeutige und klare Infinitiv-Konstruktion handelt, zeigt sich u.a. auch

4

Vgl. die Arbeiten von H. Kolb, Das verkleidete Passiv. In: Sprache im technischen Zeitalter 19 (1966), 173-198. (Wiederabdruck in: P. Braun, Hg., Deutsche Gegenwartssprache, München 1979, 265-295) - Klaus Brinker, Zur Funktion der Fügung sein + ç» + Infinitiv. In: Duden-Beiträge 37, Mannheim 1969, 23-24. — H. Eggers, Modale Infinitivkonstruktionen des Typs er ist loben. In: Linguistische Studien IV. Teil 2. Düsseldorf 1973, 39-45. (Wiederabdruck in: Kleine Schriften, hg. von H. Backes u.a.) Tübingen 1982, 279-284. R. P. Ebert, Infinitival Complement Constructions in Early New High German (Linguistische Arbeiten 30), Tübingen 1976. - ders., Historische Syntax des Deutschen. (Sammlung Metzler 167). Stuttgart 1978. - T.N. Höhle, Lexikalische Syntax: Die Aktiv-Passiv-Relation und andere Infinitiv-Konstruktionen im Deutschen (Linguistische Arbeiten 67). Tübingen 1978.

5

Vgl. dazu K. Brinker [Anm. 4], 29 und P. Boon, Der Gebrauch des sogenannten „modalen Infinitivs" in den Verbgefügen sein + Infinitiv mit bzw. haben + Infinitiv mit durch [!] Thomas Murner. Ein Beitrag zur Forschung nach dem Ursprung und dem Wesen dieser Konstruktionen. In: Beitr. z. Erforschung d. Dt. Sprache 1/2 (1981/82), 190-198 (hier 195). Hermann Paul, Deutsche Grammatik IV, 2 Tübingen 1968, 119. Hermann Gelhaus (Mitarbeit: W. Schmitz), Der modale Infinitiv. Mit einem dokumentarischen Anhang über die im gegenwärtigen Schriftdeutsch gebräuchlichen „bar"-Ableitungen. Tübingen 1977.

6 7

156

Robert Hinderling

daran, daß Infinitive in solchen Konstruktionen ins Passiv und ins Perfekt überführt werden können, wie die Beispiele (4) und (5) belegen mögen: (4) Es ist schwer, ihn besiegt haben (5) Es ist demütigend, von ihm besiegt werden Überhaupt ist ja auffallig, daß der Infinitiv in (2) keineswegs passivisch ist, wie es ja ein mod. Inf. mit sein sein sollte 8 . Im Beispiel (2) ist ja sogar ein Akkusativobjekt (Objektsatz) davon abhängig. Ganz anders verhält es sich in Beispiel (3). Hier können wir nicht sagen, wovon der sog. modale Infinitiv charakterisieren) abhängt. Sicher nicht vom Ausdruck ist nicht leicht, denn dabei handelt es sich ja keineswegs um einen vollständigen Trägerausdruck, der Abhängigkeit stiften könnte. Vielmehr ist das gesamte Syntagma {ist) nicht leicht charakterisieren eine einzige syntaktische Position in der Funktion eines Prädikat(iv)s zum Subjekt Ludwig Thoma. Das Wort leicht stellt dabei eine nähere Bestimmung zum scheinbaren Infinitiv charakterisieren dar, hat also den syntaktischen Status eines Attributs, das mit dem Subjekt nur indirekt verknüpft ist. Nur in Beispiel (3) liegt also - wenn man den Terminus beibehalten will - ein modaler Infinitiv vor, während das Beispiel (2) einen ganz „normalen", von einem Finitum abhängigen Infinitiv darstellt. Daß es sich beim sog. mod. Inf. mit sein (auf die Bildungen mit haben gehe ich hier nicht ein) um Adjektive oder, vorsichtiger, eine Art Adjektive handelt, läßt sich noch klarer zeigen, wenn wir zum Vergleich die entsprechenden Konstruktionen des Schwedischen betrachten. Im folgenden Beispiel aus einem historischen Roman über Alexander den Großen9 ist von Pfauen die Rede: (6) De var lätta att fânga och föra med sig ,sie waren leicht zu fangen und mit sich zu nehmen' An solchen schwed. Beispielen hat mich vom Deutschen her immer irritiert, daß das Wort lätt,leicht' hier in den Plural gesetzt wird (lätto). Semantisch muß doch auch im Schwedischen lätt als Determinans zu att fânga ,zu fangen' aufgefaßt werden. Ein solches Determinans zu einem Verb oder Adjektiv erscheint normalerweise als Adverb (in der Funktion einer Umstandsangabe). Im Deutschen steht einer solchen Interpretation auch nichts im Wege, wohl aber im Sçhwed., das in (6) statt der zu erwartenden Adverbform (sie würde ebenfalls lätt lauten) eben die des Plurals hat. Zur Erklärung dieser Form ist daraufhinzuweisen, daß das syntaktische System dieser Sprache im Gegensatz zum Deutschen eine Genus- und Numerusflexion des prädikativen Adjektivs vorschreibt. Da das Subjekt des Satzes im Plural steht (Jäglar , Vögel'), muß auch in dem Ausdruck lätt att fânga der

8

9

Vgl. H. Gelhaus in der Duden-Grammatik, 4. Aufl. 1984, § 164; Gelhaus 1977 [Anm. 7], S. 18. Artur Lundkvist, Krigarens dikt. (Bok för alla) Kungsbacka 1979.

Der sog. modale Infinitiv

157

Plural notwendigerweise markiert werden. Da es unmöglich ist, eine bereits auf -a ausgehende Form (fânga) mit einem Kennzeichen -a zu versehen, weicht die Sprache aus und versieht das Determinans lätt mit dem Merkmal, das eigentlich nicht ihm, sondern dem gesamten Prädikativ zukommt. Die für Satz (6) anzusetzende Tiefenstruktur können wir darum wie folgt darstellen:

Daß dies nicht eine ad-hoc-Interpretation ist, wird dadurch erwiesen, daß bei den Modal-Ausdrücken mit Partizip Perfekt, die diesen modalen Infinitiven, wie wir noch sehen werden, semantisch entsprechen, das Pluralmerkmal an der „richtigen" Stelle erscheint. Im schwed. Akademiewörterbuch steht z. B. der folgende Beleg, der mit dem Beispiel (6) direkt vergleichbar ist: (7) (Sidensvansarna) äro lättfängna ,Die Seidenschwänze sind leicht zu fangen' (Beleg von 1740) lättfängna ist Plural zu lättfängen, wörtl. „leicht gefangen", aber in der Bedeutung von ,leicht zu fangen'. Eine Wortstruktur wie fängen läßt sich ohne weiteres mit einem Plural-a versehen. Es ergibt sich damit, daß die morphologische Unregelmäßigkeit, die bei (6) zu beobachten war, offensichtlich einzig und allein phonologisch bedingt ist. Denn strukturell sind die Lösungen (6) und (7) identisch. Die Erscheinung der Überkreuzung von semantischer und morphologischer Struktur ist übrigens keineswegs ungewöhnlich. Auch die Ausdrücke vom Typ künstliche Eisfabrik sind entsprechend zu interpretieren. Die Form des Adjektivs richtet sich in Geschlecht und Numerus nach dem Grundwort, obwohl das Adjektiv semantisch zum Bestimmungswort gehört.10 An der Numerus-/Genus-Flexion des Schwedischen wird somit deutlich, was sich im morphologischen System des Dt. nicht manifestieren

10

Vgl. R. Bergmann, Verregnete Feriengefahr und Deutsche Sprachwissenschaft. Zum Verhältnis von Substantivkompositum und Adjektivattribut. In: Sprachwissenschaft 5 (1980), 234—265. - B. Sandberg, Der Bezug des Adjektivattributes bei substantivischen Zusammensetzungen. In: PBB 106 (1984), 159-183.

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kann: daß es sich bei der Erscheinung der mod. Inf. ganz offensichtlich nicht um Infinitive handelt, sondern um Adjektivkomplexe. Indirekt wird dieser Befund auch durch das syntaktische Verhalten der sog. modalen Infinitive bestätigt. Für einen „normalen" Infinitiv ist doch kennzeichnend, daß er am System der Diathese und „Aktionsarten" des Verbums teilhat. Beides trifft für die modalen Infinitive nicht zu. Einen modalen Inf. Perf. gibt es offensichtlich nicht: (3 a) *Ludwig Thoma ist nicht leicht charakterisiert zu haben Umgekehrt erwartet man von einem vollausgebildeten Adjektiv des Deutschen, daß es nicht nur in prädikativer Stellung vorkomme, sondern auch in attributiver und adverbialer, ferner daß es am System der Steigerung teilhabe. Ich will hier lediglich auf die Frage der attributiven Stellung eingehen, wobei ich von der Darstellung der Konkurrenzverhältnisse ausgehe, wie sie Gelhaus für den sog. mod. Inf. dargestellt hat. Folgende Hauptkonkurrenzformen werden von ihm genannt und näher beschrieben: 1. Die modalen Infinitive stehen in Konkurrenz zu Modalverbkonstruktionen. Beispiel: (9) Das Flugzeug ist wie ein Zebra angemalt, damit es bei Notlandungen leichter aufgefunden werden kann —• aufzufinden ist (Gelhaus 168) 2. Die modalen Infinitive der „können"-Variante stehen in Konkurrenz zu „der bar-Ableitung". Beispiel: (10) Es ist für unsere Besinnung wesentlich, festzuhalten, daß diese Situation des 19. Jahrhunderts unwiederholbar und unübertragbar ist —> nicht wiederholen und nicht übertragen ist. 3. Und schließlich geht Gelhaus den Konkurrenzen zwischen modalem Infinitiv und sog. Gerundiv nach und nennt dafür Beispiele wie das folgende: (11) Gab es in diesem Sinne klassisch nennende deutsche Literatur —> Gab es eine deutsche Literatur, welche in diesem Sinne klassisch nennen war? (Gelhaus 298-300). Bei diesen Konkurrenzen handelt es sich nun aber offensichtlich um Erscheinungen, die durchaus nicht auf derselben Ebene liegen. Das zeigt sich zunächst schon daran, daß die beiden zuerst genannten Fälle von Konkurrenz (10, 11) nur unter bestimmten Bedingungen gelten, die übrigens von Gelhaus genaustens beschrieben werden, während die dritte ohne Einschränkung auftritt. So ist es zum Beispiel im Falle der zuerst genannten Konkurrenz nicht möglich, modale Reflexivkonstruktionen (man kann sich retten) in eine modale Infinitiv-Konstruktion zu verwandeln; und in andern Fällen verschiebt sich bei der Umwandlung die Bedeutung:

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(12) Nach drei Wochen konnte man ihn aus dem Spital entlassen —• war er aus dem Spital ^u entlassen Insbesondere decken sich der sog. mod. Inf. in der ^¿'»»e»-Variante und die -bar-Adjektive keineswegs vollständig, und dies aus verschiedenen Gründen, von denen einige durch Beispiele angedeutet werden sollen: (13) Aber diese Dinge sind natürlich nicht in einer halben Stunde zu erledigen (Gelhaus 253) (14) Es sei vielmehr anzunehmen, daß die Unternehmen Steuererleichterungen zur finanziellen Konsolidierung verwenden würden (Gelhaus 251) (15) Immerhin ist sie nicht ganz von der Hand zu weisen, wenn man die Kleinkörper in Rechung stellt (Gelhaus 263)11 Demgegenüber ist die semantische Deckung zwischen modalem Infinitiv und Gerundiv 100-prozentig. Dieser auffallige Unterschied ist nun sofort zu verbinden mit der Beobachtung, daß bei der Untersuchung der drei Konkurrenzverhältnisse syntaktisch völlig verschiedene Dinge verglichen werden, wie sich schon aus den angedeuteten Transformationen ergibt. In den ersten zwei Konkurrenzfällen werden Prädikate miteinander verglichen, im dritten Fall wird dagegen ein Prädikat mit einem Attribut verglichen. Typisiert: (16) 1. Man [kann annehmen] es [ist anzunehmen] 2. Es [ist nicht beschreibbar] es [ist nicht beschreiben] 3. . . . ein nicht auszuschließender Kurzschluß der Kurzschluß [ist nicht auszuschließen] Wir haben mit andern Worten beim Vergleich von Gerundiv und mod. Inf. Elemente vor uns, die bedeutungsgleich sind und sich lediglich durch ihre Position im Satz unterscheiden, da nämlich die sog. modalen Infinitive nur in prädikativer Stellung, die Gerundive nur in attributiver Stellung vorkommen. Das bedeutet aber nichts anderes, als daß sich Gerundiva und sog. modale Infinitive zu einer einzigen Formengruppe eines Adjektivtyps ergänzen.12 An der zuvor zitierten Stelle aus der Grammatik von Hermann Paul ist diese Erkenntnis bereits deutlich ausgesprochen. Nachdem er darauf hingewiesen hatte, daß die Infinitive vom Typ loben „vom Sprachgefühl"

11

12

Bei (13) sind es die bekannten lautlichen Gründe (R. Flury, Struktur- und Bedeutungsgeschichte des Adjektivsuffixes -bar. Diss. Winterthur 1964, 118), die die Konkurrenzbildungen zu Bildungen wie erledigbar begünstigen, anzunehmen (14) knüpft an eine andere Bedeutung des Grundverbs an als annehmbar. Bei Wortgruppenlexemen wie in (16) (von der Hand weisen) sind -tar-Bildungen anscheinend nicht möglich. Wobei es die morphologische Besonderheit gibt, daß in attributiver Stellung ein besonderer Stamm benutzt wird. Das kommt in Mundarten und Umgangssprache häufig vor, vgl. z. B. ein rosaner Pullover gegenüber rosa im Prädikat (also rosajrosan-). Siehe z. B. auch L. Zehetner, Bairisch (Dialekt/Hochsprache kontrastiv 2), Düsseldorf 1977, S. 94.

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als Prädikative aufgefaßt würden, fahrt er wie folgt fort: „So entstand dann auch das Bedürfnis der prädikativen Verwendung eine attributive zur Seite zu stellen. Dies geschah durch das sogenannte Part. Futuri oder Passivi der %u lobende".13 Es hat sich, zusammenfassend, also gezeigt, daß die sog. modalen Infinitive gar keine Infinitive sind,14 sondern Adjektive, genauer: Verbaladjektive. Damit sind diese Gebilde freilich noch nicht automatisch auch Einheiten der Wortbildungslehre; es wäre ja denkbar, daß es sich um eine Art Partizipien handelte, die gemeinhin ja auch nicht als abgeleitete deverbale Adjektive aufgefaßt werden, sondern als „Formen" innerhalb des verbalen Paradigmas. Zwar gilt von den Partizipien ganz allgemein, insbesondere jedoch den Partizipia Perfekti, daß sie ständig dazu tendieren, sich aus dem Verband des verbalen Paradigmas zu lösen und damit zu Wortbildungseinheiten zu werden. Bei den modalen „Adjektiven" scheint mir dies aber in noch viel stärkerem Maße der Fall zu sein, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen gibt es die erwähnte Restriktion, daß die modalen ^»-Adjektive — wie ich sie jetzt nenne — zu reflexiven Verben nicht gebildet werden können. Zum andern ist ihre breite semantische Fächerung zu nennen, die „können"und die „müssen"-Variante also, die der semantischen, wenn auch nicht unbedingt funktionellen Einheitlichkeit von Wortformen zu widersprechen scheint. Ich gehe also davon aus, daß die modalen Infinitive abgeleitete Verbaladjektive sind. Sie müssen darum im folgenden nach Morphologie und Funktion beschrieben werden. Die Morphologie ist einfach. So wie Sandberg m. E. zu Recht statt von „substantivierten Infinitiven" von „enAbleitungen" spricht,15 so ist auch in unserm Zusammenhang die Endung -en als Wortbildungsmorph zu werten. Da aber dieses Suffix nie allein auftritt, sondern immer zusammen mit dem präfigierten ist von einem „Zirkumfix" ^u ... en auszugehen, das aus Verbalstämmen die gewünschten Verbaladjektive ableitet. Ableitung vermittels Zirkumfixen ist durchaus nichts Ungewöhnliches in der deutschen Wortbildungslehre. Es sei einerseits an das Zirkumfix / g e . . . e/ in Gebirge erinnert, anderseits an desubstantivischen Verben mit dem Zirkumfix /be ... ig(en)/, z. B. beendigen, beaufsichtigen, bescheinigen, beabsichtigen usw. Auf die Funktion komme ich im folgenden Abschnitt zurück.

13 H. Paul [wie Anm. 6], S. 119. Ähnlich H. Kolb [Anm. 6], Diese Aussage gilt aber nur für die mod. Inf. mit sein-, die mit haben (er hat arbeiten), die ja im Gegensatz zu denen mit sein aktiv sind, kann man als Infinitive gelten lassen bzw. als Bestandteil einer periphrastischen Modalkonstruktion. 15 B. Sandberg, Die neutrale -(e)n-Ableitung der deutschen Gegenwartssprache. (Göteborger germanistische Forschungen 15). Göteborg 1976.

14

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3. Zur Entstehung der „Possibilitätsbedeutung" bei den „modalen Infinitiven" und anderen Possibilitätsadjektiven Schon Gelhaus hat darauf aufmerksam gemacht, daß die sog. mod. Inf. der „können"-Variante meist in Verbindung mit Negationen oder Einschränkungen vorkommen. Typisch für diese Variante sind also Belege wie die folgenden (verkürzt nach Gelhaus): 16 (17) diese Dinge sind nicht in einer halben Stunde erledigen (18) durch Argumente ist er weder erschüttern noch verstärken (19) Die Sache wäre nur durch ein Duell ^u klären gewesen Nach der Auszählung von Gelhaus realisiert sich der Sinn von Variante I („können") der sog. modalen Infinitive in 56% der Fälle in einem solchen Kontext. Höhle weist auf die modalen Adverbien wie gut, angenehm, kaum, schwer hin, die bei dieser Variante „zulässig" seien, bei der „müssen"-Variante dagegen ausgeschlossen sind. 17 Beide Beobachtungen sind offensichtlich zu verbinden. Der Possibilitätssinn kann sich offenbar vor allem dann realisieren — ursprünglich vielleicht sogar nur dann —, wenn diese modalen Adverbien anwesend sind, zu denen ich hier also sowohl die Negationspartikeln als auch die modifizierenden Adverbien leicht, schwer usw. rechne. 18 Das ist eine Erscheinung, die für Possibilitätsadjektive offenbar überhaupt kennzeichnend ist. Wie schon Flury gezeigt hat, kommen z. B. auch die Adjektive auf -bar außerordentlich häufig mit Negation vor. 19 In Gelhausens Material haben wenigstens rund 41% der /w-Bildungen die Negation un-, sowie 6% die Negation nicht.20 Mein eigenes kleines Material bestätigt diese Beobachtungen nicht nur, sondern zeigt ergänzend, daß auch bei den Bildungen auf -bar häufig modifizierende Partikeln anwesend sind. (20) Sehr bewußt und inzwischen kaum noch entschuldbar geht man an der längst durch praktische Erfahrungen zum Beispiel in Skandinavien hinreichend bewiesenen Erkenntnis vorbei, daß . . . (ZEIT 6.3.81) (21) Leicht Erschreckbare sehen bereits entsprechende Visionen vor dem geistigen Auge und einen bizarren Dialog zwischen Computerdialog zwischen Vater (nulleins), Mutter (nullzwo) und Kind (nulldreieins/männlich bzw. nulldreizwo/weiblich). (SZ 17./ 18.3.84) " H. Gelhaus [Anm. 7], S. 19f. 17 T. N. Höhle [Anm. 6], S. 52. Höhle schreibt übrigens unschwer, was ich für einen Druckfehler für und schwer halte. 18 R. B. Ebert, Infinitival Complement [Anm. 6], spricht darum von der Konstruktion „sein + A + ç« + Inf.", wo unter „A" Adverb und Adjektiv zu verstehen ist (S. 61). 19 R. Flury [Anm. 11], 91. 20 H. Gelhaus [Anm. 7], 413.

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(22) Sein [des Wahlkampfs] Ausgang ist auf diese Weise weit schwieriger berechenbar geworden als frühere Kraftproben (SZ 2.8.84) (23) Als wenig berechenbares Risiko erweist sich der Griff nach der Vorspeisenplatte - obwohl die wahrlich einen überschaubaren Eindruck macht: Salami, Mortadella, Schinken, Artischocken in Öl — damit hat sichs schon sich's auch schon (SZ 20.8.84) Es soll damit aber nicht behauptet werden, daß die èar-Adjektive sich nur in solchen Kontexten realisieren können; wohl aber, daß solche Kontexte oft viel „natürlicher", gewöhnlicher, häufiger sind als die ohne diese modalen Adverbien. Daß offensichtlich ein Zusammenhang bestehen muß zwischen der Anwesenheit der genannten Adverbien und der Possibilitätsbedeutung der erwähnten Adjektive, wird noch deutlicher, wenn wir einen geschlossenen Text insgesamt auf diese Kookurrenzen überprüfen. Ich habe dies mit dem erwähnten schwedischen Roman getan und komme dabei zu folgendem Ergebnis. Die Gesamtzahl der Possibilitätsadjektive beträgt 70. 21 Sie verteilen sich auf die verschiedenen Bildungsmuster wie folgt: (24) Adjektive auf -lig (z. B. oforklarlig ,unerklärlich'): 46 Adjektive auf -bar (z.B. ogenomforbar ,undurchführbar'): 11 Partizipialbildungen (z. B. lättbakad ,leicht zu backen'): 8 Typ lätt att fânga (,leicht zu fangen'): 4 andere ( o s k i l j a k t i g unzertrennlich'): 1 Es zeigt sich nun, daß unmodifizierte Bildungen (also Bildungen ohne Negation oder Einschränkung bzw. Modifizierung) äußerst selten sind. Nur bei den Adjektiven auf -bar kommen 6 von 11 Bildungen in entsprechender Weise vor (z. B. användbar .verwendbar', kännbar ,fühlbar' usw.). Bei den 46 Adjektiven auf -lig kommen lediglich zwei Wörter, die zudem stark idiomatisiert sind (nämlich pâlitlig, tillfôrlitlig ,zuverlässig') ohne diese Modifizierungen vor. Bei den übrigen Typen gibt es überhaupt keine solche Beispiele. Wenn wir nicht die Lexeme, sondern die Belege auszählen, ist das Ergebnis für -lig noch eindrücklicher. Es sind dann 119 Belege, von denen immer noch bloß zwei unmodifiziert vorkommen (die erwähnten stark idiomatisierten Bildungen). Daß es just diese modifizierenden Kontexte sind, die diese Possibilitätsbedeutung hervorbringen, zeigen besonders 21

In dieser Statistik wurden auch die den Adjektiven entsprechenden Adjektivabstrakta berücksichtigt; so wurde ζ. B. das nicht vorkommende otröstlig als durch otröstlighet belegt betrachtet. Wo sowohl Adj. als auch Adj.-Abstraktum vorkommen (ζ. B. ofiränderligjofiränderlighef) wurde dies jedoch als eine einzige Bildung gerechnet. Adjektive des hier interessierenden Typs, die sich nur im Präfix unterscheiden (z.B. ofrankomlig und svàrfrânkomlig) wurden ebenfalls nur einmal gerechnet. Aktivische Bildungen wie outtrottlig (?) stridbar, odödlig wurden ebensowenig berücksichtigt wie idiomatisierte Bildungen (z.B. oavlâtlig, dräglig, oaitsenlig). Ein schwieriger Fall ist oinskränkt, bei dem mir nicht völlig klar war, ob es modale oder faktische Bedeutung hat. Auch dieses Beispiel wurde nicht berücksichtigt. Die Belegzahl des sehr häufigen Adj. oemotstàndlìg wurde nicht ermittelt.

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deutlich die erwähnten Partizipialbildungen des Schwed., auf die nochmals kurz zurückzukommen ist. Die Part. Perf. des Schwed. haben normalerweise genau wie die entsprechenden deutschen faktische Bedeutung; bakad bedeutet gewöhnlich .gebacken', lurad,betrogen' usw. In Verbindung mit lätt,leicht', svàr ,schwer' oder o- ,un-' entsteht jedoch wieder die Possibilitätsbedeutung, vgl. (25) lättbakad kaka ,leicht zu backender Kuchen' (26) Människor som utsätts för mycket reklam blir inte sä lättlurade ,Menschen, die von Werbung zu sehr berieselt werden, sind nicht so leicht übers Ohr zu hauen' (27) Han hade erövrat en svârintagen bastion ,eine schwer einzunehmende Bastion' (28) Ett svârtjtt leende ,ein schwer zu deutendes Lächeln' (29) Där bröt strömvirvlar fram ur ofòrutsedda djup ,aus nicht vorauszusehenden Tiefen' Dieser Typ, der im Schwed. etwa seit dem 16. Jh. entstanden ist,22 ist heute so produktiv, daß man fragen wird, ob das Deutsche entsprechende Bildungen denn nicht auch aufzuweisen habe. Dieser Frage will ich nachgehen, da sie die Entstehung der Possibilitätsbedeutung noch besser zu verdeutlichen vermag. Dazu zunächst eine Story. Es handelt sich um einen Prozeß, der an einem Ort der bayerischen Universitätslandschaft vor einigen Jahren zwischen einem Dozenten und dem Journalisten eines Hamburger Magazins ausgetragen wurde. Es ging dabei um die heikle Frage, ob eine akademische Abhandlung, die „nicht akzeptiert" worden war, identisch sei mit einer „nicht akzeptierbaren" Abhandlung und um die Frage, ob der einfache Leser des Magazins überhaupt in der Lage sei, die feinen Unterschiede wahrzunehmen, die zwischen diesen beiden Ausdrücken bestehen. Eine Zeitung berichtete über diese Frage wie folgt: Es „entwickelten sich /.../ längere Debatten über Fragen der Art, wie differenziert des Lesers Empfindungen angesichts so wenig unterschiedlicher Formulierungen wie ,nicht akzeptiert' oder ,nicht akzeptierbar' sein könnten". 23 Also: „wenig unterschiedliche Formulierungen" nennt der Journalist dieses Adjektivpaar. Der Zusammenhang ist jedenfalls deutlich: Die Abhandlung war offenbar nicht akzeptierbar und wurde darum nicht akzeptiert. Faktische und Possibilitätsbedeutung berühren sich hier also in der Form des Partizip Perfekt. Dies ist nicht der Normalfall. Im Normalfall kommt dem Partizip Perfekt die faktische Bedeutung zu, die in klarer Opposition zu der Possibilitätsbedeutung anderer Formen steht, etwa dem sog. mod. Inf. oder den -bar-Adjektiven wie in dem folgenden Beispiel: Das Schwedische Akademiewörterbuch belegt z.B. (SAOB L. 1779). 23 Nordbayer. Kurier 14. Okt. 1981. 22

lättrodd ,leicht

zu rudern' für 1545.

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(30) Für uns alle unfaßbar und unerwartet verschlief mein lieber Mann, . . . (SZ 5./6.9.81) So der leicht verunglückte Text aus einer Todesanzeige, in dem aber der Unterschied zwischen Possibilität ( u n f a ß b a r ) und Faktizität {unerwartet) klar herauskommt. Die Nähe beider Bedeutungen zeigt sich aber auch daran, daß bisweilen in den Texten der Unterschied betont, thematisiert wird, daß darauf gedrungen wird, daß die Unterschiede wahrgenommen werden. Besonders deutlich ist dies in dem folgenden, freilich offenbar aus dem Englischen übersetzten Beispiel der Fall, aus einem Interview über das mißlungene Kommandounternehmen der Amerikaner im Iran im Jahr 1980. (31) Die wirklichen Umstände, die schließlich den endgültigen Erfolg in diesem Unternehmen verhinderten, waren entweder nicht vorhergesehen worden oder unvorhersehbar /.../ Bei den Sandstürmen handelte es sich um einen äußerst unglücklichen und unvorhergesehenen oder un vorhersehbaren Umstand /.../ wir betrauern den Tod jener acht heldenmütigen Soldaten wegen des unvorhersehbaren - und das ist unvorhersehbar — Unglücksfalles (Spiegel Nr. 24/1980). Hier kämpft ein Verantwortlicher offensichtlich um seine Ehre. Das Nichtvorhergesehene war nichtvorherseh/wr. Er hat ein existenzielles Interesse daran, daß der unterschiedliche Sinn der beiden Ausdrücke genaustens realisiert wird. Diese Abwehr möglicher Mißverständnisse dokumentiert aber gerade die gefahrliche Nähe, in die die beiden Bedeutungen bisweilen geraten können. Kaum mehr unterscheidbar sind nicht bestreiten und unbestritten in dem folgenden Beleg. (32) Sicherlich ist nicht bestreiten, daß die bisherigen Verbilligungen maßgeblich dazu beigetragen haben, die Maschinen so gut wie noch nie zu füllen. Unbestritten ist aber auch, daß mit der Zunahme der Passagiere ein erhöhter Personalbedarf /.../ einherging /.../ (SZ 1979) Gerade die Parallelisierung von nicht bestreiten und unbestritten legt es nahe, den beiden Ausdrücken eine mehr oder weniger identische Bedeutung beizumessen. Unbestritten ist ja nicht die Steigerung, sondern offensichtlich lediglich stilistische Variation zum ersten Ausdruck. Wie immer bei solchen Diffusionszonen kann man sich dabei bisweilen streiten, ob Unterschiede vorhanden sind oder nicht. Ein unvergessenes Gespräch mag bisweilen etwas anderes sein als ein unvergeßliches. Im Normalfall dürften die Bedeutungen identisch sein.24 Die unbegriffene Kriegsniederlage von 1918 kann ganz präzise aufzufassen sein als ein Ereignis, das faktisch nicht begriffen wurde. Es 24

„Im Sommer 1976 . . . aß Dr. Sch. mit mir in einer kleinen Trattoria in den Hügeln hoch über der italienischen Stadt Turin und erläuterte in einem mir unvergessenen Gespräch sehr eindringlich, daß . . . " (SZ 12./13.März 1983).

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wurde aber wohl deswegen nicht begriffen, weil es nicht zu begreifen war, so daß praktisch das eine für das andere stehen kann. 25 Etwas anders ist jedoch das folgende Beispiel gelagert: (33) Inzwischen hat das Alphorn eine kaum geglaubte Renaissance erlebt (Nordb. Kurier 10.9.84) Hier spielt offensichtlich das Tempus mit hinein. Es ist nicht eine nichtzuglaubende Renaissance, sondern eine Renaissance, die nicht geglaubt werden konnte (in der Vergangenheit). Interessant ist noch das folgende Beispiel: (34) Ganz abgesehen davon, daß die langfristig zu erwartenden Umweltschäden durch Klimaveränderungen mit der unmittelbaren, unvorhersehbaren und unbeherrschten Gefahr für die Menschheit durch Kernspaltung überhaupt nicht zu vergleichen sind (SZ 23./ 24.6.79) Der Ausdruck unbeherrschte Gefahr ist vielleicht nicht ganz logisch. Was aber gemeint ist, dürfte klar sein: Es geht um Risiken, die unvorhersehbar waren und bisher nicht beherrschen sind. Vermutlich ist der Schreiber einer schwerfalligen Wiederholung (unmittelbar, unvorhersehbar und unbeherrschbar) ausgewichen und hat die Partizipialform gewählt, die in diesem Zusammenhang Possibilitätsbedeutung erhalten kann bzw. muß. Wie der Kontext eine bestimmte Possibilitätsbedeutung auch gegen die isolierte Bedeutung eines Ausdrucks erzwingen kann, vermag das folgende Beispiel zu belegen: (35) Allerdings können die giftigen Dämpfe nur unmittelbar beim Produktionsprozeß eingedämmt werden. Aus der Abluft sind sie nicht heraus^ufiltem (SZ 14.9.84) Sie sind nicht heraus^ufiltern: Isoliert betrachtet, bedeutet dies doch ,sie müssen, brauchen oder dürfen nicht herausgefiltert werden'. Im vorliegenden Zusammenhang ist die Bedeutung des Satzes eindeutig eine andere: ,sei können nicht herausgefiltert werden'. Nur am Rande sei vermerkt, daß das Einnisten der Possibilitätsbedeutung nicht nur bei Partizipien vorkommt, sondern offensichtlich ein Phänomen von größerer Allgemeinheit ist, wie der folgende Beleg verdeutlicht: (36) Als sicher gilt ohnehin, daß Großanlagen technologisch noch nicht völlig beherrscht werden (ZEIT 18.11.83) Bei solchen Wendungen kann es sich um den Jargon des Technikers handeln, für den Dinge, die heute nicht beherrscht werden können, nicht prinzipiell unbeherrschbar sind. Zu den modalen Partizipien zurückkommend, so

25

„Wie die anderen Redner ... erinnerte Kohl daran, daß die Weimarer Republik von Anfang an schweren Belastungen ausgesetzt war, wie die .unbegriffene' Kriegsniederlage von 1918 ..." (SZ 31.Jan. 1983).

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scheinen sie im 19. Jh. üblicher gewesen zu sein als heute. Jedenfalls liegen mir die folgenden Belege vor, die m. E. heute nicht mehr möglich wären: (37) im unerschütterten Vertrauen auf die Huld und Weisheit meines allergnädigsten Königs (Schmeller an König Ludwig I. 21. Nov. 1828)26 (38) die unermessene Ebene der blauen See (J. A. Schmeller Tagebücher, hg. von P. Ruf, Bd. 2, München 1956, S. 157, zu 1833) (39) der unermiidete Mitarbeiter (Schmeller an Fallersleben 1834) (49) die vielen unbe^iveifelten Fehler (J. A. Schmeller, Hadamar's von Laber Jagd [...], Stuttgart 1850, S. X X ) 4. Das „Wortbildungsfeld" der Adjektive der Möglichkeit Als nächstes wäre, wie in der Einleitung angedeutet, der modale Infinitiv mit den übrigen Bildungen der Possibilitäts-Adjektive zu konfrontieren und sein Platz innerhalb dieses „Wortbildungsfeldes" genauer zu bestimmen. Einige vorläufige Bemerkungen müssen hier jedoch genügen. Von den bar-Adjektiven wird ihre fast unbeschränkte Produktivität gerühmt. 27 Gelhaus vermag dagegen zu zeigen, daß in den meisten Fällen, wo mod. Inf. belegt ist, eine Bildung auf -bar nicht möglich ist, 28 und Flury hat daraufhingewiesen, daß auch die Bildungen auf -fähig die -¿ör-Bildungen in bestimmten Bereichen einschränken. 29 Als weitere Konkurrenzbildung bei entlehnten Verbstämmen kommen ferner die Bildungen auf -abel, -ibel vor. 30 Aber auch die in dieser Funktion heute weitgehend eingeschränkte Bildung auf -lieh ist noch in beschränktem Umfang produktiv, wie die folgenden Belege verdeutlichen können (41) Man sieht sofort: Diese rationalen Argumente reichen für eine schwer widerlegliche Krisenerwartung, aber nicht für eine zweifellose Katastrophenprognose aus (C. F. von Weizsäcker, SZ 19./ 20.11.83) (42) Aber es ist ja nicht getan mit Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter, dazu kommt ja das ganze Kirchenjahr, unentrinnlich [...] (W. Schenker, Eifel, Zürich 1982, 161). 26 27

28 29 30

Die „faktische" Interpretation käme hier einer Majestätsbeleidigung gleich. Neubildungen auf -bar in passivisch-potentieller Funktion seien „fast unbegrenzt" möglich, sagt R. Hotzenköcherle, Entwicklungsgeschichtliche Grundzüge des Neuhochdeutschen. In: Wirk. Wort 12 (1962), 321-331; hier 325; W. Fleischer, Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache, Leipzig 1969, ist gar der Meinung, daß der pass.-mod. Typ „beliebig erweiterbar" sei (S. 229). H. Gelhaus [wie Anm. 7], 233-294. Vgl. R. Flury [Anm. 11], 118. Vgl. Die Adjektive auf -abel und -ibel. In: Sprachpflege 32 (1983), 65-68.

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Auf bestimmte konstitutive Merkmale der Poss.-Adj. wird man also erst aufmerksam, wenn man die verschiedenen Typen miteinander vergleicht. Es besteht offensichtlich ein sehr großer Bedarf an solchen Bildungen, weil sie einem ständigen Differenzierungsbedürfnis entgegenzukommen scheinen, anderseits aber auch, weil die altern Bildungen zunehmend idiomatisiert oder sonstwie eingeschränkt werden. Am deutlichsten ist dies bei den Bildungen auf -lieh, für die die Wortbildungslehren gerne Beispiele wie unsäglich, unbeschreiblich, unaussprechlich, unerfor schlich usw. erwähnen und sie dann - aber sehr unzutreffend — nach Art der Adjektive auf -bar paraphrasieren. Unsäglich ist aber nicht mehr ,was man nicht sagen kann', unausprechlich nicht einfach ,was man nicht aussprechen kann' usw., vielmehr liegen hier Bildungen vor, die fast nur noch einen hohen Grad einer Eigenschaft nennen. Von den Bildungen auf -sam gibt es gar nur noch vereinzelte Exemplare in der hier interessierenden Funktion (etwa unaufhaltsam, biegsam). Anderseits haben wir bestimmte Partizipia Perfekti gesehen, die eine potentielle neue Bildung in diesem Wortbildungsfeld sind. Es ist hier also sehr vieles im Fluß. Der Grad der Demotiviertheit dürfte im allgemeinen mit dem Alter der Bildung zusammenhängen. Die ältesten Bildungen, die aus -bar und -lieh, gehen ins Mittelalter zurück. Sie sind gleichzeitig die am stärksten demotivierten, wobei der Grund für den „Vorsprung" der Bildungen auf -lieh im Prozeß der Demotivierung mir nicht völlig klar ist. Die modalen ^»-Adjektive reichen nach Paul zwar bis in ahd. Zeit zurück, haben jedoch erst im Nhd. größere Ausdehnung gewonnen. 31 Die Bildungen auf -fähig scheinen sich im 18. Jh. auszubilden, die deverbativen erst im 19. Jh. Dabei ist aber nicht nur die Funktion der verschiedenen Bildungen jenseits der eingetretenen Demotivierung und sonstigen Restriktionen im großen und groben dieselbe. Auch die Bedeutungsentmcklung ist bei den meisten der genannten Bildungen über ähnliche Stufen verlaufen. Am Anfang stehen meistens rein denominale Bildungen wie fruchtbar, dankbar, eidesfähig, dienstfähig. Diese Denominativa werden dann einer verbalen Interpretation zugänglich, wenn das Basisnomen ein Abstraktum, besonders ein Verbalabstraktum ist. So wandelbar, fraglich, leistungsfähig. Schließlich können sie direkt zu eindeutigen Verbalstämmen gebildet werden, wobei die erwähnten Adverbien dazu führen, daß aus den zunächst aktivischen Bildungen solche mit passiver Possibilitätsbedeutung entstehen: beschreibbar, unbeschreiblich, (nicht) manövrierfähig usw. Bei den ^«-Adjektiven scheint die Entwicklung jedoch etwas anders verlaufen zu sein. Ihre Vorgeschichte und die Art ihrer Abhängigkeit vom Latein sind freilich noch zu wenig geklärt. Dagegen könnte es sein, daß auch sie erst unter dem Einfluß der mehrfach genannten Adverbien {nicht, kaum, leicht, schwer usw.) aus der anscheinend älteren Nezessitätsbedeutung die Possibilitätsbedeutung entwickelt haben.

31

So jedenfalls nach H. Paul [Anm. 6], 119.

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Dieser Übergang, nämlich die Entwicklung von einem Verbaladjektiv unterschiedlicher Bedeutung zu einem Possibilitätsadjektiv unter dem Einfluß bestimmter Kontexte, scheint fast so etwas wie ein Wortbildungs-Universale zu sein. Der Übergang von aktiven Bildungen ohne Possibilitätsbedeutung zu passiven mit Possibilitätsbedeutung scheint dabei gewöhnlich in einem einzigen Schritt zu erfolgen. Bei den Bildungen auf -fähig scheint die Modalität in der Bedeutung des Suffixes jedoch von Anfang an vorhanden zu sein. Hier war also lediglich der Übergang aktiv > passiv zu bewältigen (vgl. ζ. B. studierfähig gegenüber perbesserungsfähig). Nicht wenige Bildungen lassen hier heute — je nach Kontext - beide Deutungen zu.32 Umgekehrt war bei den mod. Infinitiven die passivische Bedeutung offenbar von Anfang an da. Es mußte sich lediglich die Possibilitäts- aus der anscheinend früher bezeugten Nezessitätsbedeutung entwickeln. Auch hier ist jedoch die Entstehung dieser Bedeutung an das Vorhandensein bestimmter Kontexte {nicht, schwer, leicht...) gebunden, wie wir gesehen haben. Sofern dies richtig ist, daß sich nämlich die Possibilitätsbedeutung der genannten Adjektive erst in bestimmten Kontexten {nicht, schwer, leicht...) herausgebildet hat, so ist nun zu fragen, wie denn die Adjektive auf -bar diese Kontexte so ganz abstreifen konnten, so daß sie heute fast unbeschränkt auch „affirmativ" verwendbar sind. Für die Beantwortung dieser Frage vermag uns das folgende Beispiel einen Fingerzeig zu geben: (43) Ökologen wie der Wachstumskritiker Herbert Gruhl weisen darauf hin, daß ,das steigende Produktionsergebnis in der Landwirtschaft nicht mit unerschöpflichen, sondern mit erschöpflichen Ressourcen erzielt wird (Spiegel 9.3.81). Das Wort erschöpf lieh ist hier eine ad-hoc-Bildung, die man noch kaum als akzeptabel beurteilen wird. 33 Wie uns das Beispiel vor Augen führt, kann einer Negation wiedersprochen werden. Dieser Widerspruch könnte durch eine Negation der Negation erfolgen {nicht unerschöpfliche Ressourcen). Diese Möglichkeit ist hier, wo der erste Satz verneint ist, ausgeschlossen; sie würde zu folgendem, stilistisch kaum tragbaren Ergebnis führen: (43 a) [ . . . ] daß ,das steigende Produktionsergebnis nicht mit unerschöpflichen, sondern mit nicht unerschöpflichen Ressourcen erzielt wird'.

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33

So scheint der folgende Beleg aktive oder passive Deutung zuzulassen: „Grundsätzlich werden sowohl an diese Ausführungen als auch an die Sonderformen folgende Forderungen gestellt: in konstruktiver Hinsicht müssen die Anlagen leicht, robust, wartungsarm, elegant, anpassungsfähig an die vorhandenen Baulichkeiten, leicht regelbar und geräuscharm sein", Urania 1967, 40 (Für den Beleg habe ich dem IdS Mannheim zu danken, das mir die Bildungen auf -fähig aus seinem Korpus zur Verfügung stellte). Das große Dudenwörterbuch hat erschöpflich zwar als Stichwort, bemerkt dazu aber zutreffend: „nur negiert od. eingeschränkt". (Bd. 2, 744)

Der sog. modale Infinitiv

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Da ein doppelt verneinter Ausdruck stets durch den positiven Ausdruck variiert werden kann (nichts Ungutes = etwas Gutes), ist es möglich, für nicht »»¿rschöpflich ad hoc erschöpflich zu bilden. Richtiger wäre vielleicht erschöpfbar. Rhetorisch viel wirksamer ist aber die Antithese auf der Grundlage des Wortmaterials der „These", (un)erschöpflich. Dabei mag die Negation in der Form nicht erschöpflich zwischen unerschöpflich und erschöpflich die Brücke gebildet haben. Bei den folgenden Beispielen ist das Element, zu dem der affirmative Gebrauch in Antithese steht, im Gegensatz zum vorigen Beispiel nicht genannt, läßt sich aber leicht interpolieren. (44) Doch erscheinen diese Schwierigkeiten nach der prinzipiellen' Zustimmung des Jerusalemer Kabinetts zu den Vorschlägen Habibs überbrückbar. (SZ 12.8.82) Im Hintergrund steht die Behauptung, daß vorhandene Gegensätze unüberbrückbar sind. (45) Steht erst in jedem Haushalt ein Terminal, wird notwendige Bildungsarbeit der Lehrer in großem Maßstab wegverlagerbar, Unterrichtsmittel standardisierbar, dem Einzelnen mehr Arbeit und Kosten auf lastbar (GEW Die demokratische Schule 7/8 1982) Mit Hilfe des technischen Fortschritts - so der Gedankengang — wird all das erreichbar sein, was bisher eben nicht zu erreichen war. Wenn die bisher angestellten Überlegungen richtig sind, dann könnte eine Zusammenschau mehrerer Typen mit ähnlicher Funktion einen gewissen heuristischen Wert haben, und zwar in zweierlei Hinsicht. Einerseits kann sie uns helfen, sprachgeschichtliche Verhältnisse, die aus Gründen der zeitlichen Distanz und der Materialbasis nur ungenau zu erkennen sind, richtiger zu deuten. Anderseits macht die Synopse uns aufmerksam auf Bildungen in statu nascendi, die uns dann gleichzeitig die allerersten Entstehungsbedingungen solcher Typen noch deutlicher vor Augen führen können. Ich möchte für beide Erkenntnisrichtungen ein Beispiel geben. Zunächst zur Deutung der historischen Verhältnisse. In zwei längeren Aufsätzen hat Klaus Matzel die germanischen Verbaladjektive auf -tj-ia umfassend dargestellt und sprachgeschichtlich zu deuten versucht. Es handelt sich dabei um den Typ, der neuhochdeutsch nur noch relikthaft in Wörtern wie angenehm, nüt^, flügge usw. vorliegt. 34 Matzel hat in dankenswerter Weise erstmals das gesamte Material, das die verschiedenen germanischen Sprachen zu diesem Typ beisteuern, zusammengetragen. Er hat ferner eine

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K . Matzel, Zu den germanischen Verbaladjektiven auf -¡-/-Ja- (I. Teil). In: Würzburger Prosastudien II. Untersuchungen zur Literatur und Sprache des Mittelalters (hg. P. Kesting), München 1975, 9-17; ders. Zu den germanischen Verbaladjektiven an -i-j-ja (II. Teil). In: Kritische Bewahrung. Beiträge zur deutschen Philologie (hg. E.-J. Schmidt). Berlin 1974, 86-117.

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Robert Hinderling

interessante sprachgeschichtliche Deutung des Typs gegeben. Diese Deutung geht von den Beobachtungen aus, 1. daß sich im System dieser Adjektive /-Stämme und y , < möglichst wenig mobil > , < manuell berufstätig (gewesen) > . Diese Merkmale treffen im allgemeinen auf alte Bauern, Winzer, Handwerker und Waldarbeiter zu, wobei deren Ehefrauen mit einbezogen sind. Die Datenerhebung geschieht durch Gruppeninterviews, in denen die Informanten die vom Explorator vorgesprochenen Sätze des Fragebuches übertragen, und zwar mit der Maßgabe, eine solche Sprechlage zu wählen, die sie auch im Gespräch untereinander verwenden würden. Die Informanten korrigieren sich dabei gegebenenfalls gegenseitig. Was sie auf diese Weise metasprachlich äußern, wird von uns für wichtig gehalten. Neben dieser ersten wird es eine zweite Aufnahmeserie geben, in der andere Informanten die Sprachdaten liefern, und zwar Informanten mit den sozialen Merkmalen < Lebensalter 30-40 > , < + mobil > , < manuell berufstätig > . Auch diese Informanten sind in zweiter Generation ortsgebürtig. Außer durch ihr niedrigeres Alter unterscheiden sie sich von den Informanten der Serie I durch die Plus-Mobilität, worunter wir uns den Typ des Tagesauspendlers vorstellen. Abweichend von den Gepflogenheiten der empirischen Sozialforschung variieren wir also zwei Merkmale. Das ist nötig, um zu einem signifikanten Kontrast des sprachlichen Materials gegenüber Serie I zu kommen. Das Aufnahmeverfahren ist bei den Serien I und II im übrigen völlig gleich. Es besteht die Absicht, die Daten aus Serie II auf gesonderten Kartenblättern zu kartographieren. Um die Brauchbarkeit dieses Ansatzes zu erproben, sind Pilotstudien in zwei Aufnahmeorten mit weitem räumlichen und sprachlichem Abstand voneinander durchgeführt worden, und zwar in Mertesdorf bei Trier für einen moselfrk. und in Nackenheim südl. Mainz für einen rheinfrk. Dialekt. Wir haben damit in beiden Fällen Orte in Stadtnähe ausgewählt, um möglichst realistische Bedingungen für den Test zu schaffen. In beiden Orten, die bereits Erhebungspunkte der Aufnahmeserie I sind, wurde zusätzlich je

Substandard als Regionalsprache

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eine Erhebung nach dem Konzept für Serie II durchgeführt. Die an die Aufnahmen angeschlossenen Auswertungen haben sehr deutliche Ergebnisse gezeigt, wovon ich hier nur auf den Vokalismus eingehen will 7 . In beiden Orten zeigt der II-I-Kontrast die Tendenz zur Verringerung der Anzahl der Langvokalphoneme, und zwar grundsätzlich in Richtung auf die Standardsprache. Typisch für Mertesdorf ist insbesondere die Tendenz zur Eliminierung der dort sehr ausgeprägten zentralisierten Vokale. Dies ist im Westmitteldeutschen keine generelle Tendenz. In und um Ludwigshafen, im Rheinfrk. also, festigt sich die Vokalzentralisierung. Dort hat sie offenbar Aussicht, kennzeichnendes Element eines sich anbahnenden Regionaldialekts zu werden. Das heißt, dieselbe sprachliche Erscheinung kann hier und dort auf Grund unterschiedlicher Bewertung und unterschiedlicher Strukturvoraussetzungen verschiedene Entwicklung nehmen. Auch Konsonantismus und Morphologie zeigen höchst bemerkenswerte Kontraste. Innerhalb des Substandards in einem Bereich mit noch beträchtlicher Dialektalität, der aber - noch als Verkehrssprache und Gebrauchssprache — von vielen genutzt wird, bilden sich, wie es scheint, auch neue Eigentümlichkeiten, die weder vom Dialekt noch von der Standardsprache vorgetragen werden, aus 8 . Das ist ein Sachverhalt, dem wir besondere Aufmerksamkeit zuwenden. Ich will hier ausdrücklich hinzufügen, daß die Kontraste zwischen I und II bei einem Teil der Interviewfragen keine reinen Kontraste 9 sind, sondern eher „verwischte" Kontraste, insofern nämlich, als bei den Daten der Serie II oftmals Varianten auftreten, die wir notieren und die wir auch kartieren werden. Hier schlägt die natürliche kommunikative Variation auf die künstliche Interviewsituation durch. Wir erzwingen also bei der Exploration keine Entscheidung für die eine oder die andere Variante. Wir sehen vielmehr Varianten als normale Belege an, auch wenn sie uns bei der Kartierung einige Schwierigkeiten bereiten werden. Für Teile unseres Aufnahmegebietes besteht übrigens auch die Möglichkeit, daß die Serien I und II einen Null-Kontrast zeigen werden. Damit ist beispielsweise dort zu rechnen, wo ein Prozeß der Herabsetzung der 7

8

9

Herrgen, Joachim/Schmidt, Jürgen E.: Zentralisierung: Eine phonetisch-phonologische Untersuchung zu Konstanz und Wandel vokalischer Systeme. In: Bellmann, Günter (Hg.): Beiträge zur Dialektologie am Mittelrhein. Wiesbaden 1985. (Mainzer Studien zur Sprachund Volksforschung. 8.) In Vorbereitung. Z.B. Herrgen, Joachim: Das palatale Allophon des /CH/-Phonems. Seine Variation im Westmitteldeutschen. Demnächst Diss. Mainz. - Herrgen, Joachim: Hyperkorrekte Sprachformen: Sprachinterne und sprachexterne Faktoren ihrer Realisierung. In: Kühlwein, Wolfgang (Hg.): Texte in Sprachwissenschaft, Sprachunterricht und Sprachtherapie. Kongreßberichte der 13. Jahrestagung der GAL, Köln 1982. Tübingen 1983 (Forum Angewandte Linguistik. 4.), S. 101-102. Reine Kontraste sind solche, die bei sämtlichen Interview-Realisierungen eines Lemmas für Serie I und II eingehalten werden.

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Günter Bellmann

Dialektalität schon etwa im 19. Jh. wirkungsvoll vonstatten gegangen und dann zur Ruhe gekommen ist. Jedenfalls wird auch die Feststellung flächigen Null-Kontrastes ein wichtiges Ergebnis und Anlaß sprachhistorischer Interpretation sein. Ich möchte jetzt meine eingangs gestellte Frage wieder aufgreifen, die ein Einwand gegen die Institution „Sprachatlas" sein konnte: Muß ein solcher Atlas notwendigerweise retrospektiv sein? Für den MRhSA ist die Antwort zweigeteilt: Auch dieser Atlas wird retrospektiv sein, und zwar durch seine Datenserie I. Er wird aber zugleich prospektiv sein, indem er uns die Möglichkeit bietet, die Tendenzen der Sprachentwicklung in einem großen Areal zu dokumentieren und zu untersuchen. Um dies zu erreichen, legen wir also, wie beschrieben, zwei außersprachlich definierte Querschnitte durch den unteren und untersten Bereich des Substandards. Damit ist auch gesagt, daß der MRhSA kein Atlas ist, der es sich zur Aufgabe machte, mit der II. Serie die Umgangssprache zu berücksichtigen. Mit der Festlegung „unterer und unterster Bereich" des Substandards meinen wir, noch innerhalb des Dialektes zu verbleiben. Wir nehmen an, daß wir auf diesem Wege signifikante Ergebnisse nicht nur für die Entwicklung des Einzelortsdialekts erhalten, sondern daß wir auch die Veränderungen der Arealstruktur erfassen werden. Wenn sich der Ortsdialekt zu einem Substandard geringerer Dialektalität ausweitet, und seinen durchschnittlichen kommunikativen Schwerpunktbereich in Richtung Standard verlagert, wenn außerdem schließlich Eliminierungen der archaischen x-Variante stattfinden, so müßte folgerichtig unser Querschnitt II mit der geringeren Dialektalität auch eine geringere Arealität, d. h. geringeren diatopischen Kontrast, aufweisen. So ist unsere Annahme, daß wir mit Aufnahmeserie I in erster Linie Ortsdialekte, mit Serie II aber eher Regionaldialekte fassen werden. Für den Einzelbelegpunkt liegt die Beziehung zwischen Orts- und Regionaldialekt auf der Ebene der Diastratik, die damit ansatzweise zu einer zusätzlichen Komponente des im übrigen — wie jeder Sprachatlas — diatopisch orientierten Atlasses wird. Auf diese diastratische Komponente habe ich mein Referat eingeschränkt und konzentriert.

H . J . HERINGER

(Augsburg)

Zur Einführung Vor dreißig Jahren hatte die Sprachkritik ein Thema. Das Sprechen der Nazis und ihre Sprachpolitik, das war doch ein Thema! Die antifaschistischen Kritiker waren aber selbst eher elitär, und ihre Sprachkritik methodisch eher unreflektiert. Ihren professionellen Kritikern, den germanistischen Linguisten, hingegen erschien methodische Sauberkeit als das Höchste. Sie wollten lieber den Gegenstand unberührt lassen, als methodisch unhygienisch werden. Die politische Sprachkritik jener Zeit sah sich aber nicht nur dieser methodischen Kritik ausgesetzt. Sie sah sich immer wieder grundsätzlich in Frage gestellt. Was war schon Kritik am Sprechen, an der Sprache gar? Auf das Handeln kommt es an, auf die realen Verhältnisse. Diese Trennung, der Tatmensch hier, der Schwafler da; der Politiker, der zupackt, der entscheidet, der die Verhältnisse ändert, und der Intellektuelle, der bekrittelt, der nach geschehener Tat seinen Senf dazugibt, diese Gegenüberstellung entsproß natürlich selbst einer autoritären Ideologie, einer undemokratischen Auffassung von Politik. Und das hat sich — gottseidank - geändert. Heute - und darin sehe ich eine wahrhaft demokratische Entwicklung heute sind sich offenkundig alle demokratischen Politiker darin einig, daß Politik weitgehend ein kommunikativer Prozeß ist, in dem es darum geht, sich miteinander zu verständigen, das Strittige zu klären, Kompromisse auszuhandeln, Lösungen zu finden, und schließlich all dies auch massenmedial zu verkaufen. Und das tun alle, gleich ob von rechts oder links. Aber für Linguisten ist der ideologische Hintergrund bei diesem Stand der Dinge nicht befriedigend. Es ist der Zustand des Semantikkampfs, der seit den siebziger Jahren tobt - vielleicht sollte man ein verbales Diminutiv hierfür schaffen. In diesem Kampf haben sich die Gegner wechselseitig vorgeworfen: - der andre manipuliere, - der andre benenne alles falsch, verdrehe die Tatsachen, verhülle oder entstelle die Realität, - der andre versuche, die sprachlichen Begriffe zu besetzen und für seine Zwecke zu mißbrauchen. Vielleicht stimmt das, wenn man die metaphorische Verbrämung abzieht. Aber gerade all das ist das gute Recht eines jeden, und vor allem auch das

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Hans Jürgen Heringer

Recht eines Politikers. Man sollte doch schon stutzig werden, daß alle sich gegenseitig die gleichen Vorwürfe machen wollen — wie in langjährigen Ehen. Als einen Vorwurf, der greift, kann ich das alles schwerlich ansehen. Ernst genommen erschiene mir diese Haltung eher naiv: Denn erstens ist eben nicht ausgemacht, wer jeweils Recht hat in dieser Auseinandersetzung, wer jeweils die sprachlichen Ausdrücke richtig verwendet, wer jeweils die Begriffe besetzen darf. Und zweitens muß man sich doch fragen, wie man jeweils vermeiden will, daß der Gegner all die bösen Taten vollbringt. Letztlich wäre das Gegenmittel doch nur totale Zensur. Man muß ja — notfalls mit Gewalt verhindern, daß der Gegner die Sprache verdirbt, sie so verwendet, wie er sie verwenden will. Dieser Standpunkt kann also nicht das letzte Wort sein. Und da dies für reflektierte Linguisten natürlich allemal klar ist, habe ich in der Einladung an unsere beiden Gastredner betont, daß wir nicht an einem ideologischen Schlagabtausch auf dieser Ebene interessiert sind, sondern daß wir gern etwas hören würden aus der tatsächlichen politischen Arbeit, aus dem alltäglichen Umgang der Politiker mit Sprachproblemen. Aus ihrer Praxis und Erfahrung hieß es da, Methoden und Verfahren, die tatsächlich angewendet werden. Natürlich interessieren uns auch ihre Grundüberzeugungen, aber abgehobene theoretische Auslassungen zu dem Thema haben wir schon zur Genüge. Die Linguisten können vielleicht nicht viel tun in Sachen Sprachkritik. Sie können natürlich im Bewußtsein halten, daß unsere Kommunikation geleitet ist von bestimmten Maximen, daß sie nur funktioniert, wenn bestimmte Maximen beachtet werden. Die drei grundlegenden Maximen sind bekanntlich: - Sei informativ! - Rede verständlich! - Sei wahrhaftig! So könnten die Linguisten sozusagen eine kommunikative Ethik ausarbeiten, die den politischen Streit der Meinungen kultiviert. Aber das brauchen sie eigentlich nicht. Denn alle Sprecher kennen diese Maximen, und sie befolgen sie meistens. Nicht-Befolgung zahlt sich letztlich nicht aus. Denn werden sie nicht befolgt, so werden die Kommunikationspartner ihre Konsequenzen daraus ziehen. Z. B. ist die Reaktion eines Großteils der jungen Generation auf Politiker-Blabla - wie sie es nennen - zu verstehen als eine Reaktion darauf, daß nach ihrer Meinung Politiker zu oft gegen die Wahrhaftigkeitsmaxime verstoßen. Diese Bürger glauben ihnen nicht mehr. Selbstverständlich können die Linguisten nicht diejenigen sein, die die Einhaltung des Grundgesetzes einer kommunikativen Ethik überwachen. Wir haben keine Macht. Dennoch können wir nicht so blauäugig sein, daß Politiker, die beispielsweise mediale Macht haben, sich an die Maximen

Sprachkritik und Sprachbewertung: Zur Einführung

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halten. Wenn ihre Verstöße kurzfristig erfolgreich sind, werden sie sich um ethische Maximen nicht scheren. Es ist darum unsere didaktische Aufgabe, die Bürger in den Stand zu setzen, kommunikative Gepflogenheiten und konkrete politische Äußerungen zu beurteilen. Wir sollten ihr Bewußtsein stärken in Bezug auf die Einhaltung der kommunikationsethischen Maximen. Ja wir können geradezu Leitsätze aufstellen auf der Basis der Maximen. Solche Pendants der grundlegenden Kommunikationsmaximen wurden jüngst von G. Zifonun angeregt: 1. Bedenke, daß der Sprecher Interessen hat und Ziele verfolgt. Sei kritisch gegenüber dem Geltungsanspruch seiner Ziele. 2. Bedenke, daß der Sprecher sprachliche Mittel benutzt, um seine Ziele zu verfolgen. Sei kritisch gegenüber seinen Argumenten und Argumentationsstrukturen. 3. Bedenke, daß der Sprecher seine eigene Interpretation von Realität hat. Sie kritisch gegenüber dem Wahrheitsanspruch seiner Aussagen, selbst wenn du unterstellen kannst, daß er wahrhaftig ist. 4. Bedenke, daß der Sprecher seine eigene Interpretation von politischer Realität sprachlich vermittelt. Geh nicht davon aus, daß er denselben Wortgebrauch hat wie du. 5. Bedenke, daß der Sprecher seine eigene Interpretation politischer Realität sprachlich durchzusetzen versucht. Sei kritisch gegenüber dem Geltungsanspruch seines Wortgebrauchs. Gerüstet mit solchen Leitsätzen kann jeder Rezipient sich in jedem einzelnen Fall seine Meinung bilden. Es ist für ihn geradezu entscheidend, daß Politiker so reden, wie sie es für richtig und nötig halten, daß ihre Ansichten und Überzeugungen in ihrer Rede sichtbar werden, daß ihre Tricks und Verschleierungen manifest werden, daß ihre politischen Zielsetzungen deutlich werden in der Form ihrer kommunikativen Auseinandersetzung. Denn der Bürger hat ja nicht viel mehr als ihre Worte. Aus denen muß er sich ein Bild machen und sein Urteil ableiten. Schweigende Politiker, das wäre furchtbar für uns alle. Wir halten es darum mit jenem Wort des Sokrates, das uns Hamann überliefert: Sprich, daß ich dich sehe!

Heiner

GEIBLER

(Bonn)

Sprache und Politik Kampf um Begriffe Wir leben, für den Nachdenklichen erkennbar, in einer Zeit des Umbruchs. Uns beschäftigen Probleme von existenzieller Qualität. Die Grundwidersprüche unserer Zeit mehren sich. In einer solchen Zeit dürfen wir nicht denselben Fehler machen wie die demokratischen Politiker in der Weimarer Republik. Joachim Fest beschreibt in seinem Buch „Hitler" die politische und geistige Lage der Deutschen Nation Anfang der 20er Jahre. Er zitiert den französischen Begriff „La grande peur", die große Angst, die Deutschland damals beherrschte: Die Angst vor einem neuen Krieg, vor der Wirtschaftskrise, vor der Arbeitslosigkeit, die Angst um die nationale Ehre, um den Frieden. Diese Ängste verdichteten sich gegen Ende der 20er Jahre zu einem explosiven Gemisch, das nicht durch die demokratischen Politiker entschärft, sondern von demjenigen zur Explosion gebracht wurde, der die geistige Auseinandersetzung mit verführerischen Begriffen und Parolen beherrschte. Damals bewahrheitete sich der Satz des griechischen Philosophen Aristoteles: „Allemal gilt, daß, wer Begriffe und Gedanken bestimmt, auch Macht über die Menschen hat. Denn nicht die Taten sind es, die die Menschen bewegen, sondern die Worte über die Taten." In einer Epoche des weltweiten ideologischen Bürgerkrieges ist dies das Gesetz, nach dem sich Sieg oder Niederlage der freien westlichen Demokratien entscheiden. Auf diesem Feld, und nicht auf dem militärischen, wird sich die weltweite Auseinandersetzung der westlichen Demokratien mit totalitären Systemen entscheiden. Die Spannung zwischen Ost und West liegt nicht begründet in der Stärke von Armeen, sondern in der Unvereinbarkeit von Freiheit und Diktatur. Beispiele für die politische Bedeutung von Begriffen Ein klassisches Beispiel für die Verwirrung der Begriffe mit weitreichenden nationalen und internationalen Folgen war die Definition des Warschauer Pakts als „Verteidigungsbündnis". Herbert Wehner hat dies zum ersten Mal in Deutschland so vorgetragen. Diese Definition mußte, da die Verteidigung der Sowjetunion ja wohl nicht gegen Peru oder Sri Lanka gerichtet sein

Sprache und Politik

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konnte, den Schluß nahelegen, die NATO sei ein Angriffspakt. Damit waren die Realitäten auf den Kopf gestellt. Der deutschen Friedensbewegung war ein theoretischer Unterbau für ihre Ziele geliefert worden, auf deren Realisierung wiederum die sowjetische Führung spekulierte. Die sowjetische Führung, die über den Zustand der westlichen Verteidigung voll informiert ist, fürchtet sich natürlich nicht vor der Bundeswehr oder der NATO, die einen Angriffskrieg nicht führen kann und will, sondern sie fürchtet sich vor der Existenz freiheitlicher Demokratien am Rande ihres Imperiums und vor der ansteckenden Kraft freiheitlicher Ideen. Ein Ärgernis ist in diesem Zusammenhang, wie mit dem Begriff Frieden inhaltlicher Schindluder getrieben wird. Wenn Frieden definiert wird als Schweigen der Waffen, ist „lieber rot als tot" eine richtige Friedensparole. Und wenn Frieden als oberster Grundwert proklamiert wird, wie es Egon Bahr getan hat, dann hat sich der Erreichung, Erhaltung und Durchsetzung dieses Wertes alles andere unterzuordnen: Eine phantastisch-makabre Vision, wenn man sich vorstellt, der Nationalsozialismus hätte mit dieser Begründung sein verbrecherisches Regime ohne Gegenwehr auf der ganzen Welt ausbreiten können. In Wirklichkeit ist Frieden mehr als Schweigen der Waffen und eben kein Grundwert, geschweige denn ein oberster, sondern ein politischer Zustand, der sich erst dann ergibt, wenn Grundwerte verwirklicht sind. „Opus justitiae pax" ist die richtige Definition des Friedens durch Thomas von Aquin. Die genannten Beispiele vermitteln uns die geschichtliche Erfahrung, daß Demokraten auf diesem Felde der Auseinandersetzungen um Begriffe und Inhalte sich schwerer Versäumnisse mit verheerenden Folgen schuldig gemacht haben. Sie waren unfähig zu erkennen, daß Diktatoren die ideologische Beeinflussung durch Parolen und Begriffe immer als ein legitimes Mittel ihrer Politik betrachtet haben. Ein aktuelleres Beispiel ist der Begriff des „Berufsverbots". Er ist eine Erfindung von Antidemokraten, deren Ziel es ist, auf dem langen Marsch durch die Institutionen die staatliche Verfassung zu ändern. Es ist die Entscheidung einer verteidigungsbereiten Demokratie, daß Extremisten im Öffentlichen Dienst nicht tätig sein sollen. Artikel 4, Absatz 3 des Grundgesetzes garantiert die Gewissensfreiheit. Unter Berufung auf diese Gewissensfreiheit kann man sich von einer allgemeinen staatsbürgerlichen Pflicht, der Wehrpflicht, befreien lassen. Wenn die Gewissensfreiheit diesen hohen Rang hat muß sie auch für Eltern gelten, die durch eine andere allgemeine Staatsbürgerpflicht, die allgemeine Schulpflicht, gezwungen werden, ihre Kinder in eine Schuld oder in eine Klasse zu schicken, in der gegen die Gewissensüberzeugung der Eltern Unterricht erteilt wird. Ich reklamiere den Begriff der Gewissensfreiheit nicht nur gegenüber der allgemeinen Wehrpflicht, sondern auch gegenüber der allgemeinen Schulpflicht. Gewissensfreiheit ist unteilbar. Wer verhindert, daß Neonazis und Kommu-

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Heiner Geißler

nisten Lehrer werden, tritt nicht für ein „Berufsverbot" ein, sondern steht auf der Seite der Freiheit, der Gewissensfreiheit. In die Schule muß jeder, aber nicht jeder hat einen Anspruch darauf, Lehrer zu werden. Sprachliche Form und politischer Inhalt Die Macht der Sprache ist unbestritten, Reden sind Handlungen unter Menschen, „und zwar sehr wirksame und wesentliche Handlungen", wie Hegel in seinen Vorlesungen zur Geschichtsphilosophie sagt. Weil Sprache so einflußreich ist, und derjenige, der sie beherrscht, mächtig ist, muß sich in einer Demokratie, zu deren Wesensmerkmalen die Machtkontrolle gehört, die Auseinandersetzung auch auf die Herrschaft durch Sprache, auf die politische Sprache, konzentrieren. Wir müssen unterscheiden zwischen der politischen Sache und der sprachlichen Form, in der sie vermittelt wird. Die Sache braucht die sprachliche Form, die den Inhalt richtig und allgemeinverständlich wiedergibt. Atlantisches Bündnis, Soziale Marktwirtschaft, Partnerschaft statt Klassenkampf, Wohlstand für alle, sogar Freiheit statt Sozialismus, oder Neue Soziale Frage waren und sind für die CDU insofern richtige Begriffe. Für die SPD war die Erneuerungsrhetorik Willy Brandts wichtig: Ihr entsprachen Begriffe wie Neue Ostpolitik, Reformpolitik, Demokratisierung, Entspannung. Es gibt natürlich auch das Problem, daß richtige Inhalte vorhanden sind, aber mit falschen Begriffen verbunden werden. Ein Beispiel aus den 70er Jahren ist der Begriff „Rentenniveausicherungsklausel". Gemeint war damit, daß die Renten nicht absinken sollten unter einen bestimmten Prozentsatz der Nettoeinkommen. Der Begriff war kompliziert und aus sich heraus kaum verständlich: Ein schlechter Begriff für eine gute Sache. Die Sache war dann nicht durchsetzbar. Die SPD hatte damals einen guten Begriff für eine, in der damaligen Konkretisierung, schlechte Sache: Den Begriff des „Babyjahres". Die Folgerung, die daraus zu ziehen ist: Eine gute politische Sache ist ohne entsprechenden Begriff häufig zum Scheitern verurteilt und nicht durchsetzbar. Während ein „guter" Begriff ohne politischen Inhalt oder mit „falschem" politischen Inhalt wesentlich größere Chancen hat, eine politische Wirkung zu erzielen.

Klarheit und Verständlichkeit der politischen Sprache Handelnde Politiker sind darauf angewiesen, von möglichst vielen verstanden zu werden, weil Mehrheiten gewonnen werden müssen. Eine demokratische Sprachkultur hat deshalb immer einen antielitären Zug. Neben der Alltagssprache ist die der Politik die einzige, die noch die Mehrzahl der

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Menschen erreicht und von ihnen verstanden werden kann. Leider gelingt es Politikern auch hier immer weniger, sich aus dem Korsett der Verwaltungs- und Fachsprache zu befreien. Die Flucht in Worthülsen und Allgemeinplätze ist dann ein bequemer, aber gefahrlicher Ausweg, denn die Medien machen daraus, was sie wollen. Der gute Politiker muß den Mut haben, ein klares und allgemeinverständliches Deutsch zu reden. Wer unklar spricht, hat dem Wähler nichts zu sagen, oder will ihm etwas verheimlichen. Wer klar und deutliche spricht, braucht keine Leitartikler, die mitbestimmen, was er sagen will. Konrad Adenauer hatte eine einfache Sprache. Die Verwalter der politischen Sprache haben sich über ihn mokiert. In Wirklichkeit waren sie verzweifelt, weil Adenauer sie nicht als Übersetzer brauchte. Politischer Konsens und Sprache Hegel sagt: „In der öffentlichen Meinung ist alles Falsche und Wahre, aber das Wahre in ihr zu finden, ist die Sache des großen Mannes. Wer, was seine Zeit will, ausspricht, ihr sagt und vollbringt, ist der große Mann der Zeit." Wenn politische Sprache wirken soll, müssen die Inhalte, die sie formuliert, sozusagen „in der Luft liegen". Politische Sprache bewirkt nichts, wenn sie nicht dem entspricht, was die Menschen denken und fühlen. Niemand sollte glauben, daß man mit politischen Begriffen ohne Inhalte und ohne einen Konsens in der Bevölkerung politisch wirken kann. Unser Wahlslogan „Den Aufschwung wählen" war 1983 eine entscheidende Aussage für den Wahlausgang, weil er den Erwartungen der Menschen entsprach und politisch richtig war. Nun ist die SPD nach den Worten von Herrn Glotz dabei, durch „politische Diskurse" wieder die „kulturelle Hegemonie der Linken" herbeizuführen. Wir werden sehen. Sicher ist, daß dies mit Begriffsakrobatik allein nicht gelingen wird. Denn es nutzen und das ist tröstlich - die schönsten Wortschöpfungen nichts, wenn die politischen Inhalte nicht überzeugen. Der temporäre Zwang zur Überspitzung Im Dezember 1983 hatte die SPD im Bürgerschaftswahlkampf (zweieinhalb Monate vor der Bundestagswahl) in Zeitungen und Flugblättern den Eindruck erweckt, die damals gerade vorgenommenen Mieterhöhungen für Sozialwohnungen seien auf das neue Mietrecht der soeben vom Bundestag gewählten Regierung Kohl zurückzuführen. Überschrift der „Zeitung am Sonntag": „Mieterhöhungen von 30%, Weihnachtsgeschenk von Helmut Kohl". Tatsache aber war, daß durch das neue Mietrecht Sozialwohnungen überhaupt nicht betroffen waren. Die besagten Mieterhöhungen für Sozialwohnungen in Hamburg gingen auf einen Beschluß des Hamburger Senats

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Heiner Geißler

im August 1982 zurück. Um die Jahreswende 1982/83, also drei Monate vor der Bundestagswahl, zeichnete sich ein Umkippen der politischen Stimmung in der Bundesrepublik Deutschland ab. Die SPD erreichte mit ihrer falschen Wahlaussage Millionen von Menschen. Für uns, die CDU, stellte sich damals die Frage, wie können wir diese Entwicklung stoppen. Ich habe daraufhin gesagt: „Auf Leute, die so handeln, trifft das Wort Bertolt Brechts zu: „Wer die Wahrheit nicht kennt, ist bloß ein Dummkopf, aber wer die Wahrheit weiß und sie eine Lüge nennt, ist ein Verbrecher." Mit anständiger Politik haben die sozialdemokratischen Lügen nichts zu tun und die anständigen Deutschen müssen sich von dieser Politik distanzieren." Johannes Rau hat mich anschließend in einer Diskussion gefragt, warum ich nicht einfach festgestellt hätte: Die SPD hat die Unwahrheit gesagt. Ich will mit einem Zitat des früheren Labour-Führers Hugh Gaitskell antworten: „Ein Politiker muß stets etwas übertreiben, sonst hört niemand auf ihn." Er geht sonst hoffnungslos in der Flut der Verlautbarungen und Informationen unter. Fazit: Die publizistische Realität macht es manchmal notwendig, durch provokative Formulierungen in der politischen Sprache in die Medien hinein und an die Menschen heranzukommen. Die Bundestagswahl wurde gewonnen. Ein aktuelles Beispiel für eine politische Übertreibung ist meine Bezeichnung der GRÜNEN als „Melonenpartei - außen grün und innen rot". Diese Bezeichnung soll darauf hinweisen, daß die GRÜNEN neben der Umweltschutzthematik Positionen vertreten, die ich als „systemverändernd" qualifiziere. Diese Bezeichnung gehört in den Bereich der klassischen rhetorischen Stilmittel. Die Reaktion von Peter Glotz, der mir daraufhin einen Rückfall in das Freund-Feind-Denken vorwarf, fand ich reichlich überzogen. Der GRÜNEN-MdB Schily dagegen kommentierte: „Melone schmeckt mir besser als Kohlsuppe", was ich deswegen bemerkenswert fand, weil Kohlsuppe ja bekanntlich ein beliebtes russisches Gericht ist. Exkurs: Die doppelte Moral der deutschen Publizistik Eine weitere Erfahrung in diesem Zusammenhang ist die doppelte Moral, mit der auf deutliche Äußerungen reagiert wird. Es gab keineswegs eine öffentliche Entrüstung über die Tatsache, daß die Sozialdemokraten in Hamburg die Unwahrheit gesagt hatten. Die öffentliche Entrüstung konzentrierte sich vielmehr auf mein Brecht-Zitat. Anscheinend darf man in der Bundesrepublik Deutschland als Politiker lügen, aber nicht sagen, daß andere lügen. In der Weimarer Republik war das ähnlich. Carl von Ossietzky hat darauf hingewiesen: „Im übrigen gilt ja hier derjenige, der auf den Schmutz hinweist, als viel gefahrlicher, als der, der den Schmutz macht."

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Komplexe Probleme — pauschale Antworten? Jeder, der sich mit politischer Sprache beschäftigt, stößt auf einen Grundwiderspruch. Die politischen Probleme werden immer komplexer, die Antworten immer pauschaler rund simplifizierter. Eine pauschale Antwort auf die komplizierten Probleme der Energieversorgung ist: Atomkraft nein danke. Pauschale Antworten auf die Probleme der Friedenssicherung sind: Lieber rot als tot, Raketen sind Magneten. Die Kunst der politischen Sprache besteht darin, Formeln zu finden, die verständlich und einprägsam sind, ohne zu verfälschen. Sprachliche Verschleierungs- und Tabuisierungsstrategien Politische Begriffe dienen häufig auch der Verschleierung, wenn nicht Verfälschung der Wirklichkeit und Wahrheit. Karl-Dietrich Bracher hat festgestellt: „Die Infragestellung des Totalitarismusbegriffs und seine Ersetzung durch einen uferlos ausgeweiteten Faschismusbegriff führte in den letzten 10 bis 15 Jahren dazu, den grundlegenden Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur zu verwischen und ihn in absolut gesetzte Alternativformeln wie Sozialismus versus Faschismus zu übersetzen." Eine Folge dieser Begriffsverschiebung war, daß der totalitäre Charakter kommunistischer Systeme zunehmend ausgeblendet wurde. Diese Tabuisierungsstrategie hatte Erfolg, weil sie den Streit über politische Sachverhalte und Werte erschwerte und gleichzeitig wurde durch die Kapitalismus-FaschismusThese die Demokratie in Mißkredit gebracht. An die Stelle eines klaren abgegrenzten Begriffspaares treten die verschwommenen Begriffe Sozialismus und Faschismus. Wer aber unklar spricht, hat — ich wiederhole dies - entweder nichts zu sagen oder will etwas verschleiern. Dies wird besonders deutlich in dem gewandelten Verständnis von Gewalt. War die Monopolisierung legitimer Gewalt durch den Staat einer der wichtigsten Erfolge unserer Demokratie, so begann mit der Unterscheidung zwischen Gewalt gegen Sachen, die als legitim angesehen wurde, und der Gewaltanwendung gegen Personen, die man noch für illegitim hält, Ende der 60er Jahre die Infragestellung des bisherigen Gewaltbegriffs. Mit der Einführung des Begriffs „strukturelle Gewalt", der generell Abhängigkeitsverhältnisse bezeichnen soll, wurde die semantische Trennungslinie zwischen legitimer und illegitimer Gewalt praktisch aufgehoben. Rechtsbrüche, Besetzungen, Blockaden, Sabotageakte, Sachbeschädigungen mit den schmückenden Beiworten „gewaltlos" oder „friedlich" sind mittlerweile an der Tagesordnung. Der Verstoß gegen Strafgesetze und Sachbeschädigungen oder, wie diese neuerdings genannt werden, „SachVeränderungen" (so die GRÜ-

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NEN-Stadtverordnete Jutta Ditfurth in Frankfurt und jetzige Bundessprecherin der Grünen) werden als legitimes Mittel gesehen, „um die Menschen zum Nachdenken zu bringen" oder demokratisch und legal zustande gekommene Entscheidungen, die man ablehnt, zu verhindern. Die angebliche Gewaltlosigkeit bedeutet aber in Wahrheit, daß durch Zwang und Rechtsbruch die Freiheit anderer eingeschränkt wird. Es handelt sich um einen „Gewaltlosigkeitsbetrug", der mit einer elitären Sondermoral begründet wird. Ein weiteres Beispiel ist der Begriff der „Sicherheitspartnerschaft" mit der UdSSR. Wir wenden diese beiden Begriffe „Partnerschaft" und „Sicherheit" auf unsere politischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich an, mit denen uns gemeinsame Werte verbinden und die gemeinsame Auffassung, diese Werte verteidigen zu müssen. Egon Bahr wendet nun diesen Begriff auf unser Verhältnis zur Sowjetunion an, der gegenüber wir uns in einem anderen Verhältnis befinden. Wir haben möglicherweise mit der Sowjetunion gemeinsame Interessen, teilen mit ihr aber nicht grundlegende Werte. Die Sowjetunion bedroht unsere Freiheit. Wer für zwei völlig konträre Sachverhalte ein und denselben Begriff verwendet, verwirrt die Geister der Menschen.

Die provokatorische Sprache als Instrument der Politik Es hat in den vergangenen Monaten eine Auseinandersetzung gegeben über den Pazifismus. Ich habe in diesem Zusammenhang gesagt, daß der Pazifismus der 30er Jahre im wesentlichen Auschwitz erst möglich gemacht habe. Vertreter der Friedensbewegung hatten in dieser Auseinandersetzung des letzten Jahres der Bundesregierung vorgeworfen, sie bereite ein atomares Auschwitz vor oder einen Holocaust. Dies war eine aggressive Angriffsparole, die den Zweck hatte, in der Auseinandersetzung um den NATODoppelbeschluß den anders Denkenden moralisch k. o. zu schlagen. Darauf habe ich mit meiner Äußerung reagiert. Die Unfähigkeit der westlichen Demokratien, sich gegen den Nationalsozialismus rechtzeitig zu wehren, ist unbestreitbar auch auf die Friedensbewegungen in Großbritannien und Frankreich zurückzuführen, die einen innenpolitischen Einflußfaktor darstellten. Und es war auch klar, daß sich meine Aussage nicht auf die Pazifisten der Weimarer Republik bezog. Auschwitz war nur möglich im Zusammenhang und auf der Basis des Zweiten Weltkrieges, auch das ist nicht zu bestreiten. Ich habe so deutlich auf die Folgen einseitiger Abrüstung hingewiesen, um die Friedensbewegung zu zwingen, radikal und konsequent zu bedenken, was passieren würde, wenn sie für ihre Politik der einseitigen Abrüstung eine Mehrheit bekäme.

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Um ein weiteres Beispiel zu nennen: In einer gekonnten Form haben die Sozialdemokraten nach der Regierungsbildung im Oktober 1982 Einfluß genommen auf die hessischen Landtagswahlen durch ihre Verratskampagne. Ein normaler demokratischer Vorgang, die Ablösung eines Regierungschefs durch einen anderen, wurde begrifflich als Verrat gebrandmarkt. Verrat und Treue, typisch deutsche Begriffe: Das Nibelungenlied als Polit-Rock-Song mit Helmut Schmidt als Siegfried, und Hans-Dietrich Genscher als Hagen von Tronje. Das Bedenkliche ist weniger die Verwendung eines solchen Begriffs, sondern daß in der Bundesrepublik Deutschland viele Menschen einen normalen Regierungswechsel als Verrat interpretiert haben. Polemik und deutsches Biedermeier Manche Kritik an der Sprache der Politik ist nur verständlich vor dem Hintergrund eines politischen Biedermeiers, eines Harmoniebedürfnisses, das zum Teil noch im vergangenen deutschen Obrigkeitsstaat geprägt wurde. Wir tun uns bis zum heutigen Tage in Deutschland schwer, den Streit und die scharfe Kritik als selbstverständliche Bestandteile der politischen Kultur eines demokratischen Landes anzuerkennen. Das böse Wort vom Parteiengezänk ist schnell bei der Hand. In der Demokratie entsteht Integration aber nicht durch Unterdrückung von Gegensätzen, sondern durch das Austragen von Konflikten. Wo Konflikte geleugnet oder unterdrückt werden, gibt es keine Freiheit, da herrschen Bürgerkrieg und Repression. Die Sprache der Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung ist durch Sachlichkeit und Abstraktheit gekennzeichnet. Die Sprache der Politik ist unter anderem auch Meinungssprache, sie ist argumentativ, sie schließt Emotion und Polemik mit ein. Würden weniger Politiker wie Oberamtsräte sprechen, wäre die viel beklagte Parteienverdrossenheit vielleicht geringer. Streit und öffentlicher Disput sind berechtigt, notwendig und haben Tradition. Görres beispielsweise war ein Meister der Polemik. Er sagte: „Die Menge soll am öffentlichen Leben teilnehmen, und sich erwärmen für und gegen den Streit der Meinungen. Im Federkrieg wird viel Zorn und böser Unmut Verblasen." Martin Luther, der vielleicht mehr als jeder andere durch das Wort, das geschriebene und gesprochene, die Welt verändert hat, hat durch Polemik gewirkt. In der Reformschrift an den christlichen Adel deutscher Nation erkennt er zum Schluß: „Ich beachte auch wohl, daß ich hoch gesungen habe. Diese Stücke sind zu scharf angegriffen. Was soll ich auch tun? Ich bin es schuldig, es zu sagen. Es ist mir lieber, die Welt zürnet mit mir, denn mit Gott." Luther stretet nicht um des Streites, sondern um der Wahrheit willen. Er schreibt, wie er redet: direkt, anschaulich von der Sache her,

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Heiner Geißler

nicht um Schönheit, sondern um Wahrheit bemüht. Im heutigen deutschen publizistischen Biedermeier fehlt leider die „Akzeptanz" für eine solche Polemik. Die Streitschrift Luthers, aus der ich zitiert habe, hat übrigens auch einen aktuellen Bezug. „Mit unserem Land Hessen" — so schreibt Luther - „ist es ein großer Skandal". Dem kann ich mit Luthers eigenen Worten nur hinzufügen: „Widerrufen kann ich nicht."

Peter

GLOTZ

(Bonn)

Die Rückkehr der Mythen in die Sprache der Politik I. Ich habe diese Bemerkungen zum Thema Sprache und Politik unter den Titel „Die Rückkehr der Mythen in die Sprache der Politik" gestellt. Was ist ein Mythos in der Politik? Gibt es Begriffe der politischen Sprache, die zu Mythen werden? Vor jeder Begriffsdefinition oder theoretischen Überlegung gebe ich Ihnen ein Beispiel: Sicherheit. Der Begriff Sicherheit ist ein Beispiel par excellence für politische Mythen. Nun ist das Bedürfnis nach Sicherheit ursprünglich kein Mythos, sondern ein menschliches Grundbedürfnis (auch wenn es ein uraltes Motiv der Utopie ist - gekennzeichnet schon im Alten Testament —, Menschen könnten dereinst darauf verzichten, sich zu sichern). Der Mensch ist darauf trainiert, auf Sicherheit auszugehen — gegen Gegner und Feinde, gegenüber der Macht der Natur. Die inneren und äußeren Katastrophen seiner Geschichte haben unser Volk besonders sicherheitsbedürftig gemacht; dazu kommt in den letzten Jahren das Fragwürdigwerden vieler Rahmenbedingungen, die lange als „sicher" galten. An die Macht solcher Grundbedürfnisse appellieren die Werbestrategen. „Sicherheit aus Schwedenstahl" verspricht eine Fahrzeugfirma („Freiheit" dagegen ist mit Strandfahrzeugen oder drahtlosen Telefonapparaten zu gewinnen). Sicherheit versprechen Versicherungsverträge. Und auch das Lächerliche ist nicht weit: Sicherheit in Verbindung mit einer jungen Frau zeigt meistens Damenbinden an; Freiheit hingegen eine elastische Strumpfhose. In all dem steckt schon ein wenig Technik des Mythos: das Versprechen gelöster Probleme und erfüllter Hoffnungen. Das ist ja das Geheimnis der Werbung: geboten wird ein Traum, verkauft wird ein Produkt. Aber das ist nicht schlimm, denn die Leute wissen Bescheid und lassen sich sogar ganz gerne etwas vorspiegeln; nur Kinder und Spätaussiedler muß man warnen. Die Leute sind Realisten; sie wissen, daß all die versprochene Sicherheit sie nicht vor dem Straßengraben bewahrt, wenn sie zu schnell in die Kurve gehen. Das Dienstmädchen kennt die facts of life, sagt Ludwig Marcuse; es ist nicht verführbar. In der Politik liegen die Dinge ernster. In der Politik setzen sich Hoffnungen und Ängste der Menschen - und nicht nur im Sinne eines Lockmittels - oft sehr direkt in Wirklichkeit um; in allen Bereichen jedenfalls, die über das Leben des Einzelnen hinausgehen, und die reichen weit

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und oft in das Private wieder hinein. Politik - die Parteien - liefern ja weit mehr als nur Problemlösungsangebote, Maßnahmekataloge, Gesetzesvorschläge. Von Politik wird erwartet — heute übrigens, im Zeichen sozialer Bewegungen und einer alternativen Partei, noch mehr als vor einigen Jahren —, auf die Hoffnungen und Bedürfnisse der Menschen (oder vieler Menschen) einzugehen: mit Zielen, Grundwerten, Ideen, sogar Visionen. Dies alles übrigens gerinnt in der Politik zu Begriffen und Wörtern darum ist das Thema Sprache und Politik in der Tat zentral. Darum die Überzeugung von Gramsci bis Biedenkopf: wer die Sprache beherrscht, hat auch Macht über die Motive von Menschen - und ihr politisches Votum. Politik balanciert so auf dem schwierigen Grat zwischen der trocknen Ansage des Machbaren und den unseriösen Versprechungen. Ich habe Helmut Schmidts Weigerung, diese Gratwanderung zu versuchen - seine Weigerung, Sinnstiftendes in der Politik zu verkünden und geistige Führung auszuüben - nie für richtig gehalten, aber ich habe sie gut verstanden. Denn Helmut Schmidt kannte seine mythenfabrizierenden Gegner; vielleicht kannte er sogar seinen Nachfolger. Schmidt, der sich seine Berufung auf Kant selbst erarbeitet hatte, war ein Aufklärer mit dem Pathos erkenntniskritischer Bescheidenheit. Er hielt es für unanständig, den Menschen Mythen zu verkaufen. Dennoch: hat nicht gerade das zu seinem Machtverlust beigetragen, der ja im Vordergrund vom „Schurken" Genscher, im Hintergrund aber vom allmählichen Verfall kultureller Hegemonie ausgelöst worden war? Der Mythos in der Politik entsteht durch zweierlei: durch die Verabsolutierung eines Werts oder Ziels, und durch das Versprechen, es gleich erreichbar zu machen. Wir haben in Deutschland Sicherheit allzuoft verabsolutiert und zum Fetisch gemacht; wir hatten und haben es mit der magischen Geste der Rechten zu tun: Sicherheit ist sofort da, wenn ihr uns folgt; nur die anderen schaffen Unsicherheit. Politik aus dem Geist der Aufklärung — dem Gegner des Mythos - tut sich schwerer. Aufklärung weiß, daß ein Ziel selbst als Ziel nie absolut ist, sondern zu anderen in Idealkonkurrenz steht; Sicherheit z. B. mit Freiheit: ganz sicher ist nur der Eingemauerte. (Der Spruch „Sicherheit vor Datenschutz" ist eine Vermischung der Kategorien; wäre Zimmermann offen, so müßte er sagen: Sicherheit geht ihm vor Freiheit.) Und aufgeklärte Politik verspricht nicht die sofortige Herstellung des mit dem Ziel beschriebenen Zustande, sondern sie versucht einen rationalen Diskurs über Güterabwägung und geeignete Mittel, einem Ziel näherzukommen. Der Mythos appelliert an Gefühle. Er verspricht die Geborgenheit des Uralt-Wahren, des bekannten Deutungsmusters, des alten Vorurteils. In diesem Fall: daß Sicherheit allein aus Stärke und Abwehr wachse. Die Bundesrepublik hat die Innere Sicherheit - und zwar stets weniger gegenüber Kriminellen als gegenüber angeblichen Staatsfeinden - praktisch

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von Anfang an zum Fetisch erhoben. Das geht von dem Verbot und der Verfolgung von Kommunisten über die Ausgrenzung der Studentenbewegung hin bis zum sogenannten Radikalenerlaß und zur Drohung mit dem rot-grünen Chaos. Der letzte traurige Höhepunkt war die Sicherheitshysterie der 70er Jahre, als sich die peinlichen Befragungen der Bewerber im öffentlichen Dienst mit der Überwachung und Ausgrenzung - nicht der Terroristen und ihrer Helfer, sondern des ganzen sogenannten Vorfelds überschnitten und bei der außerparlamentarischen Linken einen Mythos eigener Art begründeten, den „deutschen Herbst". Es wurde zu einer Frage der Staatsgesinnung hochstilisiert, ob die Terroristen nun „Gruppe" oder „Bande" zu heißen hätten; Hochsicherheitstrakte wurden geschaffen. Die Sicherheitsphilosophie war stets die gleiche: Härte, Abwehr, Unschädlichmachen. Ich gebe unumwunden zu, daß viele Sozialdemokraten nicht nur Opfer dieses Sicherheitsfetischismus' waren, sondern - in den 70er Jahren - auch mitgetan haben. Ich habe dieses Beispiel sogar deswegen ausgewählt. Die Partei der vaterlandslosen Gesellen, mit dem von und seit Adenauer diffamierten Hitlergegner und Emigranten an der Spitze, traute sich 1972, beim Extremistenbeschluß, nicht auch noch eine Kraftprobe in der Frage von Sicherheit und Unsicherheit des Staates zu; sie hatte auch Angst - und, wie die folgende Rechtsprechung zeigt, durchaus zurecht - vor der Drohung der Unionsparteien mit dem Bundesverfassungsgericht. Wir haben die Sicherheitshysterie nicht angeheizt, wir haben sie aber auch nicht durchschaubar gemacht. Wir haben der Versuchung widerstanden, aus Mogadischu einen Mythos zu machen. Aber wir haben auch Wahlen mit dem Slogan geführ: Sicherheit für Deutschland. Das war wahrscheinlich politisch geschickt. Vielleicht war es in der gegebenen Situation der Parteienkontroversen sogar unausweichlich. Aufklärerisch war es nicht. Allerdings nehme ich für uns in Anspruch, daß wir den Radikalenerlaß schließlich abschafften, wo wir dazu die Macht hatten. Daß wir den vom totalen Sicherheitsstaat träumenden Chef des Bundeskriminalamts aufs Altenteil schickten. Ich nehme für uns in Anspruch, daß wir, gegen den Mythos sofortiger Sicherheit durch Überwachung und Härte, immer auch an der alternativen Strategie festhielten, die das Angebot zu Resozialisierung und Re-Integration einschließt. Daß wir mit der Bejahung des zivilen Ungehorsams dem neuen und ewig alten Rechtspositivismus entgegengetreten sind. Daß wir nicht von innerer Sicherheit, sondern von innerem Frieden reden. Daß wir überall die kleinen verlustreichen Kämpfe gegen das vom Mythos aufgereizte gesunde Volksempfinden führen: derzeit in Hamburg ζ. B. für die Erhaltung des offenen Strafvollzugs. In der Sicherheitspolitik, also bei den Raketen, sehen Sie das Muster noch deutlicher. Was wir hier erleben, ist die Restauration des Mythos Sicherheit durch Stärke. Ich rede nicht von den einfachen Propagandatricks

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- z.B. daß man sagt, „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen", um immer mehr Waffen aufzustellen. Ich rede von dem uralten, neu gepflegten Atavismus, militärische Stärke schütze am besten vor dem Gegner. Wir wissen, daß das nicht mehr stimmt. Im Zeitalter der wechselseitig gesicherten Zerstörung gibt es keine Sicherheit mehr vor dem Gegner, sondern nur noch mit ihm. Es gibt nur gemeinsame Sicherheit durch Verständigung, Rüstungskontrolle, Abrüstung — durch Sicherheitspartnerschaft, durch ein gemeinsames Wiedererlangen der Beherrschung über den Rüstungswettlauf. Das müßte eigentlich, wo rational diskutiert wird, einfach zu erklären sein. Aber es wird nicht rational diskutiert. Da ist nun Egon Bahr ein „Sicherheitsrisiko", die Sozialdemokraten sind „objektiv" ein Instrument der sowjetischen Hegemonialpolitik und die fünfte Kolonne Moskaus (d. h. also die Verräter in den eigenen deutschen Reihen). Man muß wissen: Die Geborgenheit, die der Mythos den Gläubigen gibt, verdankt er stets auch der Ächtung und Verfolgung der Zweifler. II. Ich behaupte: Wir stehen heute in einer Phase versuchter Re-Mythisierung der Politik. Wir hatten über anderthalb Jahrzehnte lang politisch - und kulturell und intellektuell — eine Periode der Aufklärung, eingeleitet durch Kennedy: Der Ablösung veralteter Bindungen als Leitbilder der Politik, der reformerischen Veränderung der Gesellschaft. Was wir jetzt erleben, ist Gegenaufklärung und Gegenreform, eingeleitet wieder aus den USA. Wenn ich übrigens sehe, wie sehr wir auf amerikanische Entwicklungen reagieren, kann ich die Trauer des Octavio Paz darüber verstehen, daß Europa die Elite der Welt nicht mehr inspiriert. Meine Kritik meint nicht nur die verehrte Partei-Konkurrenz. Damit meine ich zum Beispiel auch den Erzbischof von Fulda, der kürzlich die Worte „Problembewußtsein, Kritik, Pessimismus und Neomarxismus" in einem Atemzug gebrauchte und sich dann zu der Sottise hinreißen ließ, man dürfe „die Jugend nicht mit Kritiksucht krankmachen. Sie muß auch immer wieder das Positive, das Gute, das Große sehen". Ich weiß, es ist nicht mehr üblich, Bischöfe zu kritisieren. Aber ich werde mich an diese Übung nicht mehr halten, wenn der Glaube wieder als Programm der Gegenreformation mißbraucht werden sollte. Der Zufall fügt es, daß der Bundeskanzler in der vorigen Woche eine Rede zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse gehalten hat, die sich mit unserem Thema - Sprache und Politik - beschäftigt. Diese Rede ist streckenweise von befreiender Komik. So etwa, wenn sie warnt vor der „Flucht in hektischen Wortreichtum, um nichts mitzuteilen". Oder in ihrer Auslassung zum Thema „Geist und Macht". Seine Forderung an die Politik,

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zur geistig-moralischen Erneuerung beizutragen, habe vielleicht deshalb so viel Widerspruch gefunden - meint H. Kohl - , weil er damit in Zweifel gezogen habe, daß es einen prinzipiellen Gegensatz zwischen Geist und Macht geben müsse. Die Frage ist nur, ob dieser Gegensatz dadurch aufgelöst wird, daß die Macht den Geist beansprucht. Wirklich bemerkenswert aber ist, wie sie das tut. Der Kanzler zieht gegen den „wehleidigen Pessimismus in vielen westlichen Ländern" und gegen die „Resignation" zu Felde. Die Germanisten hier werden sich an den alten Emil Staiger erinnern, der vor 20 Jahren ähnlich gegen Zeitgeist und moderne Literatur zu Felde zog. Das schien ein letztes Rückzugsgefecht der bekannten Frage: Herr Kästner, wo bleibt das Positive? Jetzt kommt die Frage in der Toga der Macht zurück. Der Bundeskanzler weiter: Ich habe diese Skepsis nie geteilt, und ich fühle mich bestärkt durch positive Entwicklungen in vielen Bereichen unserer Gesellschaft, ζ. B. in der Rückbesinnung auf Familie, Nachbarschaft, Heimat, Vaterland - kurzum auf Bindungen, in denen Menschen Geborgenheit finden.

Also beispielsweise Familie. Ich habe keinen Zweifel, die meisten Bürger der Bundesrepublik bejahen die Familie als Lebensform. Aber was hat es eigentlich für einen Sinn, die Familie als Leitbild ausdrücklich „der modernen Industriegesellschaft" entgegenzustellen? Es kann sich dabei doch nur um einen Rückzug vor den Herausforderungen dieser Industriegesellschaft in die Familien handeln. Mythisierung als Flucht. Zugleich merken Sie die kaum versteckte Spitze gegen alle Tendenzen, die nicht zu diesem Leitbild passen: gegen die Frauen, die nicht bloß Hausfrauen und Mütter sein wollen; gegen die Geschiedenen, Alleinstehenden oder Alleinerziehenden; die Heranwachsenden, die zuhause weg wollen, gegen alle, die nach neuen Lebensformen suchen. Nehmen Sie jetzt noch Minister Geisslers Attacken gegen „pro familia", nehmen Sie die Politik der gegenwärtigen Koalition für die Masse der Kleinverdiener mit Familie hinzu - von der BAFÖGStreichung bis zum Mutterschaftsgeld —: Dann haben Sie hinter dem mythisch erhöhten Leitbild Familie die Kleinfamilie der oberen Mittelschicht als Werteträger der geistig-moralischen Erneuerung. Also kein Leitbild, sondern die rosige Positivität einer bestimmten Gruppe von Menschen, die den anderen als Muster aufgezwungen werden soll. Oder also Heimat. Der Bundeskanzler: „Was ist Heimat? Heimat - dieses in keine andere Sprache übersetzbare gefühlsbetonte deutsche Wort —"

Schwer zu glauben! Aber der Kanzler der gebeutelten Deutschen spricht wie der gegenwärtige amerikanische Präsident. Unsere Geschichte hat ihn nicht verunsichert. Daß „Heimat" auch das abgestandenste Motiv aus dem deutsch-nationalen Kulturchauvinismus war, bleibt ungesagt. Diese Chuzpe verspricht Erfolg. — Zur unausrottbaren Legende von der Unübersetzbarkeit des Wortes übrigens: Im Englischen bedeutet „home" eben eigenes Haus

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und Heimat zugleich; „my home town" ist nicht der Ort meines Eigenheims, sondern mein Heimatort. Wie denn auch „Heimat" von „Heim" kommt. Helmut Kohl sagt: Heimat gibt Antworten auf die Fragen: Wer bin ich, woher komme ich, wie wurde ich zu dem, der ich bin?

Das sind genau die Fragen, auf die Heimat den allermeisten Menschen keine Antwort gibt — in einem Volk, in dem über die Hälfte der Menschen nicht mehr in ihrer Heimat leben oder leben können und sich somit mit fremden Lebenswelten auseinandersetzen müssen. Heimat ist für die meisten Menschen eher etwas Fremdes; für manche freilich ein Wunschbild. Graf Krokkow hat vor kurzem auf die eigenartige Ungleichzeitigkeit hingewiesen: „Ein Begriff löst Wehmut aus. Doch das Wort klingt erst schön, seit es die Sache nicht mehr gibt." Heimat war (und ist) auch „Jagdszenen aus Niederbayern" und das Schabbach von Edgar Reitz; nicht nur Schindeldach, Hahnenschrei und das gefühlsbetonte deutsche Wort. Aber hier geht es um Heimat als gesellschaftliches Leitbild angesichts der „Herausforderungen der modernen Industriegesellschaft" - ein Mythos. Welche Antworten geben die alten Bindungen auf die Fragen unserer Zeit? Die Frage ist falsch formuliert: Das mythische Weltbild gibt keine Antworten, weil in ihm keine Fragen gestellt werden. Der große, in Deutschland aber eben auch abgeknallte Walter Rathenau hat es so beschrieben: Krieg wurde geführt, wenn der Herr es wollte und der Komet erschien ... Im Kreise wiederholen sich alle Geschehnisse, Geburt, Leben und Tod, Saat und Ernte, Wohlstand und Teuerung, Feuersbrunst, Wassersnot, Krieg und Pestilenz, Verbrechen und Hochgericht... Das Einmalige geschieht weit über den Häuptern der Regierten; Entscheidungen über Krieg und Frieden, über Kirche, Gericht, Steuer, Wegbau, Besiedlung kommen von oben; wo nicht vom Himmel, so vom König.

Sie haben hier alle Motive beisammen; ich übertreibe nur wenig. Erstens: Der Mythos sistiert Bewegung. Wahrheit ist nur im Beständigen, Gleichförmigen, Immerwiederkehrenden. Tatsächlich sind ja Familie, Heimat, Vaterland nach dem Willen der Konservativen ewig-bestehende Werte. Das Sichbewegende, und sei es Krieg, ist dagegen das bloß Zufällige. Umwerfend Helmut Kohls Satz zur Raketenstationierung: „Alle Indikatoren deuten darauf hin", sagte er, „daß das Leben weitergeht." Den Stilkritiker entzückt der jähe, in einem Satz geleistete Übergang von der wissenschaftlichen, pseudo-aufgeklärten Sprache, die sich auf Indikatoren beruft, zur mythischen Weisheit des Stammtisches. Ich allerdings glaube dem Kanzler, daß er es ernst gemeint hat; alle Indikatoren deuten darauf hin. Mythische Seinsgewißheit steht gegen Politik.

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Stillstand anstatt Bewegung bedeutet natürlich auch Sistierung von Geschichte. Das mag Wunder nehmen, denn die Rechte redet viel und gern von Geschichte. In Hessen hat es im vorigen Jahrzehnt sogar einmal einen Gesetzentwurf zur Wiederherstellung des Geschichtsunterrichts gegeben. Das ist nicht mehr so erstaunlich, wenn man weiß, daß es gegen das Studium der Geschichte als gesellschaftlicher Entwicklung und sozialer Kämpfe ging. Die Rechte pickt aus der Geschichte die Taten heraus, die ihr als Vorbilder geeignet erscheinen: Bismarck, den 20. Juli, den 17. Juni, vielleicht auch noch die Paulskirche. Angesichts dieses Geschichtsbildes ist es gar nicht verwunderlich, daß der Kanzler sich in Israel nicht auf die Untaten der Deutschen ansprechen lassen wollte, und daß er wieder zu Vertriebenentreffen geht. Wer die Geschichte so versteht, der wird sich weigern, einzuräumen, daß Verlust der Ostgebiete und die deutsche Teilung Produkt unserer eigenen Geschichte sind: des von uns angefangenen Krieges, der furchtbar auf uns zurückgeschlagen hat. Geschichte, das sind die überlieferten Taten der Helden als Vorbilder. Der junge Lukács hat dieses Weltbild in der „Theorie des Romans" als Kennzeichen des mythischen Zeitalters analysiert. Das von der Bundesregierung geplante Bonner Haus der Geschichte paßt in seiner jetzigen Konzeption ganz gut dazu. Und erst recht gilt Stillstand für jede gesellschaftliche Bewegung. Wolfgang Bergsdorf hat die Ära Brandt zurecht als durch eine Terminologie der Bewegung charakterisiert gefunden: „.Erneuerung', ,Wandel', Reform', ,Fortschritt' werden zu charakteristischen Schlüsselwörtern einer Politik, die .Bewegung in die Verhältnisse bringen will'". Jetzt finden Sie in aller offiziellen Programmatik der Rechten nichts, was mit Bewegung zu tun hat, von Begriffen der Gegenreform und vielleicht dem Begriff „Subsidiarität" abgesehen. Sie finden eine Terminologie der ewig-ruhenden Werte. Sehen Sie irgendwelche Ziele, in der Innen- oder Außenpolitik, auf die hinzugehen Bewegung bringen müßte? Das Land ist still. Am Himmel stehen regungslos die Sternbilder der ewigen Wahrheiten. Und morgen wird auch bei uns die Welle der „neuen Religiosität" beginnen. Sprachlich gut faßbar ist auch die Positivierung - das Starrmachen gesellschaftlicher Grundbegriffe. Die Linke spricht von Demokratisierung und meint den dynamischen Prozeß weiterzutreibender Mitbestimmung; die Rechte spricht von Demokratie und meint das Monopol des Parlamentarismus. Die Linke spricht von Gerechtigkeit und meint ein Ziel und einen Prozeß: die Rechte spricht von Recht und meint ausschließlich das positive. Selbst auf den Regierungsstil wirkt sich solch mythische Lähmung aus. „Wenn die Koalition nicht gerade ihre Pannen feiert", so schrieb der Journalist Rolf Zundel im Juli, „könnte man fast vergessen, daß es eine Regierung gibt. Warum nicht die Ferien genießen? Oder über das Wetter reden? Die Politik macht Pause; es regiert die Union."

