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German Pages [281] Year 2023
Lorella Bosco / Emilia Fiandra / Joachim Gerdes / Marella Magris / Lorenza Rega / Goranka Rocco (Hg.)
Ferne und Nähe Nähe- und Distanzdiskurse in der deutschen Sprache und Literatur
Mit 25 Abbildungen
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes. © 2023 Brill | V&R unipress, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Caspar David Friedrich, Auf dem Segler. https://commons.wikimedia.org/wiki /File:Caspar_David_Friedrich_004.jpg#filelinks. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-1616-2
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sektion 1: Empathie, Distanz und Zugehörigkeit: literarische und sprachliche Ausdrucksformen Mathias Mayer (Universität Augsburg) Annäherung durch Entfernung: Beobachtungen zu Goethe. Ein Vortrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Marina Foschi (Università di Pisa) Zurückbleiben, bitte! Du tritt vor! Semantik und Pragmatik deutscher Wörter der Nähe und Ferne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Moira Paleari (Università degli Studi di Milano) Autobiographische Selbstdarstellungen als Ausdruck von Nähe und Distanz: das Beispiel von Else Lasker-Schülers Mein Herz (1912) und Wassily Kandinskys Rückblicke (1913) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Raul Calzoni (Università di Bergamo) »Nah und fern klappende Türen, aber keine Menschenseele«. Die Dialektik der Ferne und Nähe in Walter Kempowskis »Echolot-Projekts« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Federica Missaglia (Università Cattolica del Sacro Cuore, Milano) Lautsprachliche Kennzeichen von Nähe- und Distanzsprechen . . . . . .
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Ramona Pellegrino (Università di Genova) »dem lebendigen Sprachraum seit fünfzig sechzig Jahren fern«: Nähe und Distanz zum deutschen Sprach- und Kulturraum in narrativen Interviews des Israelkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Sektion 2: Versprachlichungs- und Literarisierungsformen der Distanz Claudia Maria Riehl (Universität München) Deutsch spricht man auch in weiter Ferne: Varietäten des Deutschen in Europa und Übersee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Claudio Di Meola / Daniela Puato (Università di Roma Sapienza) Die deutschen Zukunfts- und Vergangenheitstempora im Spannungsfeld zwischen Nähe und Ferne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Anne-Kathrin Gärtig-Bressan (Università di Trieste) (Auch) eine Frage der Distanz: Futur II oder Perfekt zum Ausdruck der komplexen Zukünftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Luca Zenobi (Università dell’Aquila) Lebenswelt und Virtualität im Fauststoff: Von den Volksballaden bis zum 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Maria Paola Scialdone (Università di Macerata) Ferne und Nähe als strukturelles Prinzip und Leitmotiv im »Covid-19-Pandemoir« deutscher Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Daniela Nelva (Università di Torino) Konkrete und ideologische Nähe und Ferne in Stefan Heyms Leben und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
Sektion 3: Treue oder Verfremdung: Textnähe und Textferne in Literatur, Übersetzung und Sprachdidaktik Elena Raponi (Università Cattolica del Sacro Cuore, Milano) Hofmannsthals Alkestis (1894). Zwischen Mythos und Metapher
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Federica Rocchi (Università di Perugia) »Zeit ist Trug und Jahre rannen«. Karl Wolfskehl – Übersetzer im Exil . . 221 Federica Ricci Garotti (Università di Trento) »Ich kann Sie nicht mehr hören…« Ergebnisse einer Studie über die online DaF-Didaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
Inhalt
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Ulrike Simon (Università di Bari) Warum in die Ferne schweifen? – Zum Nutzen von Linguistic Landscapes im DaF-Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Maria Paola Bissiri (Università dell’Insubria, Como) / Livia Tonelli (Università di Genova) Annäherung der Distanz zwischen dem Deutschen und anderen Sprachen: die phonetische Konvergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
Einleitung
Ferne und Nähe sind zwei Begriffe, die seit jeher Gegenstand von literarischen, sprachwissenschaftlichen, soziopolitischen, psychologischen und vielerlei anderen Diskursen sind. Literarische Werke und Essays sowie Forschungsarbeiten, die sich mit diesen beiden Dimensionen auseinandergesetzt haben, sind bekanntlich Legion. Ferne und Nähe können raum-, zeit- und personengebunden sein. Die Absicht, zu diesem Thema noch etwas Innovatives beitragen zu wollen, könnte anmaßend erscheinen. In letzter Zeit haben aber Ferne und Nähe mit den ihnen verwandten semantischen Konzepten (z. B. Weite, Fremdheit, Entfernung, Fernweh, Aus- und Entgrenzung, Andersheit, Heimweh, Nostalgie, Grenze, Beschränkung gegenüber Verbundenheit, Vertrautheit, Nachbarschaft, Verwandtschaft, Sympathie, Empathie) zunehmend an Bedeutung und Aktualität gewonnen – und dies nicht zuletzt auch wegen der durch die Corona-Pandemie weltweit ausgelösten Krise. Ferner hatte das Thema einen gleichsam symbolischen Charakter hinsichtlich des Ortes, wo die Dreijahrestagung des italienischen Germanistenverbandes 2022 stattgefunden hat: In Triest haben sich verschiedene Kulturen seit eh und je getroffen – manchmal sich aneinander annähernd, manchmal voneinander Distanz nehmend. Diese Ambivalenz schien ein gutes Omen für die erste AIG-Tagung nach der Pandemie zu sein – bei dem man nach so viel körperlicher Distanz die persönliche Nähe der Anderen spüren wollte. Die Beiträge sind nicht in zwei Sektionen Literaturwissenschaft und Sprachwissenschaft getrennt, wohl aber je nach Schwerpunkt zusammengestellt und ideell in drei Hauptstränge aufgeteilt worden: Empathie, Distanz und Zugehörigkeit: literarische und sprachliche Ausdrucksformen Versprachlichungs- und Literarisierungsformen der Distanz Treue oder Verfremdung: Textnähe und Textferne in Literatur, Übersetzung und Sprachdidaktik
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Einleitung
Empathie, Distanz und Zugehörigkeit: literarische und sprachliche Ausdrucksformen In diesem ersten Teil wurden Beiträge gesammelt, die die komplexe Bewältigung des Spannungsverhältnisses Ferne/Nähe darstellen, wobei man über die konzeptuellen und sprachlichen Stereotypen hinausgeht und das Thema auch in einer identitätsstifenden Perspektive behandelt wird. In seinem Beitrag Annäherung durch Entfernung beobachtet Mathias Mayer die Konstellation Nähe und Ferne, die öfter in Goethes Werken vorkommt, in Bezug auf die poetologische Perspektive des Dichters. Anhand einer reichen Reihe von Beispielen v. a. aus dem Faust beweist Mayer, wie es Goethe meisterhaft gelang, »Krisenbewältigung und Kreativität, den Schmerz und seine Gestaltung zu synthetisieren, und dabei das Absurde der Gegenwart und Nähe wie auch die heikle Nacht der Ferne in eine höchst seltene Balance zu bringen.« In ihrem Beitrag Zurückbleiben, bitte! Du tritt vor! untersucht Marina Foschi die Semantik und Pragmatik der Wörter der Nähe und Distanz im sprachwissenschaftlichen Bereich und in authentischen Texten. Nach der Darstellung der Theorie der Deixis und Theorie des Nähe-Distanz-Kontinuums von Koch/Oesterreicher (1985, 1990) werden die Ergebnisse einer ersten Pilotuntersuchung von der sprachlichen Kodierung menschlicher Nähe-/Ferne-Beziehungen her präsentiert. Foschi gelingt es, anhand verschiedener Textypen und -sorten zu beweisen, dass der logische Gegensatz, der durch die Nähe-Ferne-Opposition ausgedrückt wird, nicht immer gleich ist. Die semantische Opposition zwischen den Polen fern und nah wird somit überwunden. Foschis Analyse der Nähe- bzw. Distanzsprache hebt Sprachmittel hervor, die Indikatoren einer »metaphorischen« Dimension der Nähe und Ferne sind. Es handelt sich in den meisten Fällen um Sprachmittel, die menschliche Nähe oder Ferne suggerieren, ohne sie durch einschlägige Wörter zu benennen oder die entsprechenden semantischen Bereiche zu thematisieren. Als Wörter-in-Texten weisen Nähe und Ferne reichhaltige Möglichkeiten auf, unterschiedliche Arten der Annäherung bzw. Distanzierung unter Menschen auszudrücken. Monica Paleari geht auf das Verhältnis Nähe als Referenz/Wahrheit und Distanz als Fiktion/Dichtung in autobiographischen Darstellungen am Beispiel von Lasker-Schüler (Mein Herz) und Kandinsky (Rückblicke) ein und kommt zu der Schlussfolgerung, dass in den Werken dieses ungleichen Duos – bei allen Unterschieden – einige wiederkehrende Elemente zu erkennen sind, und zwar dass beide Werke von einer starken Annäherung bzw. einer engen Verzahnung von Leben und Kunst zeugen, so dass das individuelle Ich zu einem Kunst-Ich wird.
Einleitung
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Gegenstand des Beitrags von Raul Calzoni ist Walter Kempowskis vierteiliges und zehnbändiges Werk Das Echolot (1993–2005), ein »Mosaik« aus Fotografien und Textzeugen, das zu einem echten Erinnerungsort wird und den Leser zwingt, die wichtigsten »Stationen der Geschichte« (u. a. Berlin, Dresden, Leningrad, Stalingrad, Auschwitz) als Zentren der Nähe und Ferne zu betrachten. Das Echolot wird somit zu einem Werk, das die Ferne und die Nähe der Geschichte durch einen fiktionalen und fingierten Dialog mit den Toten verbindet. In ihrem Beitrag geht Federica Missaglia vom Modell von Koch/Oesterreicher (1985), aber auch von Ágel/Hennigs Modell (2006a und b; 2007) aus und auf die Frage ein, ob und inwiefern phonetische und prosodische Phänomene als lautsprachliche Kennzeichen von Nähe- und Distanzsprechen interpretiert werden können. Anhand einiger Beispiele wird gezeigt, dass lautsprachliche Aspekte als nähe- und distanzsprachliche Erscheinungen identifiziert werden können, d. h. als phonetische und prosodische Manifestationen gesprochener Sprache, deren Anwesenheit und Ausprägung als Indizien für die Verortung von mündlich dargebotenen Texten auf dem konzeptionellen Nähe-Distanz-Kontinuum betrachtet werden können. Die Autorin versteht ihre Überlegungen als theoretische Ausgangsbasis für korpusgestützte empirische Untersuchungen, die in Anbetracht der phonetisch-phonologischen Regelmäßigkeiten und der zahlreichen Sprecher:innen-, Situations- und kontextbedingten Variationsmöglichkeiten phonetisch-prosodischer Realisierung Einsichten für die kommunikativ-konzeptionelle Interpretation konkreter lautsprachlicher Äußerungen bieten. Anhand von Interviews mit 15 in Palästina/Israel lebenden Österreicher:innen und unter Einsatz des Chronotopos-Konzeptes in Bezug auf Nähe und Distanz zum deutschsprachigen Kulturraum untersucht Ramona Pellegrino Personalpronomen und deiktische Elemente, um die geistig-intellektuelle Nähe/Ferne zum deutschen Sprachraum auszudrücken. Dabei geht sie auf die Frage ein, wie sich diese Elemente auf die narrative Identität der Interviewten auswirken und ihnen erlauben, trotz der zeitlichen und räumlichen Ferne die Nähe zum deutschsprachigen Raum dauerhaft wiederherzustellen und sich als zugehörig zum deutschen Sprach- und Kulturraum zu positionieren.
Versprachlichungs- und Literarisierungsformen der Distanz In dieser Sektion richtet sich das Augenmerk zum einen auf die räumliche Dimension der Deutschsprachigkeit, auf die Stellung des Deutschen in verschiedenen deutschen Sprachgemeinschaften weltweit und das komplexe Zusammenspiel der Faktoren seiner Verbreitung und Aufrechterhaltung in der Ferne. Zum anderen gilt das Interesse einigen tempuslinguistischen Aspekten, wobei sich Nähe und Ferne als vielschichtige Kategorien erweisen, die semantisch und
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Einleitung
pragmatisch gesehen neben der temporalen auch verschiedene andere Dimensionen besitzen. Claudia Maria Riehl stellt die Lage der deutschen Sprache im Ausland v. a. in Bezug auf deutsche Sprachenklaven in Russland, Australien und Brasilien dar. Dabei zeigt die Autorin, dass die deutsche Sprache in der Ferne von großem Interesse für die Germanistische Sprachwissenschaft sein kann. Hier zeichnen sich Entwicklungen zwar ab, die auf den Kontakt mit einer anderen Umgebungssprache zurückzuführen sind, wobei auch älterer Wortschatz und ältere Formen bewahrt werden. Solche Diasporavarietäten deuten aber auch tendenziell an, in welche Richtung sich die deutsche Sprache entwickelt. Claudio Di Meola und Daniela Puato gehen davon aus, dass Tempora viel mehr als reine Zeitreferenz kodieren sowie komplexe semantische und pragmatische Verwendungsbedingungen aufweisen und dass die Zukunftstempora Präsens und Futur I sowie die Vergangenheitstempora Perfekt und Präteritum als weitgehend parallele Tempusoppositionen herausgestellt werden können. Als Forschungsfrage gilt, ob auch Zeitabstand und Kausalzusammenhang als distinktive Faktoren für beide Tempusoppositionen fungieren können. Di Meola/ Puato kommen zu der Schlussfolgerung, dass die Zukunft durch das Präsens als Ergebnis der Gegenwart, die Vergangenheit durch das Perfekt als Voraussetzung für die Gegenwart gesehen wird. Während Präsens und Perfekt also das Verbindende auf dem Zeitkontinuum voraussetzen (als unmarkierte Tempora) oder gar das Verbindende hervorheben (als Tempora der Nähe), betonen Futur I und Präteritum das Trennende und segmentieren sozusagen künstlich das Zeitkontinuum, wobei die Gegenwart deutlich von respektiver Vergangenheit und Zukunft getrennt erscheint. Anne-Kathrin Gärtig-Bressan befasst sich mit der Opposition von Futur II und Perfekt zum Ausdruck der komplexen Zukünftigkeit. Die Autorin knüpft an eine vorausgehende Studie (Gärtig-Bressan 2021) an, in der gezeigt wurde, dass das Perfekt mit 71,7 % der Belege das häufiger gewählte Tempus ist, und untersucht Faktoren, die mit einer höheren Frequenz von Futur II einhergehen. In einer weiteren Studie fokussiert Gärtig-Bressan auf das Vorkommen des Futur II im DWDS Kernkorpus zwischen 1946 und 2010. Beide Studien bestätigen, dass die Zeitrelation der komplexen Zukünftigkeit insgesamt sehr selten ist. In der bereits abgeschlossenen Studie wurde die Tendenz beobachtet, dass das Perfekt die häufiger gewählte Tempusform zum Ausdruck dieser Zeitrelation ist, während der Gebrauch von Futur II an gewisse Faktoren gebunden ist. In der Studie 2 ist zu beobachten, dass temporales Futur II unterdurchschnittlich belegt ist in der Gebrauchsliteratur und in wissenschaftlichen Texten, und dagegen besonders häufig in (zusammenfassenden) Pressetexten vorkommt. In seinem Aufsatz Lebenswelt und Virtualität im Fauststoff: Von den Volksballaden bis zum 20. Jahrhundert greift Luca Zenobi ein zentrales Motiv in der
Einleitung
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Überlieferung und Rezeption des Fauststoffes heraus: Die Verwandlung von einer teuflisch-dämonischen Bildlichkeit in eine religiöse Mahnungsfunktion, bei der das Christliche und das Heidnische untrennbar ineinander verwoben sind. Ein Vergleich der lyrischen Balladen aus der früheren Überlieferung des Fauststoffes mit dessen Bearbeitungen in der Moderne ist Grundlage für die Hervorhebung des Wiederauftauchens wichtiger Bestandteile des ganzen Motivkomplexes auch in Faust-Adaptionen aus dem 20. Jahrhundert. Der Beitrag von Maria Paola Scialdone über die literarischen Implikationen der durch die Pandemie verursachten Isolation und Abgeschiedenheit setzt sich mit dem facettenreichen »Narrativ« der Corona-Krise auseinander. Anhand einer Vielfalt von Beispielen aus der deutschsprachigen Literatur, vom Corona19-Roman der Österreicherin Marlene Streeruwitz bis zu zahlreichen auch auf den Social-Media-Kanälen veröffentlichten Tagebüchern und Zeugnissen (u. a. Peter Stamm, Carolin Emcke und Marica Bodrozˇic´) versucht die Autorin zu zeigen, wie Pandemie und Lockdown zu einer umfassenden und tiefen Reflexion über das anthropologische Zusammenspiel von Nähe und Ferne, fremd und vertraut, lokal und global Anlass gegeben haben. In ihrem Artikel über Stefan Heym geht Daniela Nelva auf die biblischen und historischen Figuren und Ereignisse ein (vom König David über Defoe bis hin zur französischen Revolution), die der DDR-Autor zu einem fiktionalen, zugleich aber auch scharfe Kritik vermittelnden Bild verwebt, das sich der DDR-Kontrolle entziehen konnte. Das komplexe Spiel von Ferne und Nähe, das dabei entsteht, betrifft sowohl die politische Frage der Identität als auch die literarischen Strategien und »Tricks«, die von Heym angewandt und entwickelt wurden, um die Zensur zu umgehen.