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Der Mythos, sagte ich, gibt keine Antworten, weil er keine Fragen kennt. Tatsächlich sind Frage und Analyse seit Sokrates die Instrumente seines Gegners, der Aufklärung. Der Mythos hingegen schweigt. Buchstäblich angeschwiegen werden die vielen jungen Leute ohne Lehrstelle, die man im Wahlkampf zuvor mit der bekannten Lehrstellengarantie gelockt hatte. Sie bekommen keine falsche Antwort, keine abweisende Antwort sie bekommen gar keine. Angeschwiegen werden die 3 Millionen Arbeitslosen. Sie werden nur mit einem Mythologem konfrontiert, dem vom Wachstum. Nun haben wir freilich alle lange aus dem Wachstum einen Mythos gemacht; ein Gesetz aus dem Jahr 1968 macht sogar seine Herbeiführung zur staatlichen Pflicht. Aber seit Ende der 70er Jahre wissen wir, daß die Zeiten des großen Wachstums vorbei sind, und daß die Beschäftigungsentwicklung vom Wachstum abgekoppelt ist. Jeder weiß es; alle Institute stellen es fest; Kurt Biedenkopf wiederholt es öffentlich. Aber der Mythos schweigt. Das Schweigen des Mythos ist notwendig; es liegt in seiner Natur. Denn seine Hermetik schließt sich nicht nur gegen Fragen, sondern auch gegen die Sache selbst, ihre Gefahren und ihre Probleme, ab. Mythos ist ja nichts Ursprüngliches, sondern eine Reaktion, eine Bewältigung von Wirklichkeit: Ursprünglich die Bewältigung der feindlichen Natur, des sinnlosen und unberechenbaren Zufalls durch Illusion und Zauber, die Geborgenheit bringen. Mythisches Sprechen bannt Probleme. Daraus erklärt sich das Maß an Problemverdrängung, das wir heute vorfinden. Der mythische Sprecher spricht: Wachstum. Aufschwung - so wie der Regenmacher den Regen ruft. Weder der Regen noch der Aufschwung kommen, jedenfalls nicht davon. Aber so erträgt das Volk die Dürre. Was ist die Antwort auf die Fragen der jungen Menschen, mit denen ja angeblich ein Dialog stattfinden soll — nach anderen Formen des Zusammenlebens und des Arbeitens? In der Regierungserklärung heißt es im Abschnitt „Grundsätze": „Wir wissen, daß Leistung, das schöpferische Schaffen der Menschen, einen sozialen Sinn hat und auch eine soziale Verpflichtung ist." Das ist schwer verständlich und am Rande der Tautologie. Dann aber wird der Knüppel im Sack gezeigt: „Wer Leistung verweigert, obwohl er leisten könnte, handelt unsozial. Er beutet seinen Nächsten aus." Das Problem dieser Republik sind nicht Menschen, die Leistung verweigern. Das Problem sind zunächst einmal 3 Millionen, die gerne leisten würden, aber nicht können - die ihre Leistungskraft vergeblich anbieten. Der Mythos will nicht dialogisieren. Seine Sprache ist die Tautologie. In der Regierungserklärung heißt es, ebenfalls unter dem Abschnitt „Grundsätze": Woran wir glauben, da%u stehen wir." Wohlan. Das dritte Charakteristikum des Mythos ist Herrschaft. „Entscheidungen", hieß es bei Rathenau, „kommen von oben." Stets ja entsprach der

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mythischen Verzauberung der Menschen die schrankenlose Freiheit der Schamanen. Daß ein Haruspex dem anderen zugrinst, war eine der frühesten Entdeckungen der Aufklärung. So haben Sie als erstes entsprechend das Zusammenhalten. Mit wiederum mythisierenden Begriffen („Treue", „Männerfreundschaft") werden Beziehungen beschrieben und Konflikte verdeckt. Die Harthörigkeit gegenüber der öffentlichen Meinung (in der heutigen Form eine Errungenschaft der Aufklärung übrigens) ist beachtlich, fast professionell bewundernswert. Hinzu tritt eine gewisse Beliebigkeit von Politik. Da im mythischen Bewußtsein das Ereignis zufällig, die Entscheidung von oben undurchschaubar ist, kann somit auch die Herrschaftsausübung nur beliebig sein. Sie finden daher einen luftigeren Umgang mit Widersprüchen — die eine Hand gibt Milliarden an die DDR, die andere stößt den Gast von dort vor den Kopf; der eine Mund spricht von guten Beziehungen, der andere von Wiedervereinigung und Recht auf Heimat usf. Friede mit weniger Waffen wird beschworen, und es werden mehr Waffen aufgestellt; Subventionsabbau wird beschworen, und es werden Milliarden an die Bauern verteilt. Die Linke will technokratisch einwandfrei, widerspruchsfrei sein und verstrickt sich. Die Rechte sagt Credo, quia absurdum und hält sich an die Macht. Allerdings: In der Moderne ist der Mythos alles andere als selbstverständlich. Das Irrationale muß mit verkürzter Rationalität erst erkämpft werden. Das lehrt der Blick auf die Genese der neuen Mythen. III. Der Mythos gibt sich seelenvoll, ja harmoniesüchtig. Aber er erwirbt seine Herrschaft durch Härte. Der Mythos gibt sich, philosophisch gesprochen, als faltenloser Realismus. Aber er erwirbt und sichert seine Herrschaft durch aggressiven Nominalismus. Die Anfänge der Gegenreformation waren vergleichsweise nobel. Sie setzten aber schon an der richtigen Stelle, nämlich an der Sprache an. Männer wie Hans Maier und Hermann Lübbe diagnostizierten den Verfall der alten Mythen als Verfall der Sprache und trieben durchaus aufgeklärte Reflexion über den eigenen Sprachverlust. Bald wurde aus solcher Reflexion das Prägen eigener Begriffe - ich denke an jenen Kongreß einer bayerischen Akademie, welcher das Wort Tendenzwende hervorbrachte und einer Bewegung ihren Namen gab. Dann wieder folgte die trompetenhafte Ausrufung der wiederaufpolierten Mythen; beginnend mit dem Kongreß „Mut zur Erziehung". Nun hätte das ja eine recht akademische Auseinandersetzung bleiben können; und viele Leute haben es damals auch dafür gehalten, zu ihrem eigenen Schaden. Aber aus Begriffen wurde Politik. Die Begriffe machten

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die Rechte wieder sprachfähig, nachdem sie über Jahre tatsächlich nicht sprach- aber begriffslos gewesen war - erst in der Bildungspolitik (im Kampf gegen Schulreformen, im „hessischen Schulkampf"), dann auch in manch anderen Feldern der Politik. Der Kampf um die Sprache begann. Bald wurden die Professoren nicht mehr gebraucht, ja sogar unsanft in den Hintergrund gedrängt (in Amerika hat sich übrigens vor und unter Reagan ähnliches abgespielt). Ihren Part übernahmen professionellere Naturen. In der Union wurde, nachdem Kurt Biedenkopf Generalsekretär geworden war, die Pflege der politischen Sprache systematisch betrieben. Biedenkopf selbst: „Sprache ist also nicht nur ein Mittel der Kommunikation. Wie die Auseinandersetzung mit der Linken zeigt, ist Sprache auch ein wichtiges Mittel der Strategie. Was sich heute in unserem Lande vollzieht, ist eine Revolution neuer Art. Es ist die Revolution der Gesellschaft durch die Sprache. Die gewaltsame Besetzung der Zitadellen staatlicher Macht ist nicht länger Voraussetzung für eine revolutionäre Umwälzung der staatlichen Ordnung. Revolutionen finden heute auf andere Weise statt. Statt der Gebäude der Regierung werden die Begriffe besetzt, mit denen sie regiert, die Rechte und Pflichten und unsere Institutionen beschreiben. Die moderne Revolution besetzt sie mit Inhalten, die es uns möglich macht, eine freie Gesellschaft zu beschreiben und - auf Dauer - in ihr zu leben. Wir erleben heute eine Revolution, die sich nicht der Besetzung der Produktionsmittel, sondern der Besetzung der Begriffe bedient. Sie besetzt Begriffe und damit die Informationen in der freien Gesellschaft, indem sie die Medien besetzt, die Stätten also, in denen das wichtigste Produkt einer freien Gesellschaft hergestellt wird: die politische Information."

Den letzten Satz empfehle ich Ihrer besonderen Aufmerksamkeit. In der Tat wird die Strategie des Besetzens von Begriffen erst mit der „Besetzung von Medien" voll wirkungskräftig. Diese Gesamtstrategie nenne ich konsequenten Nominalismus. Politische Information ausdrücklich als Produkt; es kommt darauf an, die Produktionsmittel in den Griff zu bekommen. Kampf um Sprache, um Begriffe, wie militärischer Kampf um Stellungen im Gelände. Für die Information bedeutet dies, daß sie ihres Informationscharakters entkleidet wird, für die Sprache, daß sie ihre Bezeichnungsfunktion, ein Stück ihres Verhältnisses zur Wirklichkeit verliert. In der Konsequenz wird der Begriff, in den Worten Malinowskis, zu einer sinnlosen Abfolge von Silben, die Zustimmung oder Ablehnung signalisiert. So wird der Weg zur Manipulation frei. Der Weg in den Mythos führt über die Beschädigung der rationalen Funktionen in der Sprache und die Verstärkung der Appellationen. Ich behaupte nicht, daß die Linke dieser Gefahr entgeht, aber sie hat denn doch mehr Skrupel. Wer je Heine gelesen hat, liest Liebesgedichte anders. Wer je mit Aufklärung in Berührung kam, schwebt in der Gefahr, von Ironie und Selbstironie ergriffen zu werden — und das ist das Ende erfolgreicher Propaganda.

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IV. Trotz aller Technik der Macht, trotz der Besetzung von Begriffen und Medien bleibt die Frage, warum die Sprache der Aufklärung ins Hintertreffen gebracht, warum das Potential der Aufgeklärten in die Minderheit gebracht werden konnte. Wir müssen uns darüber klar werden, daß auch ein Teil der Linken in Deutschland der Macht von Mythen erlegen ist. Auch die neuen sozialen Bewegungen, auch die Grünen arbeiten mit Myhten - weniger aggressiv, weniger kalt kalkuliert, aber mit nicht geringerer Bindewirkung für Massen. Natürlich ist eine Formel wie „Frieden schaffen ohne Waffen" ein perfekter Mythos. Er suggeriert die genialeinfache Lösung, und er enthält genau jenen Dreh, den ich anfangs am Mythos Sicherheit gekennzeichnet habe: das falsche Versprechen sofortiger Herstellbarkeit. Herr Geissler würde mir jetzt wahrscheinlich entgegenhalten, wir hätten am mythischen Charakter der Parole Frieden kräftig partizipiert. Ich bestreite das. Wir haben in jeder Phase die schwierige Gratwanderung durchzuhalten versucht zwischen der Zustimmung zum Grundimpuls der Friedensbewegung (Erhaltung des Friedens als Voraussetzung für alles andere) und der Übereinstimmung mit dem konkreten Anliegen (Ablehnung neuer Raketen) einerseits und der Ablehnung von einseitiger Abrüstung, Pazifismus oder naiven Militärstrategien andererseits. Angekommen ist es aber oft nur als „kräftiges Sowohl-Als-auch". Das ist die Schwierigkeit der Differenzierer. Natürlich steckt ein Teil der linken Welt, steckt die grüne Welt voller Mythen. Man sagt nichts gegen den Umweltschutz, wenn man feststellt, daß für viele Natur zu einem mythischen Begriff geworden ist. Man sagt nichts gegen die Suche nach alternativen Lebensformen, wenn man konstatiert, daß die Leitvorstellung von und die Praxis des einfachen Lebens auf dem Lande genauso mythisch ist wie seinerzeit in der Jugendbewegung. Man urteilt nicht hämisch über die Frauenbewegung und ihre unterschiedlichen Tendenzen, wenn man in der Polemik gegen den „Mütterlichkeitswahn" und dem neuen Mütterlichkeitskult konträre Mythen erkennt. Dies alles sind alternative Mythen, sozusagen Gegen-Mythen gegen die bestehende Gesellschaft und erst recht gegen die Mythenwelt der Regierenden. Obwohl ich mich natürlich manchmal schon frage, ob es Zufall ist, daß einst der Aufklärung die Romantik gefolgt ist, die sich später in einem Gutteil der Reaktion verschwisterte. Auch heute sehe ich in manchem jungen Görres schon den alten. In jedem Falle tragen beide Tendenzen dazu bei, daß die Macht der Aufklärung, des rationalen Diskurses schwächer geworden ist. Was haben wir seit der Mitte der 70er Jahre, als beide Bewegungen aufkamen, getan? Ich zitiere noch einmal Wolfgang Bergsdorf, der die Ära

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Helmut Schmidt mit einer „Terminologie der Ernüchterung" charakterisiert: „Er verzichtete auf die Emotionalisierung und Imaginationskraft der Schlüsselwörter seines Vorgängers und bemühte sich, die Erwartungshaltungen an die Politik zu verringern. Schmidt benutzte deshalb immer wieder Formulierungen wie „wachsende Probleme" und „steigende Risiken", um die Notwendigkeit zu unterstreichen, die „Funktionstüchtigkeit" des Staates wiederherzustellen und die deutsche „Leistungsstärke" zu erhalten. Die Terminologie Helmut Schmidts ist problemorientiert; sie konzentriert ihre Schlüsselbegriffe auf die Analyse der gegenwärtigen Schwierigkeiten und die Ursachen ihrer Entstehung, hat aber den großen Mangel, keine neuen Perspektiven aufzuzeigen."

Ich selber habe 1977 geschrieben: „Ich versuche zu verstehen, was ihn zu seinem bewußt abgemagerten Politikbegriff nötigt; ist es sein Protestantismus? Schmidt weiß - und damit hat er recht - : Der Politiker muß froh sein, wenn er von dem Volk, für das er arbeitet, die ganz großen Übel abwenden kann: Hunger, Krieg, Bürgerkrieg, Verlust des Rechtsstaates, Abstieg in die Inhumanität. Er schließt daraus: Deshalb kümmere ich mich um die ökonomischen Lebensgrundlagen des Staates; wie ihr lebt, müßt ihr selber wissen."

Und was wir seit knapp 10 Jahren haben, das ist ein immer bohrenderes Fragen, wie wir leben wollen. Die schnellsten Antworten darauf sind die mythischen. Auch daß die Sprache der Aufklärung nach rechts Boden verloren hat, lag zum Teil an ihr selbst. Es hat eine objektive Degeneration in den Reformbestrebungen gegeben, die gerade auch sprachlich faßbar ist. Sie fing mit einer Verwissenschaftlichung der gesellschaftlichen Sprache an, die einleuchtend schien: denn nichts schien Mythen und unbewußte Zwänge so auflösbar machen zu können wie Wissenschaft. Aber die Verwissenschaftlichung führte nur allzuoft zu einer Mischung aus Kauderwelsch und Gefühlskälte. Das haben die anderen genutzt. In einer Wahlkampfanzeige der CDU aus Baden-Württemberg 1980 heißt es: „Familie als „Sozialisationsagentur"? Kinder als „Dauerpflegepersonen"? Eltern als „Bezugspersonen"? Liebe als „Integrationsmechanismus"? Worte aus dem amtlichen Familienbericht der Bonner Linksregierung. Wer so spricht (und denkt), zerstört unsere Familien. Unsere Wertordnung. In Baden-Württemberg wird alles getan, um die Familien zu erhalten. Zu stärken. In unserem Land regiert die CDU. Mit Ministerpräsident Lothar Späth. Mit Herz."

Natürlich ist das Polemik. Aber die Zitate stimmen; und sie waren auch nicht ganz untypisch. Wir haben es den Gegnern leicht gemacht. Es gab eine Tendenz zum „Sozio- und Psycho-Gelaber" - ich zitiere Franz-Josef Degenhardt - , das vielen auf die Nerven gegangen ist und das zum Teil auch wirklich herz-los war. Der reaktionäre Mythos der Familie wurde von vielen aufgegriffen (und gewählt), die ihm keineswegs unbedingt folgen wollten und wollen.

Die Rückkehr der Mythen

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Die Ursachen dafür liegen tiefer. Jürgen Habermas: Viele „modernistische" Reformen führen zu einer zweideutigen Verrechtlichung von Lebensverhältnissen. Die Zweideutigkeit des reformerischen Eingriffs in die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern, zwischen Arbeitskollegen, Nachbarn usw. liegt darin, daß sie gleichzeitig eine Abkoppelung von traditional eingelebten Normen, aber eben auch von Wertorientierungen überhaupt bedeutet. Die Abkopplung soll und kann eine Emanzipation aus verkrusteten Gewaltverhältnissen fördern, aber auf der anderen Seite bringt sie die Gefahr einer bürokratischen Austrocknung kommunikativer Beziehungen, die Gefahr einer keineswegs befreienden, sondern ertötenden Formalisierung im Kern nicht formalisierbarer Beziehungen mit sich."

Was das für die politische Sprache bedeutet, hat schon vor langer Zeit Ernst Bloch erkannt: „Die Rechten sprechen betrügend, aber zu den Menschen; die Linken sprachen wahr, aber nur von Sachen." V. Ich mag mich täuschen, aber: Ich rechne nicht mit einer langen Herrschaft des Mythos. Ich setze auf den Realismus der Leute; der Sieg des Mythos war eine Fluchtbewegung, eine Reaktion, von der sich die Leute - die Leute: das ist die Gruppe der ein wenig egoistischen, verunsicherbaren, aber im Kern realistischen Zeitgenossen, die bei uns das ausschlaggebende Potential der Wechselwähler bilden - befreien werden. Und vor allem bin ich mir sicher, daß die geltende Ober-Mythos nicht funktionieren wird: die Restauration einer abgelebten Zeit. Das sind in diesem Fall die AdenauerJahre. Gewiß: das legendäre Amalgam der Adenauer-Ära — wirtschaftliches Vorausstürmen bei gleichzeitigem konservativem Beharren in den Lebensund Gesellschaftsformen — lockt viele als Vexierbild. Allein auch damals ist die Schale schließlich aus objektiven Gründen gesprengt worden (weit mehr aus ökonomischen und bildungsökonomischen Gründen übrigens denn aus einer Revolution des Bewußtseins); diesmal, da zwar eine ökonomische Krise vor uns, aber nicht mehr der dramatische Eindruck von Faschismus und Katastrophe hinter uns steht, könnte es schneller gehen. Es könnte, aber es muß nicht. Denn Zerfall der neuen alten Mythen führt noch nicht automatisch zurück zu einer kulturellen Hegemonie der Linken - zumal es dort eben auch nicht an Mythen mangelt. Wir werden sie, glaube ich, nur über große „Diskurse", große rationale Verständigungsprozesse über die Zukunftsfragen zurückgewinnen. Aber der springende Punkt ist, daß es mit Rationalität allein nicht getan ist. Wir brauchen eine Sprache, die nicht nur zu den Sachen stimmt, sondern die auch Phantasie und Leuchtkraft hat, die Hoffnungen und Wünsche bindet - und dennoch nicht lügt, dennoch keine Mythen fabriziert. Das ist unendlich schwer. Aber diese Schwierigkeiten sind schon wieder ein neues Kapitel.

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Peter Glotz

Ich schließe mit der Erinnerung an Lessing. Er hatte es mit dem Hauptpastor Goeze zu tun - und ließ sich doch den Spaß am Denken nicht verderben. Also können wir mit den zeitgenössischen Hauptpastoren auch fertig werden.

Walther

DIECKMANN

(Berlin/West)

Herrschaft durch Sprache durch Herrschaft über Begriffe Anmerkungen zu den Vorträgen von Peter Glotz und Heiner Geißler Es gibt mancherlei Gründe, die den Veranstalter einer wissenschaftlichen Tagung dazu bewegen können, nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Vertreter der Praxisbereiche zu Wort kommen zu lassen, die zu den Gegenständen der jeweiligen Disziplin gehören. Im vorliegenden Fall ist ein Sinn der Einladung von Politikern sicherlich der, dem Wissenschaftler die Möglichkeit zu verschaffen, etwas von der Innensicht derer zu erkennen, deren Handeln er, meist ohne selbst praktische Erfahrungen zu haben, untersucht. Natürlich braucht und sollte der Wissenschaftler die aus der Sicht der Politiker gewonnenen Ergebnisse nicht unbesehen übernehmen; doch ist es zweifellos sinnvoll, sie zur Kenntnis zu nehmen und als mögliches Korrektiv für die eigenen Bemühungen zu berücksichtigen. Es ist für den Sprachwissenschaftler durchaus von Interesse zu erfahren, ob sich das, was in der Linguistik im Arbeitsbereich Sprache und Politik analysiert und beschrieben wird, überhaupt auf die Erfahrungen der Politiker beziehen läßt, ob und inwieweit die Problemformulierungen gleich oder ähnlich sind und ob sich die Diagnosen und die eventuellen Lösungsvorschläge miteinander vereinbaren lassen. — Diese Fragen sind allerdings nur dann sinnvoll, wenn die Vorträge wirklich als Zeugnisse reflektierter Praxis gelten können. Deshalb einige Bemerkungen zu den Vorträgen unter diesem Gesichtspunkt vorweg. Der Beitrag von Glotz war, zumindest auf einer bestimmten Ebene rezipiert, ein wissenschaftlicher Vortrag, der unter der anspruchsvollen These der „Rückkehr der Mythen in die Sprache der Politik" im Rückblick auf die letzten 20 Jahre Veränderungen in der Geltung und im Gebrauch politischer Begriffe bei den streitenden Parteien und in der öffentlichen Diskussion verfolgte und sich damit notwendig vom konkret-alltäglichen Handeln des Politikers entfernte. Der Bezug ging aber nicht gänzlich verloren. Zum Beispiel erfordert die aus der abstrakt vollzogenen Unterscheidung zwischen „Politik aus dem Geist der Aufklärung" und Politik als Mythenverkündung abgeleitete Handlungsperspektive, zwischen den Extremen der „trockenen Ansage des Machbaren" und den „unseriösen Versprechungen" irgendwo hindurchzusteuern, tagtäglich neue und konkrete Entscheidungen auch des Politikers Glotz. Außerdem war der Beitrag eben nur auf einer bestimmten Ebene gelesen ein wissenschaftlicher Vortrag; er

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Walther Dieckmann

war zugleich ein Zeugnis praktisch-politischen Handelns des Parteipolitikers, der sich in der speziellen Redesituation einer Form bediente, die der wissenschaftlichen Tagung angemessen und dem Publikum gewohnt und vertraut war. Dabei überließ er es nicht seinem Publikum, die Doppelbödigkeit der Form zu durchschauen und möglicherweise kritisch zu vermerken, sondern machte — zumindest im mündlichen Vortrag — mehrfach selbst ironisch-augenzwinkernd darauf aufmerksam. Kein Zweifel, daß auch Geißler in der Reflexion sprachlicher und kommunikativer Praxis politisch Handelnder blieb. Seine Wirkungsintention drückte sich, wie bei Glotz, in der Auswahl der zu kritisierenden Beispiele politischen Sprachgebrauchs aus, vor allem aber darin, daß er mit der Einführung des Begriffs der klaren und deutlichen Sprache als eines positiven Wertbegriffs seine eigene sprachliche Praxis theoretisierte und über funktionale Bestimmungen zu rechtfertigen suchte, ist es doch die deutliche Sprache, die ihm, wenn auch mit oft weniger schmeichelhaften Ausdrücken, von seinen Gegnern vorzugsweise vorgeworfen wird. Betrachtet man die beiden Vorträge vor der Folie der linguistischen Beschäftigung mit dem Gegenstandsbereich in den letzten Jahren, so scheinen mir vor allem zwei Beobachtungen bemerkenswert, auf die ich mich in meinen Anmerkungen beschränken will: (1) die erstaunlich große Bedeutung, die die Politiker gerade der Sprache beimessen, (2) die Auffassung, daß das Problem der Sprache vor allem ein Problem der politischen Begriffe sei. In der Einschätzung, daß für die Politik das Thema Sprache zentral sei, sind sich beide Politiker einig. Sie gehört seit einiger Zeit zum überparteilichen „Konsens (auch) der Demokraten". So kann Glotz feststellen: „Darum die Uberzeugung von Gramsci bis Biedenkopf: wer die Sprache beherrscht, hat auch die Macht über die Motive der Menschen - und ihr politisches Votum" (S. 232)1. Und die Sprache beherrscht, wem es gelingt, seine eigene Sprache hegemonial in der öffentlichen Diskussion zur Geltung zu bringen. Auch seinen Gegnern in der beginnenden „Gegenreformation", Hans Maier und Hermann Lübbe, billigt er zu, „an der richtigen Stelle, nämlich an der Sprache" (S. 239) angesetzt zu haben, und er zitiert zustimmend die Äußerung Biedenkopfs von der „Revolution neuer Art", der „Revolution der Gesellschaft durch die Sprache". 2 Biedenkopfs Äußerung ihrerseits 1

2

Die Seitenangaben für die Verweise auf die Vorträge von Glotz und Geißler beziehen sich auf die Zählung in diesem Band. Der Beitrag von Biedenkopf, auf den Glotz sich bezieht, ist unter dem Titel „Politik und Sprache" wiederabgedruckt in: H. J. Heringer (Hg.): Holzfeuer im hölzernen Ofen. Aufsätze zur politischen Sprachkritik. Tübingen 1982, S. 189-197. - Im gleichen Sammelband befinden sich auch der einflußreiche, erstmals 1967 veröffentlichte Vortrag von H. Lübbe: Der Streit um Worte. Sprache und Politik (S. 48-69) und einer der Beiträge zum Thema von H. Maier: Aktuelle Tendenzen der politischen Sprache (S. 179—188).

Herrschaft durch Sprache

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ist eine Paraphrase dessen, was Schelsky prägnant und auch sprachlich wirkungsvoll 1974 in der „Deutschen Zeitung" veröffentlicht hatte. 3 Dort findet sich auch die Bemerkung, daß „physische Gewalt geradezu harmlos und veraltet ist", verglichen mit der „Beherrschung durch Sprache" als „vorläufig letzter Form der Versklavung von Menschen". 4 Variiert ist die Behauptung Schelskys auch bei Geißler auffindbar, der, allerdings unter Berufung auf Aristoteles, meint, in der gegenwärtigen „Epoche des weltweiten ideologischen Bürgerkrieges" entscheide sich Sieg und Niederlage nicht auf dem militärischen, sondern dem sprachlichen Felde (S. 222). Die unter den Politikern verbreitete hohe Einschätzung der Bedeutung der Sprache kontrastiert merklich mit den Urteilen der Sprachwissenschaftler, die eher dazu neigen, auf die Begrenztheit der eigenen Untersuchungsperspektive von der Sprache her hinzuweisen. Die Diskrepanz könnte für die Linguistik Anlaß sein, in ihre Überlegungen die Frage aufzunehmen, wie die Politiker zu ihrer Einschätzung kommen, ob sie berechtigt ist, und welche Gründe zu der behaupteten Beherrschung durch Sprache geführt haben. Bislang fand die kritische Auseinandersetzung mit dieser neuen Variante der These von der Macht des Wortes außerhalb der Linguistik statt; z.B. bei Habermas (1977).5 Das Neue und Interessante an der jüngsten Ausprägung der These ist, daß die Beherrschung durch Sprache von den meisten nicht als universelle Gegebenheit, sondern deutlich als historisches Faktum unserer Zeit behauptet wird, was sie einer historischen Analyse zugänglich und damit auch leichter begründbar bzw. widerlegbar macht. Die zweite, nachgeordnete These, daß das Problem der politischen Sprache vornehmlich ein Problem der politischen Begriffe sei, steht gleichfalls in einem gewissen Widerspruch zu den linguistischen Problemformulierungen, insofern als die neuere Forschung sich gerade zugute hält, die früher dominante Orientierung an den Wörtern überwunden zu haben, und im Zuge der allgemeinen Entwicklung der Linguistik auch in der Analyse der politischen Sprache textbezogen, im einzelnen variierend rhetorisch, argumentationstheoretisch, sprechakttheoretisch, konversations- oder diskursanalytisch arbeitet. Die öffentliche Sprachreflexion und die Politiker selbst verstehen indes Herrschaft durch Sprache vorwiegend als Herrschaft über Begriffe.

3

4

5

H. Schelsky: Macht und Sprache. Wer eine neue Politik durchsetzen will, braucht neue Worte, in: Deutsche Zeitung v. 12.4.74; wiederabgedruckt in: G . K . Kaltenbrunner (Hg.): Sprache und Herrschaft. Die umfunktionierten Wörter. München 1975, S. 176-178. Es versteht sich, daß von Versklavung immer nur dann die Rede ist, wenn gerade der jeweilige Gegner die Sprache beherrscht. Ist man selbst der Glückliche, ist der Zustand selbstredend anders zu beurteilen! J. Habermas: Umgangssprache, Wissenschaftssprache, Bildungssprache. In: Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft 1977. München 1977, S. 36-51.

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Walther Dieckmann

Im Rahmen dieser Problemformulierung lenkt Glotz die Aufmerksamkeit, organisiert um den idealtypisch konstruierten Gegensatz von Politik aus dem Geist der Aufklärung und Politik als Mythenbildung und -verkündung, auf ein Problem, das die Diskussion in der Bundesrepublik, vor jeder Frage nach der Bedeutung und dem Wandel einzelner Begriffe, seit den 60er Jahren stetig beschäftigt hat: eine unterschiedliche Auffassung über die Fundierung, Begründbarkeit und Geltung von (politischen) Begriffen überhaupt. So liest sich die Kritik von Glotz an der Rechten6 wie ein entferntes Echo auf die von Herbert Marcuse (1968)7 inspirierte Kritik der frühen Studentenbewegung an den eindimensionalen Begriffen, die die Sachverhalte nur noch in ihrer Faktizität beschreiben können und dem sprachgebundenen Bewußtsein verwehren, über den jeweiligen Zustand der politischen und gesellschaftlichen Angelegenheiten hinauszudenken. Es ist vielfach, und zwar übereinstimmend bei Freund und Gegner, festgestellt worden, daß die Begriffe der Neuen Linken und auch die der ersten Sozialliberalen Koalition um 1970 anderer Natur waren, setzen doch der von Glotz zitierte Begriff der Demokratisierung und die Aufforderung Mehr Demokratie wagen notwendig einen Begriff von Demokratie voraus, der nicht ausschließlich als begriffliche Verarbeitung der faktischen Institutionen und Prozesse in der Bundesrepublik angesehen werden kann. Und es ist genau dieser Überschuß, den die bald nach 1970 einsetzende konservative Sprachkritik als Eigenart der Begriffe der Neuen Linken diagnostizierte und ihrerseits als Dynamisierung kritisch bewertete.8 Das, was die von Glotz so benannte „Gegenreform" im Versuch, die Begriffe in ihrem Sinne zu besetzen, dagegen stellte, war konsequent eine erneute Festsetzung, die man jedoch nicht umstandslos als Rückkehr zur Eindimensionalität im Sinne Marcuses bezeichnen kann. Sie geschah vielmehr in Verbindung mit der GrundwerteDiskussion in der CDU über den Versuch einer metaphysischen Verankerung der Begriffe, deren Konsequenzen Glotz unter dem Stichwort der Mythenbildung kritisiert: Diese Verankerung entzieht die Begriffe der Diskussion; denn Mythen kann man nur verkünden, nicht diskutieren. Sie entzieht die Begriffe auch der Geschichte; denn metaphysisch begründete Werte gelten unabhängig von Raum und Zeit. - Daß die Mythisierung der 6

7 8

„Sprachlich gut faßbar ist auch die Positivierung - das Starrmachen - gesellschaftlicher Grundbegriffe. Die Linke spricht von Demokratisierung und meint den dynamischen Prozeß weiterzutreibender Mitbestimmung: die Rechte spricht von Demokratie und meint das Monopol des Parlamentarismus. Die Linke spricht von Gerechtigkeit und meint ein Ziel und einen Prozeß: die Rechte spricht vom Recht und meint ausschließlich das Positive" (Glotz, S. 237). H. Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Neuwied 1968. Vgl. u. a. H. Maier in seinem 1972 gehaltenen Vortrag „Können Begriffe die Gesellschaft verändern?" Wiederabgedruckt in: G . K . Kaltenbrunner (Hg.): Sprache und Herrschaft. München 1975, S. 55-68.

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Werte in der praktischen Politik jedoch durchaus zur Wahrung der jeweiligen Positivität genutzt werden kann, illustriert Glotz polemisch am Beispiel der Familienpolitik der gegenwärtigen Bundesregierung. 9 Verallgemeinert wird die Ambivalenz zwischen metaphysisch begründetem und positivem Begriff von W.F. Haug als „Transposition sozialer Interessenlagen ins Ideologieförmige" oder als „ideologische Verschiebung" gedeutet, bei der „gesellschaftliche Interessen in ein geistiges Jenseits der Gesellschaft, ins Sozialtranszendente verschoben" werden. 10 In der Deutung Haugs ist es nicht nur, wie bei Glotz, möglich, trotz der Fundierung der Politik in ewigen Werten handfest partikulare Interessen zu verfolgen; dies ungestörter tun zu können, wäre geradezu der Sinn der Verschiebung ins Sozialtranszendente. - Diese Möglichkeit bieten im übrigen auch die dynamischen Begriffe, wenn die Zielvorstellung ihrerseits mythischen Charakter hat. Es trifft zwar zu, daß, wie Glotz sagt, mythisch aufgeladene Begriffe Bewegung und Geschichte sistieren; doch gilt nicht umgekehrt, daß dynamische Begriffe Mythen in der Politik ausschlössen. Behält man diese Nicht-Umkehrbarkeit der Aussage im Auge, so wird man das Plädoyer von Glotz für eine Politik aus dem Geist der Aufklärung als persönliche Maxime schätzen, mag aber die mythenbildende Kraft auch der Sozialdemokratie unter Wert veranschlagt finden.11 Geißler setzt in seinem Beitrag einen anderen Schwerpunkt, das von Glotz behandelte Problem wird nicht einmal ausdrücklich zum Thema; doch hat sein sprachkritischer Umgang mit den Begriffen, insofern er mit einer Festsetzung „richtiger Begriffe" verbunden ist, viel mit der im Anschluß an Glotz beschriebenen Kontroverse zu tun. Im Vordergrund steht, wie ich in Anlehnung an Geißlers Sprachgebrauch sagen möchte, die Frage nach dem „guten Begriff", 12 der über das Kriterium zu beurteilen ist, ob er geeignet ist, das, was ich sagen will und mir wichtig ist, dem Adressaten wirkungsvoll zu vermitteln: er muß „in der Luft liegen", den „Erwartungen der Menschen" entsprechen und muß für möglichst viele „verständlich und einprägsam" sein. Über die einzelnen 9

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„Dann haben Sie hinter dem mythisch erhöhten Leitbild Familie die Kleinfamilie der oberen Mittelschicht als Werteträger der geistig-moralischen Erneuerung. Also kein Leitbild, sondern die Positivität einer bestimmten Gruppe von Menschen, die den anderen als Muster aufgezwungen werden soll" (S. 235). W. F. Haug: Notiz zur gegenwärtigen ideologischen Arbeit in der EKD, in: Das Argument 113 (1979), S. 76-81. Überflüssig zu sagen, daß die einen wie die anderen Begriffe nicht dagegen gefeit sind, in der öffentlichen Auseinandersetzung, vor allem in Wahlkampfzeiten, zu sprachtechnologisch berechneten Erkennungs- und Markenzeichen zu verkommen. Die Unterscheidung zwischen dem guten bzw. dem schlechten und dem richtigen bzw. dem falschen Begriff ist, so glaube ich behaupten zu dürfen, inhaltlich eine Unterscheidung, die den Ausführungen Geißlers zugrunde liegt. Er verwendet allerdings die Ausdrücke gut\ schlecht, richtigjfalsch nicht in allen Fällen im Sinne dieser Unterscheidung.

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Begriffe hinaus auf die Sprache des „guten Politikers" erweitert, plädiert Geißler für ein „klares und allgemeinverständliches Deutsch", eine „einfache Sprache", auch für notwendige „Übertreibungen", „provokative Formulierungen", „Vereinfachungen" und Polemik. Wenn Geißler zwischen der sprachlichen Form und dem politischen Inhalt unterscheidet, so ist der „gute Begriff" ein Problem der sprachlichen Form, die „klare und deutliche Sprache" ein Problem der Verbalisierung des Gemeinten. Begriff in der Fügung des „guten Begriffs" meint also die sprachlichen Ausdrücke, mit denen die jeweiligen politischen Inhalte vermittelt werden. Da die Güte der sprachlichen Formulierungen rein von ihrer Wirksamkeit beim Adressaten her bestimmt wird und noch nichts über die politischen Inhalte besagt, kann Geißler über die Güte überparteilich befinden und dem Gegner durchaus zubilligen, auch „gute Begriffe" zu haben. So hält er die sprachliche Prägung des Babyjahres der SPD für einen „guten Begriff für eine, in der damaligen Konkretisierung, schlechte Sache" (S. 224). Umgekehrt scheint ihm das Kompositum Rentenniveausicherungsklausel, weil „kompliziert und aus sich heraus kaum verständlich", ein „schlechter Begriff für eine gute Sache" (S. 224). Wie entscheidet man aber, ob eine Sache, der politische Inhalt gut oder schlecht ist? Da die Beurteilung der Sache eine Option für eine wünschenswerte Politik und bestimmte Zielvorstellungen voraussetzt, ist sie notwendig abhängig von der spezifischen Position des Beurteilenden, und sie ist zudem kein Sprachproblem. Bei Geißler klingt es aber anders. Wenn er schreibt: „Die Kunst der politischen Sprache besteht darin, Formeln zu finden, die verständlich und einprägsam sind, ohne zu verfalschen" (S. 227), so könnte man die Gefahr der Verfälschung, durchaus nachvollziehbar, darin erblicken, daß in der einseitigen Orientierung am Adressaten die Begriffe nicht mehr die Funktion erfüllen, den jeweiligen politischen Willen des Sprechers unverfälscht zum Ausdruck zu bringen. Geißler beurteilt die von ihm kritisierten Begriffe aber nicht primär in Hinblick auf die politischen Absichten der Sprecher, sondern in Hinblick darauf, ob die verwendeten Ausdrücke die Wirklichkeitsausschnitte, auf die sie bezogen werden, korrekt bezeichnen. Er beansprucht, den „richtigen Begriff zu kennen, zu wissen, was ein Wort „in Wirklichkeit" bedeutet, was ein „falscher Begriff ist und wer „Schindluder" mit ihm „treibt". Dieser Anspruch ist immer, und damit komme ich auf die von Glotz beschriebene Kontroverse zurück, mit einem Starrmachen der Begriffe verbunden, kommt aber auch immer, wenn man dem platonischen Höhlenmenschen die bloße Behauptung nicht durchgehen läßt, in argumentative Schwierigkeiten. Da Geißler zur Begründung der Richtigkeit der Verweis auf den faktischen Sprachgebrauch, die konventionelle Geltung der Wörter in der Kommunikationsgemeinschaft, nicht zur Verfügung steht, ergibt doch gerade die Strittigkeit des Gebrauchs das Ausgangsproblem, beruft

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er sich wechselnd auf Argumente ganz unterschiedlicher Provenienz. — Im Falle von Frieden ζ. B. soll Thomas von Aquin die „richtige Definition des Friedens" verbürgen (S. 223). Unbegründet bleibt und unbegründbar ist, warum gerade diese eine historische Ausprägung des Begriffs bestimmen soll, was der Frieden in Wirklichkeit ist und warum wir uns heute Thomas von Aquin anbequemen sollen. Alltagssprachlich hat Frieden in vielen Kontexten genau die Bedeutung, die Geißler bekämpft: Abwesenheit von Krieg; so z.B. in den Nominalkomposita Friedensvertrag, Friedensverhandlungen. Wenn Frieden tatsächlich einen politischen Zustand bezeichnete, „der sich erst dann ergibt, wenn Grundwerte verwirklicht sind" (S. 223), dann wäre die Formel vom Frieden in Freiheit schlicht tautologisch, was sie aber, gemessen am Sprachgebrauch, für den der Begriff der Freiheit in dem des Friedens nicht schon mitenthalten ist, nicht ist. - Desgleichen ist nicht einzusehen, warum sich die Sprecher der deutschen Sprache auch alltagssprachlich den strafrechtlichen Gewaltbegriff vorschreiben lassen sollen. Es ist nichts verkehrt daran, über Demonstranten zu sagen, sie hätten friedlich auf der Straße gesessen. Und mit Recht sagen sogar die Politiker bei solchen Gelegenheiten, die Demonstration sei - Gott sei Dank —friedlich verlaufen. In vergleichbarer Weise ließen sich Geißlers Bemerkungen zu Verteidigungsbündnis (in Anwendung auf den Warschauer Pakt), Berufsverbot (in Anwendung auf den Ausschluß von Extremisten aus dem Öffentlichen Dienst) und Sicherheitspartnerschaft (in Anwendung auf die Beziehung westlicher Staaten zur Sowjetunion) in Zweifel ziehen, solange sie mit der Gewißheit vorgetragen werden, im Besitz des richtigen Begriffs zu sein, anstatt daß die in den Begriffen sich ausdrückenden politischen Positionen politisch und nicht pseudo-semantisch - kritisiert werden. Die Kritik an seiner Konstruktion des richtigen Begriffs wies Geißler schon während der Tagungsdiskussion als Federfuchserei zurück, da seine Kritik selbstverständlich von seiner spezifischen politischen Position abhängig sei, auch wenn er diesen Sachverhalt nicht immer umständlich ausformuliert habe. Da es jedoch sprachlich nicht unbedingt aufwendiger ist, den gewünschten Inhalt von Begriffen auf die eigenen politischen Zielvorstellungen zu beziehen, bedarf die Verbreitung der pseudo-semantisch begrün-, deten Argumentationsfigur des richtigen Begriffs bei Geißler und in der konservativen Sprachkritik der 70er Jahre einer anderen Erklärung. Sie wurzelt in der Tat nicht notwendig in einer begriffsrealistisch begründeten Sprachtheorie, sondern kann auch taktisch-persuasiv motiviert sein, insofern als der, dem es gelingt, die eigene partikulare politische Position beim Bürger mit der höheren Weihe des richtigen Begriffs zu schmücken, in der politischen Auseinandersetzung argumentative Vorteile erringt und den jeweiligen politischen Gegner in eine schwierige Lage bringt. Die Gegenwehr von Glotz besteht darin, daß er unter dem kritischen Stichwort Mjthisierung die begriffsrealistische Fixierung der Weltinterpretation, die ihn selbst, erfolgreich durchgesetzt, sprachlos machen müßte, mit einer

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Walther Dieckmann

anderen Begriffstheorie zu verhindern sucht. Auf diese Weise kann die begriffstheoretische Argumentation auch auf der Ebene der sprachkritischen Reflexion für die taktisch-persuasive Rede funktionalisiert werden. Daß dies in der Tat oft geschieht, läßt sich wiederum an der konservativen Sprachkritik der 70er Jahre gut belegen. Als es Anfang der 70er Jahre darum ging, für die erstrebte konservative Neubesetzung der Begriffe überhaupt erst einmal Raum zu schaffen, d. h. die wirkliche oder vermeintliche hegemoniale Geltung der sozial-liberalen Reformbegriffe, die in der öffentlichen Diskussion zumindest den Verdacht auf Richtigkeit hatten, zu destruieren, argumentierten die konservativen Sprachkritiker keineswegs eindeutig begriffsrealistisch, sondern beriefen sich - unter taktisch-persuasiven Gesichtspunkten durchaus naheliegend - auf die notwendige Perspektivität der Begriffe in Abhängigkeit von bestimmten politischen Zielvorstellungen. 13 Ist die Sprachherrschaft des Gegners gebrochen und ist es gelungen, die eigenen Begriffe im öffentlichen Bewußtsein dominant durchzusetzen, dann ist es, wiederum taktisch-persuasiv beurteilt, gerade nicht sinnvoll, die Perspektivität der Begriffe zu betonen, weil damit Freund und Gegner das gleiche relative Recht bekämen. Viel besser ist es, den erwünschten Zustand eigener Dominanz in der öffentlichen Sprache durch Berufung auf die Richtigkeit der Begriffe zu stabilisieren. Es ist Sache des Gegners, die solcherart festgesetzten Begriffe als Mythenbildung o. ä. zu kritisieren, um das beanspruchte Interpretationsmonopol zu verhindern. — Auch in dieser Hinsicht waren die beiden Vorträge Zeugnisse einer politischen Auseinandersetzung im Gewände der Sprachkritik. Daß die Auseinandersetzung eine so ungewohnt interessante und z. T. sogar amüsante Form annahm, entschädigt für manches Fernsehgespräch und manches öffentliche Statement.

13

Vgl. dazu ausführlicher: M. Behrens, W. Dieckmann u. E. Kehl: Politik als Sprachkampf, in: H. J. Heringer (Hg.): Holzfeuer im hölzernen Ofen, S. 216-265.

Rainer

WIMMER

(Mannheim)

Chancen der Sprachkritik 1. Vorbemerkungen zu Sinn und Aufgaben der Sprachkritik Sprachkritik soll und kann die Freiheit stärken. Die Chancen für eine vernünftige Sprachkritik verbessern heißt zugleich, die Chancen der Freiheit verbessern. Wer sich in den Dienst einer so allgemeinen These stellt, die zudem ein so großes und altehrwürdiges Thema wie das der Freiheit aufgreift, muß natürlich auf eine Fülle von kritischen Fragen gefaßt sein. Einige solcher Fragen möchte ich vorab formulieren. Ich werde sie natürlich nicht alle beantworten können, und wo ich zu Antworten kommen kann, werden diese noch sehr unzulänglich, in jedem Fall unvollständig sein. Eine erste und wohl auch die grundsätzliche Frage ist: Wie geht das Thema Sprache in der Weise mit dem Thema Freiheit zusammen, wie ich es annehme? Inwiefern kann Arbeit an der Sprache - und ich sehe Sprachkritik als konstruktive Arbeit an - die Freiheit des einzelnen Menschen stärken? — Viele Erfahrungen zeigen, daß man mit Sprache alles mögliche machen kann, was Menschen hilft oder was ihnen schadet. Insbesondere kann man die Sprache auch benutzen, um andere zu manipulieren, zu beherrschen und zu unterdrücken. In Diktaturen werden die sprachlichen Mittel ausgenützt, um Macht zu festigen, Freiheiten einzuschränken, Lebensmöglichkeiten abzuschneiden. Wie also kann man annehmen, daß sprachkritische Arbeit und — wie ich darüber hinaus noch sagen möchte — jegliche Arbeit an der Sprache, die diesen Namen verdient, ein Element der Freiheit bei sich hat und der Erweiterung menschlicher Handlungsmöglichkeiten dient, auch wenn das nicht immer auf Anhieb augenfällig ist und dieser Nutzen sich zuweilen auch erst längerfristig einstellt? Auf diese Frage werde ich später eine Antwort versuchen, indem ich einige sprachtheoretische Überlegungen anstelle. Ich glaube nämlich, daß man aus der Sprachtheorie, der Theorie über die allgemeine Sprachfähigkeit, also der Theorie über die langage, nicht über die langue (eine Einzelsprache) Aussagen über ein allen natürlichen Sprachen inhärentes analytisches Potential ableiten kann, das in bezug auf die Freiheitsfrage bzw. in bezug auf die Gefahr einer Herrschaft durch Sprache eine gewissermaßen selbstheilende Kraft mit sich bringt. Eine zweite Frage, die durch meine allgemeine These, Sprachkritik diene der Freiheit des einzelnen, aufgeworfen wird, ist: Was ist hier unter Sprachkritik zu verstehen? Welche Art von Sprachkritik könnte denn überhaupt eine solche Leistung erbringen, die hier verlangt wird? - Es gibt eine

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Rainer Wimmer

Art philosophischer Sprachkritik, die aufs Ganze geht, insofern sie - unter der Voraussetzung, daß alle Erkenntnis sprachlich produziert und vermittelt wird - durch die Sprache hindurch Erkenntniskritik will. Diese Art radikaler Sprachkritik ist alt. Sie bestimmt bereits die bekannte Idolenlehre des Francis Bacon zu Beginn der Neuzeit. In neuerer Zeit kann sie sich insbesondere auf Fritz Mauthners Kritik der Sprache berufen. 1 Mauthner wandte sich gegen jegliche Verfestigung von Erkenntnissen in sprachlichen Mustern und Formen. Er wollte mit seiner Sprachkritik alles aus dem Wege räumen, was dem ständigen Wandel von Erkenntnissen entgegenstehen könnte, und er erhob daher die Auflösung aller verfestigten und standardisierten Benennungen- und Prädikationsstrukturen zum Prinzip. Mauthner schreibt (im 1. Bd. seiner „Beiträge zu einer Kritik der Sprache", S. 713): So ist es die Sprache allein, die für uns dichtet und denkt, die uns auf einiger Höhe die Fata Morgana der Wahrheit oder der Welterkenntnis vorspiegelt, die uns auf der steilsten Höhe losläßt und uns zuruft: Ich war dir ein Führer! Befreie dich von mir! Die Kritik der Sprache muß Befreiung von der Sprache als höchstes Ziel der Selbstbefreiung lehren. Die Sprache wird zur Selbstkritik der Philosophie. Diese selbstkritische Philosophie wird durch ihre Resignation nicht geringer als die alten selbstgerechten Philosophien. Denn von der Sprache gilt wie von jedem anderen Märtyrer der Philosophie das tapfere Wort: Qui potest mori, non potest cogí. Die Sprachkritik, die ich mir vorstelle, hat nicht die philosophischen und erkenntnistheoretischen Ambitionen und nicht die radikale Tendenz einer Fundamentalkritik, wie wir sie bei Mauthner finden. Ich denke auch nicht an eine Sprachkritik auf der Basis einer Logik, die natürlichsprachliche Phänomene an den Konstrukten einer wie immer gearteten Kunstsprache mißt und bewertet. Vielmehr schwebt mir eine Art von Sprachkritik vor, die als Teil der Sprachwissenschaft im herkömmlichen Sinne fungieren kann, insofern sie 1. einzelsprachliche Phänomene in einer spezifischen Auswahl zu ihrem Gegenstand hat und diese mit den Mitteln der linguistischen Syntax und Semantik (einschließlich Pragmatik) untersucht, 2. alle sprachtheoretischen Aussagen, die über die Beschreibung einer Einzelsprache hinausreichen, auf empirische Befunde einer Einzelsprache stützt und 1

Vgl. Mauthner 3 1923.

Chancen der Sprachkritik

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3. alle Bewertungen von sprachlichen Phänomenen und insbesondere von sprachlichen Handlungsmustern aus sprachwissenschaftlichen Analysen ableitet. Die Sprachkritik ist also in erster Linie Sprachanalyse, und sie ist Kritik an Sprechern und deren Sprachverwendung nur insofern, als sie Sprechern zu denken geben kann und sie vielleicht auch zu Änderungen ihres Sprachgebrauchs anregen kann. Ich verwende den Terminus Kritik hier also in der traditionellen Verwendungsweise der Aufklärung, wo beispielsweise bei Kant „Kritik der reinen Vernunft" die Analyse der reinen Vernunft meint.2 Für die Sprachkritik, die ich mir vorstelle, möchte ich zunächst einige kleinere Beispiele geben, um dann Konsequenzen zu ziehen. Die Beispiele sind zugegebenermaßen recht einfach, und sie sollen es auch sein. Sie beziehen sich ferner nur auf einen einzigen Komplex sprachlicher Phänomene, den man unter der Überschrift zusammenfassen könnte: Was kann man bei der Verwendung von komplexen nominalen Ausdrücken alles mitmeinen und stillschweigend voraussetzen, ohne es explizit zu machen? 2. Beispiele für komprimierten Sprachgebrauch Das Phänomen, um das es in meinen Beispielen geht, ist auch von Bundeskanzler Helmut Kohl in seiner Rede zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse 1984 angesprochen worden. Ich darf aus der Rede des Bundeskanzlers zitieren.3 Auch die Sprache der Politik kennt Fluchtbewegungen: Es gibt die Flucht in hektischen Wortreichtum, um nichts mitzuteilen. Es gibt die Flucht in politische Sprachspiele. Da werden Begriffe besetzt, umgedeutet, konstruiert, aufgebläht, demontiert. Der Kampf um Worte gerät zum Machtkampf. „Friedenskampf, „gewaltfreier Widerstand", „Ziviler Ungehorsam" sind Beispiele absichtsvoll gewählter Mehrdeutigkeit. Aussage und Dementi sind bewußt miteinander verwoben. Die Ausuferung politischer Schlüsselbegriffe macht sie beliebig handhabbar, macht es möglich, mit ihnen sowohl prinzipiellen Widerspruch wie auch die Illusion von Übereinstimmung in Worte zu fassen.

Wenn ich recht verstehe, soll mit einem Beispiel wie Friedenskampf demonstriert werden, daß hier in einem einzigen nominalen Ausdruck in gewissermaßen kondensierter Form ein Widerspruch enthalten sei, nämlich: Die beiden Aussagen „Es ist Friede" und „Es herrscht Kampf" gingen nicht zusammen, stellten einen Widerspruch dar. Der Kanzler hat diese Erscheinung als „absichtsvoll gewählte Mehrdeutigkeit" charakterisiert. Von Mehrdeutigkeit im landläufigen Sinne kann sicher nicht die Rede sein. Aber es 2 3

Vgl. auch Wimmer 1984, 16. Zitiert nach der Pressemitteilung der Bundesregierung Nr. 503/84 vom 2. Oktober 1984.

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Rainer Wimmer

erscheint plausibel, für das Beispiel eine Analyse vorzuschlagen, die die beiden Komponenten des Wortes Friedenskampf trennt und expliziert. Freilich sind auf diesem Wege ganz verschiedene Analyseergebnisse denkbar: Nicht für jedermann müssen Kampf und Friede absolute Gegensätze darstellen. Das hängt von den Bedeutungen der Komponentenwörter ab, d. h. von den Kommunikationsgeschichten, die die Sprecher mit diesen Wörtern verbinden. Und das hängt davon ab, wie die Relation zwischen den Komponentenwörtern verstanden wir. Ein christliches Mitglied der Friedensbewegung wird unter „Kampf für den Frieden" eher harte Arbeit für den Frieden verstehen — ohne jegliche Gewaltanwendung — als kämpferisch-gewaltsames Eintreten für bestimmte Ideen und Ziele. Es gibt nicht das eine und allein richtige Verständnis eines Kompositums wie Friedenskampf. BEISPIEL 1 Atom, atomare Abschreckung, Atombombe, Atombrennstoff, atomare Diplomatie, Atom-Drohung, Atomenergie, atomare Entsorgung, atomare Garantie, atomare Geiseln, Atomgeiseln, atomare Habenichtse, Atomhabenichtse, Atomklub, atomares Komplicentum, Atomkraftwerk, atomare Maginot-Linie, atomare Mauer, Atommeiler, atomare Parität, atomares Patt, Atompatt, Atom-Pool, Atomschirm, atomare Schwelle, Atomschwelle, atomare Sicherheit, Atomspirale, atomarer Störfall, atomare Strahlenbelastung, atomare Verseuchung, Atomwaffe, atomwaffenfreie Zone, Atomwaffensperrvertrag, atomarer Zwerg.

Die als Beispiel 1 gegebene Liste enthält nominale Ausdrücke mit dem Lexem Atom, die in den vergangenen dreißig Jahren als politische Schlagwörter und Kampfbegriffe mehr oder weniger „Karriere" gemacht haben. 4 Diese Ausdrücke können Gegenstand sprachkritischer Analysen sein, insofern hinter ihnen semantische Kämpfe als Kommunikationsgeschichten stehen, die es wenigstens teilweise zu rekonstruieren gilt, wenn man sie verstehen bzw. mit Erfolg gebrauchen will. Für nicht mit den jeweiligen Kommunikationsgeschichten vertraute Sprecher haben die inhaltlichen Komprimierungen in den Ausdrücken etwas Hermetisches, das einer sprachkritischen Brechung bedarf, wenn diese Teile des Wortschatzes nicht nur dem Gebrauch in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen vorbehalten bleiben sollen. Nehmen wir das Beispiel Atombrennstoff: Welche Implikationen, die in dem Wort verpackt sind, müßte eine linguistische Analyse versuchen, zutage zu fördern? Unter anderen sicherlich die euphemistische Aussage, daß es sich bei dieser Sache um einen Brennstoff handele wie etwa Holz, Kohle, Öl und ähnliche Dinge. Weiterhin sicherlich die Implikation, daß man diese Sache entsprechend genauso gut handhaben, verarbeiten könne wie die 4

Vgl. Nunn 1974.

Chancen der Sprachkritik

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einfachen „wirklichen" Brennstoffe. Weiterhin die Implikation, daß die Rückstände eines solchen Brennstoffs sich vergleichen ließen mit den Verbrennungsrückständen von Holz, Kohle oder Öl. - Solche Analysen wären kritische Wort- und Kommunikationsgeschichten, und einige solcher Analysen hat die semantisch-pragmatische Linguistik auch bereits vorgelegt, insbesondere in der letzten Zeit im Zusammenhang mit dem Jahr 1984 des großen Bruders. 5 Die Analysen müßten eigentlich in den Zusammenhang eines größeren zeitkulturellen Wörterbuchs gestellt werden. Doch das wäre natürlich eine immense Aufgabe. BEISPIEL 2 Klarheit ist alles, ist Sieg! Klarheit in der Erkenntnis des gewaltigen Streitens kann nur aus der Erkenntnis scharfumrissener Weltanschauung erstehen. Weltanschauung ist halt- und wertlos, wenn sie nicht, dem Uferlosen entrissen, umgrenzter Glaube geworden ist. Nationalsozialistischer Glaube aus völkischer Weltanschauung ist eindeutig, bedeutet Abbruch aller Brücken zu sterbenden, verfaulenden Welten, strebt unbeirrbar der Errichtung einer neuen Welt entgegen, getragen von dem neuen Menschen völkischer Art. Schaffung dieses Menschen ist die erste Tat werdender Erlösung ... (Völkischer Beobachter 28.10.1926)

Ich zitiere dieses Beispiel nach Peter von Polenz 1981. Das Textstück zeichnet sich dadurch aus, daß im Zentrum eine komprimierte Nominalphrase steht, nämlich die Phrase „nationalsozialistischer Glaube aus völkischer Weltanschauung", deren komprimierter Inhalt extrem explizierungsbzw. interpretationsbedürftig ist. Der umgebende Text aber kommt der Interpretationsbedürftigkeit überhaupt nicht entgegen; ganz im Gegenteil: Die expliziten Prädikationen bzw. Aussagen sind nichtssagend, schlicht, gemeinplätzig und tragen nichts zur Analyse der zentralen Phrase bei. Alle Prädikationen, die überhaupt gemacht werden, sind wiederum in nominale Ausdrücke implizierend verpackt: Was heißt schon „Klarheit in der Erkenntnis des gewaltigen Streitens" oder „Abbruch aller Brücken zu sterbenden, verfaulenden Welten" oder „neuer Mensch völkischer Art" oder „erste Tat werdender Erlösung"? — Das Ganze ist ein Musterbeispiel für leerformelhaften Textaufbau: Im prädikativ-verbalen Bereich ist der Text äußerst dürftig und kommt meist mit der Kopula ist aus. Das Leseverständnis hangelt sich von Nominalphrase zu Nominalphrase, die jeweils leerformelhaft inexplizit ist.

5

Vgl. Blanc 1983; Schwenger 1983.

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Rainer Wimmer

BEISPIEL 3 „aber das sind wir, da kommen wir her: die brut aus den vernichtungs- und zerstörungsprozessen der metropolengesellschaft, aus dem krieg aller gegen alle, der konkurrenz jeder gegen jeden, des systems, in dem das gesetz der angst, des leistungsdrucks herrscht, des einer-auf-die-kosten-des-andern, der Spaltung des

volks in manner und frauen, junge und alte, gesunde und kranke, ausländer und deutsche und der prestigekämpfe, und da kommen wir her: aus der isolation im reihenhaus, in den betonsilos der Vorstädte, den Zellengefängnissen, asylen und

trakts. aus der gehirnwäsche durch die medien, den konsum, die prügelstrafen, die ideologie der gewaltlosigkeit; aus der depression, der krankheit, der deklassierung, aus der beleidigung und erniedrigung des menschen, aller ausgebeuteten menschen im Imperialismus". (Rede von Ulrike Meinhof, 13.9.1974) Nur noch einige wenige Bemerkungen zum Beispiel 3: Der Text besteht fast ausschließlich aus einer Aneinanderreihung komprimierter Nominalphrasen wie „brut aus den vernichtungs- und zerstörungsprozessen der metropolengesellschaft" oder „ausgebeutete menschen im Imperialismus". Der Text ist wegen seiner Inexplizitheit im Grunde nur für einen engen Kreis von Eingeweihten, von In-group-Mitgliedern, zustimmungs- oder ablehnungsfähig, von Eingeweihten, für die die chiffrenhaften Kondensierungen von Erfahrungen in schlagwortartigen Nominalausdrücken eigentlich auch gar keiner Auflösung, keiner Explizierung mehr bedürfen, eben weil gar keine in irgendeiner Weise offene Kommunikation mit den Hörern mehr angestrebt wird. Es geht nur noch um eine Selbstbestätigung ideologisch verfestigter Erfahrungs- und Wissensbestände. Der Auszug aus der Rede von Ulrike Meinhof ist natürlich ein extremes Beispiel. Mit dem Phänomen, für das es steht, haben wir es aber vielerorts im Sprachgebrauch des Alltags, der Öffentlichkeit, der Politik und auch der Wissenschaft zu tun. Das Phänomen wird den Kommunikationsbeteiligten oft auch mehr oder weniger bewußt, eben wenn kommunikationsgeschichtliche Verfestigungen von Bedeutungen als solche erkannt werden und umstritten sind. In den semantischen Kämpfen, die dann ausbrechen können, geht es jeweils in einem um die Sache und um deren sprachliche Fassung. 3. Einige sprach theoretische Überlegungen Die Beispiele, die ich angeführt habe, ermöglichen relativ zwanglos einige sprachtheoretische Überlegungen, die ich zu Beginn angekündigt habe. Ich meine sprachtheoretische Überlegungen zur elementaren Struktur von Aussagen in natürlichen Sprachen und zur Komplizierung und Komprimierung von Aussagen. Alle Beispiele haben gemeinsam, daß es galt, in einzelnen nominalen Ausdrücken mitverpackte Aussagen zu explizieren und damit einer Analyse zugänglich zu machen. Die Beispiele exemplifizieren

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Chancen der Sprachkritik

damit eine universale Eigenschaft natürlicher Sprachen, mehrere Aussagen zusammenfassend ineinander einbetten zu können, wobei die eingebettete Aussage jeweils etwas aussagt über den einbettenden Ausdruck oder Teile von ihm oder über Gegenstände, die von ihm oder seinen Teilen bezeichnet werden. Die eingebetteten Aussagen erscheinen oft in der Form von Relativsätzen, von Attributen und von Kompositionselementen in nominalen Ausdrücken. Lassen Sie mich den Sachverhalt an einem vielleicht etwas extremen Beispiel erläutern. BEISPIEL 4 3

2

1 Der Autor,

dessen Hauptfigur ein Detektiv mit einem schlau fragenden Assistenten

der R o m a n e mit der Hauptfigur des Detektivs schrieb, der einen Assistenten als mehr oder weniger schlauen Frager hat.

Conan D o y l e

der einen Assistenten hat, der wegen seiner mehr oder weniger schlauen Fragen gerühmt wird.

D e r Romancier des Detektivs mit dem schlau fragenden Assistenten.

Sie finden ganz rechts in dem Beispielschema 4 den nominalen Ausdruck mit drei eingebetteten Aussagen jeweils in der Form eines Relativsatzes. In vier Schritten erscheint die komplexe Phrase dann syntaktisch und semantisch komprimiert und reduziert, bis schließlich nur noch der Eigenname für den ganzen Ausdruck steht. Die syntaktischen und semantischen Reduktionen, die vorgenommen werden, sind vielfältig und sehr komplex. Sie sind sprachwissenschaftlich im einzelnen noch keineswegs hinreichend analysiert, und man kann natürlich auch nicht behaupten, daß der Eigenname

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Rainer Wimmer

Conan Doyle dasselbe bedeutet wie der nominale Ausdruck mit den drei eingebetteten Relativsätzen, obwohl in vielen Texten der komprimierteste Ausdruck salva veritate gegen den explizitesten ausgetauscht werden kann. In dem Reduktionsprozeß ist viel zu viel explizites Wissen verloren gegangen, als daß ein Eigenname als gleichbedeutend mit einer komplexen Nominalphrase angesehen werden könnte. Mir scheint klar, daß natürliche Sprachen beides brauchen: auf der einen Seite Eigennamen und ähnlich komprimierte Ausdrücke, die kommunikationshistorisches Wissen inexplizit und zusammenfassend verdichtet enthalten, und auf der anderen Seite explizite Ausdrücke, in denen die gemeinten Aussagen bzw. Prädikationen mehr oder weniger offen zutage liegen. Eigennamen und eigennamenähnliche Formeln haben die Funktion, überkommenes und verfestigtes und normiertes Wissen in komprimierter Form leicht verfügbar zu machen. Explizite Prädikationen dagegen dienen der Neuzuschreibung von Eigenschaften, der kreativen Veränderung von Wissensbeständen, der innovativen Arbeit an Sprache und Welt.6 Der Sprachwissenschaftler, Schriftsteller und Erfinder von Sprachen J . R . R. Tolkien hat in seinem großen Roman „Der Herr der Ringe" an markanter Stelle die Fiktion einer Sprache angedeutet, die keine eigennamenhaften Komprimierungen kennt, sondern das historisch angesammelte Wissen stets in voller Länge und Wahrheit wiedergibt. Es geht um die Sprache der Baummenschen, der Wesen, die Tolkien auserkoren hat, die besten Freunde der Menschen und Hobbits zu sein, ihnen in entscheidenden Schlachten gegen das Böse zu helfen und immer die Wahrheit zu sagen. Der Baummensch Treebeard sagt einmal zu einem Hobbit, seinen wahren Namen könne er nicht preisgeben bzw. aussprechen, denn die Namen der Baummenschen seien so lang wie ihre Lebensgeschichten, weil sie eben ihre Lebensgeschichten enthielten. Es wundert nicht, daß Tolkien die Fiktion einer solchen Sprache lediglich andeuten kann; denn eine solche Sprache wie die der Baummenschen läßt sich nicht ausformulieren. So können die Hobbits, als sie aus der Ferne einer Konferenz der Baummenschen beiwohnen, nichts anderes vernehmen als ein sehr lang andauerndes harmonisches, auf- und abschwellendes Summen über den Wipfeln, dessen Wohlklang ihnen als Inbegriff von Wahrheit und Menschlichkeit gilt. 7 Welche Konsequenzen kann man aus all diesen Überlegungen ziehen? Ich möchte einige Thesen formulieren, mit denen ich an meine allgemeine Eingangsthese anknüpfen möchte, daß Sprachkritik die Freiheit fördert.

« Vgl. Heringer/Öhlschläger/Strecker/Wimmer 1977, 106-125. Vgl. auch die Hinweise in Wimmer 1982 b.

7

Chancen der Sprachkritik

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1. These: Die mit syntaktisch-semantischen Mitteln produzierte Komprimierung von Aussagen in nominalen Ausdrücken kommt der kommunikativen Notwendigkeit entgegen, Wissensbestände in überschaubaren Einheiten zusammenzufassen und damit in ökonomischer Weise verfügbar und vermittelbar zu machen. Mit dem Verfahren sind aber auch offensichtliche Nachteile verbunden, die darin liegen, a) daß zu vermittelnde Inhalte reduziert werden, dadurch daß sie von ihren kommunikationsgeschichtlichen Entstehungs- und Entwicklungszusammenhängen abgeschnitten werden, b) daß Inhalte normativ so sehr verfestigt werden, daß sie den tatsächlichen Bedürfnissen des Sprachwandels und des Erkenntnisfortschritts nicht mehr gerecht werden, c) daß die Inhaltsreduzierungen und Inhaltsnormierungen manipulativ gegen alternative Sprachverwendungen und damit zugleich gegen Erkenntnisse und Interessen der entsprechenden Sprachbenutzer eingesetzt werden. 2. These Komplementär zur reduktiven Komprimierung von Aussagen ist das ebenfalls in der Sprachfähigkeit angelegte Prinzip der freien Gestaltung von expliziten Aussagen, in denen Eigenschaften bzw. sprachliche Ausdrücke immer wieder neu bestimmten Gegenständen der Welt oder auch sprachlichen Einheiten zu- oder abgesprochen werden und in denen auf dieses Weise die Welt ständig verändert und immer wieder neu geordnet wird. Dieses Prinzip basiert wahrscheinlich letztlich gemäß einer entsprechenden Strukturierung des menschlichen Geistes auf einer rekursiv-funktionalen Zuordnung von Wissenselementen, was nichts anderes heißt, als daß über jede beliebige Aussage eine andere explizierende Aussage ermöglicht wird, so wie es in meinem Beispiel mit der zweimal wiederholten Einbettung eines Relativsatzes exemplifiziert ist. Das Prinzip stellt sicher, daß jede Aussage und jeder Aussageteil selbst wiederum zum Gegenstand einer Aussage gemacht werden, d. h. kommentiert, interpretiert, expliziert werden kann. Es ist das Prinzip der beliebig weitgehenden Explizierungsmöglichkeit, die natürlich nur immer gemäß den jeweils praktisch-pragmatischen Bedürfnissen und Erfordernissen in Anspruch genommen und ausgenützt wird. 3. These Die allgemeine Aufgabe der Sprachkritik besteht darin, das Prinzip der Explizierbarkeit zu erforschen und in Theorie und Praxis zu vertreten. Was die praktische Seite der Sprachkritik anbelangt, bedeutet das insbesondere, a) kommunikations- und sprachgeschichtliche Zusammenhänge zu erforschen und zu beschreiben, in denen sprachlich verfestigte Ausdruckskomplexe stehen, und damit zur Offenheit des Sprachgebrauchs beizutragen, b) durch Beispielanalysen exemplarisch zu zeigen, mit welchen Verfahren sprachliche Inhalte unter bestimmten Interessen normativ verfestigt und als solche in der Sprachgesellschaft durchgesetzt werden können, c) Methoden der Explizierung komprimierter und reduzierter Aussagen zu entwickeln und lehr- und lernbar zu machen,

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d) Alternativen zu sprachlichen Normierungen und Normen zu entwickeln und vorzuschlagen, die unter jeweils bestimmten politischen, gesellschaftlichen und institutionellen Bedingungen entstanden sind und daher aktuellen Erfordernissen nicht mehr gerecht werden. Die Sprachkritik dient nach dieser Bestimmung der Förderung von Freiheiten, die in jedermanns Sprachfahigkeit angelegt sind, und zwar von Freiheiten der Auslegung, Deutung, Veränderung und Festlegung von Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke gemäß den individuellen Interessen und gemäß dem, was das Sprachsystem an Möglichkeiten zuläßt. Da die Gestalt der physikalischen und der sozialen Welt sowie die Struktur und Inhalte der Erkenntnis nicht unabhängig von diesen sprachlichen Potenzen sind, bedeutet die Wahrnehmung sprachkritischer Freiheiten zugleich die Wahrnehmung fundamentaler Freiheiten der Lebensgestaltung. Die Arbeit der Sprachkritik trifft sich in ihren Zielen und Aufgaben hier mit der Arbeit des Schriftstellers und Literaten, sofern diese Arbeit speziell auf die sprachliche Formung ausgerichtet ist. Ich zitiere aus dem Vortrag „Sprachkultur und Literatur", den Adolf Muschg 1984 auf der Jahrestagung des Instituts für deutsche Sprache gehalten hat: „... wenn es am Ende zutrifft, daß die literarische Sprache in spielender Form Handlungsmöglichkeit speichert, zuerst die Möglichkeit anders, unvorhergesehen zu handeln - wenn das wahr ist (und ich glaube, es bleibt wahr), so hätte die Sprachpflege, verstanden als alternative Kulturtechnik, heute stärkere Gründe als jemals, sich an der Literatur zu orientieren. Dann konnte Sprachpflege fast ein Synonym für Lebensrettung geworden sein, und %war auf allen Ebenen, von der intim-privaten über die öffentlich-politische bis hin %ur globalen. Denn die Literatur schärft, durch ihre Art des Zeichengebrauchs, den Möglichkeitssinn gegenüber dem bedrohlich oder tödlich, vor allem: stumpf und unempfindlich gewordenen Positiven."8 Betrachtet man die beiden sprachlichen Prinzipien, die ich herauszustellen versucht habe, und die entsprechende Bestimmung der Aufgaben und Ziele der Sprachkritik, so kann man sich sehr wohl fragen, wieso sich die Sprachkritik im wesentlichen auf die Seite des Prinzips der Explizierbarkeit schlagen soll. Bedarf nicht auch die Normung von Inhalten einer ebensolchen Pflege? Die Antwort auf diese naheliegende Frage ist nicht ganz so einfach und hat mehrere Aspekte. Zum einen sind die beiden herausgestellten Prinzipien eng miteinander verbunden; und insofern bedeutet Arbeit an dem einen Prinzip immer auch Arbeit an dem anderen. Die Analyse überkomprimierter Ausdrücke kann nicht darauf verzichten, auch den Komprimierungsvorgang selbst zu analysieren, seine Nachteile, aber auch seine Vorteile herauszustellen.

8

Erscheint 1985 im Jahrbuch 1984 des Instituts für deutsche Sprache. Düsseldorf ( = Sprache der Gegenwart Bd. 63).

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Literatur Aspekte der Sprachkultur. Mitteilungen 10 des Instituts für deutsche Sprache. Redaktion: W. Teubert. Mannheim 1984. Blanc, Κ. (Hrsg.), 1983, Tatort: Wort. München. Braun, P., 1979, Tendenzen in der deutschen Gegenwartssprache. Stuttgart. Greule, Α., 1984, Sprachlenkung oder Sprachpflege? Zur Situation der germanistischen Sprachpflege heute. In: Language Problems and Language Planning 8/1 (1984), 50-63. Heringer, Η. J./Öhlschläger, G./Strecker, B./Wimmer, R., 1977, Einführung in die Praktische Semantik. Heidelberg. Heringer, H. J. (Hrsg.), 1982, Holzfeuer im hölzernen Ofen. Aufsätze zur politischen Sprachkritik. Tübingen. Hermanns, F., 1982, Brisante Wörter. Zur lexikographischen Behandlung parteisprachlicher Wörter und Wendungen in Wörterbüchern der deutschen Gegenwartssprache. In: Η. E. Wiegand (Hrsg.): Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie II. Hildesheim/New York 1982 ( = GL 3-6/80), 87-108. Ising, E. (Hrsg.), 1977, Sprachkultur - warum, wozu? Aufgaben der Sprachkultur in der DDR. Leipzig. Mauthner, F., 3 1923, Beiträge zu einer Kritik der Sprache. 3 Bde. Leipzig. Nunn, A.D., 1974, Politische Schlagwörter in Deutschland seit 1945. Ein lexikographischer und kritischer Beitrag zur Politik. Gießen. Polenz, P. von, 9 1978, Geschichte der deutschen Sprache. Berlin, New York. Polenz, P. von, 1980, Möglichkeiten satzsemantischer Textanalyse. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 8, 133-153. Polenz, P. von, 1981, Über die Jargonisierung von Wissenschaftssprache und wider die Deagentivierung. In: Th. Bungarten (Hrsg.), Wissenschaftssprache. München, 85—110. Polenz, P. von, 1983, Die Sprachkrise der Jahrhundertwende und das bürgerliche Bildungsdeutsch. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht (SuL), 14. Jg., H. 52, 3-13. Polenz, P. von, 1984, Entwicklungstendenzen des deutschen Satzbaus. In: Die deutsche Sprache der Gegenwart. Veröffentlichungen der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wiss. 51, Hamburg, 29^12. Polenz, P. von, 1985, Deutsche Satzsemantik. Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens. Berlin, New York ( = Sammlung Göschen 2226). Schwenger, H., 1983, Im Jahr des großen Bruders. Orwells deutsche Wirklichkeit. München/ Zürich. Strecker, B., 1983, Das Geschäft der Sprachkritik und die Verantwortung des Sprachwissenschaftlers. In: M. Geier, H. Wötzel (Hrsg.), Das Subjekt des Diskurses. Beiträge zur sprachlichen Bildung von Subjektivität und InterSubjektivität. Berlin ( = Argument - Sonderband AS 98) 1983, 7-27. Wimmer, R., 1982 a, Überlegungen zu den Aufgaben und Methoden einer linguistisch begründeten Sprachkritik. In: Heringer (Hrsg.), 1982, 290-313. Wimmer, R., 1982b, Aus Namen Mythen machen. Zu J . R . R. Tolkiens Konstruktion fiktionaler Welten. In: E. Lämmert (Hrsg.), Erzählforschung. Stuttgart 1982, 552-567. Wimmer, R., 1983, Sprachkritik und reflektierter Sprachgebrauch. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht (SuL), 14. Jg., H. 51, 3-14. Wimmer, R., 1984, Sprachkultivierung durch Sprachkritik: Ein Plädoyer für reflektierten Sprachgebrauch. In: Aspekte der Sprachkultur. Mitteilungen 10 des Instituts für deutsche Sprache, 7-28.

Rudi

KELLER

(Düsseldorf)

Was die Wanzen tötet, tötet auch den Popen Ein Beitrag zur politischen Sprachkritik 1 „Es war einmal ein Pope, der war Pope genug, um Wanzen in seinem Bette zu haben, und Freigeist genug, um seine Wanzen als etwas Häßliches oder doch Fremdes zu empfinden. Umsonst wandte er nacheinander hundert Mittel an, seine Wanzen zu vernichten. Eines Tages aber brachte er aus der großen Stadt, wo die Universität ist, ein Pulver mit, welches ihn untrüglich befreien sollte. Er streute es aus und legte sich hin. Am anderen Morgen waren alle Wanzen tot, aber auch der Pope war tot. Was die Wanzen tötet, tötet auch den Popen." 1 Diese Fabel steht am Anfang von Mauthners „Beiträge zu einer Kritik der Sprache". Sprachkritik und Wanzenpulver haben eines gemeinsam: was die Wanzen tötet, tötet auch den Popen. Oder: eine sprachkritische Haltung ist immer zugleich eine selbstkritische. Wo sie das nicht ist, ist sie unseriös; wie etwa im Falle linker wie rechter Pseudokritik am Sprachgebrauch der jeweils anderen Seite; Sprachkritik aus der linguistischen Froschperspektive. Die Sprachkritik ist ein Lieblingskind der germanistischen Linguistik. Es wurde zwar eine kurze Zeit vernachlässigt zugunsten einer languezentrierten Sprachbetrachtung, aber neuerdings scheint es sich wieder großer Zuneigung zu erfreuen. Ich halte diese Entwicklung aus zweierlei Gründen für begrüßenswert. Erstens weil sie eine relevante Form der angewandten Sprachwissenschaft darstellt; sie ist die Praxis der Semantik. Zweitens weil sie der Ort ist, wo sich Interessen professionell betriebener Sprachbetrachtung und Sprachphilosophie mit dem natürlichen Räsonnieren und dem alltäglichen Philosophieren des sogenannten gemeinen Mannes 2 treffen. Sprachkritik befindet sich auf dem Schnittpunkt von wissenschaftlicher Linguistik und Volkslinguistik. 3 1 2

3

Mauthner 1901/1982, Bd. I, S. 2. Vertreterinnen der sog. feministischen Linguistik mögen mir diesen sexistischen Ausrutscher verzeihen. W o ich ihren sprachkritischen Empfehlungen nicht folge, hat dies ausschließlich ästhetische Gründe. Diesen Ausdruck übernehme ich von Herbert Brekle.

Was die Wanzen tötet,

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Ich werde in diesem Vortrag Sprachkritik üben, und 2war exemplarisch an einer Äußerung von Gerold Tandler und an einer Äußerung von Heiner Geißler. 4 Beide hatten im vergangenen Jahr heftige Reaktionen hervorgerufen. Außerdem möchte ich im Anschluß daran etwas zur Funktion politischer Sprachkritik sagen (auch wenn das Wesentliche dazu schon gesagt ist 5 ) und in gewissem Sinne Politiker vor Sprachkritikern in Schutz nehmen. 2 Bevor ich damit beginne, einen Satz von Tandler zu kommentieren, sei an die Umstände erinnert, in deren Zusammenhang er geäußert worden war. Im Dezember des Jahres 1983, unmittelbar vor der offiziellen Anklage des Bundeswirtschaftsministers Graf Lambsdorff wegen Bestechlichkeit, erregten sich Politiker der CDU-CSU sowie der FDP öffentlich darüber, daß von der Presse Auszüge aus der Anklageschrift veröffentlicht worden waren, noch bevor diese Lambsdorff selbst zur Kenntnis gegeben worden war. In Analogie zu der erfolgreichen Schöpfung „Nachrüstung" wurde mit dem Wort „Vorverurteilung" operiert. In diesem Zusammenhang und im Blick auf mutmaßliche Indiskretionen, die eine solche Vorveröffentlichung ermöglicht haben, sagte der CSU-Generalsekretär Tandler „daß hier bewußt oder unbewußt in einem anderen Bereich so gehandelt wird, wie es andere mit der Exekution von Ponto und Schleyer vorgenommen haben". 6 Dieser Satz ist nicht klar; er ist vermutlich nicht zum Zwecke des Verstehens gemacht. Stünde er in einem Schulaufsatz, so wäre er ein Kandidat für die hilflose Korrekturform der UnterSchlängelung mit dem berühmten „A" am Rande. Betrachten wir diese Äußerung näher: „daß hier . . . so gehandelt wird, wie es andere vorgenommen haben" ist zunächst einmal kein Satz des Deutschen; es ist eine abweichende Kette. Ein Vergleichssatz „so . . . wie" erlaubt im Deutschen bei betontem „so" keinen Wechsel des Vollverbs. Das Vollverb des Nachsatzes muß das gleiche sein, wie das des Vordersatzes. Es kann allenfalls durch „machen" oder „tun" ersetzt werden, wobei dann „machen" oder „tun" stillschweigend im gleichen Sinn interpretiert wird wie das Verb im Prädikat des Vordersatzes. (1) Du hast ihn so beleidigt, wie ich ihn beleidigt habe. (2) Du hast ihn so beleidigt, wie ich es getan habe.

4

5 6

Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrags ist Gerold Tandler amtierender Generalsekretär der CSU und Heiner Geißler Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit. cf. Strecker 1983, Wimmer 1982 a, 1982 b, 1983, 1984, Heringer 1982, von Polenz 1982. Dieses Zitat entnehme ich der Rheinischen Post vom 7.12.83, S. 1.

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Es geht im Deutschen weder umgekehrt (3)* Du hast es so getan, wie ich ihn beleidigt habe. noch kann im Nachsatz ein anderes Verb stehen; selbst dann nicht, wenn es eine sehr ähnliche Bedeutung hat: (4)* Du hast ihn so beleidigt, wie ich ihn verletzt habe. Das Verb des Prädikats des Nachsatzes muß also immer sinngleich mit dem des Vordersatzes interpretierbar sein, woraus folgt, daß es (bei Tempusgleichheit) immer auch elliptisch weglaßbar ist. (5) D u hast ihn so beleidigt wie ich. Darüberhinaus gilt die syntaktische Restriktion, daß in einem so-wie-Vergleich (bei betontem „so") Vorder- und Nachsatz in dem gleichen genus verbi stehen müssen. Deshalb ist (2) Du hast ihn so beleidigt, wie ich es getan habe akzeptabel, während (6)* Er wurde von dir so beleidigt, wie ich es getan habe, abweichend ist. (7) Er wurde von dir so beleidigt, wie es von mir getan wurde, ist nicht eben elegant, aber es scheint syntaktisch akzeptabel zu sein. Tandlers Satz verstößt offensichtlich gegen beide Restriktionen: (i) Das Prädikat des Nachsatzes („vorgenommen haben") ist nicht elliptisch weglaßbar, d.h. es kann nicht im gleichen Sinne wie das Prädikat des Vordersatzes („gehandelt wird") interpretiert werden. Dies kommt u. a. auch daher, daß (ii) Vorder- und Nachsatz syntaktisch nicht parallel konstruiert sind. Der Vordersatz ist passivisch, während der Nachsatz aktivisch gebaut ist. Tandlers Satz ist somit semantisch wie syntaktisch abweichend. Das wäre, für sich genommen, eine kleinkarierte Kritik, wenn sich nicht außerdem zeigen ließe, daß diese Abweichung eine bestimmte Funktion hat. Dies will ich nun versuchen. Ein Einwand könnte lauten: Sei nicht so pingelig! In der gesprochenen Rede und im Eifer des Gefechts sind Satzbrüche kaum zu vermeiden. Da kann es schon mal vorkommen, daß man sich verhaspelt. Diesen fiktiven Einwand halte ich im vorliegenden Fall aus drei Gründen nicht für stichhaltig. Erstens sind Politiker, wenn sie sich öffentlich politisch äußern, auch für ihre Verhaspelungen verantwortlich, ^weitem hat Tandler in späteren Selbstexegesen seine Äußerung „nicht nur nicht zurückgenommen, sondern bekräftigt" 7 , und drittens handelt es sich bei der vorliegenden syntaktisch-semantischen Abweichung nicht um eine Schlud-

7

Frankfurter Allgemeine Zeitung 6.12.83, S. 3.

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rigkeit, wie sie für die mündliche Rede typisch ist, sondern um einen Fall funktionaler Verdunkelung. Wir alle kennen den Kalauer: Wo Klarheit fehlt, stellt sich der Tiefsinn von selbst ein. Dies ist nur ein Sonderfall eines allgemeinen Prinzips des Kommunizierens: Mangelnde Explizitheit, mangelnde Klarheit setzt verstärkte Interpretationstätigkeit in Gang, regt die Phantasie an und lädt zum Assoziieren ein. Das hörerseitige Korrespondant der Griceschen Konversationsmaximen8 heißt: Wenn du auf Unsinn, Widerspruch, Tautologie, Unklarheit stößt, so finde dich nicht einfach damit ab. Suche auf dem kürzesten Weg eine Interpretation, die das Gesagte in Einklang mit dem Kooperationsprinzip und seinen Untermaximen bringt. Daß seine Adressaten nach dieser Maxime vorgehen würden, darauf konnte sich Tandler verlassen. Die einfachste Interpretation der Tandlerschen Äußerung wäre sicherlich die: „dem Grafen ergeht es jetzt so ähnlich, wie es damals Ponto und Schleyer ergangen ist." Daß er nichts als das sagen wollte, ist unwahrscheinlich. Dieser schlichte Gedanke hätte keiner so verklausulierten Formulierung bedurft. Außerdem wäre es - bei allem Respekt vor dem Unrecht, das dem Grafen durch die Vorveröffentlichung zugefügt wurde - doch etwas übertrieben, dieses Unrecht zu vergleichen mit dem, das die Ermordung zweier Menschen durch Terroristen darstellt. Und schließlich kann die Funktion von Tandlers Äußerung nicht darin bestanden haben, dessen Mitleid mit dem Grafen Lambsdorff Ausdruck zu verleihen. Nein, Gegenstand des Vergleichs ist nicht der Graf und die Mordopfer, auch nicht das jeweilige Unrecht, sondern sind die Täter: auf der einen Seite die Mörder samt deren Vorgehens weise und auf der anderen Seite . . . Ja wer denn nun? Lesen wir noch einmal nach: diejenigen, von denen „hier . . . in einem anderen Bereich so gehandelt wird". Wer sind die? Wo ist hier? Welcher Bereich ist der andere? Und was heißt „so"? Das sagt Tandler nicht. Das darf und soll sich jeder selbst zusammenreimen. Das ist der Appell an die Phantasie und die Assoziationsgabe der Adressaten. Hier wird die Funktion des syntaktischen Satzbruchs deutlich: die passivische Konstruktion des Vordersatzes erlaubt es, den Agens ungenannt zu lassen. Und prompt passiert, was passieren mußte. Die Staatsanwaltschaft fühlt sich von Tandler angegriffen, dieser aber kann ungeniert in einem Interview mit Radio Luxemburg sagen, er habe von der Staatsanwaltschaft „in keiner Weise" gesprochen.9 Wer auch immer was wie interpretieren mag, Tandler wird erwidern können, das habe er nicht gesagt. « Grice 1957/1979. 9 Rheinische Post 7.12.83, S. \.

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Bemerkenswert ist Tandlers Tempuswahl: Das Prädikat des Vordersatzes steht im Präsens („gehandelt wird"). Da Tandler sich, wie man vordergründig annehmen könnte, auf ein vergangenes Ereignis bezieht, wäre eigentlich das Perfekt oder das Imperfekt zu erwarten. Doch das Präsens hat semantische Funktion. Die Wahl des Präsens im Vordersatz korrespondiert mit der Wortwahl des Nachsatzes: eine Exekution vornehmen. Die „Anderen" haben nicht etwa einen Mord verübt, sondern sie haben eine „Exekution vorgenommen"! Hier spricht Tandler im eingefühlten Stil der Terroristen. Die von „Volksgefangnissen" reden und „Volksgerichte" tagen lassen, nehmen „Exekutionen" als Vollstreckung ihrer „Volksurteile" vor. Das ist der bekannte Rechtfertigunsjargon politisch motivierter Mörder. Was bewegt Tandler dazu, sich seiner zu bedienen? Indem er von Exekution redet anstatt von Morden, macht er sie kenntlich als Taten, die Teil sind einer langfristigen Strategie. Ein Mord wird verübt; er stellt normalerweise den Abschluß einer traurigen Geschichte dar. Eine „Exekution", die von Terroristen „vorgenommen" wird, ist eingebettet in einen umfassenden Plan. Sie ist nicht Ende, sondern Etappe einer wohlüberlegten Strategie. Dies suggeriert auch das Präsens im Vordersatz: hier wurde nicht gehandelt, hier wird gehandelt. Welche Handlung auch immer gemeint sein mag, es ist nicht das Ende sondern eine Etappe der Strategie jener Ungenannten, die da am Werke sind. Ich möchte hier die Betrachtungen dieser Äußerung abbrechen und resümieren: Eine auf den ersten Blick eher unbeholfen anmutende Bemerkung, die aus der Sicht einer law-and-order-Linguistik sowohl semantische als auch syntaktische Normenverstöße enthält, erweist sich bei genauerem Hinsehen als Beispiel für die hohe Schule konversationeller List. Dabei ist es für die Gültigkeit der Analyse irrelevant, ob der Autor selbst die von ihm eingesetzten Mittel durchschaut oder nicht; ob die Äußerung reflektierter planerischer Formulierungsarbeit zu verdanken ist oder der spontanen Intuition des Augenblicks. Die Äußerung lebt von dem, was offen bzw. unklar gelassen wurde, von einer spezifischen Art der Unterdeterminiertheit. 3 In einer Satire fand ich die Bemerkung, Tandler sei der Geißler des Jahres. Der Vergleich stimmt zur Hälfte. Sie sind beide in der gleichen Branche tätig, sie arbeiten beide in ihren politischen Auseinandersetzungen mit Kommunikationstricks. Sie bedienen sich jedoch verschiedener Instrumente, denen allerdings eines gemeinsam ist: das Spiel mit der Wirkung der Unterdeterminiertheit.

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Ich will dies verdeutlichen anhand eines kleinen Ausschnittes einer Bundestagsrede, die Geißler am 15. Juni 1983 gehalten hat. Geißler ist es gelungen, mit einer Bemerkung, in der er den Pazifismus und Auschwitz in einen noch näher zu erläuternden Zusammenhang bringt, bei einigen seiner Zuhörer viele Emotionen freizusetzen. Bevor ich diese Passage zitiere, will ich den Kontext in Erinnerung rufen: Der Abgeordnete Fischer von den GRÜNEN hatte in einem SpiegelInterview die Politik atomarer Abschreckung mit Auschwitz in Zusammenhang gebracht, insofern sie eine Vorbereitung zur Massenvernichtung darstelle. „... ich finde es doch moralisch erschreckend, daß es offensichtlich in der Systemlogik der Moderne, auch nach Auschwitz, noch nicht tabu ist, weiter Massenvernichtung vorzubereiten — diesmal nicht entlang der Rassenideologie, sondern entlang des Ost-West-Konflikts".10 Dazu nimmt Geißler zunächst sprachkritisch Stellung: „Die Massenvernichtung in Auschwitz gedanklich in Verbindung zu bringen mit der Verteidigung der atomaren Abschreckung eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats, dies gehört ebenfalls in das Kapitel einer Verwirrung der Begriffe und der Geister, die wir jetzt bestehen müssen." In diesem Kontext äußert Geißler seinen vielzitierten Satz: „Herr Fischer, ich mache Sie als Antwort auf das, was Sie dort gesagt haben, auf folgendes aufmerksam. Der Pazifismus der 30er Jahre, der sich in seiner gesinnungsethischen Begründung nur wenig von dem unterscheidet, was wir in der Begründung des heutigen Pazifismus zur Kenntnis zu nehmen haben, dieser Pazifismus der 30er Jahre hat Auschwitz erst möglich gemacht."11 Diese Feststellung ist nicht in gleicher Weise dunkel oder unklar wie die von Tandler. Im Gegenteil, der Satz ist syntaktisch wie semantisch wohlgeformt, klar konstruiert, und was mit ihm behauptet wird, ist, wenn man ihn im stillen Studierstübchen minimal und schlicht interpretiert, nicht sonderlich aufregend. Ihm könnte selbst ein Pazifist ohne Not zustimmen. Nur, Geißlers Äußerung wird nicht so schlicht, wie sie dasteht, verstanden. Sie ist darauf angelegt, überinterpretiert zu werden. Sie stellt eine Kommunikationsfalle dar. Da dieser Satz im Rahmen einer vorformulierten Bundestagsrede geäußert wurde und ich Heiner Geißler für einen reflektierten Berufskommuni-

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Spiegel 24, 1983, S. 26. Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht, 13. Sitzung, Bonn, Mittwoch, den 15. Juni 1983; zitiert nach Hamm-Brücher 1983, S. 95 f. Zifonun (1984) hat eine Analyse dieses Satzes vorgelegt, die mir erst nach Fertigstellung des Manuskripts bekannt wurde. Nach meiner Einschätzung können ihre und meine Bemerkungen als einander ergänzend betrachtet werden.

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kator halte, unterstelle ich, daß das „Mißverstehen" intendiert und kalkuliert ist. Wofür ich argumentieren will ist dies: Die sowohl intendierte als auch adäquate Interpretation dieser Äußerung ist die Überinterpretation. Bevor ich den Mechanismus des intendierten „Mißverstehens" erläutere, will ich eine Wortwechsel, der im Anschluß an diese Äußerung stattfand, auszugsweise zitieren. Er macht deutlich, wie dieser Satz verstanden worden ist: „Waltemathe (SPD): Herr Bundesminister, ich möchte Sie noch mal ganz konkret fragen, ob Sie denjenigen, z.B. meinen Verwandten, einschließlich Großvater, die in Auschwitz vergast worden sind und Pazifisten waren, vorwerfen, daß sie selber daran schuld sind, daß sie in Auschwitz umgebracht wurden. Wollen Sie so die Verantwortung darstellen? Dr. Geißler, Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit: Nein. Das habe ich doch überhaupt nicht gesagt. Waltemathe (SPD): Sie haben gesagt, an Auschwitz seien Pazifisten schuld gewesen. Dr. Geißler, Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit: Nein! Nein! (Widerspruch bei der SPD und den GRÜNEN) Waltemathe (SPD): Der Pazifismus sei daran schuld gewesen! Dr. Geißler, Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit: Das habe ich eben nicht gesagt! (Widerspruch bei der SPD und den GRÜNEN - Schily (GRÜNE): Wörtlich gesagt! - Zurufe von der SPD: Wir werden das nachlesen!) Waltemathe (SPD): Das haben Sie hier wörtlich gesagt! (Schily (GRÜNE): Wörtlich gesagt! - Anhaltende Unruhe)" 12 Hat er es nun gesagt, oder nicht? Natürlich nicht. Die inkriminierte Passage lautet: „dieser Pazifismus der 30er Jahre hat Auschwitz erst möglich gemacht". Dies besagt zunächst einmal nicht mehr und nicht weniger als „ohne den Pazifismus der 30er Jahre wäre Auschwitz nicht möglich gewesen". Ich werde im folgenden weder versuchen, die Frage der Wahrheit dieser Behauptung zu beurteilen, noch möchte ich auf das Problem einer möglichen Äquivokation des Wortes „Pazifismus" eingehen. Beides wird bei meiner Argumentation keine Rolle spielen. Selbst wenn wir unterstellen, daß Geißlers Behauptung wahr ist, so spricht das zunächst einmal weder für noch gegen den Pazifismus der 30er Jahre. Es wurde behauptet, er sei

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Zitiert nach Hamm-Brücher 1983, S. 105 f.

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eine notwendige Bedingung für Auschwitz gewesen; weder eine hinreichende und schon gar nicht eine notwendige und hinreichende. Betrachten wir die folgenden Aussagen, die vermutlich wahr sind: (1) Ein gut ausgebautes Eisenbahnnetz hat Auschwitz erst möglich gemacht. (2) Die Existenz eines Beamtenapparates hat Auschwitz erst möglich gemacht. Selbst wenn (1) und (2) wahr sein sollten, wäre daraus trivialerweise kein Plädoyer gegen ein gut ausgebautes Eisenbahnnetz oder gegen die Existenz eines Beamtenapparates ableitbar. In diese Richtung zielt auch Geißlers Verteidigungsstrategie: „Dann darf ich Sie bitten, noch einmal genau zuzuhören, was ich gesagt habe. Ich habe gesagt: Der Pazifismus der 30er Jahre hat Auschwitz möglich gemacht. (...) Ja, meine Damen und Herren: möglich gemacht. Dies bedeutet doch keine moralische Schuldzuweisung."13 Logisch gesehen hat er recht. Aber bezogen auf die Verhältnisse des normalen Diskurses ist diese Argumentationsweise von (möglicherweise gespielter) Blauäugigkeit. Denn im Alltag pflegen wir Aussagen nach anderen Regeln zu interpretieren als ausschließlich logischen. Wir verstehen beispielsweise „Eine Frau ist eine Frau" nicht als Tautologie, die Antwort „Ja und Nein" nicht als Verstoß gegen den Satz vom Widerspruch und die Feststellung „Sprachkritik i s t . . . nicht gleich Sprachkritik"14 nicht als Verletzung des Identitätssatzes. Man kann sogar geradezu sagen: wer den Filmtitel „Eine Frau ist eine Frau" als Tautologie versteht, hat ihn mißverstanden! Das heißt, die logische Analyse einer Aussage, etwa die Analyse ihrer Implikationsverhältnisse, kann dem alltagsprachlichen Verständnis dieser Aussage zuwiderlaufen. Wie verhält es sich nun im Falle der Geißlerschen Aussage? Bleiben wir der Einfachheit halber bei der Unterstellung, daß sie wahr sei. Ist es denn nicht so, daß man, was wahr ist, auf jeden Fall sagen kann (von beleidigenden Wahrheiten abgesehen)? Nein, nicht in jedem Fall. Betrachten wir ein drastisches Beispiel: In meiner Nachbarschaft wohnt eine ältere Dame. Ich gehe heute abend zu ihr, klingle und sage in freundlichem Ton: „Frau So-und-so, ich werde Ihnen morgen die Kehle nicht durchschneiden." Die Frau wird, wenn es ihr Kreislauf erlaubt, zur Polizei gehen und sagen: „Mein Nachbar hat mich bedroht. Er hat gesagt, er will mir die Kehle durchschneiden."

'3 Zitiert nach Hamm-Brücher 1983, S. 100 f. i" Strecker 1983, S. 9.

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Hat die Frau so unrecht? Werde ich mich in der darauffolgenden Verhandlung damit herausreden können, daß ich sage: „Nein! das Gegenteil ist der Fall. Ich habe doch gesagt, daß ich ihr am anderen Tag die Kehle nicht durchschneiden werde. Und das hat doch auch gestimmt." Ich will dem Urteil nicht vorgreifen, sondern fragen: Hat mich meine Nachbarin mißverstanden? Sie mußte meine Äußerung interpretieren, so wie sie sie interpretiert hat. Es hätte eher ein Fall von Mißverständnis vorgelegen, wenn meine Nachbarin im Sinne meiner Verteidigungsrede interpretiert hätte. Warum das so ist, läßt sich mit Hilfe der Griceschen Theorie der konversationalen Implikaturen15 leicht sagen. Wir kommunizieren immer (u.a.) nach der Maxime, daß das, was wir sagen, relevant ist; und wir unterstellen immer unserem Gesprächspartner, daß er nach dieser Maxime kommuniziert und uns dies ebenfalls unterstellt. Davon müssen wir beim Kommunizieren notwendigerweise ausgehen. Das ist nicht etwa eine Art kultureller oder ethischer Verpflichtung (wie bisweilen irrtümlicherweise angenommen wird), sondern eine Bedingung der Möglichkeit des miteinander Kommunizierens überhaupt. Wer sich an diese Maxime nicht hält, verletzt nicht eine Norm, sondern hört auf mitzukommunizieren. Er steigt aus dem Spiel aus. Nichts anderes hat meine Nachbarin getan, als davon auszugehen, daß ich nach der Relevanz-Maxime handle. Die Äußerung „Ich werde Ihnen morgen die Kehle nicht durchschneiden" ist (für sie) nur sinnvoll zu interpretieren, wenn sie annimmt, daß ich, was ich sagte, für relevant halte und ihr unterstelle, daß sie davon ausgeht; relevant wäre diese Äußerung nur, wenn für mich feststünde, daß ich ihr die Kehle durchschneide und nur noch der Zeitpunkt offen wäre. Wenn ich diese Interpretation hätte ausschließen wollen, dann hätte ich das explizit tun müssen und ihr eine plausible Alternative an die Hand geben müssen. Nun ist die Äußerung Geißlers zugegebenermaßen weit weniger drastisch als dieses Beispiel. Aber sie funktioniert nach dem gleichen Strickmuster. Wenn die Existenz einer bestimmten ideologischen Gruppe als Bedingung der Möglichkeit eines Verbrechens bezeichnet wird, so muß dies, wenn diese Interpretation nicht explizit zugunsten einer anderen ausgeschlossen wird16, als Zuweisung von Schuld interpretiert werden. Jede andere Interpretation wäre eine fernerliegende. Wer beispielsweise nicht will, daß bestimmte temporale Bezüge kausal interpretiert werden („Fritzchen war erst drei Jahre in einem antiautoritären 15 16

Grice 1957/1979. Geißler hat einige Zeit nach seiner inkriminierten Äußerung auf eine Zwischenfrage diese Interpretation explizit ausgeschlossen, ohne jedoch eine andere anzubieten.

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Kindergarten und hat dann der Oma die Handtasche geklaut."), der muß dies explizit sagen und muß dazu sagen, welch anderen Bezug er hier für relevant hält, wenn dies nicht aus anderen Gründen auf der Hand liegt. Geißler darf man unterstellen, daß er das weiß. Wenn jemand intendiert mißverstanden zu werden, dann wurde er genau dann richtig verstanden, wenn er im gewünschten Sinne mißverstanden worden ist. Diejenigen, die seine Äußerung als Schuldzuweisung interpretiert haben, haben ihn somit nicht mißverstanden, sondern sie sind ihm auf den Leim gegangen. (Ich möchte dies nicht als Schuldzuweisung verstanden wissen!) Das heißt, Geißlers Retourkutschenrechnung ist aufgegangen: wenn Du unsere Verteidigungspolitik mit Auschwitz in Verbindung bringst, dann bringe ich Eure Friedensbewegung in Verbindung mit Auschwitz.17 Geißlers Adressaten haben seine Erwartungen erfüllt; sie haben sich komplementär verhalten. Ich habe nun anhand von zwei Beispielen zwei Techniken vorgeführt, die in der politischen Auseinandersetzung, aber auch in der Werbung und in der Alltags-Kommunikation gang und gäbe sind. Beide Techniken funktionieren nach dem gleichen Prinzip: Der Sprecher vollzieht eine Behauptung, die in einer besonderen Hinsicht unterinformativ ist. Der Hörer ergänzt die Informationslücke interpretativ; im einen Fall über den Mechanismus der konversationalen Implikaturen, im anderen Fall einfach mit Hilfe von Assoziation und Phantasie. Was auch immer der Hörer interpretierend ergänzt, der Sprecher hat gute Chancen, einem bestimmten Verständnis mit der Bemerkung „Das habe ich nicht gesagt" ausweichen zu können. Es handelt sich hierbei um eine List, wenn auch um eine — wie ich denke — im politischen Geschäft legitime. Ich will sie weder moralisch bewerten, noch will ich den Eindruck erwecken, als seien bestimmte politische Gruppen oder Richtungen in besonderer Weise der listigen Rede verfallen. Dies ist nicht der Fall; wenngleich ich natürlich zugeben muß, daß unter den gegenwärtigen Politikern herausragende Begabungen erkennbar sind. 4 Ich will nun im letzten Teil des Vortrags einige Worte dazu sagen, welchen Wert ich der praktischen politischen Sprachkritik beimesse. Es gibt in der politischen Sprachkritik einen Topos, der eine linguistische Variante von Kulturpessimismus darstellt. Zuletzt wurde er von Helmut Kohl in seiner Eröffnungsrede zur diesjährigen Frankfurter Buchmesse vorgetragen: " cf. Zifonun 1984, S. 75 f.