Treue oder Verfremdung: Textnähe und Textferne in Literatur, Übersetzung und Sprachdidaktik In der Sektion sind Beiträge gesammelt, die den (auch mündlichen) Text in übersetzungsbezogener und didaktischer Hinsicht behandeln – u. a. auch im Hinblick auf die von der Pandemie aufgeworfenen Fragen. Elena Raponi behandelt das Thema Nähe/Distanz anhand des Theaterstückes Alkestis von Hofmannsthal. Sie zeigt, wie Hofmannsthals tiefgreifende symbolistische Bearbeitung von Euripides’ Alkestis, die von der Tragödie des griechischen Tragikers zwar meilenweit entfernt ist – auch um dem zeitgenössischen Publikum das antike Werk näher zu bringen –, eigentlich aber in die Nähe des Mythos rückt und ihn wieder lebendig macht. Dabei erahnt Hofmannsthal zwar im Gleichnishaften den zarten Zusammenhang des Daseins, er gibt aber dem
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Einleitung
Text auch eine moralische Dimension, die der Auflösung des ›Principium individuationis‹ entgegenwirkt. In ihrem Beitrag über Karl Wolfskehl geht Federica Rocchi auf sein Schaffen als Übersetzer sowie als Autor von übersetzungsbezogenen Überlegungen ein. Dabei betont sie, dass Wolfskehl sich intensiv auch mit der Modernisierung von Texten der deutschen Klassiker beschäftigt hat und dass er das Übersetzungsverfahren durch die Polarisierung von Ferne und Nähe gekennzeichnet sieht, was besonders für seine literarische Tätigkeit eben im Exil außerhalb des GeorgeKreises und für sein verstärktes Interesse für das Judentum gelten kann. Rocchi geht v. a. auf Wolfskehls italienische Periode ein, während der er in ein weites literarisches und freundschaftliches Netzwerk deutschsprachiger Freund:innen und/oder Kolleg:innen eingespannt ist, das ihm eine kooperative Übersetzungsarbeit ermöglicht. Ulrike Simons Beitrag ist auf das (fremdsprachen)didaktische Potenzial fokussiert, das in der Forschung zu Linguistic Landscapes steckt. Die Ferne kann man – v. a., wenn man die Situation während der Pandemie berücksichtigt – auch in der Nähe finden, und sie kann zum Zweck der Vermittlung der Fremdsprache Deutsch fruchtbringend verwertet werden. In ihrem didaktisch ausgerichteten Beitrag stellt Federica Ricci-Garotti fest, dass das Online-Medium sich gewisser konsolidierter Merkmale der Wissenschaftssprache im Unterricht in nur geringem Maße bedient und eher den Versuch privilegiert, die Distanz zwischen den Studierenden und Dozent:innen zu reduzieren. Wie es in der Forschung üblich ist, ziehen die Antworten auf die Forschungsfragen auch in dieser Studie weitere Forschungsfragen nach sich, und zwar über die Notwendigkeit, die Distanz zwischen Lehr- und Lernpersonen bezüglich des Wissenstands in jeder Unterrichtsform, und nicht nur im OnlineKontext, zu reduzieren In ihrem Beitrag Annäherung der Distanz zwischen dem Deutschen und anderen Sprachen: die phonetische Konvergenz liefern Maria Paola Bissiri und Livia Tonelli einen Überblick über die wissenschaftlichen Studien zur phonetischen Konvergenz, insbesondere zwischen Muttersprachler:innen des Deutschen und anderer Sprachen. In diesem Forschungsfeld sind noch viele phonetisch-phonologische Eigenschaften des Deutschen zu untersuchen, sowohl mit Blick auf das Phänomen der Konvergenz im Allgemeinen, als auch bei der Konvergenz zwischen Muttersprachler:innen des Deutschen und Muttersprachler:innen anderer Sprachen. Das Thema ist auch insofern interessant, als seine Erforschung zum Verständnis der Mensch-Mensch-Kommunikation sowie der Mensch-Maschine-Kommunikation beitragen kann und somit relevante Implikationen für computergestütztes Sprachenlernen hat. Die Herausgeber:innen
Sektion 1: Empathie, Distanz und Zugehörigkeit: literarische und sprachliche Ausdrucksformen
Mathias Mayer (Universität Augsburg)
Annäherung durch Entfernung: Beobachtungen zu Goethe. Ein Vortrag
Goethes literarische Weltaneignung und -erkenntnis vollzieht sich als ein »gegenständliches« Verfahren der Objektivierung. Epistemologische, narrative und autobiographische Strategien werden aufgezeigt, der »Versuch als Vermittler« ebenso wie die Fiktionalisierung der eigenen Lebensgeschichte, um Lebenskrisen schöpferisch zu bewältigen. Nicht die Unmittelbarkeit, sondern der Umweg und die Spiegelung erweisen sich als hilfreich. Autobiography; Distancing; Fictionalization; Objectivity; Suicide.
1.
Einleitung
Wenn es um die Vermessung der Welt Goethes geht, liegen die Kategorien von Nähe und Ferne sehr nahe. Goethe hat seine Liebe zu Frau von Stein unter dem Namen »Lida« auf die Formel vom »Glück der nächsten Nähe« gebracht, in dem späten Gedicht Zwischen beiden Welten (Goethe, Weimarer Ausgabe1 I.3, S. 45). Und über den Protagonisten seines Faust-Dramas heißt es gleich zu Beginn, im Prolog im Himmel, aus dem Munde Mephistos, der ihn doch ein Stück weit kennen sollte: Nicht irdisch ist des Thoren Trank noch Speise. Ihn treibt die Gärung in die Ferne, Er ist sich seiner Tollheit halb bewußt; Vom Himmel fordert er die schönsten Sterne, Und von der Erde jede höchste Lust, Und alle Näh und alle Ferne Befriedigt nicht die tiefbewegte Brust. (WA I.14, S. 21f., V. 301–307)
Ja, selbst für die spannungsgeladene Verbindung von Nähe und Ferne ist Goethes Sprache hochsensibilisiert, wenn im späten Mondlied der Chinesisch-deutschen Jahres- und Tageszeiten der Einsatz kommt, »Dämmrung senkte sich von oben, /
1 Im Folgenden zitiert als »WA« mit Abteilung, Band und Seite.
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Mathias Mayer
Schon ist alle Nähe fern« (WA I.4, S. 113) – ein Vers, der u. a. auch einen modernen Autor wie Jorge Luis Borges lebenslang fasziniert hat.2 Zweifellos wird man also Goethe eine große Sensibilität für den Umgang mit Nähe und Ferne bescheinigen. Sie erstreckt sich über ganz unterschiedliche Felder und Dimensionen, bis hin zur Technik, wenn es um Brillen und Fernrohre geht, – um Goethes skurrile Aversion gegen die Kurzsichtigkeit und seine Toleranz gegenüber dem technisch gestützten Blick in die Ferne. In der Umgebung der seherischen Makarie in den Wanderjahren verweilt Wilhelm Meister einmal auf der Sternwarte, sein Blick fällt auf Jupiter, das Glücksgestirn. Und der Astronom lässt ihn ihn durch ein »vollkommenes Fernrohr in bedeutender Größe […] als ein himmlisches Wunder anschauen« (WA I.24, S. 182). Von hier aus ist es dann nicht weit, an Lynkeus, den Türmer, zu denken, wenn er sein Lied anstimmt, mit dem er den Kosmos einer geordneten Welt beschwört: Zum Sehen geboren, Zum Schauen bestellt, Dem Thurme geschworen Gefällt mir die Welt. Ich blick’ in die Ferne, Ich seh’ in der Näh Den Mond und die Sterne, Den Wald und das Reh. (WA I.15/1, S. 302, V. 11288–11295)
Die Beobachtung solcher Konstellationen von Nähe und Ferne würde wenig Sinn machen, wenn sie sich nicht auf eine poetologische Perspektive beziehen ließe. Die Aufgabe liegt also zunächst darin zu klären, ob Goethes Verbindung von Nähe und Ferne sich als ein kreatives Muster seines Schreibens darstellen lässt. Dabei ist im weiteren Horizont auch an seine Auseinandersetzung mit der »Weltliteratur« zu denken, in der Fernes in die Nähe heranrückt.
2.
Autobiographie als Entlastung
Es ist dann kein Zufall, dass diese Frage in engem Zusammenhang steht mit Goethes Verhältnis zum eigenen Leben, zur lebendigen Erfahrung, zur Biographie. Dabei spielt natürlich der Umstand eine Rolle, dass wir mit Dichtung und 2 In seinem späten Werk Siete noches von 1980 heißt es am Ende des Vortrags über die Blindheit: »Ich möchte mit einem Vers Goethes schließen. Mein Deutsch ist fehlerhaft, aber ich glaube, ich kann diese Worte ohne allzu viele Irrtümer wiedergeben: ›Alle Nähe werde fern‹, ›todo lo cercano se aleja‹. Goethe schrieb dies über die Abenddämmerung. Alles Nahe wird fern, das stimmt. In der Abenddämmerung entfernen sich die nächsten Dinge von unseren Augen, so, wie sich die sichtbare Welt von meinen Augen entfernt hat, vielleicht endgültig« (Borges 1992, S. 200).
Annäherung durch Entfernung: Beobachtungen zu Goethe. Ein Vortrag
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Wahrheit mehr als nur eine autobiographische Erzählung vor uns haben, handelt es sich doch hier immer auch um eine Reflexion poetisch-therapeutischer Daseinsbewältigung. Darüber lässt sich Goethe selbst in einer für unsere Überlegung zentralen Stelle folgendermaßen vernehmen: Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige was mich erfreute oder quälte, oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den äußern Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deßhalb zu beruhigen. (WA I.27, S. 109f.)
In dieser Passage konzentriert sich jene offenbar lebenserhaltende wie kreative Potenz, die man mit dem Namen »Goethe« verknüpfen kann, nämlich Krisen der Lebenserfahrung durch Gestaltung zu bewältigen. Ich möchte vorschlagen, dieses alles andere als banale Verfahren als eine Annäherung durch Entfernung zu beschreiben. Dabei ist an Folgendes gedacht: Offenbar gelingt Goethe die Auseinandersetzung mit den Brüchen und Widerständen des Lebens, mit Untreue und Abschieden, nicht unmittelbar, sondern sie bedarf einer Vermittlung, eines Abstandes, der erst die Bewältigung ermöglicht. Es handelt sich somit um eine Art kreativen Umweg, – von dem noch zu klären sein wird, ob er in dieser eher negativen Konnotation als »Umweg« richtig beschrieben ist. Es wäre das Experiment wert, das Wort »Entfernung« gleichsam dynamisch zu verstehen, als Ent-fernung. An dieser Stelle bietet es sich an, sich eines Gedankens zu versichern, der die Konzeption von Nähe und Ferne in ein bewegliches Verhältnis bringt und insofern hilfreich sein kann, das Goethe’sche Verfahren ein Stück weit auch theoretisch zu beleuchten. Im § 70 seiner existential-ontologischen Abhandlung Sein und Zeit spricht Martin Heidegger von der »Zeitlichkeit der daseinsmäßigen Räumlichkeit«. Zumindest die dort aufgezeigte Existenzweise des menschlichen Daseins scheint mir für unsere Überlegung hilfreich, wenn Heidegger davon spricht, dass das »Sicheinräumen des Daseins […] durch Ausrichtung und Ent-fernung« konstituiert werde, d. h. durch Prozesse der Näherung, des »ent-fernend auf das Nächste zurück«-Kommens (Heidegger 1977, S. 368f.). Mag man gegenüber Heideggers kraft- oder auch gewaltvoller Etymologie berechtigte Bedenken anmelden, die im Lemma »Entfernung« angelegte Doppelsinnigkeit gilt es gleichwohl zu bedenken, und sei es im »Gegensinn der Urworte« (vgl. Freud 1970, S. 229–234). Versuchen wir an dieser Stelle mit einem ersten Beispiel zu operieren. Nicht wenige der Goethe’schen Texte geben eine solche Strategie der Annäherung durch Entfernung unumwunden zu, Goethe selbst hat im Anschluss an die vorhin zitierte Stelle von seinem Werk als »Bruchstücken einer großen Confession« (WA I.27, S. 110) gesprochen, womit eine biographische Verengung der Lektüre begünstigt scheint. Wie diese kreative Strategie im Einzelnen zum Ein-
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Mathias Mayer
satz gekommen ist, lässt sich an einigen zentralen Stationen des frühen Werkes verfolgen. Schauen wir uns zuerst den Götz von Berlichingen an, der sich dann keineswegs nur als Gründungsdokument des deutschen Geschichtsdramas nach dem Vorbild Shakespeares beschreiben lässt. Anders als im Falle des Faust gibt die Autobiographie über die Entstehung und die Quellen des Stückes reichhaltig Auskunft, wobei für die hier verfolgte Fragestellung vor allem eine persönliche Betroffenheit maßgebend sein kann. Blenden wir also andere Aspekte dieser Werkgenese einmal aus und schauen wir auf den autobiographischen Maßstab, etwa wenn es im Zwölften Buch der Autobiographie über die heikle Episode in Sesenheim und die Begegnung mit Friederike Brion heißt: Aber zu der Zeit, als der Schmerz über Friederikes Lage mich beängstigte, suchte ich, nach meiner alten Art, abermals Hülfe bei der Dichtkunst. Ich setzte die hergebrachte poetische Beichte wieder fort, um durch diese selbstquälerische Büßung einer innern Absolution würdig zu werden. Die beiden Marien in Götz von Berlichingen und Clavigo, und die beiden schlechten Figuren, die ihre Liebhaber spielen, möchten wohl Resultate solcher reuigen Betrachtungen gewesen sein. (WA I.28, S. 120)
3.
Die Strategie des Märchenerzählers
Das Prinzip der Bewältigung durch Gestaltung, ja durch Fiktionalisierung, wird hier mit einem Leitwort der Autobiographie-Tradition versehen, das sich schon vorher angekündigt hatte (WA I.27, S. 110), mit der Beichte. Freilich ist Goethes Autobiographie weit von der theologischen Struktur der Confessiones des Augustinus entfernt, und kaum weniger weit von mancher Selbstdarstellung und Selbstkasteiung der Confessions von Rousseau. Seine »Beichte« ist vorwiegend eine poetisch gestaltete, die auf das Prinzip der Entfernung als Annäherung setzt. Aber natürlich liegt es nahe, gerade den Schmerz und das schlechte Gewissen in einer solchen Form poetischer Auslagerung zu verarbeiten. Das lässt sich denn auch im Kernbereich der Autobiographie noch ein Stück deutlicher verfolgen, dort nämlich, wo Goethe von der engen Verbindung zwischen Lebensschmerz und Literatur spricht, und zwar in der Mitte dieses großen Textes, an der Grenze zwischen dem 10. und 11. Buch. Denn Goethe muss ja sozusagen Rechenschaft darüber ablegen, wie es zum unglücklichen Ende dieser glücklichen Episode mit Friederike Brion gekommen ist. Ging es doch dabei um nichts weniger als die Frage, ob er sich für die Liebe und ein bürgerliches Leben oder für die Kunst entscheiden sollte. Und auch wenn dabei die Unterschiede zwischen städtischer und ländlicher Mentalität ins Spiel gebracht werden, so bleibt es doch nicht aus, dass der zentrale Vorgang der Enttäuschung, der Unerfüllbarkeit dieser Liebe auch dichterisch gestaltet werden musste, dass also die Annäherung an diesen schmerzhaften Vorgang der Trennung zugleich dichterisch ent-fernt und da-
Annäherung durch Entfernung: Beobachtungen zu Goethe. Ein Vortrag
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durch eingeholt oder gespiegelt werden musste. Und schon von Anfang an war ja diese Sesenheimer Episode auf literarische Hintergründe bezogen worden. Aus dem Austausch mit Herder in Straßburg war die Lektüre von Oliver Goldsmith hervorgehoben worden, sein Vicar of Wakefield gilt Goethe als »der vielleicht schönste Gegenstand einer modernen Idylle« (WA I.27, S. 341). Noch während es zwischen Herder und ihm umstritten bleibt, ob es sich hier eher um ein Kunstprodukt oder ein Naturerzeugnis handele, wird der Stoff des Romans unter der Hand zum Szenarium der Besuche im Pfarrhaus zu Sesenheim, in dem Goethe dann zu seinem eigenen Erstaunen eine Art Wiederholung des Romans in der Wirklichkeit erfährt. Eine solche Spiegelung von Natur und Kunst setzt er selbst, der sich zunächst inkognito im Pfarrhof eingeführt hatte, auch als angehender Schriftsteller um, wenn er in der berühmten Laube seinerseits als Erzähler auftritt. Er greift auf eine Urform des literarischen Erzählens zurück, auf das Märchen, immerhin die Urform der Poesie (!), das im Rahmen der Autobiographie schon einmal wertvollen Dienst geleistet hatte: Um sein eigenes poetisches Talent zu belegen, hat Goethe im 2. Buch das Knabenmärchen Der neue Paris eingefügt, um damit in einem Modell seine poetische Verfahrensweise zu illustrieren. 1771, während der Liebe zu Friederike, wählte er das Märchen von der neuen Melusine, das aber nicht als Textintarsie in die Autobiographie eingelassen wird, sondern sich später als eine Binnenerzählung in Wilhelm Meisters Wanderjahre findet. In der Gestalt des Märchens wird auf einem poetischen Umweg sozusagen das Scheitern der Liebesbeziehung zu Friederike Brion bereits vorweggenommen. Wie wir aus der späteren Niederschrift im Roman wissen, handelt es sich um eine märchenhafte, gleichwohl erotische und sexuelle Verbindung zwischen einem etwas losen, nicht sonderlich gewissenhaften Leichtfuß, der durch die Welt vagabundiert, und einem Elementargeist. Die neue Melusine ist im Unterschied zur alten Überlieferung des Stoffes von der Mère Lusignan nicht halb Mensch, halb Fisch, was eigentlich unentdeckt bleiben soll: Als der Liebhaber in der alten Version sie entgegen einem Verbot doch samstags in der Badewanne mit einem Fischschwanz liegen sieht, ist der Zauber vorbei und die Trennung unvermeidlich. Anders bei Goethe: Hier ist das zauberhafte und fesselnde Mädchen von hohem Geblüt, sie stammt aus einem alteingesessenen Adelsgeschlecht, allerdings von Zwergen, die angesichts zunehmender Verkleinerung vom Aussterben bedroht sind und daher nach einem zeugungswilligen und kräftigen jungen Mann Ausschau halten müssen, um das Geschlecht zu erhalten. Nun ist allerdings der Goethe’sche Abenteurer zwar Feuer und Flamme für die schöne Frau, die offenbar gelegentlich in ihre ursprüngliche Minimalform zurückkehren muss, aber er verletzt doch ihre Gefühle und auch die zwischen ihnen getroffenen Abmachungen, so dass es, trotz ihrer Schwangerschaft, zu einer Trennung kommen muss: Nein, eine letzte Möglichkeit bleibt, nämlich, dass er bereit wäre, mit ihr zusammen sich auf Zwergenmaß einschränken zu lassen, – aber diese
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Form der »Entsagung« (die ja eine Leitfigur des Romans ist) kann er nicht leisten, am Ende befreit er sich gewaltsam aus der schon halbherzig eingegangenen Ehe und dem Zwergenwuchs. Wir wissen freilich nicht, wie genau die mündliche Erzählung im Frühjahr 1771 mit der 1821 erstmals publizierten Fassung aus dem Roman übereinstimmt, – Goethes Kommentar zu dieser Sesenheimer Episode klingt eher skeptisch, wenn er sagt: Sollte jemand künftig dieses Mährchen gedruckt lesen und zweifeln, ob es eine solche Wirkung habe hervorbringen können, so bedenke derselbe, daß der Mensch eigentlich nur berufen ist, in der Gegenwart zu wirken. Schreiben ist ein Mißbrauch der Sprache, stille für sich lesen ein trauriges Surrogat der Rede. (WA I.27, S. 373)
Und doch ist diesem berühmten Zeugnis nicht restlos zu trauen, denn gerade der mündliche Vortrag eines solchen Märchens ist offenbar nicht alleine in der »Gegenwart« Friederikes angesiedelt, sondern zugleich schon vorweggenommenes Spiegelbild der drohenden Distanzierung, also nur eine Annäherung, die zugleich einen Vorbehalt zum Ausdruck bringt. Mag dem etwas selbstverliebten und auch eher gewissenlosen Erzähler und Liebhaber des Märchens von der neuen Melusine etwas von jener Portion schlechten Gewissens angehören, die Goethe dann auch dem Weislingen im Götz oder dem Clavigo zugewiesen hat, – jedenfalls wird sich Goethe offenbar nicht auf die »kleinen« Verhältnisse der Familie Brion einlassen können, auch er steigt aus dieser Beziehung aus, deren unwahrscheinliches Gelingen er durch das ironische Scheitern der Liebe im Märchen gleichsam vorausdeutet. Es ist auffällig, dass Goethe im Rahmen dieses 10. und 11. Buches in einer Art gleitendem Übergang zunächst von Ebenbildern (WA I.27, S. 371), dann von Gegenbildern (WA I.28, S. 26) spricht, die zwischen dem Märchen und der Wirklichkeit vermitteln, später ist dann noch von Nachbildern (WA I.28, S. 28) bzw. dem Trugbild (WA I.28, S. 84) die Rede, wenn Goethe sich nach dem Abschied von Friederike in einer Art Doppelgänger-Phantasie sich selbst entgegenreiten sieht. Neben solchen semantischen Verschiebungen gibt es auch eine mediale Ebene, die der Ent-fernung von der Geliebten Rechnung trägt und die belastete Präsenz in eine zunehmend kreative Abwesenheit verwandelt. Gemeint sind nun die Briefe, die Goethe mit Friederike wechselt, die es erlauben, das Problematische der Beziehung zu verarbeiten. »Auch ich schrieb sehr gern an sie: denn die Vergegenwärtigung ihrer Vorzüge vermehrte meine Neigung auch in der Abwesenheit, so daß diese Unterhaltung einer persönlichen wenig nachgab, ja in der Folge mir sogar angenehmer, theurer wurde« (WA I.28, S. 25). Einmal mehr wird deutlich, wie sehr das Herzstück der Autobiographie, die Brücke und die Lücke über und zwischen dem 10. und 11. Buch in der Laube zu Sesenheim, als Zentrum der Goethe’schen Werkstrategie beschrieben werden kann. Un-
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mittelbar vor dem Abschied heißt es in einer etwas ausführlicheren Formulierung: Wenn gleich die Gegenwart Friederikens mich ängstigte, so wußte ich doch nichts Angenehmeres, als abwesend an sie zu denken und mich mit ihr zu unterhalten. Ich kam seltener hinaus [von Straßburg nach Sesenheim], aber unsere Briefe wechselten desto lebhafter. Sie wußte mir ihre Zustände und Heiterkeit, ihre Gefühle mit Anmuth zu vergegenwärtigen, so wie ich mir ihre Verdienste mit Gunst und Leidenschaft vor die Seele rief. Die Abwesenheit machte mich frei, und meine ganze Zuneigung blühte erst recht auf durch die Unterhaltung in der Ferne. (WA I.28, S. 81)
4.
Suizidvermeidung
Nehmen wir noch ein zweites zentrales Beispiel hinzu, die Entstehung des Werther-Romans. Dabei spielen die Vermeidung des Freitodes und die Selbsttherapie durch die Schrift eine ganz entscheidende Rolle. Wenn nämlich Goethe im 12. Buch erstmals auf den »Werther« zu sprechen kommt, schaltet er folgende Zwischenbemerkung ein: »Und indem nun der Verfasser zu dieser Stufe seines Unternehmens gelangt, fühlt er sich zum ersten Mal bei der Arbeit leicht um’s Herz: denn von nun an wird dieses Buch erst was es eigentlich soll« (WA I.28, S. 150). Die Entstehung des Romans wird aus ganz unterschiedlichen Voraussetzungen erläutert, aus der persönlich erfahrenen Begegnung mit Kestner und Charlotte Buff, aus der literarischen Melancholie-Mode sodann, und schließlich auch aus der Erschütterung durch den Selbstmord des befreundeten Jerusalem. Die psychischen Erschütterungen sind auch in der Autobiographie ernsthafter beglaubigt, als dies im folgenden Zitat deutlich werden kann; es bietet dafür das Paradigma eines Übergangs vom Dolch zur Feder, mithin für die Bannung einer Existenzkrise durch die Phantasie. Eine problematische Nähe wird durch Entfernung bearbeitet: Unter einer ansehnlichen Waffensammlung besaß ich auch einen kostbaren wohlgeschliffenen Dolch. Diesen legte ich mir jederzeit neben das Bette, und ehe ich das Licht auslöschte, versuchte ich, ob es mir wohl gelingen möchte, die scharfe Spitze ein paar Zoll tief in die Brust zu senken. Da dieses aber niemals gelingen wollte, so lachte ich mich zuletzt selbst aus, warf alle hypochondrischen Fratzen hinweg, und beschloß zu leben. Um dieses aber mit Heiterkeit thun zu können, mußte ich eine dichterische Aufgabe zur Ausführung bringen, wo alles was ich über diesen wichtigen Punct empfunden, gedacht und gewähnt, zur Sprache kommen sollte. (WA I.28, S. 220f.)
Wenige Zeilen später heißt es: Auf einmal erfahre ich die Nachricht von Jerusalems Tode. (WA I.28, S. 220f.)
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Eine Abwägung der Bestandteile von nachträglicher Dichtung und biographischauthentischer Wahrheit ist hier nicht anzustellen; vielmehr geht es mit diesem hier beschriebenen Umschlag von Lebensverzweiflung in die Schreibwerkstatt um Goethes dezidierte Stellungnahme zur Verbindung von medizinischem und poetologischem Diskurs, es geht des Weiteren um die Integration pietistischmelancholischer Selbstbeobachtungen, die Goethe ja aus eigener Erfahrung vertraut waren, und schließlich auch um die Begründung seines eigenen poetologischen Prinzips. Indem er nämlich in Dichtung und Wahrheit die WertherGestalt wieder erstaunlich nahe an seine eigene Person heranrückt, spiegelt sich in der Entstehungsgeschichte dieses Romans das autobiographische Schreiben selbst: Wenn hier, so Goethe selbst, eine »Unterscheidung zwischen dem Dichterischen und dem Wirklichen« nicht möglich gewesen sein soll (WA I.28, S. 224), wenn er sich nach der Niederschrift wie nach einer »Generalbeichte« froh und frei, »zu einem neuen Leben berechtigt« fühlte (WA I.28, S. 225), dann wird der Werther als ein Spiegel autobiographischer Literatur erst recht deutlich. Natürlich ist es schon lange ein Gemeinplatz der Goethe-Philologie geworden, die Rede von den »Bruchstücken einer großen Konfession« zu problematisieren; dass diese Konfessionalität aber ihren Kern in der Generalbeichte eines gerade in die Schrift verschobenen Freitodes hat, belegt, wie ich meine, die singuläre Stellung von Goethes Autobiographie. Diese Singularität würde ich nicht schlichtweg in einem doch eher nebulösen Niveau sehen, sondern vor allem in der Transparenz, mit der die autobiographische Schreibsituation reflektiert wird.
5.
Erkenntnistheorie und Poetik
Neben den poetischen und autobiographischen Dimensionen dieses Zusammenhangs von Annäherung durch Entfernung sind aber weitere Aspekte in den Blick zu nehmen. Dabei spielen erkenntnistheoretische und auch psychologische Beobachtungen eine wichtige Rolle. Nach einem Wiedersehen mit Carl Friedrich Zelter lässt sich der 80-jährige Goethe auf eine besondere Weise vernehmen: »Die Gegenwart hat wirklich etwas Absurdes; man meint das wär’ es nun, man sehe, man fühle sich, darauf ruht man; was aber aus solchen Augenblicken zu gewinnen sey, darüber kommt man nicht zur Besinnung. Wir wollen uns hierüber so ausdrücken: der Abwesende ist eine ideale Person; die Gegenwärtigen kommen sich einander ganz trivial vor« (WA IV.46, S. 110). Und mit einer erstaunlich dialektisch gehaltenen Vorstellung fährt Goethe fort: »Es ist ein närrisch Ding, daß durch’s Reale das Ideelle gleichsam aufgehoben wird.«3 3 In einem luziden Artikel verweist David E. Wellbery unter Hinweis auf Clément Rossets Traité de l’Idiotie, Paris 1977, jetzt auf die »Idiotie des Realen« (Wellbery 2022, S. 45).
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Demnach steht Goethes Wahrnehmung von Gegenwart und Präsenz unter einem absurden Vorzeichen, mithin unter dem Vorbehalt, dass das Reale und positiv Gegebene nicht alleine befriedigend erfahren werden kann. Der Augenblick des »Wiederfindens«, so wäre mit dem Gedicht dieses Titels aus dem Westöstlichen Divan zu sagen, lässt »die Nacht der Ferne« zwar als Abgrund und Schmerz erscheinen; gleichwohl bleibt der Moment des Wiederfindens von einem Riss geprägt, der die erlittene Ferne in die jetzt erreichte Nähe einbezieht, Eingedenk vergangner Leiden Schaudr’ ich vor der Gegenwart. (WA I.6, S. 188)
Der Gegenwart bleibt sozusagen ihre Ent-fernung eingeschrieben, ihre Unmittelbarkeit ist kaum erreichbar. Nähe und Ferne stehen im Verhältnis einer prekären Balance. Diese widersprüchliche, von Goethe bis in die Dialektik verfolgte Diskrepanz wird immer wieder in seiner Liebeslyrik entfaltet und durchgearbeitet. Aus dem Umkreis der Gedichte an Ulrike von Levetzow, aus den Marienbader Aufenthalten 1822/23, stammt ein kleiner Vierzeiler, den Goethe nicht selbst veröffentlicht hat, und der doch viele dieser Spannungen sehr deutlich auf den Punkt zu bringen vermag: Die Gegenwart weis nichts von sich, Der Abschied fühlt sich mit Entsetzen, Entfernen zieht dich hinter dich, Abwesenheit allein versteht zu schätzen. (WA I.3, S. 384)
Das für die Lida-Zeit beschworene »Glück der nächsten Nähe« erweist sich zunehmend als problematisch, denn auch das »Glück« ist mythologisch jener Fortuna-Gestalt angepasst, die davon berichtet, dass man es beim Schopf packen müsse, also bei den vorne herunterhängenden Haaren. Denn dreht sich das Glück um, ist die Gunst des Augenblicks verloren, da sie am Hinterkopf keine Haare trägt. »Da steht es nah – und man verkennt das Glück«, heißt es in einem skeptischen Vers, den Goethe in Erinnerung an den Werther geschrieben hat (WA I.3, S. 19). Als einer der Auswege aus dem Dilemma der kaum zu ergreifenden Gelegenheit bietet sich für Goethe das Stichwort des Objekts und der Objektivierung an. Immer wieder bemüht er sich, wie es etwa in den Tag- und Jahresheften für 1789 heißt, sich selbst »zu verleugnen und das Object so rein, als nur zu thun wäre, in mich aufzunehmen« (WA I.35, S. 12). Die erkenntnistheoretische Opposition von Subjekt und Objekt ist dabei eine höchst entscheidende, jedenfalls entscheidend hilfreiche Perspektive zur Beschreibung von Annäherung durch Entfernung, geht es doch um die dynamische Zusammenführung zweier Pole, die sich in ihrer Autarkie nicht als lebensfähig erweisen würden. »Wo Objekt und Subjekt sich berühren, da ist Leben« heißt es in einem Gespräch vom 28. 8. 1827
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(Parthey 1972, S. 181). Schon in einer 1792 geschriebenen naturwissenschaftlichen und erkenntniskritischen Studie geht es darum, den Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt ins Gespräch zu bringen, den Versuch gerade nicht als Beweis zu isolieren, sondern im Verbund zu stabilisieren und zu objektivieren, um die Gefahr subjektiver Beliebigkeit, also zu großer Annäherung, ohne die Entfernung zu riskieren, zu vermeiden. Die isolierten Fakten eines einzelnen Versuchs lassen sich nur dann in einen sinnvollen, und das heißt: einen objektiven Zusammenhang überführen, der mehr ist als bloße Subjektivität, wenn sie nicht unmittelbare, sondern »mittelbare Anwendung« finden, die jeweils das Ganze berücksichtigt, ohne das das Einzelne nicht gedacht werden kann (WA II.11, S. 31). Die bloße Annäherung gelingt auch im Bereich der Naturwissenschaft nicht, ohne dass die Gegenkraft der Entfernung zum Einsatz kommt. Wie sehr Goethe diese Vorstellung beschäftigt hat, zeigte sich wohl zu seiner eigenen Überraschung, als genau dieser Zusammenhang ihm von außen, somit gleichsam objektiv, als Kern seiner Identität, seiner Subjektivität, zugesprochen wurde. Wir sind bei der kleinen, aber höchst gewichtigen Schrift Bedeutende Förderniß durch ein einziges geistreiches Wort. Goethe würdigt darin die Einsicht Heinroths in seiner Anthropologie, der Goethes Denkvermögen als »gegenständlich« bezeichnet hat, was Goethe bereitwillig aufgreift, nämlich »daß mein Denken sich von den Gegenständen nicht sondere; daß die Elemente der Gegenstände, die Anschauungen in dasselbe eingehen und von ihm auf das innigste durchdrungen werden; daß mein Anschauen selbst ein Denken, mein Denken ein Anschauen sei« (WA II.11, S. 58). Unter anderem in Berufung auf die frühere Studie über den Versuch als Vermittler zwischen Subjekt und Objekt wendet sich Goethe polemisch gegen die problematische Maxime »Erkenne dich selbst«, die »den Menschen durch unerreichbare Forderungen verwirren« wolle (WA II.11, S. 59). Seine eigene Position läuft vielmehr darauf hinaus, dass der Mensch »nur sich selbst« kennen kann, »insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird« (ebd.). Das gegenständliche Denken wird weiterhin neben das gegenständliche Dichten gestellt, wonach sich in vielen Texten, besonders den Balladen wie der Braut von Corinth oder Der Gott und die Bajadere, Motive über Jahrzehnte im Gedächtnis eingeprägt haben, bevor sie dann in eigener Gestaltung wieder ans Tageslicht kommen konnten. Auch dabei ist von einem lebendigen Austausch zwischen subjektiver Affizierung und objektiver Kreativität die Rede. Wie elementar diese Erfahrung gewesen ist, gibt Goethe zu bedenken, wenn er an das »schrecklichste aller Ereignisse« erinnert, nämlich die Französische Revolution, das er ebenfalls »in seinen Ursachen und Folgen dichterisch zu gewältigen« versucht habe (WA II.11, S. 61) – übrigens ja auch wieder in einer Märchendichtung, jenem Schlussstück der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten von 1795. Dichtung wird geradezu als objektive Überlebenstaktik sichtbar,
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als kreative Distanzierung, als Narrativierung und Fiktionalisierung, durch die das traumatisch Erfahrene begrenzt und bearbeitet werden kann. In diesem Rahmen würde man etwa auch die Entstehungsgeschichte des West-östlichen Divan als Reaktion auf die Befreiungskriege beschreiben können, als Flucht in eine andere Kultur, als Überwindung der realen Krise mit Hilfe der Imagination. Solche Entlastungsmöglichkeiten bei der Bewältigung von Krisen standen Goethe offenbar in einem produktionsästhetischen Sinn zur Verfügung. Während es möglicherweise zu kurz gesprungen wäre, hier an seine Handhabung des Symbolischen zu denken, durch die es in einer Art mythischer Bilder gelingt, weit voneinander Entferntes zu bündeln und zu gestalten, kann man für zwei literarische Verfahrensweisen den Anspruch anmelden, als Mittel einer Annäherung durch Entfernung zu wirken. Ich meine die Form der Trilogie und das Mittel der Ironie. Beide stellen Möglichkeiten einer Konfliktvermeidung dar, denn in der von Goethe vielfach gepflegten Form der Trilogie, die auch für kleinere Gedichte nachweisbar ist, geht es darum, einen Stoff zu finden, »der sich naturgemäß in drei Partien behandeln lasse, so daß in der ersten eine Art Exposition, in der zweiten eine Art Katastrophe und in der dritten eine versöhnende Ausgleichung« sich ergebe. So Eckermanns Aufzeichnung vom 1. Dezember 1831 (Eckermann 1999, S. 741). Gerade die Einkreisung der Katastrophe, im Unterschied zu ihrer Endposition in der Tragödie, erlaubt eine Bewältigung, eine Annäherung durch Entfernung, indem die Krise in die Mitte rückt, aber von zwei Seiten flankiert ist, durch die das Problem zuletzt versöhnlich abgeschlossen werden kann. Die Trilogie wird zum Medium des Indirekten, des Umwegs, der die Unversöhnlichkeit des Tragischen abwendet. Ein analoges Verfahren zeigt Goethes Umgang mit der Ironie, die sich als Relativierung von Gegensätzen beschreiben lässt. Mit einer Formulierung aus der Autobiographie gesprochen geht es weniger um die schlichte und direkte Ironie als rhetorische Strategie, sondern eher um eine poetische Verfahrensweise, eine »ironische Gesinnung, die sich über die Gegenstände, über Glück und Unglück, Gutes und Böses, Tod und Leben erhebt, und so zum Besitz einer wahrhaft poetischen Welt gelangt« (WA I.27, S. 346). Ironie wird zu einem Modell ausgleichender Vermittlung, einer poetischen Relativität, die sich aus der Ferne dem Problem annähert und es damit gestaltet, statt sich von ihm beherrschen oder überwältigen zu lassen. »Mit dem Positiven«, so bekommt es Graf Sternberg in einem Brief Goethes zu lesen, »muß man es nicht so ernsthaft nehmen, sondern sich durch Ironie darüber erheben und ihm dadurch die Eigenschaft des Problems erhalten; denn sonst wird man bey jedem geschichtlichen Rückblick confus und ärgerlich über sich selbst« (WA IV.41, S. 169). Damit ergibt sich zuletzt doch wohl ein ironisches Verhältnis gegenüber dem eigenen Selbst, das ebenso als nahes wie als fernes Phänomen erscheint, wenn der
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alte Goethe davon spricht, sich selbst historisch zu werden. Der 80-Jährige gibt zu bedenken, indem »man sich selbst historisch wird«, lasse sich der Augenblick immer besser beurteilen (an Justus Friedrich Hecker, 7. Oktober 1829, WA IV.46, S. 96). Das Nahe des Augenblicks ist nicht unmittelbar, sondern mittelbar, auf dem Umweg über die Relativität des Historischen zu erkennen, es bedarf somit der Ent-fernung vom Direkten. Unmittelbarkeit und Distanz rücken auf diese Weise in ein ironisches Gleichgewicht, das auch das Vergängliche des Augenblicks ins Licht einer Unendlichkeit stellt. »Der ist der glücklichste Mensch«, heißt es in einem Aphorismus der Maximen und Reflexionen, »der das Ende des Lebens mit dem Anfang in Verbindung setzen kann« (WA I.42/2, S. 123). Auf diese Weise gewinnt die Formel von der Dauer im Wechsel ihre lebendige Dynamik, – »Laß den Anfang mit dem Ende / Sich in Eins zusammenziehn!« (WA I.1, S. 120). Und so spricht vieles dafür, dass es Goethe in einer beneidens- und bewundernswerten Weise gelungen ist, Krisenbewältigung und Kreativität, den Schmerz und seine Gestaltung zu synthetisieren, und dabei das Absurde der Gegenwart und Nähe wie auch die heikle Nacht der Ferne in eine höchst seltene Balance zu bringen.