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„Da werden Begriffe besetzt, umgedeutet, konstruiert, aufgebläht, demontiert. Der Kampf um Worte gerät zum Machtkampf. ,Friedenskampf, ,gewaltfreier Widerstand', .ziviler Ungehorsam' sind Beispiele absichtsvoll gewählter Mehrdeutigkeit. ( . . . ) So könnten wir eines Tages alle sprachlos sein, wenn alle starken Worte unserer Sprache durch maßlosen Gebrauch abgewertet sind (.. .)" 18 Kohls Motiv der drohenden Sprachlosigkeit durch maßlosen Gebrauch oder sog. Mißbrauch der Sprache findet sich selbstverständlich auch beim politisch entgegengesetzten Lager. So schreibt etwa Michael Jürgs im „Stern" vom 15.12.83 unter der Überschrift „Die Sprachtäter": „Die Verwahrlosung der Sprache stand in der Geschichte stets am Beginn der Verwahrlosung von Sitte und Anstand. ( . . . ) Deutsch ist die Sprache Goethes und darf wegen Tandler, Zimmermann, Geißler, Spranger und all der vielen Teyssens nicht wieder zur Sprache verkommen, die uns sprachlos zurückläßt." Was ist davon zu halten, wenn die „Rechten" und die „Linken" in brüderlicher Eintracht den Verfall, die Verwahrlosung oder gar die Zerstörung unserer Sprache durch den Mißbrauch durch die jeweils andere Seite beweinen? Es ist dazu mehr zu sagen, als ich in der mir zur Verfügung gestellten Zeit sagen kann. Drum will ich es apodiktisch in Thesen sagen: 1) Der Vorwurf des Mißbrauchs von Sprache basiert auf einer alttestamentarischen Sprachauffassung, wie sie etwa Helmut Kuhn in seinem Aufsatz „Despotie der Wörter. Wie man mit Sprache Freiheit überwältigen kann" in schöner Klarheit formuliert: „Worte sind dazu da, Dinge zu bezeichnen. Sie sollen sagen, was ist; und insofern ihnen das gelingt, sagen sie die Wahrheit." 19 Das ist es, wozu Worte nicht da sind. Sie sind zum Kommunizieren da. Und kommunizieren heißt, auf bestimmte Art den anderen zu beeinflussen, auf ihn einzuwirken; ihn dazu zu bringen, etwas Bestimmtes zu glauben, zu tun oder zu empfinden. Die Sprache ist dazu da, bestimmte Arten von Intentionen zu verwirklichen. Davon gibt es gute und böse, harmlose und verwerfliche. So wenig es sinnvoll wäre, die Funktion des Geldes auf den Kauf billigenswerter Güter festzulegen, so wenig dient unsere Sprache nur den „guten" Intentionen. Unsere Sprache ist Gott und dem Teufel äquidistant. Sie eignet sich zum Beten wie zum Fluchen gleichermaßen, zum Trösten wie zum Verletzen, zum

Helmut Kohl 1984. Eröffnungsrede zur Frankfurter Buchmesse 1984. Zitiert nach Frankfurter Rundschau vom 3.10.84. " Kuhn 1975, S. 11. 18

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Unterdrücken wie zum Befreien. Eine Sprache, in der man nicht fluchen könnte, wäre auch zum Beten nicht tauglich. 2) Der Vorwurf an die jeweils anderen, daß sie Macht auszuüben versuchten, indem sie Begriffe besetzten, geht immer einher mit dem Anspruch auf Interpretationshegemonie. Vor diesem Anspruch gilt es auf der Hut zu sein, vor dem Anspruch auf ein Deutungsund Sinngebungsmonopol unserer Begriffe. Gefahr droht nicht von daher, daß die einen „Friedenskampf das nennen, was bei den anderen „Gewaltaktionen" heißt. Gefahrlich wäre vielmehr, wenn uns einer vorschreiben könnte - und es ist gleichgültig, welcher es wäre —, wie wir unsere Begriffe zu verwenden haben. Wer gegen das Recht auf Begriffsbesetzung eintritt, tritt für den Zensor ein. (Ich behaupte damit nicht, daß dies jedem, der das tut, klar ist.) 3) Wer darüber lamentiert, daß ein Politiker durch seinen Sprachgebrauch seine Ethik, seine Ideologie und seine Gesinnung preisgibt, dem wäre es offenbar lieber, wenn ein Politiker seine Ethik, seine Ideologie und seine Gesinnung durch seine Sprache nicht preisgeben würde. Diese Präferenz kann ich nicht teilen. Politische Sprachkritik kann keine Kritik daran sein, daß ein Politiker zum Ausdruck bringt, wes Ideologen Kind er ist. Wenn man der Ansicht ist, daß ein Politiker Unsinn redet, so muß man den Unsinn, den er redete, kritisieren, nicht aber, daß er ihn sagte. Was sollte denn die Alternative sein? Etwa, daß er den Unsinn verschweigt? Jede Äußerung eines Politikers ist eine Entscheidungshilfe für die nächste Wahl. Wir sollten über jeden Politiker glücklich sein, dem die Gabe der Verschleierung fehlt, oder der Wille dazu. Das legitime Terrain politischer Sprachkritik stellen Äußerungen derjenigen Politiker dar, denen diese Gabe nicht völlig abgeht. Das Ziel politischer Sprachkritik kann nicht Zensur dessen sein, was gesagt werden darf oder wie es gesagt werden darf. Politische Sprachkritik kann auch nicht dazu da sein, Politikern zu reflektiertem Sprachgebrauch zu verhelfen 20 , wenngleich das unter anderem dabei herausspringen kann. Ziel politischer Sprachkritik sind vielmehr in erster Linie die Adressaten politischer Äußerungen. Da in einer Demokratie politisch Handelnde und deren Adressaten nicht getrennten Vereinen angehören, ist politische Sprachkritik immer zugleich potentielle Selbstkritik. „Was die Wanzen tötet, tötet auch den Popen."

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cf. Wimmer 1984, S. 16 ff.

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Wer sich die Befreiung von der Macht, die die Sprache auf uns ausübt, wünscht, der gleicht jenen beiden (Mauthnerschen) Tauben, die sich wünschen, oberhalb der Atmosphäre fliegen zu können, damit sie der Luftwiderstand nicht behindert. Sprachkritik im Bereich des politischen Kommunizierens soll meiner Ansicht nach in erster Linie zum Ziel haben, durch semantische Analyse aufzudecken und zu erhellen, was tatsächlich gesagt worden ist, was damit gemeint sein könnte und was nicht, was verdunkelt wurde, mit welchen sprachlichen Mitteln getrixt, verschleiert und/oder manipuliert worden ist. Dazu wollte ich mit diesem Vortrag mein Scherflein beitragen.

Literaturverzeichnis Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6.12.1983. Grice, Herbert Paul (1979): Logik und Konversation. In: Meggle, Georg (Hrsg.): Handlung, Kommunikation, Bedeutung. Frankfurt/Main. S. 243-265. (Orig.: Logic and Conversation. In: P. Cole/J. Morgan (Hrsg.): Syntax and Semantics. Vol. 3. New York/San Francisco/London 1975. S. 41-58.) Hamm-Brücher, Hildegard (1983): Der Politiker und sein Gewissen. Eine Streitschrift für mehr Freiheit. München/Zürich. Heringer, Hans Jürgen (1982): Sprachkritik - die Fortsetzung der Politik mit besseren Mitteln. In: ders. (Hrsg.): Holzfeuer im hölzernen Ofen. Aufsätze zur politischen Sprachkritik. Tübingen. S. 3-34. Jürgs, Michael (1983): Die Sprachtäter. In: Stern vom 15.12.1983. S. 201. Kohl, Helmut (1984): Eröffnungsrede zur Frankfurter Buchmesse. Zitiert nach: Frankfurter Rundschau vom 3.10.1984. Kuhn, Helmut (1975): Despotie der Wörter. Wie man mit Sprache Freiheit überwältigen kann. In: Kaltenbrunner, Gerd-Klaus (Hrsg.): Sprache und Herrschaft. Die umfunktionierten Wörter. Freiburg. S. 11-19. Mauthner, Fritz (1901/1982): Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. I: Zur Sprache und zur Psychologie. Stuttgart. von Polenz, Peter (1982): Sprachkritik und Sprachnormenkritik. In: Heringer, Hans Jürgen (Hrsg.): Holzfeuer im hölzernen Ofen. Aufsätze zur politischen Sprachkritik. Tübingen. S. 70-93. Rheinische Post vom 7.12.1983. Spiegel 24, 1983. Strecker, Bruno (1983): Das Geschäft der Sprachkritik und die Verantwortung des Sprachwissenschaftlers. In: Geier, Manfred/Woetzel, Harald (Hrsg.): Das Subjekt des Diskurses. Berlin. S. 7-27. Wimmer, Rainer (1982a): Überlegungen zu den Aufgaben einer linguistisch begründeten Sprachkritik. In: Heringer, Hans Jürgen (Hrsg.): Holzfeuer im hölzernen Ofen. Aufsätze zur politischen Sprachkritik. Tübingen. S. 290-313. ders. (1982 b): Wissenschaftliche Kommunikation und Alltagskommunikation im Lichte einer linguistisch begründeten Sprachkritik. In: Loccumer Protokolle 6. S. 15-32.

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ders. (1983): Sprachkritik und reflektierter Sprachgebrauch. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht (SuL), 14. Jg., H. 51, S. 3-14. ders. (1984): Sprachkultivierung durch Sprachkritik: Ein Plädoyer für reflektierten Sprachgebrauch. In: Mitteilungen 10: Aspekte der Sprachkultur. Mannheim. S. 7-28. Zifonun, Gisela (1984): Politische Sprachkultur und Sprachkritik. In: Mitteilungen 10: Aspekte der Sprachkultur. Mannheim. S. 61-90.

Christoph

SAUER

(Amstelveen/Niederlande)

„Niederländer, blickt nach dem Osten!"

Die „Nederlandsche Oost-Compagnie" in der NS-Sprachpolitik 1. Vorbemerkung: auch eine Zukunft der Vergangenheit Das Bonner Skandalon Heiner Geißlers, der in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag am 15. Juni 1983 mit provozierender Absicht erklärt hatte, daß der „Pazifismus der 30er Jahre Auschwitz erst möglich gemacht (hat)", wurde von demselben Redner auf dem Germanistentag als eher gelungenes Beispiel dafür gefeiert, wie er auf eine Provokation der Grünen („atomarer Holocaust" und „atomares Auschwitz") aus seiner Sicht angemessen reagiert habe. Die Pointe solchen Vorgehens1 liegt nun m. E. weniger darin, daß einer groben Provokation mit einer noch gröberen begegnet wird, sondern in einer gezielten Benutzung der deutschen NS-Vergangenheit; diese Vergangenheit und die auch sprachliche Erbschaft der Nazis dienen hier dem Zweck, für gegenwärtige politische Auseinandersetzungen das sprachlich-bildliche Material zu liefern. Die Geschichte des Deutschen Faschismus, die keineswegs eine lediglich deutsche Geschichte ist, sondern die Geschichte vieler anderer Völker grausig in Mitleidenschaft gezogen hat, wird so von einer inhaltlichen Auseinandersetzung zu einem nur formalen Gebrauch heruntergewirtschaftet, ihr kommt nur noch eine Funktion — und eine Brauchbarkeit in bezug auf diese Funktion — zu. Nur so auf der Klaviatur des Nationalsozialismus herumzuklimpern, ihn lediglich als Anspielungspotential einzusetzen, trägt mit Sicherheit dazu bei, Geschichte und auch Sprach- und Kommunikationsgeschichte zu entwirklichen. Das Herausbrechen einzelner sprachlicher Erscheinungsformen aus dem historischen Zusammenhang und ihr demagogischer Einsatz fürs politische Tagesgeschäft müssen auch sprachkritisch angeprangert werden, als unangemessener Gestus beliebiger Verfügung über die sprachlichen Formulierungen und als Enthistorisierung. Iis handelt sich aber hierbei um eine Technik 1

Zur genaueren Analyse dieser berüchtigten Geißler-Äußerung vgl. Keller (1985, in diesem Band). Ich möchte hier nur noch daraufhinweisen, daß neben dem Vorwurf an die Adresse der „Pazifisten" im allgemeinen in der gewählten Formulierung im besonderen die Absicht stecken kann, gewissermaßen im Vorübergehen die deutsche Verursachung und Verantwortlichkeit für den millionenfachen Mord an deutschen und nicht-deutschen Juden sowie anderen Opfern herunterzuspielen. Es geht dabei nicht um die bewußte Intention des Sprechers, sondern um die unbestreitbare Tatsache, daß er mit seiner provokanten Diktion ein solches Ablenkungsmanöver zuläßt, indem er unkontrollierte Rezeptionen heraufbeschwört. (Teile der Debatte sind bequem zugänglich über Floehr (Hg., 1984)).

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politischen Redens, die ihre Herkunft aus dem „Dritten Reich" selber kaum verleugnen kann: im Zusammenstellen widerborstiger Realitätsbereiche mit der Hilfe paradoxer Formulierungen waren die Nazis nun einmal äußerst erfindungsreich und wirkungsvoll, welchen Mechanismus Faye (1972) u. a. mit dem Begriff „Amalgamierung" überzeugend nachgezeichnet hat. Sprachkritik im hier verstandenen Sinne muß sich nicht nur auf die spezifischen Funktionsweisen politischen Sprechens einlassen, sie muß auch die Herkunft sprachlicher Mittel und ihre Funktionalisierung im einzelnen betrachten. Keine Gegenwart kann von sich abstreifen, daß sie eine Zukunft einer bestimmten Vergangenheit darstellt. Sprachpolitische Umgangsformen sind immer auch Umgangsformen mit der Vergangenheit, wie unerwünscht sie auch sein mag. Im Gegensatz zu vielen Sprachkritikern, deren Interesse in erster Linie auf Funktionen sprachlich-rhetorischen Handelns gerichtet ist, möchte ich einen deutlichen eigenen Standpunkt einnehmen: ich versuche mit meiner Arbeit beizutragen zu einer Erhellung des deutschen Bildes in den Niederlanden und des niederländischen Bildes in Deutschland.2 Ich bin daran interessiert, wie sich die beiden Nachbarländer gegenseitig wahrnehmen, und ich will Genaueres darüber herausbekommen, welche Rolle in der Gegenwart die Besetzung der Niederlande durch „Wehrmacht" und Nazis in den Jahren 1940 bis 1945 (noch) spielt. Auch in diesen Bildern nämlich verschränken sich Dekontextualisierungen und Enthistorisierungen: in den Niederlanden stellt die Besatzungszeit ein fast unerschöpfliches Anspielungspotential bereit, das zu allen passenden und unpassenden Gelegenheiten mobilisiert werden kann;3 und in Deutschland 2

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Der Vortrag entstand im Zusammenhang mit meiner Dissertation, die ich 1985 abzuschließen hoffe und in der ich die Sprachpolitik des NS-Besatzers in den Niederlanden anhand von Artikeln in der Besatzungszeit analysiere; vgl. zu einer ersten Übersicht Sauer (1983, 1984, 1985). Zur Realgeschichte der Besatzungszeit vgl. de Jong (1969ff), Kwiet (1969), Lademacher (1983), Hirschfeld (1984). Nur zwei Beispiele. Als im Laufe des Jahres 1983 die niederländischen Universitäten zu Sparmaßnahmen gezwungen wurden, die auf die Schließung einiger Fakultäten und Institute hinausliefen, wurde die Arbeitsgruppe aus Mitgliedern aller Unis und der Regierung, die diese Planung vorbereitete, in der Presse u. a. mit dem „Jüdischen Rat" verglichen, den die Nazis eingesetzt hatten, um die Verschleppung der Juden überwiegend von Juden selbst ausführen zu lassen. In der Wochenzeitung „Vrij Nederland" vom 3.11. 1984, die selbst als Untergrundzeitung in der Besatzungszeit entstanden war, bezeichnete der Kolumnist Grijs Absichten des Finanzministers, Beihilfen und sonstige Unterstützungsgelder für Arbeitslose zu kürzen, mit dem deutschen Wort „Endlösung" und verglich den Minister mit Eichmann und die „Jagd auf die Beihilfeempfänger" mit der Judenverfolgung. Das ist nicht nur plump und beleidigend, sondern zugleich eine intellektuelle Bankrotterklärung: welche Metaphern kann man noch verwenden, wenn sich die Politik verschärft? Ich sehe in dieser aufgedunsenen Formulierungsweise aber auch eine bestürzende Verharmlosung der Erfahrungen vieler im Zweiten Weltkrieg und eine um des grellen Effektes wegen mitgetragene Entwirklichung tatsächlicher Kriegsgreuel und organisierter Massentötungen. Ich weigere mich, die Nazizeit nur noch als Metaphern-Steinbruch wahrzunehmen. Für weitere Beispiele im internationalen Vergleich vgl. etwa Keller (1983).

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werde ich den Eindruck nicht los, daß man viel zu oft das Dominanagefiihl des ,großen' Deutschland gegenüber den ,kleinen' Niederlanden, dessen unmittelbarster Ausdruck eben die unselige Besatzung war, hervorkehrt (man denke etwa an die sog. Hollanditis, aber auch an deutsche Ängste vor Drogenproblemen u. ä.). In die politischen Stellungnahmen der Gegenwart intervenieren unausweichlich Aspekte der (gemeinsamen) Vergangenheit, die sich in sprachlichen Formen niederschlagen. Wie brisant diese sind oder sein können, kann nur der einschätzen, der die,Bezugsebene' genauer kennt, im spezifischen Fall: die Besatzungszeit und die ihr eigene (sprach)politische Situation. In diesem Vorfeld einer politischen Sprachkritik möchte ich mich aufhalten, wenn ich hier Material zur sprachlichen Auswirkung der Besatzungszeit auf die Niederlande und die Niederländer vorlege — eine Einseitigkeit, die sich wohl rechtfertigen läßt aufgrund des relativen Vergessens der besetzten Länder, wenn in Deutschland von der Nazizeit die Rede ist. Ich betreibe Sprachkritik hier vor allem als Rekonstruktion von Sprachpolitik der Nazis in den besetzten Niederlanden, eingeschränkt auf das Beispiel der „Ostorientierung". Das dabei nötige methodische Instrumentarium ist, wenn es sich bewährt, sicherlich auch recht einfach auf heutige Situationen übertragbar, auch da, wo keine Bezüge aufs „Dritte Reich" gegeben sind. Mein Interesse bringt es mit sich, daß ich mich über die Nazis, die die Texte schrieben, die ich analysiere, nicht einfach .erhaben' fühle; Angst, vor allem auch Berührungsangst, verstellt den produktiven und kreativen Umgang mit dem Erschrecken, das sich beim genauen Studium der Texte regelmäßig einstellt. Sprachkritik braucht diese Art von Anlässen. 2. Zeitlicher Abstand des heutigen Lesers Die Texte aus der „Deutschen Zeitung in den Niederlanden", auf die ich gleich zu sprechen komme, sind in Deutschland praktisch unbekannt (wie im übrigen überhaupt deutsche Texte aus den jeweiligen besetzten Ländern). Sich ihnen sprachkritisch zu nähern, erfordert außer einer - hier vorausgesetzten — Faschismusanalyse vom Interpreten die Notwendigkeit, sich die Spannung zu vergegenwärtigen, in der diese Zeitungsartikel entstanden. Der Leser möge sich daher in die Lage der Niederländer versetzen, Bürger eines neutralen Landes, das trotz deutscher Beteuerungen, die Neutralität nicht zu schänden, am 10. Mai 1940 von der deutschen „Wehrmacht" überfallen wurde. Die Kapitulation erfolgte fünf Tage später, nachdem die Innenstadt von Rotterdam durch deutsche Bomber in Schutt und Asche gelegt worden war. Am 28. Mai 1940 nahm der aus Österreich einschlägig bekannte Reichsminister ohne Geschäftsbereich Arthur Seyß-Inquart seine Amtsgeschäfte auf, als „Reichskommissar für die besetzten niederländischen

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Gebiete". Die somit eingesetzte Zivilverwaltung statt der zunächst erwogenen Militärverwaltung stellte eine Dauerstörung der niederländischen Gesellschaft dar, die weit über die Erfordernisse einer Besatzung mit ihren unumgänglichen Einschränkungen hinausging. Der Versuch, die Niederlande umzugestalten (ich verwende bewußt einen schwachen Ausdruck), prägt sich allen deutschen Texten ein, die in den Niederlanden und für die Niederlande produziert wurden. Wer sie heute liest, muß sich dies immer vor Augen halten. Vor aller inhaltlichen Bestimmung der Texte ist die Verwendung der deutschen Sprache ein aggressiver Sprechakt, ein herrischer Gestus der Unterwerfung, ein Dominanz-Zeichen und vor allem ein den Besetzten auferlegter Zwang zur Sinn-Suche unter neuen sprachpolitischen Bedingungen. Die Selbstverständlichkeit, mit der der Besatzer die deutsche Sprache voraussetzte, mußte den Niederländern wie die schon symbolisch vorweggenommene Hinwegfegung ihrer Eigenstaatlichkeit vorkommen. Und in der Tat lebte in den Köpfen vieler deutscher Angehöriger der Besatzungsmacht schon die Erwartung, dereinst im „Reichsgau Westland" Politik im ,deutschen Stil' treiben und dabei die Niederländer auf eine Reservats-Rolle mitsamt dazugehöriger Folklore festlegen zu können. Auch die Ostorientierung verdankte sich zum Teil solchen Impulsen, wenn es darum ging, Niederländer für den Einsatz im „Osten" zu gewinnen und ihnen den dort lebenden Menschen gegenüber einen fast-deutschen Status einzuräumen. 3. Ansatz einer Theorie der Sprachpolitik Die Rekonstruktion sprachlicher Verhältnisse im Nationalsozialismus, die in jüngster Zeit erneut in Angriff genommen wird, übersieht immer noch viel zu häufig die noch komplexeren Verhältnisse in den besetzten Ländern. Die mit der erzwungenen Inkorporierung der deutschen Sprache einhergehende Beeinträchtigung gewachsener Kommunikationsformen vollzieht sich nun nicht so, daß lediglich die Sprache des Besatzers neben die Sprache der Besetzten tritt. Der NS-Besatzer, dem von allen Seiten eingehämmert wurde, daß die deutsche Sprache zur .Weltsprache' werde, inszeniert sich in der Regel nicht als Juxtaposition, sondern er versucht, weiterreichende Einflußnahmen aufzudrängen. Neben der auf die einzelnen Länder abgestimmten ideologischen Propaganda und über allgemeine Steuerungsmaßnahmen Berliner und örtlicher Instanzen hinaus („Sprachlenkung") werden auch die Unterschiede der deutschen und der jeweiligen Landessprache wichtig. Hinsichtlich des Umgangs mit diesen Unterschieden standen den Nazis zwei .Modelle' zur Verfügung, die Auslöschung (Beispiel Polen) und die Anpassung (Beispiel Frankreich). Auf die Niederlande setzten die Nazis gewisse Hoffnungen, die sie in immer neuen Artikulationen des Germanentums' ausgestalteten. Daraus entwickelte sich ein Erwartungs- und Formulierungshorizont als doppelter Zugriff: die Niederländer wurden mit fast

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allen Mitteln dazu gebracht, den Anforderungen des „Neuen Europa" ökonomisch, militärisch und politisch zu genügen, und ihnen wurde abverlangt, die deutsche Hegemonie auch sprachlich nachzuvollziehen, also aus der Fremdsprachensituation mit traditionell weitverbreiteten Deutschkenntnissen in eine Situation allmählich hineinzuwachsen, in der die deutsche Sprache in allem maßgeblich sein sollte. Intendiert war somit das Absinken des Niederländischen zum Dialekt, zum Verständigungsmittel im Privatbereich, während der öffentlich Bereich immer stärker für die deutsche Sprache reserviert wurde. Dieses ,Misch-Modell' der NS-Sprachpolitik, das in den fünf Besatzungsjahren natürlich nicht völlig durchgesetzt werden konnte, beinhaltete in jedem Fall eine Marginalisterung des Niederländischen, sowohl der Sprache als auch der Kultur. Zusammenfassend möchte ich für den ideologischen und den sprachlich-fremdsprachlichen Zugriff den Terminus Besat^erdiskurs einführen. Ich greife dabei vor allem auf Foucault („Die Ordnung des Diskurses") zurück und auf das Berliner „Projekt Ideologie-Theorie" (vgl. PIT (Hg., 1980)). Der Begriff Besat^erdiskurs hat den Vorteil, verschiedene Dimensionen des konkreten Besatzerhandelns anzuschneiden und die Vielgestaltigkeit (man kann auch sagen: den Einfallsreichtum) der Nazis und ihrer Texte aufzunehmen: symbolische Restriktionen, konkurrierende Sichtweisen, Irritationen, Wahrnehmungsstörungen, Erfahrungsbegrenzungen, ,Germanisierung', Ausgrenzungen, Dunkelräume des bewußten Schweigens u.a.m., all dies einmündend in Verfahrensweisen, für die die Besetzten letztlich den Preis bezahlen sollten. Es wäre vorschnell, die Stärke des Nationalsozialismus im besetzten Land ausschließlich auf Terror zurückzuführen; die Besatzungssituation zeichnete sich nämlich hauptsächlich durch Unübersichtlichkeit und latente Bedrohlichkeit aus. Da es den Besetzten nicht möglich war, nicht zu reagieren, sahen sie sich der in immer neuen Schüben herausgestellten Möglichkeit konfrontiert, sich in ihren Reaktionen auf der Seite der Nazis wiederzufinden. Überhaupt zu arbeiten, soll dann Zusammenarbeit, Kollaboration sein, überhaupt zu leben, zu überlegen, soll dann eine positive Stellungnahme für die Nazis beinhalten.4 Der Begriff Besatzerdiskurs, wie ich ihn hier verwende, hat großen Anteil an einer Theorie der Sprachpolitik. Unter Sprachpolitik verstehe ich, mich dabei auf verschiedene Veröffentlichungen in der Zeitschrift OBST berufend, den systematischen Eingriff in die Aneignung von Erfahrung (Januschek/Maas 1981). Wer Sprachpolitik

4

Thomas Mann hat diesen Sachverhalt in seiner Novelle „Mario und der Zauberer" genauer herausgearbeitet, in der eine bloß negative Stellungnahme, ein bloß negatives Verhalten gerade nicht v o r Mitgerissenwerden behütet: „Wahrscheinlich kann man v o m Nichtwollen seelisch nicht leben; eine Sache nicht tun wollen, das ist auf die Dauer kein Lebensinhalt; etwas nicht wollen und überhaupt nicht mehr wollen, also das Geforderte dennoch tun, das liegt vielleicht zu benachbart, als daß nicht die Freiheitsidee dazwischen ins Gedränge geraten müßte . . . " ( 1 9 7 1 , S. 558).

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betreibt, zielt auf das Auseinanderfallen von Erfahrungsentstehung und -aneignung, zielt auf Störungen von Orientierungsprozessen und Verständigung. Die Formen der Sprache sind es, in denen einem etwas bewußt wird. Daß etwas bewußt wird, sagt noch nichts darüber aus, als was es bewußt wird; hier genau erfolgt der sprachpolitische Eingriff, indem er Formulierungen bereitstellt, deren Konsequenzen sich erst im nachhinein herausstellen. Um ein Beispiel zu geben, verweise ich noch einmal auf den Anfang meines Beitrags: wenn „Pazifismus" nicht mehr „Kriegsverhinderung" bedeuten soll, sondern permanent als Position der „Schwäche" von den AntiPazifisten artikuliert wird, ergeben sich - und das dürfte die Intention der Rüstungsbefürworter sein - Verschiebungen größten Ausmaßes, die auch alle anderen Äußerungen pazifistischen Verhaltens in Mitleidenschaft ziehen (müssen). Unter den Bedingungen des Besatzerdiskurses verschärft sich dieses Eingreifen in Aneignungen von Erfahrungen. Unruhe im Vokabular durch immer wieder vorgegebene Formulierungen und Ächtung verpönter Ausdrücke durch Sanktionen auf verschiedenen Ebenen wechseln einander in rascher Folge ab (vgl. aus eigenem Erleben Klemperers „LTI"). Untersuchungen zur „Sprachlenkung' haben sich jedoch nur auf eine Hälfte dieser Prozessierung von NS-Sprachpolitik konzentriert, auf die expliziten Gebote und Verbote bzw. auf neue oder wiederbelebte Wörter. Es gilt jedoch, Ideologie insgesamt als etwas Gestaltetes zu betrachten, als Text, an dem nicht nur das Was, sondern vor allem das Wie interessiert (vgl. Bosch 1980, Maas 1983). Wie die Diskussion über Indirektheit von sprachlichen Handlungen zu Genüge gezeigt haben dürfte, sind komplexe Handlungen, wie sie Texte darstellen, im wesentlichen multidimensional. Dieser Multidimensionalität von Texten kann man nicht Rechnung tragen, wenn man nur auf typische Nazi-Formulierungen achtet. Auch Texte, die frei vom charakteristischen ,Jargon' sind, operieren sprachpolitisch im abgeleiteten Sinne. Hier wäre eine Stilistik hilfreich, die das Ineinandergreifen unterschiedlicher Wissensdomänen beim Lesen hinreichend in die Analysen einbezieht (erste Ansätze bei Rehbein 1983). Der Besatzerdiskurs nun bedient sich aller Verfahren textueller Strukturierung, um seinem Ziel, der Einbeziehung der Niederlande und der Niederländer in den Macht- und Erfahrungsbereich der Nazis, näherzukommen. Die Texte, die den Besatzerdiskurs artikulieren, finde ich hauptsächlich in der „Deutschen Zeitung in den Niederlanden"5, die ich als 5

Die „Deutsche Zeitung in den Niederlanden" war eine von insgesamt 27 (I) deutschsprachigen Besatzungszeitungen und erschien in Amsterdam von Juni 1940 bis Mai 1945. Ihre Auflage betrug etwa 50 000, lag damit höher als die der sog. niederländischen Qualitätszeitungen, aber niedriger als die Massenpresse (Einwohnerzahl zu dieser Zeit: knapp 9 Mill.). Sie wurde von deutschen Besatzungsangehörigen gelesen (Soldaten und Zivilpersonal), von Deutschen und Niederländern im „Reich" und von Niederländern im besetzten Land. Genauere Zahlen liegen nicht vor. Für die „Deutsche Zeitung" charakteristisch ist eine Zwischenposition: sie ist Sprachrohr des Besatzers, wird in Den Haag und Berlin kontrol-

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authentische Stimme des Besatzers betrachte. Daher gehen in die Analysen auch die (sprach)handlungstheoretischen Implikationen ein, die sich ganz allgemein im Rahmen der Institution, im besonderen in journalistischer Propagandatätigkeit im besetzten Land ergeben (vgl. Ehlich/Rehbein 1980, Sauer 1983): eine spezifische Mischung aus Schweigen und Verlocken, aus Anknüpfen und Abgrenzen, die sich auf unterschiedliche Gruppen richtet (Mehrfachadressierung), aus journalistischer Pflichterfüllung und stilistisch wirksamer Phantasieproduktion, aus Verundeutlichungen und Verschiebungsoperationen. Die Texte werden einer mehrfachen Lesweise unterzogen, die vor allem auf die Gleichzeitigkeit verschiedener Handlungen abhebt (Mehrfachillokution). Nicht das ,eigentlich Gemeinte' ist zu rekonstruieren, kein jeweiliger ,Kern' bloßzulegen, vielmehr geht es um das Verzahntsein von Strukturierungen, die alle an einer Formierung von Macht arbeiten, im spezifischen Falle: von Besatzungsmacht. 4. Historischer Kontext der Ostorientierung der Niederländer Der Versuch, niederländische politische Traditionen abzuschneiden, zu verschieben und sie dem neuen Zusammenhang des germanischen Europa' zuzuführen, setzt in voller Stärke erst nach dem Uberfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 ein. Dann benötigte der Besatzer die niederländischen f r e i w i l l i g e n ' als Soldaten und Arbeiter, dann räumte er den niederländischen Nazis, die bis dato noch keine Chance erhalten hatten, mehr Einfluß ein, dann wurde seine wachsende Ungeduld gegenüber abwartenden Reaktionen als Abschnürung der Freiwilligkeit und Auferlegung von Zwängen instrumentiert. Kennzeichnend für die Lage war, daß die deutschen Besatzer die Abkehr der meisten Niederländer gegen die einheimischen Nazis bewußt aufgriffen, um andere Formen des Mitwirkens, und im Falle der Wirtschaft: des Mitverdienens, zu entwickeln. Die Ostorientierung der Niederländer nach dem 22. Juni 1941 hatte mithin auch wesentlich innenpolitische Gründe. Die ,Überraschung', die der plötzliche Beginn des Kriegs im „Osten" auslöste, sollte die Besetzten überrumpeln und sie aus ihrer, wie die Deutschen meinten, Lethargie aufrütteln. Im Dienst solcher Ankündigungen/Androhungen stand die Rede, die Seyß-Inquart aus diesem Anlaß gehalten hat und die in vollem Wortlaut in der „Deutschen Zeitung in den Niederlanden" (=DZN) veröffentlicht wurde (28.6.1941): [...] Alles was Europa braucht, ist in Rohstoffen oder in Werkstoffen in irgendeiner Form da. Wir wollen es nicht leugnen, daß es noch Entbehrungen, vielleicht sogar schwere Entbehrungen geben kann, wir werden vielleicht die

liert, verwertet sich als Teil des NS-„Europa-Verlags", bezieht ihre Artikel von überallher und orientiert sich am Erscheinungsbild von Zeitungen wie „Frankfurter Zeitung" und „Das Reich". Vgl. Hoffmann (1972), Haie (1965).

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Lebensmittelversorgung zwischen dieser und der nächsten Ernte vorübergehend beschränken müssen, vielleicht werden wir in diesem Winter auch nicht genug Kohle haben, um alle Ansprüche wie im Frieden sicherzustellen. Aber alle diese Einschränkungen treffen nicht den Nerv des europäischen Lebens. Es ist eine Sache unserer Organisationskraft und unseres Fleißes, dafür zu sorgen, daß die gesamten wirtschaftlichen Möglichkeiten des neu gewonnenen Europas und der in absehbarer Zeit der europäischen Wirtschaft verbundenen Nachbarräume genützt werden, um die Lebenshaltung der europäischen Völker genügend sicherzustellen. Vom 22. Juni an arbeitet die Zeit mehr denn je für uns und werden die Bedingungen unseres Lebens auf lange Sicht gesehen immer besser werden. In diesem weltgeschichtlichen Augenblick rufen wir alle Nationalsozialisten zur Mitgestaltung im neuen Europa auf. Insbesondere richte ich diesen Ruf an unsere nationalsozialistischen Gesinnungsgenossen in den Niederlanden, damit auch sie sich zur Organisierung des europäischen Raumes zur Verfügung stellen. Sie treten zum Wohl ihres eigenen Volkes mit an, wenn sie ihre wirtschaftlichen Erfahrungen und ihre Disziplin der Aufschließung der wirtschaftlichen Möglichkeiten und der Sicherung der Ordnung zur Verfügung stellen. Niederländer, Ihr lebt vor allem in Europa und nicht auf dem Meer und in Übersee. Ihr teilt vor allem Europas Geschick und seid für das Schicksal Europas mit verantwortlich. Was im Osten geschieht, sei es in Deutschland oder in den weiten Osträumen Europas, ist für Euch kein Schauspiel und allenfalls nur eine Störung Eurer Ruhe, sondern Euer Schicksal. Dies habt Ihr durch Generationen übersehen. Darum brach die Entwicklung, als das Schicksal Europas zur Frage gestellt war, über Euch herein. [...] A u f die vorausgesetzte bange Frage der Niederländer nach der Veränderung ihrer Lebensumstände unter dem Einfluß der Erweiterung des Krieges schleudert ihnen der Chef-Besatzer diese Mischung aus Beruhigung, Beunruhigung, Appell und Geschichtsklitterung entgegen. Ihm ist sehr daran gelegen, einen Blick nach dem Westen zu verstellen und ihn nach dem „Osten" umzulenken, indem er immer wieder auf die „Lebenshaltung der europäischen Völker" verweist. Auch die Bedingung, so viele „Gesinnungsgenossen" wie möglich in den Niederlanden zu haben, wird schon eingeführt und mit den „wirtschaftlichen Möglichkeiten" und der „Sicherung der Ordnung" verknüpft. Mit dem „Schicksals"-Begriff, den er sowohl auf länger zurückliegende als auch auf erst kürzlich eingetretene Ereignisse (wenn eine „Entwicklung hereinbricht", stellen sich die Nazis immer schnell deutsche Soldaten vor) bezieht, findet Seyß-Inquart einen Übergang zur spezifischen Kolonialgeschichte der Niederländer: [ . . . ] Niederländer! Blickt nach dem Osten. Eure Väter sind schon vor 800 Jahren und immer wieder dorthin gezogen und wichtige Bausteine der europäischen Kultur und Gesittung gewesen. Seit Generationen fehlt Ihr bei der Erfüllung dieser gemeinsamen europäischen Aufgabe. Von den deutschen Soldaten, in deren Reihen schon heute Eure Söhne stehen, wird nun der Osten zurückgeholt. Jetzt gilt es, diesen europäischen Raum endgültig für Europa zu gewinnen. Ihr baut an der Zukunft Eurer Kinder, wenn Ihr jetzt mit

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antretet. Euer Einsatz ist Eure Pflicht und Euer Nutzen und zugleich eine Wohltat für die Bewohner dieser Räume, da wir sie vom Bolschewismus zu erlösen und der abendländischen Kultur wieder zuzuführen haben [...]

Das Ziel, die Besetzten aus einer zynisch formulierten Zuscbauerperspektive („kein Schauspiel") herauszubringen und einer Teilnehmerrolle zu verpflichten („Eure Pflicht und Euer Nutzen"), stülpt sich über die ,Überspielung' der Ostgrenze, zunächst zum „Reich", dann aber gleich auch Osteuropas. Dieser Wegfall der Grenze verstärkt den Ansatz, die Weite des Meeres textuell und militärisch durch die „weiten Osträume Europas" zu substituieren und historisch zu motivieren („den Osten zurückholen"). Seyß-Inquart vernetzt an dieser Stelle seinen „Kultur"-Begriff mit Schmeicheleien für die Niederländer, Aufforderungen zur Mitbeteiligung, antikommunistischen Vorstellungen und vagen Zukunftsversprechungen. Dabei geht er umsichtig zu Werk: „Seit Generationen fehlt Ihr bei der Erfüllung dieser gemeinsamen europäischen Aufgabe", was ja zweideutig ist, da es eine leicht vorwurfsvolle Feststellung sein kann, aber auch die Konzedierung, daß eben ohne die Niederländer im "Osten" nichts so recht laufe. Auch weiß er mit dem Bild vom Kulturbringer und Erlöser 6 einen Grundzug niederländischer Mentalität zu treffen, die sich einst in den Gebieten Niederländischindiens, der Antillen und Surinames ausleben konnte. Aus dem Text geht nicht hervor, daß die Nazis nur und vor allem niederländische Soldaten wollen, noch glauben sie nämlich, ihren Eroberungsfeldzug auch allein durchführen zu können. Andererseits sind ihnen niederländische Soldaten schon deshalb willkommen, weil diese Form der Kollaboration anderen, die weniger weit gehen wollen oder können, als Beispiel vorgeführt werden kann, so daß deren Abschwächung, beispielsweise als wirtschaftliche Kollaboration, schon viel weniger .schlimm' erscheint. 7 Wer „nach dem Osten" blickt, könnte schon den ersten Schritt getan haben.

6

Ks entspringt einem genauen Kalkül, daß Seyß-Inquart an dieser Stelle von „erlösen" statt etwa „befreien" spricht: zum einen wäre „befreien" relativ konkret und dürfte daher den Nazis unwillkommen gewesen sein, zum andern aber schließt der Besatzerdiskurs mit „erlösen" an religiöse Diskurse an (auch schon mit „Gesittung"), die aufs Evozieren einer Missionierung u. ä. hinauslaufen. Hierin steckt noch die besondere Pointe, daß die niederländische Exilregierung in London unmittelbar nach dem deutschen Überfall auf Rußland mit den Sowjets diplomatische Beziehungen aufgenommen hat und sie als Verbündete betrachtete; bislang hatten alle niederländischen Regierungen den Sowjets die diplomatische Anerkennung verweigert, so daß der Besatzer mit diesem Seitenhieb eine A r t ,Teufelsbündnis' anprangern konnte und sich selbst dagegen als .christlichen Abendländer' einführte.

7

Dieses Verfahren entspricht völlig der üblichen Besatzungspolitik, die den Besetzten in der Regel eine Maximalforderung stellt, sie dann aber — schon eingeplant — wieder teilweise zurücknimmt und ein Entgegenkommen der Nazis, v o r allem jedoch eine Beeinflussungsmöglichkeit durch die Niederländer auf die deutsche Politik suggeriert (vgl. de Jong, passim).

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Für die Niederländer liest sich die Rede wie ein Sprung aus der Neuzeit ins Mittelalter, werden sie doch als Ost-Kolonisatoren „vor 800 Jahren" umworben, die einstmals an Nord- und Ostsee aktiv waren. Verlorengehen soll in dieser Artikulation der Ostorientierung das starke Interesse für die durch Amerikaner im Westen besetzten und durch Japaner im Osten bedrohten Kolonien - auch eine Art Schützenhilfe der Deutschen für ihre fernöstlichen Verbündeten. Die Verschiebung des ,alten Ostens' auf den ,neuen Osten', der sich als ,ältester Osten' entpuppt, funktioniert den Besetzten gegenüber als Beleg der deutschen Redeweise vom .Germanentum' der Niederländer; ist dies erst einmal vollzogen, fallt es den Besetzten immer schwerer, auf einem Unterschied zwischen den Deutschen und den Niederländern zu bestehen. Im Besatzerdiskurs ist einfach kein Platz mehr für diesen Unterschied eingeräumt, und im vorweggenommenen Wegfallen der niederländischen Ostgrenze und im ständigen Beharren auf dem „Neuen Europa" sind diese Positionen auch textuell .verschwunden'. Da sich der Besatzer sicher sein kann, daß die kriegerischen Ereignisse im „Osten" die Aufmerksamkeit der meisten fesseln, profitiert seine Reaktualisierung der mittelalterlichen niederländischen Ostkolonisation von den täglichen Nachrichten ebenfalls. Und so schaukeln sich historische Anklänge und aktuelle Ereignisse (mindestens im „Wehrmachtsbericht" präsent) gegenseitig zu einer Verweisstruktur auf, die vielfältig einsetzbar ist und von den Propagandisten und Journalisten als Richtschnur genommen wird, wenn sie ihre Vertextungen vornehmen. Die Ostorientierung, an der Seyß-Inquart mit seiner Rede arbeitet, erlaubt somit sowohl eine Ablenkung von Ereignissen im besetzten Land wie auch die Markierung eines Bruchs in der bisherigen Besatzungspolitik : [...] Ich selbst betrachte diese unsere Kundgebung als einen Ausgangspunkt der nationalsozialistischen Neugestaltung auch in den Niederlanden, die nunmehr, nachdem die Entscheidung im Osten fallt, auch hier in Angriff zu nehmen ist. Darum sind alle Einrichtungen und politischen Ideen, die reaktionär neue Entwicklungen aufhalten wollen, und vor allem diejenigen, die jemals zu Helfern des Marxismus geworden sind oder sich die Hilfe des Marxismus gefallen ließen, ein Hindernis für eine glückliche Zukunft. Wir werden sie forträumen und dem niederländischen Volk den Weg freimachen für die Teilnahme an dem Neuaufbau. Das niederländische Volk soll in aller Gleichberechtigung und in besonderer Anerkennung seiner Fähigkeiten den ihm gebührenden Platz einnehmen und es wird sein eigenes Glück und seinen Wohlstand fördern, wenn es sich von dem eingedrungenen jüdischen, kapitalistischen, zum Teil schon nihilistischen und bolschewistischen, aber ebenso von dem überlebten reaktionären Geist und Zwang befreit und wenn Ihr Nationalsozialisten gläubig, der Vorsehung und ihrem Walten vertrauend, die guten Geister bannt, die Eure Ahnen schon einmal Eure geistige und völkische Art im Kampf behaupten ließen. Ich grüße die deutschen und niederländischen Nationalsozialisten. HEIL HITLER!

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Aus diesen Schlußworten spricht die Erleichterung des Besatzers, dem nunmehr mit dem neuen Krieg weitere Möglichkeiten an die Hand gegeben sind, innerniederländische Auseinandersetzungen mit Hinweisen auf Kriegserfordernisse gewaltsam zu unterbinden. Solange Krieg herrschte, dieser als .Endkampf apostrophierte Krieg, würde er seine Ziele direkter durchsetzen können, ohne sich ausschließlich auf Überredungsstrategien (Propaganda) verlassen zu müssen. Jedem Überreden würde in Zukunft die (erneuerte) Drohung mit Gewaltmaßnahmen innewohnen. Ein Anzeichen dieser eine Periode notwendiger Vagheit abschließenden Erleichterung, die auch die Geschichtsschreibung registriert (vgl. de Jong 5, S. 102), ist der Paternalismus im zynischen .Angebot', „Hindernisse" aus dem Weg zu räumen und „dem niederländischen Volk den Weg frei(zu)machen für die Teilnahme an dem Neuaufbau". Das liest sich als Verdeutschung und unumwundene Na^jfivyerung. Seyß-Inquart verstärkt diesen Eindruck durch zwei auffallige sprachliche Erscheinungen. Er inszeniert sich als die entscheidende Kraft bei der „Neugestaltung" und betont dies durch die Selbstverweisung als Subjekt-„ich" zu Beginn des letzten Redeabschnitts. Da er dies überaus selten in der Rede tut, intensiviert er die Aussage der Äußerung und lädt sie mit seiner von Hitler abgeleiteten Autorität auf, wie auch die Veranstaltung insgesamt eine Imitation typischer NS-Massenshows darstellte. Der Eindruck konnte und sollte entstehen, als ob hier ein wahrhafter Stellvertreter und Vize-Hitler gesprochen habe (=Verdeutschung) 8 . Weiterhin werden die niederländischen Nazis herausgehoben, was ihnen auch im Redekontext einen Sonderstatus zubilligt: zunächst wird nämlich über sie gesprochen („sie" usw.), dann zählen sie zu allen Niederländern („Ihr", ,,Euch"usw.), zuletzt werden sie ausdrücklich benannt („Ihr Nationalsozialisten" usw.). „Eure Ahnen" im vorletzten Satz werden somit als Vorläufer von Na^is eingeschluckt, was die historische Ostkolonisation als Etappe auf dem Weg in den Faschismus umartikuliert (=Nazifizierung). Der „Neuaufbau", gekoppelt an den Krieg im „Osten", vollzieht sich als eine (politische) Offensive des Besatzers, der sein Ausschau-Halten demonstrativ beendet und nationalsozialistische und Kollaborationsinitiativen initiiert, stimuliert oder aufgreift. Die in das Zitat eingewobenen Bruchstücke der offiziellen NSPropaganda (als stilistische Technik des Einarbeitens verschiedener Wissensdomänen, vgl. Rehbein 1983) lassen den Besatzerdiskurs in den allge-

8

Es gibt noch ein weiteres Indiz für dieses Imponiergehabe und imitative Vorgehen SeyßInquarts, das sich einem freilich nur erschließt, wenn man alle Reden von ihm in die Betrachtung einschließt. Er greift nämlich in vorausgehenden Abschnitten der Rede auf eine durch die Nazis und vor allem durch Hitler in die politische Auseinandersetzung und Außenpolitik eingebrachte Technik, die ordinäre Gegnerbeschimpfung, zurück und exemplifiziert sie, auch darin seinem „Führer" getreu, an der Person Churchills, den er „alten Heuchler", „diesen geistig so lächerlichen Zwerg" u. ä. nennt. Hitler ging i. a. noch weiter und nannte den Engländer immer wieder „alten Whiskysäufer", u. ä., für SeyßInquart ist dies jedoch wirkliche Ausnahme.

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meineren Nazi-Diskurs einmünden; doch sind sie auch für Berliner Ohren bestimmt (Mehrfachadressierung Seyß-Inquarts, der sich, da er kein „alter Kämpfer" war, besonders inbrünstig präsentieren mußte) und unterstreichen die Parallelisierung von Besatzungssituation und „Drittem Reich", nicht zuletzt als vorweg-ausformulierte Folge der erst begonnenen Ostorientierung der Niederländer, als textuell schon verwirklichte Zukunftsphantasie. Das sprachpolitisch bedeutsamste Mittel, auf das Seyß-Inquart während der gesamten Rede dauernd zurückkommt, ist sein spezifischer Umgang mit der Mehrdeutigkeit des Begriffs „Osten". Darum will ich am Ende dieses Abschnitts noch eine kurze Analyse vorlegen, die dann in die neue Bedrohlichkeit hinüberführt, in die die Niederlande mit dieser Ostorientierung eintreten. Ich betrachte dies auch als weiteres Beispiel für den Eingriff in die Erfahrungsaneignung, wie ich Sprachpolitik bestimmt habe. Insofern kann man auch sagen, daß den Besetzten ein Lernprozeß aufgezwungen wird, der ihre Vorstellungen von „Osten" durcheinanderwirbelt. Zur Verdeutlichung ziehe ich die Aspekte, die den „Osten" semantisch konstituieren, auseinander (vgl. Eberspächer 1978). Seyß-Inquart strapaziert zunächst die Geographie des „Ostens", um neben traditionelle niederländische Bedeutungen die neue Nazi-Räumlichkeit stellen zu können. Es dominieren drei Dimensionen des geographischen „Ostens", jeweils von den Niederlanden aus gesehen: .OSTEN"

Mitteleuropa östlich der Niederlande („Reich" und besetzte Gebiete)

Osteuropa östlich der Front im Juni 1941

Asien Kolonialgebiet Niederländischindien

Während C der niederländischen Tradition entspricht, ist die explizite Trennung von A und Β im Kontext neu; A und Β werden zusätzlich dynamisiert, da die Ostgrenze der Niederlande gewissermaßen verschwimmt und die Ostgrenze des „Reichs" durch den Krieg laufend in östliche Richtung verschoben wird. Für Β gilt überdies, daß sich das „Neue Europa", je größer der „Osten" wird, desto voluminöser erstrecken kann. Hieraus ergibt sich schon der Übergang von der Geographie zur Geopolitik, die

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durch die Beeinflussungen verschiedener inhaltlicher Ebenen von „Osten" zustandekommt. Klammert man A aus, weil Deutschland und die Niederlande unter dem Nenner des Faschismus ineinsgesetzt werden und als „glückliche Zukunft" gerade den Anwendungsbereich für die übrigen Momente von „Osten" als Ostorientierung bilden, so zeigt sich die folgende Spezifik, unterschieden nach fünf Ebenen und zwei Regionen: .OSTEN"

1) historisch

Β Osteuropa

C Asien

2) politisch

1) mittelalterliche Ostkolonisierung

1) Kolonisierung Ndl.-Indiens

2) Gebiet des „Bolschewismus"

2) Teil des „Königreichs Niederlande"*

3) Ländereien, „Lebenshaltung"

3) Ausbeutung Niederl.-Indiens

4) Abendland, ReEuropäisierung

4) Christianisierung

5) dort, wo die Front ist

5) relative Ruhe, kleine Garnison*

3)

wirtschaftlich

4)

kulturell

5)

militärisch

, . . , . , . , . . . , geopolitisch-inhaltliche Amalgamierung v o n „ U 3 X tHN

* Diese Aspekte werden

yon s

M

t nicht

verbalisiert, können aber bei den Besetzten vorausgesetzt werden.

Somit sind durch Seyß-Inquart (und durch die direkten besatzungspolitischen Einwirkungen der Zivilverwaltung) neue Voraussetzungen eingeführt worden, deren Bedeutungspotentiale zukünftige sprachpolitische Verknüpfungsoperationen ermöglichen. Insbesondere steht zu erwarten, daß Β und C gleichgesetzt werden, mit anderen Worten, daß der Bedeutungsbereich der niederländischen Kolonisierung Asiens in der frühen Neuzeit im Besatzerdiskurs möglichst ausschließlich auf die eroberten sowjetrussischen Gebiete projiziert und mit der mittelalterlichen Ostkolonisierung aufgeladen wird. Dies weitet sich zur neuen (Über-)Lebensbedingung für die Besetzten aus, erschwert und verwirrt also ihr zukünftiges Handeln und/oder Unterlassen. Die Abhängigkeit vom „Reich" verstärkt sich noch, indem der Bruch mit der Vergangenheit, den der deutsche Überfall und die anschließende Besatzung bedeuteten, durch diese

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Ostorientierung neuins^eniert wird. 13 Monate Besatzungszeit, vom Mai 1940 bis zum Juni 1941, erscheinen als bloßes Präludium für das, was nun beginnt und wofür die Ostorientierung eine nicht mehr wegzudenkende Erfahrung darstellt. Der Besatzer entfaltet die folgende Spezifik der Ostorientierung, die jeweils verschieden akzentuiert werden kann (er kümmert sich nicht nur um die Blickrichtung und um die Art und Weise des Blickens, sondern vor allem um den Ort Niederlande, von dem aus geblickt werden soll): wirtschaftlich

historisch

Niederländer! Blickt nach dem Osten!

politisch

militärisch So wölbt sich übers besetzte Land eine gläserne Glocke, die nur in östlicher Richtung durchlässig ist. Daß es den darin Befindlichen noch recht eng werden wird, dafür werden die Nazis schnell sorgen, indem sie die „Nederlandsche Oost-Compagnie" errichten und verbissen auf Beteiligung der Niederländer drängen. 5. „Nederlandsche Oost-Compagnie" Den Höhepunkt der Ostorientierung bildete die im Juni 1942 erfolgte Gründung der „Nederlandsche Oost-Compagnie" (=NOC) - unter veränderten historischen Voraussetzungen, da sich einerseits der „Blitzkrieg" im „Osten" in die Länge zog, andererseits in den Niederlanden die Nazi-Partei „Nationaal-Socialistische Beweging" (=NSB) vom Besatzer hofiert wurde, andererseits der Verlust der niederländischen Kolonien in Ndl.-Indien durch die japanische Invasion unmittelbar bevorstand. Die NOC sollte die Möglichkeit bieten, verschiedene ökonomische Aktivitäten zu bündeln und die Niederländer an der Ausbeutung und Ausplünderung der eroberten Ostgebiete zu beteiligen: neue Märkte für Firmen, Industriegelände für größere Betriebe, Ländereien für die landwirtschaftliche Produktion, aber auch Appelle an den Pioniergeist jener Niederländer, die sich seit dem Verlust der Kolonien gefesselt fühlten, leitende Positionen für Persönlichkeiten, die man gern einschalten wollte, und teilweise Selbständigkeit für führende niederländische Nazis, die endlich einmal unter Beweis stellen sollten, daß sie auch deutschen Ansprüchen genügen könnten. Eine Quis-

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ling-Funktion hat es nämlich für die NSB und ihren „Führer" ( = ndl. „Leider") Mussert nicht gegeben, so weit ließ der Besatzer sie gar nicht erst an den Kuchen heran. Die ganze Unternehmung NOC kam ziemlich mühsam in Gang und hatte kaum genügend Zeit, richtig anzulaufen, da ab Anfang 1942 (Stalingrad) der stetige Rückzug der „Wehrmacht" erzwungen wurde, was die „unermeßlichen Räume", von denen man den Niederländern vorschwärmte, zusammenschrumpfen ließ. Da keine genauen Zahlenangaben zur Verfügung stehen und die niederländische Geschichtsschreibung auch einen Bogen um die NOC macht, läßt sich nicht genau angeben, welcher Erfolg der NOC nun wirklich beschieden war. Hinzu kam, daß die deutschen ,Provinzfürsten' und „Gauleiter" im „Osten", vor allem Koch in der Ukraine, zwar niederländische Arbeitskräfte gebrauchen konnten, von weitergehenden Aktivitäten aber nichts wissen wollten, weil sie diese als Schmälerung ihrer Macht ansahen. Der niederländische Steuerzahler jedenfalls bekam die Versuche der NOC, flügge zu werden, hautnah zu spüren: er mußte alle finanziellen Risiken decken und bezahlen. 9 Im gesamten Umfeld der NOC, also vor allem in den Texten der DZN, dominieren drei Aspekte, innerhalb deren die vorausgegangene Ostorientierung konkretisiert wird und die immer wieder sprachpolitisch eingesetzt werden: (1) Anknüpfen an historische Kolonisierungen der Niederländer; (2) Substituierung der indonesischen Kolonien durch den europäischen „Osten"; (3) Umdrehung der vermeintlichen niederländischen West-Orientierung durch eine verstärkte Ost-Orientierung. Unter (1) fallen alle Texte und Äußerungen, die von .Großtaten' der Niederländer in der Hansezeit erzählen. Als sprachpolitische Kategorie kommen wohl vor allem Thematisierungen, Fokussierungen und Umdeutungen in Frage; bestimmte argumentative Figuren treten immer wieder auf („schon damals ..."), die auch als erzählerische fungieren („Es war einmal ein berühmter Niederländer ..."). Unter (2) fallen alle (Sprach-)Handlungen, die Kolonialdiskurse aufgreifen und auf einen anderen Referenten beziehen. Das beginnt bei Benennungen, operiert mit einem unterstellten Nationalstolz der Niederländer auf ihre Tradition des Urbarmachens und Einpolderns, schneidet beiläufig die Vorstellung vom (östlichen) „Untermenseben" an und gibt eine Perspektive des Anpackens und Ärmelaufkrempelns. Unter (3) fallen alle Strategien, die die Neutralität und den demokratischen Liberalis9

Zur Realgeschichte der NOC vgl. Kortenhorst (o. J.), de Jong 6 (S. 457 ff) und in geraffter Form Hirschfeld (1984, S. 288). In der Literatur spricht man von Gesamtkosten von f 15 Mill., also einem für damalige Verhältnisse gigantischen Betrag, der zusätzlich zu den Besatzungskosten aufgebracht werden mußte.

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mus der Niederlande vor dem deutschen Überfall 1940 desartikulieren (d. h.: textuell entfernen), den Blick auf England und die Amerikaner verdunkeln, die in London befindliche Exilregierung als Feiglinge u. a. hartnäckig umschreiben und eine Verschiebung vom europäischen ,Rand' aufs .Zentrum' vornehmen. Ich konzentriere mich bei der Analyse auf den großen Artikel in der DZN vom 9.6.1942 auf der Titelseite, der die breitere in- und ausländische Öffentlichkeit zum erstenmal mit der NOC bekannt macht; für einige weitere Aspekte greife ich noch auf andere Texte zurück. Doch zunächst der Artikel selbst. 5.1 Der Aufmacher: Gründung der NOC Alle Dämme brechen, alle ausgeklügelten Vorsichtsmaßnahmen gegenüber den Besetzten, die über die tatsächlichen Ziele des Besatzers stets im unklaren gehalten wurden, sind vergessen, als die Gründung der NOC bevorsteht. Die DZN legt ihre so oft demonstrierte Zurückhaltung - sie wollte eine ,große' Zeitung sein — ab und läßt sich augenscheinlich von der OstBegeisterung mitreißen, die sie in den Besetzten erst entfachen will. Am 9.6.1942 springt den Leser und den Passanten, der an einem der zahlreichen Kioske, an denen auch die DZN aushängt, vorbeikommt, die folgende Titelzeile mit diesem Aufmacher an: 10 (A) „NEDERLANDSCHE OOST-COMPAGNIE" EIN WEITES FELD DER WIRTSCHAFTLICHEN BETEILIGUNG FÜR NIEDERLÄNDER TUT SICH IM OSTEN AUF - ALLE WIRTSCHAFTSZWEIGE, UNTERNEHMUNGEN UND EINZELPERSÖNLICHKEITEN SIND BERUFEN - LEBENSRAUM FÜR DREI MILLIONEN NIEDERLÄNDER - PLANUNG UND PRIVATE INITIATIVE HAND IN HAND (B) Zwischen dem Reichskommissar für die besetzten Ostgebiete, Alfred Rosenberg, und dem Reichskommissar für die besetzten niederländischen Gebiete einerseits und führenden niederländischen Persönlichkeiten aus Verwaltung und Wirtschaft andererseits finden seit einiger Zeit Besprechungen über gemeinsam zu lösende wirtschaftliche Aufgaben statt. Sie haben nunmehr zu folgendem Ergebnis geführt: Zwecks einheitlicher

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Um leichter verweisen zu können, bezeichne ich mit (A) den Titel samt Untertitel, mit (B) den fettgedruckten Nachrichtenkopf, mit (C) den ebenfalls fettgedruckten folgenden Text der Griindungsbekanntmachung, mit (D) - (H) die Abschnitte der kommentierenden Fortführung. Diese Textform ist übrigens durchaus unüblich, da auch bei der DZN die Trennung zwischen Nachricht und Kommentar - meist von der Aufmachung her auch deutlich abgesetzt - die Regel ist.

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Zusammenfassung aller an einer Betätigung in den besetzten Ostgebieten interessierten niederländischen Kreise aus der Landwirtschaft, Industrie, Bankwelt, dem Handwerk und Handel ist eine „Nederlandsche Oost-Compagnie" mit dem Sitz in Den Haag gegründet worden. (Q Wie aus dem Statut der Gesellschaft hervorgeht, besteht der Geschäftszweck in der wirtschaftlichen Betätigung jeglicher Art in den besetzten Ostgebieten. Die Compagnie ist berechtigt, alle damit im Zusammenhang stehenden Geschäfte und Handlungen vorzunehmen. Die besondere Eigenart der Compagnie ist darin zu erblicken, daß sie in erster Linie planend und fördernd mit voller Unterstützung des Staates und der Niederländischen Bank allen denjenigen niederländischen Unternehmungen und Einzelpersönlichkeiten zur Verfügung steht, die sich in den besetzten Ostgebieten wirtschaftlich betätigen wollen. Für die hierbei von ihr vermittelten Kredite besteht, falls erforderlich, die Garantie des Staates. Die Compagnie ist vorläufig mit einem Anfangskapital von f 2500000 ausgestattet worden. Der neuen Gesellschaft hat sich als Präsident Herr Dr. M. M. Rost van Tonningen, Präsident der Niederländischen Bank, zur Verfügung gestellt. Als Vorsitzender des Vorstandes wurde Herr F . B . J . Gips, Vizepräsident des Rates für die gewerbliche Wirtschaft, bestellt. In den Aufsichtsrat wurden maßgebende Persönlichkeiten aus verschiedenen Wirtschaftszweigen der Niederlande sowie die Bürgermeister von Amsterdam und Rotterdam berufen. Mit der praktischen Arbeit wird sofort begonnen, nachdem die vorbereitenden Untersuchungen über die betreffenden Einsatzmöglichkeiten an Ort und Stelle ihren Abschluß gefunden haben. Auf Einladung des Reichsministers für die besetzten Ostgebiete, Alfred Rosenberg, haben die führenden niederländischen Persönlichkeiten der Compagnie in Begleitung einiger Beauftragter des Reichskommissars für die besetzten niederländischen Gebiete eine Studienreise in die Ostgebiete angetreten. *

(D) Man sagt nicht zu viel, wenn man der Auffassung Ausdruck gibt, daß das niederländische Volk mit der Gründung einer niederländischen Ost-Companie an einen wichtigen Punkt seiner völkischen, wirtschaftlichen und auch politischen Entwicklung angelangt ist. Der Europa aufgezwungene Krieg hat den freien Zugang nach Übersee zunächst blockiert. Unbeschadet in der Zukunft irgendwie gegebener Möglichkeiten einer Neueinschaltung Europas in die weltwirtschaftlichen Beziehungen ist stärkste Entwicklung aller zur Verfügung stehenden europäischen Kräfte zunächst aktuell und grundsätzlich das Haupterfordernis. Im Osten hat dieses Europa einen neuen riesigen Lebensraum erhalten. Besonders in Niederlande, dieses fruchtbare auf engem Raum zusammengepreßte Volk, sind darauf angewiesen, von diesen Möglichkeiten Gebrauch zu machen und sich stärkstens darin einzuschalten. Wenn vor •Jahrhunderten schon der Wagemut der Niederländer in privilegierten Gesellschaften zur Erschließung Ostindiens und Westindiens sich niederschlug, so

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muß man heute dasselbe für das neue Osteuropa erwarten. Ein Vergleich der neuen niederländischen Ostkompanie mit der alten „Niederlandsch-OostIndische Compagnie" und der „Nederlandsch-West-Indische Compagnie" ist somit, ganz allgemein gesehen, möglich. Darüber hinaus aber springt jedem in die Augen, daß der Weg zur Erschließung des Ostens ein absolut sicherer Weg ist, und daß zum anderen die Tätigkeit der neuen Ostkompanie in erster Linie vom Arbeitsethos und nicht vom Gedanken der kapitalistischen Ausbeutung getragen ist. Auch im Rahmen einer solchen Einstellung aber dürfte die Ostkompanie den Niederländern größte Chancen bieten. Die Arbeit im Osten geht unter harten und kämpferischen Bedingungen vor sich, aber sie wird sich lohnen. Es ist wirtschaftspolitisch dafür gesorgt worden, daß dies der Fall ist. (E) Die Wichtigkeit der Neugründung geht im übrigen aus den Überlegungen hervor, einen welch großen Teil des niederländischen Volkes die Arbeit im Osten beschäftigen könne. Man rechnet damit, daß von 9 Millionen Niederländern allein 3 Millionen im Osten Brot und Arbeit finden werden. Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, daß die Arbeit der Ostkompanie ja keineswegs identisch nur mit Siedlungsvorgängen ist, sondern auf eine allgemeine wirtschaftliche Betätigung in den Ostgebieten abzielt. Alle Kreise der niederländischen Wirtschaft sollen durch die neue Kompanie angesprochen werden, also nicht nur die Bauern, Handwerker und Industriearbeiter, sondern auch die vielfachen Möglichkeiten der Betätigung in Handel und Finanzierung. Man kann in dieser Beziehung an die Vorarbeiten denken, die z. B. Bremen und Hamburg geleistet haben, deren Handelsfaktoreiennetz heute bereits den ganzen Osten überzieht, sich in die Monopolgesellschaften zur Erschließung des Ostens eingeschaltet hat und an der Entwicklung spezieller Kulturen wie Baumwolle, Tabak usw. u. a. beteiligt (sie). Die Tatsache, daß die Bürgermeister von Amsterdam und Rotterdam mit maßgebenden Persönlichkeiten aus verschiedenen Wirtschaftszweigen in den Aufsichtsrat der Niederländischen Ostkompanie berufen sind, zeigt die universale Auffassung der wirtschaftlichen Tätigkeit, die man von dem neuen Vorhaben heute und im Rahmen einer späteren Weltwirtschaft erwartet.

Das Land im Osten liegt in seiner Wirtschaftskultur heute noch sehr niedrig. Es kann in allen seinen Lebensbeziehungen neu aufgebaut werden. Es ist unerschlossenes Gebiet, und seine Aufschließung vermag daher das alte Europa besser zu beschäftigen als auch zugleich besser als bisher zu ernähren. Soweit heute von Arbeitsgebieten und Siedlungsgebieten im Osten für die Niederländer zu sprechen ist, handelt es sich keineswegs um ein einzelnes geschlossenes Gebiet, sondern der ganze Osten steht der Arbeit offen. Wo es zur Ansiedlung kommt, wird man hier allerdings aufgeschlossene Gemeinschaftssiedlungen Wert legen, damit völkische Energien sich nicht in der Breite verlieren. (G) Die Stunde drängt! Die Gründungsmitteilung vermittelt den Eindruck, daß mit der praktischen Arbeit bereits begonnen wird. Sie verlangt Entschlußkraft

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und Härte. Handelt es sich doch um die wirtschaftliche Durchdringung und Sicherung eines Raumes, der wehrhafte Männer erfordert und vermutlich immer wieder gegen die Rätsel der Tiefe des weiten Ostens gehalten werden muß. Im gleichen Sinn wie die holländischen Kolonisatoren, die in früheren Jahrhunderten nach dem Osten zogen, um den Auftrag europäischer Kultur auf Grund ihrer besonderen Erfahrung zu erfüllen. Heute aber ergeht aufs neue der werbende Ruf: Naar Oostland willen wij rijden, daar is er een betere stee! (H) Wenn nun im Zusammenhang damit davon die Rede ist, daß die Erschließung des Ostens 3 Millionen Niederländern einen neuen Lebensraum und Arbeit und Brot geben wird, so ist das keineswegs so aufzufassen, als ob es sich dabei um eine Aussiedlung von 3 Millionen Niederländern mit Kind und Kegel handele. Vielmehr ist dieser Tatbestand so zu verstehen, daß die Erschließungsarbeiten und die daraus hervorgehenden Geschäfte einen solch gewaltigen Anreiz bieten werden, daß auf längere Sicht gesehen und angesichts der Enge des zu kleinen heimischen Raumes sich die tatkräftigsten niederländischen Elemente von sich aus angeregt fühlen, diesen Weg nach dem Osten zu machen und sich in die Ostbeziehungen einzuschalten. Die Ostpolitik der Niederlande hat, das geht aus der Gründung der niederländischen Ostgesellschaft mitten im Kriege hervor, lebensgesetzliche Grundlagen. Sie wird nicht dogmatisch auf dem Reißbrett ausgeführt, sondern dynamisch, der biologischen Entwicklung folgend, Schritt für Schritt zur Entfaltung gebracht und dürfte schon bald ein viele Niederländer begeisternder Vorgang werden. Eine neue Welt gesunden Lebens und bester Chancen tut sich auf!

Wenn man die Schlagzeile mit den Untertiteln (A) als die verbindende Klammer ansieht, deren Funktion die Informationssteuerung des Lesers ist, dann besteht der Leitartikel im wesentlichen aus zwei Teilen: (B) und (C) als Bekanntmachung und (D), (E), (F), (G) und (H) als Kommentar, der die offiziellen Texte für die Besetzten aufbereitet, übersetzt und (allgemein) an den Besatzerdiskurs und (im besonderen) an die Ostorientierung anschließt. Für die Analyse der NS-Sprachpolitik ist dieser Kommentar der wichtigste Teil, da in ihm alle Verfahren wirksam werden, über die ein geübter Propagandist und Nazi-Journalist verfügt. Die Form des Artikels legt schon nahe, daß er für verschiedene Lesergruppen geschrieben wurde; doch läßt sich die Mehrfachadressierung nicht bloß so mechanisch ableiten, schließlich sind gerade auch im kommentierenden Teil unterschiedliche Leser angesprochen. Ob sich aus diesen Adressierungsbemühungen der DZN eine Art Gesamtbild der niederländischen Gesellschaft (da ,alle' angesprochen seien) ergibt, muß dahingestellt bleiben, auch wenn eine gewisse Emphase in dieser Richtung erkennbar wird. Es ist schließlich auch nicht zu übersehen, daß aus dem Kommentar-Text ,die Zeitung selbst' spricht, indem sie ihre Rolle im Prozeß der NS-Sprachpolitik als Artikulatorin des Besatzerdiskurses thematisiert. Diese die übliche Trennung zwischen den internen und den externen Zwecken einer Institution übersteigende, ja sprengende Handlungs-

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weise ist wohl auf den inhaltlichen Schock zurückzuführen, von dem die DZN zutreffenderweise erwartet, daß er in der Formulierung von den „Drei Millionen" die Niederländer (und zwar in jeder Bedeutung des Wortes) trifft. Ein solches Verfahren ist als Selbstabsicherung der DZN zu interpretieren, die ihre Vermittlungstätigkeit zum Gegenstand eigener Texte macht und die Institutionenperspektive 11 anschneidet, um das Prozessieren von Ursache und Wirkung verschleiern zu können. Über die Köpfe der niederländischen Leser hinweg wendet sich der Artikel so auch an die NS-Propagandadienststellen, denen die allgemeine Koordinierung obliegt. Im Resultat zeigt sich eine gewisse Elastizität des Textes, dessen Rezeption von den Autoren nicht so einfach eingeschätzt werden kann; sie vermuten offensichtlich Lese-Widerstände, denen sie mit ihrer unkonventionellen Form (Bekanntmachung und Kommentierung in einem) entgegenzusteuern suchen. 5.2 Einladung zur Kollaboration Im amtlichen Text der Abschnitte (B) und (C) steht die Gründung der NOC im Schnittpunkt zweier Bewegungen: sie ist Ergebnis (und damit Endpunkt) längerer „Besprechungen" zwischen der Rosenberg- und der Seyß-Inquart-Administration und Niederländern „aus Verwaltung und Wirtschaft", und sie ist Beginn einer neuen Etappe von wirtschaftlichen „Einsatzmöglichkeiten" und von „wirtschaftlichen Betätigung(en) jeglicher Art in den besetzten Ostgebieten". Ein solcher Übergang vom nichtöffentlichen zum öffentlichen Sprechen, wie er sich in dieser Ausgabe der DZN herauskristallisiert, dient der Erzeugung von Erwartungshaltungen, die sich anschließend in eine Auffindungsprozedur bei der Lektüre umsetzen. Für den, der so zu lesen versteht und der auch genannt wird (Landwirtschaft, Industrie, Bankwelt, Handwerk, Handel), handelt es sich bei der Bekanntmachung um eine Kollaborationseinladung im großen Stil. Die aus dem Kontext zu erschließende bisherige Zurückhaltung der Wirtschaft, soweit es den „Osten" betrifft, erscheint hier nicht als typische Folge der Besetzung der 11

Daß zwischen Sprechen und Sprechen in Institutionen unterschieden werden muß, hat erst in den letzten Jahren in der pragmatischen Linguistik angemessene Berücksichtigung gefunden. Sprachliche Handlungen verändern sich, wenn sie in Institutionen stattfinden (vgl. Ehlich/Rehbein 1977,1980), und institutionelle Handlungen vollziehen sich meist auf mehreren Ebenen (spezifische Komplexheit). Für die Problematik der NS-Sprachpolitik ist folgende Beobachtung wichtig: wenn in einem Text der landläufigen Vorstellung entsprechend sehr viele typische NS-Ausdrücke zu finden sind, so bedeutet dies noch lange nicht, daß der Verfasser überzeugter Nazi ist, ein Rückschluß von den Wörtern auf die Überzeugung ist in den seltensten Fällen unmittelbar möglich. Vielmehr ist die institutionell gesteuerte Textentstehung in die Analyse einzubeziehen; von einem Journalisten der DZN kann man eben nicht erwarten, daß er Artikel schreibt, in denen keine NS-Äußerungen vorkommen. Das Kriterium der Auftretenswahrscheinlichkeit bestimmter Wörter muß daher zumindest relativiert, wenn nicht zurückgewiesen werden.

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Niederlande, sondern als ein Problem, eine Aufgabe, die gelöst werden kann. Kriegerische Eroberungen strukturieren sich demnach als MarketingProbleme (Ausweitung der Märkte u. ä.) und tragen bei zu einer Auffassung, die den Krieg normalisiert. Folgerichtig konstatiert der Text eine Schwellenangst bei der Wirtschaft, die ihr durch großzügige Kreditierung und Staatsgarantien genommen werden soll. Der Trick dabei ist, daß diese Kollaborationseinladung vom Besatzer ausgesprochen und von niederländischen Chefkollaboranten (die NSB-Mitglieder sind) nachgesprochen wird, daß jedoch die dabei sicher anfallenden Kosten (sprich: die Gewinne bei einem eventuellen Engagement) vom „Staat" gedeckt und übernommen werden: der niederländische Steuerzahler vergütet somit Kollaborationsversuche der niederländischen Wirtschaft bzw. der „Einzelpersönlichkeiten", falls die einen Versuch wagen sollten. Da die NOC „fördernd" und „planend" auftritt und Initiativen ergreift oder unterstützt, entsteht die Struktur des Selbstbedienungsladens, bei dem die Geladenen nur zuzugreifen brauchen. Einzige Bedingung neben der Voraussetzung, daß man unter einer NaziVerwaltung zu wirtschaften bereit sein müsse, was ja bereits in den besetzten Niederlanden hinreichend bewiesen worden war, ist der Ort der zukünftigen wirtschaftlichen Betätigung, der „Osten", an dessen ökonomischer Ausplünderung man sich schon beteiligen müßte. Es kommt also darauf an, eine Mitausbeutung der russischen besetzten Gebiete und ihrer Menschen profitabel erscheinen zu lassen, denn schließlich muß es sich lohnen, die zusätzlichen Investitionen aufzubringen, die Entfernungen zu überbrücken, das Risiko der Unerschlossenheit dieser Gebiete (siehe auch Abschnitt (F)) in Kauf zu nehmen und besonders, sich politisch als Nazi-Handlanger zu profilieren, und zwar in eindeutigerer und erkennbarerer Weise, als dies im bloßen Weiterwirtschaften und Weiterproduzieren in den Niederlanden selbst der Fall sein würde. Der Text geht somit von der Voraussetzung aus und formuliert dies in der Redeweise von den „interessierten niederländischen Kreisen", daß brachliegendes Kapital und brachliegende Investitionsgüter in den Niederlanden vorhanden waren, die der Besatzer gern in dieser Weise und unter dem Deckmantel der Freiwilligkeit in die Kriegs- und Bedarfsproduktion und in die sich ausweitende Bedarfsdeckung eingespannt hätte. Insofern stellt er eine Konkretisierung der allgemeinen Ostorientierung dar, eine Anwendung der Vorgaben Seyß-Inquarts (seit Juni 1941) für die niederländische Wirtschaft. Auf landwirtschaftlichem Gebiet waren bereits Schritte unternommen worden, da die Anbauflächen in den Niederlanden nicht für die Selbstversorgung ausreichten und die Deutschen zusätzlich für ihren Eigenbedarf laufend Nahrungsmittel den Besetzten entzogen. Mit Unterstützung des niederländischen Ernährungsministeriums war schon länger ein „Ausschuß für die Verschickung von Bauern nach Osteuropa" zusammengetreten (Culano: „Commissie voor de uitzending van landbouwers naar Oost-Europa", vgl. de Jong 6, S. 449 ff), unter dessen Federführung die Ernährungslage

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der Niederländer durch Anbau im „Osten" verbessert werden sollte, was jedoch wegen der zähen russischen Kriegsführung und der Taktik der verbrannten Erde nicht so schnell verwirklicht werden konnte. Mit der NOC nun ist die Klammer gefunden, die diese Tätigkeiten systematisiert, freilich auch ideologisiert, indem sie sie von der Ernährungsproblematik auf das Mit-Tun verschiebt. Den argumentativen Übergang von einem zum anderen Thema bildet die Überbevölkerung der Niederlande: „dieses fruchtbare auf engem Raum zusammengepreßte Volk"(D), wie es erst der kommentierende Teil des Artikels - und natürlich die Überschrift - formuliert. Im Besatzerdiskurs ist die Zahl der Niederländer ein neues Argument; wenn Quantitatives bislang überhaupt eine Rolle gespielt hatte, dann ging es immer darum, daß die Niederländer nach den Deutschen die größte Zahl von .Germanen' wären (positive Sichtweise), oder darum, daß der zahlenmäßige Abstand zwischen beiden Völkern so groß wäre, daß die Besetzten erst noch beweisen müßten, daß mit ihnen gerechnet werden könnte (negative Sichtweise). Die textuelle Arbeitsteilung zwischen amtlicher Verlautbarung (B, C) und erläuterndem Kommentar (D usw.) - auch dies eine sprachpolitische Strategie! — besteht darin, daß dieser ein ,Sollen' äußert, wo jener sich mit einem ,Wollen' zufriedengibt; während (C) über die „Einsatzmöglichkeiten" spricht, oktroyiert (D) schon eindeutiger: „Die Niederlande [...] sind darauf angewiesen, von diesen Möglichkeiten Gebrauch zu machen und sich stärkstem darin einzuschalten". Doch bleibt der Text nicht bei dieser Notwendigkeitsperspektive stehen, sondern koppelt das „Haupterfordernis" an den „Wagemut", bemächtigt sich also gefühlsmäßigtraditioneller Werte, die als Verlockung präsentiert werden. Das Sternchen, das (C) von (D) trennt, markiert also die inhaltliche Verschiebung von Kollaborationsangebot zu Überbevölkerung, der wiederum andere textuell artikulierte Handlungen (in der Terminologie der Sprechakttheorie: Illokutionen) entsprechen, vom Appellieren übers Nahelegen zum Auffordern und Mitreißen. Im Abschnitt (D) kommen auch neue Adressaten ins Blickfeld, die im amtlichen Teil höchstens verschämt mit dem Begriff „Einzelpersönlichkeiten", als welche sich viele schmeicheln konnten, erwähnt wurden. Die entscheidende Veränderung vollzieht sich über die Evozierung des alten niederländischen Kolonialismus, und zwar zunächst als bewußte Benennungspolitik, als offen eingestandene Erläuterung der Herkunft des Namens „NOC". Da der Name „NOC" jedem Niederländer unmittelbar einleuchtet, ist nach der Funktion dieser ,Offenlegung' zu fragen. Man findet eine Antwort in der Feststellung, daß der so vermittelte Einblick in die Denkweise des Besatzers den Leser, für den die Assoziationen gewissermaßen verdoppelt werden, in spezifischer Weise verstrickt: ein vielleicht die Neugierde anstachelnder Zuwachs an Wissen über den Besatzer stellt sich als wissensmäßige Gleichheit heraus und muß den Leser davon überzeugen, daß jetzt auch der deutsche Besatzer über den niederländischen Kolonialismus ,verfügt'. Dann schließt sich die Re-Aktualisierung der wirtschaftlichen Tä-

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tigkeiten in West- und Ost-Indien ganz zwanglos an. Verstärkt um das Argument der Überbevölkerung soll die NOC also schlicht die Firmen und Kapitalien der sog. Kolonialgesellschaften (im Mutterland) auf das „neue Osteuropa" umlenken. In der Unterstellung, die Niederländer wüßten, wie man mit Kolonien umzugehen habe - eine Erfahrung, die sie den Deutschen um viele Jahre voraus haben, was auch als Schöntuerei fungiert - , offeriert ihnen der Besatzer in der NOC eine osteuropäische Analogie. Diese Sprachpolitik qua Analogie reicht allerdings weiter als eine Substituierung des alten „Ostens" (und Westens) durch den „neuen Osten", womit sich SeyßInquart 1941 noch .begnügte'. Mit der captatio benevolentiae („Wagemut") und den verführerisch-abschreckenden Attribuierungen („unter harten und kämpferischen Bedingungen") entsteht ein „Osteuropa" als Kolonie durchaus im überlieferten Sinne, worin ein Aufruf an alle Abenteurer, Durchsetzer, Kämpfernaturen, Herrenmenschen, SA-Typen steckt, ,dort' vor allem ihre barbarischen Gefühle auszutoben und überdies schnelles Geld zu machen. Für die anderen Niederländer können Erinnerungen an Kulturbringertum und Christianisierung aus der historischen Kolonialideologie dienen, um ihnen ein erneutes und erneuertes Kolonialverhalten plausibel zu machen, das eine implizite Antwort auf das NS-offizielle und niederländische-traditionelle Bild vom ,Bolschewismus' als ungesittet, verderbt und heidnisch darstellen würde. Es darf aber auch einfach die „kapitalistische Ausbeutung" sein, der, leicht verklausuliert, der Abschnitt (D) „größte Chancen" einräumt, nicht ohne mit dem Begriff „Arbeitsethos" der NaziFeiertagspropaganda seine Reverenz erwiesen zu haben. Hier schließt sich der Kreis zum amtlichen Teil: die Textverursacher wollten „planend und fördernd" auftreten, für die Adressaten muß es sich „lohnen".

5.3 Erzeugung und Nutzung eines Skandals Im Abschnitt (E) kommt die DZN endlich zur Sache, die sie in den Unterüberschriften so hinausposaunt. Die Gruppe derer, die bewußt und gezielt „angesprochen" werden, erweitert sich geradezu explosionsartig; alle Zurückhaltung hat die Zeitung fahren gelassen, wenn sie für ein Drittel der damaligen niederländischen Bevölkerung „im Osten Brot und Arbeit" verspricht. Die vorphantasierte Entleerung der Niederlande in aller Öffentlichkeit und mit den schreienden Überschriften geht weit über den Anlaß und Ansatz der NOC hinaus. Sie gönnt gewissermaßen einen Blick in die Kulisse der außer Rand und Band geratenen NS-imperialistischen Vorstellungen aus der Feder beflissener Journalisten. Gerade weil die DZN hier so ,im Brusttone der Überzeugung' verfährt und ,es wohl nur gut meint' mit den Niederländern, ist die Fallhöhe beträchtlich - kein Argwohn der Besetzten, der geschickter hätte geweckt werden können. Als Schnitzer oder Mißgriff läßt sich dies kaum bezeichnen, auch wenn man versuchsweise

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die Perspektive der Propagandainstanzen einnimmt. Außerdem handelt es sich um einen Alleingang der DZN, dem sich dann niederländische NSBBlätter anschlössen, bevor das Propagandaministerium in Berlin ein Verbot der Erwähnung der Zahl von den „drei Millionen" ausfertigte. Da auf einen Schlag die Art der Nazifizierungsversuche des Besatzers bloßgestellt war, konnte diese Meldung auch nicht, in wohlweislicher Einschätzung des verursachten Aufruhrs unter den Niederländern, durch klassische journalistische Mittel wie Dementi, Berichtigung oder andere Korrekturen rückgängig gemacht werden. Statt dessen verfiel man aufs Schweigen (auch der Zeitungen im „Reich"), wohl weil das Eingestehens eines Irrtums, das sowieso nicht zum Arsenal der NS-Sprachpolitik zählte, die Befürchtungen der Niederländer eher bestätigt als abgeschwächt hätte. Das Publikationsverbot der Zahl (vgl. de Jong 6, S. 451 ff) muß als der durchtriebenere Weg gelten, da es mit dem entstandenen Angstgefühl der Niederländer spielt: auf die unterschwelligen Befürchtungen, es könnte doch wahr sein, kann man von Zeit zu Zeit zurückgreifen, um Gefügigkeit zu erreichen. Neben so viele Trennungslinien, die durch die Besetzten unter dem Einfluß der Besatzung verlaufen und ein großes Ungewißheitspotential bilden, tritt als neue Trennung die Aufteilung nach denjenigen, die vor dem „Osten" Angst haben, und denjenigen, die sich etwas Konkretes vom „Osten" versprechen. Potentielle Nutznießer der Gründung der NOC sind demnach nicht nur die wirtschaftlich Interessierten, sondern gerade auch politisch für den Faschismus Eintretende, denen die plötzlich manifest gewordene Bedrohlichkeit der Besatzungssituation zum ,Beweis' wird, wie feige und wenig .germanisch' die überwiegende Mehrzahl der Niederländer sich verhalten. Als weiterer Unsicherheitsfaktor für Niederländer und Leser des Abschnitts (E) muß gelten, daß zwischen der NOC und anderen Stellen ein Unterschied gemacht wird, wenn es heißt: „Demgegenüber ist daraufhinzuweisen, daß die Arbeit der Ostkompanie ja keineswegs identisch nur mit Siedlungsvorgängen ist, sondern auf eine allgemeine wirtschaftliche Betätigung in den Ostgebieten abzielt". Es sind zwei Lesarten möglich: zum einen, daß die NOC neben wirtschaftlichen Aktivitäten auch um „Siedlungsvorgänge" sich kümmert, zum andern, daß praktisch keine Bearbeitung von „Siedlungsvorgängen" durch die NOC erfolgt, weil sie sich auf die Wirtschaft konzentriert. In diesem zweiten Fall kämen dann andere ins Spiel, andere Institutionen möglicherweise, denen an einem niederländischen Einfluß, wie er immerhin durch die NOC gegeben sein soll, nichts gelegen ist. Welche Institutionen dies sein könnten und worin ihr Einfluß läge, kommt ansatzweise zum Ausdruck, wenn die „Siedlungsgebiete" (F) erwähnt werden, die jedenfalls nicht wie eine niederländische Provinz im „Osten" aussehen werden; diese Vorstellung würde sich jedoch wirtschaftlich anbieten und der NOC ein größeres Renommee verschaffen (auch der DZN die Arbeit erleichtern!). Also käme eine massenhafte Ansiedlung von

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Niederländern denen in die Quere, die in den Besatzungsgebieten des „Ostens" die Macht ausüben, den „Gauleitern" und „Reichskommissaren", auf die die NOC augenscheinlich keinen Einfluß hat. Aufgrund dieses Informationsmangels, der sich textuell als Vagheit bemerkbar macht, springt (E) plötzlich in die „spätere Weltwirtschaft" und bietet den Lesern einen Begriff an, auf den viele Erwartungen projiziert werden können. Dadurch entsteht eine Vertextungsstruktur, bei der eine Vagheit mit einer anderen .gefüllt' wird, ein ,Loch', das andere ergänzt, wodurch der Leser gezwungen ist, beträchtliche Eigenaktivitäten zu entwickeln, um den Text zu entschlüsseln. Als Entschlüßler ist der Leser jedoch schon Teil der .Dimension' des Textes geworden und muß notwendigerweise gedankliche Operationen vollziehen, die ihn auf die Seite der Nazis bringen oder jedenfalls seine Wahrnehmung beeinträchtigen. Als weitere Überraschung steht ihm die Formulierung bevor, daß es eine „Ostpolitik der Niederlande" (H) gebe, daß also das besetzte Land vom Objekt zum Subjekt sich wandle. Unausgesprochen bleibt die Voraussetzung, unter der dies möglich wäre, eine Übereinstimmung' zwischen dem „Reich" und den Niederlanden, die keinen Unterschied mehr machen würde. Seyß-Inquart hatte diese Möglichkeit im Zuge der Ostorientierung, aber auch sonst - als Verdeutschung und Na^ifi^ierung der Niederlande artikuliert, also ihr Verschwinden de facto ausgemalt. Das gigantische Projekt der Umsiedlung von drei Millionen Niederländern reduziert sich so zu einer Operation, die Teile eines „Reichs" betrifft. Auch die NOC schrumpft angesichts dieser Zielsetzung auf ein Beispiel zusammen, eine Metonymie, für eine den Niederlanden zugedachte ,deutsche' Zukunft. 12 Es kommt dann noch hinzu, daß in den Augen des Besatzers diese riesenhafte Umzugsaktion doch nur durch Deutsche erledigt werden könne; die implizite Ablehnung planerischer Prozesse, wie sie in den westlichen Demokratien Usus waren, in der Formulierung: „nicht dogmatisch auf dem Reißbrett ausgeführt" (H), ist als Anspielung auf faschistische Massenbewegungen mitsamt den bisherigen Erfolgen in dieser Hinsicht zu lesen. Diese Anspielung (vgl. Rodi 1975, Svensson 1978) verfangt bei dem Leser, der den Gegenbegriff zu „dynamisch" mit realisiert, indem er etwa an „statisch" oder auch „starr" denkt und Zuordnungen vornimmt, die das .Statische' auf die Niederlande beziehen und das ,Dynamische' aufs „Reich". Der „begeisternde Vorgang", also der Vorgang, dem ein bestimmter ,Geist' innewohnt, stellt dann eben das Dynamischwerden der Niederlande dar, ihr Angleichen an die deutsche Beweglichkeit. Gerade in solchen Verschiebungen und offengehaltenen Gegenbegriffen beharrt der Artikel

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In Kreisen der SS, die mit Eindeutschungsmaßnahmen bekanntlich nicht zimperlich verfahren ist, war der Gedanke an eine Eindeutschung auch der Niederländer nichts Neues und spätestens seit der Besatzung im Jahre 1 9 4 0 virulent. Er entzündete sich häufig an im „Reich" lebenden Niederländern, denen die deutsche Staatsbürgerschaft mit Hinweisen auf allerlei Verminderungen von Schwierigkeiten nahegelegt wurde.

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auf der durchgängig artikulierten deutschen Dominan^position, angesichts deren die Subjektwerdung des besetzten Lands - im Terminus der „Ostpolitik der Niederlande" - nur als Sub-jektion (als Unterwerfung und Umgestaltung) heraufbeschworen wird. Insgesamt ist die Bedeutung des letzten Abschnitts (H), wie schon erkannt sein dürfte, reichlich komplex anzusetzen. Weil er die Befürchtungen der Leser aufgrund der „drei Millionen" noch einmal aufgreift, fungiert er als Kommentar des Kommentars, eingegeben aus Angst vor der eigenen Courage (der DZN), zumal in der amtlichen Verlautbarung nirgendwo von konkreten Zahlen berichtet worden war. Ein Stück weit versetzt sich der Journalist in seine Leser, wenn er gegensteuert: „... keineswegs so aufzufassen, als ob es sich dabei um eine Aussiedlung [eines der NS-Wörter für Deportation! C.S.] von drei Millionen Niederländern mit Kind und Kegel handele", durch die übertriebene Vollständigkeit leicht ironisiert („mit Kind und Kegel"). Er schwächt ab, indem er auf längere Zeiträume abhebt („auf längere Sicht"), auf die sich dann schon einstellenden Motivationen auch von Gruppen seiner Leser („die tatkräftigsten niederländischen Elemente von sich aus", auch eine Umschreibung für niederländische Nazis) und nochmals auf die „Enge des zu kleinen heimischen Raumes". Die Uberbevölkerung der Niederlande, also der normale Zustand vor 1940, wird zu einem aus dem Gleichgewicht geratenen Zustand umgedeutet, der einen Eingriff, eine Veränderung erwarten lasse. Keine Besserung der Lebensmittelversorgung, so verordnet der Artikel den Besetzten, ohne eine umfassende Bevölkerungsbewegung, keine Normalität ohne Entleerung um ein Drittel aller Niederländer. Für eine gewisse ,Freiwilligkeit' wird gesorgt werden, indem ein „gewaltiger Anreiz" geschaffen wird. Das steht im Widerspruch zu Abschnitt (D), der ein Überleben der Niederlande ohne Verkleinerung der Bevölkerungsanzahl eher verneint und dies auch mit historischen Beispielen unterstreicht. In (H) dagegen geht es um die Pioniere, die den herbeigeträumten Strom der drei Millionen durch ihre „Erschließungsarbeiten" auslösen. Der Zeitpunkt der Gründung der NOC wird somit in eine zeitliche Struktur des Erst-Dann zerlegt, eine gegliederte Entwicklung, die langsam und mit Wenigen in Gang kommt, bevor sie dann schnell und mit Vielen sich vollendet. Alles kommt also darauf an, die ersten Schritte zu tun. Angesichts des Jetzt, Hier und Heute wird das Später unscharf und entschwindet aus dem textuellen Rahmen. Die klassische Formulierungsweise, um solche in der Zeit ablaufende Entwicklungen darzustellen, ist die ökonomische, besonders wenn ein Konkurren^aspekt zur Geltung gebracht werden kann. Die unverkennbare Ungeduld des Besatzers, der entgegen allen ursprünglichen Erwartungen die NOC „mitten im Krieg" auf die besetzten Ostgebiete loslassen möchte, bedient sich geschmeidig kräftiger Hinweise auf andere, die schneller sein könnten. Daher erscheinen auch die Hafenstädte Hamburg und Bremen, „deren Handelsfaktoreiennetz heute bereits den ganzen Osten überzieht" (E) als unmittelbare Konkurrenten von Rot-

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terdam und Amsterdam; daher erscheinen auch Beschreibungen, die von einer bereits getroffenen Entscheidung ausgehen: „Die Stunde drängt!" (G) und: „Mit der praktischen Arbeit wird sofort begonnen" (C); daher ist „unbeschadet in der Zukunft irgendwie gegebener Möglichkeiten einer Neueinschaltung Europas in die weltwirtschaftlichen Beziehungen [...] stärkste Entwicklung aller [...] Kräfte zunächst aktuell und grundsätzlich das Haupterfordernis" (D). Die Bedrohung der Besetzten mit massenhafter „Aussiedlung" (H) setzt sich beim Durchgang durch den gesamten Text in einen extremen Zeitdruck um, der ein Jetzt oder Nie auch ökonomisch artikuliert, das Handeln des Besatzers auf den Hintergrund schiebt und eine allgemeine Erfahrung, daß, wer zu spät kommt, den .Anschluß' verpaßt, als spezifisch auch für die aktuelle Lage ausgibt. Als sprachpolitische Konsequenz des „Lebensraum(s) für drei Millionen Niederländer" (A) ergibt sich die Zumutung an die Niederländer, vom Krieg und seinem unsicheren Ausgang abzusehen und ohne Besinnung - nur aufgrund ,objektiver' Notwendigkeiten — draufloszuwirtschaften. 5.4 VerOSTung Ein von deutschen Truppen erobertes Land, das drei Millionen Niederländer aufnehmen soll, muß nicht nur ausreichend groß sein und eine gewisse Infrastruktur besitzen, viel stärker noch drängt sich jedoch die Frage auf, was es mit den dort lebenden Menschen - in niederländischer Optik ebenfalls Besetzte, in deutscher wohl eher „Untermenschen" — auf sich hat. Die in der DZN immer wiederholte Betonung des „Lebensraums" gibt keine Auskunft darüber, wie ,leer' dieser Raum wirklich ist, ob also die Tätigkeit von Niederländern im Rahmen der NOC auf eine Füllung dieser Leere hinausläuft oder es auf eine Form von ,Zusammenarbeit' ankommen wird. Auch wenn man zugesteht, daß die DZN sich zu diesem Zeitpunkt (9.6. 1942) noch gar nicht detailliert dazu äußern konnte, muß man doch festhalten, daß sich die Zeitung keine besondere Mühe gibt, einige Hinweise zu geben — immer auch vor dem Hintergrund der Tatsache, daß der Euphemismus „Ein weites Feld der wirtschaftlichen Beteiligung für Niederländer tut sich im Osten a u f (A) von den im Artikel Angesprochenen nicht ohne weiteres akzeptiert werden wird, für welche Einschätzung ja schon einige Strategien analysiert worden sind, die die DZN selbst anwendet. Daß dies ein Manko des Textes ist, spürt auch der Journalist, wenn er schreibt (G): „Die Stunde drängt! Die Gründungsmitteilung vermittelt den Eindruck, daß mit der praktischen Arbeit bereits begonnen wird. Sie verlangt Entschlußkraft und Härte. Handelt es sich doch um die wirtschaftliche Durchdringung und Sicherung eines Raumes, der wehrhafte Männer erfordert und vermutlich immer wieder gegen die Rätsel der Tiefe des weiten Ostens gehalten werden muß". Ich betrachte das Zitat als eine Schlüsselstelle für die Art und Weise, wie verschiedene Handlungsbezüge gleichzeitig realisiert

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werden — und für die Relativität des Besatzerdiskurses, soweit er Informationen (für die Besetzten und für andere Leser) vermittelt. Zunächst handelt es sich um das Weiterspinnen des Fadens, der in der amtlichen Mitteilung angereicht worden war, eine Ausformulierung der offiziellen Äußerungen, die ganz allgemein für eine gewisse Plausibilität und das Hervorrufen von Vorstellungen sorgt, unter denen sich unterschiedliche Leser wiedererkennen können. In den Worten: „ . . . vermittelt den Eindruck, daß . . . " konstatiert der Journalist explizit die Lücke im offiziellen Text, und er zeigt zugleich einen Weg auf, wie man damit umzugehen habe: er bringt seine eigene Position ins Spiel, wenn er schreibt, daß er auf den „Eindruck" hin reagiert, den er dann aber weitertransportiert. Hierin steckt ein Moment von Rückversicherung wie auch ein Versuch, die Phantasie der Leser zu stimulieren, die sich im Grunde genauso wie die DZN hineinsteigern könnten, wenn sie nur wollten. Dies zeigt den Besetzten, wie sie zu lesen haben, es ist eine Schulung der Interpretation. Als Ergebnis dieser Interpretation erscheint „Entschlußkraft", eine Verdoppelung des „sofort" in (C), aber überraschenderweise auch „Härte", die gleich anschließend textuell breiter dargelegt wird. „Wirtschaftliche Durchdringung" ist eine Dimension des NOC-Handelns, „Sicherung des Raumes", „wehrhafte Männer" und „gehalten werden" schneiden eine weitere an, eine im wesentlichen militärische. Also besteht die von der DZN angebotene Lösung der Informationslücke in der Thematisierung notwendiger militärischer Aktivitäten im „Osten". Diese Aktivitäten wenden sich „gegen die Rätsel der Tiefe des weiten Ostens", wie es beschwörend-kitschig heißt. In dieser Redeweise steckt eine spezifische Spannung, da einerseits die Erwähnung der Menschen ausgespart ist (und beim Lesen automatisch ergänzt wird), andererseits auf eine ideologische Ebene umgestiegen wird, die das kriegerische Geschehen, welches die NOC erst ermöglichte, entwirklicht, indem sie es auf einen AllgemeinheitsGestus transformiert. Man kann hier eine Anspielung auf Hitler-Äußerungen erkennen, der von einem „immerwährenden Wall gegen die Tiefe des Ostens" gesprochen hat; außerdem ist der „Rätsel"-Begriff geeignet, etwas .Unerklärliches' anzunehmen, für das man folglich auch keine Verantwortung abzulegen hat - eine sehr handliche Manier, um auszudrücken, daß ,man es nicht gewußt habe' ( R e c h t f e r t i g u n g s m ö g l i c h k e i t ) . Noch näher liegt jedoch, in der ideologischen Paraphrase ein Verbindungsglied zu sehen, das den Übergang zur niederländischen Kolonialgeschichte des Mittelalters (vgl. unten 5.5) bildet. Die Textkohären£ in (G) erweist sich somit aus der Bewegung von Konkretion zur Abstraktion und wieder zu einer anderen Konkretion. Ohne das Zwischenglied wäre die Sache noch absurder. Der Umgang mit Aussparungen (oder Lücken) hat Methode in diesem Text. In allen Sätzen, in denen eine Patiens-Funktion möglich wäre, die die Menschen im „Osten" benennen würde, bleibt diese leer und dem Leser anheimgestellt. Wem die „europäische Kultur" (G) zu bringen sei, was der „Wagemut" bei wem bewirke, für wen die „Wirtschaftskultur heute noch

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sehr niedrig" (F) liege, ist durch alle syntaktisch-pragmatischen Variationen ausgeklammert, die man sich nur ausdenken kann. Die Textstruktur, die dadurch entsteht, ist keine des bloßen Verschweigens, sondern eine des bewußten Übersehens. Der Leser wird also an die Patiens-Funktion der Sätze herangeführt und dann sich selbst überlassen, er ist also viel dichter an der .Füllung', als es beim Verschweigen i. a. der Fall wäre. Sich den „Osten", der von so vielen Niederländern besiedelt und bewirtschaftet werden soll, als menschenleeres Gebiet vorzustellen, das ist die Verführung, die die DZN kunstfertig ausgestaltet. Im Zweifelsfall sieht der „Osten" textuell wie der Westen aus, stellt also für die „Aussiedlung von 3 Millionen Niederländern" (H) kein Problem dar. Besonders die niederländischen Na^is sind aufgrund solcher sprachpolitischer Verfahren aufgerufen, ihre Mitwirkungsfertigkeit unter Beweis zu stellen. Für sie nämlich wirkt die analysierte Aussparung als Bestätigung dessen, was sie schon immer wußten und was sie den Deutschen nachplapperten. Ihnen wird die eigentliche Chance geboten, die Bedrohlichkeit, die sich über ihre Landsleute seit der Gründung der NOC senkt, im NS-Sinne umzufunktionieren. Für die Wirtschaft begnügt sich der Besatzer mit der Vorgabe von Rahmenbedingungen, die freilich schon sehr weit in die Verstrickung reichen, für die NSB jedoch stellt er die Aufgabe, der NOC zum Gelingen zu verhelfen, also auch dem massenhaften Umzug. Im Grunde unlösbar, auch unter in Nazi-Augen optimaleren Bedingungen, bringt diese Aufgabe die NSB in Zugzwang, der letztlich nur Frustration auslösen kann.13 Überhaupt erscheint die NSB nur indirekt, über die Erwähnung der „führenden Persönlichkeiten" und der „Bürgermeister", nicht als

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Es war der NSB noch nicht einmal vergönnt, die Richtigstellung und Zurücknahme der 3 Millionen in der Öffentlichkeit vorzunehmen. Nach der Rückkehr von einer Studienreise in den „Osten" führte die DZN ein Gespräch („Reges Interesse für die Nederlandsche Oostcompagnie", 28.6. 1942) mit Rost van Tonningen, dem NOC-Präsidenten und prominenten, wenn auch nicht unumstrittenen NSB-Mann. Wohl kann der Präsident eine andere Meldung dementieren: „Wenn s.Zt. verschiedene niederländische Zeitungen geschrieben hätten, die Bestellung von besonderen kommissarischen Verwaltern bei den ostindischen Gesellschaften hierzulande hänge mit der Aufgabe der Oostcompagnie zusammen, so sei dies falsch", aber über die 3 Millionen muß auch er (und die DZN) schweigen. Erst in einer Rede, die der „Generalkommissar" Schmidt (NSDAP-Vertreter mit zukünftigen Gauleiterambitionen) anläßlich des 10jährigen Bestehens der ältesten deutschen NSDAP-Ortsgruppe in den Niederlanden (!) in Waubach hält, erfährt man (DZN 3.8. 1942): „Durch einen Pressefehler ist neulich in niederländischen und deutschen Zeitungen die Meldung erschienen, daß drei Millionen Niederländer nach dem Osten umgesiedelt werden sollten. Nichts ist dumm genug, als daß es nicht von dem in London wühlenden Emigrantenklüngel sofort aufgegriffen würde. Jeder vernünftige Mensch hat sofort festgestellt, daß es sich hier um eine Verwechslung handelte. 300 Niederländer sind mit ihrem Arbeitsstab nach Charkow verzogen. Hier beginnt der Fehler dieser Meldung . . . " Als Abwiegelung mit Sündenbockerzeugung ist diese Rechtfertigung doch alles andere als überzeugend — und mußte schon von daher mit Zynismus und Aggressivität angereichert werden. Schmidts forsche Äußerungen werden allein schon durch den NOC-Gründungsartikel Lügen gestraft, und der war schließlich der Auslöser des Skandals.