Literatur Borges, Jorge Luis: Die letzte Reise des Odysseus. Vorträge und Essays 1978–1982. In: Werke in 20 Bänden. Hg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Bd. 16. Frankfurt am Main: Fischer 1992. Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hg. von Christoph Michel. In: Goethe, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, 40 Bde., Frankfurter Ausgabe. Hg. von Friedmar Apel u. a., Bd. II.12. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1999. Freud, Sigmund: Über den Gegensinn der Urworte (1910). In: Studienausgabe. Hg. von Alexandra Mitscherlich/Angelika Richards/James Strachey, Bd. IV: Psychologische Schriften. Frankfurt am Main: Fischer 1970, S. 229–234. Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, ›Weimarer Ausgabe‹, 133 Bde. in vier Abteilungen und 143 Teilen. Weimar 1887–1919. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer 1977. Parthey, Gustav: Ein verfehlter und ein gelungener Besuch bei Goethe. In: Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang. Auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Freiherrn von Biedermann ergänzt und hg. von Wolfgang Herwig, Bd. 3. Zürich: Artemis 1972. Wellbery, David E.: Der anekdotische Vorfall. Notiz zu einem Erzählverfahren in ›Dichtung und Wahrheit‹. In: Goethes Dichtung und Wahrheit. Spielarten autobiographischen Schreibens. Hg. von Anne Bohnenkamp und Bernhard Fischer. Berlin/Boston: De Gruyter 2022, S. 39–58.
Marina Foschi (Università di Pisa)
Zurückbleiben, bitte! Du tritt vor! Semantik und Pragmatik deutscher Wörter der Nähe und Ferne
An Hand von Textbeispielen aus verschiedenen kommunikativen Bereichen wird gezeigt, dass die deutschen Wörter aus den semantischen Bereichen der Nähe und Ferne zwischenmenschliche Relationen unterschiedlicher Art auszudrücken vermögen, wobei menschliche Nähe, Vertrautheit und Teilnahme durch »distanzierende« Sprachmittel ausgedrückt werden, während »annähernde« Mittel Distanzwunsch und Fremdheit, bis hin zu aggressivem Verhalten, signalisieren können. Semantics; Pragmatics; German Words of Immediacy and Distance.
Nähe und Ferne sind Maßeinheiten menschlicher Distanzverhältnisse, die durch vielfältige Aspekte gekennzeichnet und durch räumlich-zeitliche sowie wirtschaftliche, soziale, kulturelle und psychologische Unterschiede geprägt sind. Menschliche Annäherung bzw. Distanzierung kann aus verschiedenen Blickwinkeln sprachlich kodiert werden und sich im sozialen Umgang durch unterschiedliche Formen höflichen Benehmens sowie auch als kritische, ablehnende bis zur aggressiven Haltung manifestieren. In dieser Arbeit werden Nähe und Ferne als linguistische Forschungsobjekte zur Diskussion gestellt, indem die Semantik und Pragmatik der Wörter im sprachwissenschaftlichen Bereich und in authentischen Texten untersucht wird. Zur Ausführung des Themas wird zuerst einmal die Perspektive der lexikographischen Forschung berücksichtigt, welche die Lexeme Nähe und Ferne als Antonyme, durch die im alltäglichen Sprachgebrauch ein breites Spektrum räumlich-zeitlicher wie auch sozialer und emotionaler Relationen ausgedrückt wird, klassifiziert (Abs. 1). Danach wird auf den kategorialen Gebrauch der Wörter Nähe und Ferne im sprachwissenschaftlichen Diskurs eingegangen, wobei auf zwei berühmte linguistische Theorien Bezug genommen wird: die Theorie der Deixis (Abs. 2), nach der die Unterscheidung von Nähe und Ferne aus der Sicht der anschaulichen Orientierung im kommunikativen Verweisraum grundlegend ist, und die – auf der ersteren basierenden – Theorie des NäheDistanz-Kontinuums von Peter Koch und Wulf Oesterreicher (1985, 1990), eine
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Marina Foschi
der am meisten zitierten linguistischen Theorien der letzten Jahrzehnte (Abs. 3). Schließlich werden die Ergebnisse einer ersten Pilotuntersuchung von der sprachlichen Kodierung menschlicher Nähe-/Ferne-Beziehungen her präsentiert (Abs. 4). Die Untersuchung wird durch ein bottom-up-Verfahren an Hand von Textbeispielen unterschiedlicher Art, vor allem aber von literarischen Texten, vorgenommen. Literarische Texte stellen eine besondere Art von Textsorten dar, weil sie unter besonderen funktionalen und kommunikativen Bedingungen, d. h. »im Reich der Fiktion, aber doch verbunden mit den Fasern des realen Lebens« (Hepp 2019, S. 225) erstellt werden. Sie weisen nicht immer den notwendigen Realitätsbezug auf, der für andere kommunikative Formen typisch ist. Die Welt der Literatur – auch Maße und Distanzen – sind nicht objektiv gegeben, sondern vom Textautor modelliert.1 So wird bei der Textauswahl davon ausgegangen, dass die Untersuchung literarischer Texte eine bessere Verständigung vermitteln kann, wie Menschen Nähe/Ferne-Relationen und schließlich die Realität an sich wahrnehmen. Ein Unternehmen dieser Art mit dem Ziel, die Vielfalt der menschlichen Beziehungen zu eruieren, worauf die Wörter der Nähe und Ferne weit über ihre semantische Opposition hinaus hinweisen, könnte einen linguistischen Beitrag zur Annäherung einer auch für die Literaturwissenschaft und Philosophie grundlegenden Frage leisten (vgl. dazu Landkammer 2012, 14; Sˇlibar 2016, S. 15).
1.
Die Semantik von Nähe und Ferne
Aus semantischer Perspektive stellen Nähe und Ferne Antonyme dar, sie werden als semantische Oppositionswörter mit gegensätzlicher Bedeutung angesehen.2 Wie es für alle Antonyme der Fall ist, wird die Nähe-Ferne-Antonymie auf die Phrasen und Sätze übertragen, die diese Oppositionswörter enthalten (Vater 2005, S. 46). Da Nähe und Ferne mehrere Relationen ausdrücken können, werden die Lexeme als mehrdeutig registriert. Beispielweise werden im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) den Grundformen nah und fern anhand von Textbeispielen drei Hauptbedeutungen zugeschrieben, davon eine schematische Darstellung in Tab. 1:
1 Wie literarische Texte ein besonderes Modell der Welt mit ihrem eigenen Verweissystem versprachlichen, erklärt Krusche in seiner thematisch einschlägigen Monografie (vgl. Krusche 2001, S. 27). 2 Zum Begriff der Antonymie als »Semantische Relation des Bedeutungsgegensatzes« s. Bußmann (1990, S. 87).
Semantik und Pragmatik deutscher Wörter der Nähe und Ferne
Bedeutung 1. räumlich (nicht) weit weg
nah-Beispiele – die nahe Stadt – der nahe See, Wald – aus der näheren (und ferneren) Umgebung kommen
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fern-Beispiele – ferne Länder, Welten, Planeten – eine ferne Insel – ein ferner Knall, Schuss, fernes Echo – Und es [das Licht] kam gleich einem Sterne / Hinten aus der fernsten Ferne [Goethe, Schatzgräber]
– von dieser Katastrophe wird man noch in den fernsten Tagen sprechen – in nicht allzu ferner Zeit will er uns schreiben – Mit ihm [Voltaire] hinab sank ein Geist, gemacht, zu wirken in die weiteste Weite und in die fernste Zeit [Feuchtwanger, Füchse 616] – Erinnerungen aus fernen Tagen austauschen – die Zeit ist noch nicht fern, da …, als … – Dieser Baum wurde in ferner Vorzeit aus China nach Japan herüber gebracht [Dauthendey, Acht Gesichter 65] 3. übertragen: eng, – alle nahen Freunde, Mitar- – ich habe nicht von fern vertraut vs. geistig, beiter kamen (= nicht im geringsten) an innerlich fremd – nur die näheren, nächsten diese Folgen gedacht Verwandten waren eingela- – »Ich habe geträumt«, sagte den sie fern (= entrückt) – er ist ein naher Angehöriger [Schnitzler, Traumnoveldes Verunglückten le65] – Fern sei mir, den Zudringlichen zu spielen [Kleist, Amphitryon I, 2]
2. zeitlich (nicht) weit weg a. (nicht) weit in der Zukunft liegend, bald bevorstehend b. (nicht) weit in der Vergangenheit liegend (lange vergangen)
– etw. steht nah bevor – der Tag ist nah, an dem … – Er weiß, daß die Tage in Genf seine nächste Zukunft und vielleicht sein ganzes Leben entscheiden können [St. Zweig, Balzac 278] selten – Wie kann das sein, daß diese nahen Tage / Fort sind, für immer fort, und ganz vergangen [Hofmannsthal, Gedichte 19]
Tab. 1: Semantik der Nähe und Ferne nach dem DWDS (Lemmata nah / fern).
Der logische Gegensatz, der durch die Nähe-Ferne-Opposition ausgedrückt wird, ist nicht immer gleich. Wenn nah und fern auf physisch räumliche Dimensionen referieren, können sie als komplementäre Antonyme betrachtet werden, die eine kontradiktorische Antonymie ausdrücken, d. h. eine Relation zwischen Zuständen, die sich gegenseitig verneinen. Nähe und Ferne bezeichnen aber nicht nur einen physischen Raum. Im übertragenen Sinn verweisen sie vielmehr auch auf
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Marina Foschi
Räume der menschlichen Innerlichkeit und Interaktion – die durch binäre Kategorien schwer zu beschreiben sind.
2.
Nähe-Ferne als deiktische Kategorien
In Karl Bühlers Organon-Modell der Sprache werden Nähe und Ferne als relationale Maßeinheiten betrachtet, die vom Gesichtspunkt der Sprecher:innen ausgehen. Wie Bühler erklärt (1934/1999, S. 23), ist sprachliche Kommunikation immer in einer konkreten Situation eingebettet. Dies wird in Abb. 1 schematisch gezeigt.
Sprecher:in
Hörer:in du
Nähe iich h / hier hi / jetzt j t
Gegenstände / Sachverhalte es
Abb. 1: Karl Bühlers Modell der sprachlichen Kommunikation.
Die zeitlich-räumliche Umgebung, in der das Sprechereignis erfolgt, ist in Abb. 1 durch den elliptischen Kreis wiedergegeben, während das Dreieck die Triade reproduziert, die sich in Bühlers Modell der sprachlichen Kommunikation um das Sprachzeichen gruppiert: einerseits Sprecher:in und Hörer:in, andererseits Gegenstände und Sachverhalte der Welt (Bühler 1934/1999, S. 25). Im Zentrum des Gesprächsereignisses ist das Sprechersubjekt, das ich sagt (Diewald 1991, S. 31). Zusammen mit seinem hier und jetzt stellt das Sprechersubjekt die sogenannte origo (den ›Ursprung‹) dar. Die Unterscheidung von Nähe und Ferne dient dazu, die räumlich-zeitliche Dimension mit Bezug auf die origo sprachlich zu positionieren: Es ist ›nah‹, was in der Nähe der origo ist; was dagegen nicht in ihrer Nähe, sondern woanders liegt, ist ›nicht-nahe‹, d. h. ›fern‹ (Diewald 1991, S. 34).
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Semantik und Pragmatik deutscher Wörter der Nähe und Ferne
Wörter wie ich, hier, jetzt werden als Deiktika angesehen, weil sie nicht nur eine nennende Funktion haben, sondern zugleich »Richtungsangaben« verleihen (Diewald 1991, S. 21). Die Bedeutung deiktischer Ausdrücke ist bezugspunktgebunden, wie das folgende Beispiel zeigt: Am Telefon A Guten Tag, Frau Müller. Ist Ihr Mann da? B Tut mir leid, Herr Bauer. Nein, tut mir leid, mein Mann ist im Moment nicht da.3
Mit da referiert A auf den Standort der Adressat:innen, der fern vom Standort der Sprecher:innen liegt. Im Dialogbeitrag von B referiert da dagegen auf den Standort der Sprecher:innen, der zugleich fern vom Standort der Adressat:innen liegt. Seine Ersetzung durch hier würde zu einer semantischen Änderung führen: Mein Mann ist nicht hier bedeutet ›nicht an dem Ort, an dem ich gerade bin‹. Mein Mann ist nicht da bedeutet dagegen ›nicht an dem Ort, nach dem Sie gefragt haben‹ (Blühdorn 2002, S. 260). Ausgehend aus der origo kann das Raum-Zeit-Koordinatensystem entstehen, das »anschauliche Orientierung« und somit sprachliche Verständigung verschafft (Krusche 2001, S. 69). Lokale Nähe und Ferne werden im Deutschen durch Wörter unterschieden, die ihre Bedeutung relativ zum Bezugspunkt ändern, wie z. B. die Raumadverbien hier vs. dort/da oder Demonstrativa wie dieser/jener (Tab. 2): Bezugspunkt Sprecher:in
Nah hier
dieser
Fern woanders
Bezugspunkt Adressat:in
da
der
woanders
Bezugspunkt weder Sprecher:in noch Adressat:in
da / dort
der / jener
woanders
ein anderer ein anderer ein anderer
Tab. 2: Deiktika der Nähe und Ferne (nach Blühdorn 2002, S. 265, 267).
Gemäß einer metaphorischen Auffassung von Zeitraum können Nähe und Ferne auch auf zeitliche Dimensionen hinweisen, die relativ zum jetzt des kommunikativen Ereignisses unterschieden werden. Nahdeixis verweist – wie Abb. 2 zeigt – auf einen Zeitpunkt in der Nähe des Sprechers, Ferndeixis dagegen auf einen Zeitpunkt, der weit vom jetzt des kommunikativen Ereignisses liegt (Fricke 2007, S. 60). Auf zeitliche Relationen verweisen Adverbien wie jetzt, dann, früher, bald, demnächst, künftig sowie auch Tempora. 3 Beispiel aus Vater (1996), zitiert nach Blühdorn (2002, S. 260).
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später, morgen, nächstes Jahr dort, da Sprecher:in
Hörer:in du
Nähe ich / hier / jetzt
Gegenstände / Sachverhalte es
da, dort
vor Jahren, gestern, damals
Abb. 2: Nah- und Ferndeixis in Raum und Zeit.
Nach der Theorie der Deixis können Nähe und Ferne nicht nur als Pole der Raum-Zeit-Dimension gelten (Diewald 1991, S. 223). Sie können auch als Orientierungskoordinaten einer personalen Dimension dienen, die Art und Weise der sozialen Relation zwischen den Gesprächspartnern durch den Gebrauch von bestimmten Personalpronomen oder Anredeformeln markieren, z. B. durch die Opposition du/Sie, deren Glieder jeweils soziale Nähe und soziale Ferne ausdrücken (Abb. 3).
„Sie“ Sprecher:in
„du“ Hörer:in du
Nähe ich h / hier / jetzt jetz
Gegenstände / Sachverhalte es
„Sie“
Abb. 3: Personaldeixis der Nähe und der Ferne.
Insgesamt scheint jedoch die deutsche Sprache vor allem über Nähe/FerneDeiktika zu verfügen, die auf eine Raum-Zeit-Dimension physischer Natur verweisen.