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Partei und nicht als eine Gruppierung, die einst in die Statthalterschaft hinüberwachsen könnte. Aus dieser double-bind-Situation, die hier so augenfällig hingebreitet wird, sollte sich die NSB niemals loslösen: im Verlauf der weiteren Besatzungsgeschichte gewinnt trotz größerer formaler Möglichkeiten für die NSB die viel deutschfreundlichere Gruppe der niederländischen SS, die sich für einen ,Anschluß' erwärmte, immer größeren Einfluß, darin eine getreue Widerspiegelung der allgemeinen Geschichte, die den dauernden Streit zwischen der SS und der NSDAP (auch in der Besatzungsadministration) zugunsten der SS ausgehen ließ. Auf eine weitere stilistische Technik möchte ich noch hinweisen, die sich einem erst nach mehrmaliger Lektüre und Querlesen erschließt. Ich meine bestimmte Ausdrucksweisen, die ohne größere Schwierigkeiten einem .ideologischen System' zugeordnet werden können, das eine Unterabteilung des Nazismus bildet, Ideologie hier also im Sinne eines bewußten Einräumens .weltanschaulicher' Versatzstücke im allgemeinen NS-Diskurs (und Besatzerdiskurs). Anders als der Ausdruck „Rätsel der Tiefe des weiten Ostens" (G), der u. a. als Anspielung auf Hitler fungiert, geht es um die folgenden Begriffe: „Arbeitsethos" (D), „Lebensbeziehungen" (F), „völkische Energien" (F), „lebensgesetzliche Grundlagen", „dynamisch, der biologischen Entwicklung folgend", „neue Welt gesunden Lebens" (alle H). Natürlich könnten alle diese Formulierungen journalistischer Routine entsprungen sein, sich also einer gewissen Beliebigkeit verdanken. Dagegen spricht allerdings der weitreichende Impetus des Artikels, die von Bewußtheit durchdrungenen sonstigen Schreibweisen. Wenn man es recht bedenkt, könnten alle zitierten Formulierungen dem Rosenberg-Buch „Mythus des 20. Jahrhunderts" entstammen. Ohne das hier systematisch ableiten zu können, will ich doch darauf hinweisen, daß gerade bei den Zitaten auch andere Formulierungen, die weniger eindeutig .ideologisch' klängen, möglich gewesen wären: das Klappern der ideologischen Maschinerie ist nicht notwendig für den Text, dieser Explizitheitsimpuls strikt genommen überflüssig. Das Auftauchen der Begriffe in der DZN und im Zusammenhang mit der NOC, einer Gemeinschaftsinitiative Rosenbergs und Seyß-Inquarts, könnte somit für Rosenberg bestimmt sein, als besondere Adressierung, eine,Verbeugung' vor seiner Theorie und eine Betonung der Tatsache, daß der Besatzer in den Niederlanden und der im „Ostland" aufeinander angewiesen sind. Beide galten nämlich nicht sehr viel im Kreis der übrigen Nazi-Führer. Wenn meine Darstellung einleuchtet, dann hätten wir es hier mit einer Verweisungstechnik zu tun, die über die Handlungsstruktur des Textes hinaus (Bekanntmachung, Kommentar und Appell im wesentlichen) weitere Wissensbereiche (vgl. Rehbein 1983) einbringt und daher auch von bestimmten Lesern übersehen werden kann. Die Voraussetzung dieser Technik ist ja, daß Momente von (Wieder-) Erkennen gegeben sein müssen, oder daß zumindest die Erwartung, es könnten solche Ansprachen auf ein bestimmtes Wissen eine Rolle spielen, vorhanden ist. Setzt sich aber erst einmal eine

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solche Auffindungsprozedur in Gang, dann wird der Leser besonders stark an den Text und seine Handlungsprozessierung angeklammert. Ich fasse abschließend die appelativ-inhaltliche Form des NOC-Gründungsartikels (DZN 9.6.1942) in einem Schema zusammen:

5.5 „Naar Oostland willen wij rijden" Die mittelalterliche Ostkolonisation einiger Gruppen von Niederländern mag ihre architektonischen und sprachlichen Spuren in den Gebieten hinterlassen haben, die später unter dem Sammelbegriff „Deutschland" bekannt werden sollten (und die immer wieder als Thema vieler gelehrter Artikel im DZN-Feuilleton auftauchen 14 ), für den Besatzer war es einfach ein

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Ich will nur einige Titel nennen: „Neuholland-Potsdam-Oranienburg. Niederländische Siedlungen in der Mark Brandenburg" (3.7. 1941) „Von Nova Sembla bis China. Niederländische Einflüsse in den osteuropäischen Gebieten" (14.6. 1942) „Das Niederländische und der deutsche Osten" (24.9. 1942) „Freunde und Lehrer des Zaren. Niederländischer Einfluß im Reiche Peters des Großen" (7.10. 1942) „Das Friesentum in der Geschichte" (8.12. 1942)

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unbezahlbares gefundenes Fressen, daß aus dieser Zeit des 12. oder 13. Jahrhunderts auch ein Lied überliefert ist, das sich für einen wahrhaft konzertierten Einsatz bestens eignete. Die ungeographische Ortsangabe „Ostland", die im Liedtext vorkam, lieferte den Aufhänger für flexibles Aufgreifen und Einhämmern. Und so springt einen aus allen Ecken und Enden der DZN durch alle Erscheinungsjahre hindurch die erste Zeile des Liedes an: „Naar Oostland willen wij rijden", oder in der deutschen Bearbeitung: „Nach Ostland wollen wir fahren". Diese Zeile und ihre Paraphrasierungen entwickeln sich fast zum ,Medium', mit dessen Hilfe das ganze Spektrum der Ostorientierung zur Entfaltung gebracht wird. Es gehört nachgerade zum Markenzeichen für Texte eines Propagandisten, der auf sich hält, eine wie auch immer verklausulierte Verweisung auf das Lied in seinen Formulierungen unterzubringen, oft auch schon in der Überschrift oder, rhetorisch wirksam, am Ende eines wichtigen Abschnitts oder des Artikels.Anders als beim Zitieren eines literarischen oder nicht-literarischen Textes, dem man so eine gewisse Autorität entlehnt und den eigenen Ausführungen hinzuaddiert, ist der Einbau des „Oostland"-Liedes im wesentlichen eine verkürzte Argumentation, ein Ansprechen komplexer historischer Entwicklungen zugunsten der aktuellen Ziele. Das Verfahren gestattet die widerspruchsvolle Verschränkung von historisierender und enthistorisierender Redeweise, insofern einerseits die aktuelle Entwicklung als Verlängerung der Geschichte erscheint und andererseits als bloße Wiederholung, als stillgelegte ,ewige Bewegung', darin durchaus dem in der sog. „Ostforschung" beliebten Topos des ,deutschen Drangs nach Osten' vergleichbar. Eine sicher viel mehr im Vordergrund der DZN stehende Funktion des Anklingenlassens des Lieds zeigt sich im Evozieren eines historischen Bewußtseins beim Leser. Man konzentriert sich dann auf ein erkennbares Element, dem man eine Leserwirksamkeit unterstellt, eben weil die Kultur des Lesers, im spezifischen Fall der Besetzten, Eingang in den Besatzerdiskurs findet. Dann geht es um die „besondere Erfahrung" (G) der Niederländer, deren sich der Besatzer auf diese Weise bemächtigt, um eine Betonung ihrer ,Einmaligkeit', aus der sich sofort der verstärkte Zugriff entwickelt, die Verpflichtung, erneut „nach dem Osten" zu ziehen. Je mehr so die niederländische (Kolonisations-)Geschichte zum Teil der größeren .germanischen' gemacht wird, desto harscher werden die Obligationen, auch wenn sie als Werbung verbrämt sind: „Heute aber ergeht aufs neue der werbende Ruf: Naar Oostland willen wij rijden, daar is er een betere stee!" (G). Diese allzu sprunghafte Aktualisierung verfälscht die überwiegend negative Motiva-

„Niederländische Sprachreste aus dem 12. Jahrhundert in Nord- und Mitteldeutschland (2.2. 1943) „Niederländische Kultureinflüsse bei den Nordfriesen (26.2. 1943) Neben der sachlichen, fast wissenschaftlichen Schreibweise dominieren in solchen Texten, teilweise auch von Bildern unterstützt, erzählerische und anekdotische Textstrukturen.

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tion, die historisch die Ostkolonisation des Mittelalters in G a n g gesetzt hatte: aus nackter N o t (Überschwemmungen, zu wenig Land) stellte der Treck oftmals das allerletzte Mittel dar, am Leben zu bleiben (vgl. Schöffer 1978, S. 173 ff). Der Liedtext hilft dann mit, die Existenzangst zu überwinden, er ermuntert zu einem schweren letzten Schritt, dessen A u s g a n g alles andere als deutlich war. Zwar spielt auch der Besatzer recht offen mit dem Gedanken, daß die Existenz in den besetzten Niederlanden gefährdet sei, weshalb er die Wahnsinnszahl von den drei Millionen einbringt, jedoch ertönt der , R u f , den der Liedtext ausgestaltet, eben nicht im „ O s t e n " , sondern im „Westen", und ist damit überwiegend als Projektion anzusehen. Demgegenüber wollen die Nazis schlicht Willfährigkeit und am liebsten eine positive Motivation, nämlich aktive „Einschaltung in die Ostbeziehung e n " (H). Historisch gesehen .drückt' der Westen, während bei den Nazis der Osten ,zieht'.

nach: Tekstboek van de Nederlandsche Vereeniging voor den Volkszang. 5. Aufl. o. O. o . J . (vor 1939!)

nach: Heyer (Hg., 1981): Die Fahne ist mehr als der Tod. Lieder der Nazizeit (nur die erste Strophe, die drei folgenden sind mein Übersetzungsversuch)

Naer Oostlant willen wy rijden.

Nach Ostland wollen wir reiten.

Naer Oostlant willen wy rijden, Naer Oostlant willen wy mee! Al over die groene heijden, Frisch over die heijden Daer isser een betere stee. Als wy binnen Oostlant komen, AI onder dat hooge huijs fijn, Daer worden wy binnen ghelaten. Frisch over die heijden, Si heeten ons willekom sijn.

Nach Ostland wollen wir reiten, Nach Ostland wollen wir mit, Wohl über die grüne Heiden, Frisch über die Heiden, Da ist uns eine bessere Stätt'.

Ja, willekom moeten wy wezen, Seer willekom moeten wy sijn; Daer sullen wy 't avond en morgen

Ja, willkommen müssen wir sein, Sehr willkommen müssen wir sein, Da werden wir am Abend und am Morgen, Frisch über die Heiden, Noch trinken den kühlen Wein. Wir trinken dort Wein aus Schalen Und Bier auch, so viel uns gefällt, Da ist es so fröhlich zu leben, Frisch über die Heiden, Da wohnt mein Feinliebchen.

Frisch over die heijden Nog drinken den koelen wijn. Wy drinken den wyn er uit schalen En 't hier ook, so veel ons belieft. Daer isset so vroolyck te leven, Frisch over die heijden Daer wonet mijn soete lief!

Wenn wir im Ostland ankommen, Im hohen Hause fein, Da werden wir eingelassen, Frisch über die Heiden, Sie heißen uns willkommen.

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Es ist auffallig, daß der gesamte Text des Liedes niemals in der DZN und in anderen von den Deutschen verantworteten Publikationen (vielleicht ausgenommen Liederbüchern) erscheint, stets beschränkt man sich auf die erste Zeile oder - als ganz große Ausnahme - auf zwei Zeilen wie bei der NOC-Gründung. Wahrscheinlich können die übrigen Zeilen des vierstrophigen Lieds nicht mehr so einfach in die Ostorientierung nach 1941 und 1942 eingefügt werden, da sie fröhliches Treiben und Trinken von Wein und Bier im „Oostland" beschreiben, eine Vorstellung, die wegen der Versorgungsschwierigkeiten unerwünscht gewesen sein dürfte. Der Vollständigkeit halber zitiere ich hier den gesamten Text. Auch das „willkommen" ist woh'l im Kontext des Krieges und im Blick auf die immer weitere Ausdehnung des „Oostlands" bis weit nach Rußland hinein als unrealistisch angesehen und verbannt worden, zumal unter Bedingungen der „Härte" (G), die die Nazis den Niederländern entgegenschleudern. Es ist sogar so, daß ein Interpret, der nur immer die ersten Zeilen und dann noch im durchgängig martialischen Zusammenhang kennt, überrascht sein dürfte, wie ausgelassen und hoffnungsfroh die Grundstimmung, die der Text verbreitet, ist. Dieses Umartikulieren qua Kontextualisierung bringt mich zu der Einschätzung, daß dem Besatzer in erster Linie an einer Militarisierung der Ostorientierung gelegen ist und am Austreiben aller ,zivilen' Fröhlichkeit. Darin steckt eine implizite Wendung gegen Liberalismus, .Verweichlichung' und ähnliche demokratische .Entartungen', also ein textueller Versuch zur Entwestlichung der Niederlande. Weitere genauere Analysen der jeweiligen Zitatumgebungen in der DZN würden wahrscheinlich ergeben, daß die ,wahre Heimat' auch der Niederländer im „Oostland" zu finden sei. Gebrauchsweisen des „Oostland"-Lieds lassen sich unter verschiedenen Kriterien näher betrachten: Zitatumfang, Arten der Paraphrasierung, kommunikative Funktion (etwa Verstärkung der betreffenden Illokution, Ausklammern eines Subjekts usw.), niederländische oder deutsche Sprache, Ostorientierung oder nicht, Analogisierung, exemplarische Beispiele usw. Ein zitierendes Aufnehmen des Lieds steht also im Brennpunkt sehr unterschiedlicher sprachpolitischer Verfahren und bildet einen Kristallisationskern fürs Zusammenzwingen sperriger Sachverhalte. Als besonders wichtig sehe ich jedoch die Kreuzung zwischen der deutschen und der niederländischen Sprache an. Es ist eines der geringen Beispiele, wo niederländische Wörter, ja ganze Sätze im deutschsprachigen Besatzerdiskurs erscheinen - fremdsprachliche Inseln im Meer der ,Weltsprache Deutsch'. Der Besatzerdiskurs bemächtigt sich so Teilen der niederländischen Wirklichkeit, indem er sprachlich niederländische Texte eingliedert. Der Gestus hat eine deutlich demonstrative Funktion: er zeigt den Besetzten, daß der Besatzer ,in allem' Bescheid weiß, daß er damit umgehen kann und daß es für ihn keine Geheimnisse gibt, keine weißen Stellen auf der Karte der Niederlande. Auch für deutsche Leser gilt die Demonstration, da sie den Nachweis

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erbringt, daß die Journalisten wissen, wovon sie schreiben, daß sie Kenner auch des Niederländischen sind (Mehrfachadressierung durch Einnistung niederländischer Wörter). Die Hereinholung der Wörter der Besetzten apostrophiert nachdrücklich die unterstellte Selbstverständlichkeit, mit der die Verwendung der deutschen Sprache durchgesetzt wurde: fast umfassend, und in diesem ,fast' wird das Ausmaß der sprachpolitischen Dominan£ erst recht deutlich. Wie Hohn muß es den Niederländern vorkommen, wenn sie sehen, wie sich die Deutschen mit der niederländischen Sprache abzappeln, wie sie ihre Ignoranz (Seyß-Inquart etwa verstand kein Niederländisch und machte auch keinerlei Anstalten dazu) als Zitattechnik tarnen. Die vielfache Wiederholung des Satzes „Naar Oostland willen wij rijden" in allen möglichen Kombinationen deutet somit auch Unfähigkeit zu weiterer Übernahme an, sprachliches Unvermögen, weiter und tiefer auf die Sprache der Besetzten einzugehen. Dieser minimalen Anpassungsbereitschaft des Besatzers, ab und an in der DZN etwas Niederländisches durchschimmern zu lassen, entspricht die umso größere Bereitschaft niederländischer Nazis, ihrerseits jede Menge deutscher Texte zu produzieren 15 , bis hin zu neuen halbniederländischhalbdeutschen Wortformen, die die niederländische Sprache germanisieren' (vgl. van den Toorn 1975). Die Machtverhältnisse werden so im (Fremd-) Sprachgebrauch exakt reproduziert. Mit diesem Verfahren reiht sich die DZN in die recht umfangreiche Reihe derer ein, die auch andere historische Geschehnisse der .niederen Lande' durchweg unter dem Gesichtspunkt der gemeinsamen allgemeingermanischen Vergangenheit' aufbereiten, etwa als Auftragsforschung des „Ahnenerbes" der SS. Darin fungieren niederländische Wörter als Beweismaterial für die gewalttätigen Hypothesen. Nun ist natürlich alles Forschen ein Suchen, Kombinieren, Erschließen u. ä., nur gerät solche Tätigkeit im Rahmen der Besatzungspolitik in die Nähe zum Überführen, in die Nähe polizeilich-detektivischen Nachprüfens. In der Entfaltung der Ostorientierung seit Juni 1941 werden die Niederländer somit mittels des „Oostland"-Lieds als .Germanen' überführt. Als zur Rede gestellte und mit Indizien festgenagelte Zweitrangige können sie - immer in der Perspektive der Deutschen und iher „Ostforschung", die das Material ja erst auflistete - den Beweisen nicht standhalten. Sie sind dazu .verurteilt', „den Auftrag europäischer Kultur aufgrund ihrer besonderen Erfahrung 15

Doch gab es Unterschiede zwischen den beiden einander befehdenden niederländischen Nazi-Gruppen N S B und SS, was die Verwendung der deutschen Sprache anbetrifft: während die NSB i. a. niederländische Texte schreibt und niederländische Reden hält, ist die Bereitschaft der SS, Deutsch zu sprechen und zu schreiben, viel größer. In der typischen aufs Symbolische bezogenen Borniertheit v o n Nazis werden solche Unterscheidungsmerkmale auch durch ,Angleichung' an deutsche Schreibweisen überstrapaziert. So besteht die (viel ältere) NSB auf der Schreibweise „nationaal-socialistisch", während die (jüngere) SS überwiegend „nationaalsocialistisch" schreibt; der Bindestrich bzw. sein Fehlen gelten somit als Hinweise auf die Deutschfreundlichkeit. Diese und andere Hinweise bei Meyers (1984).

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zu erfüllen" (G; direkt vor dem Liedzitat). Aus der Ostorientierung schält sich mit der Gründung der NOC die Wahrnehmungsform des MitgegangenMitgefangen heraus, noch verstärkt mit der Sanktionsdrohung der „Aussiedlung" von drei Millionen Niederländern. Es erscheint daher ungerechtfertigt, diese Zitatfunktion des Liedes, des propagandistischen Dauerbrenners, als bloße Dekoration, als „Verzierung" (Schöffer 1978, S. 177) abzutun. Das ist sie auch — schließlich kennen die Journalisten den Wert von Zitaten. Doch dient die Zeile „Naar Oostland willen wij rijden" eher als Schibboleth (wenn dieses semitische Wort hier erlaubt ist) für Gruppen, die sich als identische inszenieren. ,Euer Osten' und ,unser Osten' sind kongruent, sagt die DZN, Ihr Niederländer könnt Euch nicht heraushalten. Und so entschwindet der paradiesische Zustand, der im ursprünglichen Liedtext beschworen wird, in die harte Realität plumper Gleichsetzung und Gleichschaltung, die selbst dann noch - in Artikeln der DZN — aufrechterhalten wird, als die Realgeschichte der NOC durch die russischen Erfolge praktisch zu Ende war. So sehr verselbständigt sich diese eine Zeile in der NS-Sprachpolitik, daß man von ihr nicht lassen kann, auch wenn die Referenz nur noch imaginär geworden ist. 5.6 Kurze Skizze der weiteren NOC-Benutzung und -Propagierung Daß die NOC ein Fehlschlag geworden ist, davon kann man wohl ausgehen. Jedenfalls kommt die historische Forschung bislang einhellig zu diesem Urteil. Und auch aus der Sicht der sprachpolitischen Analyse kann nur bestätigt werden, daß den ersten Mitreißungsversuchen, jenen journalistischen Phantasieexplosionen, immer dünner und magerer werdende Artikel folgen, bis die NOC schließlich im Rahmen der Besatzerzeitung mehr oder weniger als Quelle für Schreibanlässe und -einfalle versiegt ist. Recht rasch stellt sich eine pflichtgemäße Routine ein. Im Einheitsgrau der Besatzerpropaganda liefert die NOC den sprachpolitischen Farbtupfer, indem sie einen Schuß Exotik - freilich durch historische Reminiszenzen in jedem Augenblick kontrolliert - anformuliert. Wäre damit also die Geschichte vom Aufstieg und Fall der NOC und ihre Aufbereitung im Besatzerdiskurs schon erzählt? Ich meine, daß hier erst eine Anfang gemacht wurde — wenn, ja wenn die viel wichtigere Funktion der NOC im Insgesamt der Besatzungspolitik hinreichend erhellt würde. Die NOC ist für den Bereich der wirtschaftlichen Kollaboration das, was die niederländischen ,Freiwilligen'Verbände für die allgemeinpolitische Kollaboration sind, hervorstechende Beispiele und Übertriebenheitsexempel, die es großen Teilen der Bevölkerung im besetzten Land ermöglichen, jede Menge ,kleine' Kollaboration zu leisten. Die NOC konnte und sollte wie ein Schwamm alle negativen Assoziationen aufsaugen, so daß die schmutzige Alltäglichkeit der Kollaboration von allzu unguten Gefühlen verschont bleiben und unter den Deckmantel der ,Normalität' schlupfen konnte.

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Chronologisch gesehen vollzieht sich in der Ostorientierung eine klar erkennbare Veränderung, da die anfangliche Aufmerksamkeit für die großprotzigen ökonomischen Aktivitäten der NOC von Berichten über Handwerker und Bauern abgelöst wird, also kleinprotzige Aktivitäten viel stärker berücksichtigen muß. Dies entspricht natürlich der tatsächlichen Entwicklung, da die großen Firmen sich nicht auf das größere Risiko im „Osten" einzulassen brauchten, aber es ist doch insofern bemerkenswert, als sich die DZN keine Mühe gibt, dieser Form der Kollaboration wirklich auf die Sprünge zu helfen: sie trägt nicht dazu bei, ihr Erwünschtsein durch regelmäßige Beiträge über Firmen, die tatsächlich im „Osten" arbeiten ließen und Gewinne machten, systematisch zu propagieren. Statt dessen zeigt sich eine Proletarisierung der Kollaboration. Bei Artikeln über die NOC und sonstigen Erwähnungen handelt es sich schon ab dem Ende des Jahres 1942 überwiegend um Berichte, die die Abreise oder Heimkehr von Bauerngruppen, Landarbeitern, Handwerkern und kleinen Selbständigen beschreiben. Der Proletarisierung tritt die Militarisierung zur Seite: denn die Niederländer, die etwa in der Ukraine arbeiten, sind zu einem paramilitärischen Verband zusammengefaßt worden, der den Namen „Werkdienst Holland" trägt, kaserniert ist und nicht über vorbereitende Tätigkeiten wie Lagerbau, Straßenbau u. ä. hinauskommt, Sandkastenspiele, deren Ausführung durch das Herannahen der Front vereitelt wurde. Trotzdem muß man auch sehen, daß diese Proletarisierung dem ideologischen Ansatz des Antikapitalismus entspricht, der bei Zeit und Weile in den Vordergrund geschoben wird. Allerdings würde man für die Beschäftigung der DZN mit dem „Osten" eher eine Verschärfung des Antikommunismus erwarten, um so möglicherweise auch an niederländische Strömungen in der Vorkriegszeit anknüpfen zu können. Ob sich hierin erweist, daß der Besatzer im Grunde mit seiner ,Verdeutschungs'-Politik der Niederlande Schiffbruch erleidet und sich daher um diejenigen kümmert, die als einzige seinen Aufrufen Folge leisten, oder ob sich eine umfassendere Strategie dahinter verbirgt, die etwa die niederländische Gesellschaft durch bewußte Ausschaltung .traditioneller Kräfte' zunächst aus den Angeln hebe(l)n will, bevor ihr eine neue deutschfreundliche und -dominierte Führung aufoktroyiert wird, muß hier offenbleiben. Wenn man als Analysator der Neigung nachgibt, den Kriegsverlauf als den wichtigsten Faktor anzusehen, der das Mißlingen der Ostorientierung erklärt, dann freilich stellt sich das besatzerspezifische Festhalten an der NOC als Anwendung des Sprichworts dar, daß ,der Spatz in der Hand besser sei als die Taube auf dem Dach'. Ein Prestige-Unternehmen wie die NOC, würde man dann sagen, können die Deutschen und ihre niederländischen Helfershelfer nicht einfach fallenlassen. Doch sollte man nicht so rasch Einsichten überspringen, zu denen einem erst die sprachpolitische Analyse verholfen hat. Ich kann noch zwei Faktoren erkennen, deren Auswirkung zumindest ebenfalls in die historische Entwicklung interveniert.

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Der erste Faktor ist die schon behandelte Vagheit des Begriffs „Osten"; dies war zunächst als Praxis komplexer Adressierung abgeleitet worden, an der semantische Verschiebungen eingriffen. Jetzt gilt es, eine gewissermaßen ,intern' erzeugte Schranke dieser sprachpolitischen Beeinflussung in der Tatsache zu sehen, daß der „Osten" auch der Ort war, zu dem die „Juden" abtransportiert wurden, oft sogar als Rückführung dorthin,,woher sie gekommen waren', artikuliert. Diese antisemitische Dimensionierung von „Osten" fallt zeitlich mit der Gründung der NOC zusammen: ab Mitte des Jahres 1942 beginnen die regelmäßigen Deportationen, als „Aussiedlung", „Arbeitslagereinsatz", „Säuberung", „Aufenthaltsverbot" u. ä. in bürokratische Redeweisen gekleidet. Es ist anzunehmen, daß der Gedanke, dort im „Osten" arbeiten zu müssen oder eine neue Existenz aufbauen zu können, wie es die NOC nahelegte, für viele Niederländer um so unakzeptabler wurde, je deutlicher wurde, daß sich dort auch die verschleppten „Juden" .aufhalten' würden, und zwar in Lagern, wie man in der Presse nachlesen konnte. Aber auch der „Werkdienst Holland" beispielsweise wurde in Lagern untergebracht, was die Parallele zumindest nicht ausschloß. Treten dann noch gewisse negative Konnotationen von „Lager" hinzu, ist die Zurückhaltung der Besetzten in der Tat erklärlich. Der zweite Faktor, der die Ostorientierung mit Hilfe der NOC unabhängig vom Kriegsverlauf als ,running item' im Besatzerdiskurs verankerte, ist die Fixiertheit der Nazis auf ihre zentralen Symbole. Wenn der „Osten" im Geflecht der ideologischen Narration (nach dem Begriff von Faye) eine wichtige Stelle einnimmt, kann diese .Position' nicht ohne weiteres verschwinden. Im Gegenteil: es zeigt sich nämlich, daß der wachsende Einfluß der SS auf die Besatzungspolitik gerade die rassistische Komponente von „Osten" gegen das „Slawentum" auflädt. Besiedelungsvorgänge werden daher um (fast) jeden Preis aufrechterhalten, wenigstens textuell: [...] Es geht um die feste Verwurzelung germanischer Menschen im Osten. Sie sollen freiwillig, wenn auch durch einen wirtschaftspolitischen und sicher durch den Krieg herbeigeführten Notzustand veranlaßt, eine neue zukunftsreiche Existenz im Osten sich gründen. [...] Nicht Ausländer kommen dann zu den Deutschen im Ostraum, um bei der gigantischen Aufbauarbeit zu helfen, sondern Nationalsozialisten aus den germanischen Ländern, die dasselbe Blut mitbringen. [...] (DZN 10.4.1943, von einem „SS-Obersturmführer" geschrieben, natürlich wieder mit dem Titel „Nach Ostland wollen wir fahren").

Dieses allmähliche Einschwenken der Ostorientierung der Niederländer auf die SS-Linie zeigt sich auch in der Verjüngung der Angesprochenen. Jedenfalls werden die Gruppen der nach dem „Osten" Geschickten immer jünger: „Die niederländische Jugend scheut sich nicht, die Hände zu rühren. Im Osten halten sie die Ehre der Niederlande und den Ruf des Jeugdstorms [die niederländische H J C.S.] hoch" (DZN 5.1. 1944). Ich interpretiere diese auffallige Entwicklung, weil sie einem Dauerklagelied über die „Verwahrlosung" der niederländischen Jugend in den sonstigen Sparten der

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DZN widerspricht, als eine Art Infantilisierung der Ostorientierung: indem das Erlebnispotential von Kindern und Jugendlichen aufgemöbelt wird, vollzieht sich für andere Gruppen von Adressierten eine Ent-Subjektivierung. Wo die Kinder als Beispiel gelten, im wesentlichen weil sie knetbar sind, werden auch Erwachsene infantilisiert. Insgesamt entspricht dies dem Status der besetzten Niederländer, die als Junior-Germanen' kaum für voll genommen werden. Sich auf die niederländischen Jugendlichen zu stürzen, entspricht dem Nazi-Kalkül, die familiären Bindungen zu lockern und zu stören (auch durch Zwangsarbeit der Väter im „Reich") und auf diese Art und Weise eine gewisse Schwächung der Besetzten zu erreichen. Was als Mitbeteiligung der Niederländer an der Destabilisierung des „Ostens" gemeint war, entpuppt sich auf die Dauer auch als ein Mittel zur Destabilisierung der Niederlande selber. Die strategische Mehrdeutigkeit der NOC-Inszenierung zeigt exemplarisch den Charakter von NS-Sprachpolitik in der Besatzungssituation. 6. Sprachkritik ist Kritik an Sprachpolitik Ob die hier ausschnittsweise dargestellte Sprachpolitik der Nazis ihre Nachfolger im heutigen politischen Leben gefunden hat oder nicht, kann man kaum irgendwo festmachen, zu groß ist das Tabu, das auf der Fragestellung lastet (eine Ausnahme ist etwa Resultate Nr. 9 (1983); noch weiter holen Plack (1982) und Friedländer (1982) aus). Andererseits kann man konstatieren, daß bestimmte Vorstellungen von ,Normalität' in Europa und anderswo heute bereits wieder an Merkmale wie Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk, zu einer bestimmten Rasse, Religion u. ä. gekoppelt zu werden drohen, und daß vor allem daraus Stigmatisierungen erwachsen, denen eine akute Gefährdung der so Bezeichneten innewohnt. Sprachkritik hätte die Aufgabe, solchen Erscheinungen auf den Grund zu gehen und auch nicht vor Gleichsetzungen mit Faschismus und Nationalsozialismus zurückzuschrecken, wo sie gegeben sind. Die Nachkriegs-Sprachkritik (vgl. zusammenfassend Heringer (Hg., 1982)), die eine Nazi-Sprache als Popanz erst aufbaute, um sie anschließend umzustoßen, wäre mit dem Bade zugleich ausgeschüttet, wenn man naheliegenden Anklängen mit geeigneten Analysen nicht intensiv nachgänge. Die Politiker, die sich nicht genieren, NSStrategien einzusetzen, sollte man gerade auf diesem Feld sprachkritisch nach Kräften treffen. Doch geht es nicht darum, Vermeidungsstrategien bestimmter Wörter und Ausdrücke zu erzeugen; denn würde man sie ersetzen, blieben die zugrundeliegenden semantischen Verschiebungen und pragmatischen Vernetzungen doch bestehen. Die fatale Triumphhaltung mancher der im öffentlichen Leben Stehenden, die die demonstrative NichtVerwendung von NS-Formulierungen als Beweis ihrer prinzipiellen demokratischen Gesinnung zelebrieren, wäre genauso einer sprachkritischen

.Niederländer, blickt nach dem Osten!"

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Bloßstellung zu unterziehen wie das trotzige Festhalten an ,belasteten' Redeweisen mit dem Hinweis, man lasse nicht zu, daß den Nazis nachträglich immer noch eine .Verfügungsgewalt' über die Sprache eingeräumt werde. Es ist nun einmal so, daß das semantische Arsenal der deutschen Sprache und der Sprachen in den ehemals besetzten Ländern durch Besatzungspolitik und faschistische Modulierung des Ideologischen erweitert ist und daß sich aus dieser Erweiterung neue Möglichkeiten für sprachpolitische Verfahren ergeben. ,Hier' kann die Sprachkritik ansetzen, wenn sie ,dort' rekonstruiert hat. Ich betrachte also die ,Wiedererkennung' schon analysierter sprachpolitischer Operationen als Motor fürs Weitertreiben theoretischer sprachwissenschaftlicher Modelle, um deren Erklärungsleistung wirklichkeitsnah zu machen und auch für Nichtlinguisten überschaubar zu gestalten.

Literatur Bosch, H.: Ideologische Transformationsarbeit in Hitlers Rede zum l . M a i 1933. in: PIT (Hg.) 1980, S. 107-140 Deutsche Zeitung in den Niederlanden. Amsterdam 1940-1945. Rijksinstituut voor Oorlogsdocumentatie. Amsterdam Eberspächer, V.: Sprachliche Mehrdeutigkeiten, exemplifiziert an der Verarbeitung von Fernsehnachrichtentexten. Diss. Tübingen 1978 Ehlich, K./Rehbein, J.: Wissen, kommunikatives Handeln und die Schule. In: Goeppert, H. (Hg.): Sprachverhalten im Unterricht. UTB 642. München 1977, S. 36-114 Ehlich, K./Rehbein, J.: Sprache in Institutionen, in: Lexikon der Germanistischen Linguistik. Niemeyer. Tübingen 2/1980, S. 338-345 Faye, J . P . : Langages totalitaires. Herrman. Paris 1972 (dt. 1977) Floehr, R. (Hg.): Ordnung ist die halbe Rede. Wortgefechte aus dem Deutschen Bundestag, la fleur. Krefeld 1984 Foucault, M.: Die Ordnung des Diskurses. Ullstein Tb. 3367. Frankfurt/Wien/Berlin 1977 (franz. 1970) Friedländer, S.: Reflets du nazisme. Du Seuil. Paris 1982 Haie, O. J.: Presse in der Zwangsjacke. Droste. Düsseldorf 1965 (engl. o. J.) Heringer, H. J. (Hg.): Holzfeuer im hölzernen Ofen. Aufsätze zur politischen Sprachkritik. Narr. Tübingen 1982 Heyer, G.W. (Hg.): Die Fahne ist mehr als der Tod. Lieder der Nazizeit. Heyne Tb. 5890. München 1981 Hirschfeld, G.: Fremdherrschaft und Kollaboration. Die Niederlande unter deutscher Besatzung 1940-1945. DVA. Stuttgart 1984 Hoffmann, G.: NS-Propaganda in den Niederlanden. Dokumentation. München-Pullach/ Berlin 1972 Januschek, F./Maas, U.: Zum Gegenstand der Sprachpolitik: Sprache oder Sprachen? in: OBST 18, 1981, S. 64-95 de Jong, L.: Het Koninkrijk der Nederlanden in de Tweede Wereldoorlog. 1 ff. Nijhoff. Den Haag 1969 ff (bisher Band 1-11 AI)

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Keller, R. : Was die Wanzen tötet, tötet auch den Popen. Ein Beitrag zur politischen Sprachkritik. In diesem Band 1985 Keller, Th.: Das Spiel - le match oder Krieg der Vorurteile. In: Info DaF 1, 1983, S. 16-27 Klemperer, V.: LTI. Notizbuch eines Philologen. Reclam. Leipzig 7/1978 (urspr. 1947) Kortenhorst, L. G.: De Nederlandse Oost-Compagnie. In: Onderdrukking en Verzet 2. Van Loghum Slaterus/Meulenhoff. Amhem/Amsterdam o. J., S. 262—266 Kwiet, K.: Reichskommissariat Niederlande. DVA. Stuttgart 1968 Lademacher, H.: Geschichte der Niederlande. Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Darmstadt 1983 Maas, U.: Sprache im Nationalsozialismus, in: Diskussion Deutsch 73, 1983, S. 499-517 Mann, Th.: Sämtliche Erählungen. S. Fischer. Frankfurt 1971 Meyers, J.: Mussert. Een politiek leven. Arbeiderspers. Amsterdam 1984 PIT ( = Projekt Ideologie-Theorie) (Hg.): Faschismus und Ideologie 1/2. Argument-Verlag. Berlin 1980 Plack, Α.: Wie oft wird Hitler noch besiegt? Erb. Düsseldorf 1982 Rehbein, J . : Zur pragmatischen Rolle des „Stils". In: Sandig, G. (Hg.): Stilistik I. Germ.Ling. 3-4/81. Hildesheim 1983, S. 2 1 ^ 8 Resultate Nr. 9: Die nationalsozialistische Herrschaft. München 1983 Rodi, F.: Anspielungen. In: Poetica 7, 1975, S. 115-134 Sauer, C : Sprachpolitik und NS-Herrschaft. In: Sprache und Literatur 51, 1983, S. 80-99 Sauer, C.: Nicht drinnen und nicht draußen - NS-Sprachpolitik, die Niederlande und das „Neue Europa" im Februar/März 1941. In: Diskussion Deutsch 78, 1984, S. 408-432 Sauer, C.: NS-Sprachpolitik in der Besatzungssituation. In: Januschek, F. (Hg.): Politische Sprachwissenschaft. Westdeutscher Verlag. Wiesbaden 1985, S. 271-306 Schöffer, I.: Het nationaal-socialistische beeld van de geschiedenis der Nederlanden: HES. Utrecht 1978 (urspr. 1956) Svensson, Α.: Zum Sprachgebrauch der SPD im wirtschaftspolitischen Bereich nach 1945. Diss. Hamburg 1978 Tekstboek van de Nederlandsche Vereenigung voor den Volkszang. o. O. o. J. van den Toorn, M. C.: Dietsch en volksch. Een verkenning van het taalgebruik der nationaalsocialisten in Nederland. Tjeenk Willink. Groningen 1975

János

JUHÁSZ

(Budapest)

Zur normierenden Rolle der Linguistik (Thesen mit exemplarischen Argumenten) 0. Linguistik wird in den folgenden Überlegungen auf Grammatik beschränkt. Einige Punkte der Ausführungen können allerdings auch auf die Lexik bezogen werden, da es keine lexikfreie Grammatik gibt. 1. Das primäre Ziel der Beschäftigung mit Linguistik ist die bessere Erkenntnis der Sprache überhaupt, ihres Funktionierens, ihres Baus, und der Sprachen im einzelnen. Insofern ist die Linguistik eine „reine" Wissenschaft. 2. Da die Linguistik — wie auch alle anderen Wissenschaften — nicht in luftleerem Raum betrieben wird, sind ihre Konzepte, Methoden, aber auch Interessen, Funktionen und ihre Adressatenbezogenheit gesellschaftlich und historisch bedingt. Man kann zwar bis zu einem gewissen Punkt von einer Eigengesetzlichkeit der Linguistik (ähnlich wie von einer Eigengesetzlichkeit des Sprachwandels) sprechen, dieser Punkt ist jedoch schwer zu bestimmen, und letzten Endes ist auch die Eigengesetzlichkeit mit mehr oder weniger großen Transmissionen sozial bedingt. Ein Beispiel dafür ist die Entstehung der historischen Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert, insofern die Zuwendung zur Geschichte der Sprache von der sich herausgestaltenden Methodologie ermöglicht wurde, die sozialen Wurzeln der Zuwendung jedoch in der Romantik steckten. Soziale Bedingtheit und Methode induzieren einander. 3. Soziale Bedingtheit ist nicht nur kausal, sondern auch final zu verstehen: Nicht nur das Konzept und die Methode der Erkenntnis der Sprache sind sozial eingebettet, sondern - ebenfalls mit Transmissionen auch die Anwendung der Ergebnisse in der gesellschaftlichen Praxis. Das eklatante Beispiel dafür ist der Sprachunterricht — sowohl bei der Mutterais auch bei der Fremdsprache. 4. Die linguistischen Forschungen involvieren stets eine Norm. Ob die Norm thematisiert ist oder nicht, ist hier nicht von Belang. Ältere Grammatiken (z.B. K.F. Becker, J. Chr. A. Heyse, L. Sütterlin) leugnen dabei nicht ihren präskriptiven Charakter, während z.B. die generativen Transformationsgrammatiken — in der Nachfolge de Saussures — die präskriptiven Traditionen zu überwinden suchen. Sie operieren aber gleichfalls mit grammatikalischen Sätzen, d.h. sie involvieren die Existenz von Normen, selbst wenn sie dies nur implizit tun.

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5. Daß Normen sich wandeln, ist trivial. Ebenso trivial ist, daß Normen sich auch ohne das Zutun der Linguistik wandeln. Es gab und gibt keine Gesellschaft, die auf die Normensetzung durch die Linguistik wartet bzw. warten kann und warten will. Wenn z.B. der Mainzer Landfriede 1235 als erstes Reichsgesetz in deutscher Sprache abgefaßt wurde, so hatte dies nichts mit Linguistik zu tun, aber die im Gesetz gebrauchten sprachlichen Formen und Bedeutungen wurden als Norm empfunden, und insofern war das Gesetz ein Beitrag zur Normensetzung. 6. Die Tatsache, daß ein großer Teil der modernen Grammatiken mit Abhängigkeitsbegriffen, so z.B. mit der Valenz, arbeitet, hat so gut wie keinen Einfluß auf die Normen bzw. auf den Normenwandel. Dennoch ist es notwendig, dies zu erwähnen, weil die normierende Rolle der Linguistik ohne diese Erwähnung u. U. nicht den richtigen Stellenwert erhält. Da jeder Erkenntnisprozeß kontinuierlich und jede Erkenntnis deshalb mehr oder weniger provisorisch ist, tragen auch die Ergebnisse linguistischer Forschungen provisorischen Charakter. Wenn nun die Normen, die nachweislich der Linguistik zu verdanken sind, konzeptabhängig und deshalb provisorisch sein müssen, so können sie mit dem Konzept der Linguistik keine Symmetrie aufweisen: sowohl die Linguistik als auch die Norm gehen späterhin ihre eigenen, nicht selten voneinander unabhängigen Wege. 7. Der Einfluß der Sprachwissenschaft auf das sprachliche System, z. B. in der Zeit der Sprachgesellschaften (17. Jh.), ist eine quantité négligeable. 8. Grammatiken sind deskriptiv oder präskriptiv. Viele können zwar den Anspruch auf beide Prädikate erheben, so z. B. die von L. Sütterlin, der eine Aspekt überwiegt jedoch in der Regel. Deskriptive Grammatiken sind theoretische Werke, präskriptive beruhen dagegen zwar auf einer theoretischen Konzeption (vorsichtiger: sie sollten darauf beruhen), sind jedoch praktisch ausgerichtet, was u.a. bedeutet, daß sie unmittelbar normensetzend und normenkodifizierend sind. Letzteres wird von der gesellschaftlichen Praxis verlangt, da eine Gesellschaft in jeder ihrer Sphären eine Ordnung, d. h. Normen, braucht. 9. Die gesellschaftliche Praxis ist imstande, mit gewissen Transmissionen auf die theoretischen Konzeptionen und Methoden zurückzuwirken. Wenn auch die deskriptive und die präskriptive Grammatik ihre eigenen divergierenden Wege gehen können, so ist doch eine Konvergenz möglich. Dies ist z. B. bei dem von den nationalen Identitätssuchungen bedingten Purismus zu beobachten. (Unter Purismus wird hier nicht nur und auch nicht in erster Linie die Fremdwortjagd, sondern jedes anachronistische Streben nach „Reinheit" der Sprache verstanden.) Insofern können feste Normen von der Gesellschaft bzw. von einigen Teilen der Gesellschaft gefordert und Kreativitätsansprüche der Sprachteilhaber unterdrückt werden. Nicht selten werden Linguisten auf diese Weise manipuliert. Umgekehrt verlangt die sich wandelnde Gesellschaft einen Normenwandel, und

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deshalb muß die Linguistik Richtlinien für die Möglichkeiten und Grenzen ausarbeiten, die dem Normenwandel und der sprachlichen Kreativität der Sprachteilhaber Rechnung tragen. Dazu hat z. B. die Forschungsstelle Innsbruck des Instituts für deutsche Sprache auf dem Gebiet der Wortbildung beigetragen. 10. Je theoretischer eine Grammatik ist, mit desto größeren Transmissionen wirkt sie auf den Sprachgebrauch. Daher kommt es, daß Linguisten, die ζ. B. mit der Darstellung der deutschen Sprache in der Duden-Grammatik nicht einverstanden sind, ja auf diese sogar herabsehen, weil sie sie für nicht genügend theoretisch fundiert halten oder weil sie ihr vorwerfen, sie lasse der Kreativität der Sprachteilhaber angeblich nicht genügend Spielraum, mit ihren Arbeiten einen geringeren Einfluß auf die Normensetzung haben als die Duden-Grammatik. Wie letztere zu ihrem großen Einfluß gekommen ist, sei hier dahingestellt, obwohl der Prozeß, der hierher geführt hat, sehr aufschlußreich und für das Verständnis der Geschichte der Kodifizierung der deutschen Sprache von großem Interesse ist. 11. Während linguistische Konzepte notwendigerweise eine Konsistenz anstreben, um Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben zu können, sind präskriptive Grammatiken kaum effektiv, wenn sie die gleiche spezifisch linguistische Konsistenz anstreben. Schon allein die Forderung der Situationsadäquatheit von Äußerungen widerspricht der spezifisch linguistischen Konsistenz, weil auch nicht-linguistische Faktoren bei der Wahl der sprachlichen Mittel eine relevante Rolle spielen. Die Unterschiedlichkeit der Adressatenbezogenheit der präskriptiven Grammatiken ist ebenfalls ein Argument gegen ihre systemlinguistische Konsistenz. 12. Die bisherigen Überlegungen verlangen die Beantwortung der Frage, in welchem Verhältnis die „reine" Linguistik und ihre Anwendung zueinander stehen. Vom Gesichtspunkt der Norm aus lautet die Antwort etwa folgendermaßen: Da die klassischen präskriptiven Grammatiken den funktionell-strukturellen Charakter der Sprache i. a. nicht genügend erkennen - was wissenschaftsgeschichtlich bedingt ist! —, sind die Methoden ihrer Normensetzung wenn auch nicht in allen, so doch in vielen Fällen willkürlich. Hinzu kommt, daß die einseitige Berücksichtigung historischer Faktoren dem potentiellen Normenwandel Dynamik der Synchronie) nicht oder wenig Rechnung trägt. Insofern linguistische Konzepte imstande sind, Prinzipien für eine Bewältigung dieser Mißstände auszuarbeiten, d. h. eine solide Grundlage für die Berücksichtigung der sprachlichen Kreativität zu schaffen, können sie mittelbar einen positiven Einfluß auf die in den präskriptiven Grammatiken formulierten Normen ausüben. Gute Beispiele dafür sind die unter 9. erwähnten Arbeiten zur synchronen Wortbildung, in diesem Rahmen die Einführung des Begriffs der Produktivität der Wortbildungsmuster und der Hierarchisierung der Übergänge von einer Funktion zur anderen, weil sie zuerst wohl von W. Fleischer dargestellt worden ist.

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13. Beim gegenwärtigen Stand der Arbeitsteilung auch in den Wissenschaften ist nicht zu erwarten, daß Linguisten gleichzeitig Theoretiker und Anwender der Theorie sein können. Es ist aber wünschenswert, daß die Rückkopplung zwischen Theorie und Praxis schneller als bisher erfolgt. Im entgegengesetzten Fall erfolgt nämlich eine Selbstisolierung auf beiden Seiten und eine Hypostasierung von idealisierten Feststellungen - zum Schaden der Normkodifizierungen. 14. Die Idealisierung von Normen und die Leugnung der Notwendigkeit von Normen sind im Grunde auf die gleichen Ursachen zurückzuführen: die Dinge werden simplifiziert. a) Die Forderung einer und nur einer bestimmten Norm enthebt den Sprachteilhaber der Notwendigkeit eines kreativen Sprachgebrauchs; Normen werden zu Dogmen. b) Die Leugnung der Notwendigkeit von Normen machen aus der Demokratie ( = souveräner Sprachgebrauch) eine Scheindemokratie und damit eine Anarchie ( = willkürlicher Sprachgebrauch). Jede Gesellschaft hat ihre kontinuierliche Kulturgeschichte, die sich zum großen Teil in Form von Normen (Traditionen, Konventionen) manifestiert. Die Leugnung der Verbindlichkeit von Normen kommt einer Leugnung der kulturellen Identität gleich und kann deshalb nicht Sache einer für das Selbstverständnis und für die Selbsterkenntnis der Gesellschaft so wichtigen Wissenschaft sein, wie die Linguistik eine ist. Normen sind im Rahmen bestimmter Grenzen verbindlich. Die Grenzen sind jedoch im Sinne der Prager Zentrum-Peripherie-Konzeption weder zeitlich noch regional noch situativ usw. fest. Versuche, zu einem Konsens bei der Feststellung der Grenzen zu kommen, können erfolgreich sein, schaffen jedoch permanent neue Widersprüche. Es ist u. a. die Aufgabe des Linguisten, die Dialektik dieser Widersprüche bewußt zu machen. 15. Die kulturelle Identität wird u.a. durch die Kodifizierung der Normen in den Grammatiken gefördert. Ohne eine solche Kodifizierung wäre z. B. die Literatur früherer Epochen nicht verständlich; denn das Studium älterer Grammatiken leistet beim Verständnis der Literatur der entsprechenden Epochen ( = Synchronien) eine wesentliche Hilfe. Diese Behauptung wird auch dadurch nicht ungültig, daß Normkodifizierungen der Dynamik der Synchronie entgegenwirken (können); es bedarf schon einer sozial sehr starken puristischen Strömung, damit sich der Normwandel aufhalten läßt. Die Behinderung des Normwandels kommt erfahrungsgemäß und plausiblerweise von selten älterer Generationen, während die jüngeren den Anforderungen der sich verändernden Lebensumstände mit neuen Normen gerecht werden. In dieser sich ständig aufhebenden und neu entstehenden Widersprüchlichkeit besteht gleichfalls eine Dialektik, die Dialektik von Statik und Dynamik der Synchronie, und darin besteht die

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Garantie für die gleichzeitig vor sich gehenden Prozesse der Stabilisierung der kulturellen Identität und des kontinuierlichen Fortschritts. Die Funktionen der Generationen ergänzen einander. 16. Die Linguistik kann, aber muß nicht ihren Einfluß auf die Normenbildung und auf den Normenwandel über die präskriptiven Grammatiken geltend machen. Der Einfluß ist unterschiedlich und von verschiedenen Gesichtspunkten aus zu bewerten: a) In Zeiten, wenn die Sprache keine Schrift hat, können Normen höchstens durch Tabus beeinflußt werden. Tabus sind jedoch ursprünglich nicht spezifisch sprachlicher Natur. b) In Zeiten, wenn es zwar eine Schrift gibt, aber große Teile der Sprachgemeinschaft Analphabeten sind, kann sich die Grammatik nur mündlich auswirken, so ζ. B. durch die Predigten in der Kirche. Um den Einfluß der Kirche so stark wie möglich zu halten, gebrauchte der Klerus gern „frische" Normen. Der archaisierende Sprachgebrauch hatte daneben eine mystifizierende Funktion. c) Im Deutschen - und kurz darauf auch in anderen Sprachen — bilden die Wirkungen Luthers und Gutenbergs, genauer: die in ihrer Tätigkeit zur Geltung kommende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, eine radikale Zäsur. Die Normensetzung wird allgemeiner, überregionaler und unifizierender. Der Weg zur Herausbildung der deutschen Nationalsprache ebnet sich und erhält immer neue Impulse von den bewußten Normensetzern (Sprachgesellschaften). d) In den letzten anderthalb Jahrhunderten wird praktisch der Analphabetismus beseitigt, und der Normenwandel differenziert sich: In den Schulen und Schulgrammatiken wird die Literatursprache zum Kanon und hat deshalb großen Einfluß auf die Sprachgemeinschaft („Sprich, wie du schreibst!"). Bei den Großen der Nation (Goethe, Nietzsche) ist jedoch wenig von den Kodifizierungen der Grammatiknormen zu verspüren. Eben sie waren es, die viele Neuerungen schufen. Erst nach dem Ersten Weltkrieg ändert sich die Lage, als die Divergenz zwischen der geschriebenen und der gesprochenen Norm zunimmt, zuweilen der gesprochenen Sprache eigene Normen zugesprochen werden, ihr aber jedenfalls größeres Prestige zukommt („Schreib, wie du sprichst!"). Die Beschleunigung des Lebenstempos und die rapide Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse sowie die damit verbundene Veränderung des Wertes materieller und geistiger Güter ziehen auch eine schnelle Veränderung der verbalen - und nicht nur der verbalen - Ausdrucksweise nach sich, so daß die Normen eine geringere Stabilität aufweisen als zuvor und die normierende Rolle der Linguistik wenig zur Geltung kommt. Letzteres ist um so auffallender, als eben diese anderthalb Jahrhunderte einen bedeutenden Aufschwung und eine weite Verbreitung der Linguistik gebracht haben.

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17. Die Ergebnisse der Linguistik sollten jedoch im schulischen Unterricht ihren Niederschlag finden. Wie die Ergebnisse konvertierbar sind, ist eine vieldisputierte Frage, deren Beantwortung keine spezifische Aufgabe der Linguisten ist, obwohl es gut wäre, wenn auch auf diese Art eine Rückkopplung erfolgte. Es ist aber unter allen Umständen die Aufgabe der Linguistik, die Mutter- und Fremdsprachenlehrer mit linguistischen Konzepten bekannt zu machen, die sie dazu befähigen, die Normen unter funktionalem, sozialem, pragmatischem usw. Aspekt zu lehren. 18. Im Anschluß an das unter 10. Postulierte wird hier ergänzt: Je abstrakter das Konzept und die Methoden der Linguistik sind, desto mittelbarer kann sie einen Einfluß auf die präskriptiven Grammatiken und auf die populärwissenschaftliche Tätigkeit der Sprachkultur (Prager Terminus für Sprachpflege) ausüben. Dies ist für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg insofern gültig, als mehrere moderne Richtungen im schulischen Unterricht kaum Spuren hinterlassen haben. Versuchte man trotzdem — häufig aus Prestigegründen - die abstrakten Erkenntnisse anwendbar zu machen, so ergab sich daraus meistens ein Fiasko. Infolge des Trägheitsmoments menschlichen Denkens werden selbst die operationalisierbaren Ergebnisse der linguistischen Forschung nur ungern ynd mit einer oft großen Verspätung in die präskriptiven Grammatiken eingeführt (z. B. der Valenz-Begriff). 19. Den durch die präskriptiven Grammatiken vermittelten Normen wirken die sich schneller verbreitenden Normwandlungen des Alltagslebens und die die Regeln des Schulunterrichts negligierenden „Normen" der Massenmedien entgegen. 20. Die Sprachteilhaber sollten sich über die Historizität der Normen im klaren sein und müssen auch für den potentiellen Normenwandel aufgeschlossen sein. Dies erfordert, daß sie auch nach dem Verlassen der Schule Grammatiken gebrauchen können. Unter Gebrauch ist nicht einfach das Nachschlagen nach einer Regel, sondern auch die Erkundung nach dem kreativen Normgebrauch zu verstehen. Für diesen Zweck müssen natürlich in diesem Geist konzipierte Grammatiken zur Verfügung stehen. 21. Die zur Sprache gebrachte Problematik gehört zu den grundlegenden Fragen der zeitgenössischen Wissenschaftstheorie: Welches Verhältnis besteht zwischen der „reinen" und der „angewandten" Wissenschaft? Hat es einen Sinn oder besteht gar die Notwendigkeit, diese Unterscheidung zu treffen, zumal die Erkenntnis die Tätigkeit involviert? (Vgl. 12.!) Da die Fragen allein von der Linguistik nicht beantwortet werden können und dürfen, außerdem die Antwort allem Anschein nach zeitbedingt ist, wird an dieser Stelle nur auf die Aktualität der Fragen aufmerksam gemacht.

Edeltraud

DOBNIG-JÜLCH

(Regensburg)

Vom Juristen-Deutsch. Untersuchungen und Überlegungen zum 100-jährigen Bestehen eines Vorurteils 1. Vom Juristendeutsch und wo man es findet Der Beitrag handelt vom Juristendeutsch, einem Deutsch, das es in einem gewissen Sinn nicht gibt. Die ältere sprachkritische Literatur kennt zwar den ungenierten Gebrauch von Deutsch als zweiten Teil eines Kompositums 1 . Einer langen Reihe von Bildungen nach diesem Muster (z. B. Kan^lei-, Amts-, Amtsschimmel-, Papier-, Tinten-, Behörden-, Bürokraten- oder Verwaltungsdeutsch2) steht aber nicht, wie man vielleicht erwarten würde, Juristendeutsch oder eine vergleichbare Prägung als allgemein gültiger Oberbegriff gegenüber. Oberbegriffslos bleiben auch die neuere und neueste Sprachkritik. Den Paradigmawechsel dokumentieren sie zwar in einer Vielfalt neuer Bezeichnungen, die zu umfangreichen Nominalsyntagmen anwachsen können, als gemeinsames strukturelles Merkmal jedoch stets Deutsch durch Sprache ersetzen: Sprache des Rechts / ... der Bürokratie j ... der Bürokraten / ...der Verwaltung / ... in der verwalteten Welt usw. 3 Aber ein nach dem neuen Muster denk- und bildbarer Begriff wie Juristensprache oder Sprache der Juristen tritt in der Funktion eines Sammelbegriffs eindeutig nicht auf. Dies als gravierende Lücke anzusehen, mutet zurecht als Begriffs-Huberei an und allein daraus ein Urteil über die neueste Sprachkritik und ihr Überblicksvermögen abzuleiten, ist kurzschlüssig. Aber ein Verdacht bleibt, ist zumindest geblieben bei der Lektüre des Sammelbandes „Holzfeuer im hölzernen Ofen" 4 , einem Versuch, Sprachkri1

2

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4

Zur juristischen Sprache im weitesten Sinn gibt es in dieser Zeit auch eine reiche Literatur ohne sprachkritische Ausrichtung. Sie bleibt hier unberücksichtigt, vgl. aber Dobnig-Jülch 1982, S. 317 mit Anm. 16. Kontextuntersuchungen zeigen, daß alle Glieder der Kette negativ wertend intendiert sind, auch das im Kontrast zu den anderen neutral klingende Verwaltungsdeutsch. Auch Komposita werden gebildet. Bemerkenswert ist, daß bei manchen Paaren wie Bürokratensprache vs. Sprache der Bürokraten das Kompositum (negativ) wertender gebracht wird als die nominale Konstruktion, obwohl diese aus syntaktischer Sicht als bedeutungserhaltende Umformung gilt. Heringer (Hrsg.) (1982).

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Edeltraud Dobnig-Jiilch

tik zeitgemäß „anzufeuern" und Sprachwissenschaftler für ein nie mit ganzem Herzen betriebenes Geschäft erneut zu erwärmen. Es wäre schön gewesen, beim Blick in den „hölzernen Ofen" ein klares Licht brennen zu sehen, das auch für die Sprachform, die mich seit Jahren beschäftigt, Erleuchtung in noch dunklen Fragen ermöglicht. Aber schon der Untertitel des Buches mit seiner Eindämmung des Feuers auf politische Sprachkritik läßt ahnen, daß die Juristensprache dabei keine zentrale Rolle spielen kann, obwohl man sicher ohne große Erörterung Einigung darüber erzielen wird, daß sie eine in vielen Formen des politischen Lebens einflußreiche Sprache ist. Die Erwartungen und Wünsche werden noch kleiner, wenn man sich klar macht, von welchen der Beiträge man sich überhaupt neue Antworten auf die alte Frage nach dem Wie und Wieviel der (Un)Verständlichkeit des Juristendeutsch erhoffen kann. Von insgesamt 18 Beiträgen sind ja allein 14 Wiederabdrucke von zum Teil beträchtlich abgelagertem Material, 3 können im Alter nicht eindeutig festgelegt werden und eindeutig junges, frischgeschlagenes Holz im „hölzernen Ofen" der Sprachkritik ist nur die Einführung von Heringer 5 . Zwar flackert in den alten Aufsätzen kontinuierlich ein Flämmchen, wo die Juristensprache in ihren zahlreichen Sonderformen verheizt wird, aber ein die vielen Widersprüche verzehrendes oder erleuchtendes Feuer kann nicht ausgemacht werden. Selbst die Beiträge im Abschnitt „Für die 80er?" (S. 269—313), die ganz oder teilweise Einzelanalysen politischer Sprachformen sind, können trivialerweise schon deshalb nicht die in der Einführung geweckten Erwartungen erfüllen, weil die Analysen einige Zeit vor ihr verfaßt oder konzipiert wurden. Zwei der Analyseobjekte, der Radikalenerlaß bei Keller 1982 und der hauptsächliche Analysesatz aus der Regierungserklärung des Bundesinnenministers bei Wimmer 1982, stehen in deutlich naher Beziehung zur juristischen Sprache. Inwieweit „distanzierende" Presseberichtsstile ihre Wurzeln auch in presserechtlichen Regelungen haben können (vgl. den Beitrag von Stötzel 1982) und auf diesem Weg eine juristisch beeinflußte Diktion entsteht, wage ich in der Kürze nicht zu entscheiden.

5

Als Wiederabdrucke weist die Bibliographie in Heringer 1982 eindeutig folgende Beiträge aus (in Klammern das Jahr der Erstpublikation): Mauthner (1923), Lübbe (1967), v. Polenz (1973), Heringer „Normen? Ja - aber meine!" (1980), Sternberger (1962), Storz (1963), Schöfer (1963), Haug (1967), Maier (1973), Biedenkopf (1975), Betz (1975), Gründler (1977), Keller (1977), Stötzel (1980). Der Beitrag von Behrens/Dieckmann/Kehl ist in der Bibliographie nicht erfaßt, könnte also neu sein, fungiert aber in der Rubrik „Aus den 70ern". Heringers „Der Streit um die Sprachkritik ..." muß nach der Bibliographie neu sein, erscheint aber - wohl aus thematischen Gründen - in der Rubrik „Aus den 60ern". In Wimmer 1982 gehen die Analysen zum Fall Traube auf Wimmer 1978 zurück (vgl. auch Wimmer 1982, S. 304).

Vom Juristen-Deutsch

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Als Instanzen bei dem Bemühen, dem Juristendeutsch endlich einen aktuellen und fairen Prozeß zu machen, bleiben nach dieser Rechnung also nur die schon oben angeführte „Einführung" von Heringer (Heringer 1982 a) und eventuell die in Wimmer 1982 gegebenen Ausblicke auf eine linguistisch fundierte Sprachkritik. Das Juristendeutsch, Dauer-Angeklagte der Sprachkritik, hat bei beiden aber keine Chance, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Warum man den juristisch Sprechenden nicht anraten kann, sich in die Hände der jungen, dynamischen Sprach-Richter 6 zu begeben, soll im folgenden eingehend begründet werden. Ob mit einem gerechten Verfahren gerechnet werden kann oder die Befangenheit des Richters dies verhindert, zeigt sich häufig nicht erst bei der Vernehmung des Angeklagten (zur Sache). So auch in Heringer 1982 a. Die offensichtlichsten Befangenheitspassagen sind schon die, wo er gegen den „großen Apparat" polemisiert und mit dem gängigsten Reizmittel, der Bürokratensprache, altbewährte Assoziationen freisetzt (S. 20f.). Weiter unten sollen sie auch eingehender analysiert werden. Eine subtilere Form von Nicht-Objektivität verbirgt sich aber in dem Teil, wo Heringer die „Fragmente einer Geschichte der Sprachkritik" zusammenzufügen versucht (S. 4-14). 2. Exkurs: Vom Juristendeutsch bei Pedanten und Schulmeistern Zufallig kenne ich eine recht große Zahl der Arbeiten der „Pedanten", „Schulmeister" und „Wustmänner" zum Juristendeutsch näher und kann eigentlich nur für eine relativ kurze Zeitspanne das pauschale Urteil teilen, sie seien „verhärtet in der konservativen Haltung der Sprachkritiker, die Verfall und Verderb der Sprache in allem Neuen witterten" (Heringer 1982a, S. 10). Nicht nur bei Heringer gleicht der Umgang mit puristischer Sprachkritik zu einem großen Teil jenem Verfahren, das man mit abgestempelten Akten praktiziert. Man verräumt sie an einen anderen Ort, archiviert sie, weiß zwar noch, daß es sie gab (und gibt), ist froh, daß sie weg sind und es Platz für Neues gibt. Anders als bei den vielgeschmähten Aktenhengsten aber hat es sich die neuere Sprachkritik angewöhnt, den Inhalt einzelner Akten nicht pedantisch aufzublättern und nachzuprüfen, sondern über stereotype Auslöser (puristisch, konservativ, bildungsbürgerlich) frei (?) assoziieren zu lassen. Was ein Gang ins Archiv zu Tage fördern kann, sollen die Textausschnitte l ) - 6 ) dokumentieren. Sie stammen sämtliche aus der Zeitschrift des allgemeinen deutschen Sprachvereins, der 1885 gegründet wurde, um 6

Zu dieser Prägung vgl. die Etymologie von Kritik (mit der Weiterbildung Kritiker), das mit dem griech. Adj. kritikós zusammenhängt. Bedeutung: ,zur Krisis gehörig'; Krisis = Entscheidung, Urteil, Gericht'.

Edeltraud Dobnig-Jiilch

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„1) die Reinigung der deutschen Sprache von unnöthigen fremden Bestandtheilen zu fördern, -

2) die Erhaltung und Wiederherstellung des echten Geistes und eigentbümlicben Heesens der deutschen Sprache zu pflegen - und 3) auf diese Weise das allgemeine nationale Bewußtsein im deutschen Volke zu kräftigen (§ 1 der Satzungen)."7

Dieses Grundsatzprogramm ist natürlich nicht geeignet, Vorurteile gegen die puristische Sprachkritik abzubauen. Doch wenn der Vergleich der Sprachkritik mit der Psychoanalyse Sinn machen soll (vgl. Heringer 1982 a, S. 27), sollten die Grundsätze des psychoanalytischen Verfahrens auch bei der Sprachkritik-Kritik gelten, und wir sollten der Versuchung widerstehen, allein aus dem 3mal vorkommenden Ausdruck deutsch und dem Ausdruck national unanalytisch schnell die Diagnose deutsch-national für das ganze Bemühen abzuleiten. Bevor wir in die Besprechung der Texte einsteigen, vielleicht doch einige Daten zu dem Sprachpflegeverein, die geeignet sind, Vorurteile, die auf Wissenslücken beruhen, abzubauen. Gründungsjahr, wie erwähnt,: 1885. Schon ein Jahr nach der Vereinsgründung schafft sich die organisierte Sprachzuwendung ein Mitteilungsorgan, eine Vereinszeitschrift, die monatlich erscheint und zwischen 10 und 20 Spalten umfaßt. Sie summieren sich, aufs Jahr umgerechnet, auf ca. 200 Spalten „gepflegter Sprache". Die Zeitschrift ist von Anfang an gegliedert in Rubriken, Orte, die den Beiträgen je nach Inhalt ihre Plätze zuweisen. Die Ortsschilder lauten: „Selbständige Aufsätze", „Kleine Mittheilungen", „Sprachliche Musterleistungen", „Bücherschau", „Zeitungsschau", „Berichte aus den Zweigvereinen" und schließlich „Geschäftliches". Die Zeitschrift besteht im geschilderten Umfang und Aufbau unverändert weiter bis zum Jahr 1924. Sie erscheint ab 1925 unter dem Namen „Muttersprache. Zeitschrift des deutschen Sprachvereins" 8 . Explizit formulierte Gründe für die Umbenennung, der später weitere im Untertitel folgen, habe ich bisher in der Zeitschrift selbst nicht finden können. In den Jahren 1911-13 zählte der Verein gut 30000 Mitglieder und umfaßte 315 Zweigvereine in und um Deutschland. Die regelmäßig veröffentlichten Geschäftsberichte ermöglichen auch Aussagen über die berufsspezifische Zusammensetzung der Zweigvereinsvorsitzenden und klären darüber auf, daß es sich nicht nur um eine Vereinigung von „Schulmeistern" gehandelt haben kann. Aus diesen Tatsachen darf man ableiten, daß der Verein im genannten Zeitraum die breiteste und mächtigste Sprachpflege- und Sprachberatungsinstitution war.

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H. Riegel, Der allgemeine deutsche Sprachverein, in: Zeitschrift des allgemeinen deutschen Sprachvereins, Bd. I. (1886), Nr. 1, Sp. 2. Wegen der Fülle des Materials wurden die Jahrgänge der „Muttersprache" nur noch kursorisch herangezogen.

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Wie sehr in den Anfangs jähren die erste der drei Maximen 9 die praktische Arbeit dominierte, zeigt Text 1 [alle Texte am Ende des Aufsatzes]. Er führt 50 Fragmente einer Zivilgerichtsentscheidung von 1882 an, eingebettet in den pur-puristischen Kommentar, daß dem Senat damit „ein Erinnerungssträußehen gepflückt wird von ausländischen Gewächsen". Wir erfahren nicht, wie die inländischen Gewächse der Entscheidung aussehen, und der Kommentator sagt auch nicht, welche Gewächse an Stelle der ausländischen gepflanzt werden sollen, wenn die fremdländischen entfernt sind. Daß sie entfernt werden sollen, kann man - als nicht ausgedrückten Wunsch - dem Sträußchenpflücker zwingend unterstellen. Wie viele Mängel die Fragmentsammlung sonst noch haben mag 10 , immerhin sind die kritisierten Daten erhalten und ermöglichen uns Zustimmung, Zweifel oder Ablehnung der Kritik und das Aha-Erlebnis, wie das Juristendeutsch (mit Einschränkung) damals ausgesehen hat, wenn es sich um die Sonderform einer schriftlich verfaßten Urteilsbegründung eines höherinstanzlichen Kollegialgerichts handelte 11 . Text 2 fallt hinter diesen Präzisionsgrad zurück, hat aber auf anderen Bereichen durchaus Tugenden. Wie bei Text 1 ist eine genaue Textsortenbestimmung möglich. Es handelt sich um einen Gesetzesentwurf (Stadium: zweite Lesung) eines zwar umfangreichen aber kaum zentralen Gesetzes (Brandkassengesetz auf Landesebene). Die Kritik eines Volksvertreters, der namentlich angeführt ist, geht zwar aus von den „vielen Fremdwörtern", der wörtlich erhaltene Antrag benennt aber genauer, welche Ausdrücke Objekte eines „Wunsches" sind: „alle . . . Fremdwörter und Ausdrücke, welche nicht als allgemein verständlich angenommen würden." Sie sollen durch „gutes Deutsch" ersetzt werden. Hinter der Formulierung verbergen sich wohl zwei Übersetzungsprozesse. Einmal die Übersetzung fremder Wörter ins Deutsche und die Übersetzung deutscher Wörter ins „GutDeutsche". Die recht komplizierte Wunschstruktur des Antrags läßt zunächst den Adressaten des Wunsches offen. Erst ein ergänzender Vorschlag eines anderen Volksvertreters benennt eine Institution (Staatsministerium), die den Wunscherfüller bestimmen soll. Kennt man die interne Struktur der Institution, weiß man auch, wer für die Ausfüllung der Agens-Stelle bei ersetzen in Frage kommt: entweder die Referenten, die bereits den kritisierten Entwurf gemacht haben oder andere, die in ihrer fachlichen Ausrichtung aber wohl gleich sind. Woher das Mehr an Sprachkompetenz

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Trotz gewisser Zweifel gehe ich von drei Maximen aus. Bei entsprechender Umformung in eine indem — oder dadürch-daß- Relation lassen sich aber 1) und 2) als Teilmaximen von 3) erweisen. Es ist offensichtlich, daß die puristische Reinigungswut auch „ausländische Gewächse" erfaßt, die nicht typisch Juristendeutsch sind, ζ. B. definitiv, corred, charakterisierend. Zur notwendigen aber problematischen Aufteilung der juristischen Sprache in Textsorten vgl. Dobnig-Jülch 1982, S. 318.

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kommen soll, das ja sowohl im ersten Fall der Selbstkorrektur wie im zweiten Fall der Fremdkorrektur innerhalb einer vermutlich homogenen Gruppe (Juristen) gegeben sein muß, bleibt offen, wie viele andere Punkte auch. Ein reichlich diffuser Wunsch also, aber immerhin als „Wunsch" artikuliert 12 . Ein Rückfall auf die in Text 2 schon überwundene ausschließliche Fremdwortjagd liegt bei Text 3 vor. Gegenüber 2) und 1) bringt er jedoch im letzten Satz den Fortschritt, daß nun ein eigener Korrekturvorschlag des Verfassers gemacht wird. In diesem Abschnitt eines recht umfangreichen „selbständigen Aufsatzes" des Oberlandesgerichtsrats Keller, der die Fremdwörter in den deutschen Reichsgesetzen behandelt, beginnt sich ein Grundmuster auszuprägen, das den Umgang der Sprachvereinsmitglieder mit juristischen Texten verschiedenster Herkunft bald kennzeichnet. Wir erfahren nicht nur wörtlich, wie die Juristen (zunächst in Sätzen, später in ganzen Texten) gesprochen (geschrieben) haben, sondern wir erfahren auch, wie sie sprechen sollten oder erwünscht bereits verbessert sprechen. Die Ist- und Soll-Struktur-Beschreibung bei Text 3 ist noch stark mangelhaft. Systematisch dargestellt ergibt sich folgendes Ergebnis: Den Ist-Formen Revision, Haupt-jNebenintervention und Restitutionsklage entsprechen die vom Autor explizit ausgedrückten aber noch nicht erfüllten Soll-Formen Nichtigkeitsbeschwerde, Haupt-¡Nebenbetheiligung und Wiederaufnahmeklage11·. Von den „verjüngten deutschen Genossen", die erfüllte Sollstrukturen sind, haben wir keine Zeugnisse, ebensowenig wie von den Wörtern, die als ehemalige Ist-Strukturen ihnen vorausgegangen sind und so etwas wie „alte undeutsche Genossen" gewesen sein müssen. Von den „Kindern" der Revision erfahren wir die überholten Ist-Formen (Adhärent, Adhäsin, Incidentappellant, Délai), die erwünschten und erfüllten Sollstrukturen ( = geltenden IstStrukturen) werden nicht mitgeteilt. Der Zustand beim Paar Revident!Revisin ist noch undeutlicher beschrieben. Als erfüllte Sollformen, d. h. geltende Ist-Formen werden Revisionskläger¡ Revisionsbeklagte genannt, doch scheinen noch alte Wünsche, die der Verfasser aber nicht teilt, eine Rolle zu spielen 14 . Ob ihm Nichtigkeitsbeschwerdekläger und Nichtigkeitsbeschwerdebeklagte, die sich beide bei konsequenter Anwendung seines eigenen Eindeutschungsvorschlags für Revision

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Schon die Genese des Wunschs ist ungewöhnlich. Ein zunächst subjektiver Wunsch (Subjekt: Krampe) soll als kollektiver „ausgedrückt" werden (Kollektiv: „Landesversammlung"), d.h. der Abgeordnete Krampe wünscht sich, daß die Mitglieder der Landesversammlung sich das wünschen, was er sich wünscht und es auch (für ihn und mit ihm) ausdrücken. Die Umformung macht die Projektionsstruktur von Wunsch und Wunschausdruck etwas deutlicher. Der Textausschnitt erfaßt nur den Korrekturvorschlag für Revision. Vgl. die Passage: „dürfen nur noch ganz alte Herren die süßen Namen des Revidenten und der Revision sich zuflüstern."

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(s. o.) ergeben, als „süße Namen" der „jungen Herren" vorkommen können, sei dahingestellt. Trotz aller Mängel sehe ich schon einen Fortschritt, wenn ein Sprachkritiker Umformungen (anderer) sucht, anerkennt und mitteilt oder selbst vornimmt und mitteilt und bei beiden Verfahren die Ausgangsformen mit anführt, denn nur so ist die Ubersetzung in Wunschstrukturen nachvollziehbar. Schon wenige Jahre nach dem Erscheinen von Text 3 ist eine Sprachkritikform fest etabliert, für die Text 4, 5 und 6 typische Beispiele sind. Die Welle der Fremdwortreinigung verebbt, kann verebben, weil die ununterbrochenen, unermüdlichen Aufrufe und Eindeutschungsvorschläge des Sprachvereins Wirkung zeigen. Bis auf einen harten, fachterminologischen Kern ist die juristische Sprache in weiten Bereichen, vor allem auch im Bereich der Gesetzessprache, mit deutschen Fachtermini ausgestattet worden. Absurderweise führt dies jedoch später dazu, daß neue Verständigungsschwierigkeiten zwischen Fachsprachesprechern und Laiensprache(Alltagssprache-)sprechern entstehen, wenn die alltagssprachlichen Ausdrücke in der juristischen Fachsprache mit spezieller Bedeutung versehen sind (berühmte Beispiele: Eigentum und Besitz). Daß die Fremdwortreinigung nur noch ein Nebenkriegsschauplatz ist, zeigt das Verfahren in Text 5. Kommentarlos werden die in früheren Ausgaben der Zeitung noch ausführlich diskutierten Fremdwörter Direktion und Studien (in Studienjahre) nicht ersetzt. Nur durch Sperrdruck in der Ausgangsstruktur sind Absolventen, Immatrikulation, sich immatrikulieren und Termin als Austauschobjekte gekennzeichnet. Der „grammatische Kommentar" faßt den Ersatz durch die Formen junge Leute, welche die Reifeprüfung bestanden haben, Aufnahme ¡Einschreibung, eine bestimmte Form von aufnehmen und durch Zeit lapidar zusammen in der Feststellung „unnötige Fremdwörter". Der Hauptkriegsschauplatz ist offensichtlich nun die Syntax und Hauptangriffsziele sind Sätze, die durch Nebensatzeinbettungen und/oder mehrfache nominale Attribuierungen oder Operationen anderer Art komplexe Sätze geworden sind. Die Produkte erhalten sprechende Namen: Bandwurmsätze, Schachtelsätze, Satzungetüme, Substantivitis, Substantivstil, Kanzleistil (s. Text 5)15. Die ersten Bearbeitungen von Sätzen, kleinen Texten oder Textausschnitten erfolgen anonym, doch wird die Rubrik „Zur Schärfung des Sprachgefühls" in diesen und anderen Punkten bald präzisiert. Es entsteht eine Art Bearbeitungsgremium mit wechselnden Mitgliedern, dem, wie ein

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In einem Heft der Zeitschrift von 1889 (Nr. 8/9, Sp. 144) findet man aber auch Kritik an dem denkbar einfachen Satz Die Generaldirektion bittet das Betriebsamt aus einem Verwaltungsschreiben. Dem Satz, der völlig aus dem Kontext gelöst ist, wird vorgeworfen, er sei, so wie er intendiert sei, nämlich Akkusativergänzung in Erstposition und Nominativerg. nach dem Prädikat, völlig unverständlich.

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Blick auf den vorletzten Absatz von Text 5 zeigt, bedeutende Sprachforscher in beachtlicher Zahl angehören. Wie schon bei einem Teil der anderen Texte, jetzt jedoch systematisch durchgehalten, werden stets Ist- und Soll-Formen erstellt und die Umformungen mit zunehmendem Präzisionsgrad kommentiert. Die Quelle der Ausgangsform wird genau registriert. Deshalb ist es auch möglich, festzustellen, daß praktisch alle nur denkbaren Textsorten der juristischen (geschriebenen) Sprache vertreten sind (hier: Schriftsatz-, Verwaltungs- und Gesetzessprache). In der Rubrik wird natürlich auch das Sprachgefühl für andere Sprachformen geschärft, doch zeigt ein kursorischer Gang bis 192516, daß die juristischen Beispiele eine große Rolle spielen. Der sprachwissenschaftlich kompetente Mitarbeiterstab verhindert allerdings nicht, daß relativ häufig grobe Fehlleistungen vorkommen. So wird ζ. B. bei der Korrekturanmerkung zu letzterer in Text 5 verkannt, daß dies der Dativ feminin ist und das Pronomen auf das ebenfalls im Dativ stehende feminine Substantiv Immatrikulation zurückverweist. Aber vielleicht korrigieren die im letzten Absatz ausdrücklich zu Bemerkungen aufgeforderten Leser diesen Schnitzer. Einmal auf den Geschmack gekommen, werden die Sprachpfleger immer eifriger, mutiger und ausdauernder. Von ihrer Ausdauer zeugt Textausschnitt 6, der eine (relativ) systematische Überarbeitung eines Teils des Entwurfs zur Strafprozeßordnung durch den Oberlandesgerichtsrat Deinhardt, einen Fachsprachesprecher also, ist. Ausgangs- und Wunschform sind im Textauszug so genau verzeichnet, daß wir für eine erneute Sprachkritik die wichtigsten Grundlagen vorfinden. Wenn man nicht blind darauf vertraut, daß ein Fachmann wie Deinhardt zumindest die fachliche Richtigkeit der Verbesserung garantieren kann, sind durch die Dokumentationslage einige Bedenken möglich. Wenn in der gebesserten Form die Paragraphenkennzeichnung ausgelassen ist, kann das an sich nur bedeuten, daß sie - auch nach Deinhardts Meinung von jedem Leser jederzeit als konstitutiver Teil eines Gesetzes ergänzt oder übertragen werden kann. Anders verhält es sich bei den im Ausgangs- wie im Wunschtext häufig vorkommenden Auslassungen von Teilsätzen und ganzen Textpassagen. Sind diese wirklich, wie offenbar vom Bearbeiter unterstellt, im Verbesserungsvorschlag ohne weitere Umformungsprobleme an die angeführten Stellen ausschließbar? Detailkritik scheint bei folgendem angebracht: Handelt es sich beim Austausch von Gerichtsbarkeit des Staates, in dem sie den Wohnsit^ haben gegen Gerichtsbarkeit ihres gegenwärtigen Wohnsitzes wirklich um fachlich äquivalente

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Die Schärfungsstelle wird übrigens auch in der „Muttersprache" noch lange beibehalten. Sie heißt dort „Aus der Werkstatt der Sprache".

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Ausdrücke? Der sprachwissenschaftliche Befund spricht dagegen, denn es ist immer folgenreich, wenn man in einer attributiven Konstruktion ein dominierendes Glied (wie hier das Genitivattribut Staat (es)) ausläßt und die davon abhängige Phrase (hier den Relativsatz) direkt anschließt. Es bleibt auch zweifelhaft, ob bei der Umstrukturierung der folgenden Teilphrase bedacht wurde, daß auch bloße Umstellungen (Permutationen) die Mitteilungsperspektive eines ganzen Gefiiges verändern können. Die Umformung von § 3 Abs. 3 sieht zunächst wirklich wie eine dringend nötige Vereinfachung aus. Doch was geschieht, wenn jemand mit dem neuen Text, losgelöst vom Kontext auf genau diese Stelle zugreifen will? Reicht dann der Präzisionsgrad von diese Vorschriften aus oder muß doch wieder die (nur kontextbezogen) redundante Fügung die Vorschriften des Abs. 2 rekonstruiert werden? Auf welche Vorformen weisen die Pronomina er und sie in den Umformungen von § 5 Abs. 3 und § 7 Abs. 2? Die Liste von Fragen dieser Art ließe sich fortsetzen, doch ist dem eigentlichen Ziel dieses Abschnitts damit nicht gedient. Die Arbeit der Sprachpfleger kann sich nämlich, wie ich meine, trotz der erkannten, anerkannten und bekannten Mängel sehen lassen 17 . Im Vertrauen auf die Beweiskraft der noch nicht oder nicht genügend ausgewerteten Passagen der Beispieltexte und der unzähligen hier nicht angeführten Arbeiten zum und am Juristendeutsch wage ich jetzt schon über diesen Sprachkritikabschnitt ein Schlußurteil: Im Umgang mit dem Juristendeutsch zeigt sich Ausdauer bei der mühseligen praktischen Arbeit, Mut, gewünschte Formen und Strukturen auch auszudrücken und Objektivität bei der Wiedergabe der kritisierten Daten. Wie mühsam und umfangreich die Arbeit manchmal war, kann man einer Zusammenstellung im Jahr 1923 entnehmen, die genau aufführt, bei wievielen und welchen Gesetzen der Sprachverein offiziell, d.h. von staatlichen Stellen beauftragt, beratend oder selbst umarbeitend tätig war 18 . Was den Mut angeht, der für bestimmte Ausdrucksarten von Wünschen erforderlich ist, sei daran erinnert, daß unsere Kritik und Einsicht am ergiebigsten war, wo wir Ausgangs- und Wunschform als wörtliche Umformungen vor uns hatten. Der Text, aus dem der Ausschnitt 6 stammt, enthält auch Passagen, die die gleichen oder zumindest ähnliche Wünsche anders artikulieren und deutlich auf die früheren Stadien der anderen Textproben zurückfallen: „Es ist doch nur Eitelkeit, möglichst geschwollen und gespreizt und schwerfällig dahin zu schreiten, die ganz alltäglichen Verrichtungen des Rechtsverkehrs zu Feierlichkeiten aufzublasen. Das Gesetz soll nach natürlicher, lebendiger

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Einige habe ich natürlich auch nicht bekannt sondern verschwiegen, um mein Ziel nicht zu gefährden. Vgl. O. Schleicher, Sprachhilfe, in: Zeitschrift des Deutschen Sprachvereins Jg. 38 (1923), Nr. 4/6, Sp. 41-45.

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Redeweise streben und àie. gesuchte xmà gekünstelte verabscheuen" 19 [Hervorhebungen von mir]. Es dürfte nun klar sein, worin die Verdienste der puristischen Sprachkritik der Jahrhundertwende um das Juristendeutsch bestehen und weshalb ich mich der oben zitierten Einordnung in Heringer 1982 a nicht anschließen will. Es kann aber der Eindruck entstanden sein, daß ich das in den Textproben 4-6 sich ausprägende Verfahren grundsätzlich gut heiße, d. h. unabhängig von dem Kontext, daß es sich dafür eignet, unhaltbare Vorurteile über die Leistungen einer bestimmten Form von Sprachkritik abzubauen. Das ist nicht der Fall. Beide Vorgänge und Bewertungen können auch gut auseinander gehalten werden. Wenn klar ist, daß die puristische Sprachkritik dieser Zeit für die Beschreibung des Juristendeutsch anderes geleistet hat, als gemeinhin behauptet (oder eher geleugnet) wird, folgt daraus nicht, daß das Andere per se auch Gutes und Vorteilhaftes war. Schon am Ende dieses Abschnitts soll kein Zweifel daran bestehen, daß ich den ab Text 4 eingeschlagenen Weg für einen Holzweg halte, wenn man sich das Ziel setzt, eigentlich an einen anderen Ort zu kommen 20 , nämlich zu einer adäquaten Beschreibung des Juristendeutsch. Ein grundsätzlicher Mangel bleibt nämlich trotz der angeführten Tugenden. Schon in dieser Zeitspanne ist die Auseinandersetzung mit dem Juristendeutsch nämlich im wörtlichen Sinn ein AUS-EIN-ANDER-SETZEN des Juristen-Deutsch. Entweder im praktischen Tun durchgeführt oder in Maximen, Grundsatzerklärungen, Verwünschungen oder Verwerfungen angedeutet, werden AUS dem Sprachkörper, den Ausdrücken, den Syntagmen eines Anderen (eines mehrerer Juristen) Teile herausgenommen, abgetrennt und in die Stelle hinEIN ANDERe Teile GESETZT, die, weil sie immer aus dem Ersatzteillager der Sprache des Kritikers stammen, trivialerweise verständlicher sind, denn jeder versteht wohl seine eigene Sprache am besten. 3. Vom Juristendeutsch in der linguistisch begründeten Sprachkritik Nach dem Ausflug in ältere Zeiten sollen jetzt wieder Gegenwart und Zukunft im Vordergrund stehen. Es war und ist eine verständliche Hoffnung, darauf zu setzen, daß das wacklige und von Zeit zu Zeit ja auch wackelnde Haus der Sprachkritik von Grund auf saniert werden könne, wenn es ein wissenschaftliches Fundament

« R. Deinhardt (1908), Sp. 322. Zur (noch konkreten) Bedeutung von Holzweg vgl. den Eintrag in Grimm: „weg der zu wirtschaftszwecken in ein holz gemacht ist und nicht der Verbindung zweier orte unter einander dient" (Grimm, J. u. W. (1877): Deutsches Wörterbuch, 4. Bd. 2. Abt (bearb. v. M. Heyne), Sp. 1784, Leipzig).

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erhalte. Der erste euphorische Renovierungs-Schub dieser Art lieferte als Baumaterial Grundsteine der strukturalen Linguistik an. Die Bauarbeiten wurden aber bald aus bisher noch immer ungeklärten Gründen eingestellt 21 , obwohl doch gerade der strukturale Ansatz die Möglichkeit bot und bietet, von der leidigen Vergleichs- und Ersetzungsmethode als einziger Beschreibung wegzukommen. Er lenkt, neben vielem anderem, ja den Blick darauf, daß der Wert einer Einheit sich bestimmt im Zusammenspiel von Anwesenheit und Abwesenheit mit den anderen Einheiten des gleichen Systems. Gerade die praktischen Ergebnisse dieses Ansatzes können sich sehen lassen und haben noch heute Bestand, wenn man ζ. B. an die strukturalen Beschreibungen der Funktionsverfügung denkt, die als verbreitete Prädikatsrealisierung des Verwaltungsdeutsch ja zum Großbereich der Juristensprache gehört. Den Faden unseres Argumentationsknäuels bei diesem Ansatz anzuknüpfen, ist aber unsinnig und mühselig, wenn ehemals engagierte Strukturlinguisten öffentlich abschwören und einer neuen Göttin huldigen, der neuen, vielarmigen Linguistik, der so viele neue Teildisziplinen wie „Soziolinguistik, Satzsemantik, Sprachpragmatik und Argumentationslehre" (v. Polenz in Heringer 1982 c, S. 168) hinzugewachsen sind. Diese reiche, mächtige Linguistik, die endlich auch über eine brauchbare Sprachtheorie, die Gebrauchstheorie, verfügt, scheint auch Wimmer im Auge zu haben, wenn er im Schlußaufsatz des „Holzfeuer"-Bandes ein bescheiden formuliertes, aber doch großes Versprechen gibt: „Der Beitrag der Sprachkritik kann m. E. nicht darin liegen, Kommunikationskonflikte der beschriebenen Art zu vermeiden oder aus der Welt zu schaffen. Die Aufgabe der Sprachkritik ist bescheidener, aber deshalb nicht weniger wichtig. Sie besteht im wesentlichen darin, kommunikative Konflikte um normierten Sprachgebrauch in bestimmter Weise zu kultivieren. Sprachkritische Arbeit ist also Kultivierungsarbeit" (Wimmer 1982, S. 298). Bei dieser Kultivierungsarbeit — und das ist das große Versprechen kann in erster Linie die Linguistik von Grund auf helfen. In einem breiten theoretischen Vorspann legt Wimmer die Grundlagen für ein „Design" sprachkritischer Analysen (1982, S. 302 f.) und führt im zweiten Teil vor, wie eine solche Analyse aussehen kann. Leider bezieht sich seine Analyse auf sprachliches Material, das nicht direkt zum Bereich der juristischen Sprache gerechnet werden kann, wohl aber zu einem, der in diesem speziellen Fall - wie auch Wimmers Vorgehen zeigt - als juristisch beeinflußt gelten muß. Hauptsächlich analysiert wird ein Satz aus einer Regierungserklärung im Jahre 1977 des damaligen Bundesinnenministers Maihofer, der wie sehr viele Politiker Jurist ist. Die Erklärung wurde im Zusammenhang mit dem Fall Traube abgegeben. 21

Vgl. dazu den Dialog zwischen Heringer und v. Polenz in Heringer 1982 c.

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Welchem Bereich man diesen Satz nun zuordnen mag, der politischen Sprache oder der von gesetzlichen Normen deutlich geprägten Verwaltungs- oder Behördensprache, Wimmers Analyse ist auch unabhängig von dieser Frage in mehreren Punkten anfechtbar und aufschlußreich für unser Interesse. Der strittige Satz lautet: (1) Diese Kontakte eines vermuteten Terroristen mit einem Experten im Bereich der Atomenergie waren für uns alle über die weiteren Monate hin der beunruhigendste Vorgang im Terrorismusbereich überhaupt. (vgl. Wimmer 1982, S. 306). Mein erster Einwand gegen Wimmers Analyse richtet sich gegen ihre Unvollständigkeit, die auf mindestens drei Ebenen gegeben ist. Daß Wimmer die „nominalen Ausdrücke, mit denen in dieser Textstelle auf bestimmte Gegenstände (bzw. Personen) Bezug genommen wird" (1982, S. 306) in den Vordergrund rückt, ist legitim und es ist auch noch akzeptabel, daß er bei der Beschreibung dieser Ausdrücke eine bestimmte Reihenfolge trifft. Bedenklich finde ich aber, daß unbegründet von insgesamt 8 (oder 9) „nominalen Ausdrücken" 22 eingehend nur einer, nämlich Terrorist beschrieben wird, ab S. 308 erweitert zur Beschreibung von vermuteter Terrorist. Bei einer weiteren Phrase mit nominalem Kern (der beunruhigendste Vorgang im Terrorism usber eich) wird für das nominale Attribut Terrorismusbereich eine semantische Beschreibung gegeben (S. 309: „und der angedeuteten Unschärfe im Gebrauch von Terrorismusbereich"). Die in dieser Passage im Vordergrund stehenden semantischen Aussagen beziehen sich aber meiner Ansicht nach nicht mehr auf die Bedeutung nominaler Ausdrücke, sondern auf das Prädikat, das sie zueinander in Funktion setzt (nämlich das Verb sein in der Form waren): „Ein entscheidender und meines Erachtens unter allen Umständen defektiver Übergang besteht zwischen den nominalen Ausdrücken eines vermuteten Terroristen und der beunruhigendste Vorgang im Terrorismusbereich überhaupt..." (S. 308). Abgesehen davon, daß hier ein defektiver Übergang vom Beschreibungsgegenstand „nominale Ausdrücke" zum Gegenstand „Prädikat des Satzes" besteht, welche Beschreibungskraft soll „Übergang" in diesem Beschreibungsversuch haben? Und worin ist der Übergang „defektiv"? Wichtiger als die Kritik am Gemachten ist mir aber hier der Hinweis, daß noch immer die Analyse der anderen nominalen Ausdrücke aussteht, die, da sie ja realisiert sind, einen Beitrag zur Gesamtbedeutung des Satzes leisten. Selbst wenn ihre Beschreibung für eine sprachkritische Analyse unergiebig ist, weil sie nichts zum Kommunikationskonflikt beigetragen 22

Der Terminus „nominaler Ausdruck" ist denkbar vage. Eventuell kann man darunter auch die pronominal-nominale Fügung für uns alle subsummieren, was die Zahl auf 9 erhöht. Unklar bleibt, ob W i m m e r bei diesem Ausdruck an syntaktische Einheiten (Satzglieder?/ Satzgliedteile?) denkt. Falls er Satzglieder meint, reduziert sich die Zahl beträchtlich.

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haben, muß eine seriöse Sprachwissenschaft genau das auch zeigen. Zur Analyse der sprachkritisch unproblematischen nominalen Ausdrücke kommen die in Wimmers Analyse ganz ausgeblendeten nicht-nominalen Ausdrücke des Satzes hinzu. Meine Vorstellung von einer hilfreichen Linguistik in einer Begründungs-Situation jedenfalls ist, daß diese darin so wenig (als erschließbar) unterstellen (präsupponieren) darf wie Politiker beim Reden in „brisanten Kontexten" (vgl. Wimmers Fazit zum Fall Traube auf S. 311). Im letzten Abschnitt ist schon angedeutet, auf welcher Ebene ich auch Unvollständigkeit beklage. Schon bei den wenigen semantischen Analysen „nominaler Ausdrücke" mußten wir zu ihrer Identifizierung stets auch syntaktische Kriterien zu Hilfe nehmen. Ich bin sicher, daß sich bei Einlösung des Vollständigkeits-Postulats Wimmers Position und Praxis, was die Verteilung von Syntax und Semantik bei sprachkritischen Analysen angeht, nicht halten kann. Ein Teil seines Designs sieht nämlich vor, automatisch mit der Dominanz semantischer Ursachen zu rechnen und die Analyse darauf abzustellen (S. 302): „(iv)linguistische, meistens semantische bzw. praktisch-semantische Analyse der nach (iii) herausgehobenen sprachlichen Phänomene". Hinter dem „bzw." verbirgt sich ein weiterer Mangel des Wimmerschen Vorgehens und Versprechens, der aber nur für Insider durchsichtig ist. Eine vertretbare aber nicht konkurrenzlose Semantik-Theorie wird so präsentiert, als gäbe es Konkurrenten nicht. Für gravierender halte ich aber, daß die Analyse nur vereinzelt aber nicht systematisch dazu Stellung nimmt, daß die konfliktträchtige und konflikttragende Äußerung Teil einer ganzen Rede ist und viele sprachlichen Indizien im Analysesatz selbst die Verbindung zu diesem unbegründet nicht analysierten Kontext, der aus Vor- und Nachtext besteht, herstellen. Die neue Linguistik verfügt doch über eine einigermaßen elaborierte Textlinguistik, die ζ. B. etwas zur Bedeutung von textrelevanten Artikelformen (wie dies und ein im fraglichen Satz) sagen könnte. Bei Wimmers Vorgehen muß man - überspitzt formuliert - schon den Eindruck gewinnen, diese seine Linguistik könne dafür garantieren, daß das hauptsächliche Konfliktpotential im besagten Fall aus unangemessenem Gebrauch von 2—3 nominalen Ausdrücken bestanden hat und eine weit größere Zahl sonstiger Ausdrücke sprachkritisch irrelevant gewesen ist. Das ist schon theorienintern ein beeindruckender Allmachtswahn. Nimmt man hinzu, daß extern von den nicht berücksichtigten Konkurrenztheorien gewichtige Korrekturen kommen müssen, wird das wahn- und wunschhafte der Garantie noch ausgeprägter. Aber selbst wenn die hier aufgestellten Postulate erfüllt würden, glaube ich nicht, daß Sprachkritik linguistisch begründet werden kann, in dem Sinne wie ich begründet verstehe. Um zu zeigen, was ich meine, will ich noch

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einmal kurz zu einer Sprachkritik aus Teil 2 zurückkehren, um auch den Anschluß an den Ausgangspunkt der Überlegungen wieder herzustellen. Daß in Text 4 trotz methodischer Bedenken auf jeden Fall Sprachkritik betrieben wird, dürfte nach dem Exkurs geklärt sein. Nehmen wir zusätzlich an, es handle sich um einen Kommunikationskonflikt, etwa der Art, daß der Rechtsanwalt, der die links stehende Version (= Version A) verfaßt hat, sich weigert, seine Äußerung als unverständlich einzuordnen, und zwar standhaft, obwohl ihm gesagt wird, daß viele und wie viele Sprecher des Deutschen sie nicht verstehen und obwohl ihm die gewünschte (verständliche) (rechtsstehende) Äußerung (= Version B) präsentiert wird. Kann eine oder die Linguistik echte Gründe dafür angeben, begründen, welche Formulierung verständlicher ist? Und mit echt meine ich nicht Begründungen der Art, wie sie sich in der Praxis des Umformulierens verbergen, nämlich, daß Version Β verständlicher ist, weil mehr Sprecher des Deutschen sagen, daß sie sie besser verstehen. Was eine Linguistik, die z.B. die syntaktischen Strukturen beider Versionen - nach einem gängigen Modell — betrachtet, beitragen kann, sind höchstenfalls Aussagen der Art, daß an der Stelle eines hochkomplexen (aber nicht ungrammatischen) adjektivischen Attributs von Version A in Version Β eine satzförmige Realisierung der gleichen Kategorie, nämlich ein Attributsatz steht. Dabei ist noch anzumerken, daß an der Stelle nicht wörtlich sondern nur strukturell oder kategorial genommen werden darf, denn serialisierungsmäßig steht der Attributsatz an einer anderen Stelle. Auch eine verfeinerte Analyse beider Realisierungen brächte keine sprachinternen, grammatischen Gründe für die Bevorzugung von Version A oder B. Mit den Beschreibungsmöglichkeiten der Linguistik ausformuliert, müßte die Begründung aber lauten: Version Β ist verständlicher, weil ein Attribut als Satz realisiert ist / Version Β ist verständlicher für bestimmte Sprecher des Deutschen, weil . . . / Bestimmte Sprecher des Deutschen verstehen Version Β besser, weil ... Was immer man daraus ableiten kann, man kann jedenfalls nicht zwingend daraus ableiten, daß, wenn ein Attribut als Satz realisiert ist, diese Sprecher auch immer die so gefaßte Version besser verstehen werden. Die juristische Sprache hat sich schon so vielen Änderungswünschen gebeugt und gilt nach wie vor als unverständlich, d. h. aber doch auch, daß sie immer als andere Sprache gewünscht wird als sie eine ist. Aus diesem Wunschdilemma aber kann sie eine linguistisch begründete Sprachkritik nur „befreien", wenn sie ihren Anteil am Weiterbestehen genau dieser Wunschstruktur reflektiert.

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4. Vom Juristendeutsch in der kritischen Analyse In der ausführlichen Einführung zum „Holzfeuer im hölzernen Ofen" von Heringer (Heringer 1982 a) sehe ich zwei Stellen, in denen mehr oder weniger direkt auf unseren Untersuchungsgegenstand Bezug genommen wird. Im Abschnitt „Politische Sprachkritik" (S. 19-23) erscheint die Sprache der Bürokratie, des „bürokratischen Sprechers" (S. 21) als Beispiel für „Machtausübung", „Sprachregelung", „Sprachlenkung" (S. 20/21). Die vermutlich feinen Unterschiede der drei Arten der Beeinflussung bleiben im Dunkeln, wie so manches in dieser Passage. Ausgehend von Karl Korns Kritik in den 60iger Jahren an der Sprache der verwalteten Welt stellt Heringer fest, die schon von Korn beobachteten „prinzipiellen Charakteristika" würden auch heute noch gelten, im Vordergrund stehe nach wie vor „der reibungslose Geschäftsablauf' (S. 20). Im Zusammenhang mit dem Ministerratsbeschluß von 1977, der den amtlichen Gebrauch der Kurzform „BRD" untersagt, warnt Heringer vor der Gefahr, daß die typischen Organisationsformen der Kommunikation in der Verwaltung (z.B. Formulare) den Bürger weiter einschränken als rechtliche Regelungen an sich vorsehen. Im Fall des Gebrauchs von „BRD" scheint er - zu Recht - zu befürchten, daß wohl fast jeder Bürger bei einer Formular-Kommunikation in seiner Antwort, die ja kein amtlicher Gebrauch ist, doch diesen Gebrauch praktizieren wird. Wenn Heringer, wie er im folgenden Absatz und öfter betont, so viel an individuellen Auswahlmöglichkeiten gelegen ist, hätte er allerdings sehen und klarstellen können, daß kein Bürger de jure zu dieser Form der Kommunikation (dem Formularweg) verpflichtet ist. In einem informellen Antwortschreiben (und vermutlich selbst innerhalb der freien Formularrubriken!) kann er ungefährdet diese Kürzel benützen. Aber vielleicht kennt er sich mit den kommunikativen Rechten des (nicht ganz so) armen Bürgers nicht ganz so genau aus. Die Pflichten und Zwänge malt er jedenfalls um so greller. Der einzelne müsse seine Probleme in der Sprache der Bürokratie formulieren, seine Gründe auf Paragraphenformulierungen abstimmen, und: „Der große Apparat hat keine adressatenbezogene Sprache, sondern eine, die nach seiner Vorstellung rein sachbezogen ist und die jeder zu verstehen hat. Sprache und Formulierung sind verfahrensgeleitet. Im Vordergrund steht die schematische Anwendbarkeit von Erlassen, Formularen und Gesetzen. Der eigentliche Adressat ist in den Rahmen gepreßt, den Bürokraten vorgeben."

Zu diesen Zerr- und Spottbildern kann man als kritischer Sprachkritiker eigentlich nur das gleiche sagen, was Friedrich der Große anordnete, um die Qualität einer Karrikatur von ihm allen vor Augen zu führen: „Tiefer hängen!"

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Wenn wir Heringers Karrikatur einer Bürokraten-Bürger-Kommunikation tiefer hängen, und das heißt in diesem Fall aus dem nebulösen hohen Assoziationsbereich herunterholen, der auf S. 21 in dem schönen Spruch endet: „Leitende Funktionäre und leidende Geleitete", werden hoffentlich alle sehen, daß ihr aus sprachkritischer Sicht Entscheidendes fehlt. Wir sehen nur die Auswirkungen der Sprachen, die Sprachen selbst, auf die es ankommt, die Sprache der Bürokraten und Bürger ist nicht erhalten, kann nicht erhalten sein, weil es sich nur um ein Bild (imago, Image) handelt. Ein ausführlicher Vergleich und Nachweis, auf welches Stadium der Sprachkritik der Pedanten und Schulmeister diese Sprachkritik zurückfällt, erübrigt sich wohl. Ich siedle sie zwischen 1886 und 1900 an. Jedenfalls kann ich mit dieser — vielleicht (?) berechtigten - Kritik nicht die einfachen Überprüfungsprozeduren machen, die mir in Teil 2 schon ab Text 2 möglich waren. Diese sprachlose Sprachkritik wird um so unverständlicher, wenn wir uns einer späteren Passage zuwenden, in der Heringer einen Vergleich der Sprachkritik mit der Psychoanalyse wagt und zum - nicht wörtlich geäußerten aber sinngemäßen — Schluß kommt: Sprachkritik ist kritische Analyse (Heringer 1982a, S. 27). Dies ist ein doppeltes Wagnis. Die von uns explizit gemachte Aussage ist nämlich ein Definitionsversuch, was Sprachkritik ist, bzw. ein Festlegungsversuch, was sie sein sollte. Gegen solche Versuche wendet sich Heringer an früherer Stelle (1982a, S. 4) aber ausdrücklich und prangert vor allem die Anmaßung an, die mit ihm verbunden sei: „Denn was ich unter Sprachkritik verstehe, schriftlich darzulegen, macht ja wohl nur Sinn, wenn ich einen Zugang zu solchen Fragen mir anmaße. Und ebenso maße ich mir Autorität an, wenn ich bestimme, was man unter Sprachkritik verstehen sollte. Selbst wenn ich es in der verschleiernden Form einer neutral aussehenden Definition tue."

Doch lassen wir diesen Widerspruch zum späteren Handeln bei Heringer als das, was er trotz des Wider- auch ist, als einen Spruch, dem man letzten Endes nicht zu viel Bedeutung beimessen darf. Das weit größere Wagnis sehe ich darin, ein Gebiet als methodisches Vorbild für die Sprachkritik zu propagieren, über das noch mehr Vorurteile umlaufen als über das Juristendeutsch. Ich gehe davon aus, daß Heringer mit Psychoanalyse das nach klassischen Vorbild (S. Freud) herausgebildete Verfahren meint, bei dem nach strengen Regeln ein Heilungsversuch für seelische Störungen von Analytiker und Analysand unternommen wird, und nicht Verfahren wie Gesprächstherapie oder Gruppentherapie o. ä., für die manchmal auch irreführend der Ausdruck (Psycho)Analyse gebraucht wird. Jedenfalls legen die Passagen, in denen der Vergleich verdeutlicht wird, diesen Schluß nahe:

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„Sprachkritik ist hierin der Psychoanalyse verwandt. Wir müssen auch methodisch wie der Analytiker vorgehen: Um auf die wahren Probleme zu stoßen, müssen wir das Leben so nehmen wie es ist, müssen ernst nehmen, was die Leute sage, nicht frühzeitig sprachliche Fakten verdrängen oder unausgewiesene Ideale in die Welt setzen. Nur so entdecken wir die Probleme. Wollten wir den Leuten voreilig ihre Sprache nehmen, ihr Medium, die Probleme darzustellen, so würden wir nichts verstehen. Wir würden ihnen vielleicht eine neue Sprache verordnen, mit der wir ihnen die gleichen Probleme wieder aufladen — und vielleicht noch andere. Solange wir nicht wissen, worin die Probleme bestehen, solange wir keine Analyse haben, macht es überhaupt keinen Sinn, sie durch Einführung einer neuen Sprache beseitigen zu wollen." (Heringer 1982 a, S. 27).

Diesen schon langen Ausführungen will ich doch noch hinzufügen: Und all das soll für jeden gelten, der zum Sprachanalytiker kommt, ζ. B. auch für den „bürokratischen Sprecher". Wie unser Gang hinab zur Jahrhundertwende und zurück in die 80iger Jahre der Sprachkritik gezeigt hat, ist dem Juristendeutsch in seinen vielen Ausprägungen und seinen Sprechern allzu oft widerfahren, was das Stocken, Rückschreiten und Scheitern jeder Analyse bedeutet: In den Verbesserungsvorschlägen wurde ein Teil ihrer Sprache verdrängt oder sie wurde ihnen sogar ganz genommen; bei Spott-, Ironie-, und Hohn-Gemälden nahmen die Analytiker das, was sie sagten, so wenig ernst, daß wir nur „stumme Zeugnisse" haben, die SPRACHkritisch nichts bezeugen können, und selbst wenn sie es ernst genug nahmen, hatten sie nicht die Geduld, die Ausdauer eines „richtigen" Analytikers, der wöchentlich zwar nur wenige Stunden, wenn es sein muß, dafür aber auch Jahre zuhört. Den meisten Sprachanalytikern aber fehlte, was ein Baustein jeder Ausbildung zum richtigen Analytiker ist: Das Wissen um die Übertragung und das Bemühen, dieses Phänomen, dem Analysand und Analytiker unterliegen, über eine Selbstanalyse und Kontrollanalyse in den Griff zu kriegen. Ich will mich jetzt nicht in eine Diskussion verlieren, wie der Vergleich Sprachkritiker-Psychoanalytiker verbessert, ausgebaut oder Ähnliches werden kann, falls er überhaupt angebracht ist 23 . In unserem speziellen Fall kann er jedenfalls den Nutzen bringen, daß wir - durch ihn angeregt - deutlicher als an anderen Stellen vorher sehen, worin ein Grund für die Wiederholungen, und Rückfalle der sprachkritischen Analytiker des Juristendeutsch auf Stadien, die als längst überholt gelten müßten, liegen könnte. Wenn es gelänge, in den Sprachanalytikern die Widerstände dagegen zu brechen, wenigstens für die Zeit der Analyse,

23

In der neueren psychoanalytischen Diskussion, die stark von der Freud-Rezeption in Frankreich durch J. Lacan geprägt ist, wird großen Wert auf die Nicht-Übertragbarkeit der Bedingungen des „psychoanalytischen Diskurses" gelegt. Vgl. dazu A. Lipowatz, Diskurs und Macht. Jacques Lacans Begriff des Diskurses, Marburg 1982, besonders S. 200-227.

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das Juristendeutsch als eigene Sprache gelten zu lassen und nicht auf der Folie einer — wie immer gearteten — anderen Sprache zu beschreiben, könnten Analysen einer anderen Qualität entstehen, im Idealfall aus Vorurteilen richtige Urteile werden.

Textausschnitte (Quellen s. Literaturverzeichnis, Teil 2) Text 1 Dem hohen Gerichte sei in dem Urtheile der vereinigten Zivilsenate vom 20. October 1882 (Entscheidungen Bd. VII, S. 421) ein Erinnerungssträußehen gepflückt von folgenden ausländischen Gewächsen: Immobilien, Decisum, Decisa, Decisis, Modalitäten, restituiren, Eidesthema, Restitution, Decret, Exmission, Resultat, deferirter Eid, aeeeptirter Eid, Hypotheken, Requisite, revisibel, definitiv, quantitativ, correct, incorrect, Incorrectheit, materiell, Sistirung, Fundamente, Moment, Beweisthema, processualisch, Definition, Cognition, condemnatorisch, Condemnation, absolutorisch, Motive, antieipirt, Anomalie, Material, Patricularproceßordnungen, Resolution, purificirt, Praxis, Sentenz, legalisirt, Formulirung, Eventualitäten, Commentatoren, Argumentationen, successiv, complicirt, charakterisirend, Alternative.

Text 2 Im braunschmeigischen Landtage war ein umfängliches Brandkassengesetz berathen worden. Nach Beendigung der zweiten Lesung machte in der Sitzung vom 5. März d. J. der Abgeordnete Krampe auf die vielen in dem Gesetze befindlichen Fremdwörter aufmerksam, wodurch die Deutlichkeit nicht erhöht und das Verständniß seitens der Bevölkerung erschwert werde. Er stellte deshalb den Antrag: „Die Landesversammlung wolle den Wunsch ausdrücken, daß bei endgültiger Redaktion des Gesetzes alle die in der Vorlage enthaltenen Fremdwörter und Ausdrücke, welche nicht als allgemein verständlich angenommen würden, thunlichst durch gutes Deutsch ersetzt werden." Dieser Antrag wurde mit dem vom Abgeordneten Lüderßen gemachten Vorschlage, das Staatsministerium um die Ausführung dieses Beschlusses zu ersuchen, einstimmig angenommen.

Text 3 Die Fremdwörter der vorbezeichneten Art kommen übrigens doch nur vereinzelt vor. Sie verschwinden so ziemlich in den umfangreichen Gesetzbüchern. Mehr als durch sie wird das deutsche Gepräge der letzteren dadurch getrübt, daß man sich nicht entschließen konnte mit sämmtlichen fremdländischen Bezeichnungen der Klagen und Rechtsmittel aufzuräumen. Da schleichen immer noch in ihren fadenscheinigen Hüllen die Revision, die Haupt- und die Nebenintervention sowie die Restitutionsklage einher. Es ist ihnen unheimlich unter den verjüngten deutschen Genossen, die es nicht verschmähen in der Sprache des Volkes sich verständlich zu machen. Sogar die stolze Revision mußte sich bei ihren Kindern zu einem Zugeständnisse an die Neuzeit bequemen. Seitdem der Adhärent und die Adhäsin, der Incidentappellartt, der Delat und wie die lieben Dinger alle heißen, deutsch geworden sind, dürfen nur noch ganz alte Herren die süßen Namen des Revidenten und der Revisin sich zuflüstern. Von der übrigen Welt werden sie Revisionskläger und Revisionsbeklagte genannt. Die Revision hätte als Nichtigkeitsbeschwerde bezeichnet werden können.

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Text 4 Zur Schärfung des Sprachgefühls. 293) „Kgl. Landgericht wolle den Beklagten verurteilen, den sich nach der von ihm aufzustellenden Rechnung und unter Berücksichtigung der Bestimmungen des Vertrages vom 1. Febr. 1901 als an den Kläger t(U fahlen ergebenden Betrag an denselben mit 4 v. H. Zinsen seit dem Klagetage ç» fahlen." (Aus dem Schriftsatz eines Rechtsanwalts, mitget. von Prof. Buchrucker in Elberfeld).

293) Das Kgl. Landgericht wolle den Beklagten verurteilen, den Betrag, der sich nach der von ihm aufzustellenden Rechnung und unter Berücksichtigung der Bestimmungen des Vertrags vom l.Febr. 1901 ergibt, an den Kläger zu zahlen nebst 4 v. H. Zinsen von dem Klagetage an.

Man sagt nicht „Ein Betrag ergibt sich zu zahlen", sondern entweder „er ergibt sich" oder „er ist zu zahlen". - Zweimal nacheinander „zu zahlen".

Text 5 305) „Die unterfertigte Direktion gibt folgendes bekannt: Die Immatrikulation für das Studienjahr 1905/1906 findet in der Zeit vom 16.—18. Oktober ds. Jrs. statt. Jene Absolventen des humanistischen oder Realgymnasiums, welche sich für das kommende Studienjahr zu immatrikulieren beabsichtigen, haben spätestens bis %um 31. Juli inklusive unter Vorlage des Geburtsscheines ... schriftlich bei der Direktion sich zu melden. Letztere wird jedem Angemeldeten bis spätestens 15. August schriftlich erklären, ob sich derselbe zu oben bezeichnetem Termin (16. bis 18. Oktober) zur Immatrikulation persönlich einzufinden habe oder ob letzterer nach Maßgbe der vorgelegten Zeugnisse . . . ein Hindernis im Wege stehe." (Bekanntmachung der Forstlichen Hochschule Aschaffenburg vom 1. Juli 1905).

305) Die Aufnahme für das Studienjahr 1905-1906 findet in der Zeit vom 16. bis 18. Oktober statt. Junge Leute, welche die Reifeprüfung an einem humanistischen Gymnasium oder Realgymnasium bestanden haben und für das kommende Studienjahr aufgenommen zu werden wünschen, haben sich spätestens am 31. Juli unter Vorlegung des Geburtsscheines . . . schriftlich bei der Direktion anzumelden. Jeder Angemeldete wird spätestens am 15. August schriftlichen Bescheid erhalten, ob er sich zu genannter Zeit (16. bis 18. Oktober) zur Einschreibung in die Meldeliste einzufinden habe oder ob er wegen mangelhafter Zeugnisse . . . zurückgewiesen werden müsse.

Kanzleistil. Der erste Satz ist überflüssig: bei einer Bekanntmachung braucht man nicht erst anzukündigen, daß man etwas bekannt macht. - Unnötige Fremdwörter. Studenten können sich nicht selbst „immatrikulieren", sondern werden immatrikuliert - „Jene Absolventen" unrichtig; denn „jener" weist auf etwas vorher Erwähntes oder überhaupt Bekanntes zurück. - „Spätestens bis %um 31. Juli sich melden" - Vermischung zweier Fügungen: bis \um 31. Juli sich melden und: spätestens am 31. Juli sich melden. - Stellung von „sich" bei „sich zu melden"! - Daß man sich nur persönlich einfinden kann, ist selbstverständlich, also persönlich - überflüssig. - „Letzterer" ohne Beziehung auf einen „ersteren". Geprüft von den Herren Behaghel, Brenner, Erbe, Gartner, Gombert, Khull, Lohmeyer, Lyon, Matthias, Pasch, Pietsch, Saalfeld, Schefflet, Wilmanns, Wülfing. Bemerkungen über die vorstehenden Sätze, Beiträge u. a. bittet man einzusenden an Studienrat, Prof. Dr. Dunger in Dresden-Plauen, Kaitzer Straße 125.

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Text 6 § 3 Abs. 2. Für Deutsche, die von der Gerichtsbarkeit des Staates, in dem sie den Wohnsitz haben, befreit sind, kommt es auf den Wohnsitz an, den sie im Heimatstaate hatten. So wird der als Wohnsitz geltende Bezirk durch allgemeine Anordnung der Landes justizverwaltung und für Deutsche, die keinen Heimatsstaat haben, durch allgemeine Anordnung des Reichskanzlers bestimmt. § 3 Ab. 3. Die Vorschriften des Abs. 2. § 4. Der Gerichstsstand ist ferner bei dem Gerichte begründet. § 5 Abs. 1 Desgl. § 5 Abs. 3. Wird rechtzeitig Widerspruch erhoben, § 6. So wird das zuständige Gericht durch das Reichsgericht bestimmt. § 7. Zusammenhängende Strafsachen, die zur Zuständigkeit von Gerichten verschiedener Ordnungen gehören. § 7 Abs. 2. Kommt die Vereinbarung nicht zustande, § 8. Das Verfahren vor dem Gerichte höherer Ordnung bestimmt sich auch für die durch Verbindung dahingelangten Sachen nach den für dieses Gericht maßgebenden Vorschriften. § 9. Zusammenhängende Strafsachen... können bei jedem Gericht anhängig gemacht werden, das für eine der Sachen zuständig ist.

Für Deutsche, die von der Gerichtsbarkeit ihres gegenwärtigen Wohnsitzes befreit sind, ist maßgebend der frühere Wohnsitz in ihrem Heimatsstaate. So wird von der LandesjustizVerwaltung und für Deutsche, die keinen Heimatsstaat haben, von dem Reichskanzler durch allgemeine Anordnung bestimmt, welcher Bezirk als Wohnsitz gilt. Diese Vorschriften . . . Zuständig ist ferner das Gericht. Desgl. Widerspricht er rechtzeitig, So bestimmt das Reichsgericht, welches Gericht zuständig ist. Zusammenhängende Strafsachen, für welche Gerichte verschiedener Ordnung zuständig sind. Einigen sie sich nicht, Die für das Gericht höherer Ordnung maßgebenden Vorschriften gelten auch für die Sachen, die durch Verbindung dahingelangen. . . . das für eine von ihnen zuständig ist.

Literaturverzeichnis 1) Ergänzung der im Text nur gekürzt zitierten Arbeiten Dobnig-Jülch, E. (1982): Fachsprachenbarrieren. Überlegungen zur Kluft zwischen Fachsprache und Gemeinsprache am Beispiel juristischer Texte, in: B. Gajek/E. Wedel (Hrsg.): Gebrauchsliteratur, Interferenz, Kontrastivität, Frankfurt/M.-Bern, 313-360. Heringer, H. J. (Hrsg.) (1982): Holzfeuer im hölzernen Ofen. Aufsätze zur politischen Sprachkritik, Tübingen. ders. (1982a): Sprachkritik - die Fortsetzung der Politik mit besseren Mitteln, in: Heringer 1982, 3-34. ders. (1982 b): Normen? Ja - aber meine!, in: Heringer 1982, 94-105. ders. (1982c): Der Streit um die Sprachkritik: Dialog mit Peter von Polenz, in: Heringer 1982, 161-175. Keller, R. (1982): Wie bietet man Gewähr dafür, daß man jederzeit für die freiheitlichdemokratische Grundordnung eintritt?, in: Heringer 1982, 269-276.

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Stötzel, G. (1982): Konkurrierender Sprachgebrauch in der deutschen Presse, in: Heringer 1982, 277-289. Wimmer, R. (1978): Die Verdächtigungen gegen den Bürger Traube aus sprachwissenschaftlicher Sicht, in LuD 34/35 (1978), 157-168. ders. (1982): Überlegungen zu den Aufgaben und Methoden einer linguistisch begründeten Sprachkritik, in: Heringer 1982, 290-313. 2) Nachweis der Quellen von Text 1-6 Text 1: A. Keller, Die Fremdwörter in den deutschen Reichsgesetzen, in: Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins Bd. I (1886), Nr. 6, Sp. 89. Text 2: Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins Bd. I (1886), Nr. 1, Sp. 13. Text 3: A. Keller, Die Fremdwörter in . . . , in: a.a.O., Sp. 87. Text 4: Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins Jg. 21 (1906), Nr. 5, Sp. 151. Text 5: Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins Jg. 21 (1906), Nr. 12, Sp. 373/ 374. Text 6: R. Deinhardt, Die Sprache des Entwurfs zur Strafjprozeßordnung, in: Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins Jg. 23 (1908), Nr. 11, Sp. 327.

Bernd Ulrich

BIERE

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Schriftlichkeit und Mündlichkeit — Vereinheitlichung und Verständlichkeit Eine historisch-systematische Problemskizze 1. Zur Einführung 1.1 „Wiederentdeckung" der Geschichte als Nostalgie? Die „Perspektive" oder spezifische Problemorientierung, unter der wir historische Versatzstücke, Bruchstücke der Überlieferung zu einem für uns verständlichen Sinnzusammenhang zusammenfügen, ist zweifellos an unseren gegenwärtigen Problemen gewonnen. Wir „machen" Geschichte, indem wir sie uns in dieser sinnkonstitutiven Hinsicht verständlich und verfügbar machen. 1 Hierzu leisten die historisch-hermeneutischen Wissenschaften unter dem für sie charakteristischen „praktischen Erkenntnisinteresse" (Habermas) ihren professionellen Beitrag. Dies gilt in besonderem Maß für die Philologie, hat sie es doch mit dem ausgezeichneten Medium der Konstituierung, der Tradierung und der Rekonstruktion von Sinn, mit Sprache und deren je historischen Manifestationen in Akten der parole, d. h. in Texten, zu tun. Auch in den eher von einem nicht-philologischen Selbstverständnis geprägten Bereichen der Linguistik scheint die Geschichte als Thema „wiederentdeckt" zu werden. Das Rahmenthema des letzten Germanistentags zeigt diese Tendenz ebenso, wie eine Reihe neuerer linguistischer Arbeiten. 2 Wem fallt da nicht das 1

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Vgl. F. L. Ganshof, Was waren die Kapitularien? Weimar 1961: „Der Rechtshistoriker vermag seine Aufgabe nicht zu erfüllen, wenn er nur auf die zeitgenössischen Auffassungen zu den von ihm untersuchten Tatsachen verweist und sich nur dieser Auffassungen zur Deutung der Tatsachen bedient. Wenn er die Tatsachen wirklich verstehen und verständlich machen will, muß er sie in die Kategorien des modernen Rechtsdenkens einordnen." (S. 119) Siehe Th. Cramer (Hrsg.), Literatur und Sprache im historischen Prozeß. Vorträge des Deutschen Gemmanistentags Aachen 1982, Bd. 2: Sprache, Tübingen 1983; J. Gessinger, Sprache und Bürgertum. Zur Sozialgeschichte sprachlicher Verkehrsformen im Deutschland des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1980; B. Schlieben-Lange, Traditionen des Sprechens. Elemente einer pragmatischen Sprachgeschichtsschreibung, Stuttgart 1983; G. Presch, Zur begründung einer historischen pragmalinguistik, in: J. Klein/G. Presch (Hrsg.), Institutionen - Konflikte - Sprache, Tübingen 1981, S. 206-238; P. von Polenz, Sprachhandlungen

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Stichwort „Nostalgie"3 ein. In der Tat: der von Brigitte Schlieben-Lange und Joachim Gessinger geäußerte Verdacht, man habe es bei dem „Bedürfnis nach einer neuen historischen Perspektivierung" möglicherweise mit einer eher resignativen, „nostalgischen Hinwendung zur Geschichte"4 zu tun, ist nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Gerade deshalb lohnt es sich, im konkreten Fall nach dem spezifischen — meinetwegen wiederentdeckten — Interesse an bestimmten historischen, sprach- und sozialgeschichtlichen Problemstellungen zu fragen. Darüberhinaus sollten wir uns auch die Frage „von außen" gefallen lassen, wozu denn, außer für die Wissenschaft, eine solche „historische Perspektivierung" gut ist, auch wenn die „Relevanzfrage" heute mit deutlich anderen Untertönen als in den sechziger Jahren gestellt wird. (Schließlich „riecht" Geschichte für unsere Technologiefans doch wohl eher nach Museum und Elfenbeinturm). In einem ersten, einführenden Teil will ich diese Fragen exemplarisch für den in meinem Referat zur Diskussion stehenden Kontext .Verständlichkeitsforschung' wenigstens andeutungsweise zu beantworten versuchen, zumal es vielleicht auch einer Rechtfertigung bedarf, daß ich in der Sektion „Sprachkritik und Sprachbewertung" eine historisch-systematische Problemskizze vorstelle. Im zweiten und dritten Abschnitt werde ich die systematische Spannung zwischen Vereinheitlichung und Verständlichkeit bzw. zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit am Bereich des christlich-kirchlichen Lebens (2.1) und am Bereich des Rechtslebens (2.2) in karolingischer Zeit so weit historisch entfalten, daß sich daraus in einem letzten Teil wiederum systematische Konsequenzen für eine linguistische Verständlichkeitsforschung ziehen lassen. 1.2 Zur Funktion historischer Exkurse in einem systematischen Forschungszusammenhang In den linguistischen Arbeitsbereichen, in denen sich eine neue „historische Perspektivierung" andeutet, wie ζ. B. in der linguistischen Pragmatik (sei es als Pragmatisierung der Sprachgeschichtsschreibung, sei es als Historisie-

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in mittelalterlichen Dialogen, in: ZGL 9 (1981), S. 249-273; H. Sitta (Hrsg.), Ansätze zu einer pragmatischen Sprachgeschichte. Zürcher Kolloquium 1978, Tübingen 1980, um nur einige Arbeiten zu nennen, die in diese Richtung weisen. „Nostalgie" vielleicht gar als neues Berufsfeld für Germanisten? In Analogie zu einem wiedererwachten archäologischen Interesse, das sicherlich zu einem verstärkten Personalbedarf im Museumsbereich führen werde, sah Eberhardt Lämmert in seinem Eröffnungsvortrag hier durchaus Möglichkeiten. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 12 (1982), Heft 47: „Sprachgeschichte und Sozialgeschichte", Vorwort, S. 7.

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rung der Pragmatik), scheint das dort aufgrund einer zunächst ausschließlich synchronischen Problemorientierung empfundene historische Defizit offensichtlich nicht mehr durch schlichte arbeitsteilige Überweisung an die historischen Disziplinen oder durch Rezeption und Integration dort bereits vorliegender Forschungsergebnisse kompensiert werden zu können. Das (syn)chronische Unbehagen gegenüber einem durch und durch geschichtlichen Gegenstand 5 scheint vielmehr zu dem Versuch zu führen, die aus der jeweiligen systematischen Problemsicht für relevant gehaltenen historischen Phänomene zu selegieren und sie unter eben diesem „Vorverständnis" zu interpretieren. Wir können also sagen: es geht um die historische Rekonstruktion eines systematischen Problemverständnisses. In diesem Sinn kann der Ausgangspunkt für die (sprach)-historische Perspektive nicht die Frage nach der Zeit Karls des Großen als solcher, nicht die Frage nach der sog. „karolingischen Renaissance" oder nach der Entstehung einer deutschsprachigen Literatur sein. 53 Ausgangspunkt ist (für mich) vielmehr die Frage nach einem kategorialen Rahmen für eine linguistische Verständlichkeitsforschung. Die Entfaltung eines solchen Rahmens hat den Zweck, bestimmte Arten von Verständlichkeitsproblemen theoretisch angemessen explizieren und in einem zweiten Schritt möglichst ebenso angemessen „behandeln" zu können (wobei die „therapeutische Lesart" von behandeln mitgemeint ist). In einem solchen systematischen Problemkontext beginnt mich die Frage zu interessieren, ob die kommunikativen Bedingungen, unter denen ,Verständlichkeit' heute zu einem relevanten Problemtitel geworden ist, vielleicht nur eine mögliche historische Konstellation darstellen, unter der das Problem virulent werden kann. Damit eröffnen sich im Prinzip zwei Möglichkeiten, unsere Problemsicht zu relativieren bzw. unseren Problemhorizont zu erweitern: (i) die interkulturelle (ethnologische) und (ii) die historische Perspektive. Die historische Perspektivierung, von der hier ausschließlich die Rede sein soll, führt mich zu der Frage nach historischen Zusammenhängen, in denen (in einem zunächst relativ weit gefaßten Sinn) der Problemhorizont .Verständlichkeit' in je spezifischen historischen Erscheinungsformen bereits angedeutet, wenn nicht historisch präfiguriert ist.

Vgl. E. Coseriu, Vom Primat der Geschichte, in: Sprachwissenschaft 5 (1980), S. 125-145, der stichhaltig gegen die Vorherrschaft des strukturalistisch-synchronischen Paradigmas argumentiert, indem er im Anschluß an W. v. Humboldt Sprache als Kulturgegenstand ausweist, bei dem „das Werden zu ihrem Sein gehört": „Das Sein der Sprache ist im ursprünglichen Sinne Werden [...] Nur die Geschichte aber kann das Werden als Werden feststellen." (S. 143). 52 Natürlich soll damit nicht bestritten werden, daß auch dies sinnvolle Fragestellungen sind. Vgl. etwa P. von Polenz, Karlische Renaissance, Karlische Bildungsreform und die Anfange der dt. Literatur, in: Mitteilungsheft des Marburger Universitätsbundes 1959, Heft 1/2.

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Dabei muß ich zunächst noch eine Einschränkung zu dem machen, was „historisch" hier eigentlich heißt. Wenn ich nach systematisch relevanten Aspekten des Verständlichkeitsproblems im frühen Mittelalter suche, so verfahre ich lediglich kontrastiv, d. h. ich beanspruche nicht, eine historische Rekonstruktion im Sinn einer Problemgeschichte oder eine genetische Erklärung des Problems geben zu wollen. Was kann — so ist dann zu fragen - ein solches eingeschränktes historisch-kontrastives Verfahren leisten? Was können wir auf diese Weise aus der Geschichte lernen, soweit sie sich in diesem punktuell-kontrastiven Sinn überhaupt als „verstehbar" erweist? Ich denke, daß wir zwei Aspekte eines solchen Verfahrens hervorheben sollten: (i) Die Analyse eines historischen Problemzusammenhangs unter jeweils systematisch relevanten Aspekten muß in dem Sinn offen sein, daß sie die systematische Problemstellung nicht nur historisch paraphrasiert, sondern auch in der Lage ist, diese zu verändern; (ii) bei der Analyse historischer Manifestationen des Problems 6 werden wir auch auf historisch manifeste Versuche von geglückten oder gescheiterten Problemlösungen stoßen. Im Hinblick auf die Relevanzfrage können wir also sagen, daß die Suche nach historischen Problemmanifestationen auch eine Suche nach historischen Modellen für den kommunikativen Umgang mit relevanten Erscheinungsformen des uns systematisch interessierenden Verständlichkeitsproblems ist. 7 2. Zur Spannung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, Vereinheitlichung und Verständlichkeit am Beispiel des 8. und 9. Jahrhunderts Das Grundproblem öffentlich-politischer 8 Kommunikation zur Zeit Karls des Großen mag zunächst in einer den kommunikativen Austausch erschwe-

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Die Rede von „historischen Manifestationen" ist nicht so zu verstehen, als sollten „Probleme" zu Entitäten stilisiert werden, die unabhängig von Raum und Zeit existierten. Natürlich ist dann das theoretisch-methodische Problem zu diskutieren, wie wir überhaupt zu der Annahme kommen, zwei historisch differente Phänomene seien „Manifestationen" eines Problems, wenn es kein außerhalb je historischer Erscheinungsformen liegendes Vergleichs- oder Identitätskriterium gibt. Ich kann diese Probleme hier leider nicht weiter entfalten. Wenn wir dabei keine schlicht adaptierbaren „Musterlösungen" finden, so ist auch dies ein relevanter (und tröstlicher) Befund. Ohnehin ist Geschichte nicht in dem Sinn instrumentalisierbar, daß historische Modelle als konkrete Handlungsanweisungen für den individuellen Sprecher/Schreiber - Hörer/Leser zu denken wären. Der Ausdruck öffentlich-politisch ist an dieser Stelle theoretisch völlig unambitioniert. Wenn auch hier vielleicht an die „fundamentale Bedeutung des Öffentlichen für das Rechtsverständnis" im germanischen Rechtswesen bis in die frühe Neuzeit zu denken ist, so ist doch das im 18. Jahrhundert gebildete Substantiv Öffentlichkeit in einem ganz anderen Sinn auf

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renden Situation komplexer Mehrsprachigkeit gesehen werden. 9 Den in diatopischer Hinsicht abgrenzbaren Volkssprachen steht in diastratischer Hinsicht das Lateinische als Sprache des höheren Klerus, der Gelehrten und eines Teils des Hofes gegenüber. Mit dem Spannungsverhältnis von Volkssprache(n) und Latinität korrespondieren unsere thematischen Gegenüberstellungen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit einerseits und von Verständlichkeit und Vereinheitlichung andererseits. Anders gesagt: Das Spannungsverhältnis zwischen Volkssprache(n) und Latinität ist nicht ein „schlichtes" Problem diatopisch oder diastratisch verstandener Mehrsprachigkeit. Die in der Zeit Karls des Großen virulent werdende Verständlichkeitsproblematik gründet vielmehr in einem Spannungsverhältnis, in das Mündlichkeit und Schriftlichkeit insbesondere in einer Zeit „begrenzter Schriftlichkeit"10 geraten, die typische Formen „semi-oraler" Kommunikation11 ausbildet. Die mit der Spannung von Mündlichkeit (Volkssprache) und Schriftlichkeit (Latinität) verbundenen (macht-)politischen Implikationen schließlich, deren Tragweite insbesondere Karl der Große erkannt zu haben scheint, werden unter dem dritten, den praktisch-politischen oder kommunikativ-funktionalen Problemkontext umschreibenden Begriffspaar .Verständlichkeit-Vereinheitlichung' angesprochen.12

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die „Legitimationsproblematik der modernen Staaten" bezogen. Vgl. hierzu O. Brunner/ W. Conze/R. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Hist. Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978: „Öffentlichkeit". (Obige Zitate ebenda). Auch für die Probleme mehrsprachiger Gesellschaften oder supranationaler Gemeinschaften ließen sich hier vermutlich historische Modelle finden. Von der akademischen Linguistik scheinen solche praktisch-kommunikativen Probleme eher vernachlässigt worden zu sein. So befaßt sich mit der Frage sprachlicher Regelungen in polyglotten internationalen Gemeinschaften ein 1963 in Berlin gegründetes „Internationales Institut für Rechts- und Verwaltungssprache". Siehe zu den Aufgaben des Instituts den Kurzbeitrag seines Präsidenten A. Lane, Mehrsprachigkeit als internationales Problem, in: Diplomatisches Bulletin 44 (1972), Nr. 9, S. 6-8. Vgl. ferner G. Décsy, Die linguistische Struktur Europas, Wiesbaden 1973, sowie die relativ unbekannt gebliebene Arbeit von L. Weisgerber, Vertragstexte als sprachliche Aufgabe. Formulierungs-, Auslegungs- und Übersetzungsprobleme des Südtirol-Abkommens von 1946, Bonn 1961 ( = Sprachforum. Zeitschrift für angewandte Sprachwissenschaft. Beiheft Nr. 1). Siehe zum Begriff der „begrenzten Schriftlichkeit" F. Rörig, Mittelalter und Schriftlichkeit, in: Die Welt als Geschichte 13 (1953), 2 9 ^ 1 . Zum Begriff der „Semi-Oralität" und zu zwei f ü r den semi-oralen Bereich typischen „Modalitäten des Sprechens", Vorlesen und Protokollieren, siehe B. Schlieben-Lange, Traditionen des Sprechens, a.a.O., S. 48ff. Während ,Vorlesen' sicherlich als Instanz in einem semioralen Kommunikationszusammenhang anzusehen ist, scheint mir die sprachliche Handlung des Protokollierens eher als semi-literal charakterisiert werden zu müssen, als Form des Schreibens und nicht als Form des Sprechens. Auch dann müßte .Protokollieren' nicht als Texttyp beschrieben werden, sondern bliebe durchaus eine Handlungsmodalität. (Vgl. ebd., S. 48, einschl. Anm. 8). Siehe zu weiteren, die kulturgeschichtliche Situation charakterisierenden Oppositionen W. Haug, Schriftlichkeit und Reflexion. Z u r Entstehung und Entwicklung eines deutschsprachigen Schrifttums im Mittelalter, in: A. u. J. Assmann/Chr. Hardmeier (Hrsg.), Schrift

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Die sich hieraus ergebende Arbeitshypothese, für die ich sozusagen historische Evidenz beizubringen versuche, formuliert ein Dilemma: Auf der einen Seite erscheint Verständlichkeit nur erreichbar im Medium volkssprachlicher Mündlichheit, während auf der anderen Seite Vereinheitlichung (zumindest in dem exemplarisch zu besprechenden Bereichen des christlich-kirchlichen Lebens (2.1) und des Rechtslebens (2.2)) nur erreichbar erscheint im Medium lateinischer Schriftlichkeit. Die Leitfrage der beiden folgenden (historisch-systematischen) Abschnitte muß demnach lauten: Lassen sich typische, in der Zeit Karls des Großen historisch manifeste Formen des kommunikativen Umgangs mit diesem offensichtlichen Dilemma aufzeigen und welche - dies führt bereits zur Leitfrage des letzten Abschnitts - systematischen Konsequenzen lassen sich daraus möglicherweise ziehen? 2.1 Der christlich-kirchliche Bereich: die Taufgelöbnisse Es ist bekannt, daß Karl der Große der christlich-kirchlichen Bildung, dem „Glaubensunterricht für das Volk" große Bedeutung beigemessen hat.13 Was vorderhand als Bildungs-, Schul- und Kulturpolitik, als „karolingische Renaissance"13" erscheint und weitgehend über kirchliche Instanzen vermittelt ist, dient angesichts der Verflechtung kirchlicher und realpolitischer Interessen in irgendeiner Form immer auch der Sicherung von Herrschaft. In einem Reich, dessen politischer, von der Francia als Zentrum ausgehender Einheitsgedanke in den anderen Reichsteilen (Germania, Aquitania, Italia) im Selbstbewußtsein der unterschiedlichen Volksstämme nur schwer zu verankern war, ist der Versuch unverkennbar, in allen relevanten Bereichen des öffentlich-politischen Lebens allmählich auch eine bewußtseinsmäßige Grundlage für den Einheitsgedanken zu schaffen.14

und Gedächtnis, München 1983, S. 141-149. Haug nennt neben „Lateinisch gegenüber Vulgärsprachlich" und „Schriftlich gegenüber Mündlich" noch „Geistlich gegenüber Profan", „Klerikal gegenüber Laikai", „Gelehrt gegenüber Ungelehrt" (S. 142). 13 Siehe etwa P. Riché, Die Welt der Karolinger, Stuttgart 1981, Kap. II; J. Fleckenstein, Die Bildungsreform Karls des Großen als Verwirklichung der norma rectitudinis, Bigge/Ruhr 1953. 13a Den Begriff der „Renaissance" problematisiert S. Hellmann, Ausgewählte Abhandlungen zur Historiographie und Geistesgeschichte des Mittelalters, hrsg. v. H. Beumann, Weimar 1961 („Einhards literarische Stellung"), S. 191 f. Sein Vorschlag: „karolingische Regenerationsbewegung". 14 In diesem realhistorischen Zusammenhang ist natürlich auch das sprachgeschichtliche Phänomen von Vereinheitlichungstendenzen in Richtung auf ein überregionales „Althochdeutsch" zu verorten. Siehe unter sprachgeschichtlichem Interesse St. Sonderegger, Tendenzen zu einem überregional geschriebenen Althochdeutsch, unter realhistorischem Interesse K. H. Rexroth, Volkssprache und werdendes Volksbewußtsein im ostfränkischen Reich; beide Beiträge in: H. Beumann/W. Schröder (Hrsg.), Aspekte der Nationenbildung im Mittelalter, Sigmaringen 1978, S. 229-273 bzw. 275-315.

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Ein den Einheitsgedanken entscheidend mittragender Bereich ist der — neben dem Rechtsbereich ebenfalls starkem Normierungsdruck unterworfene - christlich-kirchliche Bereich. Hier geht es letztlich um die langfristige Sicherung des durch politisch-militärische Unterwerfung und christliche Mission erreichten kirchlich-politischen Ziels der mit Beendigung der Sachsenkriege (776) bis an Weser und Elbe vorangetragenen Christianisierung. Gingen die Franken hier bereits in der typischen Reihenfolge vor: „Unterwerfung unter den siegreichen Herrscher und anschließende Taufe als Unterwerfung unter den stärkeren Gott", so muß die Taufe in der Regel wohl bereits „nach allerknappster Unterrichtung und der Ablegung des Glaubensbekenntnisses", d. h. in einer „von der Katechumenenpraxis der alten Kirche kraß abweichende(n) Belehrungs- und Taufpraxis" 15 vollzogen worden sein. Ein tieferes Verständnis des neuen Glaubens zu vermitteln, bliebe somit dem „Glaubensunterricht" in nach-missionarischer Zeit vorbehalten. Gerade dieser Vermittlungsprozeß ist jedoch von Anfang an durch einen latenten Konflikt gekennzeichnet: auf der einen Seite steht die explizite Forderung nach volkssprachlicher Vermittlung zentraler Teile des Glaubens, auf der andern Seite steht die ebenso explizite, mit dem „Verständlichkeitspostulat" konfligierende Forderung nach liturgischer Vereinheitlichung, die nur im Rahmen der schriftsprachlichen Tradition des Lateinischen erreichbar erscheint. Eine spezifische historische Ausprägung dieser für die Verständlichkeitsproblematik, wie ich meine, auch im systematischen Sinn konstitutiven Spannung zwischen Vereinheitlichung (Generalisierung) und Verständlichkeit (Individualisierung) soll in diesem Abschnitt am Beispiel der uns überlieferten altdeutschen Taufgelöbnisse 16 und der Fortbildung ihres Textes in nachmissionarischer Zeit näher untersucht werden.

15

16

R. Schneider, Das Frankenreich, München/Wien 1982 ( = Grundriß der Geschichte, Bd. 5), S. 139. Siehe zu den altdeutschen Taufgelöbnissen besonders derç altgermanistischen Beitrag von G. Baesecke, Die altdeutschen Taufgelöbnisse, in: ders., Kleinere Schriften zur althochdeutschen Sprache und Literatur, hrsg. von W. Schröder, Bern/München 1966, S. 343-347, mit einer instruktiven Textsynopse; zum altwestfälischen Taufgelöbnis W. Foerste, Untersuchungen zur westfälischen Sprache des 9. Jahrhunderts, Marburg 1950, Kap. II und A. Lasch, Das altsächsische Taufgelöbnis, in: Neuphilologische Mitteilungen 36 (1935), S. 92-133. Unsere Textwiedergabe folgt der Sammlung von E. von Steinmeyer, Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler, Berlin/Zürich 1963 (1. Aufl. 1916), S. 23 u. S. 20 für das fränkische sächsische Tg. und dem Abdruck bei Foerste, Untersuchungen, a. a. O., S. 90 f. für das altwestfalische Tg. Eine gute Edition der ersten beiden Tg. bereits bei A. F. Maßmann, Die deutschen Abschwörungs-, Glaubens-, Beicht- und Betformeln vom 8. bis zum 12. Jahrhundert, Quedlinburg/Leipzig 1839 (Nachdruck Hildesheim 1969), S. 67 („Abrenuntiatio Diaboli") und S. 68 („Interrogatio fidei"). Leichter zugänglich und zuverlässig auch der Abdruck aller drei Tg. bei W. Braune/K. Helm, Althochdeutsches Lesebuch,

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Fränkisches Taufgelöbnis Forsahhistu unholdun? Ih futsahu. Forsahhistu unholdun uuerc indi uuillon? Ih fursahhu. Forsahhistu allem them bluostrum indi den gelton indi den gotum, thie im heidene man zi bluostrum indi zi geldom enti zi gotum habent? Ih fursahhu. Gilaubistu in got fater almahtigan? Ih gilaubu. Gilaubistu in Christ gotes sun nerienton? Ih gilaubu. Gilaubistu in heilagan geist? Ih gilaubu. Gilaubistu einan got almahtigan in thrinisse inti in einisse? Ih gilaubu. Gilaubistu heilaga gotes chirichun? Ih gilaubu. Gilaubistu thuruh taufunga sunteono forlaznessi? Ih gilaubu. Gilaubistu lib after tode? Ih gilaubu. Sächsisches Taufgelöbnis Forsachistu diobolae? et respondet: ec forsacho diabolae. end allum diobolgelde? respondet: end ec forsacho allum diobolgeldae. end allum dioboles uuercum? respondet: end ec forsacho allum dioboles uuercum and uuordum, Thunaer ende Uuoden ende Saxnote ende allum them unholdum, the hira genotas sint. gelobistu in got alamehtigan fadaer? ec gelobo in got alamehtigan fadaer. gelobistu in Crist, godes suno? ec gelobo in Crist, gotes suno. gelobistu in halogan gast? ec gelobo in halogan gast. Das altwestfälische Taufgelöbnis Farsakis thu unaholdon? Farsaku. Farsakis thu unaholdon uuerkon endi uuillion? Farsaku. Farsakis thu allon hethinussion? Farsaku. Farsakis thu allon hethinon geldon endi gelpon, that hethina man te geldon ende te offara haddon? Farsaku. Gilouis thu an god fader alomahtigan? Gilouiu.

Tübingen 1958 (13. Aufl.), S. 38 f. Hier werden altsächsisches und altwestf. Tg. korrekt als niederdeutsche Tg. zusammengefaßt. P. v. Polenz hat mich zu Recht darauf hingewiesen, daß der Begriff der „Individualisierung" in diesem Zusammenhang zu „modern" ist und z. B. durch „Partikularisierung" oder „Regionalisierung" (s. u.) zu ersetzen wäre.

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Bernd Ulrich Biere Gilouis thu an thena helagon godas sunu, that he geboren endi gemartyrod uuari? Gilouiu. Gilouis thu an thena helagon gest endi an thia hilagon samunga endi helagaro gimenitha, fleskas astandanussi, that thu an themo fleska, the thu nu an bist te duomesdaga gistandan scalt endi gilouis thu livas ahtar dotha. Gilouiu. Sequitur hic; Suffla in faciem et die hanc orationem: Exi ab eo immunde spiritus et redde honorem deo vivo et vero.

In dem oben angesprochenen Konflikt tragen die vorliegenden Taufgelöbnisse als volkssprachliche Übersetzungen17 zunächst offenbar der Seite der Verständlichkeit Rechnung, wenngleich sie, wie im folgenden zu zeigen sein wird, im Laufe des 8. und 9. Jahrhunderts, d. h. eindeutig in nachmissionarischer Zeit18, Veränderungen unterworfen werden, die gleichermaßen auf Vereinheitlichung wie auf Verständlichkeit abzuzielen scheinen.

17

18

Zweifelsohne handelt es sich um Übersetzungen aus dem Lateinischen, auch wenn strittig ist, ob alle drei altdeutschen Formeln auf eine einzige „UrÜbersetzung" einer einzigen lat. Vorlage zurückzuführen sind. Vgl. zu den Problemen der Handschriftenverwandtschaft das Stemma bei Baesecke, Die altdt. Tg., a. a. O., S. 346. Es existierten aber auf jeden Fall z. T. recht unterschiedliche lateinische Formulare, auf deren Basis Foerste, Untersuchungen, a.a.O., gegen Baeseckes „Urübersetzungshypothese" argumentiert. Liturgiegeschichtliche Details bei P. de Puniet,,Baptême', in: Dictionnaire d'archéologie chrétienne et de liturgie, Bd. 2,1 oder in der zweibändigen Arbeit von F. Kattenbusch, Das apostolische Symbol, Darmstadt 1962. Die Grundform der lat. Tg. ist zweiteilig (abrenuntiatio und confessici), jeder Teil wiederum dreigliedrig im Frage-Antwort-Schema: Abrenuntias satanae? Abrenuntio. Et omnibus operibus eius? Abrenuntio. Et omnibus pompis eius? Abrenuntio. Credis in patrem Deutn omnipotentem? Credo. Credis in Christum filium Dei? Credo. Credis in sanctum spiritum? Credo. Nach Baesecke soll es allderings „nach gewissen Zeugnissen schon in den Zeiten des Bonifaz ein natürlich auf einer kirchlich-lateinischen Formel beruhendes, verdeutschtes Taufgelöbnis" (Baesecke, Die altdt. Tg., a. a. O., S. 343) gegeben haben. Selbstverständlich war bereits die Mission mit Übersetzungs- bzw. Verdolmetschungsproblemen konfrontiert. Sprachtheoretisch reflektiert dies bereits Herder, wenn er dem im Glauben an den göttlichen Ursprung der Sprache gegründeten Optimismus Süßmilchs entgegenhält: „Konnten die Mißionarien sich überall gleich leicht ausdrukken, oder hat man nicht das Gegentheil aus allen Weltheilen gelesen? Und wie druckten sie sich denn aus, als daß sie ihren neuen Begriffen der Sprache nach Analogie derselben anbogen? (Sämtl. Werke, hrsg. von Suphan 1891, Bd. V, S. 82).

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Daß nun in nach-missionarischer Zeit, d.h., unter den Vorzeichen einer kirchlich-christlichen „Volkserziehung" in zunehmendem Maße „Verdeutschungen" im Bereich katechetischer und homiletischer Literatur entstehen, wird im Hinblick auf zwei realgeschichtliche Momente unmittelbar plausibel. Zum einen ist die in quasi gesetzgeberischen Akten und Texten (ζ. B. in entsprechenden Kapitularien) manifeste kaiserliche Forderung nach volkssprachlicher Verkündigung unüberhörbar geworden. 19 (Auch wenn nicht ausdrücklich auf die Erstellung schriftlicher Ubersetzungen abgehoben wird, können wir annehmen, daß die entsprechenden Belege wohl auch als Aufforderungen zu vermehrter übersetzerischer Aktivität verstanden worden sind.) Zum anderen ist die für diese Aktivität notwendige theologisch-dogmatische Voraussetzung spätestens mit der Frankfurter Synode von 794 geschaffen, indem dort anerkannt wird, daß Gott in allen Sprachen gleichermaßen angebetet werden könne. 20 Unter diesem historisch manifesten Impetus des Verständlichmachens können wir die altdeutschen Taufgelöbnisse als ausgezeichnetes Beispiel für den im Kontext der (Nach-) Christianisierung historisch notwendig gewordenen Versuch ansehen, der Übersetzungsaufgabe als Aufgabe des Erklärens und Verständlichmachens eine neue, über das übersetzungstechnische Niveau der Glossare und frühen Interlinearversionen hinausgehende Dimension zu gewinnen. 21 Dies wird besonders deutlich, wenn wir die spezifischen Veränderungen und Erweiterungen in den Texten betrachten. Auch wenn wir dahingestellt sein lassen, ob solche Erweiterungen unter erneuter übersetzerischer

19

So fordert etwa Cap. 70 der sog. Admonitio genralis von 789 von den Priestern, daß sie nicht nur selbst die liturgisch zentralen Stücke, Paternoster, Glauben etc., in lateinischer Sprache lesen und verstehen konnten, sondern auch für alle verständlich predigen konnten, damit jeder wisse, was er zu Gott bete: „ut quisque sciat quidpetat a Deo" (MGH, Leg. Sect. II: Cap. regn. Franc. I, S. 59). Alkuin schreibt 793 an Karl, die Benediktinerregel werde im Konvent der Klosterbrüder des öfteren vorgelesen und ,,propria lingua exponatur, ut intellegi possie ab ominibus" (MGH Epist. IV, S. 54). In den Statuta sancti Bonifatii heißt es: „Nullus sit presbjter qui in ipsa lingua, qua nati sunt, bapti^andos, abrebuntiationes vel confessiones aperte interrogare non studeat, ut intelligant quibus abrenuntiant" (P. L., 89, S. 822, XXVII). Konzil von Reims, 813, Cap. XV: „Ut episcopi sermones et omelias sanctorumpatrum, prout intellegerepossent, secundum proprietatem linguae praedicare studeant" (MGH, Leg. sect. III: Cncilia II, 1, S. 255). Konzil von Tours, 813, Cap. XVII: „Et ut easdem omelias quisque aperte transferre studeat in rusticam Romanam linguam aut Tbiotiscam, quo facilius cuncti possint intellegere quae dicuntur" (MGH, Leg. sect. III: Concilia II, 1, S. 288).

20

„Ut nullus credat, quod nomisi in tribus Unguis Deus orandus sit, quia in omni lingua Deus adoratur et homo exauditur, si iusta petierit" (MGH, Leg. sect. II: Cap. regn. Franc. I, S. 78). In diesem am historischen Modell entwickelten Sinn könnte der Begriff des Übersetzens paradigmatisch werden auch für die systematisch begriffene Aufgabe des Verständlichmachens. Zur Frage der übersetzungstechnischen Einordnung der Taufgelöbnisse vgl. St. Sonderegger, Althochdeutsche Sprache und Literatur, Berlin/New York 1974, S. 102; Sonderegger ordnet sie einer Zwischengruppe zu, den sog. „interlinearartigen" Texten.

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Reflexion auf den ursprünglich zugrundegelegten lateinischen Ausgangstext erfolgt sind, also so etwas wie verbesserte Neu-iibersetzungen darstellen, oder ob sie als rein exegetische Klärungs- und Konkretisierungsversuche auf der Basis der vorliegenden Verdeutschung zu verstehen sind, wird die Struktur des Konflikts zwischen Vereinheitlichung und Verständlichkeit hinreichend transparent. Liturgische Vereinheitlichung im Sinne einer Anpassung der Taufliturgie an den sog. Ordo Romanus war, wie gesagt, zweifellos eines der auf quasi gesetzgeberischem Wege verfolgten kirchenpolitischen Ziele Karls des Großen. 22 Diesem Willen zur Vereinheitlichung steht auf der anderen Seite der „empirische Geist" Karls entgegen, der die Vielfalt liturgischer Praktiken in den Teilen seines Reiches allererst zu eruieren, eine Basis von Regeln zu ermitteln trachtet, über der entsprechende Normierungen operieren könnten. 23 In dem Maße aber, in dem Karls Fragen 24 nach bestimmten liturgischen Praktiken von den lokalen Adressaten (Bischöfen etc.) als Aufforderung verstanden werden, die einschlägigen liturgischen Texte mit ihren, entsprechend den unterschiedlichen Praktiken notwendig sehr unterschiedlich ausfallenden, individuellen Antworten auf die zentral gestellten Fragen anzureichern, ist von der Idee der Vereinheitlichung faktisch wenig zu spüren. Es entsteht vielmehr das historische Bild sprachlich und sachlich unterschiedlicher Taufgelöbnisse und dies — paradoxerweise — aufgrund des nachweislichen Versuchs einer liturgischen Vereinheitlichung. Mit jener der Vereinheitlichung entgegengesetzten Tendenz wird einer Gruppe von Verständlichkeitskriterien Rechnung zu tragen versucht, die, um den Begriff der Adressatenbezogenheit gruppiert, eine weitgehende Individualisierung der Textformulierung anstreben. ,Individualisierung' kennzeichnet freilich nur ein Extrem der adressatenbezogenen Textformulierung, das der Funktion nicht nur mehr oder weniger normativer Arten von Texten,

22

23

24

Adm. gen. (789), Cap. 70: „ut fidem rectum teneant et baptisma catholicam observent [...]" (MGH, Leg. sect. II: Cap. regn. Franc. I, S. 59); Duplex Legationis Edictum (789), Cap. 23: „Ut audiant episcopi baptisterium presbyterorum, ut secundum morem Romanorum baptisent" (MGH, Leg. sect. II: Cap. regn. Franc. I, S. 64); Conc. Moguntinense (813), Cap. IV: „concorditer atque uniformiter in singulis parrochiis secundum Romanum ordinem inter nos celebretur iugiter atque conservetur [...] (MGH, Leg. sect. III: Concilia II, 1, S. 261). Zur Unterscheidung von „Regeln" und „Normen" in dem hier intendierten Sinn R. Wimmer, Sprachliche Normen, in: H. J. Heringer/G. Öhlschläger/B. Stecker/R. Wimmer, Einführung in die Praktische Semantik, Heidelberg 1977, S. 40-59, P. L. 99, S. 892; „Nosse namque per tua scripta, aut per te ipsum volumus, qualiter tu et suffraganei tui doceatis et instruatis sacerdotes Dei [ e t ] plebem vobis commissam de baptismo sacramento." Siehe auch F. Wiegand, Die Stellung des apostolischen Symbols im kirchlichen Leben des Mittelalters, I, Leipzig 1899, bes. § 15-17, sowie das Antwortschreiben des Erzbischofs von Mailand, ediert bei F. Wiegand, Erzbischof Odilbert von Mailand über die Taufe. Ein Beitrag zur Geschichte der Taufliturgie im Zeitalter Karl des Großen, Leipzig 1899 (Aalen 1962).

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sondern des schriftlichen Textes überhaupt zuwiderläuft und allenfalls im Bereich dialogisch-privater Formen des Sprachgebrauchs, wie wir sie fast ausschließlich in der mündlichen Rede finden, zum Tragen kommen kann. So behalten die Taufgelöbnisse natürlich ihren normativen Charakter als liturgische Texte, d.h. sie beanspruchen mindestens für ein bestimmtes Missionsgebiet Gültigkeit. Sie erhalten jedoch eine, auf die jeweilige lokal begrenzte Adressatengruppe bezogene, spezifische Form, und reflektieren somit das unter Verständlichkeitsgesichtspunkten relevante Vorwissen der Adressaten, ihren Lebenszusammenhang usw. So finden wir im as. Tg. auf die 3. Abschwörungsfrage die über die bloß respondierende Wiederaufnahme der Frageformel hinausgehende Antwort: „end ec forsacho allum diaboles uuercum and uuordum, Thunaer ende Uuoden ende Saxnote ende allum them unboldum, the hira genotas sint." Nur in dieser altsächsischen Formel werden - offensichtlich an spezifischen Bedürfnissen der Sachsenmission orientiert — die drei germanisch-sächsischen, heidnischen Hauptgötter explizit genannt. Ihre offenbar auch nach erfolgter Missionierung für notwendig gehaltene explizite „Bannung" mag die durch das dreifache Bekenntnis zu Gott-Vater, Sohn und Heiligem Geist neu zu füllende „Leerstelle" 25 schaffen; vielleicht haben wir es hier aber auch mit der schlichten „Erfüllung" der kaiserlichen Aufforderung zur Konkretisierung „leerformelverdächtiger" Textstücke zu tun. Karl hatte in den „Capitula de Causis cum Episcopis et Abbatibus tractandis" von 811 nämlich u. a. nach den Teufeln gefragt, denen wir in der Taufe abschwören: „quis sit ille Satanas sive adversarias cuius opera vel pompam in baptismo renunciavimus"26. Im Konflikt zwischen Verständlichkeit und Vereinheitlichung scheint also der Versuch, eine einheitliche liturgische Praxis herzustellen im Fall der Taufgelöbnisse letztlich zu scheitern. Und dies — wie ich meine - aus systematischen Gründen. Die von Karl als (empirische) Grundlage einer

25

26

Im jüngeren, fränkischen Tg. findet sich bereits eine eigene Trinitätsfrage („Gilaubistu einan got almahtigan in thrinisse inti in einisse?'). Der Schritt von der Götterdreiheit zur Dreieinigkeit könnte im as. Tg. durchaus vorbereitet sein. MGH, Leg. sect. II: Cap. regn. Franc. I, S. 163. Auch andere „Ermahnungen" Karls finden in den Taufgelöbnissen eine Entsprechung; so z. B. der Gedanke der leiblichen Auferstehung im awf. Tg. („that thu an themo fleska, the tbu nu an bist te duomesdaga gistandan s c a l f ) : „Item diligenter praedicandum est de resurrectione mortuorum, ut sciant et credant, in iisdem corporibuspremia meritorum accepturos" (MGH, Leg. sect. II: Cap. regn. Franc. I, S. 61) oder die Frage nach den pompae diaboli: „quid sit abrenuntiatio, vel quae opera diaboli etpompae" (P. L. 99, S. 892) der in den Tg. durch unterschiedliche Übersetzungsversuche zu entsprechen versucht wird (bluostrum, diabolgelde, hethinussiori). An diesen und anderen Beispielen argumentiert auch W. Betz für die Annahme einer „erklärenden Übertragung" im Gegensatz zu einer übereilten Konstatierung von „Übersetzungsfehlern" (W. Betz, Karl der Große und die Lingua Theodisca, in: W. Braunfels (Hrsg.), Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben. Bd. 2, hrsg. von B. Bischoff, Das geistige Leben, Düsseldorf 1965, S. 300-306).

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Vereinheitlichung (Normierung) geforderten „Erklärungen" mußten — konnte er es anders erwarten? - entsprechend der unterschiedlichen lokalen, sprachlich-liturgischen Praktiken zu unterschiedlichen Antworten führen. Was freilich nicht unbedingt zu erwarten war: daß die Anfragen Karls offenbar auch als Aufforderung verstanden worden sind, die gewünschten theologischen Erklärungen unmittelbar in den liturgisch relevanten Text „einzubauen", wie es im Fall der Taufgelöbnisse offenbar geschehen ist. So führt der Impuls der Vereinheitlichung zunächst also zu dem paradoxen Ergebnis sprachlich und sachlich differierender Texte. Das systematisch entscheidende Mißverständnis, durch das dieses Ergebnis entsteht, liegt m. E. darin, daß hier eine im Prinzip im Bereich der Mündlichkeit anzusiedelnde Erklärungsaufgabe unmittelbar auf die Ebene des schriftlichen Textes durchschlägt. Trotzdem ist mit den volkssprachlichen Taufgelöbnissen natürlich nicht eine Verschriftlichung der dialogisch-mündlichen Situation, in der sich Täufer (Missionar, Priester) und Täufling gegenüberstehen, intendiert. Der schriftliche Text bleibt eingebettet in einem semi-oralen Kommunikationsprozeß, dessen „Semi-Oralität" nicht nur auf die mündliche Aktualisierung eines schriftlichen Textes (Vorlesen der Frageformeln), sondern auch auf die unterschiedlichen Kompetenzen der Dialogpartner zu beziehen ist: der schriftlich-lateinischen Kompetenz des Missionars oder Priesters steht die mündlich-volkssprachliche Kompetenz des Täuflings gegenüber, zwischen denen ein schriftlich-volkssprachlicher Text gewissermaßen vermittelt. Die in der schriftlichen Ubersetzung für die Volkssprache neu gewonnene Dimension der Schriftlichkeit repräsentiert für den Missionar und Priester, den „Litteratus",26" die fremde Volkssprache in dem seiner sprachliche Erfahrung vertrauten schriftsprachlichen Medium. Die „Benutzung" des schriftlichen Taufformulars ist ausschließlich für den Missionar möglich; er allein beherrscht die schriftsprachliche Form, kann gewissermaßen „vom Blatt sprechen". Die Antworten des Täuflings dagegen müssen in einer im Prinzip mündlichen Instruktionssituation memoriert worden sein; für den in der Mündlichkeit der jeweiligen Volkssprache lebenden Täufling ist die schriftsprachliche Form kommunkativ zunächst völlig irrelevant. In der Semi-Oralität bleibt die Volkssprache also zunächst auch dort, wo erste schriftliche Formen von Übersetzern, die bereits in einer schriftsprachlichen (lateinischen) Tradition stehen, geschaffen werden, an typische Funktionen der Mündlichkeit, wie hier an die Erklärungsfunktion gebunden. In dem Maße, in dem die so entstandenen volkssprachlich-schriftlichen Texte die mündliche Erklärungsfunktion ins Medium der Schriftlichkeit zu trans-

26a

Vgl. zur Opposition ,Litteratus - Illitteratus' die Arbeit von H. Grundmann, Litteratus — Ulitteratus. Der Wandel einer Bildungsform vom Altertum bis zum Mittelalter, in: Archiv für Kulturgeschichte 40 (1958), S. 1-65.

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ponieren versuchen, bleiben sie, bezogen auf die sprachlich-kommunikativen Voraussetzungen der jeweiligen Adressatengruppe, in diatopischer wie in diastratischer Hinsicht notwendig partikularistisch. Sie reflektieren die Verständlichkeitsmaxime, vernachlässigen jedoch damit zugleich die Vereinheitlichungsfunktion der Schrift. Die einheitliche Schriftsprache bleibt zunächst das Lateinische und dieses bleibt, wie die Schriftlichkeit überhaupt, bis ins beginnende 12. Jahrhundert Monopol der Kirche. 2.2 Der Rechtsbereich: die Kapitularien In dem zweiten, für die Verständlichkeitsproblematik historisch wie systematisch relevanten Bereich, den wir hier näher untersuchen wollen, im Bereich des Rechtslebens, finden wir zur Zeit Karls des Großen zwei zentrale Arten von Texten vor: die Leges Barbarorum und die Kapitularien. Die Kapitularien sind durchweg lateinische Texte. Ein dem althochdeutschen Lex-Salica-Bruchstück vergleichbares volkssprachliches Kapitular hat es so vermuten die Historiker - wahrscheinlich nie gegeben.27 Auch der für die Leges charakteristische Anteil volkssprachlicher Paraphrasierungen findet in den Kapitularien kaum eine Parallele.28 Dieser unterschiedliche Befund erscheint unmittelbar einleuchtend. War doch die lex scripta (nachträgliche) Kodifizierung eines in mündlicher, stammessprachlicher Tradition lebendigen Rechts, das nicht erst durch die lex scripta als rechtsetzendem Akt Gültigkeit erlangt. Das schriftlich-lateinisch zu Kodifizierende ist bereits in vorgängiger Mündlichkeit als Volks- oder Stammesrecht rechtskräftig und -wirksam. 29 Dem „stammesrechtlichen" Charakter des Leges läßt sich der „königsrechtliche" Charakter der Kapitularien mit territorialer Geltung gegenüberstellen. Das Kapitular30 hat keine nachträglich-kodifizierende, sondern eine rechtset^ende Funktion, obwohl die Rechtskraft formal nicht durch den schriftlichen Text als solchen, sondern durch den wiederum mündlichen 27 28

29

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So etwa Ganshof, Was waren die Kapitularien, a.a.O., S. 86. Vgl. R. Schmidt-Wiegand, Stammesrecht und Volkssprache in karolingischer Zeit, in: H. Beumann/W. Schröder (Hrsg.), Aspekte der Nationenbildung, a.a.O., S. 179ff. Das Merkmal der Schriftlichkeit scheint für den Begriff der Leges allerdings nicht konstitutiv zu sein. So ist etwa von der Lex Salica, ohne den Zusatz scripta, auch für den Bereich des mündlich tradierten Stammesrechts die Rede. Vgl. zu dieser Diskussion N. Nehlsen, Zur Aktualtität und Effektivität germanischer Rechtsaufzeichnungen, in: P. Classen (Hrsg.), Recht und Schrift im Mittelalter, Sigmaringen 1977, S. 449-502. Als „Kapitularien" kann man „Erlasse der Staatsgewalt" bezeichnen, „deren Text gemeinhin in Artikel (capitula) eingeteilt war, und deren sich mehrere karolingische Herrscher bedient haben, um Maßnahmen der Gesetzgebung oder der Verwaltung bekanntzumachen" (Ganshof, Was waren die Kapitularien, a.a.O., S. 13). Eine leicht modifizierte Definition bei R. Schneider, Schriftlichkeit und Mündlichkeit im Bereich der Kapitularien, in: P. Classen (Hrsg.), Recht und Schrift, a.a.O., S. 261.

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Akt der Verkündung einzutreten scheint. Aber nicht nur in der formalen Verkündung spielt die Ebene der Mündlichkeit gewissermaßen in den schriftlichen Text hinein. Gerade die für die Ebene der Schriftlichkeit zu konstatierende durchgängige Latinität läßt uns unter der Leitfrage nach dem Verständlichkeitsproblem auf einen kommunikativen Zusammenhang stoßen, in dem die Aufgabe des Übersetzens und Erklärens, des Verständlichmachens, quasi institutionalisiert angegangen wird. Der missionarischen oder priesterlichen Verkündigungsaufgabe in der Predigt „vor Ort" vergleichbar, finden wir im Bereich der Kapitulariengesetzgebung das „Institut der missi dominici" 31 , der Königsboten, denen die Aufgabe der Verkündung, Bekanntmachung und Erläuterung der kaiserlichen Anordnungen „vor Ort" zukam. „Vor Ort", das ist eben jener Ort, an dem die prinzipielle Spannung zwischen Schriftlichkeit und Latinität des Kapitularientextes auf der einen und der Mündlichkeit der bei den Adressaten allein verständlichen Volkssprache32 im quasi-didaktischen Impetus des Erklärens und Verständlichmachens tendenziell aufzuheben ist. Aber betrachten wir zunächst die Funktion des lateinisch-schriftlichen Textes selbst und seinen Entstehungszusammenhang. Nur wenn auf der Grundlage geschriebener Gesetze geurteilt werden kann - diesen Gedanken finden wir in den Kapitularien des öfteren ausgesprochen - sind Willkürentscheidungen einzelner Richters, Grafen oder Schöffen wirksam einzudämmen. 33 Mit der Bindung des Richters an geschriebenes, an kodifiziertes Recht ist auf lange Sicht die Trennung von rechtsschöpfender und rechtsanwendender Funktion vorgeprägt, wobei dem Richter allenfalls eine gewisse Funktion der Rechtsfortbildung erhalten bleibt. 34 Vereinheitlichung erscheint im Bereich der Kapitularien also als eine Art königsrechtliches Gerechtigkeits- oder Gleichbehandlungsprinzip. Auch hier — vielleicht noch deutlicher als im religiös-kirchlichen Bereich - geraten wir zwangsläufig in ein Dilemma. Die Idee der Vereinheitlichung erscheint angesichts volkssprachlicher Vielfalt nur in schriftsprachlicher Latinität realisierbar. Auf der anderen Seite erscheint die Verständlichkeitsmaxime unter den gegebenen Kommunikationsbedingungen nur realisierbar in der Mündlichkeit der je-

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33

34

Zum Institut der missi siehe im einzelnen: V. Krause, Geschichte des Instituts der missi dominici, in: Mitteilungen des Institus für österreichische Geschichtsforschung, II, 1890, S. 193-300. Im Fall der volkssprachlichen Paraphrasierungen der Leges wirkt eben diese Spannung in den schriftlichen Text selbst hinein. Vgl. R. Schmidt-Wiegand, Stammesrecht, a.a.O., S. 174. So etwa in der berühmten Vorschrift Karls des Großen im Capitulare missorum generale von 802: „Ut iudices secundum scriptam legem ¡uste iudicent, non secundum arbitrium suum" (MGH, Leg. sect. II: Cap. regn. Franc. I, S. 96 (Nr. 33, c. 26)). Vgl. hierzu aus juristischer Sicht D. Horn, Rechtssprache und Kommunikation, Berlin 1966, S. lOff.

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weiligen Volkssprache. Wie man dieses Dilemma historisch zu bewältigen versucht hat, läßt sich in dem Maße erhellen, in dem es uns gelingt, einen kommunikativen Gesamtkontext zu rekonstruieren, in den sich der in der Textüberlieferung zunächst isoliert erscheinende Text der Kapitularien einrücken läßt. Lenken wir unser historisch-systematisches Interesse vom isolierten Textexemplar zurück zu dem komplexen Interaktions- und Kommunikationszusammenhang, in dem Texte wie die Kapitularien entstehen, verkündet und bekanntgemacht, verbreitet werden, so wird erneut ein spannungsvolles Zusammenspiel von Fuktionen der Schriftlichkeit und Funktionen der Mündlichkeit deutlich. Die Frage, ob die Gültigkeit des Rechts durch den schriftlichen Text oder allein durch den mündlichen Akt der Verkündigung als eigentlich rechtsetzendem Akt verbürgt werde, mag rechtshistorisch interessant erscheinen.35 Mit der Konzentrierung auf den Text und/oder Verkündungsakt bleibt jedoch die für Zeiten „begrenzter Schriftlichkeit" charakteristische „Semi-Oralität" des kommunikativen G>j#«?/kontextes immer noch weitgehend ausgeklammert. Der Begriff der Semi-Oralität, den wir zunächst als Arbeitsbegriff relativ weit fassen wollen, ist im Zusammenhang der Kapitularien nun allerdings nicht, wie im Fall der Taufgelöbnisse, auf die erneute „Vermündlichung" einer volkssprachlich-schriftlichen Textvorlage, die ihrerseits auf einem genuin lateinisch-schriftlichen Text basiert, bezogen. Vielmehr ist der lateinische Kapitularientext seinerseits bereits Ergebnis einer Art Übersetzungstätigkeit, einer „Übersetzung" nämlich aus dem jeweiligen volkssprachlich-mündlichen Beratungszusammenhang, in dem der Kapitularienentwurf von entsprechenden Sachverständigen (legislatores) vorbereitet, in Ausschüssen vor oder während des Reichstages entworfen oder überarbeitet wird. Auch die anschließende Beratung des so entstandenen schriftlichen Entwurfs auf dem Reichstag muß als mündliche Beratung aufgrund eines mündlichen Vortrages vorgestellt werden. Zum einen dürfte es, wie Ganshof bemerkt, „kaum möglich gewesen (sein), eine ausreichende Anzahl des besagten Entwurfs anzufertigen."36 Zum anderen hätte ein verteilter schriftlicher Entwurf wenig Sinn gehabt, da „(...) viele, wenn

35

36

Die Bedeutung des mündlichen Akts wird betont von Ganshof, Was waren die Kapitularien, a.a.O., S. 36 („Wichtig war nur eines: der mündliche Akt") während R. Schneider, Mündlichkeit und Schriftlichkeit, a. a. O., S. 259, den Schriftaspekt hervorhebt („Besonders auffallig [ . . . ] ist ein ungewöhnliches Maß an Schriftlichkeit"). Auch Ganshof konzediert allerdings die Bedeutung des Gebrauchs der Schrift in der Regierungsausübung (Ganshof, Kapitularien, a.a.O., S. 159f.). Vgl. auch ders., Charlemagne et l'usage de l'écrit en matière administrative, in: Le Moyen Age 57 (1951), S. 1-25. Mit dem Moment der Mündlichkeit scheint jedenfalls ein Residuum der Bedeutung des Öffentlichen, des Offenbar-Werdens im germanischen Rechtsdenken bewahrt. Siehe auch Anm. 8. Ganshof, Was waren die Kapitularien, a. a. O., S. 44.

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nicht die meisten der weltlichen Teilnehmer des Reichtstags nicht lesen (konnten). 37 Dann dürfte es freilich auch wenig Sinn gehabt haben, den lateinischen Text als Beratungsgrundlage vorlesen zu lassen, denn wer nicht lesen konnte, konnte in der Regel natürlich auch kein Latein, das ja auf der Ebene der Schriftsprachlichkeit zu vermitteln war. Man wird also, ohne daß wir hierüber aus Quellen genaueres wissen, bereits für den Prozeß des Entstehens des schriftlich-lateinischen Textes eine wie auch immer geartete Einschaltung von Ubersetzern oder Dolmetschern annehmen können. 38 Den abschließend zweifellos lateinisch formulierten, normalerweise auf dem Reichstag verlesenen und damit feierlich verkündeten und rechtskräftig gewordenen Kapitularientext galt es nun - und damit kommen wir zur Frage nach der rechtswirksamen Verbreitung — in den einzelnen Landesteilen, „vor Ort", wie wir gesagt haben, dem populus, d. h. zur Zeit der Karolinger: den Großen und Vornehmen, den Bischöfen, Äbten, Grafen, vielleicht noch den Schöffen bei Gericht, bekanntzumachen. Diese Aufgabe der lokalen Bekanntmachung und Erläuterung oblag in der Regel den missi dominici, den Königsboten, die gleichzeitig eine Art „Reiseherrschaft" ausübten. 39 Das für meinen Argumentationszusammenhang entscheidende Moment in der Tätigkeit der missi liegt nun darin, daß die von ihnen vorgenommene örtliche Bekanntmachung wohl nicht als Verlesung des lateinischen Kapitulartextes zu denken ist, sondern daß vielmehr - so glaubt auch Ganshof - „die wichtigsten Teile der adnuntiatio, die Erläuterung der in dem Kapitular enthaltenen Bestimmungen und der Befehl, ihnen Folge zu leisten, in der Volkssprache gegebenen werden mußten." 40 Dies ist wiederum unter Verständlichkeitsgesichtspunkten unmittelbar einleuchtend, denn unter den Adressaten der Kapitularien war, abgesehen von den höheren Vertretern der Staatsgewalt, kaum einer, der des Lateinischen mächtig gewesen wäre. Daher mußte zwangsläufig die rustica Romana lingua aut Thiotisccfix " 38 39

Ebd. Siehe ebd. Siehe ebd., S. 89 f. Die „Doppelaufgabe" der Bekanntmachung einerseits und der Kontrolle andrerseits ist in einer Reihe von capitula und in speziellen capitularía missorum bezeugt, z. B.:

„Haec capitula missi nostri cognita faciant omnibus in omnespartes" 40

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für die Bekanntmachungsauf-

gabe (MGH, Leg. sect. II: Cap. regn. Franc. I, Nr. 67). Ganshof, Kapitularien, a. a. O., S. 95. V g l . auch Schmidt-Wiegand, Stammesrecht, a. a. O., S. 179. Was v o n offizieller Seite des Hofes als lingua theodisca angesprochen wird, ist um die Wende v o m 8. zum 9. Jh. eher sprachpolitisches Programm als sprachliche Realität. Der sprachpolitische Versuch, mit Hilfe eines die sprachliche Einheit suggerierenden Programmwortes „die auseinanderstrebenden und selbstbewußten germanischen Stämme zur Einheit zusammenzuschließen" (H. Eggers, Deutsche Sprachgeschichte, Bd. I, Reinbek 1963, S. 43), repräsentiert freilich auch eine Ebene des hier diskutierten Gedankens der Vereinheitlichung. In der Gegenüberstellung zur lingua Romana (z. B. Konzil v o n Tours, 813, M G H , Leg. sect. III: Concilia II, 1, S. 288) gewinnt bereits die diatopische Dimension eine eigene Bedeutung neben der diastratischen, in der theodiscus zunächst die Sprache des Volkes meint und in der

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gebraucht werden, in Abhängigkeit von der Volks- oder Stammessprache der Adressaten in dem jeweiligen, dem missus 2ugewiesenen Gebiet, seinem missaticum. In einem solchen kommunikativen Kontext waren die missi zweifellos als Übersetzer/Dolmetscher, als Ausleger und Erklärer tätig. Ihre Aufgabe, den Einheitstext „vor Ort" in die Mündlichkeit und damit in die Verständlichkeit „zurückzuholen" und ihn anwendbar zu machen, ergab sich als zwangsläufiges Korrelat aus der an den lateinisch-schriftlichen Text gebundenen Idee der Vereinheitlichung. Erst in einer volkssprachlichmündlichen „Regionalisierung" (Schlieben-Lange) des lateinisch-schriftlichen Textes, konnte das Kapitular nicht nur formal rechtskräftig, sondern faktisch rechtswirksam werden. Vor diesem, Funktionen der Schriftlichkeit mit der prinzipiell auf der Ebene der Mündlichkeit anzusetzenden Erklärungsfunktion verbindenden Hintergrund erhellt sich nun noch einmal die Funktion des schriftlichlateinischen Textes. In diesem Text ist nach Sprache (Latein) und Medium (Schrift) Recht auf einer über den je unterschiedlichen Volkssprachen angesiedelten Ebene kodifiziert. Es ist eine Ebene der Allgemeinheit gewonnen, von der aus eine territorial vereinheitlichte, für das gesamte fränkische Reich gültige Gesetzgebung möglich erscheint. Neben der damit zweifellos verbundenen herrschaftssichernden Funktion ist die offensichtlich nur über die Idee der Einheitlichkeit zu sichernde Idee eines formalen Gerechtigkeitsprinzips nicht zu übersehen. Ließe sich dieses Prinzip nun aber nicht jenseits der Einheitlichkeit garantierenden schriftlichen Latinität volkssprachlich vermitteln, so könnte es für kaum eines der Rechtssubjekte konkret werden, bliebe also im Grunde leer, d. h. unverstanden. Um faktische Wirksamkeit und damit Erfüllung eines Rechtssatzes zu erreichen, muß daher als Korrelativ zur Idee der Vereinheitlichung die Idee der Verständlichkeit bzw. des Verständlichmachens hinzutreten. Letztere manifestiert sich in karolingischer Zeit in der hier diskutierten verständlichmachenden Aufgabe der missi, wie sie sich aus der Spannung von Latinität und Volkssprache einerseits und von Schriftlichkeit und Mündlichkeit andererseits ergibt. 3. Konsequenzen für eine linguistische Verständlichkeitsforschung Aus den vorgestellten historischen Überlegungen ergeben sich nun in der Tat einige, m. E.wichtige Konsequenzen für eine linguistische Verständlichkeitsforschung. Gegenüberstellung zum Latein auftritt („tarn latine quam theodisce", Synode von Cealhyd, 786; MGH, Epist. IV, S. 28). Siehe zu diesem Problemkreis des weiteren die von H. Eggers zusammengestellten Beiträge in: Der Volksname Deutsch, hrsg. von H. Eggers, Darmstadt 1970, sowie W. Betz, Karl der Große und die Lingua Theodisca, a.a.O. und K. Matzel, Karl der Große und die Lingua Theodisca, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 34 (1970), S. 172-189.

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Es dürfte deutlich geworden sein, daß das historisch manifeste Spannungsverhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit auch als ein systematischtheoretischer Rahmen konzeptualisiert werden könnte. Das Problem der Textverständlichkeit wäre dann in einer linguistischen Analyse der kommunikativen Bedingungen des Verständlich-Machens von Texten in einer im Prinzip mündlichen Verständigungs- und Erklärungssituation neu zu akzentuieren. Dabei ginge es dann nicht mehr einseitig um das Problem eines zu optimierenden Textes, sondern in erster Linie um das Problem eines zu optimierenden Textverstehens, d.h. um eine Verbesserung der kommunikativen Bedingungen, unter denen wir mit Texten umgehen, die unter dem Aspekt der Verständlichkeit problematisch sind. Die Aufgabe des Verständlichmachens und Erklärens konkretisiert sich freilich erst im Hinblick auf je unterschiedliche historische Ausprägungen solcher kommunikativen Bedingungen. Der Gesichtspunkt der Veränderbarkeit betrifft somit nicht mehr allein den als Ergebnis von Akten der parole eines „Autors" konzipierten Text, sondern gleichermaßen die Sprach- bzw. Verstehenskompetenz des Rezipienten. Wird die Verstehenskompetenz als veränderbar angesehen, so wird die Unzulänglichkeit eines Ansatzes deutlich, der ein an der durchschnittlichen Leserkompetenz gewonnenes Verständlichkeitsmaß absolut setzt. Es ist zu befürchten, daß die notorische Nivellierung von Texten, die Reduktion ihrer Komplexität auf ein Mittelmaß von Verständlichkeit nicht allein die für die politische Sprache erhoffte Klarheit und Deutlichkeit Wirklichkeit werden lassen kann, sondern früher oder später mit der Wahrhaftigkeits-, ebenso wie mit der Relevanzmaxime in Konflikt geraten wird. 42 Unser Appell an den kompetenten Leser ist natürlich kein Freibrief für die Textproduzenten. Sonst werden sie bald an die Grenzen des von einer bestimmten Zielgruppe tolerierten Maßes an Schwerverständlichkeit stoßen. An dieser Grenze wird sich natürlich die Frage stellen, was zu tun ist. Die tendenzielle Unverständlichkeit von Texten für bestimmte Adressatengruppen ist durch Manipulation von Texteigenschaften nur soweit zu beheben, wie dadurch nicht andere relevante Funktionen des Textes verloren gehen. Bestimmte Arten von Texten zeigen sich hier „sensibler" als andere. Ist Verständlichkeit' in Hinblick auf literarisch-ästhetische Textfunktionen geradezu als „Un-Kriterium"43 apostrophiert, so scheint es doch auch andere Textfunktionen zu geben, die eine verständlichmachende Textveränderung problematisch erscheinen lassen. Gerade in dem hier vorge42

43

Die tendenzielle „Sinnentleerung" der öffentlich-politischen Sprache scheint vor allem darin begründet zu sein, daß sie nur noch begrenzt der diskursiven Wahrheits- oder Entscheidungsfindung dient, sondern in erster Linie auf Zustimmungsbereitschaft zu Entscheidungen abzielt, die in einer internen (Teil-)Öffentlichkeit der Ausschußsitzung bereits getroffen worden sind. So bei N. Groeben, Leserpsychologie: Textverständnis - Textverständlichkeit, Münster 1982, Teil II, Kap. 1.1.: „Verständlichkeit als Un-Kriterium für literarische Texte".

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stellten Bereich der Kapitularien haben wir nicht nur ein historisches Beispiel für eine mit der Verständlichkeitsmaxime konfligierende Textfunktion (Vereinheitlichung), sondern auch ein historisches Modell (in dem eingangs beschriebenen Sinn) für die „Aufhebung" dieses Konflikts in einem, Funktionen der Schriftlichkeit und Funktionen der Mündlichkeit vermittelnden kommunikativen Kontext vorgefunden. Im Sinne dieses „Modells" wäre die Erklärungsfunktion prinzipiell als Funktion der Mündlichkeit anzusetzen, so daß die jeweilige Funktion des schriftlichen Textes weitgehend erhalten bleiben kann, wenn der Verständlichkeitsmaxime im Medium der Mündlichkeit unter Berücksichtigung der spezifischen Verstehensbedingungen der jeweiligen Adressatengruppe angemessen Rechnung getragen werden kann.44

44

Zu klären wäre dann freilich, wie die zwischen Text und je bestimmten Adressatengruppen intervenierende Funktion des Verständlichmachens sich in für uns Heutige relevanten Kommunikationszusammenhängen konkretisiert. Empirisch wären hier Typen semi-oraler Kommunikationssituationen aufzusuchen, in denen schriftliche Texte in einer für die Verständlichkeitsproblematik relevanten Weise in mündliche Kommunikationsformen eingebettet sind. Ein Typ solcher Situationen wären beispielsweise Unterrichtssituationen, in denen aufgrund eines Zusammenspiels von Lehrtext und mündlichen Kommunikationsformen Wissen oder Fähigkeiten erworben werden. (Vgl. I. Langer, F. Schulz v.Thun, R. Tausch, Sich verständlich ausdrücken, München 1981, Teil III: „Verständliche Texte im Rahmen des Unterrichts").

Gabriel

FALKENBERG

(Düsseldorf)

Glaubwürdigkeit 0 . Angeregt durch seine überhand nehmende Verwendung in der politischen Sprache (§1), wird im folgenden der Begriff der Glaubwürdigkeit einer genaueren Klärung unterzogen. Dabei wird die Rolle der Glaubwürdigkeit in der mitteilenden Rede (§2), das Verhältnis zur Lüge (§3) und die Stellung des Vertrauens in der Kommunikation (§ 4) näher untersucht; ich schließe mit einigen skeptischen Bemerkungen zur Funktion der Glaubwürdigkeit und der Rede von Glaubwürdigkeit in der gegenwärtigen Politik. 1. Die Inflation der Glaubwürdigkeit Glaubwürdigkeit hat Konjunktur. Nirgendwo wird sie derzeit so beschworen, angezweifelt, unterstrichen, beteuert, gesucht wie in der deutschen Politik. Dafür zunächst drei Belege. Die von der derzeitigen CDU/FDPRegierungskoalition angekündigte „geistig-moralische Wende" wurde in ihren rhetorischen Dimensionen, in der Besetzung sprachlichen Terrains, bereits in der denkwürdigen Bundestagsdebatte vom 1. Oktober 1982 offenbar, ebenso wie das Bemühen der SPD, dieses Terrain zu verteidigen. Hier einige charakteristische Ausschnitte aus jener Debatte: Helmut Schmidt (SPD): „... Mehr als drei Viertel der Bürgerinnen und Bürger sind für Neuwahlen zum Bundestag. Sie empfinden die Art des Wechsels, der heute von Ihnen in geheimer Abstimmung herbeigeführt werden soll, als Vertrauensbruch ... Ich setze Zweifel in die Ehrlichkeit dieser Ankündigung [von Neuwahlen], . . . Sie gefährden damit die Glaubwürdigheit von CDU und CSU und FDP insgesamt... Dieser Regierungswechsel, den Sie anstreben, berührt die Glaubwürdigkeit unserer demokratischen Institutionen ... Glaubwürdigkeit der Institutionen und der handelnden Personen ist eine der unverzichtbaren Voraussetzungen für die Lebensfähigkeit einer demokratischen Gesellschaft und eines demokratischen Staats. Wenn die Bürger nicht an die ehrlichen Absichten der an der Spitze des Staats handelnden Personen glauben können, dann wird es den Bürgern sehr schwer gemacht, überhaupt an die Demokratie zu glauben . . . " Rainer Barzel (CDU): „ . . . Herr Bundeskanzler: In dieser Stunde wäre es doch besser, redlicher und - um Ihr Wort aufzunehmen - würdevoller gewesen, wenn der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland hier Rechenschaft gegeben hätte, Rechenschaft über Soll und Haben, über Versprochen und über Gehalten ... Herr Kollege Brandt, nicht wahr: Wenn wir etwas machen, ist es verwerflich; wenn Sie das Recht anwenden, ist das natürliche Moral. Das ist eine doppelte Moral

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und verrät - es tut mir leid - eine gespaltene Zunge . . . Dies produziert Enttäuschungen, und dies sind bleibende Beeinträchtigungen von Glaubwürdigkeit, die, meine Damen und Herren, nicht die Opposition, die diese noch im Amt befindliche Regierung allein verantwortet . . . " Herbert Wehner (SPD): „... Kann man es insbesondere eigentlich unseren jüngeren Mitbürgern verdenken, die von Politikern Charakter, Geradlinigkeit, Glaubwürdigkeit verlangen, wenn sie sich angewidert abwenden? Die Herren Genscher und Graf Lambsdorff mit ihrer Gefolgschaft versündigen sich vor allem an der jungen Generation, indem sie statt Ehrlichkeit Manipulation erlebbar machen . . . " Heiner Geißler (CDU): „ . . . Es geht darum - erstens - , das Vertrauen der Bürger in die parlamentarische Demokratie neu zu festigen . . . Wir stimmen überein, daß die Frage der Neuwahlen zu einem wichtigen Punkt der Glaubwürdigkeit der politischen Parteien geworden i s t . . . Ihre Glaubwürdigkeit in dieser Diskussion würde gewaltig ansteigen, wenn Sie in den Ländern, wo Sie das tun können, ζ. B. in Hamburg und Hessen, mit uns zusammen rasch Neuwahlen einleiten würden . . . Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Rede von Glaubwürdigheit gesprochen . . . Noch von keiner Regierung seit Kriegsende ist das deutsche Volk in wichtigen Fragen so hinters Licht geführt worden wie von dieser Regierung . . . [Helmut Kohl ist] ein Mann, der in seiner Person das Vertrauen verkörpert, das Sie und Ihre Regierung verloren haben! . . . " Wolfgang Mischnick (FDP): „ . . . ich gestehe o f f e n , es ist eine schwere Stunde für mich . . . Ich halte es für meine Pflicht, die grundsätzliche Meinung auch in diesem Augenblick mit der gleichen Deutlichkeit darzulegen, wie ich es vor wenigen Tagen getan habe, weil auch das zur Glaubwürdigkeit gehört, die hier mehrfach beschworen worden ist . . . Sie sehen, meine Damen und Herren, wenn man von Glaubwürdigkeit spricht, bitte ich auch darum, die Glaubwürdigkeit, die diese damalige Äußerung hatte, nicht dann, wenn das in einer anderen Konstellation genauso zutrifft, in Zweifel zu ziehen . . . Herr Kollege Kohl, wenn die Wahl so ausgeht, wie wir es wollen . . w e r d e n Sie einen fairen Partner haben, weil ich faire Partnerschaft als einen entscheidenden Teil der Glaubwürdigkeit dieser Demokratie ansehe." 1 Der auf die „Wende" folgende K a m p f u m W ä h l e r s t i m m e n w a r v o n denselben Vokabeln g e p r ä g t . Beispiel zwei: 9. Januar. Zum Auftakt des Wahlkampfes hat der CDU-Generalsekretär Heiner Geißler der SPD vorgeworfen, „sozusagen ein politisches Verbrechen an dem Wähler" zu begehen, indem sie ihm bewußt die Unwahrheit sage ... Dem Rentenbetrug von 1976 und dem Finan^betrug von 1980 füge die SPD nunmehr die „Mietenlüge" hinzu . . . Nach einer Attacke gegen diejenigen „Helfer in den Medien", die dazu beitrügen, die Wahrheit zu verdrehen, forderte der CDUPolitiker alle „anständigen Deutschen" dazu auf, sich am 6. März von der SPD zu distanzieren, „um der Wahrheit eine Gasse zu schlagen" 2 . 1 2

Zitiert nach Michel (1983:22-23); Hervorhebungen im folgenden von mir. Zitiert nach: Frankfurter Rundschau 10.1.1983: 1 - 2 (unter der Überschrift. „CDU: Die SPD lügt und ist unanständig"). Vergleiche auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt und die Süddeutsche Zeitung vom gleichen Tage.

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Dies waren die Töne — nach Ansicht vieler Meinungsforscher wahlentscheidend - , mit denen die CDU zu Beginn des Jahres 1983 die verbale Initiative in einem Wahlkampf an sich riß, der auch sonst durch schrille Vorwürfe gekennzeichnet war; später kam bekanntlich noch die „Raketenlüge" hinzu. Ein letztes Beispiel aus der allerjüngsten Vergangenheit. Unmittelbar nach seiner Wahl zum neuen Bundestagspräsidenten — als Nachfolger des im Rahmen der Untersuchungen des „Flick"-Bundestagsausschusses schwer belasteten Rainer Barzel - rief Philipp Jenninger in einer grundsätzlichen Rede die Abgeordneten mit Blick auf die ,Flick'- und Parteispendenaffäre auf, bei der Überwindung der entstandenen „ Vertrauenskrise" mitzuhelfen. Er räumte ein, daß viele Bürger fragten, ob die politischen Organe noch unabhängig und integer seien. Es dürfe „nichts unter den Teppich gekehrt werden". Alle Beteiligten sollten die Auseinandersetzung selbstkritisch, fair und o f f e n führen. „Nicht zerfrißt die Glaubwürdigkeit der Politiker erbarmungsloser als die Heuchelei"3. Die Glaubwürdigkeit, die Ehrlichkeit, die Wahrhaftigkeit, das Vertrauen werden von allen Politikern für die eigene Person, die eigenen Ziele und die eigene Partei so entschieden in Anspruch genommen, wie sie dem Gegner abgesprochen werden; der Beobachter fragt sich, wie es um eine Glaubwürdigkeit bestellt ist, von der alle Beteiligten es für nötig halten, überall und laufend zu versichern, sie selber und nur sie besäßen sie. (Nur wo — wie in der internationalen Politik — abgrundtiefes Mißtrauen herrscht, muß man zu sog. „vertrauensbildenden Maßnahmen" greifen, wie es bei Abrüstungsverhandlungen heißt.) Ein Grund mag der sein, daß Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Politikern - zumal regierender - nicht mehr die Ausnahme bilden, sondern zum Regelfall geworden sind; dieser Zweifel der Bürger, langsam angewachsen, und belegbar an einer Reihe von politischen Ereignissen der letzten 20 Jahre, hat sich zu einem Faktum verfestigt, das die Form der politischen Auseinandersetzung immer stärker prägt. Die Erosion des Vertrauens der Öffentlichkeit an den Behauptungen, Ankündigungen und Versprechungen ihrer Regierungen ist ein Phänomen, das seit Mitte der sechziger Jahre alle westlichen Demokratien erfaßt hat. In den Vereinigten Staaten ist es Mitte der 60er Jahre zum ersten Mal schlagwortartig als „credibility gap" (Glaubwürdigkeitslücke) bezeichnet worden, zu einem Zeitpunkt, da die Täuschung der amerikanischen Bevölkerung über Ziel, Ausmaß und Hintergrund der militärischen Intervention der Amerikaner in Vietnam bekannt wurde. Für eine zentral gelenkte Diktatur wie etwa das faschistische Deutschland kann diese Einsicht nicht überraschen; in einem demokratischen System war die Einsicht, von der eigenen

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Zitiert nach der dpa-Meldung in: Rheinische Post 6 . 1 1 . 1 9 8 4 : 1 . (unter der Überschrift: „Neuer Bundestagspräsident Jenninger: Vertrauenskrise").

Glaubwürdigkeit

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Regierung jahrelang systematisch belogen, getäuscht, manipuliert worden zu sein, für die meisten ein nachhaltig wirkender Schock.4 Mit der Veröffentlichung der sog. „Pentagon Papers" 1971 und der Aufdeckung 1972 des Einbruchs durch Angehörige der Nixon-Administration in das Wahlkampfbüro der Demokratischen Partei im Watergate-Hotel erreichte diese Entwikklung einen vorläufigen Höhepunkt; Watergate wurde zum Inbegriff staatlicher Anmaßung, Korruption und Täuschung. In der Bundesrepublik hat die sog. „Spiegel-Affare" 1962 deutlich gemacht, daß ein Bundesminister das deutsche Parlament belügen konnte, ohne daß dies das Ende seiner politischen Laufbahn bedeutet hätte. In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre lenkte die Studentenbewegung u. a. die Aufmerksamkeit auf die manipulativen Praktiken der Springerpresse und — ausgelöst durch die einseitige Berichterstattung über die militärische Verwicklung der USA in Vietnam — auf die irreführende und verfälschende regierungsamtliche Darstellung.5 Der Fall des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Filbinger - von dem im Sommer 1978 bekannt wurde, daß er in den letzten Tagen des 2. Weltkrieges als Marinerichter ein Todesurteil verhängt hatte — gehörte zu den wenigen Karrieren, deren bis dahin ungebrochene politische Kontinuität vom Nazi zum Demokraten durch ihr Bekanntwerden beendet wurde, — jedoch nur, nachdem der Versuch gescheitert war, sich dem Vorwurf mit Lügen, Leugnen oder Verdrängen zu entziehen. Der frühere Bundespräsident Carstens bestritt 1974 vor dem „Guillaume"-

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Wise stellt in seiner umfangreichen Studie fest: „This erosion of confidence between people and government is perhaps the single most significant political development in America in the past decade. Because of it, an American President today operates in a new political framework. He can no longer assume that a majority of the people will believe him" (1973:14; zur Entstehung des Begriffs „credibility gap" dort S. 22). Stationen auf diesem Wege waren die politischen Geschehnisse um den U-2-Abschuß 1960, die mißglückte Invasion in der „Schweinebucht" auf Kuba 1961 und der Zwischenfall im Golf von Tonking 1965. Siehe auch die engagierte Attacke des republikanischen Kongreßmitglieds McCloskey (1972). Eine sorgfältige Analyse der Art und Weise, wie das organisierte System der Entscheidungen einer modernen Administration mit ihren unbefragten Zielsetzungen und Hintergrundannahmen Paradoxien, Täuschungen und Selbsttäuschungen erzeugt, ist Ellsbergs (1972) Untersuchung der schrittweisen Verwicklung der US-Regierungen in Vietnam. Grundlage sind die „Pentagon Papers", die durch Ellsberg selbst — vormals langjähriger strategischer Berater der US-Regierung — mit Hilfe einer wachsamen Presse an die Öffentlichkeit gelangten. Vergleiche in diesem Zusammenhang auch Arendt (1971). Zur manipulierenden Imagebildung in der internationalen Politik siehe die Studie von Jervis 1970. Dagegen zur nationalsozialistischen Propagandapolitik durch zentrale Kontrolle der Presse insbesondere Sänger (1975). Cruickshank (1979) behandelt im engeren Sinn militärische Täuschungen im 2. Weltkrieg. „ . . . wir haben aber systematisch immer wieder Regierungen bekommen, die man gewissermaßen bezeichnen kann als institutionalisierte Lügeninstrumente, Instrumente der Halbwahrheit, der Verzerrung . . . " (so Rudi Dutschke, Zu Protokoll. Fernsehinterview von Günter Gaus am 3.12.1967. Berlin 1968:5).

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Untersuchungsausschuß des Deutschen Bundestages, als Chef des Bundeskanzleramtes 1968-69 etwas von Waffengeschäften des Bundesnachrichtendienstes gewußt zu haben; dies stellte sich 1979 als Lüge heraus. 6 Die sog. „Flick"-Bestechungsaffäre und die Parteispendendiskussion machen, besonders nach dem gescheiterten Amnestieversuch der Parteien 1981, einer zuerst ungläubigen, dann fassungslosen, schließlich abgestoßenen Öffentlichkeit ein weitgehend nicht für möglich gehaltenes Ausmaß an Korruption, Bestechlichkeit und Machtmißbrauch deutlich, das durch Ausflüchte, Lügen, Vertuschungsversuche der Betroffenen und ihre monotone Standardausrede „Daran kann ich mich nicht erinnern" zu einer Gesamtstimmung geführt hat, die der derzeitige Bundestagspräsident zurückhaltend mit dem Ausdruck „Vertrauenskrise" umschreibt. In Miskredit geraten ist das bisherige politische System als ganzes, nicht allein dieser oder jener einzelne Repräsentant, den man durch ein „neues, unverbrauchtes Gesicht" (wie es bezeichnend in der Sprache der politischen Imagepflege heißt) auswechseln könnte. An Beschwörungen der Glaubwürdigkeit — sei es im aktuellen Parteinstreit, sei es in politischen Sonntagsreden - ist derzeit kein Mangel. Die Frage ist, ob es gelingt, den bis zur Unkenntlichkeit bemühten Begriff der Glaubwürdigkeit dem tagespolitischen Geschäft zu entreißen, die mit ihm verknüpften Haltungen deutlich werden zu lassen, und ihn einer analytischen Klärung zu unterziehen. Dies soll im folgenden versucht werden. 2. Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit: Ein einfaches Modell Glaubwürdigkeit ist primär eine Eigenschaft von Personen; eine Eigenschaft, die anderen einen Grund gibt, von den Behauptungen der betreffenden Person (nennen wir sie einmal „A") überzugehen zu dem Glauben, daß A das Behauptete selbst glaubt. Anders ausgedrückt: Glaubwürdigkeit ist die Eigenschaft, von anderen für wahrhaftig gehalten zu werden, und kann in Form des folgenden theoretischen Schlusses expliziert werden 7 : (1) A ist glaubwürdig für Β Ξ Β glaubt, daß (Wenn A behauptet, daß p, dann glaubt A, daß p).

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Details in Falkenberg (1981: §3). „A" und „B" sind Variable für Zeichenbenutzer, „p" steht für irgendeinen Sachverhalt. Die in diesem Abschnitt dargestellten Gedanken sind detaillierter und mit ausführlicheren Literaturhinweisen entwickelt in (1982:§24). Sprachgeschichtliche Bemerkungen zum Begriff der Glaubwürdigkeit finden sich in Henning (1968); Gössmann (1970) liefert allgemeinere sprachdidaktische Erörterungen zum Thema.

Glaubwürdigkeit

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Glaubwürdigkeit einer Person ist allein freilich noch keine Garantie für die Glaubhaftigkeit ihrer Behauptungen. „Ich glaube dir" ist nicht nur das Zusprechen von Wahrhaftigkeit, sondern auch von etwas, das mit ihr beim Akzeptieren einer Behauptung häufig verknäult ist8: hinzukommen muß eine Eigenschaft, die anderen einen Grund gibt, von dem Glauben, daß A das Behauptete glaubt, überzugehen zu dem Glauben, daß es so ist wie behauptet. Diese Eigenschaft, von anderen für sachkundig gehalten zu werden, soll mangels eines vorhandenen Ausdrucks „epistemische Vertrauenswürdigkeif'' genannt werden, und ist in Form des folgenden theoretischen Schlusses explizierbar: (2) A ist epistemisch vertrauenswürdig für Β Ξ Β glaubt, daß (Wenn A glaubt, daß p, dann p). Sich den Glauben eines anderen zu eigen machen kann also analytisch in zwei verschiedene Schritte zerlegt werden: Die Glaubwürdigkeit A's führt Β von A's Behauptungen zu dessen epistemischen Einstellungen, und die epistemische Vertrauenswürdigkeit A's führt Β von A's epistemischen Einstellungen zur Welt. Es sind also zwei Schlußprozesse nötig, um das, was jemand behauptet hat, zu übernehmen: (3) Β glaubt, daß A behauptet, daß ρ A ist glaubwürdig für Β Β glaubt, daß A glaubt, daß ρ (4) Β glaubt, daß A glaubt, daß ρ A ist epistemisch vertrauenswürdig für Β Β glaubt, daß p. (Die logische Gültigkeit beider Schlüsse erweist sich, wenn man die jeweils zweite Zeile durch ihr zugehöriges Explikans in (1) und (2) ersetzt). Epistemische Vertrauenswürdigkeit kann für den Adressaten erst ins Spiel kommen, wenn die Glaubwürdigkeit ihre Rolle gespielt hat: Ist A glaubwürdig, aber nicht epistemisch vertrauenswürdig, muß Β sich damit zufriedengeben, zu glauben, daß A glaubt, daß p; ist A dagegen epistemisch vertrauenswürdig ohne glaubwürdig zu sein, so weiß Β überhaupt nicht, was er glauben soll. Vertrauenswürdigkeit baut also auf der Glaubwürdigkeit auf: Glaubwürdigkeit ist die Voraussetzung dafür, daß wir uns auf kommunikativem Wege eine Meinung darüber bilden können, was der andere glaubt. Sofern jedoch nichts dafür spricht, daß A nicht glaub- und vertrauenswürdig ist, vollziehen wir die Unterstellung von Wahrhaftigkeit und Sachkunde ganz „Jemandem glauben" heißt also: „glauben, was der Betreffende einem gegenüber behauptet hat". Vergleiche, u.a. mit Bezug auf die christliche Tradition, Pieper (1962:§11), Price (1969:38-39), Helm (1973:74-77), Geach (1977:§2), Anscombe (1981); im Englischen spricht man hier auch von „faith".

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selbstverständlich und in einem Zug: wir geben ihm einen „Glaubwürdigkeitsbonus" und „ Vertrauensvorschuß"·, beides ist selbstverständlich immer mit einem Risiko behaftet, aber dieses Risiko ist unvermeidlich. Wir entnehmen der Rede einer anderen Person auf Treu und Glauben etwas über die Welt, indem wir im ersten Schritt von ihrer Rede auf ihr Bewußtsein schließen, und in einem zweiten Schritt von ihrem Bewußtsein auf die Welt. (Dies ist nicht im Sinne einer zeitlichen Abfolge aufzufassen.) Behauptungen sind nur über die Welt, insofern sie Ausdruck eines Glaubens von der Welt sind. Assertorische sprachliche Kommunikation ist das Paradigma sozialer Welterscbließung, und zwar mittels gegenseitiger Inanspruchnahme zweier Arten von Verläßlichkeitsbeziehungen durch die Sprachteilhaber, von Sprache-Bewußtsein- und Bewußtsein-Welt-Korrelationen. 9 3. Lügen Ein Lügner macht sich den ersten, in (3) dargestellten Zusammenhang zunutze, indem er vortäuscht, einen bestimmten Glauben zu haben. Ein Scharlatan macht sich den zweiten, in (4) dargestellten Zusammenhang zunutze. 10 Glaubwürdigkeit verweist also auf Wahrhaftigkeit und ihr Gegenteil, Lügenhaftigkeit. Dies macht einen Wechsel des Blickwinkels nötig, von der Sicht des Adressaten zur Sicht des Äußernden. Mit der Zerlegung in Wahrhaftigkeit und Sachkunde ist bereits vorausgesetzt, daß das Gegenteil der Lüge nicht die Wahrheit, sondern die Wahrhaftigkeit ist, und umgekehrt das Gegenteil der Wahrheit nicht die Lüge, sondern die Falschheit. In einem ersten Schritt kann man die Lüge folgendermaßen explizieren 11 :

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Ich greife hier einen Gedanken von Schiffer (1981:216-17) auf; er berücksichtigt allerdings nur die zweite Komponente („head-world-reliability-correlation"). Vergleiche bereits Field (1972: § V, Beginn), der im Wahrheitsbegriff zusammenzieht, was hier in die beiden Komponenten Wahrhaftigkeit und Sachkunde zerlegt wird, sowie Putnam (1978). Da Scharlatane gemeinhin wissen, daß sie nicht sachkundig sind, lügen sie gewöhnlich auch noch; dennoch sind beide Fälle zu unterscheiden. Es gibt aufrichtige Quacksalber, die von ihren eigenen Fähigkeiten überzeugt sind. Ich setze hier meine Argumentation in (1980: §1-2, 1982: § II-III) gegen die „klassische" Theorie der Lüge voraus. Das folgende ist eine sehr geraffte Wiederaufnahme von Überlegungen in (1982), insbesondere §23-24. Zwei Aufsätze zur Problematik, auf die hier nur hingewiesen werden kann, erschienen erst nach Abschluß jener Arbeiten: Coleman & Kay (1981), und Vincent & Castelfranchi (1981). Parallel zu meinen Überlegungen, die Probleme der Zuschreibung bewußt ausklammerten, wird dieser Aspekt von Lüge und Täuschung neuerdings — nachdem sich die Erkenntnis von der Haltlosigkeit rein technischer Lügendetektion durchgesetzt hat (Lykken 1981) - von der empirischen Sozialpsychologie wiederentdeckt; siehe etwa die reichhaltigen Forschungen von Zuckerman, DePaulo und Rosenthal (1981), die komplementär zu einer Konstitutionstheorie sind, wie ich sie zu entwickeln versucht habe.

Glaubwürdigkeit

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(5) A hat darin, daß p, gelogen Ξ (a) A hat behauptet, daß ρ (b) A glaubte, daß nicht p. Ich möchte mich im folgenden auf die Klausel (a) konzentrieren und eine Konzeption skizzieren, die den unstrittigen Eigenschaften der Lüge Rechnung trägt, nämlich personal, sozial, temporal, intentional und verbal zu sein (1982: §5). Nehmen wir als Beispiel eine Situation, in der A etwas beobachtet, das Β nicht sehen kann, und zu Β sagt: „Am Himmel steigt Rauch auf." Diese Mitteilung kann als interpersonaler Ersatz für eine originäre Wahrnehmung aufgefaßt werden: Β sieht den Rauch nicht, aber A sieht ihn, und teilt Β das Ergebnis seiner Wahrnehmung in Form des genannten Deklarativsatzes mit. Die Wahrnehmung des A und seine Mitteilung läßt sich also gewissermaßen als Wahrnehmungsprothese des Β betrachten, und die Mitteilung als zwischengeschaltetes Glied in der Kette zwischen A's Auge und B's Bewußtsein. Selbstverständlich ist dieses Modell von Sprache als Informationsmedium in höchstem Grade vereinfacht, aber für unsere Zwecke in diesem Zusammenhang reicht es aus. 12 Die Mitteilung zielt also darauf ab, zu erzeugen, was auch eine Eigenwahrnehmung B's hervorrufen würde, wenn er an A's Stelle wäre, nämlich die epistemische Einstellung: wissen, daß gerade am Himmel Rauch aufsteigt. In unserem Beispiel ist nun sowohl vorausgesetzt, daß A's Behauptung wahrhaftig ist, wie auch, daß seine Wahrnehmung zutreffend ist. Wenn wir, um mehr Realitätsnähe zu erreichen, beide Annahmen fallenlassen, können wir einen ersten zentralen Begriff von Behauptung gewinnen, der sich folgendermaßen umreißen läßt: (6) A hat mittels der Äußerung des Satzes s behauptet, daß ρ Ξ A hat den Satz s geäußert mit der kommunikativen Absicht, in einem Adressaten Β den Glauben zu erzeugen, daß p. Genauer gesagt, erhalten wir die Analyse des bezeugenden Behauptens. Dieses ist im Unterschied etwa zum spekulierenden oder argumentierenden Behaupten derart, daß der Äußernde gegenüber einem Adressaten für das Behauptete einsteht, sich dafür verbürgt (weil es etwas betrifft, das er gesehen hat, bei dem er zugegen war, etc.) 13 ; und vom bezeugenden Behaupten her ist die Natur der Behauptung überhaupt zu begreifen.

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Evans (1982: § 5) entwickelt einige Hintergrundannahmen dieses Modells, und gibt entsprechende Literaturhinweise. Zur epistemologischen Rolle bezeugenden Behauptens und bezeugender Evidenz siehe insbesondere Price (1969: §1.5), Quine & UUian (1970:§IV), Ross (1975), und Geach (1977: §2). Geach weist darauf hin, daß die Überzeugung vom bezeugenden Charakter einer Behauptung selbst wiederum nicht auf induktive Weise gerechtfertigt werden kann. Vergleiche auch Jhering (1883: 592-605).

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Gabriel Falkenberg

Im Unterschied zur originären Wahrnehmung ist für die sprachliche Kommunikation - sofern sie die Übermittlung von Informationen zum Ziel hat, oder jedenfalls diesen Anschein erweckt — das Auseinanderfallen in zwei Arten von Verläßlichkeitsbeziehungen entscheidend, die wir am Ende des letzten Abschnitts „Sprache-Bewußtsein-Korrelationen" (Beispiel: Glaubwürdigkeit) und „Bewußtsein-Welt-Korrelationen" (Beispiel: epistemische Vertrauenswürdigkeit) genannt hatten. Was bei der originären Wahrnehmung in einer einzigen Person vereint ist, erscheint bei der Übernahme einer Behauptung in zwei verschiedene Personen auseinandergelegt; Sprache wird so als soziales Organ erkennbar, als notwendiger Teil gesellschaftlicher Wahrnehmung, d. h. der Aneignung von Informationen durch andere als die in erster Instanz Wahrnehmenden. Auf diese Weise kann eine historische Kette von Mitteilungen entstehen, an dessen Anfang eine originäre Wahrnehmung und an dessen Ende wir stehen. Kommunikation ist - pointiert gesagt - dasjenige Medium, mittels dessen wir, ausgehend von der Wahrnehmung eines Teils der Welt (nämlich sprachlicher Äußerungen der andern) unter Inanspruchnahme von Verläßlichkeitsbeziehungen übergehen können zum Rest der Welt. Durch die Lüge greift der Äußernde versteckt blockierend in diesen Prozeß ein: er hindert, daß Kommunikation und Sprache ihren welterschließenden Charakter entfalten können; er verschließt unmerklich anderen den Zugang zu dem, was er glaubt und dadurch (sofern er nicht selbst einem Irrtum erlegen ist) zur Welt; er lenkt ihren Glauben bewußt in eine falsche Richtung; und er tut all dies, indem er ausbeutet, daß Äußerungen Glauben und Vertrauen geschenkt wird. In diesem Sinne ist die Lüge gesellschaftlich parasitär: sie ist nicht möglich ohne ein soziales Fundament von Verläßlichkeit, welches sie gleichzeitig untergräbt. (Einige Philosophen — etwa Thomas v. Aquin und Kant — sehen übrigens in der Zerstörung der Verläßlichkeitsbeziehungen die moralische Verwerflichkeit der Lüge zu einem wesentlichen Teil begründet.) Die Lüge funktioniert nur, wenn sie den Anschein der Wahrhaftigkeit aufrecht erhält, um im Adressaten kein Mißtrauen aufkommen zu lassen. 4. Vertrauen in der Kommunikation Wenn jemand sowohl glaubwürdig wie epistemisch vertrauenswürdig ist, so kann man davon sprechen, daß er in bezug auf seine Behauptungen Vertrauen genießt: (7) Β hat (assertorisches) Vertrauen zu A = A ist glaubwürdig und epistemisch vertrauenswürdig für B. Tatsächlich ist Vertrauen in der Kommunikation etwas, das noch mehr umfaßt als nur die Haltung gegenüber jemandem, der uns in seinen Mitteilungen wahrhaftig wie auch sachkundig erscheint; der Begriff betrifft das

Glaubwürdigkeit

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gesamte Spektrum sprachlicher Handlungen, die aufrichtig sein können, also auch das Sich-Verlassen auf Versprechen und das Zutrauen zum Ausdruck von Gefühlen (Falkenberg 1984). Die Enttäuschung dieses Vertrauens und nur sie führt zu Mißtrauen. Nirgends wird dies deutlicher als am kindlichen Vertrauen, am „Urvertrauen"14, das zunächst alles unbefragt von der elterlichen Autorität übernimmt, übernehmen muß. Diese Haltung korrespondiert der kindlichen bedingungslosen Offenheit (Naivität), d. h. der Unfähigkeit, etwas, das es weiß oder glaubt, für sich zu behalten. Durch gelegentliche Enttäuschungen des anfanglich universellen Vertrauens wird dieses nach und nach personell und thematisch differenziert. Wir lernen, daß man nicht jedem vertrauen und kaum jemandem alles glauben kann: wir lernen, Angaben nachzuprüfen, nach Gründen und Beweisen zu fragen, skeptisch zu werden, Autoritäten in Zweifel zu ziehen, kurz: das für die gesellschaftliche Interaktion allgemein nötige „gesunde" Mißtrauen zu entwickeln. Blindes Vertrauen wird eingeschränkt auf einen Bereich persönlicher, privater, intimer Interaktion; wer außerhalb dieses Bereichs ohne Gründe vertraut, gilt als „vertrauensselig", „leichtgläubig", „kindisch". Sich eine Gesellschaft vorzustellen, in der keiner dem andern vertraut, niemand einem andern etwas auf Treu und Glauben abnimmt, bevor er sich nicht dessen Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit versichert hätte, gelingt indes nur schwer. Eine solche Gesellschaft wäre, wie Price bemerkt, dem Hobbesschen Naturzustand gleich, „in which the life of every man is solitary, poor, nasty, brutish and short" (1969:114). Kooperation und Vertrauen gehören zu unserem Begriff von Gesellschaft, zu unserem Begriff von Sprache. Und jedes Vertrauen ist ein Wagnis: es enthält ein irreduzibel nicht-rationales Element. Selbstverständlich gibt es Bereiche wie etwa das argumentierende Behaupten, in denen nicht Treu und Glauben, sondern weniger personale Maßstäbe wie Gültigkeit, Schlüssigkeit und Stringenz gefordert sind; Vertrauen in die Verläßlichkeit von kodifizierten Verfahren, von Strukturen und Mechanismen: „Systemvertrauen", wenn man es so nennen will (Luhmann 1973). Es ist nicht zu bestreiten, daß in mehr und mehr gesellschaftlichen Bereichen das persönliche Vertrauen in andere Menschen abgelöst wird durch das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit von Prozeduren, Regeln und Apparaturen.