Semantik und Pragmatik deutscher Wörter der Nähe und Ferne
3.
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Das Nähe-Distanz-Modell von Koch/Oesterreicher
Das Buch Gesprochene Sprache in der Romania: Französisch, Italienisch, Spanisch (1990) von Koch/Oesterreicher enthält einen für die Zeit innovativen Ansatz für die Beschreibung der gesprochenen Sprache, der auf der theoretischen Unterscheidung von Medium und Sprache basiert, einer Intuition, die sie dem Romanisten Ludwig Söll (1974) verdanken. Hatte Söll von code phonique und code graphique, code parlé und code écrit gesprochen, so geht es bei Koch/ Oesterreicher um Mündlichkeit versus Schriftlichkeit, gesprochene Sprache und Schriftsprache. Für die beiden Pole der Mündlichkeit und Schriftlichkeit wählen sie vorzugsweise – um mediale Assoziationen zu vermeiden – die Bezeichnungen Sprache der Nähe und Sprache der Distanz. Die Nähe-Ferne- bzw. Nähe-DistanzOpposition scheint somit im berühmten Kommunikationsmodell von Koch/ Oesterreicher eine wichtige Rolle zu spielen. Medial unterschiedliche Formen sprachlicher Interaktion entstehen nach Koch/Oesterreicher über zehn graduale Faktoren, welche die sprachliche Kommunikation beeinflussen und unterschiedliche Kommunikationsformen bedingen (ebd., S. 8–9). Innerhalb der Auflistung der zehn Kommunikationsbedingungen tauchen Nähe und Distanz zweimal auf: jeweils als Bezeichnung von relationalen (Tab. 3: Nr. 5) und physischen Dimensionen (Tab. 3: Nr. 6): 1. 2.
Privatheit Vertrautheit
3. 4.
Emotionalität Keine Anteilnahme Situations- und Handlungseinbindung Situations- und Handlungsentbindung
5. 6.
Nähe des Referenzbezugs zur Sprecher- Distanz des Referenzbezugs zur Sprecherorigo origo Physische Nähe Physische Distanz
7. 8.
Kooperation Dialogizität
9. Spontaneität 10. Themenfixierung
Öffentlichkeit Fremdheit
Unkooperativität Monologizität Reflektiertheit Freie Themenentwicklung
Tab. 3: Die zehn Bedingungen der Kommunikation im Koch/Oesterreicher Modell.
Unter Einfluss dieser Bedingungen werden vom sprechenden Subjekt bestimmte Versprachlichungsstrategien aktiviert, die medienspezifisch sind. Laut dem Kommunikationsmodell von Koch/Oesterreicher (Abb. 4) geht es im Mündlichkeitsbereich um Präferenz für Gestik und Mimik, geringen Planungsaufwand, Vorläufigkeit und Aggregation. Im entgegengesetzten Bereich der Schriftlichkeit werden vorzugsweise Versprachlichungsstrategien aktiviert, die mit der Präferenz
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für sprachliche Kontexte, höherem Planungsaufwand, Endgültigkeit und Integration zu tun haben. KOMMUNIKATIONSBEDINGUNGEN • Privatheit • Vertrautheit • Emo!onalität • Situa!ons- und Handlungseinbindung • Nähe des Referenzbezugs zur Sprecher-origo • Physische Nähe • Koopera!on • Dialogizität • Spontaneität • Themenfixierung
kommunika!ve Distanz
graphisch phonisch
VERSPRACHLICHUNGSSTRATEGIEN • Präferenz für Ges!k, MImik • geringer Planungsaufwand • Vorläufigkeit • Aggrega!on
Nähesprechen
KOMMUNIKATIONSBEDINGUNGEN • Öffentlichkeit • Fremdheit • Keine Anteilnahme • Situa!ons- und Handlungsentbindung • Distanz des Referenzbezugs zur Sprecher-origo • Physische Distanz • Unkoopera!vität • Monologizität • Reflek!ertheit • Freie Themenentwicklung VERSPRACHLICHUNGSSTRATEGIEN • Präferenz für sprachliche Kontexte • hoher Planungsaufwand • Endgül!gkeit • Integra!on
Schri!lichkeit
Mündlichkeit
kommunika!ve Nähe
Distanzsprechen
Abb. 4: Das Kommunikationsmodell von Koch/Oesterreicher.
Den entgegengesetzten Polen der Mündlichkeit und der Schriftlichkeit entsprechen im Modell einerseits die oppositiven Dimensionen kommunikative Nähe und kommunikative Distanz (oben in Abb. 4), andererseits die sprachlichen Systeme, die als Nähesprechen/Distanzsprechen bezeichnet werden (unten in Abb. 4) (ebd., S. 10). Aus ihren empirischen Untersuchungen der gesprochenen Sprachen Französisch, Italienisch und Spanisch erkennen Koch/Oesterreicher besondere Merkmale auf den verschiedenen Ebenen der Gesprächs- und Textstruktur: z. B. Gesprächswörter wie Gliederungs-, Turn-taking- und Kontaktsignale, (ebd. 1990, S. 51–57), Phänomene der Überbrückung wie Pausen und Wiederholungen, Korrekturen und Abbrüche, Interjektionen und Abtönungsphänomene (ebd., S. 60–67), syntaktische Besonderheiten wie constructio ad sensum, Anakoluthe, Kontaminationen, Nachträge, Engführungen, unvollständige Sätze (ebd., S. 83– 86) usw. In Koch/Oesterreicher erweist sich somit der Gebrauch der Wörter Nähe und Distanz für die Bezeichnung des Sprechens als ein metaphorischer. Nähesprachliche Mittel entsprechen nicht immer Wörtern aus dem semantischen Bereich der Nähe. Sie verweisen nicht, wie Deiktika, auf die relationale NäheDistanz-Dimension. Sie werden als »nähesprachlich« bezeichnet, weil sie innerhalb einer Dimension kommunikativer Nähe entstehen. Die relationale Nähe-Distanz-Dimension, die zu einer mehr oder weniger informalen bzw. formalen Gestaltung des Gesprächs führt, wird im Koch/Oesterreicher-Modell durch Elemente charakterisiert, die sowohl physischer als auch sozialer und emotiver Natur sind: als solche werden z. B. Privatheit, Vertrautheit, Emotionalität (vgl. Tab. 3, Nr. 1–3) genannt. Innerhalb der zwei Pole der Münd-
Semantik und Pragmatik deutscher Wörter der Nähe und Ferne
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lichkeit/Nähe und der Schriftlichkeit/Distanz wird dabei zwischen Sprachmitteln, die sich auf eine räumlich-zeitliche Dimension der Nähe-Distanz beziehen, und solchen, die auf die innerlich-soziale Dimension derselben hinweisen, keine scharfe Unterscheidung vorgenommen. Anders als die Theorie der Deixis, die zwischen Raum-, Zeit- und Personaldeixis differenziert, werden in Koch/Oesterreicher Nähe und Distanz als begrifflich definierte Fachwörter verwendet (vgl. Kreuz 2016, S. 77), in deren Auffassung die beiden Dimensionen irgendwie vermischt und begrifflich integriert sind. Seit der Erscheinung der einschlägigen Publikationen (Koch/Oesterreicher 1985; 1990) wird die Nähe-Distanz-Opposition auch im Bereich der sprachwissenschaftlichen Germanistik (vgl. Feilke 2016, S. 120) vorwiegend medienspezifisch interpretiert und zur Beschreibung der gesprochenen Sprache verwendet. Auch wenn ihre allgemeine Anwendung durch die neue Perspektive der internetbasierten Kommunikationsformen kritisiert wird (u. a. Dürscheid 2003; Schneider 2016), stellt das Nähe-Distanz-Kontinuum-Modell auch heute – erweitert durch Ágel/Henning (2007) – einen grundlegenden Ansatz für die Erforschung der gesprochenen Sprache und insgesamt für neuere pragmatisch orientierte sprachwissenschaftliche Ausrichtungen dar. Durch die Untersuchung von Sprachmitteln wie Anredeformel (du vs. Sie), Verbmodus (Indikativ vs. Konjunktiv), Satztyp (Fragesatz vs. Imperativsatz) konnte beispielweise die Höflichkeitsforschung feststellen, dass sich im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahren ein Übergang von der »traditionellen, etikettenhaften Distanzhöflichkeit« zu einer »Höflichkeit der Nähe und Vertrautheit« (Ehrhardt/Neuland 2021, S. 70) ergeben hat.4 An Hand des Modells von Koch/Oesterreicher wird bei der Untersuchung der sprachlichen Kodierung der Nähe und Distanz ein top-down-Verfahren vorgenommen. Im Folgenden wird ein andersartiges bottom-up-Verfahren verwendet, um die Semantik und Pragmatik der Wörter der Nähe und Ferne in authentischen Texten zu untersuchen.
4.
Nähe und Ferne als Wörter-in-Texten
Wie die Textbeispiele aus dem DWDS in Tab. 1 zeigen, werden in der Regel die Wörter Nähe und Ferne als konverse Antonyme verwendet, um eine Relation auszudrücken, die »die Polarität zwischen zweistelligen Prädikaten bezeichnet und als Äquivalenz-Beziehung definiert wird« (Bußman 1990, S. 423, Lemma Konversion). Wörter aus den semantischen Bereichen der Nähe und Ferne 4 Eine empirische Studie zum Höflichkeitswandel in der bundesdeutschen Sprachgemeinschaft der vorausgehenden fünfzig Jahre hat an Hand von Texten der Geschäftskorrespondenz Katrin Ankenbrand in ihrer im Jahr 2013 vorgelegten Dissertation ausgeführt.
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werden dazu verwendet, um physische Distanz zwischen Gegenständen und menschlichen Distanz-Beziehungen zu definieren, indem diese entweder als nah oder als fern wahrgenommen werden. Darüber hinaus ermöglicht die konverse Nähe-Ferne-Antonymie, durch Komparativformen (z. B. näher als, am weitesten usw.) unterschiedliche Distanz-Abstufungen zu beschreiben. Normalerweise werden Nähebeziehungen durch Wörter der Nähe formuliert und umgekehrt. In authentischen Texten kommen Wörter der Nähe und Ferne vor, die auf außergewöhnliche Weise gebraucht werden. Es können etwa Textstellen gefunden werden, in denen sprachliche Mittel verwendet werden, die auf eine räumliche Nähe-Distanz verweisen, die mit der emotiven Annäherung/Entfernung der Personen nicht übereinstimmt: Menschliche Nähe, Vertrautheit und Teilnahme werden durch »distanzierende« Sprachmittel ausgedrückt, während »annähernde« Mittel Distanzwunsch und Fremdheit, bis hin zu aggressivem Verhalten, signalisieren können. Textstellen dieser Art zeigen Inkongruenz zwischen der Semantik der Sprachmittel (Nah- bzw. Fernmittel) und der kommunikativen Absicht, die die entsprechenden Äußerungen vermitteln. Ein Beispiel dieser Art ist der Satz zurückbleiben bitte. Die Aufforderung, zurückzubleiben, kann mit einer negativen Erfahrung assoziiert werden. In seiner Bedeutung ›nicht mitkommen, nicht mitgenommen werden‹ (Duden-Wörterbuch online) deutet das Verb zurückbleiben auf eine negative Handlung an (= jemand kommt nicht mit, wird nicht mitgenommen), woraus menschliche Entfernung resultiert: Während einige gehen, bleibt jemand an der Stelle, von der man sich entfernt (DWDS). Aber in der traditionellen Ansage, die U-BahnFahrgäste auffordert, sich vom abfahrbereiten Zug zu entfernen (Abb. 55), dient das »Verb der Ferne« zurückbleiben dazu, eine wohlwollende Botschaft zu vermitteln, die auf die Sicherheit der Fahrgäst:innen hinzielt.
Abb. 5: Standbild aus dem Video Unterwegs mit dem Münchner Kindl – »Zuru¨ckbleiben bitte!«.
5 Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=O6fTuyrAXIY/ [letzter Zugriff am 10. 12. 2022].
Semantik und Pragmatik deutscher Wörter der Nähe und Ferne
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Ein ähnlicher Fall stellen Textvarianten dar, die in Covid-Zeiten produziert wurden, wie z. B. Abstand halten, Sei ein Held! Halte Abstand. Die Aufforderung, Abstand zu halten, wird in diesen Texten mit der Absicht formuliert, die Gesundheit der aufgeforderten Person und die von anderen zu schützen. Umgekehrt ist der Fall bei der Aufforderung Du tritt vor! Das Verb vortreten ist mit der Präposition vor gebildet, die eine Bewegung nach vorn suggeriert. Der Satz könnte so interpretiert werden, als ob der Sprechende den Wunsch ausdrücke, dass sich ihm der Gesprächspartner nähern solle. In Schillers Wilhelm Tell (dritte Szene, dritter Aufzug) wird der Imperativsatz (vorletzte Zeile in der unten wiedergegebenen Textstelle) vom Burgvogt Gessler ausgesprochen, der Tell für sein Versagen, Gesslers Hut beim Vorübergehen den Ehrengruß zu schenken, am Ende der Szene den grausamen Befehl erteilt, mit seiner Armbrust einen Apfel vom Kopf seines Sohns zu schießen. Schwer zu glauben, dass der tyrannische Landvogt durch diesen Satz einen Wunsch nach menschlicher Nähe formuliert: Gessler: Treibt sie auseinander! Was läuft das Volk zusammen? Wer ruft Hilfe? Allgemeine Stille. Wer war’s? Ich will es wissen. (Zu Friesshardt:) Du tritt vor! Wer bist du und was hältst du diesen Mann? (Schiller, Wilhelm Tell, III, 3)
In der dritten Szene des vierten Aufzugs kommt ein ähnlicher Ausdruck vor (erste Zeile des Zitats): Komm du hervor, du Bringer bittrer Schmerzen, Mein teures Kleinod jetzt, mein höchster Schatz – Ein Ziel will ich dir geben, das bis jetzt Der frommen Bitte undurchdringlich war – Doch dir soll es nicht widerstehn – Und du Vertraute Bogensehne, die so oftMir treu gedient hat in der Freude Spielen, Verlass mich nicht im fürchterlichen Ernst. Nur jetzt noch halte fest du treuer Strang, Der mir so oft den herben Pfeil beflügelt – Entränn er jetzo kraftlos meinen Händen, Ich habe keinen zweiten zu versenden. (Schiller, Wilhelm Tell, IV, 3)
Der Ausdruck Komm du hervor wird Tell zugeschrieben, als er in der »hohlen Gasse« auf Gessler lauert, um den Tyrannen zu ermorden. Der Wunsch nach der physischen Annäherung des Du an das Sprechersubjekt drückt auch hier, d. h. in der kommunikativen Situation, die der Text einführt, alles andere als Menschenliebe aus. Eine weitere Inkongruenz zwischen Semantik und kommunikativer Absicht erweist sich hier auf der Ebene der sprachlichen Höflichkeit, d. h. in der
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sprachlichen Realisierung dessen, was Ehrhardt/Neuland (2021, S. 82) »die Rücksichtnahme auf den/die HörerIn« definieren. Die traditionelle Etikette verlangte im Allgemeinen unter noch nicht gut vertrauten Personen Formen der sogenannten »Distanzhöflichkeit«, was sich u. a. durch pronominale Anredeformen der sozialen Distanz (Sie) manifestieren. Informelles Du außerhalb des Familienkreises kann als Zeichen außerordentlicher Nähe und Vertrautheit gelten sowie eine negativ beurteilende, ablehnende Haltung, Missachtung oder Verachtung signalisieren – wie es in Schillers Belegen der Fall ist. In anderen Textstellen werden Nähe und Ferne lexikalisch oder grammatisch so verwendet, dass sie bestimmte, »ungewöhnliche« Distanzrelationen ausdrücken. Die beiden Lexeme können z. B. zusammengesetzt werden, um besondere Bedeutungen zu kodieren. Beispielsweise wird im folgenden Textbeleg aus einem Bloggerbeitrag in einer Website, die sich mit Leipzig-Fußballereignissen beschäftigt, durch die neuen Wortbildungen fernnah und nahnah eine graduelle Antonymie zwischen den Polen geschaffen: How to survive Bundesliga – kein Guide Denn die letzten Versuche mit der höchsten Liga des Landes lagen schon 20 Jahre zurück und waren als lockere Liebelei mit dem BVB eher fernnah als nahnah. (Roteausblogger)
In einem zweiten Textbeleg aus einem Artikel der »Rhein-Zeitung« wird das Adjektiv fernnah gebraucht, um auf die außergewöhnliche Dimension »zwischen Himmel und Erde« (bzw. Erdenferne und Himmelsnähe) hinzuweisen, die die Lebenserfahrung und die fantastische Welt von Antoine de Saint-Exupéry charakterisiert. Die semantische Opposition zwischen den Polen fern und nah wird somit überwunden: Rhein-Zeitung, 23. 11. 2000 Zwischen Himmel und Erde hat der kühne Pilot de Saint-Exupéry in seiner fliegenden Kiste diesen zauberhaften Erfahrungsbericht konzipiert, in dem zwischen Erdenferne und Himmelsnähe der Mensch die Bekanntschaft von einem liebenswerten Wesen macht, dem einzigen Bewohner eines fernnahen Planeten. (DWDS-Zeitungskorpus)
Genau in diesem Sinn taucht das Wort fernnah auch in Freuds Traumdeutung auf. In Kapitel 6, in dem von den »Darstellungsmittel(n) des Traumes« die Rede ist, erklärt Freud, dass für den Traum keine Gegensätze existieren. Im Traum, so Freud, werden diese vielmehr »zu einer Einheit zusammengezogen oder in einem dargestellt«: Höchst auffällig ist das Verhalten des Traumes gegen die Kategorie von Gegensatz und Widerspruch. Dieser wird schlechtweg vernachlässigt, das »Nein« scheint für den Traum nicht zu existieren. Gegensätze werden mit besonderer Vorliebe zu einer Einheit zusammengezogen oder in einem dargestellt. Der Traum nimmt sich ja auch die
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Freiheit, ein beliebiges Element durch seinen Wunschgegensatz darzustellen, so daß man zunächst von keinem eines Gegenteils fähigen Elemente weiß, ob es in den Traumgedanken positiv oder negativ enthalten ist. (Freud 1900/1914, S. 237)
Dieser Stelle fügt Freud eine Fußnote bei, in der er eine Arbeit des Altphilologen Carl Kalonymos Abel (1837–1906) erwähnt: [Fußnote] Aus einer Arbeit von K. Abel, Der Gegensinn der Urworte, 1884 (siehe mein Referat im Jahrbuch f. PsA. II, 1910 [Ges. Schriften, Bd. X]), erfuhr ich die überraschende, auch von anderen Sprachforschern bestätigte Tatsache, daß die ältesten Sprachen sich in diesem Punkte ganz ähnlich benehmen wie der Traum. Sie haben anfänglich nur ein Wort für die beiden Gegensätze an den Enden einer Qualitäten- oder Tätigkeitsreihe (starkschwach, altjung, fernnah, binden-trennen) und bilden gesonderte Bezeichnungen für die beiden Gegensätze erst sekundär durch leichte Modifikationen des gemeinsamen Urworts. Abel weist diese Verhältnisse im großen Ausmaße im Altägyptischen nach, zeigt aber deutliche Reste derselben Entwicklung auch in den semitischen und indogermanischen Sprachen auf. (Freud 1900/1914, S. 237)
Abels Werk entnimmt Freud die »überraschende, auch von anderen Sprachforschern bestätigte Tatsache«, dass sich alte Sprachen (z. B. das Altägyptische) ähnlich wie der Traum verhalten und durch einzelne Wörter polare Oppositionen auszudrücken vermögen, darunter ›fernnah‹. Damit führt Freud die deutsche Wortbildung fernnah ein, die auch heute – wie wir gesehen haben – in der Presse- und Internetsprache verwendet wird. Auf die einheitliche, schwankende Dimension der Nähe/Ferne kann die deutsche Sprache auch mit grammatischen Mitteln verweisen. Ein Textbeleg dieser Art stammt aus Goethes Faust I, Szene Wald und Höhle: Ich bin ihr nah, und wär ich noch so fern Ich kann sie nie vergessen, nie verlieren; Ja, ich beneide schon den Leib des Herrn, Wenn ihre Lippen ihn indeß berühren. (Goethe, Faust I, 3332–3335)
Der Verweis ist hier auf Nähe/Ferne-Relationen unterschiedlicher Natur: Es geht hier um eine emotive und gleichzeitig um eine physische Dimension der Distanz. Im sprachlichen Bild, das in der ersten Zeile des Zitats enthalten ist, werden die disparaten Dimensionen (emotiver) Nähe versus (physischer) Distanz durch die grammatische Konjunktion der Sätze vereinheitlicht, die die Nähe-Ferne-Antonymie enthalten: Ich bin ihr nah, und wär ich noch so fern. Ein zweiter Textbeleg stammt aus dem Kapitel 8 des dritten Teils von Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften, das den Titel Familie zu zweien trägt. Die Textstelle vermittelt die Perspektive Agathes, die ihre schwankende Haltung Ulrichs Worten gegenüber, die sie als nah und zugleich als fern wahrnimmt, wiedergibt:
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Agathe wundert sich darüber, daß sich seine Worte so oft von ihr wieder entfernen, wenn sie schon ganz nahe gewesen sind. (Musil 1978, Bd. 3, S. 716).