14

Wie Erikson es nennt („basic trust"), z.B. in (1966). Über die konstitutive Rolle des Vertrauens im Erziehungsprozeß vergleiche auch Bollnow (1964).

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Gabriel Falkenberg

5. Ist politische Glaubwürdigkeit ein Mythos? Kehren wir zurück zu den Beispielen aus der politischen Sprache. Beinahe in allen zu Beginn angeführten Zitaten (§1) wird sowohl von der Glaubwürdigkeit politischer Institutionen als auch von derjenigen politisch handelnder Personen gesprochen — durchweg übrigens so, als sei beides ein und dasselbe. Nun ist es aber nicht ausgemacht, daß personale Glaubwürdigkeit gerade für den Bereich der Politik eine konstitutive Rolle spielt: was ein Politiker glaubt, wenn er redet, ist im allgemeinen zweitrangig gegenüber der Frage, was er tut, nachdem er geredet hat. Ob in der Sprache amtlicher Presseerklärungen, offizieller Kommuniques, diplomatischer Noten, ja selbst parlamentarischer Debattenreden die persönliche Glaubwürdigkeit der Akteure eine wesentliche Rolle spielt oder nur eine Randbedingung darstellt, d. h. inwiefern für die Beschreibung politischer Sprache Begriffe wie „Lüge", „Wahrheit" usw. überhaupt angemessen sind, bedürfte genauerer Untersuchung. Für Debattenreden im Bundestag habe ich dies an anderer Stelle thematisiert (1981). Der Anspruch und die Erwartung ist in der Öffentlichkeit jedenfalls vorhanden, und die eingangs zitierten Beschwörungen der Glaubwürdigkeit durch die Politiker selbst scheinen einem tatsächlich bestehenden, tiefsitzenden Bedürfnis in der Gesellschaft nach entsprechenden personalen Werten in der Politik entgegenzukommen. Dies hat auch einen aktuellen Grund. Man hat im Zusammenhang der Alternativkultur einen neuen Kult der Aufrichtigkeit und Authentizität diagnostiziert (Michel 1983,1984, Grawert-May 1983): „Betroffene" „bringen sich" „authentisch" ein, inzwischen sogar bis ins Vorzimmer politischer Regierungsmacht. Dies schafft Irritationen, die auf das gesamte politische System und seine bisherigen Spielregeln wirken. Freilich ist das Phänomen selbst nicht neu. Jede entstehende gesellschaftliche, gesellschaftsverändernde Bewegung tritt im Namen personaler Werte wie Aufrichtigkeit, Glaubwürdigkeit und Echtheit an, gegen „erstarrte Systemstrukturen" und systemische Werte (wie Regierbarkeit, Ordnung, störungsfreies Funktionieren) 15 . 15

Man vergleiche nur etwa Hartmanns Pamphlet (1876), Nordaus Bestseller (1883) und Frosts Traktat (1923) mit der Streitschrift von Plack (1976), um zu sehen, wie wenig sich diese Rhetorik gewandelt hat. Die Lüge als Topos der Gesellschaftskritik ist ein leider kaum behandeltes sozialhistorisches Thema. In der neuesten Zeit lassen sich grob wenigstens drei bzw. vier größere Stränge unterscheiden: die Gegenbewegung gegen das in seiner zweiten Hälfte mechanistische, imperiale, fortschrittstrunkene und verklemmte 19. Jahrhundert (Nietzsche, Ibsen, Dostojewski, Grillparzer, „Naturalismus", Psychoanalyse); die z.T. aus der Reaktion gegen den Katholizismus entstandene deskriptive Psychologie und Phänomenologie (Husserl, Reinach, Marty, Scheler, u. a.), weiter die Existenzphilosophie (Jaspers) und der Existentialismus (Sartre, Camus) - eine entsprechende Strömung im nachfaschistischen Deutschland

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Das Paradoxe ist, daß die darauf antwortenden verbalen Beschwörungen der Glaubwürdigkeit in der Politik um so verzweifelter werden, je nachhaltiger das bestehende und von neuen politischen Bewegungen lautstark artikulierte Bedürfnis nach Berücksichtigung personaler Werte in der Politik enttäuscht wird. Indem solche Rituale nur symbolisch der Glaubwürdigkeitsforderung Rechnung tragen, stabilisieren sie, was sie beschwichtigen wollen: die Angst, daß Geist und Macht nicht zusammengehen. Hannah Arendt hat die Situation skeptisch so beschrieben: „Wer im Namen von Interessen und Macht spricht, kann nicht mehr glaubwürdig sein; er kann als Person für das, was entweder unglaubwürdig klingt oder den Interessen vieler zuwider ist, nicht mehr bürgen. Seine Glaubwürdigkeit hängt gerade an seiner Unabhängigkeit und Integrität. Es gibt im Politischen kaum einen Typus, der so berechtigte Zweifel an seiner Wahrhaftigkeit hervorruft als der berufsmäßige Wahrheitssager, der eine prästabilierte Harmonie zwischen Interessen und Wahrheit vorspiegelt" (1967:122; deutsch 1972:73-74). Der Wille, es allen rechtzumachen, nicht anzuecken, der bezahlte Optimismus ist mit Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit nicht zu vereinbaren. Politische Sprache steht damit in einer Gefahrdung, die Jonathan Swift bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts zutreffend so charakterisiert hat: The Political Lyar „never yet considers whether any Proposition were True or False, but whether it were convenient for the present Minute or Company to affirm or deny i t . . . The only Remedy is to suppose that you have heard some inarticulate sounds, without any meaning at all. And besides, that will take off the Horror you might be apt to conceive at the Oaths wherewith he perpetually tags both ends of every Proposition (Swift 1710; zit. nach 1966: 11).

fehlt fast völlig; schließlich die Studentenbewegung mit ihrem Aufgreifen marxistischer Ideologiekritik („Charaktermaske"), und ihre gebrochene Fortsetzung in der Alternativbewegung. Jede dieser geistigen Bewegungen hat ihren spezifischen Begriff von Moralität.

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Gabriel Falkenberg

Literatur Anscombe, G.E.M.: 1981. Faith. In: Dies., Ethics, Religion and Politics. Oxford: Blackwell, 113-20 Arendt, H. 1967. Truth and Politics. In: Laslett, P. & Runciman, W.G. (Eds.), Philosophy, Politics and Society III. Oxford: Blackwell, 104-33. Deutsch in 1972, 44-92 - 1971. Lying in Politics. In: The New York Review of Books, 18.11.71. Deutsch in 1972, 7—43 - 1972. Wahrheit und Lüge in der Politik. München: Piper Bollnow, O. F. 1964. Die pädagogische Atmosphäre. Heidelberg: Quelle & Meyer Coleman, L. & Kay, P. 1981. Prototype Semantics and the English Word Lie. In: Language 57,26-44 Cruickshank, C. 1979. Deception in World War II. Oxford: University Press Ellsberg, D. 1972. The Quagmire Myth and the Stalemate Machine. In: Ders., Papers on the War. New York: Simon & Schuster, 42-135 Erikson, E . H . I 966. Identität und Lebenszyklus. Frankfurt: Suhrkamp Evans, G. 1982. The Varieties of Reference. Oxford: Clarendon Falkenberg, G. 1980. Lying and Truthfulness. In: Haller, R. & Grassi, W. (Eds.), Language, Logic, and Philosophy. Wien: Hölder-Pichler-Tempsky, 328-31 - 1981. „Sie Lügner!" Beobachtungen zum Vorwurf der Lüge. In: Linguistik & Didaktik 47/ 48, 157-64 - 1982. Lügen. Grundzüge einer Theorie sprachlicher Täuschung. Tübingen: Niemeyer - 1984. Unaufrichtigkeit und Unredlichkeit. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 31.3./4, 15-19 Field, H. 1972. Tarski's Theory of Truth. In: The Journal of Philosophy 69, 347-75. Deutsch in: Sukale, M. (Hg.), Moderne Sprachphilosophie. Hamburg: Hoffmann & Campe 1976, 123-48 Frost, W. 1923. Echt und Unecht. München: Reinhardt Geach, P. T. 1977. The Virtues. Cambridge: University Press Gössmann, W. 1970. Glaubwürdigkeit im Sprachgebrauch. München: Hueber Grawert-May, E. 1983. Ehrlichkeitszwänge. In: Ästhetik & Kommunkation 53/54, 91-91 Hartmann, E. v. 1876. Die Verlogenheit des modernen Lebens. In: Neue Monatshefte für Dichtkunst & Kritik 3, 225-36 Helm, P. 1973. The Varieties of Belief. London: Allen & Unwin Henning, J. 1968. Sprache und Glaubwürdigkeit. In: Zeitschrift für deutsche Sprache 22, 112-21 Jhering, R. v. 1883. Der Zweck im Recht II. Leipzig: Breitkopf & Härtel Jervis, R. 1970. The Logic of Images in International Relations. Princeton: University Press Luhmann, Ν. 1973. Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. 2. Aufl. Stuttgart: Enke Lykken, D. T. 1981. A Tremor in the Blood. Uses and Abuses of the Lie Detector. New York: McGraw-Hill McCloskey, P.N. 1972. Truth and Untruth. Political Deceit in America. New York: Simon & Schuster Michel K.M. 1983. Die Herrschaft der neuen Glaubwürdigkeit. In: Kursbuch 71, 21-30 - 1984. Plädoyer für die Lüge. In: manuskripte 86, 33—41 Nordau, M. 1883. Die conventioneilen Lügen der Kulturmenschheit. Leipzig: Elischer Pieper, J. 1962. Über den Glauben. München: Kösel

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Klaus-Peter

KLEIN

(Münster)

Argumentation in politisch-parlamentarischer Debatte Linguistische Anmerkungen zur politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland 1. Zur Analyse des Gebrauchs von Sprache in der Politik Politik als Krieg mit anderen Mitteln - ähnliche Vorstellungen wie diese einem abgewandelten Bismarck-Zitat entnommene werden zuweilen in Presseveröffentlichungen, vor allem aber in Alltagsgesprächen nur zu häufig kolportiert: Von „Rededuellen" im Parlament wird gesprochen, ja sogar von „Redeschlachten"; es gräbt sich allemal tief ins Bewußtsein, wie Politiker aufeinander losgehen und sich in öffentlicher Rede attackieren. Die Art und Weise, wie dies geschieht einerseits und wie dies vom Medienpublikum aufgenommen wird andererseits, prägt entscheidend die politische Kultur eines Landes. Dabei bleiben im allgemeinen Gedächtnis zumeist bestimmte Zitate zurück, die sehr viel Staub aufgewirbelt haben und zu einem publizistischen Eigenleben gelangt sind: „Ratten und Schmeißfliegen" (Strauß) etwa oder die SPD als „5. Kolonne Moskaus" (Geißler). In der öffentlichen Diskussion über den Umgang der Politiker in Rede und Gegenrede untereinander werden überdies bestimmten beteiligten Personen feste Rollen zugewiesen, die diesen aufgrund spezifischer Verhaltensweisen oder Wortmeldungen gewissermaßen als ,typisch' zugeeignet werden: Herbert Wehner etwa war zu seinen aktiven Zeiten eine solche Person, der rhetorische Ausfalle im Rahmen parlamentarischer Debatten nahezu unbegrenzt zugetraut wurde. Weniger Bewußtheit herrscht in der öffentlichen Debatte im allgemeinen über bestimmte dezidierte Argumentationstechniken, die von einzelnen Politikern oder von einer Vielzahl von ihnen vielleicht bei speziellen Gelegenheiten angewandt werden. Im Blickfeld sind eher lexematische Details oder in wenigen Fällen auch syntaktische Spezifika (als Beispiel wiederum Wehner mit seinen Schachtelsätzen, die er stets zielsicher zu Ende brachte). Argumentative Techniken hingegen erschließen sich der spontanen Wahrnehmung nicht in dem Maße wie Beobachtungen auf lexematischem oder syntaktischem Gebiet. 1 1

Vgl. zu letzteren etwa Studien vornehmlich im Rahmen der Semantik-Diskussion in der Politik der 70er Jahre (u.a. Kaltenbrunner 1975, Ulmann 1975, Betz 1977, Bering 1978, Bergsdorf 1978, Greiffenhagen 1980).

Argumentation in politisch-parlamentarischer Debatte

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Gleichwohl sind die Verfahren auf der Ebene des Argumentativen die eigentlich entscheidenden, wenn es darum geht, auf rhetorischem Wege eigene politische Vorstellungen durchsetzungsfähig zu machen. Begründung und Rechtfertigung von politischen Vorhaben oder Handlungen werden in argumentativen Mustern aufgearbeitet, die in ihrer Gesamtheit mehr sind als die Summe ihrer lexematischen und syntaktischen Merkmale. Sowohl auf der Ebene der inneren wie der äußeren Textkonstitution werden bei politisch-parlamentarischen ,Rededuellen' Handlungen mit komplexen Voraussetzungen und Abläufen vollzogen. Semantische Gehalte werden rhetorisch untereinander verknüpft und entfalten pragmatische Wirkung innerhalb des kommunikativen Regelkreises ,Parlament', teilweise in Rückkopplung zum Kreis der inner- wie außerparlamentarischen Rezipienten; in jedem Fall ist das Rezipientenverhalten der unmittelbar an der Debatte beteiligten Parlamentarier ein wichtiges Konstitutionselement für Struktur und Verlauf von Argumentationen im parlamentarischen Rahmen. So muß eine Untersuchung von praktizierten argumentativen Strategien in parlamentarischen Debatten über eine grammatische und stilistische Analyse hinaus weitere textkonstituierende Bedingungen in den Blick rükken. Diese sind außerordentlich vielfaltig, insbesondere auch deshalb, weil die Adressierung von politischen Reden eine mehrfache ist: Der im Parlament präsente politische Gegner ist ebenso angesprochen wie zuweilen auch Angehörige der eigenen Fraktion des Redners als auch vor allem — medial vermittelt — die politische Öffentlichkeit'. Die Argumentationsziele in politischen Reden sind aus dieser potentiellen Mehrfachadressierung her zu begreifen; verbale und nichtverbale Handlungen von Debatten-Teilnehmern werden vollzogen unter dem Aspekt politischer Opportunität und Effektivität und sind intentional auf Rechtfertigung, Durchsetzung und Akzeptanz von vergangenem, gegenwärtigem und zuweilen auch zukünftigem politischen Handeln gerichtet. 2. Analysen zur Argumentationstechnik in parlamentarischen Debatten Sprachliches Handeln in der Politik, das unter den genannten Prämissen stattfindet, kann nur dann angemessen beschrieben werden, wenn die sprachlichen Mittel in Relation zu den institutionellen Bedingungen ihres Gebrauchs gesetzt werden. Das Geflecht von Abhängigkeiten und Gruppenzuordnungen, in dem sich der professionalisierte Politiker befindet, beeinflußt dessen sprachliches und nicht-sprachliches Handeln in der Weise, daß seine Äußerungen eingebunden zu sehen sind in politische Interessen, denen er durch Zugehörigkeit zu einer bestimmten politischen Gruppierung verpflichtet ist. So wichtig linguistische Studien zum Sprachgebrauch in der Politik auf lexematischem Gebiet auch sind, so reichen sie doch nicht entfernt hin, um sprachliches Handeln in der politischen Auseinanderset-

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zung in seinen essentiellen Merkmalen, Voraussetzungen und Wirkungen zu beschreiben. Im Zentrum der nachfolgenden Analysen stehen daher Beobachtungen zum kommunikativ-diskursiven Verlauf von parlamentarischen Argumentationen, zu strategischen Aspekten praktischer Argumentationstechniken, zu Rückwirkungen von Rezipienten-Reaktionen auf den Redner, zu argumentativen Präsuppositionen, zur Stringenz in der Abarbeitung von Argumentationsschemata und ihrer Behinderung durch Zwischenrufe u. ä. Dabei müssen in diesem Rahmen die Analysen sich auf einige wenige Strukturmerkmale beschränken; deutlich werden sollen vor allem die grundsätzlichen Zugriffsmöglichkeiten auf diese Fragestellungen anhand einiger Beispiele. Im Blickfeld soll überdies bleiben das Verhältnis von Sprache der Politik und politischer Kultur unter sprachkritischem Aspekt. 2 Eine differenzierte Beschreibung dessen, wie , Argumentieren' zu definieren ist im Kontext politischer Auseinandersetzung, vermag erst aufgrund einer eingehenden Analyse geleistet werden. Als Arbeitsgrundlage soll hier eine elementare Beschreibungskategorie des sprachlichen Handlungsmusters .Argumentieren' zugrunde gelegt werden: Demnach dienen Argumentationen der Klärung strittiger Sachverhalte und repräsentieren sprachliche Handlungsabläufe, in deren Verlauf das Strittige benannt, beschrieben und bewertet wird. Zur Stützung seiner Bewertung des Strittigen kann der sprachlich Handelnde Beweise oder Belege heranziehen, er kann durch Schlußfolgerungen dazu gelangen, er kann sich auf Erfahrungen berufen, praktische Schlüsse zu ziehen versuchen, gesellschaftlich sanktionierte Stereotype bemühen, er kann auf ethische oder moralische Axiome rekurrieren usf.; die jeweilige Instanz, auf die er sich beruft, und die Gründe, die er für die Geltung seiner Bewertung benennt, sind zentraler Gegenstand seiner Argumentation, sind also seine ,Argumente'. 3 Das Strittige, das zum Ausgangspunkt und Gegenstand von Argumentationen gemacht wird, kann von durchaus unterschiedlicher Natur sein: Es kann sich sowohl um sachbezogene als auch personenorientierte Streitpunkte handeln; der strittige Sachverhalt kann ein vergangener, gegenwärtiger oder zukünftiger sein; die widerstreitenden Personen können in den Sachverhalt involviert sein oder auch in einem distanzierten Verhältnis zu ihm stehen; der strittige Gegenstand kann eher ideeller oder materieller

2

3

Zur Diskussion um die politische Sprachkritik vgl. als Arbeiten aus jüngster Zeit vor allem Säße 1977, Dieckmann 1980, Heringer 1982, Wimmer 1983. Der Argumentationsbegriff kann hier natürlich nicht umfassend diskutiert werden. Verwiesen sei auf die umfangreiche Literatur, insbesondere auf Hare 1952/1972, Toulmin 1958/ 1975, Deimer 1975, Gerhardus u.a. 1975, Kopperschmidt 1976, Schecker 1977, Perelmann 1977/1980, Göttert 1978, Hannappel/Melenk 1979, öhlschläger 1979, Völzing 1979, Habermas 1984.

Argumentation in politisch-parlamentarischer Debatte

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Natur sein; der strittige Sachverhalt kann Interessen explizit zum Gegenstand haben oder auch solche nur verdeckt repräsentieren; usf. Im folgenden sollen nun anhand von Debatten-Beispielen einige Aspekte von Argumentationspräferenzen in der politischen Auseinandersetzung in der BRD vorgeführt werden. Dazu habe ich Ausschnitte aus einer Bundestagsdebatte des Jahres 1955 ausgewählt, die uns als Ausgangsmaterial dienen sollen. Die Analyse von Redeausschnitten aus einer Bundestagsdebatte bewegt sich auf dem Boden von gesichertem und jedermann zugänglichem Datenmaterial, den Bundestagsprotokollen; diese enthalten bis zu einem bestimmten Maße auch die spontanen Reaktionen der zuhörenden Parlamentarier, die auf der Grundlage der gleichen sozialen Rollenstruktur und in bezug auf das Thema in gleichem Maße professionalisiert durch Zwischenrufe oder Zwischenfragen sprachlich handeln. Diese reaktiven Handlungen werden - nach allen Erfahrungen - relativ gewissenhaft protokolliert und damit der Analyse zugänglich gemacht, was bei dem Versuch, solche Debatten aufgrund von Mitschnitten auf elektronischen Datenträgern zu rekonstruieren, nicht immer im gleichen Maße möglich wäre. Für die linguistische Analyse enthält das Ausgangsmaterial eines solchen Debatten-Protokolls die Möglichkeit, professionelle Rezeptionsweisen von Redebeiträgen zu untersuchen, die Interdependenzen zwischen Ausführung des Redenden und verbalen Reaktionen der Zuhörer abzuschätzen und damit das relativ komplexe Geflecht von aufeinander einwirkenden sprachlichen Handlungen zu erfassen, das in seiner Gesamtheit Ausdruck dessen ist, was gemeinhin unter politischer Kultur' verstanden wird. Bei den zugrunde gelegten Debattenausschnitten handelt es sich um Wiedergaben aus einer Sitzung vom 24.02.1955 über die militärpolitische Integration der Bundesrepublik Deutschland ins westliche Bündnis, in Sonderheit über die kurz zuvor unterzeichneten und nun zur Ratifizierung anstehenden Pariser Verträge (NATO, WEU). Sprecher seitens der Regierung in den herangezogenen Ausschnitten ist Franz-Josef Strauß; da zur Beurteilung von Argumentationstechniken und -Strategien auch die zumindest periphere Kenntnis von beteiligten Personen angebracht ist, erscheint es sinnvoll, für eine exemplarische Analyse die Rede eines Politikers heranzuziehen, der auch aus heutiger Sicht hinsichtlich seines Auftretens, seiner Artikulation usw. einen relativ hohen Bekanntheitsgrad aufweist. Auf der anderen Seite ist es für eine solche Analyse von Vorteil, wenn die in ihrem Mittelpunkt stehenden Redebeiträge sich auf ein politisches Problem beziehen, das eine nicht unbeträchtliche Distanz zur Tagespolitik aufweist und damit für den Analysierenden die Gefahr der politischen Involviertheit in die Thematik nicht mehr im gleichen Maße gegeben ist, wie dies bei einem aktuellen Thema der Fall sein könnte; dennoch ist die grundsätzliche Problemstellung, die der herausgegriffenen Debatte zugrunde lag, auch aus

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heutiger Sicht nachvollziehbar, weil einzelne Aspekte des Themas auch politischen Fragestellungen der Gegenwart noch immanent sind. 2.1 Monologische Vorwurfs-/Rechtfertigungs-Diskurstechniken: Argumentieren durch reziproke Analogiebildung Es liegt in der Natur der politischen Auseinandersetzung, daß diese häufig den Verlauf von Vorwurfs-Rechtfertigungs-Interaktionen nimmt. Das antagonistische Prinzip, das in der parlamentarischen Struktur von regierungsstützenden und opponierenden Parteien begründet liegt, führt zwangsläufig zu zahlreichen Schuldzuweisungs-Versuchen und deren Zurückweisungen. In Parlamentsdebatten können gewissermaßen zwei verschiedene „Grade" an Vorwurfsformulierungen auftauchen: Auf der einen Seite handelt es sich um Vorwürfe, die sich aus der jeweils aktuellen parlamentarischen Interaktion von Rede und Gegenrede entwickeln und sich direkt auf Äußerungen innerhalb einer Debatte beziehen; zum anderen können Vorwürfe und Schuldzuweisungen, die außerhalb des parlamentarischen Raums (z.B. bei Wahlkampfveranstaltungen) geäußert werden, innerhalb einer Debatte gleichsam als „Zitat" eingebracht und einer parlamentarischen Auseinandersetzung zugeführt werden. Der letztgenannte Fall liegt vor bei dem Disput, der sich zwischen Strauß und einzelnen Mitgliedern der SPD-Fraktion bei der Debatte am 24.02.55 abspielte (siehe Textanhang: Bundestagsprotokoll S. 400 f.). Strauß führt einen Vorwurf als Zitat in die Debatte ein, der seinen Worten zufolge vom Vorsitzenden des Landesbezirkes Bayern des DGB, der zugleich der SPD angehörte, erhoben wurde; der Vorwurf ginge dahin, daß Adenauers Außenpolitik Kriegspolitik sei.4 Folgt man Fritz/Hundsnurscher (1975), so gibt es als Verteidigungsreaktion auf einen Vorwurf grundsätzlich drei Möglichkeiten, nämlich zum ersten den Vorwurf zurückzuweisen, zum zweiten die Verantwortlichkeit der eigenen Person für die vorgeworfene Handlung zu bestreiten und zum dritten eine Rechtfertigung vorzubringen. 5 Gehen wir davon aus, daß in politischen Debatten Vorwürfe zumeist der Art erhoben werden, daß diese jeweils einen von der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit negativ sank-

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Es kann davon abgesehen werden, daß dieser Vorwurf, wie ihn Strauß verstanden wissen möchte, von ihm sprachlich nicht unmißverständlich nachvollziehbar eingebracht wird; nach dem Zitat, das Strauß vorbringt, müßte der DGB-Funktionär die Parole von Adenauers Kriegspolitik sich nicht unbedingt zu eigen gemacht haben. Im weiteren kann aber davon ausgegangen werden, daß aus dem Zusammenhang der von Strauß zitierte Vorwurf herausgelesen werden kann. Weitere Studien zur Vorwurfs-/Rechtfertigungs-Interaktion finden sich u. a. bei Scott/Lymann 1968, Posner 1972, Rehbein 1975, Frankenberg 1976, Jäger 1976.

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tionierten Verstoß gegen einen Wert oder eine Norm betreffen, so wird verständlich, warum die erstgenannte Variante einer Reaktion auf einen Vorwurf in der politischen Auseinandersetzung mit Abstand die meistbenutzte ist. In einem solchen Fall ist es das Ziel dessen, der auf einen Vorwurf reagiert, durch geeignete sprachliche Mittel zu einer Falsifizierung des erhobenen Vorwurfs zu gelangen (entspricht der Variante a in der nachfolgenden Grafik). Eine beliebte Modifikation besteht nun darin, daß der Vorwurf mit einem Gegenvorwurf gekontert wird, dessen Ziel es ist, den Verursacher des Vorwurfs als nicht ausreichend kompetent und/oder moralisch berechtigt erscheinen zu lassen, diesen bestimmten Vorwurf überhaupt zu erheben (siehe Grafik Variante b). Die spezifische Situation bei einer Rede, sich mit Vorwürfen auseinanderzusetzen, die der Redner selbst als Zitat einbringt, erlaubt — da auf den Vorwurf nicht spontan reagiert werden muß — eine noch ausgefeiltere Strategie der Auseinandersetzung mit dem Vorwurf als dieser eben erwähnten, wie der Redeausschnitt von Strauß zeigt: Auf S. 400 rechts oben wird der Vorwurf in Form eines Zitats eingebracht und kurz darauf, noch ebda., mit einem hypothetischen Vorwurf, den die CDU gegenüber der SPD erheben könnte, konfrontiert, u. z. mit der von Strauß gleichsam als „fiktional" eingeführten Parole „Wer Ollenhauer wählt, wählt die Unterwerfung unter Moskau!". (Auf die nun folgenden Reaktionen seitens der SPD-Fraktion wird unten noch einzugehen sein.) S. 401 links oben wiederholt Strauß die Gegenüberstellung von zitiertem Vorwurf und hypothetischem Gegenvorwurf. Nach einer weiteren Unterbrechung der Vorwurfs-Abarbeitung kommt Strauß dann S. 401 rechts Mitte zum eigentlichen Ziel seiner Argumentation in diesem Punkt, nämlich zur Distanzierung von dem hypothetisch eingeführten Gegenvorwurf, indem er ausführt, er habe bereits ausdrücklich erklärt (was nicht stimmt), er wolle mit dem von ihm eingeführten Gegen Vorwurf „nichts zu tun haben". Vorwurf (Zitat)

Belege, Argumente, Beweise, Schlüsse

Falsifizierung/ • Verifizierung/ Modifizierung

b) Ziel: Falsifizierung Vorwurf (Zitat)

c)

> Gegenvorwurf

^ und/oder der moralischen Berechtigung zur Vorwurfserhebung

Ziel: Falsifizierung Vorwurf (Zitat)

hypothetischer ^ Gegenvorwurf (,fiktionales Zitat')

Distanzierung von hypothetischem Gegenvorwurf

Vorwurf als ^„unmoralisch" gebrandmarkt

Vorwurf .widerlegt'

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Diese Strategie entspricht der Variante c der grafischen Abbildung. Funktion und Effekt einer solchen Argumentation ist ähnlich komplex wie die Strategie, die zu ihrer Erreichung führt: Der Vorwurf wird nicht im eigentlichen Sinne falsifiziert, sondern gewissermaßen als ,unmoralisch' gebrandmarkt und damit seiner Substanz beraubt; darüber hinaus geschieht aber noch ein weiteres: Der hier als hypothetisches Zitat eingeführte Gegenvorwurf wird zwar inhaltlich genauso wenig diskutiert wie der Vorwurf selbst und wird damit im Hinblick auf seinen Wahrheitsgehalt nicht problematisiert; zugleich wird aber insinuiert, daß man selbst zu den Mitteln, die der politische Gegner benutzt, niemals greifen würde. Damit ist das eigentliche Argumentationsziel erreicht: Der politische Gegner ist moralisch in die Defensive gedrängt, weil er offensichtlich zu degoutanten Mitteln greift; die eigene Großmut und Fairneß erscheinen insoweit als bewiesen, als man eben den Verzicht auf solche Mittel erklärt hat. Aus diesem Grund sind die Zwischenrufe und Zwischenfragen, die Strauß aus der SPD-Fraktion entgegengebracht werden, eher störend und provozieren keine polemische Replik des Redners der Art, wie sie dieser in aller Regel zu erteilen pflegt: Die Zwischenfragen zielen nämlich darauf ab, den von Strauß als hypothetisch eingeführten Gegenvorwurf als einen realen und tatsächlich erhobenen zu belegen und insoweit den gesamten Argumentationsstrang gewissermaßen abzuknicken. Die Reaktion des Redners auf beide Zwischenfragen ist jeweils eine Wiederholung der Exposition, die darin besteht, den zitierten Vorwurf mit dem hypothetischen Gegenvorwurf zu konfrontieren. Auf S. 401 rechts Mitte muß Strauß, will er den Effekt seiner Argumentationstechnik noch einigermaßen gewährleisten, diese Versuche aus der SPD-Fraktion unterbinden, um seine Argumentationskette vollenden zu können: Er läßt keine weiteren Zwischenfragen mehr zu, schließt seinen Argumentationszug ab und geht dann unvermittelt zu einer neuen Argumentationseinheit über. Die Struktur der Argumentation, die Strauß hier in Form der Vorwurfsentgegnung abarbeitet, kann als ,reziproke Analogiebildung' bezeichnet werden. Eine solche ist dadurch gekennzeichnet, daß der Argumentierende eine dem Vorwurfsgegenstand nahekommende Proposition in analoger Weise auf den Vorwurfserhebenden oder eine diesem nahestehende Person wendet; der Sprecher antizipiert dabei eine für wahrscheinlich gehaltene Empfindung und Vorwurfsreaktion des Argumentationskontrahenten im reziproken Fall. 6 Die Frage ist nun, welches das Strittige ist, auf das sich die Argumentation des Redners in unserem konkreten Beispiel bezieht. Strauß spricht 6

Beispiele herfür wären etwa Äußerungen wie „Was du von mir verlangst, würde ich von dir nie im Traum erwarten." oder „Was würden Sie sagen, wenn ich Sie genauso behandeln würde, wie Sie es mit mir getan haben?"

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über das Zitat des Gewerkschaftlers Wönner und bestreitet diesem die Berechtigung zu einer solchen Aussage; außerdem identifiziert er die SPD als Ganzes mit der Äußerung Wönners, den er als SPD-Mitglied in die Argumentation einführt. Er bewertet die Äußerung als „ Geschmacklosigkeit" und als „verleumderischen Vorwurf", erläutert aber keine dieser beiden Bewertungen näher. Eine solche Erläuterung oder Begründung wird auch aus den Reihen der SPD-Fraktion durch keinen Zwischenrufer oder Zwischenfrager verlangt; die der Straußschen Argumentation zugrundeliegende Präsupposition wird offensichtlich auch in der SPD-Fraktion so eingeschätzt, daß eine Agitation dagegen nicht opportun ist.7 Die SPD macht ihrerseits einen anderen Punkt zum Strittigen, nämlich die Frage, ob die von Strauß hypothetisch eingeführte Formulierung eines Gegenvorwurfs, dessen Übernahme Strauß weit von sich weist, nicht doch durch die CDU/CSU in der Öffentlichkeit verbreitet wird. Es gelingt ihr zwar nicht, dies zum Thema der Argumentation des Redners zu machen; sie bringt diesen aber immerhin dazu, dies als mögliches Diskussionsthema einzuräumen („Ich bin gern bereit, mich darüber zu unterhalten") und das Thema dann schnellstens zu verlassen. In der politischen Sachsubstanz wäre indessen das Strittige darin zu sehen, ob bzw. inwieweit der vom DGB-Funktionär erhobene Vorwurf gegenüber Adenauer berechtigt oder widerlegbar ist. Die Argumentation des Redners verläuft indessen auf einer Ebene, in welcher der Geltungsanspruch von Aussagen nicht in bezug auf ihre Inhalte, sondern statt dessen hinsichtlich ihrer moralischen (diese Kategorie zieht Strauß mit dem Vorwurf der „Verleumdung" an) oder ästhetischen („geschmacklos") Funktion als strittig deklariert wird. Dabei vermeidet er es, auf den propositionalen Gehalt der Vorwurfsäußerung einzugehen, und operiert damit auf einer Argumentationsebene, die in gewisser Weise eine sekundäre ist und auf der Fragen der moralischen Legitimation von Kommunikationsteilhabern zur Äußerung bestimmter Propositionen problematisiert werden. Argumentationen vergleichbarer Qualität und Struktur liegen beispielsweise dann vor, wenn der Geltungsanspruch einer Assertion durch Problematisierung der Rahmenbedingungen, unter denen diese formuliert wurde, argumentativ bearbeitet wird („Unerhörte Äußerung im Rahmen einer parlamentarischen Debatte"), die Äußerung oder ihr Urheber durch Bewertung ihrer/seiner .Qualität' als diskussionsunwürdig hingestellt wird („Solche primitiven Formulierungen sind wir ja aus dieser Ecke des Parlaments gewöhnt") u. ä.

7

Zu dieser Kategorie einer .moralischen' Präsupposition in der politischen Auseinandersetzung siehe auch das folgende Kap. 2.2.

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2.2 Bewerten durch Zitieren: Argumentative Präsuppositionen und ,Wahrheiten' Als strittig wird auch dann häufig der Wahrheitsanspruch einer Aussage und ihrer Proposition empfunden, wenn sie faktisch die .Richtigkeit' von Bewertungen über Handlungen/Zustände, auf die referiert wird, zum Gegenstand hat. Die Argumentation mit Hilfe von Zitaten, die als Stütze der eigenen Position in die Debatte eingebracht werden (wobei sie sowohl unter dem Rubrum .richtig' wie auch .falsch' verwendet werden können), bringt beide Ebenen zumeist in verschränkter und in der praktischen Kommunikation schwer auflösbarer Form ins Spiel. Ein Beispiel hierfür finden wir im weiteren Verlauf der Bundestagsdebatte vom 24.02.1955 (Textanhang S. 402 linke Spalte), wo der Wahrheitsbegriff expressis verbis im argumentativen Diskurs thematisiert wird. Strauß zitiert aus einem Flugblatt der SPD, in dem eine Aussage Adenauers unter .Dichtung' firmiert und eine Passage aus einem Kommentar einer niederländischen Zeitung unter der Überschrift .Wahrheit' wiedergegeben wird. Dabei geht es inhaltlich um die Frage, ob die Westalliierten als neue Partner der jungen Bundesrepublik Deutschland eine Wiedervereinigung Deutschlands anstreben oder auch nur zulassen würden; der These Adenauers, die zur Ratifikation anstehenden Verträge würden die Westalliierten zu einer aktiven Wiedervereinigungspolitik verpflichten, stellt die SPD in ihrem Flugblatt die Auffassung einer niederländischen Zeitung gegenüber, die westeuropäischen Verbündeten der Bundesrepublik würden ein geteiltes Deutschland vorziehen, weil sie sich damit sicherer fühlten. Im folgenden artikuliert Strauß ganz exakt, wie er die Gegenüberstellung der beiden Thesen in bezug auf den Urheber des Flugblatts, die SPD, verstanden haben will: Die Begriffe .Dichtung' und ,Wahrheit' bezieht er in beiden Fällen auf die Inhalte der zwei Thesen; der Auszug aus einem Artikel des zitierten niederländischen Presseorgans gibt für Strauß mithin die Auffassung der SPD über die Intentionen der westeuropäischen Alliierten wieder. Auf den ersten Blick ist diese Interpretation des Redners auch durchaus schlüssig. Gleichwohl gerät die Fraktion der SPD in Unruhe, u. z. immerhin so heftig, daß mehrere Zurufe (die vom Protokollanten nicht im einzelnen entschlüsselt werden konnten) gleichzeitig in Richtung Rednertribüne gehen. Der Zwischenruf des Abgeordneten Dr. Menzel macht deutlich, was die Unruhe in der SPD verursacht hat: Sein Zuruf „Das Zitat ist doch richtig!" wischt Strauß beiseite, indem er äußert: „Es handelt sich nicht um das Zitat." Nachdem er anschließend nochmals sein Verständnis von der Gegenüberstellung von Dichtung und Wahrheit auf dem SPD-Flugblatt wiederholt, kommt es zu einem sehr merkwürdigen Zwischenruf eines weiteren SPD-Abgeordneten: „Das sind doch die Zeitungen der Regierungen, mit denen Sie die Verträge gemacht haben, Herr Strauß! Mehr ist doch

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nicht festgestellt!" Diesen Argumentationsstrang, der von den politischen Inhalten der Zitate weitgehend abstrahiert, benutzt Strauß nun zu einer für ihn typischen Replik, mit der er, wie das Protokoll vermerkt, Heiterkeit und Beifall in seinen Reihen erregt, die aber auch die Argumentation über dieses SPD-Flugblatt zu beenden vermag; auffallenderweise kommen hierzu von selten der SPD-Fraktion keinerlei weitere Zwischenrufe mehr. Das Problem des Zitats stellt sich im Rahmen dieser Argumentation in zweierlei Hinsicht. Zum einen zitiert Strauß aus einem SPD-Flugblatt, um die SPD damit auf eine ganz bestimmte Rolle in der Auseinandersetzung um die West-Verträge festzunageln; zum anderen benutzten die Autoren des Flugblattes ebenfalls die Technik des Zitats und intendierten dabei, die Bundesregierung auf eine ganz bestimmte Rolle im Verhältnis zu den Pariser Verträgen festzunageln. Da es sich um eine politische Kampfschrift handelt, ist die von Strauß zugrunde gelegte Deutung vermutlich auch das von den Autoren für die Rezipienten intendierte Verständnis. Das Heranziehen einer ausländischen Zeitung zur Formulierung und Stützung dieser These führt gleichsam eine .höhere Autorität' in die Diskussion ein und verleiht so der in diesem Zitat transportierten politischen Auffassung einen höheren moralischen Anspruch, als wenn die These lediglich aus einer deutschen Quelle stammen würde. Dies kann als ein konstantes Merkmal der bundesdeutschen politischen Debatten-Kultur gelten, in der die Diskussion um den moralischen Anspruch, eine bestimmte Position vertreten zu ,dürfen', oft eine überproportionale Rolle im Verhältnis zu politisch-inhaltlichen Diskussionen einnimmt. Eine mögliche Folge hiervon ist, daß Diskurse gewissermaßen auf .Ersatz-Kriegsschauplätzen' ausgetragen werden, wo um einen kurzfristigen Positionsgewinn gerungen wird. In unserem Beispiel diktiert die Scheu davor, eine inhaltliche Diskussion aufzunehmen, die Reaktion aus der SPD-Fraktion, die das Thema auf eine eher abwegige Ebene wegführt: Ein Wortgefecht darüber, ob eine ausländische Zeitung der dortigen Regierung nahesteht oder nicht, deutet die Problematisierung von Wahrheitsund/oder Richtigkeitsansprüchen von Aussagen bzw. Bewertungen, die zum Thema .Einstellung der West-Alliierten zur Wiedervereinigung Deutschlands' geäußert werden, um in die Frage nach dem politischen Standort des Urhebers des Texts; diese Umdeutung des Strittigen, mit der die argumentativen Propositionen ihres politischen Kerns weitgehend beraubt werden, versucht dem Redner die propositionale Basis seiner Argumentation zu entziehen: Strauß sieht sich dann auch gezwungen, eine neue Basis-Proposition für die Wiederaufnahme seines Argumentationsschemas einzuführen, wie er es S. 402 rechts Mitte versucht; erst auf S. 403 links oben nimmt er die Argumentation über das Flugblatt aus Hof wieder auf, ohne sie indessen weiter zu vertiefen. Die Auseinandersetzung über diesen Punkt versandet dann buchstäblich in etwas vordergründigen Scharmützeln.

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Natürlich hat die Verwendung einer solchen Strategie ihre Ursachen auch im Verhältnis der beteiligten Politiker oder Gruppen zu den in Rede stehenden politischen Inhalten; in der unmittelbaren Fortsetzung der Debatte zeigt sich, daß die SPD in der Tat zum damaligen Zeitpunkt Probleme hatte, sich zu einer eindeutigen Beurteilung des politischen Sachkerns der Auseinandersetzung, also der Politik der Westmächte, durchzuringen. Ein Ausweichen auf Ersatz-Kriegsschauplätze lag somit nahe. Strauß arbeitet dieses innere Problem der SPD von S. 402 rechts Mitte bis S. 403 rechts oben zumindest ansatzweise heraus. Eine inhaltliche Auseinandersetzung braucht Strauß demzufolge auf S. 402 nicht zu führen: An keiner Stelle bestreitet er, daß die Auffassung der niederländischen Zeitung ,Wahrheit' sei und daß Adenauer demgegenüber eine unwahrhaftige Politik treibe. Strauß kann sich dies leisten, da es sich offenbar von selbst versteht, daß die Wahrheits-Zuweisung genau andersherum zu erfolgen hat. Es ist auffallend, daß die SPD-Fraktion dies so akzeptiert, denn durch keinen Zuruf wird Strauß dazu provoziert, hierzu Stellung nehmen zu müssen. Die argumentative Präsupposition, die der Äußerung von Strauß zugrunde liegt, wird offenbar allgemein geteilt; sie könnte sich so zusammenfassen lassen: Es widerspricht der politischen Moral, der eigenen Regierung Lüge und den besten Verbündeten fehlendes Interesse an deutschen Schicksalsfragen vorzuwerfen. Der Rekurs auf eine solche Qualität von präsupponierten und offensichtlich auch allgemein sanktionierten moralischen Rollenzuweisungen bestimmter politischer Rollenträger ist ein durchaus probates Mittel der politischen Auseinandersetzung. Diese verfestigen sich nicht selten zu Stereotypen, die über Jahre und Jahrzehnte hin wirksam sein können und auch die Präsuppositionsstruktur von Alltags-Argumentationen bestimmen; die Zuordnung von ,links' = sozial und ,rechts' = unsozial oder .links' = wirtschaftsdirigistisch und ,rechts' = wirtschaftsliberalistisch ist beispielsweise ein solches mehrheitlich sanktioniertes und über Generationen hinweg immer wieder reaktiviertes Stereotyp in der politischen Auseinandersetzung. 2.3 Rituelle Konfliktbearbeitung: Empörungsgestus und demonstrative Kommunikationsverweigerung Argumentatives Handeln in der Politik geschieht auf der Folie bestimmter institutioneller und medialer Bedingungen, die den Ablauf argumentativer Diskurse bis zu einem gewissen Grad prädisponieren. Hierher gehört als Spezifikum parlamentarischer Debatten das Spiel wechselseitiger Züge zwischen den regierungsstützenden und opponierenden Fraktionsangehörigen. Dabei hat der jeweilige Redner das Prärogativ der Hegemonialisierung des Argumentationsablaufs; die rezipierenden Parlamentarierkollegen können durch Zwischenrufe oder -fragen nur im beschränkten Maße eigene argumentative Strategien durchsetzen.

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Die Möglichkeiten des reaktiven Handelns der Rezipienten leidet damit zwangsläufig unter den Restriktionen, die eine auf den Redner abhebende Debattenstruktur mit sich bringt: Zwischenrufe müssen sprachlich möglichst verdichtete Propositionen transportieren und überdies so angelegt sein, daß der Redner sie zur Kenntnis nehmen muß. Zwischenfragen bedürfen der Zulassung durch den Redner, was häufig mit Hinweis auf die knappe Redezeit abgelehnt wird, und müssen zudem zwanghaft in die Form einer „Frage" gekleidet werden. Diese asymmetrischen kommunikativen Verhältnisse führen zuweilen entweder zu besonders aggressiven Reaktionen oder auch zu massiven rituellen gestischen Demonstrationen; die schwerwiegendste und weitgehendste ist diejenige der vorübergehenden Kommunikationsverweigerung - das Verlassen des Saales. Diesem geht in der Regel eine als besonders provozierend empfundene Äußerung des Redners voraus, die zunächst mit wilden Empörungsbezeugungen der sich betroffen fühlenden Parlamentarier im ,dialogischen' Wechselspiel mit dem Redner quittiert wird. Ein Beispiel hierfür ist innerhalb der uns vorliegenden Debatte von von S. 403 rechts oben bis S. 405 zu studieren. Es beginnt wiederum mit einem Zitat, das Strauß aus einer Rede von Ollenhauer in das Parlament einbringt: „Die deutsche Außenpolitik sei schließlich nicht nur eine Außendienststelle der Amerikaner". Die mögliche Brisanz einer solchen Formulierung erschließt sich dem politisch Interessierten unter den gegenwärtig geltenden Prämissen der außenpolitischen Diskussion wahrscheinlich nicht mehr in vollem Ausmaß, da die Frage nationaler Interessen und ihrer Durchsetzung auch gegenüber verbündeten Staaten heute durchaus im Bundestag zur Sprache kommen kann, ohne einen Eklat zu bewirken, wie er nun in dem folgenden Teil der Debatte von 1955 stattfindet. Der eigentliche Auslöser allerdings ist offenbar ein Hörfehler von Strauß; dieser schnappt einen Zuruf aus der SPD-Fraktion unvollständig auf und reagiert mit der Bemerkung, im ersten deutschen Bundestag seien aus der gleichen Ecke ähnliche Zwischenrufe gekommen. Die nun folgende große Erregung in der SPD-Fraktion wird für uns heutige Zeitgenossen erst verstehbar, wenn wir die innenpolitischen Konstellationen der damaligen Zeit in der Bundesrepublik und auch in anderen westlichen Ländern, insbesondere in den USA, hierzu ins Kalkül ziehen: Es handelte sich offensichtlich um eine Anspielung darauf, daß ähnliche Zwischenrufe aus der kommunistischen Fraktion des ersten Bundestages gekommen sind oder hätten gekommen sein können. Strauß gelingt es kaum, in der großen Unruhe noch ein paar Worte zu sagen; aus der SPD erklingt die Forderung, er müsse sich entschuldigen. Einzelne Abgeordnete der SPD streben dem Ausgang zu: Der demonstrative Empörungs-Gestus wird ohne Verzögerung aktiviert; Strauß hat offenbar eine moralische Grenze touchiert, die einer verbalen Diskussion unter

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den gegebenen institutionellen Restriktionen der Debattenregularien nicht mehr zugänglich ist. Auf S. 404 rechts oben wird nun der Hörfehler als solcher diagnostiziert. Strauß erklärt, seine Bemerkung sei aufgrund dieses Hörfehlers gegenstandslos; die Empörung in der SPD-Fraktion legt sich gleichwohl nicht. Strauß wird vorgehalten, er habe eine „Unverschämtheit" geäußert, es wird immer wieder eine Entschuldigung gefordert, und es wird der Grund der Empörung expressis verbis ausgesprochen: „Sie haben uns als Kommunisten bezeichnet!" Wiederum verlassen SPD-Abgeordnete den Saal. Strauß erklärt abermals die Bemerkung für gegenstandslos und nimmt sie ausdrücklich zurück. Aus der SPD-Fraktion wird weiterhin eine Entschuldigung gefordert; ein Zurufer spricht gar von „Volksverhetzung". Der Abgeordnete Wienand, der den von Strauß falsch gehörten Zuruf gemacht hatte, stellt eine Zwischenfrage (anders kann er offiziell das Wort nicht erlangen) und fragt, ob Strauß die Zurücknahme seiner Bemerkung als Entschuldigung für den Vorwurf betrachte, daß er ihn „mit den Kommunisten gleichgestellt" habe. Strauß wiederholt daraufhin noch einmal seinen Hörfehler, erklärt seine Bemerkung wiederum für gegenstandslos und nimmt sie abermals zurück. Der Ritus der kollektiven Kommunikationsverweigerung durch Verlassen des Plenumsaales wird im vorliegenden Beispiel nicht so konsequent durchgespielt, wie dies bei anderen Gelegenheiten von verschiedenen Fraktionen schon praktiziert wurde; vielmehr bleibt es hier bei Ansätzen und vereinzelten Handlungsvollzügen in dieser Richtung, ohne daß der Verweigerungsgestus in kollektiven Größenordnungen vorgeführt wird. Das Fallbeispiel gibt dennoch genügend her für die Analyse dieser Variante argumentativer Auseinandersetzung unter Einschluß der Empörungsbekundungen im Vorfeld des demonstrativen Verweigerungsgestus und ihrer jeweils spontanen Bearbeitung durch den Redner. Die Äußerung, die zu dem „Zwischenfall" (wie es der amtierende Bundestagspräsident nennt) führt, referiert auf den Bundestag der 1. Legislaturperiode und auf eine „Ecke" dieses Bundestages, in der nunmehr (also in der 2. Legislaturperiode, in der die KPD nicht mehr in den Bundestag kam) Teile der SPD-Fraktion sitzen. Die Prädikation der Äußerung, es seien aus der gleichen Ecke „ähnliche Zwischenrufe" gekommen, klingt bei näherer Betrachtung nicht sehr aufregend: Da aus der SPD-Fraktion ja tatsächlich kein irgendwie auffallig .abweichender' Zuruf kam, würde die Äußerung des CSU-Vorsitzenden von ihrer Position her gesehen lediglich besagen, daß ähnlich „richtige Aussagen" (den tatsächlichen Zuruf des SPD-Abgeordneten Wienand könnte letztlich auch die Regierung inhaltlich akzeptieren) auch von der KPD vertreten werden. Daß die Referenz auf die „gleiche Ecke" sofort als inhaltliche Stigmatisierung in Richtung „verfassungsfeindliche Untriebe" (das Verbot der KPD infolge eines späteren Verfassungsgerichts-Urteils war bereits in der Diskussion) verstanden wird,

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zeigt den hohen Grad an metaphorischer Ritualisierung von parlamentarischen Konfliktbearbeitungen. 8 Die kolossale Aufregung innerhalb der SPD-Fraktion, die sich auch darin ausdrückt, daß eines ihrer Mitglieder zum Redner läuft und ihm gewissermaßen in Face-to-face-Kommunikation und ganz .persönlich' eine Entschuldigung abfordert, beruht auf der Umdeutung des politischen Standorts der SPD, wie sie mit der Metapher von der „Ecke", aus der eine Äußerung kommt, vom Redner vorgenommen wird. Diese Umdeutung tangiert das Gruppenverständnis der Angesprochenen; die Gruppe .SPDFraktion' wird damit gleichsam hinsichtlich ihrer politischen Integrität attackiert und sieht auf diese Weise ihre Identität in Zweifel gezogen. Die darin liegende Verletzung einer kommunikativen Grundregel ist wegen ihres metaphorischen Charakters nur schwierig einem argumentativen Diskurs zuführbar. Dies mag die relativ sprach- und argumentarme Reaktion erklären, die typische Merkmale von Empörungsbekundungen aufweist: Diese rekurrieren in der Regel auf bestimmte Stereotype der Bewertung von sozio-kommunikativem Verhalten; die Forderung nach Entschuldigung ist als Aufforderung zur Anerkenntnis eines Verstoßes gegen eine sozio-kommunikative Verhaltensnorm (verbunden mit der immanenten Zusage, einen solchen Verstoß in Zukunft zu vermeiden) zu verstehen. 9 Freilich sind Empörungsbekundungen und ihr Anlaß ganz generell nur schwer einem argumentativen Diskurs zugänglich zu machen. Dies hängt nicht nur mit dem hohen Grad an Emotionalisierung zusammen, in dem ein Kommunikationsteilhaber im Zustand der Empörung sich stets befindet, sondern u.a. auch mit dem Rekurs der Empörungsbekundung auf weitgehend begründungsfreie, weil vermeintlich .selbstverständliche' Bewertungsstereotype; die Äußerung des Abgeordneten Dr. Menzel, nachdem dieser zu Strauß ans Rednerpult gestürmt war („Sie wissen, was das bedeutet!"), markiert genau diesen Anspruch auf Geltung der eigenen Bewertung im begründungsfreien Raum, der einen Einstieg in eine Argumentation hierüber sehr erschwert. Das in Gang gesetzte Ritual der Empörungsbekundung mit einbezogener Entschuldigungsforderung gewinnt dann überdies im weiteren Verlauf 8

9

Anzumerken ist, daß die Unterstellung, die SPD würde kommunistische Interessen vertreten und Moskau in die Hände arbeiten, in Wahlkämpfen der 50er Jahre eine gewisse Rolle spielte und insoweit das argumentative Aktionsfeld für diesen Topos schon vorformuliert besteht. Ein vergleichbarer Fall in politisch entgegengesetzter Richtung ist etwa eine Bundestagsrede des früheren Finanzmiiiisters Möller von der SPD, innerhalb derer dieser Anfang der 70er Jahre der CDU/CSU-Fraktion vorhielt, die Verantwortlichen für die beiden Inflationen im Deutschland des 20. Jahrhunderts ständen politisch der CDU/CSU wesentlich näher als der SPD. Die Reaktion der CDU/CSU-Fraktion war vergleichbar derjenigen der SPD-Fraktion im vorliegenden Beispiel; sie reichte bis zum kollektiven Auszug der CDU/CSU aus dem Plenarsaal.

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an Eigendynamik. Soweit es sich verbal vollzieht, werden auch Ansätze erkennbar, den begründungsfreien Raum des bloßen Wiederholens der Entschuldigungsforderung zu verlassen, indem die Proposition der inkriminierten Äußerung im Sinne ihrer Entmetaphorisierung ausgedeutet und als Anlaß der Empörung benannt wird: Die Entwicklungslinie geht hier von Zurufen wie - „Sie wissen, was das bedeutet!" - „Sie haben eine Unverschämtheit (...) erwidert." über den nunmehr als Begründung für die Entschuldigungsforderung vorgebrachten Zwischenruf - „Sie haben uns als Kommunisten bezeichnet!" bis hin zu der abschließenden Zwischenfrage des Abgeordneten Wienand - „Betrachten Sie jetzt das, was Sie gesagt haben, als eine Entschuldigung für den Vorwurf, daß Sie mich mit den Kommunisten gleichgestellt haben?" die den propositiona'em C - aalt der auslösenden Äußerung von Strauß ebenfalls in Zusammenhang bringt mit der Entschuldigungsforderung; sie enthält gewissermaßen ein Angebot an Strauß, einen Abschluß der Sequenz zu formulieren und ist überdies so angelegt, daß sie auch die Erregung in der SPD-Fraktion kanalisiert. Die Frage bleibt indessen, wie die SPD-Fraktion reagiert hätte, wenn der Zwischenruf Wienands, auf den Strauß sich in seiner umstrittenen Äußerung bezogen hat, tatsächlich so gefallen wäre, wie Strauß ihn verstanden hat. Es erscheint fraglich, ob dann die Empörung auf Straußens Replik unterblieben wäre; dies um so mehr, als wir als Ursache für die Erregung den in der Replik enthaltenen Angriff von Strauß auf das Identitäts verständnis der SPD diagnostiziert haben, der unabhängig ist von der faktischen Proposition des Zwischenrufes, auf den Strauß reagiert. Der Rückzug auf die Tatsache eines Hörfehlers erleichterte mithin einen einigermaßen glimpflichen Abschluß des Zwischenfalls' erheblich. Zuvor hatten einige Abgeordnete der SPD den Empörungsritus insofern bereits auf einen Kulminationspunkt gebracht, als sie nach der Äußerung von Strauß den Plenarsaal aus Protest verlassen hatten. Hierbei handelt es sich um eine Art von argumentativer Ersatzhandlung, deren Intention auf den Abbruch eines bis dahin erfolgten argumentativen Diskurses gerichtet ist. Sie signifiziert, daß man die Argumentation des Redners so empfindet, daß diese keine Klärung von Strittigem mehr anstrebt und die Verständigungsbereitschaft als notwendige Voraussetzung für jeden argumentativen Diskurs nicht mehr erkennen läßt; da mithin der Kommunikationspartner ein kommunikatives Essential nicht mehr einzuhalten gedenkt, braucht die eigene Kommunikationsbereitschaft auch nicht mehr länger aufrechterhalten zu werden. Die Kommunikationsverweigerung erscheint

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so zunächst als folgerichtige Reaktion auf ein Verlassen der kommunikativen Verständigungsebene durch den Redner. 3. Argumentationsanalyse und politische Sprachkritik: Vorläufiges Fazit und Perspektiven Die Analyse komplexer argumentativer Kommunikationsprozesse bedingt ein Untersuchungsinstrumentarium, das den Rahmen linguistischer Zugriffsmöglichkeiten in einem möglichst weiten Sinn definiert: So müssen beispielsweise gruppendynamische Phänomene ebenso in die Betrachtung einbezogen werden wie etwa interessenorientierte Strategie-Überlegungen, die über das hinausgehen, was unter dem Terminus .strategische Maximen' linguistischerseits bislang gefaßt wurde: Die strategischen Züge, welche die Debatten-,Kontrahenten' vollziehen, basieren zwar auf dem auch für den Alltagsbereich fungiblen Regelwerk kommunikativer Effektivität, doch ist auf der Input-Seite der Entscheidungsprozedur für bestimmte strategische Maßnahmen eine Vielzahl dessen an Daten vorhanden, was für die Alltagskommunikation benötigt wird. Politisch-parlamentarische Debattenbeiträge weisen offenbar eine spezifische Variante von Mehrfachadressierung auf: Der parlamentarische Adressat innerhalb der politischen Gegnerschaft wird zugleich sprachlich gesucht und argumentativ ausgegrenzt; als Angesprochener ist er partiell Objekt der Argumentation von der Rednertribüne aus, indem seine Position durch selektives Zitieren zum Ausgangspunkt von Argumentationen gemacht wird. Für die Dauer der Rede hat er nur begrenzte Möglichkeiten, korrigierend einzugreifen, auch wenn das eigentlich Strittige in seiner eigenen politischen Anschauung, seinen Intentionen, seinen Handlungen, seinen kurz zuvor oder auch früher geäußerten Worten besteht. Der Debattenredner ist mithin in der Lage, sich argumentierend auf die dialogisch ausgelegte und auf einen anwesenden Kommunikationspartner hinzielende Adressierung von Äußerungen zu kaprizieren und dabei die Korrektivfunktion dialogischer Argumentationsbeiträge weitgehend außer Kraft zu setzen. Dies mag die Art der Rezipienten-Reaktionen erklären, die in dem zuletzt herangezogenen Beispiel ritueller Empörungsgesten und Kommunikationsverweigerungen zu beobachten ist; die Unmöglichkeit, Argumentation dialogisch zu entwickeln, obschon das Argumentationsschema des Redners darauf angelegt ist, könnte ein aggressives Stimulans für den Rückgriff auf argumentative Ersatzhandlungen sein. Der Argumentationsbegriff erfährt unter Berücksichtigung solcher spezifischer Kommunikationsbedingungen gewisse Präzisierungen und Erweiterungen; analytische Grundkategorien wie etwa diejenige der Differenzierung nach „argumentum ad rem" und „argumentum ad hominem", die sich auf klassische Grundmuster der Beschreibung von Argumentationen

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berufen können 10 , bedürfen der Auffüllung und Operationalisierung durch Analysen der strategischen, sozio-kommunikativen, institutionellen, medientheoretischen Bedingungen und Verlaufsstrukturen von Argumentationen. Die Arbeiten zur Argumentationstheorie, die in diese Richtung bereits gehen, beziehen sich ganz überwiegend auf Alltagsargumentationen, in jüngster Zeit zunehmend auch auf medial vermittelte .Präsentations-Argumentationen' (etwa in Form eines Fernseh-,Interviews'); die verdienstvolle Arbeit von Völzing zeigt hierzu interessante Aspekte auf, die gleichwohl nur teilweise auch zur Analyse von parlamentarischen Debatten herangezogen werden können: So ist etwa die Unterscheidung nach „kooperativen" und „strategischen" Argumentationen nur bedingt auf parlamentarische Auseinandersetzungen übertragbar, was u. a. in der These Völzings erkennbar wird, „daß man in strategischen Argumentationen so tun muß, als argumentiere man kooperativ" 11 ; dieses gilt für die Mehrzahl der Argumentationen im Bundestag sicherlich nicht, weil — wie schon in den wenigen hier analysierten Ausschnitten deutlich wurde — die Intention der Sprechenden, den politischen Gegner auf seine vorgeblich falschen, wahrheitswidrigen, unaufrichtigen, unangemessenen (etc.) politischen Ansätze und deren sprachliche Umsetzung festzunageln und gewissermaßen damit zu stigmatisieren, kaum oder gar nicht hinter kooperativen Argumentationsangeboten getarnt wird,! 2 Dies hat natürlich auch zu tun mit der Funktion von Parlamentsdebatten, die u. a. auf Selbstdarstellung unter den Wettbewerbsbedingungen eines Mehrparteien-Staates gerichtet ist. Zudem ist der argumentativ bearbeitete Gegenstand zumeist ein bereits unabänderlich verfertigter: Schuldzuweisungen und Rechtfertigungen bezüglich schon vollzogener sprachlicher und/oder nichtsprachlicher Handlungen lassen unter den gegebenen Konkurrenzverhältnissen kaum kooperative Ansätze zu, die mehr sind als die Forderung an die jeweilige politische Gegenseite, unter Verzicht auf bisherige Positionen zur Zusammenarbeit bereit zu sein. Dabei spielt natürlich eine ebenfalls erhebliche Rolle die Tatsache, daß angesichts der anwesenden Pressebeobachter sowie infolge von Radiound Fernsehübertragungen aus dem Plenarsaal eine sehr stark nach außen 10 11

12

Vgl. hierzu u. a. Geach 1976. Völzing 1979, S. 179. Ein anderes Differenzierungsschema, speziell für politische Reden, ist bei Schmidt 1972 zu finden: Dort wird die implikativ-thetische von der explikativargumentativen Redestrategie unterschieden; dabei ist jedoch offenbar ausschließlich an Politiker-Reden vor allgemeinem Publikum außerhalb des Parlaments gedacht, so daß die dabei angezogenen Kategorien zur Fragestellung der vorliegenden Arbeit wenig Erhellendes beitragen. Bei der Analyse eines Politiker-Interviews mit Dregger stößt Völzing selbst auf dieses Phänomen, was er jedoch nicht typisch für das Handlungsfeld .Politik' wertet, weil bei ihm das Herausarbeiten seiner grundlegenden und handlungsfeldneutralen Analysekategorien im Vordergrund steht.

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drängende Eigenpräsentation analog zu den genannten Selbstdarstellungszwängen Platz greift; argumentative Strategien sind hier sicherlich auch unter diesem Aspekt zu analysieren. Bei unseren obigen Analysebeispielen konnten wir diesen Gesichtspunkt im Hintergrund belassen, weil im Jahre 1955 noch keine Fernsehkameras im Bundestag standen und insoweit die hierdurch anzunehmenden Beeinflussungen kommunikativer Abläufe nicht anzusetzen sind; gleichwohl muß dies bei der Untersuchung parlamentarischer Debatten als eine Variable der konstitutiven Kommunikationsbedingungen berücksichtigt werden - je jünger die Debatte, desto mehr. Die obigen Analysen und die in ihnen erfolgte Modellierung von drei Strukturmerkmalen bzw. Verlaufsmustern können natürlich nur Schlaglichter setzen und Hinweise bzw. Grundlagen für weitergehende Untersuchungen liefern. Analysen dieser Art erfahren ihre Legitimation aus der Problematik des Selbstverständnisses eines demokratisch-parlamentarischen Systems im allgemeinen und des Parlaments im besonderen: Der etymologischen Herkunft des Begriffs .Parlament' entsprechend („parier") lebt dieses durch die sprachliche Aufarbeitung und verbale Bewältigung politischer Gegenstände. Die permanenten Klagen über ineffektive Debatten und verfehlte Debattenkultur bzw. mangelhafte (sprachliche) Umgangsformen der Parlamentarier untereinander legen es nahe, Kommunikationsverhalten und Argumentationspräferenzen von Parlamentsmitgliedern zu untersuchen und Rückschlüsse auf bestimmte Einschätzungen über Ausstrahlung, Wert und Funktion von Parlamentsarbeit zu ziehen. Vielleicht vermag sogar der eine oder andere Hinweis für die in monotoner Wiederkehr erhobene Forderung nach Reform der Debattenverläufe abzufallen. Eine kritische Würdigung unserer politischen Kultur ist ohne Einbeziehung von sprachkritischen Analysen schlechterdings nicht zu leisten. Von daher legitimiert sich die Sprachkritik als ein gesellschaftsrelevantes wissenschaftliches Betätigungsfeld ohne Einschränkung: Politische Kultur konstituiert sich unter den Bedingungen sprachlicher Auseinandersetzung über und Vermittlung von politischen Sachverhalten und Inhalten, wie sie innerhalb einer Gesellschaft vorherrschen. Dabei kann eine Wechselwirkung zwischen der medial präsenten Polit-Kultur einerseits und der Alltags-Kultur in ,Basisnähe' andererseits zunächst einmal hypothetisch angenommen werden — gleichviel, ob diese Interdependenz durch Assimilationsvorgänge oder Protest- und Gegenbewegungen beschreibbar ist. Insoweit können auch linguistische Analysen zur Sprache in der Politik nicht abgehoben von gesellschaftlich sanktionierten Strukturen der Alltagskommunikation gemacht werden - und vice versa. In jedem Fall aber ist politische Kultur eine Funktion der sprachlichen Bewältigung von politischen Vorgängen im weitesten Sinne; insoweit ist ihre analytische Aufarbeitung auch eine Aufgabe mit sprachforscherischem Schwerpunkt — ein weites Arbeitsfeld für die Linguistik.

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Textanhang 2. Deutscher Bundestag — 69. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1955 (Auszug aus dem Sitzungsprotokoll) Strauß, Bundesminister für besondere Aufgaben: [...] Nein, meine besondere Aufgabe ist es, Ihre primitiven Vereinfachungen draußen hier einmal dem Parlament zu erzählen und zu kritisieren. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der DP. - Zurufe von der SPD.) In der nach unten entsprechend vergröberten Form wird - ja, Herr Kollege Mellies, was ich jetzt sage, ist nicht zum Lachen, weil wir das draußen in Aschaffenburg, in Hof, in Kassel und in Göttingen zur Genüge erlebt haben - , in der nach unten durch ihre Funktionäre entsprechend vergröberten Form wird der Bundesregierung und den Regierungsparteien Kriegspolitik vorgeworfen, während behauptet wird, daß die SPD die klassische Friedenspartei sei. (Zuruf von der Mitte: So ist es!) Was die Spitze der offenen Opposition nicht zu sagen wagt, sagen an ihrer Stelle gewisse mit dem gleichen Parteibuch ausgerüstete Spitzenfunktionäre der Gewerkschaften. Herr Wönner sagte: —

Damen und Herren — wortwörtlich: „Wäre die Parole im Raum gestanden: ,Wer Adenauer wählt, wählt den Kriegl", wäre das Ergebnis ein anderes gewesen." (Lebhafte Pfui-Rufe von den Regierungsparteien.) Was würden Sie uns entgegenhalten - „Vergiftung des Klimas", „Politisches Klima und seine Entgiftung", Herr Kollege Arndt, Ihr Spezialthema vom 17. September letzten Jahres, Sie wissen es ja noch —, was würden Sie uns entgegenhalten, wenn wir sagen würden: „Wer Ollenhauer wählt, wählt die Unterwerfung unter Moskau!" (Beifall bei der CDU/CSU. - Zuruf von der SPD: Das haben Sie ja gesagt! - Weitere stürmische Zurufe von der SPD. Anhaltende Unruhe. - Glocke des Präsidenten. - Zurufe von der SPD: Wahllügen! - Das hat Ihr Kanzler gesagt!) Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Frage? Strauß, Bundesminister für besondere Aufgaben: Bitte sehr!

(Abg. Meitmann: Einsperren!) - Na, in welchen Vorstellungen leben Sie denn, Kollege Schmid? (Abg. Meitmann: Zuchthaus!) - Hoffentlich war das nicht Ihre Praxis, als Sie noch stellvertretender Staatspräsident waren! (Heiterkeit.) Herr Wönner sagte in seiner Rundfunkrede vom 26. Januar 1955 im Zusammenhang mit den Bundestagswahlen von 1953 - und was ich hier sage, ist nicht zum Lachen, meine

Kahn-Ackermann (SPD): Herr Bundesminister, erinnern Sie sich an ein Plakat, das Ihre Partei im letzten Wahlkampf gebraucht hat, worauf stand: „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau!"? (Abg. Stücklen: Jawohl!) In Anbetracht dieser Tatsache sollten Sie sich diese Äußerungen besser überlegen. (Beifall bei der SPD.) Strauß, Bundesminister für besondere Aufgaben: Ich habe hier davon gesprochen, daß

Argumentation in politisch-parlamentarischer Debatte der Erste Vorsitzende des Landesbezirks Bayern des Deutschen Gewerkschaftsbundes in seiner letzten Rundfunkrede „Politik aus erster Hand" die Geschmacklosigkeit besessen hat, im Zusammenhang mit der Volksbefragung die Alternative aufzustellen: „Wer Adenauer wählt, wählt den Krieg", im Zusammenhang mit dem 6. September 1953, (Zuruf von der SPD: Er ist auf Ihr Niveau gegangen!) und ich habe nichts anderes getan — ich verurteile diese Äußerung - , als Ihnen entgegenzuhalten, wie sehr Sie mit Recht empört wären, wenn wir eine ähnliche primitive Formulierung von uns aus als unsere Überzeugung sagen würden. (Beifall in der Mitte und rechts. - Zuruf

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Bundestagsfraktion! zahlt!"?

„Von Moskau be-

(Abg. Mellies: Das war ja auch im Wahlkampf! — Zuruf rechts: Was interessiert uns das!?) Strauß, Bundesminister für besondere Aufgaben: Auf welchen Plakaten, weiß ich nicht. Ich bin gern bereit, mich darüber zu unterhalten. Aber hier handelt es sich darum, daß ein maßgebender Sozialdemokrat und Spitzenfunktionär des Deutschen Gewerkschaftsbundes mit Ihrem Parteibuch am Bayerischen Rundfunk - und Sie sind sehr empfindlich, wenn man Ihnen mal eine Parallele dazu bringt - die Alternative gebracht hat: „Wer Adenauer wählt, wählt den Krieg!". Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zusatzfrage?

von der SPD: Er hat es doch gemacht!) - Sie können sich ja dazu äußern. (Zuruf des Abg.Mellies.) - Sie können sich ja dazu äußern - wir erwarten das sogar - , ob Sie sich mit diesem verleumderischen Vorwurf identisch erklären. Ich erkläre —

Strauß, Bundesminister für besondere Aufgaben: Ich muß jetzt fortfahren. - Ob Sie sich mit diesem Vorwurf identisch erklären, dazu können Sie sich ja äußern. Ich habe von mir aus ausdrücklich gesagt, daß wir mit einem solchen Vorwurf: Wer Ollenhauer wählt, wählt Unterwerfung unter Moskau, nichts zu tun haben wollen. (Zurufe von der SPD.)

Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Frage? (Anhaltende Zurufe von der SPD.) - Einen Augenblick Ruhe, meine Herren, sonst kommen wir nicht weiter mit dem Mikrophon. - Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Frage? Strauß, Bundesminister für besondere Aufgaben: Bitte, Herr Präsident! Könen (Düsseldorf) (SPD): Herr Bundesminister, ist Ihnen bekannt, daß auf den Plakaten, die zu Kundgebungen in dieser Angelegenheit angeschlagen wurden, Klebestreifen aufgeklebt wurden - wahrscheinlich nicht im Auftrage der sozialdemokratischen

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Forderung der Opposition geht dahin, die vier Besatzungsmächte sollen sich unverzüglich vor Ratifizierung der Pariser Verträge in einer Viererkonferenz über die Frage der deutschen Wiedervereinigung einigen. Gut, einverstanden, soweit es die Konferenzpartner betrifft; nicht einverstanden, soweit es den Termin betrifft. Aber Sie haben ja hier auch etwas von Plakaten gesagt. Jetzt frage ich Sie etwas anderes. Lautet nicht eine weitere These von Ihnen, daß man dem ehrlichen Willen der Westmächte, die Wiedervereinigung Deutschlands herbeizuführen, nicht trauen dürfe? Lautet nicht Ihre These so? (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)

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Dann darf ich Ihnen einmal Ihre offizielle Flugschrift, die Sie für die Testaktion in Hof verwendet haben, hier vor Augen halten. Es heißt hier - ich kann's Ihnen ja zur Einsicht geben, wenn Sie's wünschen - : Dichtung: Adenauer sagt: Die Verträge verpflichten die Westalliierten zur aktiven Wiedervereinigungspolitik. Wahrheit: „De Nieuwe Rotterdamsche Courant" vom 12. Januar 1954: Die öffentliche Meinung im Westen fühlt sich mit einem gespaltenen Deutschland viel sicherer als mit einem wiedervereinigten Deutschland. Wenn es nach Deutschlands westeuropäischen Verbündeten ginge, würden diese gern mit der Sowjetunion auf der Grundlage des Status quo, der Teilung Deutschlands sich einigen. Diesen Ausspruch des „Nieuwe Rotterdamsche Courant" haben Sie in Ihrem offiziellen Flugblatt als Wahrheit bezeichnet. (Pfui-Rufe bei der CDU/CSU. Zurufe von der SPD.) - Als Dichtung und Wahrheit! Ich kann ja nicht mehr tun, als das verlesen!

(Abg. Meitmann: Das sind doch die Zeitungen der Regierungen, mit denen Sie die Verträge gemacht haben, Herr Strauß! Mehr ist doch nicht festgestellt!) - Ich glaube, daß Ihre gegenwärtige Pressekenntnis etwas lückenhaft ist, Herr Kollege, wenn Sie den „Nieuwe Rotterdamsche Courant" für eine Regierungszeitung halten oder Ihre Flugschrift für eine Veröffentlichung des Bundespresseamtes erklären wollen. (Heiterkeit und Beifall in der Mitte und rechts.) Ja, schauen Sie, Sie haben hier weiterhin erklärt: Verhandeln ja, aber nicht wieder so wie in Berlin! Einverstanden, was die Sowjets betrifft. Unsere Frage aber: Trauen Sie dem guten Willen der Westmächte oder nicht? Denn so, wie Sie es hier vor der Öffentlichkeit, vor Ihrer testierten Wählerschaft erklärt haben, müßte man ja unterstellen, daß Sie die Verhandlungsführung der Westmächte in Berlin kritisieren. So ist es aufgefaßt worden. (Abg. Dr. Arndt: Ja, tun wir auch! Weiterer Zuruf von der SPD: Kritisieren wir auch!) - Sehen Sie, Herr Kollege, darauf habe ich gewartet!

(Erneute Zurufe von der SPD.)

(Große Heiterkeit in der Mitte und rechts.)

- Warum scheuen Sie sich denn hier, das zu hören, was Sie bei Zehntausenden in Hof verbreitet haben?

Darum haben Sie in der Bundestagssitzung vom 25. Februar 1954 den Westmächten und ihren Außenministern einstimmig den Dank des Bundestages dafür ausgedrückt, daß sie sich mit größter Entschiedenheit fur die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit eingesetzt haben!

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. Abg. Dr. Menzel: Das Zitat ist doch richtig!) - Es handelt sich nicht um das Zitat. (Abg. Dr. Arndt: Wir scheuen uns gar nicht!) Sie haben behauptet: Dichtung ist das, was Adenauer sagt; Wahrheit ist das, was die holländische Zeitung sagt. Das ist Ihre Behauptung.

(Große Heiterkeit und lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.) Wenn Sie den Westmächten nicht trauen, warum verlangen Sie unter den gegenwärtigen Umständen, d.h. bevor die Bundesrepublik Deutschland souverän ist und als gleichberechtigter Partner gehört werden muß, daß

Argumentation in politisch-parlamentarischer Debatte die vier Besatzungsmächte sich zusammensetzen und über die Wiedervereinigung Deutschlands verhandeln? Wenn Sie aber dem guten Willen der Westmächte trauen, warum wird dann zur Irreführung der Öffentlichkeit und zur Herbeiführung eines Testwahlergebnisses ein solches Flugblatt verbreitet? (Beifall bei der CDU/CSU.) Denn der Inhalt Ihres Flutblattes läuft doch darauf hinaus, daß wir unmittelbar, notfalls auch gegen die Westmächte, mit den Sowjets verhandeln sollen, um zur deutschen Wiedervereinigung zu gelangen (Zuruf von der SPD: Das war wieder ein Kurzschluß!) - wahrscheinlich bei Ihnen! - , ganz gleich, ob Sie dem guten Willen der Westmächte trauen oder nicht. Wir trauen ihnen wahrscheinlich mehr als Ihnen, - ich meine, als Sie es tun; ich bitte, das zu entschuldigen. (Zuruf von der SPD: Das war eine typische Fehlleistung bei Ihnen!) - Bei soviel Fehlleistungen nach Ihrer Bilanz kommt's bei mir auf eine auch nicht mehr an. (Zuruf von der SPD: Jetzt sind Sie wieder auf der Wies'n, Herr Strauß!) - Wenn Ihre Parteifreunde das Publikum dafür abgeben, kann ich leider nicht anders reden. (Zurufe von der SPD: Sie reden hier als Minister! - Das Niveau ist gesunken!) - Das Niveau ist gesunken; das habe ich mir in den letzten vier Wochen auch gedacht. (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.) Ganz gleich, ob Sie dem guten Willen der Westmächte trauen oder nicht, müssen Sie doch zugeben, daß wir die größeren Realisten sind - das Wort „Realist" ist heute ja auch gefallen —, wenn wir in den Pariser Verträgen die feierliche Verpflichtung der Westmächte erhalten, die Wiedervereinigung Deutsch-

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lands in Freiheit und Frieden als ein Ziel ihrer Politik zu betreiben. Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Antwort auf den letzten Brief des Herrn Ollenhauer mit Recht geschrieben, daß es nicht genügt, sich mit der Sowjetunion zu einigen; man brauche auch die Zustimmung der Westmächte, um zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen. Das würde doch genau der sozialdemokratischen Forderung entsprechen, daß sich die vier Besatzungsmächte über die Wiedervereinigung Deutschlands einig werden sollen. Herr Ollenhauer hat aber, aus der Paulskirchen-Atmosphäre kommend, laut „Main-Echo" - ich stelle Ihnen auch das zur Verfügung - in seiner Aschaffenburger Rede erklärt, dieser Satz in dem Antwortbrief Adenauers veranlasse ihn - vor über 1000 Zuhörern - zu folgender Feststellung: Die deutsche Außenpolitik sei schließlich nicht nur eine Außendienststelle der Amerikaner. (Hört! Hört! in der Mitte und rechts. Zurufe von der SPD.) - Bis jetzt ist kein Dementi erschienen, und das ist schon vier Wochen her. (Abg. Wienand: Sie soll es auch nicht sein!) - Was Sie da ganz links drüben jetzt gesagt haben, bringt mich wie in einer Metamorphose zurück in den ersten Bundestag, wo aus der gleichen Ecke ähnliche Zwischenrufe gekommen sind. (Beifall von der CDU/CSU. Pfui-Rufe von der SPD.) - Ja, ;ius der Kcke! (Unruhe bei der SPD. Glocke des Präsidenten.) Wenn Sie sagen (Anhaltende Unruhe und Pfui-Rufe von der SPD. - Glocke des Präsidenten.) Wenn Sie sagen, meine Damen und Herren,

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(Erneute große Unruhe bei der SPD. Zurufe von der SPD: Pfui Teufel, Herr Strauß!)

Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenbemerkung? - Herr Abgeordneter Wienand, Sie haben das Wort.

- Lassen Sie mich doch reden! (Abg. Dr. Menzel [sich zum Redner begebend]: Sie haben sich zu entschuldigen, Herr Strauß, aber sofort! Sie haben sich sofort zu entschuldigen, Herr Strauß! Sie wissen, was das bedeutet! - Glocke des Präsidenten.) Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Herr Kollege Menzel, begeben Sie sich bitte auf Ihren Platz. (Einzelne Abgeordnete von der SPD begeben sich zum Saalausgang.) - Meine Damen und Herren, begeben Sie sich auf Ihre Plätze. (Oho!-Rufe von der SPD.) Herr Bundesminister, einen Augenblick!

Wienand (SPD): Ich habe den Zwischenruf gemacht. Ich habe gesagt: „ Sie soll es ja auch nicht sein!" Hören Sie aber nächstens gut zu, Herr Minister! Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Meine Damen und Herren, der Schriftführer zu meiner Linken bestätigt, daß der Zwischenruf in dieser Form gefallen ist. Ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen. Strauß, Bundesminister für besondere Aufgaben: Ich unterstelle Ihnen, Herr Kollege, daß Sie den Zwischenruf so gemacht haben, wie Sie jetzt sagten. Ich bitte aber auch um das Zugeständnis, daß ich das verstanden habe, was mich zu dieser Reaktion veranlaßt hat. (Zurufe von der SPD: Sie haben eine Unverschämtheit darauf erwidert; das müssen Sie zugeben, Herr Strauß!)

Strauß, Bundesminister für besondere Aufgaben: Ich werde eine genaue Darstellung geben.

Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Herr Bundesminister, fahren Sie fort!

(Anhaltende Unruhe.)

(Anhaltende Zurufe von der SPD. - Zurufe: Entschuldigen Sie sich! Sie haben uns als Kommunisten bezeichnet! - Große Unruhe.)

Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Meine Damen und Herren, jetzt spreche ich! Es ist unmöglich, den Zwischenfall zu klären, wenn nicht Ruhe eintritt. Ich habe den Zuruf nicht gehört. Darf ich bitten, daß er wiederholt wird. Strauß, Bundesminister für besondere Aufgaben: Als ich die Worte gebrauchte, daß wir uns dagegen wehren, Außenstelle der amerikanischen Politik zu sein, habe ich von drüben den Zwischenruf gehört: „Sind Sie ja auch!" (Lebhafter Widerspruch bei der SPD.) - Wenn der Zwischenruf nicht gefallen ist, dann ist meine Antwort gegenstandslos.

Strauß, Bundesminister für besondere Aufgaben: Ich darf ja dann nur das (Abg. Meitmann: Das entspricht Ihren Plakaten draußen! - Weitere lebhafte Zurufe von der SPD. - Abgeordnete der SPD verlassen den Saal. - Abg. Wienand tritt an ein Saalmikrophon.) Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Frage? (Abg. Dr. Lütkens: Entschuldigen Sie sich vor dem Hause! - Weiterer Zuruf des Abg. Dr. Menzel.)

Argumentation in politisch-parlamentarischer Debatte Strauß, Bundesminister für besondere Aufgaben: Ich habe doch erklärt: wenn dieser Zwischenruf nicht so gefallen ist, wie ich ihn verstanden habe, ist meine Bemerkung gegenstandslos und wird zurückgenommen. Mehr kann ich dazu nicht sagen. (Anhaltende große Unruhe. - Zuruf von der SPD: Das ist keine Entschuldigung! Glocke des Präsidenten.) Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Frage? (Abg. Dr. Lütkens: Wir verlangen eine Entschuldigung vor dem Haus!) - Meine Damen und Herren, es ist doch vollkommen unmöglich, so weiterzukommen! — Sie haben das Wort! (Zuruf von der SPD: Das ist Volksverhetzung!) Strauß, Bundesminister für besondere Aufgaben: Oho, auf dem Gebiet haben wir einiges erlebt. Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Einen Augenblick, Herr Bundesminister, eine Zwischenfrage! Wienand (SPD): Herr Minister, Sie haben zur Kenntnis genommen, welchen Zwischenruf ich Ihnen gegenüber gemacht habe. Betrachten Sie jetzt das, was Sie gesagt haben, als eine Entschuldigung für den Vorwurf, daß Sie mich mit den Kommunisten gleichgestellt haben? Strauß, Bundesminister für besondere Aufgaben: Ich habe Sie, Herr Kollege, persönlich gar nicht gesehen. Ich habe verstanden: „Sind Sie ja auch!" und habe daraufhin gesagt: „Solche Zwischenrufe habe ich früher auch aus der Ecke gehört!" Und nachdem Sie mir erklärt haben - und ich unterstelle die Wahrheit Ihrer Worte - , daß Sie diesen Zwischenruf nicht so, sondern anders gemacht haben, ist

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meine Reaktion gegenstandslos; ich nehme meine Worte dann in vollem Umfang zurück. (Beifall bei der CDU/CSU.) Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Meine Damen und Herren, damit ist die Sache geklärt. - Ich bitte den Herrn Bundesminister, fortzufahren. Strauß, Bundesminister für besondere Aufgaben: Ich darf auf das Thema zurückkommen. Ich freue mich, daß der Kollege Ollenhauer zurück ist. Ich habe vorhin davon gesprochen, daß Sie laut „Main-Echo" in Ihrer Aschaffenburger Rede erklärt haben, die deutsche Außenpolitik sei schließlich nicht nur eine Außendienststelle der Amerikaner, niemand könne die Bundesregierung daran hindern, selber Verhandlungen mit Rußland aufzunehmen, auch wenn es die drei Westmächte nicht wollten. So lautete Ihre Erklärung, wie sie im „Main-Echo" erschienen ist und wie Sie sie vor über 1000 Menschen in Aschaffenburg gesprochen haben sollen. Daß in dieser Erklärung das unterstellt ist, wogegen der Zwischenrufer mit Recht sich wehrt, daß es ihm unterstellt wird, werden Sie doch nicht bestreiten, wenn Sie sagen, Adenauer sei doch schließlich nicht eine Außendienststelle der Amerikaner. Daß dieses Wort wesentlich zur Vergiftung der Atmosphäre bei uns beigetragen hat, dürfte kein Zweifel sein. (Beifall bei der CDU/CSU.) Ich gebe Ihnen damit ja, Herr Kollege Ollenhauer, die Möglichkeit, auf diesen Punkt, wenn Sie, wie wir annehmen, zur dritten Lesung der Verträge hier sprechen, einzugehen und eine genau so klare Erklärung abzugeben, wie ich es eben hier getan habe. Dann sind wir in beiden Fällen wieder quitt. (Abg. Ollenhauer: Darauf können Sie sich verlassen!)

[...]

Sektion D

Harro

MÜLLER-MICHAELS

(Bochum)

Historisches Wissen oder produktive Vernunft Wege des Verstehens im Literaturunterricht I Man hätte es genausogut in einem Referat erläutern können, statt es, vielleicht doch ein wenig aufwendig mit zwei Referenten zu demonstrieren: daß zwei literaturdidaktische Konzepte, die sich lange unversöhnlich gegenüberzustehen schienen, sich aufeinander zubewegen. Für den Doppelvortrag haben wir uns aus mehreren Gründen entschieden. Zum einen wären in der Übersichtsdarstellung doch manche Widersprüche, unterschiedliche didaktische Ansichten und methodische Lösungsvorschläge möglicherweise zu schnell harmonisiert worden und offene Fragen unterdrückt geblieben. Zum andern ist es sicher für die Diskussion förderlich, zwei originäre Bezugspunkte für die Auseinandersetzungen zu haben. Und schließlich meinen wir, daß in der Didaktik dieses dialogische Element in der fachlichen Diskussion einer Förderung bedarf. Gegenüber einer Praxis von Erörterungen, in deren Verlauf jeder Beiträger einschließlich aller Zitate lieber bei sich selber und bei seinesgleichen bleibt, sollten wir versuchen, uns fremden Gedanken auszuliefern, an andere Thesen uns heranzuarbeiten, uns anregen zu lassen und damit wiederum anregend zu wirken, unser Urteil zu revidieren, aber auch uns selbst in Anbetracht der Einwände zu behaupten. Nur so ist, wenn überhaupt, in der didaktischen Theoriebildung und unterrichtlichen Praxis Fortschritt möglich. 1. Ziele des Literaturunterrichts In dem von uns beiden gewählten Thema geht es zunächst um die Alternative der dominanten Zielsetzungen im Literaturunterricht. Karlheinz Fingerhut hat immer wieder für eine Priorität der Vermittlung historischen Wissens plädiert und dafür das kontextuierende Verfahren als geeignete Unterrichtsmethode bis ins kleinste Detail hin erläutert: Dem lernziel „historisches verstehen", dem das aufwendige verfahren der verschiedenen kontextuierungen dienen soll, würde also entgegengearbeitet, wenn das systematische erlernen von fremdverstehen, die reflexion der historischen distanz, die bemühung um genauigkeit bei der erörterung des bezuges zwischen werk und gesellschaft durch spontane, vom empfundenen lektüreinteresse bestimmte text-eingriffe ersetzt würde. Die didaktische begründung, schüler sollten sich selbst so „unmittelbar", „gestaltend" und „persönlich

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Harro Müller-Michaels

betroffen" wie möglich in den literarischen dialog einschalten, den sie zwischen Kafka und heutigen Schriftstellern beobachten, ist - bei lichte besehen, - selbst ahistorisch und spontaneistisch.1

Meine Thesen zu Verstehensprozessen im Literaturunterricht gehen davon aus, daß historisches Verstehen nur gelingen kann, wenn der Lernende Bezugspunkte sieht, an die er das neue historische Wissen anknüpfen kann. Die Verknüpfung der Erfahrungshorizonte von Lesern und Texten verläuft dabei nur sporadisch auf dem Wege der Identifikation mit Sätzen wie: „Das habe ich auch schon gedacht/empfunden", sondern viel häufiger mit Befremden nach der Art: „Das kann doch nicht wahr sein", „Die hätten doch etwas tun können", seltener zugleich in der Weise der Kritik: „Das ist doch überhaupt nicht glaubhaft, käme heute nicht mehr vor", immer aber mit Engagement, das aus dem Anspruch der Texte an die heutigen Leser herrührt. Die Aktivierung der Vernunft ist Bedingung historischen Verstehens. Gegen die alternative These, daß Schüler und Leser das Wissen erst dann anwenden können, nachdem sie die literarischen Texte erklärt und verstanden haben, habe ich, zugegebenermaßen provokativ, in Ubereinstimmung mit dem Hermeneutik-Verständnis der Rezeptionstheorien, eingewandt: Bedeutung gewinnt ein historisches Werk zunächst für den Deutenden selber, bevor die Bedeutung im Rahmen der Entstehungszeit gewonnen werden kann. Der erste Bezugsrahmen für das Verständnis eines literarischen Werkes ist der Horizont des Interpreten und erst der zweite ist der seiner historischen Einbettung. Ein Werk, das über den Horizont seiner Zeit nicht hinausreicht, kann mit den Mühen der Sinn-Zuweisungs-Arbeit nicht rechnen. [...] Der Interpret eröffnet seinen Bezugsrahmen (den er kritisch analysiert haben kann oder auch nicht), von dem aus dann der historische Rahmen zu Bedeutungen gelangt. Wie sehr der aktuale Rahmen den historischen Rahmen einfaßt, wird deutlich bei jeder dezidiert interesse-gebundenen Interpretation, ζ. B. Prometheus im Zusammenhang mit der Französischen Revolution zu deuten.2

So unterschiedlich die Positionen im Grundsätzlichen sein mögen, so verlieren sie doch an Widersprüchlichkeit, wenn sie als unterschiedliche Aspekte von Textanalysen in eine Sequenz eingebracht werden. Durch einen Akzentwechsel in der Behandlung von Literatur werden verschiedene Dimensionen für die Textinterpretation eröffnet. In der pragmatischen Verknüpfung werden die Abstände zueinander in dem Maße geringer, wie sie zu den radikaleren Positionen der reinen sozialgeschichtlichen Betrachtung von Literatur auf der einen und einem vor allem auf literarische Produktionen gerichteten Literatur-Werkunterricht auf der anderen Seite wachsen. 1

2

Karlheinz Fingerhut, Text - Kontext - Rezeption. Historisches Verstehen im Literaturunterricht. Erörtert am Beispiel eines Arbeitsprojekts zu Franz Kafkas Erzählungen der Jahre 1912-1914. In: Jahrbuch der Deutschdidaktik 1980. Königstein/Ts. 1981, S. 131. Harro Müller-Michaels, Entfaltung des Verstehens - Ein Handlungsforschungsprojekt auf der S II. In: Jahrbuch der Deutschdidaktik 1983/84. Tübingen 1984, S. 85.

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Wir hoffen, daß der Gewinn an Dimensionen in Theorie und Praxis des Literaturunterrichts durch die nachfolgenden Beispiele deutlicher wird, auch wenn die Akzente der Gesamtplanung: „Vernunft ist nur dort produktiv, wo sie sich historisch versteht" versus: „Produktivität der Vernunft ist die Bedingung historischen Verstehens" unterschiedlich gesetzt bleiben. 2. Fontanes „Effi Briest" in der Jahrgangsstufe 12 Für die Feststellung, daß die aktuellen Erfahrungen und Gedanken das Verständnis der Geschichte(n) steuern, gibt es in Elisabeth Plessens „Kohlhaas" ein Beispiel, das ich um der Anschaulichkeit des Gemeinten willen ausführlicher zitieren möchte. Die Erzählerin beschreibt, wie Margarete Kohlhaas ängstlich auf Antwort auf ihren Bittbrief an den Kurfürsten von Sachsen um Begnadigung des Kohlhaas wartet. Die Ungeduld überträgt sich auf die Erzählerin; sie schweift ab: Auch ich lasse wie warten. Ihre Gedanken gingen oder gehen nach Wittenberg, jeden Tag schaut sie ein paar Mal vors Haus, ob nicht endlich der Bote käme, der ihr die Nachricht brächte, Kohlhaas sei frei, man setze sich nun doch zu Verhandlungen an einen Tisch. Meine Gedanken oder meine Augen gehen ganz woandershin, über den Schreibtisch, seine Unordnung. Eine Nummer des stern liegt dort vom November 78. „Zu viele Gräber sind auf meinem Weg" steht auf der Titelseite, daneben ein Foto von Astrid Proli. Ich habe das Heft aufbewahrt. Vier Jahre lang, lese ich, während ich wieder darin blättere, lebte die Frau, die vom Bundeskriminalamt als Gründungsmitglied der „Rote Armee Fraktion" gesucht wurde, unerkannt in England. Sie baute sich ein neues Leben auf. Jetzt sitzt sie in London im Gefängnis. Am Ende des //¿/-»-Interviews die Frage: Nicht nur Andreas Baader, Ulrike Meinhof und andere ihrer Freunde sind tot - auch viele Polizisten. Was für Überlegungen und Gefühle kommen Ihnen dabei? Und Astrid Prolls Antwort: Ich kann auf diese Dinge nicht so kühl im Sinne einer Bilanz zurückblicken, da sind zu viele Gräber auf meinem Lebensweg. Ich verdränge das alles nicht, aber ich kann darüber nicht öffentlich sprechen. Das sind zu schmerzliche Erfahrungen. Ich frage mich, ob eine meiner Romanfiguren diese Sätze sagen könnte, ob ich sie diese Sätze sagen lassen könnte. Möglich scheint mir einzig der Satz mit den Gräbern. Diese Moral könnten viele sagen. Alles andere paßt nicht in die Zeitumstände, es sei denn, ich hätte auf die Historie einfach als einem Spiegel für gegenwärtige Probleme vertraut. 3 Verstehen bedeutet, in zwei Zeitebenen zugleich zu denken, Beziehungen zwischen dem Gegenwärtigen und Vergangenen herzustellen, die Unterschiede zu erkennen, das Gleichbleibende herauszukristallisieren. Zusammengefaßt: von der Geschichte aus die Gegenwart und von der Gegenwart aus die Geschichte neu sehen zu lernen.

3 Elisabeth Plessen, Kohlhaas. Zürich, Köln 1979, S. 308/309.

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Wenn Verstehen von Literatur vor allem diese Fähigkeit bedeutet, Bezüge zwischen dem Gegenwärtigen und dem Vergangenen in der Analyse von Texten herzustellen, dann mußte im Interrichtsablauf dieses Denken auf zwei Ebenen methodisch vorbereitet werden. Ich will im folgenden in vier Schritten skizzieren, wie die Behandlung von Fontanes Roman „Effi Briest" zu Beginn der Jahrgangsstufe 12/1 im Schuljahr 1981/82 in einem Grundkurs Deutsch am Heinrich-von-Kleist-Gymnasium in Bochum-Gerthe abgelaufen ist, um daran den Dialog zu verdeutlichen, der sich zwischen Schülern und Text ergeben hat, aber auch zu zeigen, wo dieser Dialog abgewiesen wurde, weil Schülern Bezüge nicht erkennbar schienen. „Effi Briest" stand am Beginn einer Reihe über Romane der Jahrhundertwende, die Thema des Halbjahres war. Über die Gesamtsequenz wird an anderer Stelle berichtet. 2.1 Eröffnung der Verstehenshorizonte In der zweiten Unterrichtsstunde nach den Sommerferien, noch bevor die Schüler mit der Lektüre begonnen hatten, wurden sie mit einer unvertrauten Aufgabe konfrontiert. Ihnen lag ein Auszug aus Kindlers „Hauptwerke der deutschen Literatur" vor, der bis zu dem Satz: „Allmählich und fast gegen ihren Willen entwickelte sich eine Liebesbeziehung zwischen ihr und dem neuen Bezirkskommandanten Crampas, einen erfahrenen, leichtsinnigen ,Damenmann', dem ,alle Gesetzmäßigkeiten [...] langweilig' sind." reichte. Mit dem Abbruch der Inhaltsangabe war die Neugier auf den Fortgang der Handlung geweckt. Der erste Absatz ist als knappe Nacherzählung der Entstehungsgeschichte im Tempus des Praeteritum, die Inhaltsangabe im Praesens verfaßt und lenkt auf den Unterschied von expositorischem und narrativem Text hin. Mit dem Textauszug verbunden war eine zweigeteilte Aufgabe als versteckte Aufforderung sowohl zur Historisierung als auch zur Aktualisierung der Story: Stellen Sie Vermutungen darüber an, a) wie der Konflikt 1895 b) und 1980 gelöst worden sein könnte. Sehr lakonisch war die Antwort von Alfred: a) Duell zwischen den Männern b) Scheidung oder alternatives Leben.

Beate, die in der Jahrgangsstufe 11 große Schwierigkeiten im Fach Deutsch hatte, setzt auf Lösungen mit Crampas: a) E f f i türmt mit Crampas und ihrem K i n d und wird v o n dem B a r o n v o n Innstetten verfolgt, weil er sich in seiner Ehre bekränkt fühlt. Schließlich wird Innstetten bewußt, daß er E f f i nur wegen seines Images geheiratet hat, und löst die Verbindung selbst auf, u m E f f i nicht weiter zu belasten. b) D i e E h e zwischen E f f i und Innstetten wird geschieden. E f f i führt mit Crampas ein „ e i n f a c h e s " (ohne L u x u s ) Leben.

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Abraham markiert den Unterschied über die im Laufe von 85 Jahren gewachsene Unabhängigkeit der Frau: a) Sobald die Öffentlichkeit, ihr Mann eingeschlossen, von ihrem Verhältnis zu Crampas erfahren hat, wird sie aus der guten Gesellschaft ausgestoßen. Effi zieht sich in ein einsames Landhaus zurück und begeht schließlich verzweifelt, da auch Crampas mit der Ausgestoßenen nichts mehr zu tun haben will, Selbstmord. b) Effi läßt sich scheiden und zieht zu Crampas, um mit ihm unverheiratet zusammen zu leben. Da er aber sehr materialistisch eingestellt ist, trennt Effi sich von ihm und geht auf die Universität, um sich selbst weiter zu bilden. Gleichzeitig engagiert sie sich für die Frauenemanzipation. Nach Abschluß des Studiums ergreift sie einen Beruf und lernt schließlich einen neuen Mann kennen, einen vereinsamten, sensiblen, sehr zärtlichen Intellektuellen, den sie schließlich heiratet.

Hier wird im Kern eine neue Geschichte erzählt auf eine Weise, als sei sie schon geschehen. Im Status der Fiktion sind Lebensmodelle zu denken erlaubt, in denen man selber auch vorkommen darf. Das nur Gedachte wird dann in der indikativen Form der Inhaltsangabe zu Faktischem. Die Beispiele zeigen, wie die Schüler die Möglichkeiten für erweiterte Erfahrungen und Gedanken über das literarische Modell und über den Tempusgebrauch in den Formen des Erzählens zu erkennen beginnen. Zugleich wird deutlich, wie komplex die Formen der Aneignung von Literatur werden, wenn sie sich nicht in der Bestätigung vorhandener Erfahrungen erschöpfen, sondern diese durch das literarische Beispiel zu überschreiten trachten. Selten habe ich den Kurs so interessiert an die Lektüre eines Werkes gehen sehen wie im Fall „Effi Briest"; allerdings stockte die Begeisterung, als die Schüler merkten, daß an Handlung in dem Roman nicht mehr steckt als in der knappen Inhaltsangabe schon erkennbar war. Dies gab dann in der Besprechung Gelegenheit, um auf die besondere Form des Erzählens und die Absichten des Erzählers einzugehen. 2.2 Textanalyse Der zweite Schritt in der Unterrichtssequenz bestand in einer genaueren Analyse von Schlüsselepisoden des Romans, wie sie jeder Lehrer kennt: Die Exposition von Situation, Raum, Zeit, Handlung, Figuren (l.Kap.); die Charakterisierung Effis zwischen Vergnügungssucht und Ehrgeiz (Kap. 1-5); Handlungsführung als nachträgliche Reflexion der Ereignisse; leitmotivische Verknüpfungen (vgl. Anfangs- und Schlußbild, Geschichte des Chinesen, Musik Wagners); die Struktur des personalen Erzählens mit den Elementen der erlebten Rede und des inneren Monologs. In dieser Phase der Explikation des Textes spielen Applikationen auf die Denkund Erfahrungshorizonte der Schüler kaum eine Rolle. Dennoch werden strukturelle Bezüge deutlich. Innerhalb des Romangeschehens werden im-

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mer wieder Geschichten erzählt, die dem Wirklichen das Mögliche gegenüberstellen: Effi malt sich Zukunftsbilder ihrer Ehe aus und vergißt darüber die Wirklichkeit, sie erzählt die Geschichte von der Gottesmauer (18. Kap.), Innstetten träumt, wie Effi und Crampas zusammen im Schloon versinken (20. Kap.), oder auch das Geschehene als das Zukünftige ausweisen: Effis Erzählung von Innstettens Beziehung zu ihrer Mutter liest sich als die Spiegelung ihres eigenen zukünftigen Schicksals. Ähnlich wie in den Andeutungen einer Geschichte innerhalb der Nacherzählung eines Schülers (vgl. Abrahams Beispiel) wird in der Fiktion das Mögliche wirklich, wie auch das schon Geschehene. Die Schüler begreifen, wie Fiktionen auf beiden Zeitebenen (der des Romans und der ihrer Gegenwart) als das Mögliche (das Bedrückende oder Hoffnungsvolle) inmitten des massiv Wirklichen verstanden werden kann. Diese Bezüge zwischen Formen und Funktionen des Geschichten-Erzählens im Roman und Schülertext ist als strukturelle Applikation zu bezeichnen. Für das literarische Lernen ist sie wichtiger als der doch eher oberflächliche Nachweis inhaltlicher Parallelen zwischen den Erfahrungsräumen von Texten und Lesern. 2.3 Kontextuierung Der dritte Schritt in der Behandlung des Romans führte über KontextMaterialien zur Duell- und Ehrdiskussion ganz in die historische Situation in Preußen am Ausgang des 19. Jahrhunderts zurück. Die Schüler sollten verstehen, wie Innstetten dazu kommt, in seiner Entscheidung für das Duell und die Trennung von Effi dem „uns tyrannisierenden Gesellschafts-Etwas" (27. Kap.) ein solches Gewicht gegenüber dem Menschlichen zu geben. In dem Dokument „Die Ehre und das Duell" unterscheidet der Zeitgenosse Fontanes, Albrecht von Boguslawski 4 , die juristische und moralische Ahndung von Ehebruch, setzt die zweite wesentlich höher als die erste und begründet das Duell als die einzig wirksame Form, Genugtuung zu erlangen. Menschlichkeit, Humanität, Mitgefühl als Maßstäbe menschlichen Handelns werden rigoros zugunsten einer unhinterfragten tradierten Moralität, die dem „wahren kriegerischen Geist" huldigt, verworfen. Gemessen an diesen menschenverachtenden Maximen erscheint Innstetten noch vergleichsweise weniger skrupellos. Auf einmal bewegten sich die Reflexionen der Schüler ganz im Rahmen der Historie. Alternativen seines Handelns wurden nur im Rahmen des historisch Möglichen diskutiert: „Er hätte einfach nichts sagen dürfen, um seine Ehre zu retten". Produktive Vernunft schafft Raum für historische Reflexionen und den Wissenserwerb.

4

Vgl. Erläuterungen und Dokumente. Theodor Fontane: Effi Briest. Hg. v. Walter Schafarschik. Stuttgart 1980, S. 155-162.