Die gleichzeitige Attribution der gegensätzlichen Eigenschaften der Nähe und Ferne – die als Zeichen der »Eigenschaftslosigkeit« der männlichen Hauptfigur des Romans interpretiert werden kann – erfolgt durch die wenn-Konnexion der Aussagen, die die Nähe-Ferne-Antonymie enthalten: seine Worte […] entfernen [sich], wenn sie schon ganz nahe gewesen sind. An einer späteren Stelle des Romans (Kapitel 24) wird die Perspektive Ulrichs wiedergegeben, für den die Realität vor der wirklichen Präsenz Agathes einen außergewöhnlichen Aspekt einnimmt: Ulrich empfing ihren heiteren Blick und betrachtete dabei ihr Gesicht, das ihm über dem etwas zerknitterten Reisekleid, das sie noch anhatte, plötzlich silberglatt vorkam und so wunderlich gegenwärtig, daß es ebenso nahe wie weit von ihm war oder daß sich Nähe und Ferne in dieser Gegenwart aufhoben, so wie der Mond aus Himmelsweiten plötzlich hinter dem Dach des Nachbarn erscheint. (Musil 1978, Bd. 3, S. 894).
Agathes Gesicht wird durch die oppositiven Adjektive nahe und weit relativ zur origo (Ulrich) sprachlich positioniert. Das Sprengen der gewöhnlichen Wahrnehmungskoordinaten wird im Text durch ein besonderes Zeitmaß bedingt: die »gegenwärtige« Gegenwart, die Dauerhaftigkeitscharakter zu haben scheint, indem sie Nähe und Ferne – die zwei Pole der Raum- und Zeitachsen – aufhebt.
5.
Fazit
Im gegenwärtigen sprachwissenschaftlichen Diskurs werden die Wörter Nähe und Distanz als begriffliche Kategorien verwendet und somit von ihrer Semantik im Wesentlichen losgelöst. Die hier erfolgte Analyse der Nähe- bzw. Distanzsprache hebt Sprachmittel hervor, die Indikatoren einer »metaphorischen« Dimension der Nähe und Ferne sind. Es handelt sich in den meisten Fällen um Sprachmittel, die menschliche Nähe oder Ferne suggerieren, ohne sie durch einschlägige Wörter zu benennen oder die entsprechenden semantischen Bereiche zu thematisieren. Als Nähe und Distanz werden jeweils als die kommunikativen Orte der Mündlichkeit und der Schriftlichkeit bezeichnet. Die entsprechenden Kategorien werden dazu verwendet, spezifische Sprachphänomene zu isolieren und zu beschreiben. Das fast ausschließlich mit Fragen der Medialität verbundene Nähe-Distanz-Modell von Koch/Oesterreicher erscheint aus diesem Grund als unzulänglich, um eine systematische Untersuchung und Klassifizierung der Semantik und Pragmatik der Nähe-Ferne-Opposition auszuführen. Dass dies ein lohnendes Projekt sein könnte, um eine bessere Einsicht
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zu geben, wie Distanz in zwischenmenschlicher Kommunikation sprachlich kodiert, hat die vorgenommene Pilotuntersuchung aufzuzeigen versucht. Als Wörter-in-Texten weisen Nähe und Ferne reichhaltige Möglichkeiten auf, unterschiedliche Arten der Annäherung bzw. Distanzierung unter Menschen auszudrücken. Sie können dazu dienen, raumzeitliche Koordinaten anschaulich zu machen. Außerdem kann ein kreativer Gebrauch solcher Wörter helfen, geistige und emotionale Faktoren, von denen menschliche Relationen der Nähe/ Ferne abhängig sind, auszudrücken. Durch die hier präsentierte Pilotuntersuchung konnten Verwendungen der Lexeme nah und fern beobachtet werden, die nicht nur auf den Ausdruck einer objektiv messbaren Distanz als relativer Größe hinzielen. Um innere Dimensionen der Distanz auszudrücken kann dabei auf die Grauzone verwiesen werden, in welcher der Ausdruck menschlicher Nähe nicht immer auf »Nähe« – d. h. auf Zugehörigkeit, Vertrauen, Sympathie, Akzeptanz und Mitgefühl – hinweist und umgekehrt. Andere Textstellen zeigen, dass Nähe und Ferne auch dazu verwendet werden, um auf diejenige bewegliche Dimension der Innerlichkeit anzuspielen, in der die Nähe-Ferne-Opposition als einheitliche und zugleich schwankende Dimension der Realität und zugleich der menschlichen Wahrnehmung vorkommt.
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Moira Paleari (Università degli Studi di Milano)
Autobiographische Selbstdarstellungen als Ausdruck von Nähe und Distanz: das Beispiel von Else Lasker-Schülers Mein Herz (1912) und Wassily Kandinskys Rückblicke (1913)
Dem Begriffspaar Nähe und Distanz kommt in autobiographischen Selbstdarstellungen eine große Bedeutung zu. Die Modelle seiner Regulierung im Expressionismus werden anhand der verschiedenen Modalitäten der textuellen Gestaltung und Inszenierung von Leben und Kunst im avantgardistischen ›Briefroman‹ Mein Herz (1912) von Else Lasker-Schüler und in der autobiographischen Schrift Rückblicke (1913) von Wassily Kandinsky herausgearbeitet. Autobiographical Self-Representation; Expressionism; Life and Art; Proximity; Distance.
Den Begriffen von Nähe und Distanz kommt in autobiographischen Selbstdarstellungen eine große Bedeutung zu, obwohl sie in der bisherigen Forschung eine eher marginale Rolle spielen, und wenn sie ins Spiel gebracht werden, dann eher indirekt in Bezug auf die teilweise pauschalisierende Formel Referenz/Wahrheit = Nähe versus Fiktion/Dichtung = Distanz. In meinem Beitrag werde ich mich deshalb der Bedeutung des Begriffspaares Nähe und Distanz für die Autobiographik widmen, wobei ich den Fokus meiner Ausführungen auf drei Punkte legen werde: Erstens werde ich einführende Überlegungen über das traditionelle Gattungsverständnis von Autobiographie in Bezug auf die Konzepte von Nähe und Distanz anstellen. Zweitens werde ich meine Aufmerksamkeit auf die Interdependenzen zwischen Nähe und Distanz in der autobiographischen Prosa des Expressionismus richten. Drittens werde ich die unterschiedlichen Modalitäten der textuellen Gestaltung und Inszenierung von Leben und Kunst im ›Briefroman‹ Mein Herz (1912) von Else Lasker-Schüler und in der autobiographischen Schrift Rückblicke (1913) von Wassily Kandinsky herausarbeiten, um die Modelle der Regulierung von Nähe und Distanz, auf denen sie gründen, aufzuzeigen.
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Moira Paleari
Nähe und Distanz in der Autobiographik
Autobiographie im Sinne des traditionellen Gattungsverständnisses definiere ich als eine zusammenhängende Rückbesinnung des schreibenden Ichs – einer tatsächlichen Person – auf das eigene Leben oder auf größere Lebensabschnitte in Form einer Annäherung des erzählenden Ichs an seine Vergangenheit und durch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Identität sowie mit der Geschichte seiner Persönlichkeit aus einer rückblickenden Perspektive.1 Diese Begriffsbestimmung, die vor allem auf einer zusammenfassenden Auswertung der Definitionen der Gattung Autobiographie von den Pionieren der Autobiographieforschung Georg Misch und Philippe Lejeune fußt,2 enthält mindestens zwei wichtige Elemente, die es mir erlauben, das Genre der Autobiographie mit den Kategorien von Nähe und Distanz in Verbindung zu bringen. Die Termini Nähe und Distanz werden dabei in den Definitionsversuchen zwar nicht explizit genannt, aber doch implizit ins Spiel gebracht. Das erste konstituierende Element der Autobiographie bildet die Rückbesinnung bzw. der Rückblick, welcher auf die Perspektive hinweist, aus der erzählt wird. Es ist die Erinnerung, welche die Vergangenheitsform des Erlebnisses markiert, die das Erlebte wieder aufruft und näher an die Gegenwart heranführt, wobei das autobiographische Ich nicht umhin kann, in die erinnerten Tatsachen das nachträglich erlangte Wissen um deren Bedeutung für das weitere Leben miteinzubeziehen, was das Risiko in sich birgt, sich von den Fakten zu distanzieren oder diese gar zu entstellen bzw. zu verfälschen. Dieser negativen Seite autobiographischer Erinnerung entspricht eine positivere, wenn man die Erinnerung in ihrer Funktion einer nachträglichen Sinnstiftung betrachtet, d. h. sie als Nähe des gegenwärtigen Erlebens des Ichs interpretiert, »das die Vergangenheit in sich zusammenhält« (Misch 1989, S. 47). Eine Nähe, die dank der textuellen Verarbeitung möglich wird, durch die das Subjekt seine Vergangenheit immer wieder neu erfindet und so einen Akt der Selbstdeutung vollzieht. Das zweite wichtige Element der Definition der Autobiographie bildet – neben der rückblickenden Perspektive – die Auseinandersetzung des schreibenden, erzählenden Ichs mit der eigenen Identität und der Geschichte seiner Persönlichkeit. Dabei bearbeitet das autobiographische Ich die Episoden seiner Biographie sowohl mittels eines selbstreferentiellen Blicks auf die Fakten des eigenen Lebens als auch mittels des Einsatzes der Fiktion, worauf bereits Goethes Werk Dichtung und Wahrheit aufmerksam macht. So schrieb Goethe in einem Brief an König Ludwig von Bayern im Dezember 1829, dass es nicht möglich sei, 1 Vgl. u. a. die Definitionen von Autobiographie von Holdenried 2000; Wagner-Egelhaaf 2005; Niggl 1989. 2 Vgl. Misch 1949, S. 3–21; Misch 1989, S. 33–54; Lejeune 1973, S. 137–162; Lejeune 1975.
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das eigene Leben zu schildern, »ohne die Rückerinnerung und also die Einbildungskraft wirken zu lassen«, und der Autobiograph nicht umhinkomme, »das dichterische Vermögen auszuüben«.3 Diese Kombination von Faktizität und Fiktionalität führt zu einer bewussten Distanzierung vom Faktischen bei gleichzeitiger Annäherung an das Fiktionale oder umgekehrt, wobei dies variieren kann – je nach Entfernung von der historischen Wahrheit bzw. je nach Einsatz von Stilisierungen, Auslassungen, Gedankenbrüchen und dem Verschweigen bestimmter Erlebnisse, und natürlich je nach Konstruktionsgrad des Textes. Sowohl die temporale Distanz der Perspektive des Schreibenden als auch die gezielt eingesetzte Mischung von Fakten und Fiktion erzeugen somit eine Mixtur aus Nähe und Distanz, die, trotz der Gegensätzlichkeit beider Begriffe, als komplementär anzusehen und nur in ihrer Wechselwirkung zu begreifen ist. Durch die Narrativierung der erinnerten Erlebnisse, die aus der Distanz des in der Gegenwart stattfindenden Schreibvorgangs erfolgt, kommt das Ich seiner Existenz näher und erschafft sich eine Identität – die Fiktion produziert somit die autobiographische Realität.4 Beide für die Definition der Autobiographie im traditionellen Gattungsverständnis genannten unabdingbaren Elemente – die Vergegenwärtigung des Vergangenen und die Verknüpfung von Fakt und Fiktion – erweisen sich auch in der autobiographischen Selbstdarstellung der Moderne, insbesondere in der des Expressionismus, als schlüssige Konzepte.
2.
Interdependenzen zwischen Nähe und Distanz in expressionistischen Selbstdarstellungen
Die Autobiographik des Expressionismus – von den Selbstdarstellungen Kandinskys über die Selbstbiographie von Salomo Friedländer bis hin zu Else LaskerSchülers Lebensbruchstücken –5 zeigt bei aller Vielfältigkeit eine große Übereinstimmung bei den folgenden Strukturelementen und Themenkomplexen: 3 […] es war mein ernstestes Bestreben das eigentliche Grundwahre, das, insofern ich es einsah, in meinem Leben obgewaltet hatte, möglichst darzustellen und auszudrücken. Wenn aber ein solches in späteren Jahren nicht möglich ist, ohne die Rückerinnerung und also die Einbildungskraft wirken zu lassen, und man also immer in den Fall kommt gewissermaßen das dichterische Vermögen auszuüben, so ist es klar, daß man mehr die Resultate und, wie wir uns das Vergangene jetzt denken, als die Einzelheiten, wie sie sich damals ereigneten, aufstellen und hervorheben werde. Brief von Goethe an König Ludwig I. von Bayern vom 17. 12. 1829, abgesandt am 12. 1. 1830. In: Goethe II, 11/II, S. 208–212, hier S. 209. 4 Vgl. Finck 1995, S. 311–323. Siehe auch Finck 1999. 5 Als Beispiele literarischer Formen der Selbstdarstellung in der expressionistischen Zeit gelten Tagebücher (wie die von Georg Heym, Franz Kafka oder Hugo Balls Die Flucht aus der Zeit,
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Erstens: Expressionistische Lebensbeschreibungen zeugen von einer Distanzierung bzw. ambivalenten Auseinandersetzung mit dem traditionellen Gattungsverständnis. An die Stelle der retrospektiven und teleologisch verfahrenden Prosaerzählung tritt nun die fragmentierte und teilweise unzusammenhängende Schilderung der eigenen Erlebnisse, häufig in tagebuchartigen Notaten. Dabei erweist sich häufig die erstrebte Einheitlichkeit des Lebens als mangelhaft, und nur im Diskontinuierlichen, Unvollständigen und Punktuellen der Darstellungsform findet sich die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit der eigenen Vita. Zweitens: Die Autor:innen versichern sich nicht mehr ihrer Identität, wie es im 19. Jahrhundert der Fall war, sondern gehen vielmehr auf Distanz zu ihr. Die für andere literarische Formen der Moderne geltende Offenheit wird auf die Autobiographie übertragen, und an die Stelle des individuellen Entwicklungsgangs tritt das Ich mit seinen momenthaften Verwandlungen und Maskeraden. Drittens: Die Fiktionalisierung und die Distanzierung von der historischen Wirklichkeit werden bewusst eingesetzt, um der ästhetischen Wahrheit mehr Platz einzuräumen. Historische Fakten und imaginäre Abenteuer, autobiographische und fiktive Erlebnisse sind integrale Textbestandteile einer einzigen (erzählten) Welt, die aus paradoxen Behauptungen, aus offenkundig ironischen Spielen und aus einem permanenten Rollentausch experimentierfreudig konstruiert wird. Mit Hilmes gesagt: »das inventarische (Ich) verwandelt sich in ein inventorisches Ich«,6 neben der Selbstfindung wird auch, oder nur, eine Selbsterfindung vorgenommen. Viertens: Das Erzählen über das eigene Leben dient dem schreibenden Subjekt hauptsächlich dazu, über die Kunst selbst oder über das Verhältnis von Leben und Kunst zu reflektieren. Das schreibende Ich distanziert sich vom eigenen Leben oder nimmt dieses als Anlass, um selbstreflexiv, kritisch oder spielerisch ein künstlerisches Glaubensbekenntnis abzulegen. Überspitzt gesagt: Die Lebenspraxis wird in Kunst überführt, und Kunst verwandelt sich in Lebenspraxis. Diese Strategien und Verfahren der expressionistischen Autobiographik zeigen sich in den Werken von Else Lasker-Schüler und Wassily Kandinsky, anhand derer ich die Merkmale autobiographischen Schreibens im Expressionismus herausarbeiten werde. Zwar können beide Texte angesichts der Vielzahl der autobiographischen Werke aus dieser Zeit lediglich exemplarischen Wert bean-
1927), autobiographische Skizzen (wie die im Anhang der von Kurt Pinthus herausgegebenen Anthologie Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung, 1919, enthaltenen Kurztexte) sowie die biographischen und künstlerischen Profile der Sammlungen Schöpferische Konfession, herausgegeben von Kasimir Edschmid im Erich Reiss Verlag (Berlin 1920) und Künstlerbekenntnisse, herausgegeben von Paul Westheim im Propyläen Verlag (Berlin 1925). 6 Vgl. Hilmes 2000, S. 16 und 388.