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2.4 Gestaltung eigener Perspektiven Im letzten Schritt der Unterrichtseinheit waren wieder die persönlichen Urteile aus der Perspektive der „besserwissenden" heutigen Leser gefragt. Dabei zeigten sich überraschende Konstellationen: diejenigen Schüler, die das deutlichste Verständnis für Innstettens Verhalten gezeigt hatten, wurden durchweg zu den stärksten Kritikern des Romans, während die, die ihn und sein Verhalten ablehnten und für unentschuldbar hielten, damit zugleich Mitgefühl mit Effi zeigten und als Verteidiger des Romans auftraten. Im Unterrichtsgespräch wurden diese Positionen klarer: für Innstetten Verständnis zu zeigen, bedeutete, dem Roman die sozialkritische Spitze zu nehmen: Wenn nicht einmal er etwas ändern konnte, dann war das Schicksal aller Betroffenen ausweglos determiniert und der Roman ohne Bedeutung für unsere Zeit. Wenn man aber Innstetten ein Stück der Schuld am Untergang Effis anlasten konnte, dann waren die Verhältnisse insgesamt nicht so unabänderlich, wie er sie selber darstellt. Der Roman behält in diesem Fall seine gesellschaftskritische Stoßrichtung und damit seine Bedeutung über die Zeiten hinweg. Beide Deutungen und Wertungen waren begründbar und damit richtig. Um die Erfahrung zu verstärken, daß es zwei gleichermaßen richtige Interpretationen eines Textes geben kann, habe ich beide unkommentiert nebeneinander stehen lassen. (In einer Videoaufzeichnung habe ich nachträglich allerdings gesehen, daß die Schüler an der Art meiner Fragen, Zusammenfassungen, Überleitungen, Mienenspiele doch genau ablesen konnten, welcher Meinung ich wirklich war.) Für die Formulierung der eigenen Perspektive durch die Schüler kam mir ein Zufall zu Hilfe. Eine Woche vor dem angesetzten Klausurtermin erschien in der Literaturbeilage der Süddeutschen Zeitung am 14.10.1981 eine Apologie des Lesens von Peter Härtling unter dem Titel: „Lest, Leute: Lest weiter!" Ausgerechnet der Beginn von Fontanes „Effi Briest" wird Härtling zum Belegt für das Glück des Lesens: „In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie von Briest bewohnten Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstraße, während nach der Park- und Gartenseite hin ein rechtwinklig angebauter Seitenflügel einen breiten Schatten erst auf einen weiß und grün quadrierten Fliesengang und dann über diesen hinaus auf ein großes, in seiner Mitte mit einer Sonnenuhr und an seinem Rande mit Canna indica und Rhabarberstauden besetztes Rondell warf." Jeden beneide ich um die erste Begegnung mit Effi Briest, den Ruf zu hören, der sie von der Schaukel und aus der Kindheit reißt. Könnte ich doch, ohne Erinnerung, von neuem in die Geschichte hineinfallen, Erfahrungen sammeln, Menschen kennenlernen, den alten Briest oder Innstetten, sie lieben, gegen sie aufbegehren, auf sie einreden, sie in meine Träume verschleppen - aber ich habe ja noch Bücher mit ihren Gestalten, Städten, Landschaften vor mir [...]

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Klausurthema war, mit der Analyse von Figuren, Räumen und der Handlung die Applikation des Romans durch Härtling zu beurteilen und eine eigene Wertung der Lektüre des Romans zu versuchen: Erläutern Sie durch die Charakterisierung von Hauptpersonen und Orten die Aussage Härtlings und erörtern Sie dabei, inwieweit Sie sich seinem Urteil über Effi Briest anschließen können oder nicht. Sehr entschieden hatte Eva die Auffassung Härtlings zum Ausgangs- und Endpunkt ihrer eigenen Überlegungen gemacht. Am Anfang schreibt sie: Um die Aussage Härtlings verstehen zu können, muß man wissen, wie Fontane die Hauptpersonen und die Orte charakterisiert hat. Dann erläutert sie die Orte des Geschehens und formuliert ein Zwischenergebnis — allerdings indem sie mit der Unterstellung operiert, für Härtling bedeute das Glück, von Hohen-Cremmen zu lesen, zugleich das Glück, wie die Personen damals zu leben: Für Peter Härtling wird hier ein veritables Glück beschrieben, das ihn über das ganze Buch hinweg begleitet. Ich kann mich diesem Urteil nicht so ganz anschließen, da Härtling den Begriff „veritables Glück" zu weit definiert. Vom materiellen Standpunkt aus gesehen, stimme ich zu. Denn für wen würde es nicht ein großes Glück bedeuten, in einem Herrenhaus aufzuwachsen mit großen Garten- und Parkanlagen. Vergleicht man aber andere Stellen bzw. Orte in dem Buch, wo Effi lebt, so bezweifle ich, daß Härtling auch hier den Begriff „veritables Glück" einsetzen würde. Nachdem die Orte Kessin und Berlin beschrieben sind, geht Eva zur Erläuterung der beiden Hauptfiguren über und überführt die Personenkritik in die kritische Würdigung des gesamten Romans: Wie Peter Härtling haben auch mich die einzelnen Personen bzw. die Hauptpersonen des Romans beeindruckt. Ihre Ansichten und verschiedenen Mentalitäten ergeben „ein weites Feld", bei dem es immer wieder interessant ist, sie von neuem zu erforschen. Die Ausgeprägtheit Härtlings, sich unter die Romanfiguren zu begeben, mit ihnen zu leben und zu reden, empfinde ich als etwas übertrieben. Aber jeder darf ja seine eigene Meinung vertreten (sic, H. M.-M.). Abschließend ist zu sagen, daß mir das Buch sehr gut gefallen hat, allein von der Charakterisierung der Personen als auch von ihren Handlungen her. Obwohl bei Fontane die romanhafte Handlung hinter Gesprächs- und Zustandsschilderungen zurücktritt. So konsequent wurde in den anderen Klausuren zu dem Thema die Auslegung Härtlings nicht mit der eigenen verbunden, sondern am Anfang oder meistens am Schluß kurz dazu Stellung genommen. Dabei stimmte man Härtling entweder zu, oder man lehnte seine Auffassung mit dem Versuch einer eigenständigen Begründung ab, wie es ζ. B. Matthias tat: Ich kann mich aber dem Urteil Härtlings über Effi Briest nicht anschließen. Meiner Meinung nach wird der Roman durch seine Personen und besonders durch seine Landschaftsbeschreibungen nicht interessant, sondern langweilig. Besonders im ersten Teil des Romans bis Kapitel 13 (Auftauchen Crampas),

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passiert kaum etwas. Es werden nur Landschaften, Personen und Stimmungen beschrieben. Auch danach entwickelt sich die Handlung sehr langsam.

Aus der Stellungnahme gegen Harding wird am Schluß der Klausur eine Kritik am Roman: Zusammenfassend kann man sagen, daß Effi Briest zwar interessante gesellschaftskritische Ansätze hat, jedoch insgesamt durch romantische Landschaftsund Stimmungsbeschreibungen und einem heute nicht mehr aktuellen Thema für den heutigen Leser langweilig wird.

Wer bisher noch nicht von der Lektüre eines Romans gefangengenommen wurde, dem kann man auch keine positive Stellungnahme zum Thema Glück des Lesens abverlangen. Applikation kann eben auch Abweisung der Bedeutung von Literatur für das eigene Leben sein. 3. Literarisches Lernen und produktive Vernunft Eine solche Form des Unterrichts, die sich nicht auf die Erklärung von Textinhalten, Textstrukturen, sozialgeschichtlichen Kontexten beschränkt, sondern auf ein Verstehen zielt, das die eigene Perspektive durch die fremde ergänzt und erweitert, das das Gelesene strukturell und inhaltlich auf die Gegenwart zu beziehen und auch umgekehrt: das Gegenwärtige von dem Vergangenen her zu lesen weiß, fördert die produktive Vernunft und damit die Fähigkeit, auch mehr zu verstehen als Literatur. Aus dem Unterrichtsbeispiel läßt sich folgern, daß unter produktiver Vernunft eine solche zu verstehen ist, die sich über ästhetische Modelle in fremde und ferne Zustände hineindenken, sie bis zur Aufdeckung von Widersprüchen zu durchdenken weiß, sich Alternativen im Horizont verschiedener Zeiten vorzustellen vermag, Bezüge zwischen verschiedenen literarischen Erfahrungen, dem fiktional gestalteten und dem eigenen Wissen erkennen und für die Aktualisierung von Literatur sowie für die Historisierung der eigenen Erkenntnis nutzbar machen kann. Produktive Vernunft wird zugleich zur Bedingung und Folge literarischen Lernens. Ergebnisse des Lernens dieser Art nennt man traditionellerweise Bildung.

Karlheinz

FINGERHUT

(Marbach/Neckar)

Historisches Wissen oder produktive Vernunft Wege des Verstehens im Literaturunterricht II Bisher habe ich Tätigkeiten des Literaturwissenschaftlers, insbesondere das Einbeziehen von Quellen, von Rezeptionsdokumenten, „Zusatzmaterialien" für den besten Weg gehalten, historisches Verstehen von Literatur im Deutschunterricht zu befördern. Die Auseinandersetzung mit der Didaktik des „produktiven Literaturunterrichts" hat mir gezeigt, daß man auch von der Lektüreverarbeitung der Schriftsteller manches für die Arbeit im Unterricht lernen kann. Heute soll es darum gehen, ob und inwieweit kognitive und produktive Formen des Textumgangs miteinander unter der Zielsetzung des „historischen Verstehens" verbunden werden können. „Ich saß (berichtete ein Kollege) mit einigen Studenten in einer Kneipe bei der Uni. Später setzte sich dann ein junger Mann mit glänzender Lederjacke dazu (...) ,Sag mal, bist du ein Prof?' fragte er mich nach einer Weile, und als ich bejahte: .Mensch, was machst du da denn?' -,Literatur', sagte ich, plötzlich alle möglichen Einwände gegen derartiges deutlich vor Augen. ,Ist alles Mist', sagte er wegwerfend, ,außer einem: Kafka' - ,Was denn von ihm', fragte ich, jetzt schon ganz Ohr ( . . . ) - ,Na die „Verwandlung"!' - .Warum?' - .Weil, der flippt aus' - ,Wie, der flippt aus?' - ,Ist doch klar: Mit dem Alten hat er ein elendes Verhältnis, und die ganze Familie nimmt ihn ja nur aus. Der Chef im Betrieb, der sitzt auf dem Pult und schnauzt die Leute an. Mit den Frauen klappt es auch nicht, und sein Hobby ist doch schwachsinnig, Laubsägearbeiten! Da kann man doch nur ausflippen!'"1

Diese Kurzinterpretation der „Verwandlung" gibt zu denken. Sie zeigt eine vorwissenschaftliche Ingebrauchnahme, die Hillmann eine „natürliche" nennt. Der junge Mann versteht Literatur so, „weil er sie so braucht". Er selbst ist ein Aussteiger, als Fernfahrer tätig, der seine eigene Situation mit der Gregor Samsas in Verbindung bringt. Hillmann findet bei Schriftstellern (ζ. B. bei Max Frischs Lektüre des Kellerschen „Grünen Heinrich") ähnliche Rezeptionsformen: problemortender, subjektiver Gebrauch von Literatur, selektive Textwahrnehmung, Analogiebildung zwischen Biographie und Lektüre. Hillmann zieht für den Literaturunterricht den Schluß, Problem-

1

Heinz Hillmann, Der Bildungswert der Literatur, in: Gegenwartsliteratur als Bildungswert, hrsg. v. A. Brandstetter, Wien: Österreichischer Bundesverlag 1981, S. 41.

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Orientierung der Lektüre und „Didaktik des Literaturunterrichts als Problemlösungsspiel" 2 sei ein entscheidender Schritt heraus aus der „Versachlichung" und dem „Absehen von der eigenen Person" 3 , die den schulischen Umgang mit Literatur in Gegensatz zu seinem eigenen Gegenstand (dem Lesen von Literatur) bringe und die Schüler frustriere. Harro Müller-Michaels wird diesen Beobachtungen und Schlußfolgerungen zustimmen. In seinem Beitrag „Dialog der Perspektiven" 4 stellt er fest, daß „aktives Eingreifen in Zusammenhänge und Mitwirken an der Sinnkonstitution des künstlerischen Objekts" es dem Leser ermöglichen, die im Werk „eingebundenen Vorstellungen, Erfahrungen, Träume (...) mit den eigenen Gedanken und Empfindungen (zu) verbinden". 5 Unter diesen Voraussetzungen setze der „Dialog zwischen rezipierendem Subjekt und rezipiertem literarischem Objekt" Verstehen frei. 1. Das Problem der „Situationsanalogien" zwischen Lektüre und Leben Angesichts der bisher vorliegenden Ergebnisse empirisch-didaktischer Erforschung von Rezeptionskompetenzen Heranwachsender 6 wie auch angesichts sozialpsychologischer Theoriebildungen zum Funktionieren kultureller Stereotype im Bewußtsein der Teilnehmer am kulturellen Leben der heutigen Gesellschaft, wie sie etwa Pierre Bourdieu vorgelegt hat 7 , bedürfen folgende Theoreme von Hillmannn und Müller-Michaels der didaktischen Reflexion: die Metapher vom Dialog zwischen Werk und Rezipient; die Qualifizierung der selektiven, projektiven und analogisierenden Lektüre als „natürlich"; das subjektive, bedürfnisgeleitete Eingreifen des Lesers in den Text bei der sogenannten „Sinnkonstitution"·, der Vorschlag, über die Definition von Literatur als „Problemlösungsspiel" eine tragfahige Verbindung zwischen Lektüre und Leben zu schaffen, aus der dann (historisches) Verstehen erwächst. Verdienen die Grundoperationen, die hier mit Positiv-Begriffen vorgestellt werden, das Vertrauen der Fachdidaktiker? Oder gelangt man, wie Bourdieu unterstellt, lediglich zu einer „populären Ästhetik", in der die Enttäuschung bereits vorprogrammiert ist, wenn die Erwartung, „einbezogen zu werden", vom literarischen Text nicht erfüllt ist?8 Ebenda, S. 49. 3 Ebenda, S. 42. 4 Harro Müller-Michaels, Dialog der Perspektiven. Ein Unterrichtsversuch mit Texten über das Dritte Reich, in: Der Deutschunterricht 5/1983, S. 21-30. 5 Ebenda, S. 21. 6 Vgl. dazu die Beiträge von Willenberg, Spinner, Andringa, Bergk und Müller-Michaels im Jahrbuch der Deutschdidaktik 1983/84, Tübingen 1984. 7 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt: Suhrkamp 1972. 8 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 64. 2

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„Aktives Beziehen der Lektüre auf eigene Lebensprobleme" oder „Eingreifen in den Text" oder „Antworten auf den Text mit einer eigenen Variante" sind stark geprägt durch emotionale Leistungen wie Identifikation oder Perspektivübernahme und durch Verdrängung von Widersprechendem. Der von Hillmann zitierte Aussteiger aktualisiert z.B. für sich nicht das Ende der „Verwandlung"! Ein bedürfnisgeleitetes Herstellen von Analogien ist also keineswegs eine unproblematische Grundlage für das Verstehen von Fremdem, dem Alltagswissen Entgegenstehendem. 9 Der „sich einbringende" produktive Leser verbleibt im Umkreis seiner eigenen praktischen Erfahrungen, wie soll er Lektüre als Bereicherung erfahren? Eine Untersuchung von Rezeptionsleistungen in einem Volkshochschulkurs zu modernen Texten über Vatergestalten (Meckel, Härtling, Vesper u. a.) zeigt deutlich die Defizite, die mit einer subjektiv-emotional-identifikatorischen Lesehaltung einhergehen: die Aneignung der literarischen Texte erfolgt dezidiert auf Kosten von deren historischem Gehalt. Gerade die Beziehungen der Vaterfiguren der literarischen Texte zum Nationalsozialismus, zur Struktur der autoritären Persönlichkeit - also das historisch Innovative, um dessentwillen die Autoren ihre Vatergeschichten aufschrieben - fällt ganz der Verdrängung anheim. Es dominiert stattdessen die Struktur der einfachen, ganzheitlichen Zustimmung („mein Vater war ähnlich ...") oder Ablehnung („solche Verhaltensweisen sind mir völlig fremd"). Dabei wird zugleich die Trennung zwischen Fiktion und Wirklichkeit eingeebnet, was es dem Leser ermöglicht, mit den Stereotypen des Alltagswissens auf die in den Texten verhandelten Problemkonstellationen zu reagieren (den Text an Aussagen zu messen, wie Beziehungen zu Vätern „zu sein haben").

Gerade die historische Tiefenschärfe leidet bei der assimilierenden Rezeptionsweise der „natürlichen" (Hillmann) oder „populären" (Bourdieu) Lektüre. Eigentlich bleiben nur dichotomische Feststellungen von „einst" und „jetzt", wobei „einst" für die Fiktionswelt, „jetzt" für die Lebenswelt der Leser steht. Das hat gravierende Auswirkungen für die Beurteilung der Textperspektive. Die Leser und Leserinnen übernehmen sie oder weisen sie zurück — je nachdem ob diese ihr soziologisches oder psychologisches Alltagswissen bestätigt oder nicht: „Das war vielleicht früher einmal so, aber heute .. ," 10 Ich stelle fest: So einfach ist es nicht, über „Situationsanalogien 9

10

Vgl. Bernd Seiler, Vom Recht des naiven und der Notwendigkeit des historischen Verstehens literarischer Texte, in: Diskussion Deutsch 63 (1982), S. 19-33. Marianne Weinmann, Untersuchungen zur Rezeption von Gegenwartsliteratur in Volkshochschulkursen. Unveröffentlichte Diplomarbeit PH Ludwigsburg 1984/85. Vgl. dazu auch Eis Andringa, Diskrepanztheorie und Lesemotivation, in: Jahrbuch der Deutschdidaktik 1983/84, S. 65-82. Andringa stellt eine hohe Korrelation zwischen „positiven Empfindungen" und „geringer Distanz" zwischen der Fiktionswelt und eigenem Denken und Ideen des Rezipienten fest (S. 76). Bei Schülern ( 1 6 - 1 8 Jahre) ist diese Korrelation noch nicht so eingefahren wie bei 20-25jährigen Lesern. Für sie gilt noch überwiegend die Zielprojektion: positive Wertung des Außergewöhnlichen, der Erfahrungswelt Fremden.

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zwischen literarischem Text und Leserwelt" schöpferische Kräfte im lesenden Individuum freizusetzen, wie Volker Klotz 11 das meint, „ödipale Lust am Enthüllen der Wahrheit" des Textes dem „Textbegehren" entgegenzustellen, wie Helga Gallas träumt 12 , den „Geltungsbereich der Tradition" zu überprüfen, indem man die „Werkgehalte mittels der Gespräche über Literatur an die Lebenspraxis der Individuen anzuschließen versucht" 13 , wie Christa Bürger das denkt. Vielmehr glaube ich, daß die Literaturwissenschaftler wieder einmal dabei sind, die Mythen von der Bedeutung der Literatur für ihre Leser auf die seit vier, fünf Jahren gewandelten Bedürfnisse des kulturellen Apparats umzuschreiben, ohne auch nur an einem Punkt die „Lebenspraxis der Leser", wie sie in Ausbildungsinstitutionen zutage tritt, näher betrachtet zu haben. Indem sie auf Emotionalität, Identifikation, Erfahrungs- und Lebensbezug setzen, betreiben sie die „Reduktion der Kunst auf die Dinge des Lebens" 14 , also eine Haltung, die in der kulturellen Hierarchie bislang - aber vielleicht zu Unrecht — als „trivial" klassifiziert war. 2. Für eine Grenzziehung zwischen „historischem Verstehen" und „lebenspraktischer Lektüre" Wenn ein Schüler hinter der Maus in Kafkas „kleine(r) Fabel" sich selbst, hinter den schnell aufeinander zulaufenden Mauern seinen eigenen Lebenslauf, hinter der zynisch sprechenden und dann verschlingenden Katze die staatlichen Ausbildungsinstitutionen erkennt und lakonisch schreibt: „Die Welt - verstellt. Das Fallbeil fallt. Das Leben — eine Hätz, Am End für die KATZ."

dann ist diese Textassimilation ans eigene Selbst- und Weltbild vom Lehrer weder zu rechtfertigen über das Theorem des „sinnkonstituierenden Lesers" noch zu diffamieren als Trivialisierung Kafkas zu einem Gebrauchstext 15 . 11

12 13 14 15

Literatur und Erfahrung 12/13 (1983), Heft „Interpretieren", S. 16f. ( V . K . Interpretieren? - Zugänglich machenl). Ebenda, S. 25 (H.G., Notizen zum Interpretieren und seiner Tätigkeit). Ebenda, S. 46 (C. B. Zu einem anderen Umgang mit Literatur). Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 24. Vgl. Beda Allemann, Kafkas „Kleine Fabel", in: Teilnahme und Spiegelung, FS Horst Rüdiger, hrsg. v. B. Allemann und E. Koppen, Berlin 1975, S. 465-484. Allemann meint, daß die Applikation der Fabel durch das Erfinden eines zu ihr gehörigen Epimythions die Spezifik dieses durch die Gattungsgeschichte der Fabel ironisierten Textes verstelle: „Lehre nachformulierend endet man im Trivialen" (S. 478). Die historische Lesart erfasse hingegen die Transformation des Gattungsschemas durch dessen Wörtlichnehmen. Im Gegensatz zu dem didaktischen Begriff des „historischen Verstehens" ist „historisch" hier gleichgesetzt mit „Stelle in der Abfolge der Textsortenvariationen".

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Denn die Aufspaltung des komplexen schulischen Rezeptionsprozesses in einen kognitiven, analytischen Interpretations-Diskurs einerseits und ein ganzheitliches, problemorientiertes und subjektives Arbeiten am Text (sei es durch Umschreiben, sei es durch Inszenieren) andererseits ist der didaktischen Reflexion zum historischen Verstehen nicht förderlich. Es impliziert die von Bourdieu beschriebene Dichotomie von „Kennerschaft" und „Popularkultur", im fachwissenschaftlichen Theoriekonzept (Steinmetz) 16 die Trennung von Interpretation und Rezeption. Wichtiger ist die Unterscheidung einer auf Akkomodation angelegten intentionalen Struktur literarischer Texte und des auf Assimilation abzielende Verhaltens vieler Leser. Gemeint ist damit der Widerstand, den literarische Texte, besonders solche der Vergangenheit, dem lebensgeschichtlichen Verbrauchen - und damit dem Begehren der Leser — entgegensetzen. Eine produktive AssimilationsAkkomodations-Struktur im Text-Leser-Verhältnis heißt eben nicht plane und schnelle Übernahme einer vermuteten Textperspektive ins eigene Weltbild (Akkomodation), auch nicht ein Zupaß-Lesen des Textes durch selektive Wahrnehmung (Assimilation), sondern umfaßt die Klärung und historische Würdigung von Text- und Leserperspektive. Das aber heißt für die Literaturdidaktik, „lebenspraktische Resemantisierungen" 17 ihrerseits in eine historische Perspektive zu rücken. Das ist nun leichter gesagt als getan, denn eine historische Perspektivierung von aktuellem Lebensbezug der Lektüre verlangt nach Relativierung, nicht nach Affirmation der Positionen des Alltagsbewußtseins. Die Quadratur des didaktischen Zirkels lautet also: Wie ist es möglich, aus affirmativen Resemantisierungen, die das Ich des Lesers mehr spiegeln als erweitern, durch eine methodisch vernünftige Kombination von analytischen und produktiven Teiltätigkeiten lebenspraktisch wirksame kritische Resemantisierungen zu entwickeln? Konkret und auf unser Beispiel Kafka-Rezeption angewendet, heißt das: Wie kann durch eine Kombination von produktivem Texteingriff, der die Fabelkonstellation verändert oder auf Erfahrungen „anwendet", von genauem Lesen, das die Textkonstitution gegen die spontanen Resemantisierungen absetzt, oder durch Konfrontation mit gegenläufigen Texten des Autors (z. B. der brieflichen Feststellung Kafkas, „Die Welt ist zwar groß und weit ( . . . ) aber um kein Haaresbreit größer, als man sie sich selbst zu machen versteht" 18 ) den historischen Erfahrungskontext der Produktion wie der Rezeption dieser Fabel erreichen? Erst wenn der Schü-

16

17

18

Horst Steinmetz, Rezeption und Interpretation. Versuch einer Abgrenzung, in: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 3 (1974), S. 37-81. Christa Bürger, Zu einem anderen Umgang mit Literatur, in: Literatur und Erfahrung 12/ 13 (1983), S. 46-48. Vgl. Karl Hotz, „Du mußt nur die Laufrichtung ändern". Die Fabel als produktive Leseanweisung. Traditionelle Fabeln und moderne Texte nach Fabelart, in: Praxis Deutsch 72 (1984) H. 2, S. 58.

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1er, dessen produktive Assimilation ich eben zitierte, als für sich bedeutsam erarbeitet hätte, wie in dem Kafkaschen Text Perspektivelosigkeit und Protest dagegen zusammengehören, wenn er demzufolge die einfache Übernahme eines „Modells der Ausweglosigkeit" in seiner eigenen Produktion problematisierte, wenn er schließlich versuchte, seine Leseerfahrung und seine differenziertere Textkenntnis auf eine geschichtliche Affinität zwischen Kafka und ihm selbst beziehen könnte, wäre „historisches Verstehen" erreicht.19 3. Für eine Brechtsche Verbindung zwischen „historischem Verstehen" und „lebenspraktischer Lektüre" Was habe ich hier vorzuschlagen, um analytisch-kognitive Operationen und subjektiv-problemorientierte Rezeption didaktisch sinnvoll aufeinander zu beziehen? Ich möchte nicht in die methodische Trickkiste greifen und raten, doch einmal mehr dies, ein andermal mehr jenes zu betonen, dann werde es schon nicht zu langweilig werden, sondern eine Form der produktiven Rezeption, die in der Literatur selbst vorkommt, heranziehen. Das literaturtheoretische Stichwort, das ich dazu benötige, heißt „Intertextualität" 20 . Gemeint ist damit, daß Autoren für ihre eigenes Schreiben Muster und Motive in der bereits bestehenden Literatur ausnutzen, indem sie sie aufgreifen und verändern. Bertolt Brecht, der das ändernde Eingreifen in die Literatur der Vergangenheit sehr deutlich zu einem wesentlichen Bestandteil seines eigenen Schreibens gemacht hat, prägte einmal die Maxime: „Man kann die Dinge erkennen, indem man sie ändert." (Werke, Bd. 20, S. 172) Eingreifen und (dadurch) Erkennen sind - folgt man Brecht noch einen Schritt weiter Tätigkeiten, die mit emotionaler Befriedigung verbunden sind, zu einer Steigerung des Ich-Bewußtseins beitragen: das Ich erfährt sich selbst als ein Gegebenes nach den Maßgaben der eigenen Einsicht und Vernunft verändernde Instanz. Kann der erkennende Einstieg in das Netz intertextueller Beziehungen, die ein Werk der Gegenwart mit anderen der Vergangenheit verbinden, 19

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Vgl. Marion Bergk, Über schreibendes Lesen zum Textverständnis, in: Jahrbuch der Deutschdidaktik 1983/84, Tübingen 1984, S. 36-51; Eis Andinga, Diskrepanztheorie und Lesemotivation, ebenda, S. 65-83. Beide Untersuchungen gehen davon aus, daß Lesemotivation und produktive Texteingriffe dazu geeignet sind, „natürliches" ( = lebensgeschichtliches) Lesen in Richtung auf Ausweitung des subjektiven Bezugrahmens zu entwickeln. Vgl. Renate Lachmann, Intertextualität als Sinnkonstitution, in: Poetica 15 (1983), H. 1/2, S. 66-82. Auch Hillmann, Der Bildungswert der Literatur, S. 51 f., und Allemann, Kafkas „Kleine Fabel", nutzen das Theorem der Intertextualität, indem sie literarische Texte als „Antwort" auf die jeweilige Geschichte ihrer Gattung deuten, Kafkas „Kleine Fabel" etwa als moderne Replik auf Lessings Fabeltheorie.

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auch Schüler dazu motivieren, produktiv mit ihrer eigenen Variante einzugreifen und dadurch ein Brechtsches Eingreifen-Erkennen-Eingreifen-Spiel in Gang zu setzen, aus dem sie dann intellektuelle und emotionale Befriedigung ziehen? Bevor wir dieser Frage an einem Beispiel nachgehen, sei noch eine Vorbemerkung gestattet, die sich auf das Elendsbild des gegenwärtigen Literaturunterrichts bezieht, das in neueren didaktischen Publikationen entworfen wird. 21 Klassische Texte haben keine unmittelbare Problemnähe für Schüler von heute. Lehrer und Didaktiker haben sie immer wieder zu erzwingen gesucht, indem sie den Weg der Abstraktion gingen: Schillers „Bürgschaft" habe uns „noch heute etwas zu sagen", wenn wir sie als Ballade der Freundschaft oder — moderner - als Stellungnahme Schillers zum Problem der „Beiehrbarkeit von Diktatoren durch Menschlichkeit" 22 ansähen. Daß Schüler auf diese interpretatorische Sinnsuche mit der Feststellung reagieren, daß „das für sie eben keinen Sinn mache", beschreibt ziemlich genau den aktuellen Stand der Diskussion. Autoren reagieren hier anders. Für Brecht macht Goethes „Wandrers Nachtlied" einen Sinn, indem er es in die „Liturgie vom Hauch" einmontiert, die „Bürgschaft", indem er seine Lektüreerfahrung produktiv in ein Sonett über diese Kanonballade faßt. Er entdeckt dabei falschen bürgerlichen Quietismus in Goethes Umgang mit der Natur, die Bedeutung von einmal geschlossenen Verträgen im Bereich sozialer Interaktion der bürgerlichen Gesellschaft bei Schiller. Beide Klassiker sind für ihn Zeugen und Mitspieler ihrer Gesellschaft, und sie ermuntern den modernen Autor, ein gleiches für die eigne Zeit zu sein. Hier ist mehr als „literarische Phantasie" am Werke. Zum literarischen Text kommt es durch historische Reflexion und durch deren Enkodierung in einem neuen Gedicht. Es ist aber auch denkbar, daß es zur Formulierung der Erkenntnis kam, weil das Bedürfnis bestand, die Klassiker an diesen Punkten „weiterzuschreiben". Zwischen „Eingreifen" und „Erkennen" besteht ein echtes dialektisches Verhältnis. 4. Das Beispiel Brecht: Intertextualität als heuristische und produktive Konstellation Bertolt Brechts Ballade „Vom Schwimmen in Seen und Flüssen" (Werke, Bd. 7, S. 209 f.) wurde im Rahmen einer Einheit über „Naturlyrik" besprochen. Die Aufforderung, eigene Empfindungen beim Schwimmen in einem 21

22

Vgl. z.B. Norbert Hopster, Vorüberlegungen zum Umgang mit literarischen Texten im Deutschunterricht, in: ders., Handbuch Deutsch, Sekundarstufe I, Paderborn: Schöningh 1984, S. 77-96. Vgl. Gerhard Bauer, Die unsterbliche Ballade. Bemühungen um einen Ladenhüter der wieder einmal anberaumten .Klassik', in: Diskussion Deutsch 74 (1984), S. 145-162.

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See zu Papier zu bringen, ergab Texte, in denen die So-auch-Ich-Struktur dominierte: Ja, man kann nachempfinden, daß jemand beim Sich-Treibenlassen im Wasser so etwas wie Auflösungs-Empfindungen hat. Das Gefühl nahezu erreichter Schwerelosigkeit wird assoziiert. Brechts Anspielungen auf Erotik und Umarmung, auf den schwimmenden Gott hingegen sind den Schülern einer elften Klasse eher fremd. Die Eigenproduktionen bestätigen die Fähigkeit, Eigenerfahrung und Lektüre einander anzunähern. Eine historische oder ästhetischer Dimension hatte dieses Verstehen aber nicht ausbilden können: es schien allen so, als ob zwischen Gedicht und Rezipienten eine allgemeine menschliche Erfahrung ausgetauscht würde. Die Formen der Textverarbeitung änderten sich deutlich, als andere, historisch sehr viel ältere Gedichte über das Schwimmen in freien Gewässern hinzugezogen wurden23, zunächst Goethes Jugendgedicht „Wechsel" (1768; Sämtl. Werke, Artemis-Ausg., München 1977, Bd. 1, S. 46), ergänzt durch den Bericht, den der alte Goethe im neunzehnten Buch von „Dichtung und Wahrheit" über die Badeerlebnisse der Brüder Stolberg auf der Schweizer Reise im Jahre 1775 gibt (Werke, Bd. 10, S. 814f.). Das noch stark durch Rokoko-Reminiszenzen bestimmte Gedicht benutzt das Baden, genauer das Liegen in einem flachen Bach („Auf Kieseln im Bache da lieg ich, wie helle!/ Verbreite die Arme der kommenden Welle,/Und buhlerisch drückt sie die sehnende Brust"), um einen galanten Vergleich zwischen Wellen und Mädchen herzustellen: „Es küßt sich so süß die Lippe der Zweiten,/Als kaum sich die Lippe der Ersten geküßt". Demgegenüber artikuliert sich die Idee einer „Naturfreiheit" Rousseauschen Ursprungs im Verhalten der jungen Reisenden in der Schweiz, die durch Nacktbaden in Seen und Flüssen ihre Naturverbundenheit ausdrücken wollen, ein völlig geändertes Verhältnis zum eigenen Ich und zur Natur. Sich nackt und „kühnlich den schäumenden Stromwellen entgegen zu setzen" (Werke, Bd. 10, S. 815) erschien Goethe und seinen Freunden ein angemessenes Zeichen pantheistischer Ich-NaturIntegration. „Und frische Nahrung, neues Blut/saug ich aus freier Welt;/ Wie ist Natur so hold und gut,/die mich am Busen hält!", das ist die klassische Formulierung dieses Lebensgefühls. Man machte den jungen Leuten aber schnell begreiflich, „sie westen hier nicht in der uranfanglichen Natur, sondern in einem Lande, das für gut und nützlich erachtet habe, an älteren, aus der Mittelzeit sich herschreibenden Einrichtungen und Sitten festzuhalten." (ebenda, S. 814) Die Schüler wußten zwar, daß es auch heute noch Feinde des Nacktbadens gibt, die als Sittenwächter auftreten, aber sie erfuhren hier zum ersten Mal, daß die Idee der Ich-Integration in die Natur das Erlebnis „Schwimmen" am Umbruch zwischen Rokoko und Sturm und Drang grundlegend geän23

Die Anregung dazu stammt aus dem Aufsatz von Werner Ross, Vom Baden in Seen und Flüssen. Lebensgefühl und Literatur zwischen Rousseau und Brecht, in: Arcadia 3 (1968), S. 262-291.

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dert hat. Das, was so ganz selbstverständlich zum Schatz heutiger Alltagserfahrungen gehört, erschien nun als eine kulturelle Errungenschaft, keineswegs mehr als „allgemein menschlich". Man sollte diese Erkenntnis: eigene Empfindungen sind etwas Historisches, in ihrer Tragweite für die Definition des Ich nicht unterschätzen, auch dann nicht, wenn sie in diesem Unterricht zunächst noch recht abstrakt blieb. Ähnlich wichtig war die Entdeckung an Goethes Jugendgedicht: die mit „Baden" und „Schwimmen" verbundene erotische Konnotation. Sie war beim Lesen des Brechtgedichts noch als „übertrieben" zurückgewiesen worden. Jetzt, wo sie eine historische Wurzel bekam, sah die Sache anders aus. Das „Badelied" von Novalis (Schriften, hrsg. v. Kluckhohn/Samuel, Stuttgart 1960, Bd. 1, S. 502) verstärkte den Aspekt; der Sprecher imaginiert, daß sich an der gleichen Stelle, an der er „in die kühlende Flut" taucht, sich „vielleicht auch ein Mädchen gekühlt", und schließt seinen poetischen Erguß: „O! wahrlich, wer diesen Gedanken nur fühlt, / Hat süße entzückende Lust." Die Phantasie hat etwas Überhitztes. Es ist nicht schwer, ihre Quelle in gesellschaftlichen Repressionen zu suchen. Natürlich wissen auch die Jugendlichen von heute etwas vom Zusammenhang des Badens mit der Erotik. Aber ihr Erlebniskontext verrät ihnen nichts von der langen, unterdrückten Geschichte dieser Beziehung. Eduard Mörikes „Mein Fluß" (Sämtl. Werke in 2 Bde., hrsg. v. G. Baumann, Stuttgart 1954, Bd. 1, S. 57 f.) aber belegt die Schwierigkeiten vergangener Generationen, eine „natürliche" Einstellung zum Schwimmen als einer menschlichen Bewegungsart im Wasser wiederzugewinnen. Sein lyrischer Sprecher inszeniert ein vorsichtiges Hineinwaten in den Neckar. Das Gefühl des Wassers auf dem Körper wird sofort erotisiert: „Er fühlt mir schon herauf die Brust, / Er kühlt mit Liebesschauerlust / Und jauchzendem Gesänge." Am „sehnsuchtsvollen" Leib „schlüpft" der Sonnenschein in Tropfen nieder, die „hingegebenen Glieder" werden von Wasser „gewiegt", aber weiter wagt sich der Dichter nicht vor. Er verwandelt den Fluß schnell in einen romantischen Märchenerzähler, erst am Schluß kommt er noch einmal auf seine Badeerfahrung zurück. Himmel, Wasser und Liebe gehören zusammen: „Was ist so tief, so tief wie sie? / Die Liebe nur alleine. / Sie wird nicht satt und sättigt nie / Mit ihrem Wechselscheine." Die Kategorie „Natürlichkeit" ist auf dies Verhältnis zum Wasser nicht anzuwenden. Das scheinbar so alltäglich Erfahrbare in Brechts Gedicht bekommt historische Tiefenschärfe. Das scheinbar allgemein Bekannte wurde durch die Textfolge zuerst einmal fremd, nicht mehr selbstverständlich, sondern das Ergebnis einer kulturellen (in diesem Fall „befreienden") Entwicklung. Um die in der Inter-Text-Reihe verborgene historische Entwicklung der Einstellungen noch deutlicher herauszuheben, als das die Gedichte selbst tun, kann man getrost zur Prosa greifen. Eine Romanstelle'aus Heinrich Laubes „Das junge Europa" bestätigt konkret und handfest die festgestellten historischen Differenzen:

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„Wir gingen in ihr Schlafzimmer, es ist verführerisch wie ein anakreontisches Gedicht. Eine nur angelehnte Tür führte zu einem Badezimmer; ich küßte einen Augenblick Abschied auf Mund und Busen meiner Konstantie, warf die leichten Kleider von mir und tränkte meine durstigen Glieder mit der weichen Welle. Es ist dies etwas, was ihr Deutschen durchaus nicht lernen wollt, daß das viele Baden etwas Reizendes sei. Ihr rauhen Bären Germaniens, die ihr vom Urzustände doch übrigens nichts als das rauhe Fell behalten habt, wo drei Schläge auf einen Fleck fallen müssen, eh ihr einen fühlt, begreift's nicht (...) Das Bad ist ein Hauptakt der körperlichen Zivilisation; schon in Frankreich findest du in jedem einfach eingerichteten Hauswesen ein Badezimmer, in Deutschland keines in dem besteingerichteten. (...) Geist und Gemüt entfalten sich behaglicher in einem Leibe, der aus dem Bade steigt, eine reinere, frischere Sinnlichkeit hüpft durch die erregten Adern - aus dem Meere hoben die Griechen ihre Liebesgöttin, die strahlende Aphrodite. Das Wasser ist ein geistigeres Element als die Erde, man fühlt sich höher, edler, wenn man die Glieder aus den Fluten hebt (...); statt die im Zimmer verkümmernden deutschen Bürger allsonntäglich wie die Herde zum nutzlosen Geschwätz eines Pfaffen zu schicken, würd' ich sie ins Wassaer jagen, damit sie die trägen Flügel schütteln lernten wie die Vögel, die sich auch baden, obwohl sie in reinerem Elemente verkehren als wir. (...) Es hat mir den Anblick manches zärtlichen Liebespaares verleidet, wenn ich daran dachte, daß beide vom Baden nichts wüßten. Man soll den Körper pflegen wie die Frucht, deren Saft unsere physischen und geistigen Teile stärkt und nährt. Deutschland, geh ins Bad."2'· Baden ist in der Anschauung der Jungdeutschen und der Vormärzautoren deutlich eine Wiederaufnahme des Stürmer- und drängerhaften Aufbegehrens gegen gesellschaftliche Normen. Körperkultur bedeutete zugleich Protest gegen spiritualistisch-christliche Geistigkeit und Sinnenfeindlichkeit. Historisch aufschlußreich bei Laube ist, daß es nicht rousseauisch-kräftiges Rückgreifen auf die Ursprünge vorzivilisatorischen Menschentums (wie bei Goethe und den Stolbergs) ist, das mit „Baden" zusammengehört, sondern das zivilisatorisch fortgeschrittene Frankreich, das die Pflege des Körpers und hellenische Erotik emanzipatorisch zusammenfügt. „Deutschland, geh ins Bad" heißt also auch „Deutschland, geh in die französische Schule". Mit dieser eher als „kognitiv" einzustufenden Erweiterung des Horizonts nicht nur zum Thema „Baden und Literatur", sondern auch zum Thema „historisches Werden von Empfindungen" war es auch möglich, Brechts Gedicht als Weiterschreiben und Verändern einer Tradition der Empfindungen zu erkennen, genauer: als materialistische Antwort auf die früheren extatisch-pantheistischen und die verklemmt idealisierenden Erlebnisse von Natur-Ich-Korrespondenz. Wiederverwendungen der gleichen Konstellation in anderen Gedichten Brechts, besonders in dem frühen „Choral vom Baal" und in der „Ballade vom ertrunkenen Mädchen", zeigen das Dahintreiben im Wasser als eine Form von Auflösung, die Natur in Natur reinte-

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Zitat nach: Das junge Deutschland, hrsg. v. J. Hermand, Stuttgart: Reclam 1966, S. 196-197.

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griert. Damit erreicht die Auseinandersetzung mit dem Gedicht allererst die Stufe, daß Neues, die eigene Einstellung zum Körper und zur äußeren Natur Betreffendes, wahrgenommen wird. Dies ist der Punkt, an dem eigene Schreibversuche der Schüler sinnvoll weiterführen. Als das versteckte Thema des produktiven „Dialogs" zwischen Gedicht und Leser wird die Frage nach dem Ich angesichts natürlicher Abläufe, angesichts der kulturellen Entwicklung und angesichts der historischen Verdrängungen von Naturerleben erkannnt. Ein Beispiel: Treibend Träge treibend im flach fließenden Fluß Unter hängenden Weiden hindurch / Irren einsilbige Rufe der Freunde. Nimmer werd ich froh. Blaußblaue Lenorflaschen und grellgelbe Tüten erzählen im Ufergebüsch Mörikes Märchen vom Spiel der Nymphen im Frühling. Orphelia begleitet uns ein Stück - eine ersoffene Katze, schon ausgelaufen die Augen. Abend und Haifischhimmel / Machen uns nicht zur Natur. Der Rückweg ist uns versperrt. / Ein grantiges Kratzen im Hals Der Bach riecht schon nach Kloake. Am Zelt trinken wir einen Schnaps.

(Schülerin, Klasse 12 (Literaturkurs), überarbeitete Form) Lessing, der Lehrer, scheint die Didaktik dieser Textproduktion geschrieben zu haben. Er spricht in seiner fünften Abhandlung von der Fabel („Von einem besonderen Nutzen der Fabeln in den Schulen") vom Prinzip der Reduktion, durch das in der Fülle des Besonderen Zusammenhänge sichtbar werden. Und er empfiehlt dem Schüler das Selbst-Schreiben als heuristische Methode, „durch Vergleichung" von selbst auf Dinge zu kommen, „die ihm noch nicht gesagt wurden". Vom „Finden zum Erfinden" kommt auch die Schreiberin dieses Gedichts, indem sie die Lese-Erfahrungen dieser Inter-Text-Folge zitiert und zugleich an den subjektiven Erfahrungen bricht. Am Ende steht die - gefundene oder erfundene — Einsicht, daß weder auf idealistischer noch auf materialistischer Basis eine Ich-Integration in die Natur für uns möglich ist. Unsere Eingriffe haben den Fluß so verändert, daß wir selbst nicht mehr dazugehören können, ohne uns selbst ständig als Zerstörern zu begegnen. 5. Schlußfolgerung Das Zusammenspiel kognitiver und produktiver Arbeitsschritte in diesem Sequenzbeispiel kann so resümiert werden: In einem stark am traditionellen Literaturunterricht orientierten Vorspiel arbeiten Schüler eine vom Lehrer montierte Text-Reihe durch und

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erkennen dabei das Historisch-Gewordene einer scheinbar anthropologischkonstanten Konstellation von Ich und Natur. Dieser Erkenntnisprozeß aus der Rezipienten-Rolle heraus differenziert „spontane" Texturteile vorwissenschaftlicher Lektüre, die plane So-auch-Ich-Affinitäten zwischen Textund Leser-Ich festgeschrieben hätten. Emotionale Prozesse, die dabei ablaufen, beziehen sich auf die Tätigkeit des Verstehens und Durchschauens von Zusammenhängen. Eine „Lust des Erkennens" ist keineswegs garantiert, weder durch Bedeutsamkeit des Problems Ich-Natur für das eigene Leben noch durch die Unterrichtsinszenierung, die literarische Vorgänge (ein Text korrespondiert mit änderen der Tradition) im Blick hat. In dem darauffolgenden Schreib-Spiel ereignet sich eine neue Stufe der Problemauseinandersetzung, die Text-Leser-Interaktion gewinnt eine andere Qualität. In literarischen Formulierungen (narrativen Strukturen oder ästhetischen Kodierungen nach dem Muster von Alltagslyrik) finden sich die Schüler freigesetzt von der Not des Begriffs und von diskursiven Argumentationsregeln. Beobachtungen, Urteile, Wertungen können an der Oberfläche der selbstgeschriebenen Texte erscheinen, die sonst nur „sorgfaltig begründet" und „abgesichert" artikuliert werden dürften. Die Benutzung literarischer Formen garantiert darüber hinaus die Möglichkeit, Privates oder Persönliches ins Allgemeine zu heben, das eigene Ich hinter den poetischen „Offenheiten" zurücktreten zu lassen. Schließlich können — durch formale Korrespondenzen zwischen Eigentext und den literarischen Texten der Sequenz - unerwartete Beziehungen entstehen. Die neuen „Entdeckungen", die möglich sind, wenn sich ein Schreiber auf Intertextualität einläßt, führen in Lessings Sinn vom „Finden zum Erfinden". Die dabei empfundene Lust ist komplex. Sie enthält das Vergnügen des Erkennens zusammen mit dem Vergnügen des Experimentierens, Basteins, des Selber-Herstellens und der Befriedigung, die aus glückenden Problemlösungen entsteht. Heuristisch im Sinne historischen Verstehens wird die Arbeit aber erst durch den dritten Arbeitsschritt, das Gesprächs-Spiel oder die Reflexion über die verschiedenen Problemlösungen/Eigenproduktionen des Klassenkollektivs. Dabei ist eine Umsetzung des produktiv Erzeugten in diskursive Rede als Selbst- oder Fremdverstehen notwendig. Es können sich gesteigerte Identifikationen mit der Eigenproduktion ereignen (die anderen entdecken Wichtiges darin, ζ. B. etwas, was ich selbst nicht so gesehen habe), es können auch Distanzierungen vom eigenen Produkt in Richtung auf die Produktionen anderer Spielteilnehmer oder in Richtung auf die vorgegebenen Texte der Reihe vorkommen. Auch ästhetische Reflexion im engeren Sinn hat hier ihren Platz. Sie prüft die Plausibilität des Hergestellten (weshalb überzeugt der und der Text-Vorschlag (nicht)), das im Eigenprodukt zutagetretende gedanklich und affektive Potential. Dieser Arbeitsschritt stellt Öffentlichkeit her für die letzten Glieder der Intertextualitäts-Kette. Hermeneutisch gesprochen ereignet sich hier die Applikation der IntertextReihe auf die eigene Welt.

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6. Anhang Bertolt

Brecht

Vom Schwimmen in Seen und Flüssen 1 Im bleichen Sommer, wenn die Winde oben Nur in dem Laub der großen Bäume sausen Muß man in Flüssen liegen oder Teichen Wie die Gewächse, worin Hechte hausen. Der Leib wird leicht im Wasser. Wenn der Arm Leicht aus dem Wasser in den Himmel fallt Wiegt ihn der kleine Wind vergessen Weil er ihn wohl für braunes Astwerk hält. 2 Der Himmel bietet mittags große Stille. Man macht die Augen zu, wenn Schwalben kommen. Der Schlamm ist warm. Wenn kühle Blasen quellen Weiß man: ein Fisch ist jetzt durch uns geschwommen. Mein Leib, die Schenkel und der stille Arm Wir liegen still im Wasser, ganz geeint Nur wenn die kühlen Fische durch uns schwimmen Fühl ich, daß Sonne überm Tümpel scheint. 3 Wenn man am Abend von dem langen Liegen Sehr faul wird, so , daß alle Glieder beißen Muß man das alles, ohne Rücksicht klatschend In blaue Flüsse schmeißen, die sehr reißen. Am besten ist's, man hält's bis Abend aus. Weil dann der bleiche Haifischhimmel kommt Bös und gefräßig über Fluß und Sträuchern Und alle Dinge sind, wie's ihnen frommt. 4 Natürlich muß man auf dem Rücken liegen So wie gewöhnlich. Und sich treiben lassen. Man muß nicht schwimmen, nein, nur so tun, als Gehöre man einfach zu Schottermassen. Man soll den Himmel anschaun und so tun Als ob einen ein Weib trägt, und es stimmt. Ganz ohne großen Umtrieb, wie der liebe Gott tut Wenn er am Abend noch in seinen Flüssen schwimmt. (B.B. Sämtl. Werke, Frankfurt 1967, Bd. 7, S. 209f.)

Historisches Wissen oder produktive Vernunft II Johann Wolfgang von Goethe Wechsel Auf Kieseln im Bache da lieg ich, wie helle! Verbreite die Arme der kommenden Welle, Und buhlerisch drückt sie die sehnende Brust; Dann führt sie der Leichtsinn im Strome danieder, Es naht sich die zweite, sie streichelt mich wieder: So fühl ich die Freuden der wechselnden Lust. Und doch, und so traurig, verschleifst du vergebens Die köstlichen Stunden des eilenden Lebens, Weil dich das geliebteste Mädchen vergißt! O ruf sie zurücke, die vorigen Zeiten! Es küßt sich so süße die Lippe der Zweiten, Als kaum sich die Lippe der Ersten geküßt. (J.W. v. G., Sämtl. Werke, Artemis-Ausg., München 1977, Bd. 1, S. 46)

Novalis Badelied Auf Freunde herunter das heiße Gewand Und tauchet in kühlende Flut Die Glieder, die matt von der Sonne gebrannt, Und holt von neuem euch Mut. Die Hitze erschlaffet, macht träge uns nur, Nicht munter und tätig und frisch, Doch Leben gibt uns und der ganzen Natur Die Quelle im kühlen Gebüsch. Vielleicht daß sich hier auch ein Mädchen gekühlt Mit rosichten Wangen und Mund, Am niedlichen Leibe dies Wellchen gespielt, Am Busen so weiß und so rund. Und welches Entzücken! dies Wellchen bespült Auch meine entkleidete Brust. O! wahrlich, wer diesen Gedanken nur fühlt, Hat süße entzückende Lust. N., Schriften, hrsg. v. Kluckhohn/Samuel, Stuttgart 1960, Bd. 1, S. 502

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Eduard Mörike Mein Fluß O Fluß, mein Fluß im Morgenstrahl! Empfange, nun, empfange Den sehnsuchtsvollen Leib einmal, Und küsse Brust und Wange! - Er fühlt mir schon herauf die Brust, Er kühlt mit Liebesschauerlust Und jauchzendem Gesänge. Es schlüpft der goldne Sonnenschein In Tropfen an mir nieder, Die Woge wieget aus und ein Die hingegebnen Glieder; Die Atme hab' ich ausgespannt, Sie kommt auf mich herzugerannt, Sie faßt und läßt mich wieder. D u murmelst so, mein Fluß, warum? D u trägst seit alten Tagen Ein seltsam Märchen mit dir um, Und mühst dich, es zu sagen; D u eilst so sehr und läufst so sehr, Als müßtest du im Land umher, Man weiß nicht, wen, drum fragen. Der Himmel blau und kinderrein Worin die Wellen singen, Der Himmel ist die Seele dein! O laß mich ihn durchdringen! Ich tauche mich mit Geist und Sinn Durch die vertiefte Bläue hin, Und kann sie nicht erschwingen! Was ist so tief, so tief wie sie? Die Liebe nur alleine. Sie wird nicht satt und sättigt nie Mit ihrem Wechselscheine. - Schwill an, mein Fluß, und hebe dich! Mit Grausen übergieße mich! Mein Leben um das deine! Du weisest schmeichelnd mich zurück Zu deiner Blumenschwelle.

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So trage denn allein dein Glück Und wieg auf deiner Welle Der Sonne Pracht, des Mondes Ruh': Nach tausend Irren kehrest du Zur ew'gen Mutterquelle! Ε. M., Sämtl. Werke, 2 Bde. hrsg. v. G. Baumann, Stuttgart 1954, Bd. I, S. 57 f.

Heinz-Jürgen

KLIEWER

(Landau)

Nachspielen oder nachdenken den Zuschauer von morgen erziehen Daß man Dramen im Deutschunterricht nicht nur lesen und analysieren sollte, sondern spielen und sehen, diese Einsicht ist in den oberen Etagen der Literaturdidaktik nicht erst seit Geißler (1972) unwidersprochen; an der Basis denkt und handelt man anders. Sind die Hindernisse unüberwindlich, oder will man eigentlich gar nicht? Während das Spielen nach literarischen Vorlagen eine lange, aber auch belastende Tradition hat, ist eine Didaktik des Sehens kaum in Ansätzen vorhanden, denn weder die Kunstdidaktik noch die Film- und Fernseherziehung können sie für den Deutschunterricht entwickeln. Theater und Theaterwissenschaft reagieren auf Annäherungsversuche oft eher mimosenhaft oder schroff ablehnend: „Die Schauspielkunst sollte nicht ausschließlich aus ihrer Beziehung zur Literatur begriffen werden, denn Drama und Theater bilden keine Einheit, auch wenn diese Auffassung noch weitgehend die Erwartungen prägt, die an das Theater gestellt werden." (Richter 1983/66) Für das eine sind die Deutschlehrer zuständig, für das andere die Regisseure. Spielen allgemein und das Textspiel im besonderen sind offenbar im schulischen Alltag eine solche Rarität, daß sie einen Wert in sich zu haben scheinen. Wie anders könnten Fehlformen sich sonst so resistent verhalten, unbehelligt freilich auch von der offiziellen Literaturdidaktik. Auch ihre jüngste Spielart, der produktionsorientierte Literaturunterricht, schaut auf das Spiel mit Sprache, auf Lyrik und Epik, aber das Drama liegt völlig im Windschatten der Diskussion. Sind die Ziele bereits erreicht, wo Text in Szene überführt wird, wo überhaupt gespielt wird? Oder hat man nicht lange schon Spiel- und Theaterpädagogen „ausgelagert", läßt sie sozusagen exterritorial beim Schülertheatertreffen in Berlin ihre Probleme diskutieren? Die alte Kontroverse zwischen Laienspiel und Literaturtheater, die auch ein Kampf zwischen Volksschule/Volksbildung gegen Gymnasium/ Höhere Bildung war, wiederholt sich auf einem anderen Feld, wenn auch mit einigen Akzentverschiebungen. Für Berlin wurden 1984 107 „Eigenproduktionen" und 117 Inszenierungen nach Textvorlagen angemeldet, obwohl man seit 5 Jahren die Auswahlkriterien kennt und von den jeweils 12 ausgewählten Gruppen höchstens 2—3 in die zweite Kategorie gehören. „Die Inszenierungen des Schülertheater-Treffens sind dann am interessantesten, wenn sie die soziale und kulturelle Situation der Jugendlichen reflektie-

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ren und die Anliegen der Jugendlichen verdeutlichen. Das vorgestellte Spiel sollte inhaltlich und von der Darstellungsform her mit dem Leben der Jugendlichen zu tun haben und nicht das professionelle Theater imitieren." (Programmheft S T T '84) Damit wird die Realität auf den deutschen Schulbühnen verdrängt, die Frage nach dem Umgang mit literarischen Vorlagen im Schultheater. Ihr wollen wir uns zuwenden auf dem Hintergrund einer anderen aktuellen Kontroverse: Einer „Didaktik der Literatur" wird eine „Didaktik der Leser bzw. des Lesens" gegenübergestellt; der Blick richtet sich vom Gegenstand Literatur aufmerksamer auf Personen und ihre Handlungen: mehr oder weniger konsequent allerdings, und es ist eine neue Spielstätte eröffnet worden mit neuen Kontrahenten. „Schreiben für sich" proklamieren die einen, „Schreiben zum Zweck der Analyse von Literatur" verfechten die anderen. Im Spielbereich scheint es Parallelen zu geben zu Verfahren, die neuerdings im Deutschunterricht entwickelt werden. Ist die Eigenproduktion, besonders in der Form des eigentlich nicht zur Aufführung bestimmten sozialen Rollenspiels, das Pendant zum „freien Schreiben"? Ist andererseits das Nachspielen eine produktionsorientierte Einführung in das literarische Handwerkszeug, in die literarischen Strukturen, wie sie Waldmann für die Lyrik vorgeführt hat (Waldmann 1984), also ein Hilfsmittel der Analyse, oder könnte es dazu dienen? Beide Formen, das selbst geschriebene Stück, aber auch das nachgespielte Stück setzen häufig falsch verstandene Kreativität, „blinde" Kreativität an die Stelle der Analyse, Ich-Bezogenheit an die Stelle von Reflexion und entgehen somit nicht der „Willkür aktualisierender Subjektivität" (Szondi). Und es fehlen ihnen die technische Bewältigung, das Handwerkszeug, um ihre Funktion erfüllen zu können. Es ist Rudioff zuzustimmen, für den Produktions- wie Rezeptionsdidaktik in der Gefahr stehen, genieästhetische Ansätze durch die Hintertür erneut einzuführen. (Rudloff 1984/225) Das können Beobachtungen in Berlin bestätigen, wo man durch die ausgewählten Beispiele bundesweite Impulse geben möchte, aber auch auf Landestreffen oder bei Gruppen, die sich für Berlin gemeldet haben: Eigenproduktionen versuchen, die Zuschauer (besser Zuhörer) durch lange, technisch aufwendig produzierte Musikeinlagen zu emotionalisieren. D. h. sie arbeiten in starkem Maße nicht mit den theatereigenen Mitteln Bewegung und Sprache, ja, sie vergessen manchmal sogar den Zuschauer als Grundinstanz des Theatralischen, vermögen Probleme nicht auf die Bühne umzusetzen, reproduzieren ihren Alltag ungebrochen im Round-Table-Gespräch, das in der 2. Reihe niemand mehr wahrnehmen kann. Das sind nicht nur antiquierte Erwartungen, die etwa die dramaturgischen Elemente einer Rock-Show verkennen oder ihre Maßstäbe vom „anspruchsvollen literarischen Schultheater" holen. Nicht nur, weil es um Veranstaltungen der Schule geht, die immer die Frage stellt: was wird warum wie gelernt? müssen sich Schreiber und Spieler dem

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Lehrmeister Brecht stellen. Er vergleicht literarische Arbeit mit der des Handwerkers, der mühsam die Handhabung der Arbeitsmittel und Werkzeuge erlernen muß. Gruppen und Spielleiter betrachten häufig - verständlicherweise — Spiel als Freiraum neben der Arbeit, als einen Raum ohne Mühen und ohne Lernen. Wenigstens können beide oft nicht mehr für das Theaterhandwerk investiert werden, weil sie für die Zeit, Kraft und Nerven verzehrende Textherstellung aufgebraucht werden. Einen Sonderfall bilden auch bei den Schülertheatertagen jene Eigenproduktionen, die das Handwerk selbst ausstellen: die Pantomime, die Maske, die Bewegung. Zu den Sternstunden gehören Aufführungen, bei denen subjektive Erfahrungen zum Spiel geformt wurden, aber nicht im Spiel verschwinden, sondern durchscheinen, bei denen Wirklichkeit und Fiktionalität sich die Waage halten, wobei die etwas ungewöhnliche These gewagt sei: alle theatralischen Mittel dienen der Fiktionalisierung, schaffen Distanz vom Einzelfall, heben ihn aus der Beliebigkeit, wenn man will: aus der Privatisierung. In der umgekehrten Richtung müßte der Prozeß der Aneignung von literarischen Texten laufen. Beim Nachspielen von literarischen Vorlagen darf es folglich nicht beim Reproduzieren der Fiktionalität bleiben, d.h. beim Wiederherstellen der theatralischen Gestalt durch möglichst vollendetes Beherrschen der darstellerischen Mittel. Es reicht nicht aus, daß Schüler „zusammen mit dem Spielleiter so etwas wie zeitgemäße Restaurierungsarbeit leisten" (Lippert 1984/8); jedes Restaurieren ist an einer historischen Gestalt orientiert, nicht an der Gegenwart. Selbst wenn man Stankewitz uneingeschränkt zustimmen kann: „Die Langeweile vieler Schultheateraufführungen liegt meist darin, daß die Schüler nicht spielen gelernt haben" (Stankewitz 1984/364), (was übrigens für beide Spielformen zutrifft!): das Ziel bleibt für die Spiel- und Theaterpädagogen zumeist ein Perfektionieren des Nachspielens. Giffei und seine Mitarbeiter schreiben mit ihrem Handbuch „Theater machen" (1982) die Tradition des Schulspiels fest, das den Zusammenhang zum Deutschunterricht negiert, Entwicklungen in der Literaturdidaktik ignoriert. Ein „eigenes Völkchen" schart sich unter der Forderung des Vorworts: „Theater ist kein Zweig der Literatur. Dem immer noch üblichen Rezitieren von Dichtung auf Schul- und Amateurbühnen eignet zumeist bei größter Verantwortung vor dem dichterischen Wort auch die größte Unbekümmertheit in Fragen der Darstellung . . . Theater heißt Gestalt produzieren, nicht Texte reproduzieren." (Giffei 1982/9) Das naive Postulat von der „bildnerischen Kraft des Sprachkunstwerks" führt denn auch zu dem häufigen Argument, die Spieltexte müßten aus dem klassischen Dramenkanon des Deutschunterrichts stammen. Das Auswendiglernen und Darstellen sei die intensivste Form der Textaneignung; es sei pädagogisch nicht vertretbar, die Köpfe der Schüler mit anderen, auch eigenen Texten anzufüllen; der große Zeitaufwand ließe sich nur mit „anspruchsvoller" Literatur rechtfertigen. So kommen die Peinlichkeiten und Verlogenheiten zustande, die wir alle kennen: nachträgliche Entschuldigungen, weil es ja

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„nur" Schüler sind; Eitelkeiten und Verletzungen, wo ein Kritiker sie ernst nimmt. Vor lauter Enthusiasmus, der zum Wert per se wird, weil er in der Schule kaum noch anzutreffen ist, bei Spielern und Spielleitern, setzt das Nachdenken oft erst nach der Aufführung ein, vor fremdem Publikum zumal. Erst jetzt wird bewußt, wie stark die gemeinsame Aufgabe Diskussionen um Textaussage und Textdeutung verhindert und vielleicht sogar kontroverse Urteile in der Gruppe verdeckt hat. Das Spielen hat alle Kräfte gebunden, hat nicht als Hilfe zur Analyse gedient, des Textes, der eigenen Person, der Rolle, der historischen und aktuellen Dimension, sondern es hat abgelenkt. Was wie produktionsorientierte Textanalyse aussah, entpuppt sich als unreflektierte Reproduktion — selbst dann, wenn (nach Giffei) für den Text eine Gestalt gefunden wurde. Auch wenn Theaterpädagogen immer wieder versichern, sie schielten nicht nach dem Profitheater, so mangelt es an Entwürfen, die gezielt dem Hang zur Nachahmung entgegenwirken. Zu tief sitzt meistens die durch Schule und Studium vermittelte Forderung nach „adäquater" Interpretation und „werkgetreuer" Inszenierung. Kein Wunder, daß das falsche Maßnehmen auch eine Frage in den Vordergrund schiebt, die nur auf diesem Hintergrund ein solches Gewicht erhält: welches Stück soll gespielt werden? In eine andere Richtung weist, wenn auch nur in einem unscheinbaren Nachsatz, die Neufassung 1984 des Berliner Rahmenplans für das Fach Darstellendes Spiel: „Was die Auswahl geeigneter Spielvorlagen angeht, so versteht sich von selbst, daß nur solche Stücke in Betracht kommen, für die geeignete Spielformen mit Schülern entwickelt werden können, solche, in denen die Darstellung glaubhafte Gestalt gewinnt. Die meisten der im Deutschunterricht behandelten Werke der Theaterliteratur kommen mithin also wohl nicht in Frage, es sei denn, man unterwirft sie einem geeigneten Adaptionskonzept." Es beleidigt das Ohr des Philologen, wenn Werke „unterworfen" werden sollen („fremde Völker" würde er eher verschmerzen!). Aber: da Alternativangebote zum klassischen Repertoire des Schultheaters in der Praxis ohne Erfolg geblieben sind, Eigenproduktionen sich ebensowenig durchsetzen wie neue Jugendstücke, auch Arrabal und Ionesco eigentlich keinen Ausweg bieten, deshalb sollte man den nicht umzubringenden Stier endlich bei den Hörnern packen und in eine Richtung weisen, die auch dem übrigen Literaturunterricht Perspektiven eröffnet: die Ansprüche des literarischen Textes einschließlich der Realisation einerseits und der „Privattexte" des Lesers/Spielers/Zuschauers andererseits herausarbeiten und in eine fruchtbare Spannung führen, nicht ineinader überführen oder aufgehen lassen, sondern der Spannung nachdenken. Das Nachdenken, die Analyse gerät gar zu rasch in Opposition zum produktiven Umgang mit dem Text, wie es Begriffe wie „Kreativität" oder „spielerisch" nahelegen, statt daß es vor irrationaler Blindheit und aktionistischem Leerlauf schützt, damit Schüler nicht auf eine pseudo-freie Spielwiese geschickt werden, um neue Kräfte für die schulische Arbeit zu sammeln. Überall, wo

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die Spannung von Wirklichkeit und Fiktionalität (wie es oben hieß) im Verstehensprozeß „weggespielt" oder „weggedacht" wird, wo Spielen ζ. B. als Hilfe zur Identifikation dient, wo Aktualisierung gegen Historisches ausgespielt wird, dort zerstört man Literatur, statt ihre Potenzen freizulegen, und täuscht Rezipienten, statt sie zur freien, selbstbestimmten Auseinandersetzung zu befähigen. Der Berliner Theaterpädagoge Rudi Müller warnt gerade bei einem Stück, das sich wegen seines Personals und wegen seiner Problematik für Jugendliche geradezu anbietet, den „Neuen Leiden" von Plenzdorf, vor der Gefahr der Identifikation mit dem Helden. (Müller 1983/29) Auch wenn sein aufwendiges und daher kaum modellhaftes Konzept für dieses Stück über weite Strecken doch wieder nur eine „Bebilderung" des Textes mit Hilfe von Filmen und Interviews darstellt, richtungweisend sollte der Ansatz sein: nicht das Original spielen, sondern „unser Eindringen in das Stück". (Man vergleiche auch den Versuch von Chiout mit Büchners ,Leonce und Lena') Die immer wieder apostrophierte Distanz zum Profitheater wird sofort augenfällig. Wie selten kommt es dort vor, daß Schauspieler daran beteiligt werden. Das leisten Dramaturg und Regisseur, und Probenbesuche mit Schülern sind für solche Versuche der Annäherung an den Text unergiebig. Während die private Person im Theaterbetrieb in der Regel hinter der Rolle zu verschwinden hat, könnte die Distanz zwischen dem Schüler und der Figur o f f e n gehalten werden. Er müßte nicht zu verbergen suchen, daß er die Rolle nicht ausfüllen kann; niemand müßte wohlwollend darüber hinwegsehen. Er dürfte die Fremdheit beibehalten: der Sprache, die er zu sprechen hat, der Kleider, die ihm nicht gehören, der Bewegungen, die nicht die seinen sind. Dann ist ihm bewußt — und er trägt es an die Zuschauer weiter, daß Text und Realisation quer zu seiner Biographie liegen, zu seinen Alltagserfahrungen, quer allein schon deshalb, weil sie aus seiner Wirklichkeit heraus auf die Bühne gehoben werden. Bei Müller fällt endlich die Diskrepanz weg zwischen dem, was die unterrichtliche Arbeit an differenzierten Einsichten in die Entstehungszeit, die Rezeptionsgeschichte, die Struktur des Textes ergeben hat, auch an Deutungskontroversen, und dem, was als geglättetes „kulturelles Ereignis" der interessierten Öffentlichkeit präsentiert wird. Statt dessen gehen Ergebnisse des Nachdenkens ins Spielen ein, das seinerseits die Reflexion anstoßen muß. Ziel ist nicht das „VomBlatt-Spielen", das einen auch bei so vielen Profi-Inszenierungen langweilt, sondern das Finden und theatergerechte Umsetzen einer Konzeption. Daran — und am Mut, sie Zuschauem zuzumuten, fehlt es den meisten Regisseuren bzw. den Geld verwaltenden Kulturmanagern, nicht an der Qualität der Spieler, wie Stankewitz mit Blick auf die Schüler gemeint hat. Der Theaterpädagoge hat es in vieler Hinsicht leichter, die ausgetretenen Pfade zu verlassen, bei nicht zu übersehenden anderen Schwierigkeiten. Aber er muß sich dem Vergleich mit dem Profitheater nicht aussetzen, wenn er ihm etwas Eigenständiges gegenüberstellt.

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Als frühere Vorschläge in dieser Richtung könnte man (mit Einschränkung) das sog. Literarische Rollenspiel in dem didaktischen Modell von Eggert und Rutschky (1978) sehen, das allerdings mit Darstellendem Spiel nichts zu tun hat, und vor allem die Arbeit von Jutta Wermke (1977), die freilich unter der Göbelschen Vorgabe der „simulierten Dramaturgie und Inszenierung" (Göbel 1977/20) steht und deshalb zu unbefriedigenden Trokkenübungen nach dem Motto „wie wäre es, wenn wir Theater spielten" führt. Bei ihr verlagert sich der Schwerpunkt einer „Aufführung" von der Darstellung auf die Dokumentation des Materials, das die Analysearbeit im Unterricht begleitet hat und häufig dem Zuschauer als Interpretationshilfe via Programmheft vermittelt wird. Daß damit Belehrung beabsichtigt wird, sollte man gar nicht verschweigen, sagen wir besser: das didaktisch aufbereitete Angebot, sich mit Text und Realisation, mit Deutung und Deutendem auseinanderzusetzen. Nicht das Stück spielen, sondern die Auseinandersetzung der Spieler mit dem Stück; nichts anderes wollte wohl Brecht, von dem Bloch meinte, „daß er Stücke schreibe, die das schon auf der Bühne zeigen, im Stück selber, was die Oberlehrer früher, ganz zu Unrecht verrufen, während der Klassikerlektüre gezeigt haben." (Bloch nach Bohse 1982/ 213) Damit ist die Intention eines autonomen Schultheaters genau getroffen; nur wird es dieses Ziel nicht erreichen, es wird Collage bleiben. Es behält allerdings als Kristallisationskern ein Drama und zerfließt nicht in eine Addition von Szenen, wie sie Schauspielschulen manchmal vorführen, oder reiht Dramenausschnitte unter einem Thema zum Zweck des analytischen Vergleichs. Paralleltexte, Gegentexte (auch als Film, Dia, Tonaufnahme, Song) werden selbst produziert oder übernommen; sie dokumentieren, wie die Materialien für den Literaturunterricht, den Entstehungs- und Rezeptionsprozeß, vor allem die Rezeption der Spielgruppe, sowohl auf der Text- wie auf der Darstellungsebene; sie werden mit den bekannten Methoden des Piscator-Theaters und natürlich eigenen Spielideen vermittelt. Unterrichtsergebnisse gehen nicht (nur) in eine Kursarbeit ein, sondern sie werden für ein Publikum aufbereitet. Damit kann die Kluft kleiner werden zwischen einer unbefriedigenden, weil „verkopften" Dramenanalyse und einer unbefriedigenden, weil „verspielten" Schultheateraufführung; „verspielt", weil Spiel zum Selbstzweck wird und von Inhalten abgetrennt, weil die theatergerechten Fähigkeiten und Möglichkeiten nicht ernst genug genommen werden, aber auch, weil die Chance verspielt wird, Zeit und Engagement von Schülern ernst zu nehmen. Und der Zuschauer von morgen? Nur ein Prozentfaktor bei der Auslastung der Platzkapazitäten oder auch ein qualitativ anderer? Jeder, der selbst Theater gespielt hat, ist ein potentieller Theaterbesucher von morgen, aber jemand, der nur „nachspielen" gelernt hat, wird um den Preis seines Abonnementplatzes für das eintreten, was er unter Theater versteht, dafür,

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„daß es kein besseres als ein volles Theater gebe", wie Ernst Wendt bitter bemerkt. (Wendt 1983) Was der Hamburger Regisseur in seiner Rede „Keiner hört zu, es sei denn, man schreit" über die Schwierigkeiten, heute Theater zu spielen sagt, umreißt ein anderes Theater, dessen Zuschauer Theaterpädagogen auszubilden hätten. „Die Bilderflut, darüber muß man sich nicht wundern, nimmt uns bereitwillig die Anstrengung des Gedankens, der rationalen Formulierung und der Sprachlust ab ... Dieses Sperrfeuer der Bilder, die nicht mehr über Inhalte informieren, sondern für Empfindungen und Stimmungen, um Zustimmung und Kauf „werben", wird längst auch aufs Theater gerichtet ... Nicht ein Theater, das deshalb voll ist, weil es sich diesen Tendenzen andient, nicht der umjubelte schnell vergehende Bildreiz ... können unser Ziel sein. Nicht das Vollmundige - sondern das Mündige. Der subversive Charakter, den auch Aufklärung haben kann, wäre wieder zu entdecken ... jene politische Entdecker-, Veränderungs- und Zweifellust, auch die Skepsis, die Melancholien und die Verzweiflungen wären gefragt, die von großen Dramatikern vor allem in sprachlichen Strukturen aufgehoben sind."

Literatur Bohse, Jörg: Inszenierte Dramenlektüre: Der Prozeß gegen Karl Moor und Moritz Spiegelberg. Modell für einen „produktions"- und „handlungsorientierten" Literaturunterricht am Beispiel von Schillers „Räubern". - In: Haas (Hg.): Literatur im Unterricht. - Stuttgart: Reclam 1982, S. 205-267. Chiout, Hans Otto: Schultheater im Schultheater: „Ich Leonce - Du Lena?" Bericht über den Inhalt eines Stückes „von Georg Büchner und uns" und seine Entwicklung durch eine Arbeitsgemeinschaft in der Sekundarstufe II. - Diskussion deutsch 13 (1982) Heft 66, S. 349-359. Eggert, Hartmut/Michael Rutschky (Hg.): Literarisches Rollenspiel in der Schule. - Heidelberg: Quelle & Meyer 1978 ( = medium literatur 10). Giffei, Herbert (Hg.): Theater machen. Ein Handbuch für die Amateur- und Schulbühne. Ravensburg: Maier 1982. Göbel, Klaus (Hg.): Das Drama in der Sekundarstufe. - Kronberg: Scriptor 1977 ( = Scriptors Taschenbücher S. 115). Lippert, Elinor: Ritter, Tod und Teufel oder die Flucht in die literarisch abgepackte Droge: Wort. Anmerkungen zum literarischen Schultheater im Rahmen bayerischer Spieltage. - Spiel und Theater 36 (1984) Heft 125, S. 7 f. Müller, Rudi: Erforschung eines Stückes. Annäherungen an „Die neuen Leiden des jungen W.". - Deutschunterricht 35 (1983) Heft 3, S. 25-38. Richter, Manfred Raymund: Fesseln - ein Stück entfesselter Fantasie. Projekt einer TheaterAG des Zentrums für Jugendtheater und Schulspiel der Landeshauptstadt Stuttgart. — Deutschunterricht 35 (1983), Heft 3, S. 64-75. Rudioff, Holger: Über rezeptions- und produktionsästhetische Konzeptionen von Literaturunterricht. - Wirkendes Wort 34 (1984) 216-227.

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Stankewitz, Winfried: Didaktik des Theaterspielens mit Kindern und Jugendlichen. In: Kreuzer (Hg.): Handbuch der Spielpädagogik Band III. - Düsseldorf: Schwann 1984, S. 361-380. Waldmann, Günter: Produktionsorientierter Literaturunterricht. Systematische Einführung in die Lyrik durch Eigenproduktion von Gedichten - Skizze eines Unterrichtsmodells. - In: Ossner/Fingerhut (Hg.): Methoden der Literaturdidaktik. Methoden im Literaturunterricht. Beiträge des V. Symposiums Deutschdidaktik. - Ludwigsburg 1984 ( = Ludwigsburger Hochschulschriften 4) S. 188-226. Wendt, Ernst: Keiner hört zu, es sei denn man schreit. - Frankfurter Rundschau 16. Juli 1983.

Ingo

SCHELLER

(Oldenburg)

Szenische Interpretation von Dramentexten In Alexander Kluges Film „Die Macht der Gefühle" interviewt die Reporterin Pichota den Kammersänger B. nach der 84. Aufführung einer Oper: Frau Pichota: „Herr Kammersänger, Sie sind berühmt f ü r den leidenschaftlichen Ausdruck im ersten Akt. Man hat geschrieben, daß ein Funke der H o f f nung in Ihrem Gesicht stünde. W i e bringen Sie es fertig, wenn Sie als vernünftiger Mensch den gräßlichen Ausgang im fünften A k t doch kennen?" Kammersänger: „Das weiß ich im ersten A k t noch nicht." Frau Pichota: „ V o m letztenmal her, Sie spielen das Stück zum 84.mal?" Kammersänger: „Ja, es ist ein sehr erfolgreiches Stück." Frau Pichota: „ D a müßten Sie den schrecklichen Ausgang doch allmählich kennen!" Kammersänger: „ K e n n e ich auch. A b e r nicht im ersten A k t . " Frau Pichota: „ A b e r Sie sind doch nicht dumm!" Kammersänger: „Die Bezeichnung w ü r d e ich mir auch verbitten." ( K l u g e 1984, S. 77 ff.)

Wenn ich mir die literaturwissenschaftliche und didaktische Literatur zur Drameninterpretation ansehe, aber auch, wenn ich beobachte, wie Lehrer im Unterricht mit Dramen umgehen, dann habe ich häufig den Eindruck, daß Leute, die professionell mit Literatur umgehen, vernünftige, historisch und literaturwissenschaftlich gebildete Menschen sind, die - wie die Reporterin Pichota - Schwierigkeiten haben, den „Funken der Hoffnung im Gesicht" einer Figur im ersten Akt zu sehen, weil sie den gräßlichen Ausgang im 5. Akt, aber auch Leben und Werk des Autors und sozialund kulturgeschichtliche Voraussetzungen des Geschehens so gut kennen. Dieses Wissen grenzt den Handlungsspielraum der Figuren ein, legt sie quasi an die Kandarre der aufgeklärten Wahrnehmungs- und Deutungslogik (die meist die der bürgerlichen Biografie ist), steht in der Gefahr, das Hier und Jetzt des Geschehens und der Dramenfiguren, ihre Gefühle, Wünsche und Phantasien, ihre bewußten und halbbewußten Haltungen und Handlungsweisen auszublenden. Daß es dem Kammersänger noch in der 84. Vorstellung gelingt, den Funken der Hoffnung im 1. Akt zu zeigen, hängt damit zusammen, daß er in der Lage ist, sich bei jeder Aufführung von neuem so in das Hier und Jetzt der Dramenfigur einzufühlen, daß er dabei Teile von sich selbst sinnliche Vorstellungen, Erlebnisse, Wünsche und Gefühle - aktiviert und sein Handeln so gegenwärtig und real erlebt, daß sich das Gefühl der Hoffnung jedesmal wieder aufs neue einstellt. Diese Fähigkeit zur Einfühlung, die nur wenige Schauspieler wirklich beherrschen — viele greifen zu konventionalisierten Haltungen und Posen, von denen sie glauben, daß sie Gefühle darstellen - , hat der Schauspieler und Regisseur Stanislawski zu

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Beginn des Jahrhunderts in den Mittelpunkt seiner theaterpädagogischen Bemühungen gestellt. Er sah seine Aufgabe darin, Schauspieler durch Übungen dahinzubringen, ihre Vorstellungen, die sie sich aufgrund der Lektüre der Textvorlage von einer Szene und den Haltungen und Handlungen der Dramenfigur gemacht hatten, so zu differenzieren und mit eigenen Erlebnissen in Zusammenhang zu bringen, daß sie auf der Bühne nicht theatralisch fühlten und handelten, sondern so, wie sie es in einer analogen Realsituation getan hätten (vgl. Stanislawski 1983). Stanislawski hat - noch bevor Moreno entsprechende Verfahren im Psychodrama entwickelte (vgl. dazu: Petzold 1972) - Einfühlungstechniken erarbeitet und erprobt, mit denen er bewußt erzeugen wollte, was wir alltäglich mehr unbewußt tun, wenn wir Menschen aufgrund ihres Auftretens und ihrer Äußerungen verstehen wollen. Wir deuten dann nämlich das, was wir von ihnen wahrnehmen, indem wir es in unserer Vorstellung um das ergänzen, was wir nicht wahrnehmen können - v. a. um Gedanken, Gefühle, Erwartungen und Intentionen. Dabei greifen wir auf unsere Erfahrungen mit der Person oder ähnlichen Personen und Situationen, vor allem aber auf Gedanken, Gefühle und Erwartungen zurück, die wir aus ähnlichen Situationen kennen. Einfühlung (Empathie) gelingt dabei nicht immer. Im Gegenteil, wir tendieren dazu, Menschen, die uns gleichgültig sind, vor allem aber solche, durch deren Verhalten wir uns verunsichert und bedroht fühlen, — wenn überhaupt - Gedanken und Intentionen zu unterstellen, die es uns möglich machen, sie abzulehnen und damit unsere eigene Position zu wahren und unser Selbstwertgefühl und Selbstbild aufrechtzuerhalten. Dieser Projektion genannte Mechanismus blockiert Verstehen. Er verhindert, daß wir uns in den anderen hineinversetzen, daß wir ihn als denjenigen erleben können, der er ist. Übertragen wir diese Überlegungen auf die Interpretation, so ist anzunehmen, daß projezierendes, nichteinfühlendes Deuten dort naheliegt, wo der Interpret nicht gezwungen ist, sich systematisch in die verschiedenen Dramenfiguren hineinzuversetzen, wo der analysierende Blick von außen Handlungsverläufen und sozialen Prozessen, nicht aber der Wahrnehmung dieser Prozesse durch die Figuren gilt. Besonders deutlich wird das vor allem dort, wo die Haltungen und Äußerungen der Figuren an Gefühle, Wünsche und Phantasien erinnern, die er nur mühsam verdrängt hat. So kann etwa an der Art, wie die Figur des Tambourmajor aus Büchners „Woyzeck" bis in die siebziger Jahre hinein in literaturwissenschaftlichen Analysen dargestellt wurde, gezeigt werden, daß es den Interpreten offensichtlich wegen der sinnlich-körperlichen Potenz dieser Figur - nicht gelang, diesen anders als primitiv, triebhaft, physisch-sexuell zu sehen. Erst mit dem Fallen sexueller Tabuschranken wurden die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß man im Tambourmajor einen Menschen sehen konnte, der seinen Körper als Ware ausstellt und verkauft, um sich gesellschaftlich aufzuwerten.

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Nun halte ich eine Deutung, die das Geschehen nicht aus den Perspektiven der Figuren sieht und reflektiert, sondern sich auf die Außenperspektive beschränkt, schon aus ästhetischen Gründen für ein Problem. Denn nicht nur wurden Dramen für die Bühne und die spielerische Darstellung (und nicht für Literaturwissenschaftler, Didaktiker und Lehrer) geschrieben, sie sind auch bei einer Lektüre nicht oder nur sehr abstrakt zu verstehen, werden sie nicht vom Leser in die Vorstellung inszeniert. Wie der Autor sich Ort, Zeit, das Äußere und die Handlungen seiner Figuren im Hier und Jetzt jeder Szene sinnlich vorstellen und sich in die Gedanken- und Gefühlswelt hineinbegeben muß, um den Text - das sind ja fast nur sprachliche Äußerungen und wenige Handlungshinweise — schreiben zu können, so muß der Leser oder Spieler sich aufgrund des Textes eine konkrete Vorstellung vom Handlungsort, von den Figuren und ihren inneren und äußeren Haltungen und Handlungen in den verschiedenen Situationen machen, will er die sprachlichen Äußerungen überhaupt richtig verstehen (vgl. Scheller 1984a). Stanislawski, dessen Theorie der Einfühlung in Deutschland nicht zuletzt wegen der mißverständlichen Kritik Brechts (vgl. Brecht GW 16, S. 558 ff.) — die sich im übrigen nur auf das Verhältnis des Schauspielers zu den Zuschauern bei der Aufführung bezog — nur in Fachkreisen rezipiert wurde, hat nun mit seiner Psychotechnik Verfahren entwickelt, mit denen Einfühlung und damit das, was die Psychoanalyse „szenisches Verstehen" nennt (vgl. Lorenzer 1979, 141 ff.), systematisch erzeugt werden kann. Sie erschließen überhaupt erst die ästhetischen Dimensionen des dramatischen Geschehens und wurden von Brecht in wesentlichen Teilen bei der schauspielerischen Erarbeitung von Figuren anerkannt und verwendet. Einfühlungsverfahren sind - neben Verfremdungsverfahren - auch für das, was ich szenische Interpretation nenne, konstituierend. Sie wirken übrigens gegenüber dem, was wir Alltagsbewußtsein nennen (vgl. Leithäuser 1977) - es gibt auch ein Alltagsbewußtsein von aufgeklärten Literaturwissenschaftlern - , verfremdend und müssen systematisch organisiert werden. Für die Einfühlung hat Brecht nach eigenen Aussagen seine Lehrstücke geschrieben (Steinweg 1976, S. 159), bei deren Spiel Einzelne und Kollektive ihre asozialen Phantasien und Haltungen entdecken, untersuchen und verändern sollten (Scheller 1982, Koch u.a. 1984). Nach dem Muster des Lehrstückspiels haben wir in Oldenburg in Projekten mit Schülern, Studenten und Lehrern das entwickelt, was ich szenische Interpretation nenne. Ich möchte das im folgenden an der kleinen Szene erläutern, in der in Goethes „Faust I" Faust Gretchen zum ersten Mal auf der Straße begegnet. 1 1

Wie man ganze Dramen szenisch interpretieren kann, wird an anderer Stelle darzustellen sein. Erfahrungen haben wir bisher gemacht mit R. M.J. Lenz' „Die Soldaten", Goethes „Faust I" bzw. „Urfaust" (vgl. Muths 1984), Büchners „Woyzeck" (Scheller 1984a), Ibsens „Nora", Wedekinds „Frühlings Erwachen", Brechts „Galilei" und Frischs „Andorra".

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Straße. Faust. Margarete vorübergehend. Faust: Margarete:

Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, Mein Arm und Geleit Ihr anzutragen? Bin weder Fräulein weder schön, Kann ungeleit nach Hause gehn.

Sie macht sich los und ab. Vom Verlauf der Handlung her gesehen, brauchen wir der Szene keine große Bedeutung zuzuschreiben. Sie ist wichtig für das, was danach geschieht: Margarete „gäb was drum", wenn sie „nur wüßt, wer heut der Herr gewesen ist" (V. 2679), und Faust kommt, wenn Mephisto erscheint, zur Sache: „Hör, du mußt mir die Dirne schaffen!" (V. 2618). Dennoch handelt es sich um eine Situation, die für Faust und Margarete von großer Wichtigkeit ist. Die erste Begegnung bleibt Liebenden besonders intensiv im Gedächtnis, auch dem Leser, weil er hier besonders angeregt wird, seine Vorstellungen von den Figuren zu entwickeln. Sehen wir deshalb genauer hin und versuchen wir, uns die kleine Szene vorzustellen und uns in die Figuren einzufühlen. Die folgenden Fragen sollen der Phantasie Anstöße geben. Lassen wir uns auf sie ein, ohne an die Faustaufführungen zu denken, die wir gesehen haben. Fangen wir beim Ort an: „Straße" heißt es da. Was ist das für eine Straße. Wie sieht sie aus? Ist sie gepflastert oder nicht? Verläuft sie im Dorf oder in einer Kleinstadt? Was für Häuser stehen rechts und links? Gibt es Bäume? Gibt es außer Faust und Margarete Menschen auf der Straße? Wo, an welcher Stelle der Straße treffen die beiden aufeinander? Wie sieht es mit der Zeit aus? Ist es Frühling oder Sommer, morgens, mittags oder abends? Wie ist das mit dem Klima: ist es warm oder kalt? Regnet es, scheint die Sonne oder herrscht Nebel? Was tun die Menschen zu dieser Zeit auf der Straße? Was tut Faust? Wo kommt er her, wo will er hin? Steht er, während Margarete vorübergeht, oder kommt er ihr entgegen? Wann sieht er sie und was sieht er von ihr? Bleibt er vor ihr stehen oder geht er hinter ihr her, während er sie anspricht? Versperrt er ihr den Weg, hält er sie fest oder geht er neben ihr her? Schaut er ihr ins Gesicht? Blickt er sie von der Seite an? Und Margarete? Wie geht sie vorüber: schnell, langsam, mit welcher Körperhaltung und welchem Ziel? Wann sieht sie Faust? Wie reagiert sie auf seine Ansprache: Blickt sie ihn offen an oder blickt sie verlegen zu Boden? Lächelt sie oder bleibt sie ernst? Wie macht sie sich los: heftig, zögernd, sanft? Viele Fragen, die bei jedem, der sich auf die Szene einläßt, zu anderen Vorstellungen führen können. Damit nicht genug: die Handlungen, die die Figuren in dieser Situation ausführen, können unterschiedlich begründet sein - bewußt, halbbewußt, intentional oder nur gefühlsmäßig. Und je nachdem, wie wir die Handlungen motivieren, ändert sich auch die Haltung der Figuren.

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Margarete kann ζ. B. vorübergehen, weil sie schnell nach Hause muß - weil sie Faust nicht kennt - weil sie Angst vor einem solchen Herrn hat - weil es sich nicht gehört, Männer anzublicken - weil er sie ansieht und sie sich schämt - weil sie auf sich aufmerksam machen will usw. Welche Motive — Gefühle, Intentionen, Interessen — wir den Handlungen unterstellen, das hat dabei nicht nur damit zu tun, wie wir uns die Handlungen vorstellen, sondern auch damit, wie wir meinen, daß die Figuren aussehen und auftreten. Wie sieht Faust aus: so wie ich, wie Helmut Kohl, wie Will Quadflieg oder Woody Allen? Welche Körperhaltung hat er, welche Gesten, welches Mienenspiel? Wie ist er gekleidet? Was hat er für eine Stimme? Wie spricht er: „Mein schönes Fräulein darf ich wagen, Arm und Geleit Ihr anzutragen?" Was betont er, wo macht er eine Pause? usw. Und Margarete - wie sieht sie aus? Ist sie wirklich blond und trägt das Haar in einem Knoten? Wie ist sie gekleidet? Blickt sie Faust ins Gesicht oder schlägt sie die Augen nieder. Wie spricht sie: „Bin weder Fräulein, weder schön, kann ungeleit nach Hause gehn?" Und dann: Was spielt sich in den Figuren ab? Ζ. B. in Margarete: Was nimmt sie wahr: die vornehme Kleidung, den großen Herrn, den schönen oder interessanten Mann? An wen erinnert sie dieser Mann? - An den Vater, den Bruder oder eine Traumfigur? Was fühlt sie dabei? Scheu, Neugier, Verlegenheit, Interesse? Wie reagiert sie auf sein Auftreten? Fühlt sie sich gedemütigt, geschmeichelt, gekränkt? Welche Wünsche löst Fausts Auftreten in ihr aus? Wünsche nach Nähe, Liebe, Anerkennung, sozialen Aufstieg, nach einem Leben jenseits des kleinbürgerlich bornierten Alltags? Kann sie diese Wünsche zulassen oder muß sie sie abwehren? Wie reagiert sie auf solche Phantasien — mit schlechtem Gewissen, mit Resignation? Und weiter: Wie kommt sie zu solchen Wahrnehmungen, Gefühlen und Wünschen? Wo sind sie entstanden und warum werden sie gerade hier aktualisiert? Was glaubt sie, warum Faust sich so ihr gegenüber verhält, wie er sie wahrnimmt, was er von ihr will usw.? Und weiter: Da sind andere Menschen auf der Straße und zu Hause (z.B. ihre Mutter). Wie nehmen sie die Begegnung wahr? Was denken sie, wenn sie sie beobachten oder wenn sie von ihr hören oder von ihr wüßten? Was bedeuten diese Gedanken für Margarete in dieser Situation? Beeinflussen sie ihre Wahrnehmung, ihre Wünsche, ihr Verhalten?

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Alle diese Fragen müßte beantworten, wer sich aufgrund der kleinen Textvorlage ein genaues Bild von der Situation machen und sich in die Figuren oder nur in eine Figur einfühlen wollte. Und alle diese Fragen sind unterschiedlich beantwortbar und werden von verschiedenen Menschen sind sie nicht schon auf bestimmte Aufführungen fixiert — unterschiedlich beantwortet, weil sie Vorstellungen aktivieren, in die individuelle sinnliche Erlebnisse eingehen. Werden nun solche Vorstellungen nicht nur zugelassen, sondern bewußt provoziert und in der Klasse veröffentlicht, werden nicht nur unterschiedliche Haltungen der Figuren sichtbar, sondern auch die unterschiedlichen Vorstellungen, Wünsche, Erlebnisse und Haltungen der Schüler (Scheller, 1981, Scheller 1982). Szenische Interpretation ist der Versuch, solche durch den Text provozierten Vorstellungen mit Mitteln des szenischen Spiels öffentlich sichtbar zu machen, auszuagieren, miteinander zu konfrontieren und in ihren Voraussetzungen und Wirkungen zu untersuchen. Wie kann man die Faust-Szene szenisch interpretieren? Ich skizziere einzelne Schritte: 1. Ausgangspunkt der Interpretation sind die physischen Handlungen der Figuren, auf deren Basis nach Stanislawski (Stanislawski 1952) und Brecht (Brecht, GW 16, S. 864) die Einfühlung in die Figuren erfolgen soll. Die Schüler werden aufgefordert, jeder für sich die Handlungen, die Faust und Margarete in dieser Szene ausführen, zu begründen — etwa nach dem Muster „Margarete geht an Faust vorüber, weil . . . " „Margarete sieht Faust ins Gesicht, weil . . . " „Margarete antwortet Faust schnippisch, weil . . . " Bei dieser Arbeit müssen sich die Schüler konkrete Vorstellungen von der Situation und den Haltungen der Figuren machen. 2.

Im zweiten Schritt vergegenständlichen die Schüler ihre Vorstellungen von der Situation und den Haltungen der Figuren. Dabei werden sie angehalten, das Geschehen aus einer bestimmten Rollen-Perspektive zu sehen und darzustellen. Sie können zeigen, wie Faust Margarete, wie Margarete Faust sieht oder wie andere in der Situation anwesende oder auch abwesende Figuren (z.B. ein Bettler, Margaretes Mutter, Valentin, Mephisto) die Begegnung und die Beziehung zwischen beiden von außen wahrnehmen und deuten. Dabei können natürlich auch wissenschaftliche Haltungen (Litera-

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turwissenschaftler, Soziologe, Psychologe usw.) an das Geschehen herangetragen werden. Die perspektivisch präzisierten Vorstellungen werden über Standbilder (vgl. Scheller, 1982a) demonstriert: Z.B. wählt sich eine Schülerin, die zeigen will, wie — nach ihrer Vorstellung — Margarete Faust sieht, einen Schüler aus, der vom Aussehen her ihrem Bild von Faust entspricht, und formt ihn dann so, daß er etwa die Körperhaltung, Gestik und Mimik hat, wie sie aus der Sicht Margaretes - typisch ist für die Situation. Der Faust-Spieler erstarrt in dieser Haltung, während die Schülerin, die ihn aufgebaut hat, die Haltung einnimmt, aus der heraus Margarete ihn sieht. 3. Was die Margarete-Spielerin von Faust wahrnimmt, wie sie seine Haltung deutet, welche Gefühle sie bei ihr auslöst und was sie glaubt, wie Faust sie wahrnimmt und was er über sie denkt, das wird dann im dritten Schritt von der Schülerin, die die Haltung Margarets eingenommen hat, phantasiert. Dazu stellt sich der Lehrer hinter sie und animiert sie durch Fragen, über ihre Wahrnehmung Gefühle, Gedanken und Wünsche öffentlich zu sprechen. Anschließend regt er sie an, sich hinter die Faustfigur zu stellen und in der Ich-Form zu phantasieren, wie dieser sie - Margarete - wahrnimmt, einschätzt, welche Gefühle und Wünsche er mit ihr verbindet. Nacheinander kann so die Situation und die Beziehung zwischen den beiden Figuren aus unterschiedlichen Perspektiven (Margarete, Faust, Bettler, Mephisto, Gretchens Mutter; Psychologe, Soziologe usw.) dargestellt und reflektiert werden. Dadurch entsteht ein vielschichtiges Beziehungsgeflecht, das die Komplexität dieser Begegnung, die ja immer in einem sozialen Kontext steht, angemessen abbildet. 4. Dann kann die Begegnung zwischen Faust und Margarete gespielt werden — und zwar von den Schülern bzw. Schülerinnen, die sich in die Figuren eingefühlt haben. Zur Vorbereitung und Einfühlung in die konkrete Handlungssituation führt dabei der Lehrer an den Orten, an denen sich Margarete und Faust vor der Begegnung befinden, Rollengespräche mit ihnen, wobei er sie fragt, wo sie sich befinden, was sie da tun, was sie vorhaben, wie sie sich augenblicklich fühlen und mit welchen Gedanken sie beschäftigt sind. Dann wird - nachdem der Handlungsort genau festgelegt wurde, gespielt. Während dieses Spiels, am besten aber erst bei einer Wiederholung des Spiels, können die Beobachter immer dann, wenn sie eine Konstellation oder Haltung für aufschlußreich bzw. widersprüchlich halten, durch einen Stop-Ruf die Handlung unterbrechen. Die Spieler erstarren dann in ihrer

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momentanen Haltung und sagen - vom Lehrer, der hier die Rolle eines Hilfsichs übernimmt, durch Fragen angeregt, was gerade in ihnen vorgeht. Nach dem Spiel führt dann der Lehrer mit den beiden Figuren (eventuell aber auch mit Schülern, die das Geschehen aus der Perspektive einer bestimmten Rolle beobachtet haben) Gespräche über das, was sie erlebt haben. Nun macht gerade die Vielschichtigkeit der szenischen Interpretation das Problem deutlich, das sich bei jeder Interpretation von Texten stellt, die in einer anderen historischen Situation produziert wurden als in der des Interpreten: daß nämlich die Vorstellungsbilder, mit denen wir einen Text bei der Lektüre in der Phantasie komplettieren, vor allem in ihren sinnlichen Momenten (Erlebnisse, Bilder) so viel gegenwärtige Anteile enthalten, daß sie auch da enthistorisierend wirken können, wo genügend historisches Wissen vorhanden ist - es sei denn, dieses Wissen ist nicht so konkretisiert und versinnlicht, daß es in die Vorstellungswelt der Interpreten eingegangen ist. Da aber unser historisches Wissen in der Regel abstrakt bleibt und unsere Phantasiebilder wenn nicht mit eigenen Erlebnissen, so doch mit Medienbildern (oder Theateraufführungen) besetzt sind, besteht immer die Gefahr, daß auf der Ebene der Sinnlichkeit und Vorstellungsbilder unterlaufen wird, was eine historisierende Interpretation intendiert. Bei der szenischen Interpretation werden nun solche aktualisierenden Vorstellungen öffentlich und können - wenn sie entsprechend verfremdet werden - als Produkt des Hier und Jetzt von dem anderen Damals abgegrenzt werden. Gegen die gegenwärtigen Vorstellungen müssen die historisch möglichen gestellt werden. Beantwortet werden müßten Fragen wie: - Wie sieht ein Mädchen, das Mitte des 18. Jahrhunderts in den kleinbürgerlichen Verhältnissen einer Kleinstadt aufwächst, ihr Leben und das Leben der anderen Stände? Was darf es an Gefühlen, Wünschen und Hoffnungen zulassen? Wie darf es sich - etwa nach der jeweiligen Kleider- und Ständeordnung - in der Öffentlichkeit zeigen und verhalten? Wie weit funktioniert bei ihm der Selbstzwangmechanismus usw.? - Oder: Wie wird das Verhalten von Faust in dieser Szene von denen wahrgenommen, die historisch Opfer der gehobenen Stände waren: die Bauern, die Handwerker, die Soldaten ...? - Und schließlich: Wie unterscheiden sich die Vorstellungen, die heutige Interpreten von den Beziehungen zwischen Mann und Frau haben, von denen, die in dieser Szene damals skizziert wird, und wie kann man diese vom heutigen Standpunkt aus kritisieren? Wie können solche Verfremdungen durch die szenische Interpretation geleistet werden? - Das, was wir über die sozialhistorischen Hintergründe, über die Ständeund Kleiderordnungen, über das Alltagsleben und gesellschaftliche Normen und Konventionen, über die Psyche und die Selbstzwangmechanis-

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men der Figuren in Erfahrung bringen können, wird den Schülern vor der Einfühlung über Bilder, Texte und Rollenkarten zugänglich gemacht. Erst aufgrund dieses Wissens fühlen sich die Schüler in die jeweilige Figur ein. — Aufgrund entsprechenden Bild- und Textmaterials fühlen sich einzelne Schüler oder Schülergruppen auch in die Situation von Vertretern von Ständen, Schichten und Klassen ein, die zur damaligen Zeit zu Opfern, Abhängigen und Unterpriviligierten gehörten und deshalb im bürgerlichen Drama keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielen: Handwerker, Bauern, Vaganten, Bettler usw. Sie beobachten, reflektieren und kritisieren das Geschehen aus der Perspektive dieser Menschen. - Die Schüler zeigen nach dem Prinzip „Fixieren des Nicht-Sondern" (Brecht, GW 15, S. 343) mit Hilfe von Standbildern und Kommentaren, wie sich die Figuren in dieser Situation nicht verhalten haben (aber aus heutiger Sicht sinnvollerweise verhalten hätten), sondern wie sie sich damals aufgrund anderer historischer Bedingungen verhalten haben. Z.B.: ,Margarete stemmt nicht beide Hände in die Hüften, guckt Faust nicht wütend an und zischt nicht: „Komm, hör auf, ich laß mich nicht anmachen!", sondern sie läßt die Arme sinken, schlägt errötend die Augen nieder und antwortet verlegen: „Bin weder Fräulein, weder schön, kann ungeleit nach Hause gehn".' Zusammenfassend möchte ich das, was ich szenische Interpretation nenne, so definieren: Szenische Interpretation ist der Versuch, die in Dramentexten skizzierten sozialen Situationen, die sprachlichen Äußerungen von Figuren als Teil eines sozialhistorisch verortbaren Lebenszusammenhangs zu verstehen. Da der Text in der Regel nur Dialoge und wenig nonverbale Handlungen nennt, müssen diese so konkret wie möglich in sinnlich wahrnehmbare Szenen und Haltungen umgesetzt („inszeniert") werden, damit sprachliche Äußerungen und Handlungen als Teil und Ausdruck historischer Subjekte und Situationen verstanden werden können, in denen unbewußte und bewußte, physische und psychische Verhaltensmomente einen häufig in sich widersprüchlichen Kompromiß eingehen. Verstehen heißt dabei immer szenisches Verstehen und schließt die Auseinandersetzung mit den äußeren und inneren Haltungen des Verstehenden mit ein. Es meint den Versuch, das dramatische Geschehen sowohl aus der subjektiven Perspektive der verschiedenen Figuren als auch von außen aus dem objektiven Lebenszusammenhang heraus, der sie hervorgebracht hat, in dem sie stehen und in den sie hineinwirken, zu begreifen. Szenisches Verstehen und Interpretieren in diesem Sinne setzt voraus: 1. Einfühlung: Die Interpreten müssen sich in die Figuren hineinversetzen und die Handlungsweisen, Vorstellungen, Erwartungen und Gefühle, die

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sie in eine Situation einbringen und ausagieren, nachvollziehen können. Die Einfühlung richtet sich daher zunächst auf die sinnlich wahrnehmbare Umwelt (Räume, Gegenstände, Menschen) und auf die physischen Haltungen und Handlungen, die die Figuren zeigen. Sie wendet sich dann auf dieser Basis dem psychischen Erleben (Wahrnehmungen, Phantasien, Erwartungen, Gefühle, Intentionen) der Figuren zu, das die physischen Handlungen motiviert und rechtfertigt. Dieses Erleben ist dann wiederum Ausgangspunkt für das Verstehen der sprachlichen und physischen Handlungen der Figuren. 2. Verfremdung: Damit physisches Handeln und psychisches Erleben nicht nur Projektionen der gegenwärtigen Vorstellungen, Haltungen und Beziehungen der Interpreten bleiben, müssen sie verfremdet, d. h. hier im Sinne Brechts historisiert werden (vgl. Knopf 1980, S. 386). Dabei müssen dann - die Wahrnehmungs- und Verhaltensspielräume der Figuren den historischen Bedingungen entsprechend eingegrenzt werden; - die Haltungen und Handlungen der Figuren aus der Perspektive sozialer Schichten und Klassen, die zur Zeit des Geschehens eine sozial und ökonomisch unterprivilegierte Rolle gespielt haben, wahrgenommen und bewertet werden; - historisch noch nicht eingelöste Haltungen und Beziehungen bewußt als utopische Möglichkeiten an die Figuren herangetragen und erprobt werden. 3. Spiel-Haltung und Spiel- Verfahren: Die szenische Interpretation erfordert eine dem dramatischen Geschehen angemessene Re^eptionshaltung, die ich als Spiel-Haltung charakterisieren möchte. Die Interpretation selbst kann dabei auf der Ebene des literarischen Rollenspiels (vgl. Eggert/Ruschky, 1978) durchgeführt werden, als Spiel in der Vorstellung, das sich in Formen des Rollenschreibens und des Rollengesprächs vergegenständlicht — die Rollenfiguren geben Stellungnahmen ab, schreiben Briefe und Tagebücher, führen Selbstgespräche und unterhalten sich mit anderen Figuren. Sie kann aber auch im szenischen Spiel geschehen. Die Teilnehmer fühlen sich dann in die Figuren ein und agieren als diese. Dabei aktualisieren sie beim Handeln - über das Körpergedächtnis (vgl. z. Lippe 1978, S. 137) bzw. das emotionale Gedächtnis (vgl. Stanislawski 1983, S. 188 ff.) - Erlebnisse und Gefühle, die nicht nur die Einfühlung und damit das Verstehen der Figuren intensivieren, sondern selbst Gegenstand der Untersuchung und Reflexion in der Gruppe werden können. Szenische Interpretation zielt damit nicht nur auf das Verstehen der Dramenfiguren, sondern immer auf das Verstehen der Vorstellungen, Erlebnisse, Wertungen und Verhaltensweisen der Interpreten (vgl. Scheller 1982, Scheller 1984). 4. Arbeit in der Gruppe: Eine szenische Interpretation ist auf öffentliche Vergegenständlichung angewiesen, kann nur in einer Gruppe stattfinden,

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ist ein kollektiver Prozeß, in dem die Vorstellungen und Haltungen, die die einzelnen bei der Einfühlung und beim Rollenhandeln zeigen, die Interpretation vorantreiben und Material für die Entwicklung gemeinsamer Vorstellungen vom Dramengeschehen liefern (die in einer Aufführung sichtbar gemacht werden könnten). Für die Drameninterpretation im Unterricht hat das Konsequenzen, die hier nur angedeutet werden können: Alle Figuren des Dramas werden gleichrangig eingestuft. Protagonisten sind Figuren, die vom Autor herausgehoben worden sind. Hauptpersonen können aber auch - je nach Standort und Erkenntnisinteressen der Schüler — Figuren sein, die im Dramentext nur am Rande als stumme Figuren oder gar nicht genannt werden (wie etwa Bauern, Handwerker, Bettler, Soldaten im „Faust"). Bei der szenischen Interpretation von Max Frischs „Andorra" ζ. B. fiel die Abwesenheit der Frauen auf. Wir haben deshalb komplementär zu den Männerrollen Frauenrollen entwickelt, die dann im Spiel das Verhalten der Männer reflektiert und kritisiert haben. Damit das Geschehen aus unterschiedlicher Perspektive reflektiert werden kann, sollten sich die Schüler einzeln (oder in Gruppen) entscheiden und die Möglichkeiten erhalten, sich Schritt für Schritt in diese einzufühlen, als diese in unterschiedlichen Situationen zu agieren und sich einen entsprechenden Standpunkt zu dem Geschehen, zu den anderen Figuren und eine eigene Rollenidentität aufzubauen. Damit dieser Prozeß zustande kommen kann und gleichzeitig auch die Haltungen thematisiert und reflektiert werden können, die die Schüler im Spiel einnehmen und zeigen, muß der Interpretationsprozeß, müssen Einfühlung und Spiel vom Lehrer/Spielleiter genau organisiert und immer wieder unterbrochen werden, damit Haltungen und Handlungen aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben und bewertet werden können. Der Lehrer fungiert quasi als Anwalt des Stückes: er sorgt dafür, daß das Geschehen durch die Konfrontation der Figuren und Perspektiven vorangetrieben und mehrperspektivisch mit Mitteln des szenischen Spiels gedeutet wird. Die Verfahren, die er dabei verwendet, sind vielfaltig und stammen aus der Schauspielerausbildung (Stanislawski 1983, Ebert/Penka 1981), aus dem Psycho- und Soziodrama (Schützenberger 1976, Scherf 1973), aus dem Rollenspiel (Coburn-Staege 1977), aus dem Szenischen Spiel (Scheller 1981, S. 191-214) und dem Lehrstückspiel (Scheller 1982, Koch, G./Steinweg/ Vaßen 1984, Ritter 1980).