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spruchen; sie weisen aber die Hauptelemente autobiographischen Schreibens im Expressionismus in besonders eindrücklicher Form auf.
3.
Kunst- und Lebenspraxis: das ungleiche Gespann Else Lasker-Schüler und Wassily Kandinsky
Lasker-Schüler und Kandinsky: ein ungleiches Duo, deren Lebensdarstellungen sich jedoch in einem Punkt treffen, und zwar in der engen Verzahnung von Leben und Kunst. Bei Lasker-Schüler ist dabei die Überführung des Lebens in Kunstpraxis und die Überführung der Kunst in Lebenspraxis das dominierende Charakteristikum ihres künstlerischen Schaffens ebenso wie das ständige Spiel mit den eigenen Rollen und die Infragestellung der Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion.7 Bei Kandinsky geht es dagegen eher darum, »das eigene Leben mit Hilfe der ästhetischen Kategorien lesbar zu machen« (Hilmes 2000, S. 18), seine Kunstauffassung bzw. der Weg vom Gegenständlichen zum Abstrakten, zur Entbehrlichkeit des Figürlichen anhand seiner Lebensgeschichte zu erklären, ohne dass dabei seine eigene Identität zum Problem wird. Die eigene Kunst will von Anfang an »im Zeichen der Auseinandersetzung mit verschiedenartigen Einflüssen und des Bemühens um Gewinnung einer eigenen Position verstanden sein« (Riedl 1983, S. 25).
3.1
Lasker-Schülers ludisches Handeln mit »wirklich lebenden Menschen«
Else Lasker-Schülers autobiographisches Werk Mein Herz. Ein Liebesroman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen ist ein avantgardistischer ›Briefroman‹ in Prosa, Versen und Zeichnungen, der 1912 beim Verlag Heinrich F. S. Bachmair in München und Berlin als Buch erschien, nachdem die Dichterin im Zeitraum zwischen September 1911 und Juni 1912 bereits einige der Briefe in der Zeitschrift »Der Sturm« (1911–12/2, S. 615–616) unter dem Titel Briefe nach Norwegen veröffentlicht hatte. Mein Herz besteht aus undatierten Mitteilungen, deren Chronologie sich nur schwer erschließt. Diese Briefe schreibt ein erzählendes Ich, 7 Die Wechselwirkung zwischen Leben und Werk bei Else Lasker-Schüler ist eines der vorherrschenden Forschungsthemen der Sekundärliteratur über die Schriftstellerin. Doch erst ab den 1990er Jahren, insbesondere seit den Studien von Feßmann 1992 und Bischoff 2002, wird die Biographie der Dichterin mit Blick auf ihr Oeuvre nicht mehr mit dem Ziel untersucht, Korrespondenzen bzw. Inkonsistenzen zwischen Leben und Text zu identifizieren, sondern die gleichzeitige Verwendung biographischer Daten und fiktionaler Elemente in den Texten von Lasker-Schüler wird als integraler Bestandteil der literarischen Produktion der Autorin und ihres Spiels mit Leben und Werk betrachtet.
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das deutlich als Lasker-Schüler zu identifizieren ist, an ihren Noch-Ehemann Herwarth Walden und dessen Freund Kurt Neimann, welche Ende August 1911 zusammen eine Reise nach Skandinavien unternehmen.8 Der Vorwand für das Verfassen der fingierten Briefe ist die Versorgung der entfernten Empfänger mit Informationen über die Geschehnisse im Café des Westens, dem bekannten Treffpunkt der Berliner Bohème und künstlerischen Avantgarde.9 In Wahrheit aber eröffnet das Medium des Briefes Lasker-Schüler die Möglichkeit, Künstlerkolleg:innen und sich selbst in verschiedenen Rollen zu porträtieren sowie über ihre eigene Vision der Liebe und des künstlerischen Schaffens zu reflektieren.10 Die Schriftstellerin setzt dabei in ihrem Roman das Begriffspaar Nähe und Distanz auf unterschiedliche Art und Weise ein und verwendet mehrere Nähe-Distanz-Modelle zur Darstellung bzw. Simulation des autobiographischen Ichs – und zwar auf der Ebene der Gattung, der Erzählhaltung, der Figuren sowie der Raumkonstellation. Auf der Gattungsebene entfernt sich die Autorin von den Genrekonventionen und mischt emphatisch, ironisch und spielerisch Fakten und Fiktionen im Sinne einer Poetik des Rollenspiels. Bereits der zweite Teil des Buchtitels – Ein Liebesroman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen – verweist auf eine den ganzen Text kennzeichnende Spannung zwischen Fiktivem und Erlebtem. Durch den Brief, also eine Textform, deren gattungsimmanente Nähe zum Gespräch im Vordergrund steht und die in der Regel auf Nähe und Aufrichtigkeit fußt,11 lässt die Schriftstellerin einem ausgeprägten textuellen Kalkül freien Lauf, indem sie durch das Spiel mit fiktiven und realen Elementen auf bestimmte Reaktionen der Empfänger:innen setzt, wobei sie ihre Identität letztendlich nie enthüllt. Zu dieser Performance gehört eine Figurenkonstellation, die auf dem Wechsel zwischen Selbstkonstituierung und Selbsttrivialisierung beruht: Das Ich schlüpft mit großer Selbstironie in die Rolle historischer oder erfundener, männlicher und weiblicher Figuren, träumt sich immer wieder in die Stadt Theben hinein, über die es am Ende als Prinz herrscht und hält zugleich ein Plädoyer für ein Leben, das sich von bürgerlichen Zwängen und Konventionen befreien soll und durch provokante Haltungen gegen die bestehende Ordnung protestiert. Die folgende Passage aus dem ersten Brief zeigt exemplarisch nicht nur die Vermischung von Fakt und Fiktion, sondern auch das sich von der Wirklichkeit 8 Zur Entstehung und zu den Publikationsphasen des Textes vgl. Klüsener/Pfäfflin 1995, S. 79– 96. 9 Siehe hierzu: Fohsel 1995. 10 Zu Rollenspielen und zur Funktion der Autorin vgl. Feßmann 1992; Grossmann 2001; Hermann 2009; Paleari 2014, S. 144–155. 11 Bereits in der Antike wird der Brief wegen der Nähe zum Empfänger als »halbes Gespräch« definiert. Vgl. Cicero: Epistolae ad Atticum I, 12: »scribere quod in buccam venit«. Vgl. auch das Lemma »Brief« in Ueding 1994, Sp. 61–76.
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entfernende Rollenspiel mit ironischem Ton und einer deutlichen Tendenz zum Synkretistischen: LIEBE JUNGENS Dass Kurtchen Dich mitgenommen hat nach Schweden, Herwarth, ist direkt eine Freundestat. Kurt wird erster Staatsanwalt werden und Euch kann nichts passieren. Aber mir kann was passieren, ich hab Niemand, dem ich meine Abenteuer erzählen kann ausser Peter Baum, der aber aus der alten Wohnung in die neue Wohnung zieht. […] Am Abend erzählte ich ihm erst meine neue Liebesgeschichte. Ich habe nämlich noch nie so geliebt wie diesmal. Wenn es Euch interessiert: Vorgestern war ich mit Gertrude Barrison in den Lunapark gegangen, leise in die egyptische Ausstellung, als ob wir so etwas süsses vorausahneten. Gertrude erweckte dort in einem Caféhaus die Aufmerksamkeit eines Vollbartarabers; mit ihm zu kokettieren, auf meinen Wunsch, schlug sie mir entsetzt ab, ein für alle mal. […] Aber bei den Bauchtänzerinnen ereignete sich eines der Wunder meines arabischen Buches; ich tanzte mit Minn, dem Sohn des Sultans von Marokko. Wir tanzten, tanzten wie zwei Tanzschlangen, oben auf der Islambühne […] Aber Minn und ich verirrten uns nach Tanger […] Er [Minn] ist der Jüngste, den der Händler nach Europa brachte, er ist der ben ben ben ben, ben des jugendlichsten Vaters im egyptischen Lunagarten. Er ist kein Sklave, Minn ist ein Königssohn, Minn ist ein Krieger, Minn ist mein biblischer Spielgefährte. (Lasker-Schüler 1998, S. 179–180)
Reale Personen wie Herwarth Walden, Kurt Neimann und der Schriftsteller Peter Baum, der wie Lasker-Schüler in Ebersfeld geboren wurde und als ihr engster Vertrauter galt, bewegen sich neben fiktiven Gestalten wie Minn, dem Sohn des Sultans von Marokko, einer Figur, die Lasker-Schüler intertextuell aus ihrem Werk Die Nächte Tino von Bagdads (1907) übernimmt. Die wirklichen und erfundenen Protagonisten bevölkern die Welt des erzählenden Ichs wie in einem Maskenspiel, in dem alles Nahe fremd wird und alles Fremde nah ist. Die autobiographische Realität der Verfasserin mutiert somit zum literarischen Material des Textes und gipfelt in einer dichterischen Selbstinszenierung. Autobiographisches Schreiben distanziert sich dadurch von der auf ein Telos hinarbeitenden Darstellung eines Individuums und dessen sich an den bürgerlichen Normen orientierenden Identitätsentwicklung. In dieser erzählten Welt begleiten das schreibende und erlebende Ich auch weitere Figuren, vor allem andere Intellektuelle, die ebenso Teil des Rollenspiels werden: Karl Kraus ist der Dalai Lama oder Minister (Lasker-Schüler 1998, S. 208), Kurt Hiller ist Cajus-Maius (Lasker-Schüler 1998, S. 207) und Adolf Loos der Gorilla (Lasker-Schüler 1998, S. 217). Dazu gesellen sich imaginäre Gestalten mit orientalischen Zügen wie Jussuf, Prinz von Theben oder Tino von Bagdad, in deren Rollen Lasker-Schüler schlüpft, wobei sie sich häufig intertextueller Bezüge bedient, die als Distanzierung von der historischen Wirklichkeit, aber auch als Annäherung an die textuelle Wirklichkeit zu verstehen sind. Es geht dabei vor allem um Zitate aus eigenen Texten, wie dem 1907 erschienenen Prosastück Die
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Nächte Tino von Bagdads, um metatextuelle Kommentare – wobei stets der Schreibakt an sich thematisiert wird (Lasker-Schüler 1998, S. 182, 185, 187, 188, 191, 211, 213, 227) – und um Anspielungen auf andere Autoren; so wird die IchErzählerin beispielsweise von einem Schillerschen ›Räuber‹ bedroht, der ihr vorwirft, sie betreibe Blasphemie des Herzens. Diese vielfältige Darstellung des Ichs und des Anderen, des Fremden und des Unerreichbaren dient einerseits der Erforschung geeigneter Wege zu sich selbst, so dass Fremdheit zum kreativen Moment des eigenen Ichs und Schreibens wird (Grossmann 2001, S. 109). Andererseits löst sich dadurch die Erzählinstanz von der bürgerlichen Welt, um sich der geschriebenen Welt anzunähern, die Züge eines mythischen, träumerischen Orients trägt – des Orients, wie ihn bereits die romantische Tradition beschrieben hat, als des Reichs, in dem die Poesie geboren wurde. Das Heraufbeschwören des Orients lässt somit keinen Raum kultureller Fremdheit entstehen, sondern eröffnet einen Raum für die Kunst, der sein Pendant in der stetig evozierten Topographie Berlins mit seinen Ausstellungen, Varietés und dem Café des Westens findet, einem konkret existierenden Ort, der aber vor allem als Ort der künstlerischen Entfaltung des schreibenden Ichs fungiert.
3.2
Kandinskys autobiographische Schrift: das Biographische als Mittel zur Kunst
Erfolgt bei Lasker-Schüler die Modellierung von Nähe und Distanz vorwiegend in der Interaktion zwischen Fakt, Fiktion und Reflexion sowie im Spiel der IchFigurationen, so distanziert sich Kandinsky in seiner autobiographischen Schrift Rückblicke (1913) ebenfalls von der reinen Beschreibung des eigenen Lebens, um seine Künstlerkarriere reflexiv zu durchdringen. Nachgezeichnet wird Kandinskys Entwicklung zum Künstler, wobei die erzählten Erlebnisse, insbesondere die ohne strenge zeitliche Abfolge12 beschriebenen Kindheitsepisoden, nicht als private Bekenntnisse, sondern vielmehr als die Darstellung »einer dichterisch verklärten Vergangenheit biographischen Charakters« (Hilmes 2000, S. 99) zu verstehen sind. Die Erlebnisse dienen somit als »Hintergrund seiner neuen ästhetischen Konzeption« zur »Vermittlung der neuen Kunstformen an das Publikum« (Hilmes 2000, S. 99) und fungieren daher als Selbstbehauptung eines künstlerischen Ichs.
12 Ringbom 1970, S. 32, spricht von »caleidoscopic structure reminiscent of the painted compositions of the period«.
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Rückblicke wurde erstmals 1913 in dem von Herwarth Walden publizierten Kandinsky-Album abgedruckt.13 Im Sinne einer engen Verzahnung von Leben und Kunst sind dem autobiographischen Text Abbildungen von Gemälden von Kandinsky aus den Jahren 1901–1913 vorangestellt, und am Ende des Bandes finden sich Reflexionen des Künstlers zu drei seiner abstrakten Gemälde (Komposition IV, Komposition VI und Das Bild mit dem weißen Rand).14 Nicht von ungefähr beginnt Kandinsky seine Rückblicke, die sich als ›Biographie einer künstlerischen Seele‹ definieren lassen, mit ersten farblichen Eindrücken und Episoden aus seiner frühesten Kindheit: Die ersten Farben, die einen starken Eindruck auf mich gemacht haben, waren hell saftig grün, weiß, karminrot, schwarz und ockergelb. Diese Erinnerungen gehen bis ins dritte Lebensjahr zurück. Diese Farben habe ich an verschiedenen Gegenständen gesehen, die nicht mehr so klar wie die Farben selbst, heute vor meinen Augen stehen. (Kandinsky 1913, S. III)
Konsequent werden danach alle Erinnerungen als differenzierte bedeutsame Schritte zur Abstraktion dargeboten, in welcher Kandinsky, mit einer gewissen Selbststilisierung und ohne den eigenen Weg in Frage zu stellen, den höchsten Ausdruck des ›inneren Klangs‹ bzw. des Geistigen,15 das den Gegenstand ersetzen soll, sieht: Diese Stunde zu malen, dachte ich mir als das unmöglichste und höchste Glück eines Künstlers. […] so stieg die Freude an Natur und Kunst auf ungetrübte Höhen. Seitdem kann ich diese beiden Weltelemente in vollen Zügen genießen. Zum Genuß gesellt sich das erschütternde Gefühl der Dankbarkeit. […] alles zeigte mir sein Gesicht, sein innerstes Wesen, die geheime Seele, die öfter schweigt als spricht. […] Das war für mich genug, um mit meinem ganzen Wesen, mit meinen sämtlichen Sinnen die Möglichkeit und das Dasein der Kunst zu »begreifen«, die heute im Gegensatz zur »Gegenständlichen« die »Abstrakte« genannt wird. (Kandinsky 1913, S. VI)
Kandinsky beschreibt vor allem drei Erfahrungen bzw. Initiationserlebnisse,16 die ihn auf seinem künstlerischen Weg zur Abstraktion geprägt haben: die Eindrücke, welche die Ausstellung von französischen Impressionisten in Moskau bei ihm hinterließen, insbesondere das Bild Heuhaufen von Claude Monet, ferner 13 In: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/kandinsky1913 [Letzter Zugriff am 3. März 2023]. 14 Nicht von ungefähr erscheinen in denselben Jahren der Almanach Der Blaue Reiter (1912) und Kandinskys theoretische Schrift Über das Geistige in der Kunst (das Manuskript wurde 1910 fertiggestellt), in denen der Schwerpunkt auf der Suche nach dem »Innerlich-Wesentlich(en)« (Kandinsky 1952, S. 21) in der Kunst liegt und Kandinsky die ›Potenz‹ der Kunst und ihre »weckende prophetische Kraft« (S. 26) verkündet. 15 Die Klärung des Begriffs des ›Geistigen‹ bleibt nach wie vor eine stets diskutierte Frage der Kandinsky-Forschung. Vgl. u. a. Ringbom 1970; Washton Long 1980 (speziell Kap. 2: Visions of a New Spiritual Realm, S. 13–41); Hentschel 2000; Zimmermann 2002, 2 Bde; Kienzler 2020. 16 Hilmes (2000, S. 101) spricht von »künstlerische[n] Initiationserlebnisse[n]«.