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Literatur Brecht, B.: Gesammelte Werke in 20 Bänden; Frankfurt a.M. 1967; Bd. 15 u. 16. Coburn-Staege, U.: Lernen durch Rollenspiel. Theorie und Praxis für die Schule. Frankfurt a.M. 1977. Ebert, G./Penka, R. (Hrsg.): Schauspielen. Handbuch der Schauspieler-Ausbildung. Berlin (Ost) 1981. Eggert, H./Rutschky, M. (Hrsg.): Literarisches Rollenspiel in der Schule. Heidelberg 1978. Kluge, Α.: Die Macht der Gefühle. Frankfurt a.M. 1984. Knopf, J . : Brecht-Handbuch. Theater. Stuttgart 1980. Koch, G./Steinweg, R./Vaßen, F. (Hrsg.): Assoziales Theater. Spielversuche mit Lehrstücken und Anstiftung zur Praxis. Köln 1984. Leithäuser, T., u.a.: Entwurf zu einer Empirie des Alltagsbewußtseins. Frankfurt a.M. 1977. zur Lippe, R.: Am eigenen Leibe. Zur Ökonomie des Lebens. Frankfurt a.M. 1978. Lorenzer, Α.: Die Analyse der subjektiven Struktur von Lebensläufen und das gesellschaftlich Objektive. In: Baacke, D./Schulze, Th. (Hrsg.): Aus Geschichten lernen. München 1979, S. 129-145. Muths, S.: J. W. v. Goethes „Faust I" - Überlegungen und Versuche zur szenischen Interpretation. (Examensarbeit) Oldenburg 1984. Petzold, H. (Hrsg.): Angewandtes Psychodrama in Therapie, Pädagogik, Theater und Wirtschaft. Paderborn 1972. Ritter, Η. M.: Ausgangspunkt: Brecht. Versuche zum Lehrstück. Recklinghausen 1980. Scheller, I.: Erfahrungsbezogener Unterricht. Königstein/Ts. 1981. ders.: Arbeit an Haltungen oder: Über Versuche, den Kopf wieder auf die Füße zu stellen Überlegungen zur Funktion des szenischen Spiels. In: Scholz, R./Schubert, P.: Körpererfahrung. Reinbek 1982, S. 230-252. ders.: In Bildern denken oder über die Arbeit mit Standbildern, (unv.) Oldenburg 1982a. ders.: Arbeit an asozialen Haltungen. Lehrstückpraxis mit Lehrern und Studenten. In: Koch, G./Steinweg R./Vaßen, F. (Hrsg.) a.a.O., S. 62-90. ders.: Szenische Interpretation - erläutert an einer Szene aus Büchners „Woyzeck". In: Ossner, J./Fingerhut, Κ. H. (Hrsg.): Methoden der Literaturdidaktik. Methoden im Literaturunterricht. (Beiträge des V. Symposiums Deutschdidaktik). Ludwigsburg 1984, S. 178-187. Scherf, E.: Aus dem Stegreif. Soziodramatische Spiele mit Arbeiterkindern. In: Kursbuch 34 (1973), S. 103-156. Schützenberger, Α.: Einfuhrung in das Rollenspiel. Stuttgart 1976. Stanislawski, K. S.: Von den physischen Handlungen. In: Stanislawski, K.S./Prokofjew, W., u.a.: Der schauspielerische Weg zur Rolle. Berlin (Ost) 1952, S. 9-20. Stanislawski, K. S.: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst im schöpferischen Prozeß des Erlebens. Berlin (West) 1983. Steinweg, R. (Hrsg.): Brechts Modell der Lehrstücke. Zeugnisse, Diskussionen, Erfahrungen. Frankfurt a.M. 1976.

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(Lüneburg)

Die Funktion der Linguistik für die Ausbildung von Deutschlehrern O. Einleitende Bemerkungen Da ich über ein sehr weitgefaßtes Thema spreche, erscheint es mir wichtig, meine Voraussetzungen und Erwartungen vorab zu formulieren. Den Hintergrund meines Beitrages bilden Erfahrungen aus zwei Studienreformkommissionen; es sind überwiegend ernüchternde Erfahrungen, vor allem die, daß es offensichtlich zwischen Wissenschaftlern eines Faches keine brauchbare Sprache oder gar Theorie gibt, mit deren Hilfe man sich über die praktischen Fragen des Studiums verständigen könnte. Wenn es darum geht festzulegen, was wie gelehrt und gelernt werden soll, welche Ziele verfolgt, welche Qualifikationen vermittelt werden sollen, ist nur sehr bald festzustellen, daß das Über-Wissenschaft-Sprechen nicht verwechselt werden darf mit dem „wissenschaftlichen Sprechen". Ganz offen tritt diese Diskrepanz zutage, wenn man die reine Fachsystematik verläßt und über Praxis redet, über Praxis als berufliche Tätigkeit und über Praxis als gesellschaftliche Wirklichkeit (sofern man über letztere überhaupt noch in Studienreformkommissionen redet). Gängige Argumentationsmuster sind ζ. B. das Gerede vom Defizit: die Studenten wissen oder können heute nicht einmal mehr ..., also müssen sie das im Studium lernen. - Das andere Argumentationsmuster ist die normative Position: zu einem Linguistikstudium gehört nun einmal unabdingbar ..., deshalb braucht man dafür soundsoviel Semesterwochenstunden; und ζ. B. Fachdidaktik ist dann in erster Linie etwas, was die fachliche Kompetenz angeblich verringert (manchmal scheint man sie sogar für den Totengräber aller fachwissenschaftlichen Studien zu halten). Beide Argumentationsmuster sind natürlich im Grunde genommen identisch: Das Gerede vom Defizit verschweigt nur einfach die Norm, mit der gemessen wird. Diese Art, über Wissenschaft zu reden, ist eigentlich nicht verwunderlich; darin drückt sich nämlich nur aus, daß Wissenschaft für diejenigen die sie machen, etwas ganz praktisches ist, ihr Beruf. Und die Entscheidungen, die sie dort über Auswahl und Vermittlung von Wissenschaft treffen, sind deshalb eben keine theoretischen, sondern praktische Entscheidungen, hinter denen emotionale, subjektive Überlegungen stecken, nicht Wissenschaft-

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liehe. Schwierig daran ist, daß Wissenschaftler ihre subjektiven und emotional engagierten Wert- und Geschmacksurteile häufig selbst für wissenschaftlich halten, weil sie sich auf Wissenschaft beziehen. In Wahrheit aber bleiben die Erfahrungen, die sie dabei anführen, subjektivistisch und punktuell, lösen aber normative Urteile aus bis hin zu Forderung nach „schärferem Durchgreifen"; eine begriffliche Verarbeitung zu einer veröffentlichungsfähigen Erfahrung kommt aber so nicht zustande. Diese aber sehe ich als das Ziel an, das man sich zunächst stecken muß. Es bedeutet nämlich nicht direkt einen Fortschritt für die Reformbemühungen, wenn man eine Theorie oder Metatheorie wissenschaftlicher Art über Reformmöglichkeiten entwickelt; denn diejenigen, die das tun würden, müßten dabei aus der Praxis der Reform heraustreten, sie müßten Reform zum Untersuchungsgegenstand statt zur praktischen Aufgabe machen, so daß man sich mit ihnen über Reformen, wie sie sein sollten, verständigen kann, aber nicht über eine konkrete Reform. Eine solche Metatheorie kann auch für die praktische Arbeit nützlich sein, wenn sie die Bedingungen dieser Arbeit erklärbar macht und Fehleinschätzungen vermeiden hilft. Eine Anwendung von Theorie auf Praxis würde aber zur instrumenteilen Handhabung führen und gerade bei den Betroffenen das subjektive Engagement oder die subjektive Erfahrung aussparen. Man kann ζ. B. den Begriff der Regelstudienzeit oder den des „ordnungsgemäßen Studiums" auf diese Weise administrativ von außen soweit regeln, wie es für die technologische Steuerung von Hochschulen und Studienfächern erforderlich scheint. Man kann aber nicht auf dieselbe Weise über Studienziele und -inhalte oder sogar über wissenschaftliches Selbstverständnis verfügen wollen. Was ich statt einer wissenschaftlichen Theorie über Reformen vorerst für nötig halte, ist eine eher praktische Theorie, in der die subjektiven Erfahrungen, Forderungen und Einschätzungen derjenigen enthalten bleiben, deren Beruf die Lehre von Wissenschaft ist, - in der aber zugleich verallgemeinerungsfähige Begriffe und Urteile entwickelt werden, allerdings so, daß sie für Entscheidungen in der Praxis relevant bleiben. Mein Ziel ist es deshalb nicht, Aussagen über Studienanteile einzelner Disziplinen oder Themenbereiche zu entwickeln, sondern ich möchte ein Stück weit das praktische Verhältnis zwischen fachwissenschaftlicher Linguistik und Lehrerausbildung reflektieren. Mich interessiert dabei die im Moment so brennende Frage, wie überhaupt in den sprachlichen Studienfächern der Bezug auf „Praxis" gedacht werden kann. Die Lehramtsstudiengänge sind eher ein Beispiel, das ich gelegentlich auch mit anderen Studiengangskonzepten vergleichen werde. Als Fachdidaktiker bin ich in Studienreformkommissionen immer wieder mit einem meist impliziten Denkmodell konfrontiert worden, in dem Linguistik, Sprachdidaktik und Lehrerberuf ungefähr so aufeinander bezogen werden: in der Linguistik erwirbt der Student das erforderliche theoreti-

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sehe Fachwissen, in der Fachdidaktik wird ihm gezeigt, wie er dieses Wissen schüleradäquat reduzieren und umsetzen muß, im Unterricht selbst kommen dann noch die pädagogischen Methoden hinzu. Ich möchte dieses Modell überprüfen anhand des schulischen Bereiches, der am deutlichsten linguistisch strukturiert ist, dem Bereich Reflexion über Sprache. Eine Auflistung der möglichen Gegenstände dieses Unterrichtsbereichs hat Dietrich Boueke1 zusammengestellt; ich benutze diese Auflistung, weil ich sie für einigermaßen konsenzfahig halte. I. Sprache als System von Zeichen 1. Zeichen als Mittel der Verständigung a) nicht-sprachliche Zeichen - parasprachliche Signale (Lautstärke, Sprechtempo, Pausen, Flüssigkeit des Sprechens usw.) - die „Sprache" des Körpers (Gestik, Mimik, Körperhaltung, ritualisierte Zeichen wie: Händeschütteln, Winken, Verbeugung, „Knicks" usw.) - die „Sprache" der Tiere („Bienensprache", „Sprache der Delphine", Laute, Gebärden, Bewegungen von Tieren allgemein) - Zeichen in der Öffentlichkeit (Verkehrszeichen, Hinweiszeichen, Zeichen mit politischer Bedeutung: Fahne, Hammer und Sichel, Bundesadler usw.) - religiöse Zeichen (Kreuzschlagen, Falten der Hände usw.) - Farbzeichen (schwarz für „Trauer", rot für „Gefahr" usw.) - mathematische und naturwissenschaftliche Zeichen (Gleichheitszeichen, Zeichen für „größer als" bzw. „kleiner als", Pluszeichen, Minuszeichen usw.) - Zeichen in Adanten, Reiseführern, Prospekten usw. - Geheimzeichen/Geheimkodes - Morsezeichen - Flaggenzeichen - analoge (ikonische) und digitale (willkürliche/konventionelle) Zeichen h) sprachliche Zeichen - Unterschiede zwischen sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichen - Wörter als Zeichen (Zweiseitigkeit, Konventionalität der Zuordnung von Form und Bedeutung) - lautmalende Wörter - Wörter und Sachen/Zeichen und Wirklichkeit - Modelle des sprachlichen Zeichens (Bühlers „Organon"-Modell, „semiotisches Dreieck") c) Schriftlichen - Bilderschriften, Alphabetschrift - Druckschrift und Schreibschrift - Erfindung und Folgen des Buchdrucks (massenhafte Verbreitung von Texten) 1

Dietrich Boueke: Reflexion über Sprache, im: Norbert Hopster (Hg.), Paderborn 1984: Handbuch „Deutsch",

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- graphische Gestaltung von Texten/Zeitungen/Werbeanzeigen/Büchern - Probleme der Zuordnung von Lauten und Buchstaben (Rechtschreibung/ Rechtschreibprobleme) 2. Die Wörter als Einheiten des Zeichensystems „Sprache" - der Umfang des Lexikons (der Wortschatz) - Die Häufigkeit der einzelnen Wörter/„Grundwortschatz" - Eigennamen (Personennamen, Straßennamen, Ortsnamen, Spitznamen, Kosenamen usw.) - Wortbildung (Zusammensetzung, Ableitung) - die Gliederung des Wortschatzes: Wortarten - Wortfelder - Erbwörter/ Lehnwörter/Fremdwörter 3. Die Grammatik des Zeichensystems „Sprache" a) -

Ebene der Laute Vokale und Konsonanten Umlaute, Doppellaute Das Vokalsystem (Vokaldreieck bzw. -viereck)

b) Ebene der Wörter - die Struktur der Wörter (Sprechsilben, Wortstämme, Vor- und Nachsilben, Morpheme) - Flexion der Wörter - Formen des Verbs: Präsens, Imperfekt usw. - Aktiv/Passiv - Indikativ/ Konjunktiv/Imperativ c) -

Ebene des Satzes Satzarten Gliederung des Satzes die einzelnen Satzglieder Satzbaupläne einfache/komplexe Sätze

d) -

Ebene des Textes Verknüpfung von Sätzen zu Texten pronominale Verkettung von Sätzen Textsorten

II. Sprache und Bedeutung - denotative und konnotative Bedeutung - Semantische Ataalyse von Wörtern (ζ. B. „Großvater" = Vater des Vaters oder der Mutter, männlich) - Ober- und Unterbegriffe - Homonyme (Bank - Bank, Tau - Tau usw.) - Synonyme - Antonyme/Gegenwörter (Tag und Nacht, rechts und links usw.)

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- Sprachbilder (Vergleiche, bildhafte Redewendungen, Personifikationen, Metaphern) - verhüllende/beschönigende Redeweise (Euphemismen wie „entschlafen" für „sterben", „freisetzen" für „entlassen" usw.) - stehende Redewendungen (Sprichwörter, Redensarten, Zwillingsformeln: Haus und Hof, Rat und Tat usw.) - Wortbedeutung/kontextuelle Bedeutung/situative Bedeutung

III. Sprachgehrauchjsprachliche

Kommunikation

1. Funkt ion der Sprache a) Grundlegende Funktionen (vgl. Bühlers „Darstellungsfunktion", „Appellfunktion", „Kundgabe- bzw. Ausdrucksfunktion") - Aussagen machen/jemand informieren - Information erbitten: fragen - Auffordern - Gefühle äußern b) Der Zusammenhang von Sprachfunktionen und TextSorten - „informieren" in Berichten, Beschreibungen, Protokollen usw. - „Fragen stellen" im Interview, im Verhör, beim Einholen einer Auskunft usw. - „auffordern" in Werbetexten, Reiseprospekten usw. 2. Einfache

Sprachhandlungen

- der Zusammenhang von sprachlicher Äußerung und Intention (lokutiver und illokutiver Akt) - alternative Äußerungsmöglichkeiten für identische Intentionen („es zieht" bzw. „schließ' bitte das Fenster") - identische Äußerungen für unterschiedliche Intentionen („Du gehst jetzt nach Hause" als Feststellung, Frage oder Aufforderung) - die Bedingungen für die Wahl einer bestimmten Äußerungsmöglichkeit (unter welchen Umständen ist „es zieht" als Aufforderung möglich?) - Analyse von Sprechakten (Aufforderungen, Behauptungen, Fragen, Bitten, Vorwürfe, Entschuldigungen usw.) - indirekte Sprechakte (z. B. ironische Äußerungen) - Sprechaktsequenzen (Gruß - Gegengruß, Frage — Antwort, Vorwurf Rechtfertigung) - kommunikative und metakommunikative Äußerungen 3. Komplexe -

Sprechhandlungen

monologische und dialogische Formen des Sprechens Formen und Techniken monologischen Sprechens Eröffnung und Abschluß eines Gesprächs Regelung des Sprecherwechsels

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- Einführung eines Themas/Themenwechsel - Hörersignale und ihre Bedeutung („mhm", „ja", „ach" usw.) - Regeln des gelenkten Gesprächs (Diskussion, Debatte) und des freien Gesprächs - Typologie des Gesprächs (Plauderei, Konversation, „small talk", Diskussion, Interview usw.) - Gespräche in Institutionen (Beratungsgespräch, Arzt-Patient-Gespräch, Lehrer-Schüler-Gespräch, Verkaufsgespräch usw.) - „Alltagsgespräche" - Argumentieren - in Gespräche eingebettete Erzählungen 4.

Kommunikationsprozesse

- die für Kommunikationsprozesse konstitutiven Faktoren/ Kommunikationsmodelle - situative Faktoren/Redekonstellation (Öffentlichkeit - Privatheit, Anzahl der Beteiligten, Bekanntheitsgrad der Beteiligten, sozialer Rang der Beteiligten, Ort, Zeit und Anlaß der Kommunikation usw.) - face-to-face-Kommunikation bzw. Kommunikation über einen technischen Kanal (Telefon) - die emotionale Beziehung zwischen den Kommunikationspartnern - Kommunikationsstörungen und ihre Bearbeitung - Trennung bzw. Vermischung von Inhaltsebene (Thematik) und Beziehungsebene (Einstellung der Beteiligten zueinander) - Strategien der Kommunikation (Überredung, Drohung, Beschwichtigung, Überzeugung usw.) - Kommunikation und Metakommunikation IV. Sprache der Öfjentlichkeit\öffentliche

Kommunikation

- Sprache der Medien (Nachrichten, Kommentare, Schlagzeilen usw.) - Sprache in „Institutionen": Schule, Behörde, Wirtschaft (Kaufverträge, Werbetexte), Politik (politische Reden, Wahlkampftexte) usw. - Einfluß des Englischen/Amerikanischen auf das heutige Deutsch V. Spracherwerb -

Sprache von Kleinkindern (Wortschatz, Syntax) Mutter-Kind-Dialoge (Kleinkindalter) Gespräche zwischen kleinen Kindern Selbstgespräche von Kleinkindern Spracherwerb und soziales Milieu (Stadt-Land, „Oberschicht" - „Unterschicht") - Sprachstörungen

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VI. Sprachvarietäten - sprachliche Normen und ihre Funktion - Standardsprache (Hochsprache) — Umgangssprache - Dialekt - Gebrauch, soziale Funktion und Geltung von Standardsprache, Umgangssprache, Dialekt - Fachsprachen (Berufssprachen, Wissenschaftssprachen, Sprache der Technik usw.) und ihre Funktion - Sondersprachen (ζ. B. „Schülersprache", Sprache der Jugendlichen, Sprache des Sports usw.) und ihre Funktion - Zusammenhang von Standardsprache bzw. Umgangssprache und Fachsprachen bzw. Sondersprachen („Übersetzungsprobleme") - gesprochene Sprache — geschriebene Sprache

VII. Sprachgeschichte -

Sprache in älteren Texten Bedeutungswandel zur Geschichte der Eigennamen Wandel der Anredepronomina (Ihr, Er, Sie, Du) Ursachen des Sprachwandels (politische, wirtschaftliche, kulturelle)

Ich kann hier'nicht im einzelnen zusammenstellen, welche und wie viele linguistische Theorien man als Deutschlehrer studiert haben müßte, um nach dem oben beschriebenen Denkmodell diese linguistischen Gegenstände alle „drauf zu haben". Wenn man das übliche Lehrverfahren zugrunde legt, bei dem ein Gegenstand (oder ein Teil davon) mit Hilfe mehrerer theoretischer Ansätze erschlossen wird, und zwar über den methodenkritischen Vergleich, dann bedarf es wohl keiner weiteren Begründung dafür, daß für diese vermeintliche fachwissenschaftliche Basis kein Studium jemals ausreichen kann. Wichtiger als dieses quantitative Problem sind mir aber drei andere: 1. Wie erscheinen überhaupt linguistische Gegenstände im Sprachunterricht? 2. Wie hat man sich die Rolle der Fachdidaktik im Studium vorzustellen? 3. Welche Verbindungen und Brücken darf man zwischen der im Studium vermittelten Theorie und der Unterrichtstätigkeit vermuten? 1 Die erste Frage rückt in den Blick, wenn man sich deutlich macht, daß die in der Auflistung genannten scheinbar linguistischen Gegenstände in der Schule unter ganz anderen Aspekten erscheinen als im fachwissenschaftlichen Studium. 1.1 Sie sind zu differenzieren nach dem Wissen, das der Lehrer zur Planung und Analyse des Unterrichts braucht, und dem Wissen, das er den Schülern vermitteln will (für den Anfangsunterricht im Lesen und Schreiben benötigt der Lehrer z. B. einiges Wissen über phonologische Systematik, um

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die Schreib- und Leselehrgänge richtig benutzen zu können; den Schülern braucht er davon nichts mitzuteilen.) 1.2 Die Gegenstände erscheinen in der Schule im Rahmen einer didaktischen Systematik, sie werden bestimmten Lernbereichen zugeordnet; Boueke nennt die folgenden Bereiche zur Gliederung der „Reflexion über Sprache": Grammatikunterricht, Kommunikationsanalyse, Metakommonikation und Sprachkunde. In dieser Zuordnung müssen sich aber die Gegenstände anders als Hoß fachwissenschaftlich darstellen. 1.3 Die Beschäftigung mit den Gegenständen und die Arbeit in den Lernbereichen verfolgen zugleich bestimmte übergeordnete Zielsetzungen; ich nenne auch hier die Zusammenstellung von Boueke: - Fähigkeit zur Beobachtung, Beschreibung und Deutung von Sprache und sprachlichem Handeln - Fähigkeit 2ur Sprachkritik - die Entwicklung von „Interesse" für sprachliche und kommunikative Phänomene. Diese Lernziele sind dem allgemeinen Lernziel „Förderung der Kommunikationsfähigkeit" untergeordnet und von daher zu interpretieren. Es ist sicher einleuchtend, daß die Gegenstände in bestimmter Weite erschlossen und vermittelt werden müssen, wenn sie nun auch noch solche übergeordneten Zielvorstellungen verwirklichen sollen; wenn also der Grammatikunterricht kommunikative Funktionen haben soll, muß die Grammatik selbst kommunikativ aufgebaut sein; es ist nichts damit gewonnen, daß man Grammatikkenntnisse generell für kommunikationsfördernd hält; denn der Schüler kann nur mit dem arbeiten, was er lernt, und Grammatik ist für ihn das, was sich im Lernprozeß des Grammatikunterrichts bei ihm als Grammatik konstituiert (nicht das, was der Lehrer oder irgendein Theoretiker dabei auch noch im Kopf hatte). Daraus ist zu folgern, daß man sich als Didaktiker nicht darauf verlassen kann, daß die Fachwissenschaft ihre Gegenstände theoretisch so konzipiert und vermittelt, daß man darauf aufbauen könnte. Vielmehr ist es gerade Aufgabe der Fachdidaktik, die Gegenstände theoretisch so zu konstituieren, daß sie in Lernbereiche und Lernzielvorstellungen integriert sind. Für eine solche Fachdidaktik müssen meines Erachtens bestimmte Annahmen gelten, mit denen sie zugleich von der Fachwissenschaft und von praktischen Handeln des Lehrers abgegrenzt wird. Um diese Definitionen geht es bei Beantwortung der zweiten Frage. 2 Wie kann man sich die Rolle der Fachdidaktik bei der Vermittlung linguistischer Inhalte vorstellen? 2.1 Fachdidaktik ist die theoretische Vermittlung zwischen Fachwissenschaft und dem Lehrerberuf; die praktische Vermittlung vollzieht sich im Unterrichtshandeln selbst, sie wird nach dem Gelingen bzw. Nicht-gelingen von Unterricht beurteilt, bezogen auf den jeweils konkreten Handlungszusam-

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menhang. Fachdidaktik ist Theorie, d. h. sie hat es mit allgemeinen Sätzen, Forderungen und Behauptungen zu tun, die nicht deshalb falsch sein können, weil sie in einer bestimmten konkreten Situation nicht anwendbar sind oder nicht funktionieren oder zu einem nicht erwarteten Ergebnis führen. Zur Erläuterung ein Beispiel: „Es ist falsch Aufsätze zu benoten, weil das eher zur Behinderung als zur Förderung der Sprachfähigkeit der Schüler beiträgt." Dieser Satz ist, wenn er richtig ist, unabhängig davon richtig — ob die Aufsatzbeurteilung zur Zeit abgeschafft werden kann oder nicht - ob einzelne behaupten, sie hätten viel aus der Aufsatzbenotung gelernt - ob sich Lehrer überhaupt für solche Sätze interessieren oder nicht. 2.2 Fachdidaktik ist Theorie, mündet aber in „praktische Sätze" (wie das Beispiel eben zeigt): Behauptungen, Urteile, Forderungen, Argumentationen. „Praktisch" heißt nicht „empirisch". Dazu ein anderer Beispielsatz: „Aufgabe des Sprachunterrichts ist es, die Sprachfahigkeit der Schüler zu verbessern". - Solche Sätze sind praktisch, sinnvoll und vernünftig, ohne empirisch überprüfbar zu sein. Daraus folgt: wenn man Fachdidaktik auf das Empirische reduzieren will, hört sie auf, für Praxis sinnvoll zu sein; denn Zielsetzungen allgemeiner Art wären damit ausgeschlossen, diese sind aber für didaktische Argumentationen unabdingbar: - Fachdidaktik kann in solche praktischen Sätze ausufern, die zwar theoretisch immer noch sinnvoll sind, die aber im Hinblick auf Empirie und Praxis irrelevant erscheinen (ζ. B. der Streit darüber, ob £S 4, 5 oder 7 Aufsatzgattungen geben solle). - Die Sätze der theoretischen Didaktik werden in der Regel kritisch auf Praxis bezogen sein, wenn sie es überhaupt sind, und zwar schon deshalb, weil der praktische Handlungsraum des Lehrers zum wenigsten durch didaktische Theorie und sehr viel stärker durch institutionelle Vorgaben, Vorschriften und durch traditionelle Handlungsmuster definiert ist; dies sind Bedingungen, die nicht aufgrund theoretischer Schlüssigkeit, sondern aufgrund allgemeiner Wertorientierungen so eingerichtet sind. Es kann deshalb nur zu Fehleinschätzungen führen, wenn fachdidaktische Theorie in einem Praktikum an der Paxis überprüft werden soll. Andererseits müssen die praktischen Sätze der Fachdidaktik aber auch auf die Praxis und Erfahrung des einzelnen Lehrers bezogen werden können, sonst bleiben sie irrelevant. 2.3 Fachdidaktik basiert auf der Fachwissenschaft, d. h. sie kann fachliche Methoden und Kenntnisse nicht einfach überspringen. Allerdings hat sie ein eigenes Interesse, nämlich etwas so zu analysieren und zu erkennen, daß es der Vermittlung und dem Handeln zugänglich wird. Dieses Interesse besteht aber begrenzt auch innerhalb der Fachwissenschaften, die ja selbst Sprache und Literatur auch unter dem Gesichtspunkt des kommunikativen Handelns im weitesten Sinne untersuchen. Im praktischen Lehr- und Publi-

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kationsbetrieb differenzieren sich Fachwissenschaft und Fachdidaktik in der Regel aber doch sehr stark in zwei Richtungen: - Fachwissenschaftliche Theorie wird, je genauer sie sein will, desto mehr Theorie über jeweils konkrete Einzelheiten sein. Die Summe der Theorien eines bestimmten Bereichs (ζ. B. der Grammatik) ist dann aber derart komplex, daß sie auf die Handlungsmöglichkeiten (z.B. im Grammatikunterricht) nicht mehr sinnvoll reduziert werden kann. Ähnliches gilt für die Spracherwerbsforschung, die Texttheorie, die Semantik, die Semiotik usw. — In der oben abgedruckten Liste der Gegenstände des Lernbereichs „Reflexion über Sprache" ist an den numerierten Unterteilungen sehr gut ablesbar, das die nicht systematisierbare Vielfalt linguistischer Teilgebiete eine einheitliche didaktische Konzeption verhindert; denn diese Gegenstände des Unterrichts werden traditionellerweise von einer Linguistik konstituiert, die weder anwendungsbezogen noch bewußt interessenorientiert ist. Und die Sprachdidaktik ist auf diesen fachwissenschaftlichen .Irrgarten' angewiesen. - Fachdidaktische Theorie muß auch solche Handlungszusammenhänge reflektieren, die an sich viel zu komplex sind, als daß sie einer wirklich wissenschaftlichen Analyse zugänglich wären, ζ. B. den Spracherwerb im Grundschulalter, Aufsatzschreiben und Aufsatzbewertung, mündliche Kommunikationsfähigkeit. Fachdidaktik kann sich hier bestenfalls insofern auf Fachwissenschaft stützen, als sie bestimmte Teiltheorien auswählt; diese Auswahl selbst geschieht aber nach dem Gesichtspunkt einer praktischen (publizistischen) Verträglichkeit solcher Teiltheorien.2 2.4 Für den Studienbetrieb folgt daraus, daß sich eine inhaltliche und methodische Verbindung zwischen Fachwissenschaft und Fachdidaktik nur da auch im Kopf des Studierenden einstellt, wo beide sich im Bereich mittlerer Komplexität bewegen und mit Hilfe von Fachwissenschaft auch Vermittlungs- und Handlungsmöglichkeiten reflektiert werden. Eine Fachdidaktik, die neben einer für sich betriebenen Fachwissenschaft her angeboten wird, ist in der Regel hilflos; eine linguistische Fachwissenschaft im Lehrerstudium, die nicht zugleich auch in der beschriebenen Weise auf fachdidaktische Theorie bezogen wird, ist in ihren praktischen Wirkungsmöglichkeiten sehr eingeschränkt: sie kann auf bloßes Bildungswissen oder auf technologische Kenntnisse reduziert werden. Eine derart isoliert vermittelte Fachwissenschaft ist genau das, was man weitgehend vergißt, wenn man in die Praxis kommt.

2

Ausführlicher habe ich das Verhältnis von Studium und Praxis untersucht in meinem Beitrag: Theorie oder Praxis? Notwendige Unterschiede zwischen Hochschultheorie und Schulpraxis im Fach Deutsch, in: Norbert Hopster (Hg.), Paderborn 1979: Hochschuldidaktik „Deutsch".

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3. Die dritte Frage, nämlich die nach der Verbindung von Theoriebildung im Studium und praktischer Tätigkeit als Lehrer, läßt sich wie folgt beantworten: 3.1 Ein wissenschaftliches Studium ist überhaupt nur gerechtfertigt, wenn Theorie auch in der Praxis wichtig ist. Funktion von Theorie ist aber vor allem, Praxis und ihre Bedingungen kritisch zu analysieren. Wo dieses kritische Element fehlt, wird Theorie als Tätigkeit überflüssig, die einmal erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten verselbständigen sich, werden Routine; und um die im Lehrerberuf zu bekommen, benötigt man kein wissenschaftliches Studium. Die Forderung, Theorie als integrierten Teil der Praxis zu realisieren, ist natürlich auch an die Praxis zu stellen. Eigentlich sollte man gerade von den Hochschulen erwarten, daß sie sich nachdrücklich dafür einsetzen, daß die von ihnen entwickelte Theorie nicht in einer verwalteten Schule verkommt - aber da ist so viel nicht zu hören, und zwar wohl auch deshalb, weil dies eine Herausforderung an die Hochschulen wäre, solche Theorie zu entwickeln, die man als Lehrer auch zur Analyse seines Handelns und seines Handlungsfeldes benutzen könnte. Und da gibt es im Bereich der Linguistik nicht viel; theoretische Ansätze, die dort einmal viel versprochen hatten, wie die Sprachentwicklungstheorie, die Soziolinguistik, die linguistische Pragmatik haben sich überwiegend fachwissenschaftlich weiterentwickelt ohne Bezug auf die Funktion, ein Analyseinstrument in der Praxis, ζ. B. des Lehrers zu werden. Die Theorien sind zu speziell in dem, was sie erfassen und zu komplex in ihrer theoretischen Struktur, als daß sie eine solche Funktion erfüllen könnten. Man wird ohnehin, da der Beruf des Lehrers immer pädagogischen Handlungsmaßstäben unterworfen ist, linguistische Theorien in solcher praktischen Funktion wohl nur da suchen dürfen, wo sie in pädagogische Handlungskonzepte integriert sind. Die Integrierbarkeit ist deshalb neben der schon genannten begrenzten Komplexität das zweite entscheidende Kriterium für eine sinnvolle fachwissenschaftliche Linguistik im Lehrerstudium. 3.2 Die zweite wichtige Brücke sind die Einstellungen und das Engagement, das im Studium vermittelt wird und sich zugleich auf die Wissenschaft wie auf den Lehrerberuf bezieht. Ein solches Engagement wie ζ. B. das der Reformpädagogik oder das der gesellschaftskritischen Pädagogik und Didaktik kann deshalb die Theorie für die Praxis lebendig erhalten, weil mit den Erfolgen in der Praxis dann zugleich die Theorie bestätigt wird, die wesentliche Voraussetzung dafür ist, eine reformerische Einstellung auch gegen Widerstände und Frustrationen durchzuhalten. Gerade die Linguistik hat ihre Anerkennung über ein gesellschaftskritisches Engagement erfahren, das sie in entsprechende didaktische und pädagogische Konzepte integrierbar erscheinen ließ.

Die Funktion der Linguistik

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3.3 Dennoch dürfen diese Brücken zwischen Theorie im Studium und Praxis in der Schule nicht dahingehend mißverstanden werden, daß damit das eine in das andere überführbar sei. Praktisches Handeln als Unterricht steht prinzipiell unter anderen Bedingungen und Erfolgsmaßstäben als theoretisches Arbeiten in der Hochschule, gleichgültig, ob es nun um fachwissenschaftliche oder fachdidaktische Theorie geht. Die Erfolgskriterien liegen nicht in der Konsistenz und Schlüssigkeit, sondern in dem komplexen Verhalten einer Lerngruppe. Und dies ist durch Theorie weder im ganzen zu simulieren noch im ganzen zu erklären, da es jeweils individuell ist. Auch didaktische Theorie und Schulwirklichkeit sind an sich also „unverträglich", keines von beiden darf am jeweils anderen gemessen werden oder in ihm verschwinden. 3 4. Praktische Folgerungen Wenn in einem Ausbildungsgang fachwissenschaftliche Theorie, fachdidaktische Theorie und Praxis aufeinander bezogen werden sollen, muß man sich über ihre Unverträglichkeiten und Verträglichkeiten vorab Klarheit verschaffen. 4.1 Die Unverträglichkeiten sind unvermeidlich und müssen von allen Beteiligten in Kauf genommen werden: in einem Lehrerstudium muß Fachwissenschaft als Theorie um ihrer selbst willen ebenso erarbeitet werden wie fachdidaktische Theorie; und Praxis darf nicht als bloßes Anwendungsgebiet von theoretischen Sätzen erscheinen, sondern muß als eigenes Bedingungsgefüge erfahren werden, für das Handlungskompetenzen gelernt werden müssen, die nicht als Ableitungen aus Theorien gewonnen werden können. 4.2 Die Verträglichkeit von Fachwissenschaft, Fachdidaktik und Praxis liegen in deren Vermittlung; und diese muß ebenfalls Bestandteil der Ausbildung in beiden Phasen sein. Wissenschaftliche Lehrerbildung ist nur dann sinnvoll, wenn Theorie als Selbstzweck für die Praxis gelernt wird; Ziel ist die Fähigkeit, mit Hilfe der (eigenen) Theorie selbst die (eigene) Praxis kritisch zu sehen, sie zu verbessern, nach Möglichkeit auch in ihren Bedingungen zu verändern. Eine Linguistik, die ihren Anspruch auf gesellschaftliches Denken durchhält, hat deshalb die besten Aussichten, mit allgemeinen Zielsetzungen, Postulaten und Problemanalysen von Sprachunterricht vermittelt zu werden. 4.3 Eine Verbindung von Fachwissenschaft, Fachdidaktik und Praxis ist also dann möglich, wenn schon die Fachwissenschaft mit dem Engagement für das bessere, richtigere wissenschaftliche Konzept und gegen das schlechtere erlernt wird und wenn dieses Engagement sich auch als Anspruch an die eigene Tätigkeit in Studium und Schule begreifen läßt: ζ. B. 3

Für den Bereich des Aufsatzunterrichts hat Hubert Ivo die „Unverträglichkeiten" genauer dargestellt in: Lehrer korrigieren Aufsätze, Frankfurt/M. 1982.

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Otfried Hoppe « Hoppe 1984, 302. 15 Boettcher u.a. 1976, 28. ·« Ebd., 105. 17 Jugendwerk der Deutschen Shell (Hg.) 1981, 430ff. Graffiti haben manchmal betont subversiven Charakter, manchmal sind sie Medien privatester Botschaften. Auch daß sie oft juristisch relevant sind, prädestiniert sie nicht für die schulische Übung. 13

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Wann ist Jugendlichen ein Kontakt auch zu klassischen Medien denkbar? Hier dürfte ein Ausschnitt aus einem Fragebogen relevant sein, der 1984 im Rahmen einer nicht-repräsentativen Befragung von 141 gymnasialen Oberstufen- und 144 Schülern berufsbildender Schulen verwendet wurde. Dort heißt es: „Versetzen Sie sich bitte in folgende Situation: In einem Zeitungsartikel wird einer Gruppe, zu der auch Sie gehören (zum Beispiel Schülern) großes Unrecht getan. Ein anderer aus Ihrer Gruppe schlägt Ihnen vor, zu diesem Artikel gemeinsam einen Leserbrief zu schreiben und ihn dieser Zeitung zu schicken. Dort soll er dann veröffentlicht werden. Wie verhalten Sie sich?" Es kreuzten an „Ich mache mit" 108 Gymnasiasten (77%), 93 Berufsschüler (65%); „Ich weiß nicht" 29 Gymnasiasten (21%) und 40 Berufsschüler (28%); „Ich lehne ab" 4 Gymnasiasten (3%) und 10 Berufsschüler (7%). Die Interpretation dieses Befunds hängt u. a. von normativen Prämissen ab. Soll man es erfreulich finden, daß immerhin zwei Drittel der Berufsschüler aktiv werden wollen, oder soll man bestürzt darüber sein, daß selbst in einer so wenig wahrscheinlichen Situation immer noch ein Drittel stumm zu bleiben gedenkt? Wie dem auch sei. Bei Boettcher u. a. — und nicht nur bei ihnen - dürfte jedenfalls ein Öffentlichkeitsmodell Pate gestanden haben, das heute in gewisser Hinsicht obsolet geworden ist. Ein paar Andeutungen mögen genügen: Nach „klassischem" bürgerlichem Verständnis war Öffentlichkeit einzige legitime Quelle des Gesetzes, also kritische Instanz. Sie beruhte auf der fiktiven Identität von als Publikum agierenden Privatleuten als Eigentümern und Menschen, von deren heterogenen sozialen und politischen Positionen abgesehen werden sollte. Heute haben zwar auch Nichteigentümer Zugang zur politischen Öffentlichkeit; dafür hat sich aber deren Charakter gewandelt. Als Mittlerin zwischen Staat und Gesellschaft fallt sie aus, verliert ihre Funktionen weitgehend an Parteien und Verbände. Über die Massenmedien wird das in großen Teilen entpolitisierte Publikum zur Akklamation aufgerufen, wobei nach wie vor zentrale Bereiche wie etwa die betriebliche Arbeit als nichtöffentlich begriffen werden. M. E. mit Recht weist Habermas auf die Parteien als potentielle Orte kritischer Publizität hin, ohne allerdings ihre Strukturen genauer zu untersuchen. Mit Blick auf die von Boettcher u. a. bemühten Hauptschüler: Zahl und Einfluß von Parteimitgliedern mit Hauptschulabschluß sind in allen Parteien nachweislich überproportional rückläufig. Der Hinweis auf die wachsende Bedeutung von Bürgerinitiativen kann nicht überzeugen. Denn deren soziale Zusammensetzung ist in der Regel relativ homogen, d. h. auf die Mittelschicht begrenzt.

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Es bleibt also der Verdacht, daß die postulierte Fähigkeit, „Rollen und Positionen in der Öffentlichkeit selbst mitzugestalten", heutzutage für alle überhaupt nicht sinnvoll konkretisiert werden kann. Selbst dort, wo explizit über gesellschaftlichen Wandel und seine Bedeutung für den Deutschunterricht reflektiert wird, wird letztlich die spezifisch hiidungsso^iologische Dimension verfehlt. Bernhard Weisgerber etwa spricht in dem von ihm herausgegebenen „Handbuch zum Sprachunterricht" den „Verfall der Schreib- und Schriftkultur" als „notwendige Konsequenz unseres technischen Zeitalters", an, glaubt, daß „der ,moderne' Mensch" keinen anspruchsvollen außerschulischen Schreibanlaß mehr vorfindet, abgesehen von Strafarbeiten wie der des Soldaten, der über die Ordnung in seinem Spind räsonnieren soll. In demselben Band präsentiert Messelken die üblichen Topoi: visuelle Medien, Reizüberflutung, Verblassen alter Werte wie Askese und Geduld zugunsten einer Orientierung am Genuß usw.18 Natürlich ist nicht zu leugnen, daß diese Hinweise ernst zu nehmen sind. Es ist aber auch eine ideologiekritische Binsenweisheit, daß Reden wie die von dem modernen Menschen oder dem allgemeinen Wertwandel mit großer Vorsicht zu genießen sind. Hier handelt es sich um Abstraktionen, die es rückgängig zu machen gilt. 4. Neue Annäherung II Ich mache mich damit auf den angekündigten zweiten Weg zur kommunikativen Didaktik, der in gewissem Sinne dem ersten parallel ist. Es wird weniger um den Aufsatz gehen als um Prinzipien der kommunikativen Didaktik überhaupt, wie sie in einer Spielart der Bildungssoziologie sich darstellen, die ich für plausibel halte. Für diese Spielart steht - in diesem Zusammenhang bei uns weithin unbekannt — Basil Bernstein. Zunächst eine notwendigerweise sehr allgemeine Charakterisierung: Schulische Neuerungen erscheinen hier nicht als Ergebnis autonomer staatlicher Reformpolitik, auch nicht ausschließlich als Reaktion auf neue, technisch induzierte Qualifikationsanforderungen, sondern als Resultante aus Konflikten zwischen verschiedenen Klassen und Schichten, die je nach Blickwinkel ein vitales Interesse an Stabilisierung oder auch Reduktion von Ungleichheit haben. Bernstein analysiert die Institutionen der Erziehung und der Produktion vornehmlich auf der Basis der beiden Begriffe „Klassifikation" und „Rahmung". Sie beziehen sich nicht auf Unterrichts- bzw. Arbeits inbalte, sondern sind eher formal-relationaler Natur. Bezogen auf die Produktion: « Weisgerber 1983, 307, Messelken 1983.

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Die Beziehungen zwischen verschiedenen Kategorien un- und angelernter Arbeiter, von Facharbeitern, Technikern, Verwaltern und Managern können stark oder schwach klassifiziert sein. Ist ersteres der Fall, dann sind die Beziehungen sehr stabil, die Positionen scharf voneinander geschieden und die Akteure nicht einmal in wenigen Funktionen austauschbar. Bei schwacher Klassifikation ist die Distanz geringer und besteht eine größere Chance wechselseitiger Ersetzbarkeit. Die Rahmung bezieht sich auf die Form der Kommunikation zwischen den Typen von Agenten, die ihrerseits von der Stärke der Klassifikation abhängt. „Besteht die primäre Einheit der Produktion in einem repetitiven, individuell vollzogenen, zeitlich streng festgelegten und explizit sequenzierten Teilakt, dann können wir von einer strengen Rahmung sprechen. Ist die primäre Einheit der Produktion dagegen relativ kooperativ und gruppenbezogen, so besteht die Möglichkeit, die Bedingungen und vielleicht die Sequenzierung und das Tempo zu variieren, und stellt das Resultat der Arbeit nicht bloß ein Bruchstück des gesamten Produktionsgegenstandes dar, sondern steht es in einer direkten Beziehung dazu, so können wir von einer schwachen Rahmung reden." 19 Eher schwache Klassifikation und Rahmung sind nun nach Bernstein für jene neue Mittelschicht charakteristisch, die nicht wie die alte — Landwirte, selbständige Handwerker, Ärzte usw. - über Produktionsmittel verfügt, sondern eher über symbolischen Reichtum. Er nennt u. a. Wissenschaftler, Lehrer, mit Massenmedien Befaßte, Bürokraten. Sie alle sind vom klassischen, noch handgreiflichen Produktionsprozeß mehr oder weniger stark separiert. Es ist aber zu erwarten, daß ein relevanter Teil der Merkmale, die für die Arbeit dieser Schicht charakteristisch sind, auch den produktiven Bereich zunehmend bestimmen wird. Einige spektakuläre Ergebnisse einer Studie von Horst Kern und Michael Schumann in Unternehmungen der Automobilindustrie, des Werkzeugmaschinenbaus und der chemischen Industrie können in diesem Sinne interpretiert werden. Der automatisierte Autorohbau z. B., der in die Etappen Produktion, Instandhaltung und Qualitätskontrolle zerfallt, läßt mittlerweile eine Integration von Arbeitsfunktionen zu, die früher undenkbar war. Wo Bernstein von schwacher Rahmung und schwacher Klassifikation spricht, machen Kern und Schumann eine offensive Variante der Arbeitsplatzgestaltung aus, die auch unter Verwertungsbedingungen als wünschbar erscheinen kann, wenn sie sich auch nicht zwangsläufig aus der neuen technischen Struktur ergibt. Bei dieser Variante entstehen im Bereich des Rohbaus Teams von Straßenführern, Elektrikern/Elektronikern, Schlossern, Produkt-/Qualitätsprüfern, die kaum hierarchisch strukturiert sind. 19

Bernstein 1977, 245.

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Es gibt zwar noch unterschiedliche Zuständigkeiten, die Grenzen sind aber verwischt. Diese Teams sind so autonom, daß ein Kontrolldefizit der Leitung resultiert. Empirisch nachweisbar ist, daß dieses Defizit in mehr und mehr Fällen in Kauf genommen wird, weil die Aufgabenintegration in der Summe verspricht eine „bessere Nutzung der Arbeitskräfte durch Aktivierung der am automatisierten System großen passiven Arbeitsteile; geringere Reibungsverluste durch Abbau beruflicher Demarkationen; höhere Arbeitsmotivationen durch ansprechenderen Aufgabenzuschnitt Kern und Schumann warnen vor einer euphorischen Interpretation ihrer Befunde, die sie allerdings durch die Wahl des Buchtitels - „Das Ende der Arbeitsteilung?" - selbst nahelegen. Denn wenn auch die Behauptungen triftig sind — und die Indizien sind eindrucksvoll —, daß im Innern der Zentren der Industrieproduktion Arbeitsteilung mehr und mehr abgebaut wird und höhere Qualifikationsanforderungen Platz greifen: Die Verschmelzung von Funktionen muß als Teil einer Rationalisierungsstrategie begriffen werden, die den „Jedermannsarbeitern" (Kern/Schumann) in den Kernsektoren, den Arbeitern in den Krisensektoren und den Arbeitslosen weitere Opfer abverlangen wird. Demgegenüber sind die Rationalisierungsgewinner auf Arbeitnehmerseite eine kleine Minderheit. Es kann also nicht verwundern, daß der Soziologe und Sozialpsychologe Gerhard Schmidtchen zu folgendem aufschlußreichen Resultat im Hinblick auf die Einstellung zu Arbeitstugenden kommt: Je höher der betriebliche Status der Befragten ist, um so stärker favorisieren sie kommunikative Tugenden unter den Stichwörtern „Teamarbeit, Eigene Meinung, Offenheit, Verträglichkeit, Zuhören, Humor, Für andere da sein" und relativieren Tugenden, die Schmidtchen „puritanisch" nennt: „Präzision, Pünktlichkeit, umsichtig arbeiten, fleißig sein, tun, was gefordert wird." 21 Es fallt nicht schwer, den Puritanismus mit Bernsteins starker Klassifikation und Rahmung und die Betonung des Kommunikativen mit seinen Konzepten schwacher Klassifikation und Rahmung in Verbindung zu bringen. Mir kommt es hier vor allem auf den Nachweis der schichtenspe^ifischen Basis solcher Tugendkataloge an. Vergleichen Sie bitte Schmidtchens kommunikative Tugenden mit jenen aus einer repräsentativen Befragung von

Kern, Schumann 1984, 79. Die Autoren wagen auch einen Ausflug in pädagogische, bildungspolitische Felder. Ihr oberstes, m. E. gerade heute zu unterstreichendes Postulat lautet: „... Ausrichtung der Bildungsprozesse an einem umfassenden Qualifikationsbegriff (keine Beschränkung auf prozeßspezifische Fähigkeiten; Orientierung an souveräner Berufsarbeit; vielfältige berufliche wie private Anwendbarkeit der Kenntnisse und Fähigkeiten) ..." (Ebd., 324) » Schmidtchen 1984, 37 f. 20

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Ausbildern und Auszubildenden, die vom Institut der deutschen Wirtschaft durchgeführt und 1982 publiziert worden ist: Da wird gefragt nach Zielstrebigkeit, Initiative, Selbstsicherheit, Selbstvertrauen, Ruhe, Ausgeglichenheit, Pünktlichkeit, Ordnungssinn, Disziplin, Ehrlichkeit, Fleiß, Pflichtbewußtsein, Leistungsbereitschaft. 22 Hier dominieren eindeutig Pflichttugenden. Was geschieht nun, wenn man die Begriffe „Klassifikation" und „Rahmung" auf schulische Prozesse bezieht? Bernstein spricht hier von Klassifikation, wenn er sich auf Prinzipien des Curriculums konzentriert. Sind die einzelnen vorgesehenen Unterrichtsinhalte pro Zeiteinheit deutlich von anderen getrennt, so handelt es sich um eine starke Klassifikation. Die Vielzahl der Fächer vor allem in den Sekundarstufen I und II legt es für ihn nahe, einen Additionstyp anzunehmen. Ein Integrationstyp liegt vor, wenn die Grenzen der Fächer variiert werden auf der Basis der Frage, was sie von Fall zu Fall zur Darstellung und Lösung eines fachunabhängig bestimmten Leitproblems beizutragen haben. Man sieht, daß der von den kommunikativen Didaktikern immer wieder propagierte Projekt- bzw. projektorientierte Unterricht die Realisierung des integrierten Typs par excellence wäre! Die Kategorie des Rahmens bezieht sich nicht auf das Curriculum, sondern auf den Unterrichtsprozeß im engeren Sinne, genauer: „auf das Ausmaß der Kontrolle, über die Lehrer und Schüler im Hinblick auf die Auswahl, die Organisation, das Tempo und die zeitliche Anordnung des in der pädagogischen Beziehung übermittelten und rezipierten Wissens verfügen." 23 Hier ist die Frage eingeschlossen, wie deutlich die Grenze zwischen schulischem und außerschulischem Wissen von Lehrern und Schülern zu markieren ist. Auch in diesem Teilbereich läßt sich die kommunikative Didaktik als vehementes Plädoyer für eine schwache Rahmung interpretieren: Denn die Lerngruppe wird als weitgehend autonom betrachtet, der Lehrer soll sich eher als Moderator verstehen, die Mobilisierung außerschulischen Wissens spielt eine große Rolle. Impliziert ist schließlich die These, daß bei schwacher Rahmung eher die Wege im Zentrum stehen, die zu Erkenntnissen führen, als diese Wissensbestände selbst, daß es eher darum geht, Probleme eigenständig zu definieren, als darum, bereits fertige Definitionen zu übernehmen. Daß auch in dieser Perspektive die kommunikative Didaktik eindeutig als Fall schwacher Rahmung anzusehen ist, versteht sich. Entscheidend ist nun, daß sowohl für die alte, Produktionsmittel besitzende Schicht als auch für Arbeitereltern, soweit sie nicht aufstiegsorientiert sind wie im erwähnten Fall eines industriellen Kernbereichs, schulische 22 Göbel (Hg.) 1982, 176. 23 Bernstein 1977, 129.

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Additionscodes auf dem Hintergrund ihrer Sozialisationspraktiken und ihrer Zukunftsentwürfe viel plausibler sind als der Integrationstyp und schwache Rahmen. Denn beim Additionstyp sind die vertrauten Hierarchien deutlich sichtbar, wesentliches und unwesentliches Wissen sind leicht auseinanderzuhalten, es kommt weniger auf Expressivität an als auf Nachahmung anerkannter Muster, Tugenden wie Ausdauer, Sorgfalt und Aufmerksamkeit versprechen, leicht operationalisierbar zu sein. Kurz: Verständnis und Kommentierung des Unterrichts fallen Angehörigen der alten Mittelschicht und Arbeitern leicht, weil dabei die lebensweltlich vertrauten Kategorien erfolgreich verwendet werden können. Inhaltlich mögen sie divergieren. In eher struktureller Perspektive erweist sich als entscheidend, daß sie übereinkommen, insofern sie jeweils auf starker Klassifikation und starker Rahmung beruhen. Obwohl, wie Bernstein freimütig zugibt, die empirische Ausarbeitung seines Programms noch in den Anfangen steckt, wird vielleicht doch deutlich, worin ein Teil seiner Attraktivität besteht: in der These nämlich, daß auch dann, wenn in emanzipatorischer Absicht Unterrichtsinhalte der schichten- bzw. klassenspezifischen Kultur der Arbeiter entnommen sind, für diese Kinder und Jugendlichen ein „Erfahrungbruch" wahrscheinlich ist. Denn die nach den Maximen kommunikativer Didaktik praktizierte Form der Bearbeitung dieser Inhalte ist mit ihren Sozialisationserfahrungen weitgehend nicht zu vereinbaren. Plädiere ich hier also für starke Klassifikationen und Rahmen, letztlich vielleicht sogar für einen aufgeklärten autoritären Unterricht? Das ist wahrlich nicht meine Absicht. Es liegt mir auch fern, die Verfechter kommunikativer Didaktik als Apologeten der neuen Mittelklasse zu verdächtigen. Was mir am Herzen liegt, ist vielmehr eine Renaissance soziologischer und soziolinguistischer Argumentation im Rahmen der Deutschdidaktik. In einem Buch wie dem von Boettcher u.a. findet man eine solche Argumentation noch, wenn sie auch, wie ich zeigen wollte, im Hinblick auf die Reflexion über den sozialen Ort der kommunikativen Didaktik selbst defizitär ist. In der aktuellen Polemik der „Kognitivisten" gegen die kommunikative Didaktik spielt sie dagegen m. E. so gut wie keine Rolle, sieht man einmal ab von Otto Ludwigs Vorwurf, der anderen Seite gehe es bloß um das kommunikative Funktionieren - , ein Vorwurf, der nicht haltbar sein dürfte. 24

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Man schaue sich nur Boettchers u. a. bereits zitierte Forderung einer neuen Kommunikationsqualität an (vgl. Fußnote 16)! Hier ist allenfalls ein Idealismusvorwurf angebracht.

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Eine solche Renaissance könnte, so hoffe ich, auch dazu beitragen, daß Deutschdidaktiker vernehmlicher als bisher zu programmatischen Äußerungen aus den verschiedensten Kultusministerien und auch aus ihren eigenen Reihen Stellung nehmen, die auf eine Revision zentraler emanzipatorischer Lehrziele hinauslaufen. Ich wollte zeigen, daß die Analyse des sozialen Gehalts solcher Äußerungen aufwendig sein dürfte. Sie ist aber dringlich, wollen wir nicht den Verdacht nähren, daß uns unsere Lehrzielformulierungen von gestern heute nicht mehr kümmern. Auch das wäre ein Umgang mit Geschichte — aber ein empfehlenswerter?

Literatur Bernstein, Basil: Beiträge zu einer Theorie des pädagogischen Prozesses, Frankfurt/Main 1977 Boettcher, Wolfgang, Firges, Jean, Sitta, Horst, Tymister, Hans-Josef: Schulaufsätze - Texte für Leser, Düsseldorf 4 1976 Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede - Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/Main 3 1984 Ermert, Karl (Hg.): Gibt es die „Sprachbarriere" noch? Düsseldorf 1979 Fritzsche, Joachim: Schriftliche Kommunikation, in: Norbert Hopster (Hg.): Handbuch Deutsch Sekundarstufe I, Paderborn/München/Wien/Zürich 1984, 281-306 Goebel, Uwe (Hg): Was Ausbilder fordern - was Schüler leisten, Köln 1982 Good, Bruno, Sitta, Horst: Wie man ein Konzept mißverstehen kann — Zu Otto Ludwigs Kritik am kommunikativen Aufsatzunterricht, in: Praxis Deutsch 58, 1983, 7 f. Goody, Jack, Watt, Ian: Konsequenzen der Literalität, in: Jack Goody (Hg.): Literalität in traditionalen Gesellschaften, Frankfurt/Main 1981, 45—104 Herrlitz, Hans-Georg: Vom politischen Sinn einer modernen Aufsatzrhetorik, in: Albrecht Schau (Hg.): Von der Aufsatzkritik zur Textproduktion, Hohengehren 1976, 142-164 Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied/Berlin 1969 Hoppe, Otwin: Textschreiben und Aufsatzunterricht, in: Jürgen Baurmann, Otwin Hoppe (Hg.): Handbuch für Deutschlehrer, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1984, 281-322 Jugendwerk der Deutschen Shell (Hg.): Jugend '81 — Lebensentwürfe, Alltagskulturen, Zukunftsbilder, Opladen 1982 Kern, Horst, Schumann, Michael: Das Ende der Arbeitsteilung? Rationalisierung in der industriellen Produktion, München 1984 Ludwig, Otto: Sind die Grundlagen des Kommunikativen Aufsatzes tragfähig? In: Praxis Deutsch 56, 1982, 14-16 Messelken, Hans: Rechtschreiben: Bedingungen, Begründung, Beispiele, in: Bernhard Weisgerber u.a.: Handbuch zum Sprachunterricht, Weinheim/Basel 1983, 287-304 Negt, Oskar, Kluge, Alexander: Öffentlichkeit und Erfahrung - Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt/Main 1972 Rolff, Hans-Günter: Soziologie der Schulreform, Weinheim/Basel 1980 Schmidtchen, Gerhard: Die neue Arbeitsmoral, Die Zeit 41, 1984, 37-39 ( = Vorabdruck aus ders.: Neue Technik, neue Arbeitsmoral - Eine sozialpsychologische Untersuchung über Motivation in der Metallindustrie, Köln 1984)

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Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens - Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt/Main 2 1983 Voigt, Rüdiger (Hg.): Verrechtlichung. Analysen zur Funktion und Wirkung von Parlamentarisierung, Bürokratisierung und Justizialisierung sozialer, politischer und ökonomischer Prozesse, Frankfurt/Main 1980 Weisgerber, Bernhard: Textproduktion oder Aufsatzunterricht? Zur geschichtlichen Entwicklung der schriftlichen Sprachgestaltung in der Schule, in: Ders. u.a.: Handbuch zum Sprachunterricht, Weinheim/Basel 1983, 305-317 Willis, Paul: Spaß am Widerstand - Gegenkultur in der Arbeiterschule, Frankfurt/Main 2 1982

Gerhard Koss (Regensburg)

Didaktik der deutschen Sprache und Literatur Namenkunde im Deutschunterricht Die Fachdidaktik habe, so Karlheinz Daniels 1973 auf dem Deutschen Germanistentag in Trier, unter anderem „den auftrag, ältere fakten der wissenschaftstradition unter neuen didaktischen konzepten aufzuarbeiten" 1 . An einem „so konventionellen bereich wie der namenkunde" ließe sich leicht beweisen, daß die „arbeit von forschergenerationen . . . nicht einfach erledigt" sei2. Trotz dieses Plädoyers ist die Namenkunde in der fachdidaktischen Diskussion und in der Unterrichtspraxis nur am Rande vertreten. Dies läßt sich auch an folgenden Daten erkennen: Das Themenheft „Zur Namenkunde" der Zeitschrift „Der Deutschunterricht" liegt schon bald 30 Jahre zurück, und der neueste Vorschlag von Gerhard Voigt über Markennamen erschien in der „Praxis Deutsch" in einem Themenheft über Fremdwörter und nicht zur Namenkunde 3 . Wie die Stichprobe von Hans Wellmann ergeben hat, kommt die Namenkunde in Sprachbüchern für die Gymnasien und Hauptschulen wenig oder gar nicht zum Zuge 4 . Es mag damit zusammenhängen, daß in der Zwischenzeit Zweifel an den „Bildungswerten" aufgekommen sind. So hat Elisabeth Fuchshuber-Weiß in ihrem Stichwort „Namenforschung" im Lexikon zum Deutschunterricht einige Bedenken zur Namenkunde im Unterricht nach dem herkömmlichen Stil geäußert 5 . Die z.B. hier praktizierte Namendeutung führe bei den Schülern infolge mangelnder Kenntnis von wissenschaftlichen Methoden und Mitteln „leicht zu Spekulationen und volkstümlichen Etymologien" 6 . Dadurch werde der richtige Einblick in das Sprachsystem - sowohl auf der diachronen als auch

Daniels, Karlheinz: Zum Verhältnis von allgemeiner didaktik, Fachwissenschaft und fachdidaktik. In: Wirkendes Wort 24 (1974), S. 21-46; Zitat S. 33. 2 Ebda 3 DU = Deutschunterricht, Jg. 9 (1957), H. 5. Hrsg. von Friedrich Maurer; Voigt, Gerhard: Markennamen - die fremden Alltagswörter (Modell für die Sekundarstufe II). In: Praxis Deutsch 11 (1984), H. 67, S. 63-70. 4 Wellmann, Hans: Namenkunde, Ein Überblick mit Bemerkungen zu neueren Büchern (1970-1980). In: Wirkendes Wort 32 (1982), S. 1 1 3 - 1 3 7 ; hier: S. 113f. 5 Fuchshuber, Elisabeth: Namenforschung. In: Lexikon zum Deutschunterricht. Hrsg. von Ernst Nündel. München/Wien/Baltimore 1979, S. 302-307; hier S. 305. ^ Ebda 1

Namenkunde im Deutschunterricht

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auf der synchronen Ebene — nicht erreicht. Weiterhin schätzt E. FuchshuberWeiß den Gewinn für Einsichten in die Kultur- und Siedlungsgeschichte geringer ein als bisher angenommen. Auch die Bedeutung der Namenkunde für die Persönlichkeitsentwicklung sei zu bezweifeln 7 . In der Tat läßt ein Blick auf Lehrpläne und Sprachbücher erkennen, daß die Namenkunde entweder gar nicht oder in einem sehr verengten Maße erscheint. Soweit Eigennamen im muttersprachlichen Deutschunterricht behandelt werden, geschieht dies meist im Rahmen der Sprachkunde unter diachronem Aspekt 8 . Die Schüler sollen die etymologische Bedeutung und Herkunft von Vornamen, Familiennamen und Ortsnamen klären 9 . So heißt es z.B. im Curricularen Lehrplan Deutsch für die 8.Jahrgangsstufe des Gymnasiums in Bayern beim Lernziel 4.1 „Bewußtsein von der Geschichtlichkeit der deutschen Sprache" zum Unterrichtsverfahren: „Erschließen der Herkunft und ursprünglichen Bedeutung von Namen, ζ. B. von Vor-, Familien- und Ortsnamen, unter Verwendung von Namenkundebüchern und anderen Arbeitshilfen (z.B. einer Zusammenstellung von Namenbestandteilen altdeutscher, griechischer, lateinischer und hebräischer Personennamen, von alten Berufsbezeichnungen)." 10 Ansonsten kommt die Namenkunde in den Lehrplänen für die bayerischen Gymnasien, Real- und Hauptschulen so gut wie gar nicht vor. Lediglich im Lehrplan für die Grundschulen wird bei der Sprachbetrachtung in der 2. Jahrgangsstufe beim Lernziel/Lerninhalt „Kenntnis der Wortarten und ihrer Aufgaben" näher angeführt: „Namenwörter nennen die Namen von Menschen, Tieren, Pflanzen und Dingen". Bei den Empfehlungen

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Anderer Auffassung ist Daniels, Karlheinz: Namenforschung im Deutschunterricht. In: Sprachbetrachtung und Kommunikationsanalyse. Hrsg. von Otto Schober. Königstein/Ts. 1980 ( = Scriptor TB S 157), S. 163-177; hier S. 164. Κ. Daniels plädiert für eine Änderung der Unterrichtspraxis, um die Schüler stärker zu motivieren. In diesem Zusammenhang sei auf die „Betroffenheit" bei der Betrachtung des eigenen Namens verwiesen, die von Boueke, Dietrich: Reflexion über Sprache. In: Norbert Hopster (Hrsg.), Handbuch „Deutsch" für Schule und Hochschule. Sekundarstufe I. Paderborn/München/Wien/Zürich 1984 (UTB für Wissenschaft: Große Reihe), S. 334-372; hier: S. 357 f., erwähnt wird.

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Vgl. hierzu Helmers, Hermann: Didaktik der deutschen Sprache. Stuttgart 1984, 11. Aufl., S. 270 ff. zur Sprachkunde als „Etymologieunterricht", die die Sprache diachronisch sieht; jedoch bei den Namen auch Hinweise zur synchronen Betrachtung; ferner Walther, Hans: Der Anteil der Namenkunde an der Formung des Geschichtsbildes und Geschichtsbewußtseins. In: Beiträge zur Onomastik, Berlin 1980 ( = Linguistische Studien, Reihe A, Arbeitsberichte 73/1), S. 18-28; Hellfritzsch, Volkmar: Zur Rolle der Eigennamen im Muttersprachunterricht, ebda. S. 84—90. Zur Problematik vgl. Witkowski, Teodolius: Zum Problem der Bedeutungserschließung bei Namen. In: Der Name in Sprache und Gesellschaft, Berlin 1973 ( = Deutsch-slawische Forschungen zur Namenkunde und Siedlungsgeschichte 27), S. 104—117, bes. S. 106 f. und Anm. 17. K M B 1 1 So.-Nr. 26/1978, S. 1090f.

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zur Unterrichtsgestaltung werden dazu u. a. „Sammeln und Ordnen von Personennamen aus der Umwelt des Kindes" vorgeschlagen 11 . Da die Sprachbücher den Lehrplänen folgen, spiegeln die älteren Ausgaben meist den sprachkundlich ausgerichteten Stand wider. Die Besprechung der Eigennamen beschränkt sich in der Regel auf Personen- und Ortsnamen unter etymologischem Aspekt. Von den anderen Namenarten wurden in früheren Lehrbüchern allenfalls noch Tier- und Pflanzennamen, evtl. auch Straßennamen einbezogen. Es soll hier keineswegs der Eliminierung der diachronen Sprachbetrachtung das Wort geredet werden - Karlheinz Daniels hatte ja in dem hier eingangs genannten Uberblick über den damaligen Stand der Diskussion die Namenkunde dafür aufgeführt, daß durch die Beschränkung auf die kommunikativen Aspekte „zahlreiche historische erkenntnisse des faches" vernachlässigt würden 12 . In der Zwischenzeit läßt sich jedoch eine stärkere Hinwendung zur Sprachgeschichte beobachten, wie dies einschlägige Themenhefte zum Deutschunterricht dokumentieren 13 . Die Namenkunde kann auch hier weiterhin ihren Beitrag leisten, die Fachdidaktik wird hierzu die neueren Erkenntnisse der Namenforschung (Onomastik) auf ihre didaktische Relevanz sichten müssen 14 . Auf der anderen Seite geht es um die stärkere Einbeziehung des synchronen Aspekts, wie auch um die Anwendung anderer methodischer Verfahren. Vorschläge finden sich bereits in der fachdidaktischen Diskussion 15 . Auch in neueren Sprachbüchern zeigen sich erfolgversprechende Ansätze. Arbeitsaufträge wie „Wozu benötigen wir Namen?" oder „Wo überall findet sich dein Name?... Was bewirkt eine Unterschrift?" verweisen auf die synchrone Verwendung von Eigennamen als sprachliche Mittel oder ihrem Rechtscharakter 16 . Hinweise auf die Namen von Gastarbeiterkindem in der Klasse oder von Gastarbeitern in der Nachbarschaft oder in der Arbeitsstätte der Eltern erweitern den Blick der Schüler auf anderssprachiges Namengut 17 . Bei den Vornamen gehen die Einbeziehung von NamenKMB1 I So.-Nr. 20/1981, S. 576. K . Daniels, a.a.O. (Anm. 1); vgl. hierzu auch die Ausführungen zur „Sprachkunde" von D. Boueke, a.a.O. (Anm. 7), S. 335. 13 Praxis Deutsch, H. 40: „Sprache und Geschichte"; Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 14 (1983), H. 52: „Sprachgeschichte"; vgl. ferner Weber, Albrecht: Zur Didaktik von Sprachgeschichte - Analyse und Reflexion. In: Albrecht Weber/Helmut Melzer (Hrsg.), Sprachdidaktische Analysen. Freiburg i. Br. 1981 (Herderbücherei 9088), S. 2 7 ^ 8 . 14 Zur onomastischen Diskussion vgl. Debus, Friedhelm: Onomastik. In: Lexikon der Germanistischen Linguistik. Hrsg. von Hans Peter Althaus, Helmut Henne, Herbert Ernst Wiegand. Tübingen 1980, 2. Aufl., S. 187-198. 15 Vgl. hierzu die Lernziele bei E. Fuchshuber, a. a. O. (Anm. 5); ferner K. Daniels, a. a. O. (Anm. 7). 16 denken sprechen handeln. Auer-Sprachbuch für den Deutschunterricht. Hrsg. von Hans E. Giehrl und Jakob Lehmann. Band für die 6. Jahrgangsstufe. Donauwörth 1977, S. 117 f. " Ebda 11

12

Namenkunde im Deutschunterricht

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moden und den Motiven der Vornamengebung, wie sie von Karlheinz Daniels angeregt werden, über den reinen etymologischen Aspekt hinaus 18 . Auch das Spektrum der Namen wurde verbreitet, beispielsweise mit Spitznamen, Firmennamen oder Namen in der Werbung. Auf die Markennamen/ Warennamen als Gegenstand des Deutschunterrichts ist in neuerer Zeit hingewiesen worden 19 . Auch die Straßennamen sind wieder mehr in den Blickpunkt der fachdidaktischen Diskussion gerückt 20 . So hat Elisabeth Fuchshuber-Weiß in einer 8. Klasse (Gymnasium) in Altdorf bei Nürnberg ein namenkundliches Projekt durchgeführt 21 . Es zielte nicht nur darauf ab, den Schülern Kenntnisse des Wandels von Straßennamen vor dem Hintergrund politischer, wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen zu vermitteln, sondern auch die Einstellung der Einwohner zu „ihren" Straßennamen zu ergründen. Auch sollte bei den Schülern das Interesse für „ihren" Schulort geweckt werden, nachdem manche von ihnen nur den Weg zwischen Bahnhof und Schule „wirklich erlaufen" hatten 22 . Das Projekt von Altdorf zeigt, daß Geschichte und Gegenwart sinnvoll miteinander verbunden werden können und wie die Namenverwendung neben der Namengebung in den Blickpunkt rückt 23 . In der neueren fachdidaktischen Diskussion läßt sich erkennen, daß vor allem die Sprachhandlungstheorie Eingang findet. So nennt E. FuchshuberWeiß „Bewußtwerden der eigenen Eigennamen-Kompetenz" und „reflektiertes und kritisches Sprachhandeln mit Eigennamen" als Lernziele 24 . Im Zusammenhang mit der Förderung der Eigennamen-Kompetenz ergeben sich einige Perspektiven, die noch stärker von der Fachdidaktik bedacht und erforscht werden sollten, und zwar sowohl für den muttersprachlichen Deutschunterricht als auch für das Fach Deutsch als Fremdsprache. Im einzelnen handelt es sich um folgende Überlegungen:

's K. Daniels, a.a.O. (Anm. 7), S. 167ff. 19 Ebda. S. 172f.; zum Problemkreis ferner Koß, Gerhard: Motivationen in der Warennamengebung. In: Proceedings of 13 th Int. Congress of Onomastic Sciences, Ed. by Kazimierz Rymut, Wroclaw/ Warsza wa/Kraków/Gdansk/Lódz 1981, S. 665-672; ferner G. Voigt (Anm. 3). 20 Als ältere Arbeit sei genannt: Reusse, Walter: Straßennamen der Heimat im Deutschunterricht auf der Oberstufe. Zum Wandel des Sprachgefühls im 19. Jahrhundert. Eine Anleitung zur Abfassung von sprachkundlichen Facharbeiten. In: DU 18 (1966), H. 5, S. 92-104. 21 Fuchshuber, Elisabeth: Der Mann von der Straße und die Straßennamen. Regionalismus, Namenforschung und Deutschunterricht. In: DU 35 (1983), H. 2, S. 22-36; zu den Straßennamen vgl. ferner K . Daniels, a.a.O. (Anm. 7), S. 170f. 22 E. Fuchshuber, a.a.O. (Anm. 21), S. 23. 23 Zur Weiterführung der Thematik neuerdings Fuchshuber-Weiß, Elisabeth: Straßennamen in der Region - Befunde, Tatsachen, Folgerungen. Vortrag beim X V . Internationalen Kongreß für Namenforschung 1984 in Leipzig (in Druck). 24 Fuchshuber, Elisabeth: Namenkunde im Primärsprachunterricht. In: Proceedings of 13 th Int. Congress of Onomastic Sciences. Ed. by Kazimierz Rymut, Wroclaw/Warszawa/Kraków/ Gdansk/tódz 1981, S. 413-^20, hier: S. 413.

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Gerhard Koss

1. Die Ausbildung der Eigennamen-Kompetenz 25 hängt mit dem Erwerb der Eigennamen zusammen. Es ist die Frage, wie Eigennamen gelernt und „behalten" werden. Dabei sind lernpsychologische Vorgänge im Spiel, bei denen der „SinnVerleihung" im mnemotechnischen Bereich eine wichtige Bedeutung zukommt 26 . Neben Assoziationen und bewußten mnemotechnischen Kniffen (Eselsbrücken) spielt die Reihenbildung eine große Rolle. So scheint die Strukturierung des Namenschatzes die Speicherung im Gedächtnis zu begünstigen. Dies gilt für die phono- und morphotaktische Struktur der Eigennamen einer Sprache ebenso wie für das Auftreten in Reihen. Solche Reihenbildungen lassen sich bei den Familien-, bei Orts(Namenfelder) oder Straßennamen (Benennungen ganzer Straßenviertel nach Blumen, Tieren, Komponisten, Dichter usw.) beobachten. Das Lernen von Namen erfolgt auch über Sprechhandlungen. In neueren Sprachbüchern sind wohl deshalb Eigennamen in situationsgebundene Texte eingebettet. Im Lehrwerk „Deutsch 2000" für das Erlernen des Deutschen als Fremdsprache werden sogar Situationen thematisiert, in denen das Nennen des Eigennamens erfolgt, nämlich „sich oder andere vorstellen" 27 . Eine eingehendere Analyse der Vorgänge, wie z. B. Vornamen, Familiennamen oder Namen von Städten und Straßen gelernt werden, könnte noch nähere Aufschlüsse über den Aufbau der „Namenkompetenz" und didaktisch-methodische Hilfen für das „leichtere Merken" von Eigennamen geben 28 . 2. Weiterhin könnten Eigennamen als eine Möglichkeit der Referenz neben Indikatoren und definiten Beschreibungen noch stärker in eine Reflexion über Sprache einbezogen werden 29 . Ansätze in Sprachbüchern sind vorhanden. In einem Sprachbuch für das 6. Schuljahr (1973) sollen die Schüler einen Text im Hinblick auf „verschiedenartige Wörter" analysieren und die „Personenzeigwörter (Personalpronomen), Eigennamen, sonstige 25

26

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Terminus nach Dobnig-Jiilch, Edeltraud: Pragmatik und Eigennamen. Tübingen 1977 ( = Germanistische Linguistik 9), S. 17 passim. Vgl. hierzu Koß, Gerhard: Eigenname und Namenerwerb. In: Blätter für oberdeutsche Namenforschung 18 (1981), S. 11-22. Deutsch 2000. Eine Einführung in die moderne Umgangssprache. München: Hueber, Bd. 1 (1982), 7. Aufl., S. 4ff.; Bd. 2 (1982), 5. Aufl., S. lOOf. Ein eigenes Namensverzeichnis enthält das Lehrwerk allerdings nicht. Zur Einbeziehung lernpsychologischer Komponenten vgl. hierzu die Referate von Wallner, Tamás: Gedächtnispsychologische Aspekte eines medienunterstützten Deutschunterrichts; und Koß, Gerhard: Eigennamen im Deutschunterricht; bei der VII. Internationalen Deutschlehrertagung vom 1.-5. August 1983 in Budapest; dazu die Plenarvorträge und Sektionsberichte, Budapest 1984 (Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse, Institut für Fremdsprachenunterricht), S. 131 f., S. 139. Vgl. hierzu Werner, Otmar: Appellativa - Nomina propria. In: Proceedings of the 11 th International Congress of Linguists. Ed. by Luigi Heilmann. Bd. 2, Bologna 1974, S. 171-187; ferner das Unterrichtsziel „Bewußtmachen der allgemeinen Funktion und Leistung von EN in Sprachhandlungskontexten" bei E. Fuchshuber, a. a. O. (Anm. 5).

Namenkunde im Deutschunterricht

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Substantive" in eine Tabelle eintragen 30 . Die Schüler können erkennen, daß sich ,er - Roland — ein Ferienfreund' und ,sie — „Möwe" — meine Segeljolle' jeweils auf dieselbe Person bzw. auf dasselbe Objekt beziehen. Auch das Sprachbuch „Umgang mit Sprache" (1982) bespricht Namenwörter (Nomen) und Fürwörter (Pronomen) in einem Kapitel, in dem die Verwendung von Eigennamen (z.B. ,Astrid, Udo, Andreas') und korrespondierende Pronomen (,sie') durch verschiedene Gesprächspartner demonstriert wird 31 . 3. Zur Förderung der Eigennamen-Kompetenz gehört es auch, daß die Schüler über den abbreviatorischen Charakter der Eigennamen in einem Text reflektieren. So können Eigennamen in einem Text - nach Einführung von Prädikationen (ζ. B. ,mein älterer Bruder Claus') - wie „Kürzel" (nur noch ,Claus') verwendet werden 32 . 4. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß auch die literarische Onomastik Forschungsergebnisse bereitstellt, deren Nutzen für den Deutschunterricht in der Fachdidaktik diskutiert werden sollte. Im allgemeinen handelt es sich hier um sog. „Kunstnamen", d. h. für den literarischen Text erfundene Namen. Umgekehrt kann auch die Namenlosigkeit in einem fiktionalen Text von Bedeutung sein, wie dies ζ. B. bei den namenlosen Figuren in Ilse Aichingers „Das Fenster-Theater" der Fall ist 33 . Karl Reumuth und Alfons Otto Schorb nannten einst die Namenkunde ein „ganz besonders ergiebiges Gebiet der Sprachkunde", wobei jedoch die etymologische Betrachtung dominierte 34 . Diese hat sich in der Zwischenzeit - um mit Karlheinz Daniels zu sprechen - „nicht einfach erledigt", doch sollte analog der Erweiterung der Erkenntnisse der Onomastik die synchrone Seite der Namenkunde stärker im Deutschunterricht gesehen werden. Die Bedeutung, die den didaktischen Aspekten der Onomastik zugemessen wird, unterstreicht die Tatsache, daß beim letzten Internationalen Kongreß für Namenforschung in Leipzig (1984) dem Thema „Onomastik - Heimatgeschichte - Schule" erstmals ein eigenes Rundtischgespräch gewidmet war.

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33

34

Sprachbuch. 6. Schuljahr. Stuttgart: Klett 1973,1. Aufl.; Kap. 1.2 Substantiv im Satz, S. 70f. Umgang mit Sprache. 5. Schuljahr. Frankfurt a. M.: Diesterweg, S. 56 f. Die „abbreviatorische Funktion" der Eigennamen wird auch von Hengst, Karlheinz: Einheit und Dynamik von Form und Inhalt bei Eigennamen. In: Beiträge zur Onomastik, Berlin 1980 ( = Linguistische Studien, Reihe A, Arbeitsberichte 73/1), S. 18-28; und Hellfritzsch, Volkmar: Zur Rolle der Eigennamen im Muttersprachunterricht, S. 29—42, hier: S. 35, hervorgehoben. Abdruck des Textes bei: Förster, Jürgen: Ilse Aichinger: Das Fenster-Theater. Überlegungen zu einer Literaturstunde im 9./10. Schuljahr. In: Diskussion Deutsch 6 (1975/76), H. 26, S. 521-529, hier: S. 528 f.; vgl. ferner das Unterrichtsziel „Bewußtmachen der besonderen Funktion und Leistung von EN in fiktiven Texten" bei E. Fuchshuber, a. a. O. (Anm. 5). Reumuth, Karl/Schorb, Alfons Otto: Der muttersprachliche Unterricht. Bad Godesberg 1969, 11. Aufl., S. 48.

Β) ame

ULVESTAD

(Bergen/Norwegen)

Die kanonischen deutschen Adhortative im Auslandsdeutschunterricht Der deutsche und der ausländische Deutschlehrer auf allen Unterrichtsstufen stehen sehr verschiedenen Problemen gegenüber, was in erster Reihe damit im Zusammenhang steht, daß in Deutschland Lehrer und Schüler, im Gegensatz zu ihren ausländischen Kollegen, die zu pädagogisierende Sprache schon als native speakers beherrschen. Im Ausland ist es im Normalfall so, daß der in Hochschulen seines eigenen Landes ausgebildete Lehrer die Zielsprache nicht sehr geläufig spricht und sie auch etwas unbeholfen schreibt. Der Deutschlehrer im Ausland ist somit sowohl als Lehrer wie auch als Schüler anzusehen. Meistens beherrscht er wohl die Rechtschreibung und die Morphologie des Deutschen, aber die Syntax und insbesondere der Gebrauch der syntaktischen Teilsysteme bereiten ihm nicht selten große Schwierigkeiten, die sich im Unterricht nachteilig auswirken müssen. Um solche Schwierigkeiten zu beheben, ist er vor allem auf die in (größeren) Grammatiken und in sprachpädagogischen Zeitschriften registrierten und als Regeln dargelegten Ergebnisse syntaktischer und pragmalinguistischer Forschung angewiesen. Diese Ergebnisse müssen die Deutschlehrer im Ausland, im Gegensatz zu ihren Kollegen in Deutschland, ernstnehmen, und da die Lehrmeinungen häufig einander widersprechen und dazu manchmal schwer verständlich formuliert sind, erscheint es nicht unangemessen, von einem deutschpädagogischen Notstand zu sprechen. Ziel dieser Arbeit ist es, diese unerfreuliche Situation auf einem relativ begrenzten syntaktisch-pragmatischen Gebiet exemplarisch zu veranschaulichen, nämlich auf dem der kanonischen deutschen Adhortative. Bekanntlich gibt es in der deutschen Sprache eine lange Reihe adhortativischer Ausdrucksmöglichkeiten (vgl. Hindelang 1978: 4 6 4 f f ) . Einige wichtige Beispiele hierfür sind im Satzzusammenhang angeführt: 1. Lesen wir querst den letzten Brief. 2. Laß uns querst den letzten Brief lesen. 3. Wir wollen querst den letzten Brief lesen. 4. Wollen wir querst den letzten Brief lesen. 5. Wir lesen querst den letzten Brief. 6. Wir sollten querst den letzten Brief lesen. 7. Wir werden querst den letzten Brief lesen.

Die kanonischen deutschen Adhortative

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All diese Sätze beinhalten im angemessenen Ko(n)text eine den Sprecher inkludierende Aufforderung, einen imperativus inclusivus, und sie sind, wenn auch in unterschiedlicher Häufigkeit auftretend, als rekurrent zu bezeichnen. Es sind die ersten drei Typen, also X-ert wir, Laß(t) uns X-en und Wir wollen X-en, die hier als kanonisch behandelt werden sollen, und zwar aus dem einfachen Grund, daß sie die in der grammatisch-syntaktischen Fachliteratur vorzufindenden Adhortative sind. Hinzu kommt, daß sie die einzigen adhortativischen Fügungen sind, bezüglich deren man mit einem gewissen Recht von einem Stand der Forschung sprechen darf. Es ist für unsere Diskussion besonders wichtig, daß die führenden modernen Adhortativforscher, Johannes Erben und Götz Hindelang, Gebrauchsanweisungen oder pragmalinguistische Regelaussagen liefern, die verständlicher und somit testbarer sind als diejenigen, die man hin und wieder in Schulgrammatiken, z.B. in für den Auslandsunterricht erstellten Lehrbüchern, vorfindet. Darauf komme ich unten zurück. Die hier zur Diskussion stehenden Adhortativfügungen sollen, aus beschreibungsökonomischen Gründen, kurzformelhaft angeführt werden, wobei, A' etwaige Vorfeldbesetzung bei der ersten und dritten Konstruktion indiziert. ,(W)' steht für Ersparung des Pronomens wir. 1. (A)XW = (A) X-en wir, ζ. Β• Jet%t seien wir vorsichtig. 2. (W)WX = (Wir) wollen X-en, z.B. (Wir) wollen sehen. 3. (A)LUX = (A) laß(t) uns X-en, ζ. B. Jet^t laß uns gehen. Traditionell werden die drei Fügungen als isosemantische und also fakultative Varianten angesehen, und seit Kurrelmeyer (1900) gibt es eine Reihe von Häufigkeitsaussagen, besonders in Grammatiken für Ausländer (vgl. Matzel/Ulvestad 1978). Jede Variante wird als frequenzmäßig höchstrangig beschrieben. So meint der schwedische Grammatiker Β. I. Andersson, daß XW sehr selten vorkomme und daß „in der Regel" LUX gebraucht werde (1974:146). K. Matzel und B. Ulvestad finden, auf der Basis einer ziemlich umfangreichen Belegsammlung, daß XW am häufigsten auftritt (1978:158). Für den dritten Typ, WWX, als den geläufigsten setzt sich J. Erben ein. Nach einer „Einschätzung" im Jahre 1961 (1983 b: 51) ist WWX „im neueren Deutsch die eigentlich geläufige Umschreibung" (1961:468), und über zwanzig Jahre später sammelt Erben, zusammen mit zwei studentischen Hilfskräften, 645 Belege, deren numerische Verteilung ihm die Schlußfolgerung erlaubt, daß seine „frühere Einschätzung . . . sich bestätigt" [habe] (1983b:51). Nun sind die Ergebnisse der von Matzel/Ulvestad und Erben vorgenommenen Auszählungen zugestandenerweise nicht direkt vergleichbar. Das Material, das Matzel/Ulvestad als Unterlage dient, ist viel größer (über 2000 Belege) als Erbens und ist der erzählenden Literatur des 20. Jahrhunderts entnommen, in der die adhortativischen Sätze fast ausschließlich im Gespräch vorkommen, d.h. in direkter Rede. Erbens Material dagegen

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Bjatne Ulvestad

reicht bis weit ins 19. Jahrhundert zurück und kommt zum großen Teil aus „Flugblättern der Jahre 1948/49" und des 20. Jahrhunderts sowie modernen politischen Reden (1983a:408f., 1983b:54). Seine Texte sind also weitgehend rhetorischer Art, was die relativ große Häufigkeit seiner WWX-Belege mit erklären dürfte. Ein weiterer Unterschied ist darin zu suchen, daß Matzel/Ulvestads statistische Untersuchung im Gegensatz zu Erbens nur „Klarformen" der Fügungen XW und WWX berücksichtigen (die ALUX-Fügung ist immer klar). Sätze wie fet^t gehen wir nach Hause und fet^t wollen wir nach Hause gehen können ja als AXW oder als Jetv^t + wir gehen nach Hause und als fet^t + WWX oder als Jet%t + wollen wir nach Hause gehen (eine allerdings nicht sehr häufige Adhortativkonstruktion). Die zwei hier nicht formalisierten Typen Wir gehen und Wollen wir gehen gehören nicht zu den von Erben etablierten adhortativischen „Möglichkeiten" (1961:461); besonders der erste Typ ist heute sehr geläufig, aber Erben verwirft ihn und begründet dies wie folgt: „Wir lassen jedoch auch hier den Typ Wir gehen außer Betracht, der nur durch die Sprechsituation, durch Begleithandlungen (des Aufbrechens u.ä.) oder durch einen vorangestellten Imperativ eindeutige Entsprechung von lat. eamus wird: Kommt, wir (Hirten) gehen nach Bethlehem . . . " (1983b:50). Dabei übersieht er, daß auch WWX weitgehend von solchen (pragmatischen) Bedingungen abhängig ist, dies im Gegensatz zu XW und LUX. Daß zumindest ein Teil der in seinem Material auftretenden WWX-Sätze nicht adhortativisch zu lesen sind, werde ich unten zeigen. Es liegt auf der Hand, daß eine statistische Untersuchung ohne adäquate Kriterien nicht befriedigend nachgeprüft werden kann. Erbens Kriterien werden nicht klar formuliert, und es fallt auch schwer, sie aus seinen Belegen herauszulesen, was der Hauptgrund für Matzel/Ulvestads auf Klarformen begrenzte Belegsammlung war. Einige Beispiele für seine vagen und zum Teil widersprüchlichen impliziten Belegbestimmungen seien hier aufgeführt: Die folgenden Sätze werden als Belege für den Typ XW gegeben: Diese lassen wir also hinreiten! (1539); Diesen Koffer nehmen wir querst! (1961:461). Aber der typologisch identische Satz Diese Sache besprechen wir weiter nicht (topikalisiertes Akkusativobjekt) soll nicht als adhortativisch bewertet werden (1961:462, Fn. 4). Weiter werden die folgenden Sätze, denen ein Gliedsatz vorangestellt ist, dem Typ XW zugeschrieben: . . . wenn der Plunder voll ist, so verkauffen wir es vor eine Blutwurst; Wie wir uns verschworen haben, so stehen wir beysammenl (1961:461), aber nicht der Satz Solange wir hier auf Erden sind, beten wir für einander. Begründung: „bei voranstehendem Gliedsatz muß die Umschreibung mit wollen eintreten"1 (1961:462, Fn. 4). Später finden wir 1

Natürlich kann nach einem Gliedsatz nicht nur W W X , sondern auch L U X stehen; vgl. häufig vorkommende Sätze wie der folgende: „,Solange du hier bist, laß uns gut zueinander

Die kanonischen deutschen Adhortative

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weitere quasikriteriale Aussagen zum Typ XW: „Der hier relevante Signalwert der Wortstellung ... wird kaum beeinträchtigt durch vorangestellte . . . situierende Partikeln:... Na, dann erfinden wir sie mal... Auch Voranstellung primärer Satzglieder ist wohl nicht gänzlich auszuschließen, wenngleich kaum belegt" (1983 b: 50; meine Hervorhebung). Hier verweist er auf seine 1961er Abhandlung, wo ja Voranstellung primärer Satzglieder belegt ist. Man wird einsehen, daß es nicht unproblematisch ist, Erbens statistische Ergebnisse nachzuprüfen, ohne beträchtliche Unsicherheit in Kauf nehmen zu müssen. Selbst der Terminus .situierende Partikel' ist kaum als hinlänglich eindeutig zu betrachten. Trotzdem will ich versuchen, eine den Erbenschen Kriterien möglichst entsprechende Belegsammlung im Hinblick auf relative Fügungshäufigkeit zu analysieren und beschreiben. Die Partikeln, die in diesem Material vor XW stehen, sind nur solche, die mit dem Verb sein im Konjunktiv I belegt sind: also, d(a)rum, denn, doch, so samt den nicht temporal verwendeten Partikeln dann, nu(n) undjet^t. Einige Beispiele für diesen Gebrauch sind: „Also seien wir wieder friedlich und legen wir uns aufs Ohr" (Fleming TI 120).

„Denn seien wir uns im klaren: . . . " (Dürrenmatt DP 179). „Doch lassen wir das und gehn wir weiter" (Werfel DL 162). „Jetzt seien wir ruhig" (Kufner 1962:14). „Und nun seien wir fröhlich wie immer" (Konsalik ZN 20). Aber bevor ich zu der Beschreibung des Materials und der statistischen Ergebnisse komme, muß zu einer vordringlichen Frage Stellung genommen werden: Hat es überhaupt einen Sinn, adhortative Typen zu registrieren und deren relative Häufigkeit festzustellen? Meine Antwort ist ja, aber nicht alle modernen Linguisten dürften zustimmen. A. Redder würde, wie es scheint, diese Frage negativ beantworten, was z.B. aus ihrer Kritik an Erben hervorgeht: „die von Erben (1961) genannten, historisch entwickelten Formen mit ,gleicher Ausdrucksleistung' (,gehen wir!', ,laßt uns gehen!', ,wir wollen gehen!') unterscheiden sich also sehr wohl auf pragmatischer Ebene" (1984:214, Fn. 14). Aber in dem von Redder zitierten Aufsatz spricht Erben nicht von ,gleicher Ausdrucksleistung', im Gegenteil. Er gibt am Ende seines Beitrags eine erste pragmalinguistische Beschreibung der unterschiedlichen Funktionen oder Wirkungen der Adhortative, wie wir gleich sehen werden. Redder bringt nicht viel Neues für die Adhortativdiskussion, und einiges davon ist problematisch. So sagt sie zu dem von Wunderlich analysierten Satz: „wir sein!' bat sie" (Wöss DD 141). Auch Solange du hier bist, seien wir gut zueinander! ist kaum als inakzeptabel zu verwerfen; vgl. ,„Wenn es Ihnen recht ist, gehen wir zu der LufthansaMaschine. Sie wird gerade aufgetankt.' ... .Lassen Sie uns gehen', sagte ich" (Simmel BZ 563). Beide Sätze in dieser Reihe sind m. E. einwandfreie Adhortativsätze ( X W + LUX).

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Bjarne Ulvestad

wollen jetzt zur Diskussion der Vorlage der Resolution übergehen", dessen Funktion von Wunderlich als „Übergang vom Handlungsentschluß zur Handlungsausführung" charakterisiert wird: „Die Performativität verdankt sich ... der Kontraktion des Entscheidungsprozesses, die auch hier durch ,wir wollen' erfolgt", und dazu in einer Fußnote: „Diese Leistung erbringt ,laßt uns' nicht" (1984:214). So scharf darf man m. E. die Adhortative nicht gegeneinander abgrenzen. Es gibt in meinem Material viele LUX-Sätze mit der von Wunderlich und Redder beschriebenen illokutionären Kraft, aber ich wähle einen aus Hindelangs Einführung in die Sprechakttheorie: „Lassen Sie uns jetzt über das Geschäftliche reden!", in dem, „auf das Thema der Konversation" bezogen, versucht werde, durch einen metakommunikativen Sprechakt „das Interaktionsverhalten der anderen Gesprächsteilnehmer zu beeinflussen" (1983:36). Selbstverständlich kann im gleichen Zusammenhang gesagt werden: Reden wir jet^t über das Geschäftliche (XW). Der Adhortativtyp XW tritt in Sätzen, die metakommunikative Sprechakte mit diskussionsbestimmender Funktion ausdrücken, viel häufiger auf als die Typen WWX und LUX (auch Sätze wie Reden wir von etwas anderem und Aber lassen wir das gehören dazu). Auch für die Beschreibung normaler oder regulärer Adhortativwahl in unterschiedlichen Sprechakten spielt letzten Endes die statistische Komponente eine nicht zu unterschätzende Rolle, was die Sprechakttheoretiker bisher übersehen zu haben scheinen. Auch Hindelang ist ein Repräsentant für den modernen Trend, Funktionsträger wie die adhortativischen scharf voneinander zu trennen. In seiner sehr detaillierten von Sprechakttypen ausgehenden Beschreibung von Aufforderungsäußerungen behandelt er auch die drei Adhortative, m. E. auf unangemessene Weise. Die Fügung LUX scheint nach ihm nur dann gebraucht zu werden, wenn die Sprechpartner die von dem einen vorgeschlagene Handlung schon früher gemeinsam ausgeführt haben. Aus diesem Grund erhöhe die Einfügung „der Partikel ,(doch) mal wieder' . . . die Situationsadäquatheit" der Äußerungsform (1978:473). Sätze wie „... laß uns heiraten!" (Burk TH 251), „Laß uns Brüderschaft trinken" (Bergius 00 167) und „Laß uns miteinander schlafen, Dieter" (Heinrich EH 229) zeigen, daß Hindelangs pragmatische Restriktion nicht zutreffend ist. Über den Aufforderungstyp WWX sagt Hindelang wenig. Er meint, WWX-Äußerungen sind „im vorliegenden Zusammenhang2 zur Realisierung einer ANREGUNG nicht geeignet; sie spielen jedoch, wie auch aus den Ausführungen von Erben (1961:468-471) hervorgeht, in anderen Kontexten als Ausdrucksmöglichkeit für eine , Aufforderung zur gemeinsamen Tat' eine wichtige Rolle" (1978:483). Zumindest geht aus dieser Aussage hervor, daß LUX und WWX einander ausschließen, was doch häufig

2

Die Kapitelüberschrift ist: „Die Äußerungsformen des Musters VORSCHLAG (1978: 472).

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auftretende Sätze in stereotyper Form wie Wir wollen von etwas anderem reden und Laß(t) uns von etwas anderem reden widerlegen. Den Typ X W sieht Hindelang als eine „Variante von ,Wir X-en!'" an und fügt hinzu: „Die initiale Position des Verbs bewirkt eine emphatische Hervorhebung des Äußerungsinhalts. Äußerungsformen mit einer solchen ,affektiven Spitzenstellung' des Verbs 3 ... dienen zur Formulierung temperamentvoll vorgetragener ANREGUNGEN, bei denen Spi eine Ablehnung nicht erwartet, oder sie gar nicht aufkommen lassen will" (1978:490). Ich finde z. B. die vielen XW-Sätze in Hindelangs Einführung, beispielsweise „Betrachten wir zunächst (9 a) - (9f)" (1983:7), nicht besonders temperamentvoll vorgetragen, und die Tatsache, daß in der sogenannten Einheitsübersetzung der Bibel (1975) fast alle im Pentateuch erscheinenden XWSätze die LUX-Sätze der Lutherbibel ersetzen, dürfte Hindelangs scharfe pragmatische Trennung der beiden Typen in Abrede stellen. Diese pragmalinguistische Unschärfe bezeugt übrigens auch das Neue Testament der Einheitsübersetzung, in dem die LUX-Sätze der Lutherbibel weitgehend durch WWX-Sätze ersetzt werden. Es scheint nicht so zu sein, daß die moderne Übersetzung auf einer neuen Einschätzung der biblischen Sprechaktbedingungen oder gar der Mentalität der biblischen Interaktionspartner beruht. Richtiger wäre es, den drei Adhortativformen doch eine gewisse Fakultativität zu konzedieren, wie traditionelle Forscher wie Kurrelmeyer (1900), Erben und Matzel/Ulvestad es tun. Nur diese Voraussetzung macht statistische Untersuchungen sinnvoll und m. E. unentbehrlich, nicht zuletzt mit Bezug auf die Bedürfnisse des Deutschunterrichts im Ausland. Nur müssen solche Untersuchungen hinlänglich große Belegmassen einbeziehen, um unangemessenen ex nihilo-Regelaussagen vorzubeugen, wofür unten einige Beispiele angeführt werden sollen. Daß die Sprechakttheorie ihre Berechtigung hat auch vom Gesichtspunkt des Fremdsprachenunterrichts, soll nicht verschwiegen werden, aber da die Anzahl der Sprechhandlungstypen sehr groß ist — bislang erscheint sie unendlich - wird es voraussichtlich sehr lange dauern, bis die für die Pädagogisierung notwendigen Generalisierungen elaboriert und, mit Rücksicht auf den Laien, weitgehend entterminologisiert in die (traditionelle) Syntax eingebaut werden können. Daß dies auch für die Adhortativsyntax gilt, dürfte aus dem Hervorgehenden einleuchtend sein. Erbens Gebrauchsanweisungen haben im Vergleich mit denen der bisherigen Sprechakttheorie den Vorteil, unmittelbar syntaxbezogen zu sein: er charakterisiert den seiner Meinung nach regulären Gebrauch der einschlä-

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Von einer „emphatischen Spitzenstellung des Verbs" in XW-Sätzen spricht auch Erben ( 1 9 8 3 a : 4 1 2 , Fn. 41), was doch wohl unangebracht ist, wenn man berücksichtigt, daß diese Verbposition die normale ist in 9 7 % der XW-Sätze (die Ausnahmen sind XW-Sätze mit vorangestellten Partikeln wie dann,jet%t, nun u. dgl.).

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Bjarne Ulvestad

gigen Adhortative in verständlichen und somit nachprüf- und kritisierbaren Aussagen. Er unterscheidet in seinem 1961er Aufsatz vier Typen: 1. „das knappe Imperativische Gehen wir!" 2. „das höflich-vertrauliche, Zustimmung erbittende Laß(t) uns gehen!" 3. „das feierlich-beschwörende Ersuchen Lassen Sie uns gehen!" 4. „die beschließende, einen gemeinsamen Willen vorschlagende Form der Aufforderung wir wollen gehen! . . . , die - wohl nicht zufallig - im Zeitalter der modernen Demokratie vordringt" (470). Später ändert Erben stillschweigend die zweite und dritte Regelaussage. Regel 2 wird jetzt nicht als konjunktiv, sondern als disjunktiv formuliert: „vertraulich" wird jetzt auf Laß(t) uns + Infinitiv bezogen, „höflich" auf Lassen Sie uns + Infinitiv, und Regel 3 verschwindet aus dem Beschreibungsapparat, m.E. mit Recht (1983b:52f.); in der letzten Auflage von Erbens Grammatik ist die Neudifferenzierung noch nicht zu finden (1980:114). Es scheint auf der Hand zu liegen, daß auch Gebrauchsanweisung 4 einer Disjunktivierung bedarf, denn die konjunktivische Zusammenstellung von beschließen und vorschlagen repräsentiert doch eine contradictio in adjecto; einen Beschluß zu fassen ist etwas ganz anderes als einen Vorschlag zu machen, nach normalem Sprachgebrauch, abgesehen davon, daß ein Vorschlag zum gemeinsamen Willen nicht einem Vorschlag zur gemeinsamen Tat/Handlung gleichzustellen ist. Vorschläge zum gemeinsamen Willen dürften übrigens selten vorkommen. Mein Material weist keinen einschlägigen Satz vor, was daraufhindeutet, daß Erbens Etikettierung in diesem Falle nur Sätze beschreibt, die wohl kaum im normalen Gespräch gebraucht werden. Wie dem auch sei; Erbens Regelmäßigkeitsaussagen sind denen vorzuziehen, die Redder und Hindelang formuliert haben, und die Tatsache, daß er variantenstatistisch arbeitet (1983 a, 1983 b), erlaubt den Mitforschern, von ihm abweichende Ergebnisse progressivwissenschaftlich zu formulieren und bessere Beschreibungen vorzuschlagen. Und damit bin ich zu der adhortativstatistischen Abteilung meiner Auseinandersetzung mit der bisherigen Forschung gekommen. Die Legitimität dieses Vorgehens brauche ich wohl nicht durch weitere Argumente zu beweisen; sie beruht letzten Endes auf der pragmatischen Offenheit bezüglich der sprachlichen Ausdrucksmittel. Auf unser Problem angewandt: es gibt Situationen, in denen die drei Adhortativsätze: Reden wir nicht mehr darüber, Laß uns nicht mehr darüber reden, Wir wollen nicht mehr darüber reden nicht einander ausschließen. Nur ist in besonderen Situationen der eine Satz den anderen vorzuziehen. Das impliziert, daß die pragmalinguistische Seite der Interaktion nicht überbetont werden darf, und darüber hinaus, daß die Fakultativität immer im Auge behalten sein muß. Diese vielleicht doch etwas überspitzte Annahme schicke ich der folgenden Untersuchung voraus. Matzel/Ulvestads Ergebnis, daß X W häufiger verwendet wird als die übrigen adhortativischen Fügungen, bestreitet Erben in seinen 1983 erschie-

Die kanonischen deutschen Adhortative

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nenen Arbeiten. Er beruft sich dabei auf eine eigene empirische Untersuchung, auf die im folgenden etwas näher eingegangen werden soll. Abgesehen von 70 Belegen aus der Lutherbibel, denen man mit Bezug auf die moderne Sprache wohl keine Bedeutung beilegen darf, besteht sein Material aus 575 Belegen aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Die Prozentsätze für die drei Adhortativfügungen sind: XW: 35%, WWX: 48%, LUX: 17%. Aus diesem prozentualen Sachverhalt zieht dann Erben den Schluß, daß seine „frühere Einschätzung... sich bestätigt" habe (1983 b: 51). Ich möchte Erbens Forschungsergebnisse als solche nicht in Zweifel ziehen; die Prozentverhältnisse dürften im großen und ganzen stimmen. Aber die Textgrundlage, Flugblätter des 19. und 20. Jahrhunderts politische Rede und Erzählliteratur und Auszüge aus Zeitungen, scheint zeitmäßig und textuell zu heterogen und auch zu schmal, um zuverlässige Schlußfolgerungen für die heutige deutsche Sprache zu erlauben. Daß auch seine die Belegwahl determinierenden Bestimmungen (Kriterien) reichlich vage sein müssen, bezeugen einige Entgleisungen: Den folgenden Satz bezeichnet Erben als adhortativ. Wir wollen vns selbs neeren vnd kleiden, las vns nur nach deinem namen heissen (Jes. 4,1) (1961:469). Selbst ohne Kontext ist die hier auftretende »W/