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das synästhetische Erlebnis bei der Aufführung von Wagners Oper Lohengrin im Moskauer Hoftheater sowie die tiefe Erschütterung durch die Hell-Dunkel-Effekte der Bilder von Rembrandt in der St. Petersburger Eremitage: Zu derselben Zeit erlebte ich zwei Ereignisse, die einen Stempel auf mein ganzes Leben drückten und mich damals bis in den Grund erschütterten. Das war die französische impressionistische Ausstellung in Moskau, in erster Linie »der Heuhaufen« von Claude Monet – und eine Wagneraufführung im Hoftheater – Lohengrin. […] Aus den Fehlern, die ich machte, zog ich Lehren, die noch fast alle bis jetzt mit der ursprünglichen Kraft in mir wirken. […] Rembrandt hat mich tief erschüttert. Die große Teilung des HellDunkel, die Verschmelzung der Sekundärtöne in die großen Teile, das Zusammenschmelzen dieser Töne in diese Teile, die als ein Riesendoppelklang auf jede Entfernung wirkten und mich sofort an die Trompeten Wagners erinnerten, offenbarte mir ganz neue Möglichkeiten, übermenschliche Kräfte der Farbe an sich und ganz besonders die Steigerung der Kraft durch Zusammenstellungen, d. h. Gegensätze. (Kandinsky 1913, S. IX–XI)
Bei all den Eindrücken und Erlebnissen, die geschildert werden, wird Nähe hervorgerufen, indem der Akzent auf die starken Gefühle gesetzt wird, die diese Erfahrungen beim Ich entstehen lassen;17 eine Nähe, die den Lesenden durch eine suggestive Unmittelbarkeit und die Zusammenfügung unzusammenhängender Elemente – wie die Malerei Rembrandts und die Musik Wagners, die nur wegen derer emotionalen Intensität nebeneinandergestellt werden – vermittelt wird. Kandinsky bringt seine Gedanken leitmotivisch und mit einem sehr gefälligen Schreibstil zu Papier. Außerdem weist er ausdrücklich auf den Zusammenhang von Leben und Kunst hin. Gleich zu Beginn werden Motivkomplexe thematisiert, die dann für den ganzen Text handlungstragend sein werden: Reisen, Lektüren, Begegnungen mit Menschen finden ihren Sinn darin, dass sie Etappen auf dem Weg zur Kunst darstellen, womit Kandinsky an die Tradition der Künstlerbiographien anknüpft. Indem er traditionellen Gattungsvorstellungen verhaftet bleibt, legt er eine Art Rechenschaftsbericht seiner künstlerischen Entwicklung ab und versucht dabei, seine Leserschaft davon zu überzeugen, dass der von ihm eingeschlagene Weg der richtige sei – eine Strategie, die der Künstler bis zum Ende seines Textes verfolgt, um seine Hauptthese immer wieder aufs Neue zu begründen: Ich wußte jetzt genau, daß der Gegenstand meinen Bildern schadet. Eine erschreckende Tiefe, eine verantwortungsvolle Fülle von allerhand Fragen stellten sich vor mich. Und die wichtigste: was soll den fehlenden Gegenstand ersetzen? Die Gefahr einer Ornamentik stand klar vor mir, die tote Scheinexistenz der stilisierten Formen konnte mich nur abschrecken. (Kandinsky 1913, S. XV)
17 Kandinsky empfindet all seine Texte zur Kunst als das Ergebnis von »Gefühlserfahrungen« (Kandinsky 1952, S. 17).
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So wurden diese Empfindungen von Farben auf der Palette (und auch in den Tuben, die seelisch machtvollen aber bescheiden aussehenden Menschen gleichen, welche plötzlich im Notfalle ihre bis dahin verborgenen Kräfte entblößen und aktiv machen) zu seelischen Erlebnissen. Diese Erlebnisse wurden weiter zum Ausgangspunkt der Ideen, die sich vor zehn bis zwölf Jahren schon bewußt zu sammeln anfingen und die zum Buch »Über das Geistige in der Kunst« führten. (Kandinsky 1913, S. XIX) In vielen Dingen muß ich mich verurteilen, aber Einem blieb ich immer treu – der inneren Stimme, die mir mein Ziel in der Kunst bestimmt hat und der zu folgen ich bis zur letzten Stunde hoffe. (Kandinsky 1913, S. XXIX)
Seinen Äußerungen verleiht Kandinsky eine noch größere Glaubwürdigkeit, indem er einen Vergleich zwischen Kunst und Religion anstellt, wobei er die sakrale Funktion des Künstlers betont und die Kunst religiös verankert bzw. legitimiert (Zimmermann 2002, Bd. I, S. 173–184): Die Kunst ist in vielem der Religion ähnlich. Ihre Entwicklung besteht nicht aus neuen Entdeckungen, die die alten Wahrheiten streichen und zu Verirrungen stempeln (wie es scheinbar in der Wissenschaft ist). Ihre Entwicklung besteht aus plötzlichem Aufleuchten, das dem Blitz ähnlich ist, aus Explosionen, die wie die Feuerwerkkugel am Himmel platzen, um ein ganzes »Bukett« verschieden leuchtender Sterne um sich zu streuen. […] Wäre das Neue Testament ohne das Alte möglich? Wäre unsere Zeit der Schwelle der »dritten« Offenbarung ohne die zweite denkbar? […] Der einfache präzise und harte Gedanke wird also nicht umgestürzt, sondern als Vorstufe für weitere daraus erwachsende Gedanken gebraucht. (Kandinsky 1913, S. XXIV)
Die häufige Bezugnahme auf das christliche Gedankengut setzt Kandinsky ein, um immer wieder auf die Idee der Offenbarung des Geistes zurückzukommen. Er spricht insbesondere von der »dritten Offenbarung«, worunter er die kommende Epoche des Geistes versteht, in welcher Künstlerisches und Geistiges deckungsgleich sind. Die Selbstdarstellung distanziert sich hier von den persönlichen Erlebnissen und wie am Schluss von Über das Geistige in der Kunst werden seine Gedanken nun abstrakter, theoretischer und der Selbstbezug wird völlig ins ›Reich‹ der Kunst verlagert. Kandinskys Ziel bleibt aber dasselbe wie zu Beginn der Rückblicke, und zwar die eigene Malerei zu erläutern und mittels eines anderen Mediums, nämlich der autobiographischen Schrift, die Leserschaft von der eigenen Kunst und insbesondere von der Notwendigkeit der Abstraktion zu überzeugen.
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Nähe und Distanz als Verfahren autobiographischer Selbstdarstellungen
Zusammengefasst lassen sich in den Werken Lasker-Schülers und Kandinskys, bei aller Vielfalt, einige wiederkehrende Elemente erkennen, welche die Modellierung und Regulierung von Nähe und Distanz aufzeigen und somit ihren Stellenwert für autobiographische Selbstdarstellungen angemessen dokumentieren. Mein Herz und Rückblicke weisen den Charakter von bewusst konstruierten Gebilden auf, die auf realen – autobiographischen und historischen – Materialien und fiktionalen Stoffen fußen, wobei Lasker-Schüler die Realität absichtlich verfremdet bzw. sich auf Distanz zu ihr begibt, während sich Kandinsky den autobiographischen Episoden mit poetischer Verklärung nähert und sie in den Dienst der Schilderung des eigenen Werdens als Künstler und seiner Kunstauffassung stellt. In der Gesamtschau betrachtet ist beiden autobiographischen Selbstdarstellungen von Lasker-Schüler und Kandinsky eigen, dass sie eine starke Annäherung, bis hin zu einer engen Verzahnung, von Leben und Kunst anstreben und fordern: Die Kunst wird in Lebenspraxis überführt und umgekehrt. Beide Elemente verschmelzen zu unabdingbaren Teilen eines Ganzen. Das individuelle Ich wird dabei rekonzeptualisiert und funktionalisiert – und mutiert letztendlich zu einem Kunst-Ich. So ist Kandinskys künstlerischer Weg zur Abstraktion grundsätzlich nicht anders zu deuten als Lasker-Schülers Einsatz von Rollenspielen und Mehrfachidentitäten. Die mehr oder weniger starke Distanzierung bzw. Abweichung beider Künstler:innen von strukturellen und gattungsbezogenen Merkmalen der traditionellen Autobiographie entpuppt sich somit letztendlich als der Versuch eines Selbstporträts im Dienste der eigenen Kunst.
Literatur Bischoff, Dörte: Ausgesetzte Schöpfung. Figuren der Souveränität und Ethik der Differenz in der Prosa Else Lasker-Schülers. Tübingen: De Gruyter 2002. Feßmann, Maike: Spielfiguren. Die Ich-Figurationen Else Lasker-Schülers als Spiel mit der Autorrolle. Ein Beitrag zur Poetologie des modernen Autors. Stuttgart: M&P Verlag 1992. Finck, Almut: Subjektivität und Geschichte in der Postmoderne. Christa Wolfs Kindheitsmuster. In: Holdenried, Michaela (Hg.): Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen. Berlin: Erich Schmidt 1995, S. 311–323. Finck, Almut: Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie. Berlin: Erich Schmidt 1999.
Autobiographische Selbstdarstellungen als Ausdruck von Nähe und Distanz
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Raul Calzoni (Università di Bergamo)
»Nah und fern klappende Türen, aber keine Menschenseele«. Die Dialektik der Ferne und Nähe in Walter Kempowskis »Echolot-Projekts«
Indem er die Dialektik der Ferne und Nähe in Walter Kempowskis vierteiligen und zehnbändigen Das Echolot (1993–2005) untersucht, analysiert der Essay das gesamte Projekt zum Zweiten Weltkrieg als »transmedialisches« Experiment, das auf der Synergie von Bild und Wort basiert. Tatsächlich macht ein »Mosaik« aus Fotografien und Textzeugen Das Echolot zu einem Erinnerungsort, dank dem der Leser gezwungen ist, die wichtigsten »Stationen der Geschichte« wie Berlin, Dresden, Leningrad, Stalingrad und Auschwitz zu durchqueren. Der Essay betrachtet diese »Stationen der Geschichte« und beleuchtet die Rollen von Berlin und Auschwitz als Zentren der Nähe und Ferne zu den relevantesten Ereignissen des Zweiten Weltkriegs und der Shoah innerhalb des letzten kollektiven Tagebuchs von Kempowski: Das Echolot. Abgesang ’45. Second World War; Shoah; Berlin; Auschwitz; Photography
Die Vermutung, dass die Dialektik der Ferne und Nähe der Interpretation des gesamten Werkes von Walter Kempowski dienlich sei, wird durch Selbstaussagen des Autors bestätigt, so wie durch die Tatsache, dass diese Dialektik allen seinen Werken direkt oder indirekt zugrunde liegt. Unter Berücksichtigung der Begriffe ›Ferne‹ und ›Nähe‹ und deren Dialektik versucht daher dieser Beitrag insbesondere die vier kollektiven Tagebücher von Kempowskis »Echolot-Projekt«1 als ›transmedialisches‹ Experiment der Ferne und Nähe zu untersuchen. Zuerst muss man an den Titel dieses Projekts denken, um das Ziel der vier Echolote im Rahmen einer Dialektik der Nähe und Ferne zu erhellen: Ein Echolot ist nichts anders als ein elektroakustisches Gerät zur Messung von Wassertiefen. Darüber hinaus übt es eine dem aktiven Sonargerät sehr ähnliche Funktion aus, aber dieses wird nicht zur ›vertikalen‹ Bestimmung der Wassertiefe, sondern auch für die ›horizontale‹ Unterwasserortung eingesetzt. Echolote sind also Geräte, die Nähe und Ferne durch eine ›vertikale‹ und zugleich ›horizontale‹ 1 Der Ausdruck »Echolot-Projekt« wurde zuerst zur Bezeichnung der ersten zwei kollektiven Tagebücher von Walter Kempowski benutzt (vgl. Herrmann-Trentepohl 2006). Unter diesem Begriff werden hier die vier kollektiven Tagebücher zusammengefasst (vgl. Kempowski 1993, 1999, 2002, 2005).
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Über- und Unterwasserortung verbinden. Daher muss man dieses Verfahren beachten, um die Bedeutung der Echolote im Rahmen einer Dialektik der Ferne und Nähe zu verstehen. Diese zwei Funktionen werden im »Echolot-Projekt« benutzt, um jeweils die ›Tiefe‹ und die ›Nähe‹ bestimmter Hauptereignisse des Zweiten Weltkriegs durch eine Text- und Bildmontage zu zeigen: Die Schlacht von Stalingrad, das Unternehmen Barbarossa gegen Russland, die Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten des Dritten Reiches und aus den von den Alliierten durch den Luftkrieg zerstörten Städten, die Schlacht um Berlin vom 16. April bis zum 2. Mai 1945 und die Shoah. Diese traumatischen Ereignisse werden im Projekt durch spezifische »funktionale Gedächtnisorte« im Sinne Pierre Noras behandelt,2 so dass die Echolote an die bedeutendsten und konkreten Erinnerungsorte anknüpfen, die zur Bühne des Krieges und der Nazibarbarei wurden. Es ist also kein Zufall, dass der Rostocker Autor im Vorwort des Echolots. Barbarossa ’41 hervorgehoben hat, das Projekt »besteh[e] aus mehreren Teilen. Die exemplarischen Stationen, die in ihm vorgeführt werden, heißen Leningrad, Stalingrad, Auschwitz, Dresden und Berlin« (Kempowski 2002, S. 5). Kempowski durchquert mit seinen Tagebüchern die »Orte, die Begebenheiten, die guten und die bösen Tage« (Kempowski 1993, I, S. 70) des Gedenkens an den zweiten Weltkrieg, damit eine aktive Erinnerungsarbeit durch eine »kalkulierte Wiederholung« (Dierks 1984, S. 68) von Themen und Motiven gefördert wird, wie Markus Schenzle betont: Zusammen mit der beständigen Wiederkehr bestimmter zitierter Persönlichkeiten wie Margarethe Hauptmann, Thomas Mann, Heinrich Himmler oder den Eintragungen aus Danuta Czechs Kalendarium der Ereignisse in Auschwitz-Birkenau, das die dortigen Einlieferungen und Ermordungen von Häftlingen dokumentiert und mit denen jeder Tag endet, entsteht aus den verschiedenen Sequenzen eine Strukturierung, gar eine Rhythmisierung, des Gesamttextes. (Schenzle 2018, S. 14)
Im »Echolot-Projekt« geht das Denken von wiederkehrenden bestimmten Persönlichkeiten durch jene deutschen Erinnerungsorte hindurch, die den »Stationen« des Echolots entsprechen (vgl. Flacke 2004). Diese Stationen der deutschen Geschichte werden in den kollektiven Tagebüchern ›vertikal‹ und ›horizontal‹ durchwandert. Derselbe Kempowski hat diese zwei organisatorischen Prinzipien des Echolots, die die Pfeile einer Dialektik der Ferne und der Nähe bilden, wie folgt gekennzeichnet: »horizontal: durchgehende Geschichte, etwa 2 Vgl. Nora 1998, S. 39: »hier [bei funktionellen Erinnerungsorten, R.C.] reicht die Bandbreite von den Orten, die deutlich der Bewahrung einer Erfahrung dienen, welche nicht weitergegeben werden kann und mit denen verschwindet, die sie erlebt haben (wie etwa den Vereinen der Kriegsveteranen), bis zu denen, deren – ebenfalls vorübergehender – Existenzgrund pädagogischer Natur ist wie im Falle der Lehrbücher, Wörterbücher, Testamente oder jener livres de raison, die von den Familienoberhäuptern im 17. und 18. Jahrhundert zum Gebrauch für ihre Nachfahren verfasst wurden«.
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Mrongovius, ein Schicksal verfolgen. vertikal: das dialogische Prinzip, eine Aussage auf die andere beziehen« (Kempowski 2001, S. 460). Hier ist dies nur ein Beispiel für dieses zweifache organisierende Prinzip, das auch zeitliche und räumliche Ferne und Nähe in den kollektiven Tagebüchern verbindet. Im ersten Echolot treten zuerst die Stimmen der damaligen Mächtigen hervor, d. h. der Angehörigen der Naziherrschaft; insbesondere wird Hitlers Tagesbefehl vom ersten Januar 1943 die Ehre erwiesen, den Band zu eröffnen: »Wenn uns der Herrgott die Kraft gegeben hat, den Winter 1941 auf 1942 zu überwinden, dann werden wir diesen Winter und das kommende Jahr erst recht überstehen« (Kempowski 1993, I, S. 9). Einträge aus dem Führerhauptquartier eröffnen also ›horizontal‹ jeden Tag aller kollektiven Tagebücher Kempowskis, doch am ersten Januar 1943 sind zwei Mitteilungen des Führers hintereinander, bzw. ›vertikal‹ zu lesen; der zitierte Tagesbefehl wird dank des dialogischen Prinzips – die Themen des Überstehens, der Überwindung des Winters 1943 und des Sieges werden in beiden Ausschnitten besprochen oder angedeutet – auf eine Neujahrsmeldung Hitlers an den in Stalingrad eingesetzten Generaloberst der 6. Armee Friedrich Paulus bezogen: Die Schwere Ihrer Verantwortung ist mir bewußt. Die heldenmütige Haltung Ihrer Truppen hat meine höchste Anerkennung. Sie und Ihre Soldaten aber sollen in das neue Jahr eintreten mit dem felsenfesten Vertrauen, daß ich und die ganze deutsche Wehrmacht alle Kräfte einsetzen werden, um die Verteidiger von Stalingrad zu entsetzen und damit Ihr Ausharren zur höchsten Ruhmestat der deutschen Kriegsgeschichte zu machen. (Kempowski 1993, I, S. 9)
Erst in Statt eines Vorworts im ersten Echolot wird deutlich, dass die Dialektik der Ferne und Nähe einem bestimmten Zweck dank der ›vertikalen‹ und ›horizontalen‹ Prinzipien dient. Sie soll dabei helfen, eine bestimmte Formel aus der Tiefe heraufzuholen: »Wer eine Formel für den Krebsgang der Menschheit sucht – mit dem Echolot holt er sie aus der Tiefe. Die alten Geschichten ergeben – zusammengerüttelt – das Zauberwort, mit dem wir unsere Epoche bezeichnen und versiegeln könnten« (Kempowski 1993, I, S. 7). Kempowski hat sich durch seine kollektiven Tagebücher bewegt, um dieses »Zauberwort« zu treffen und erklingen zu lassen und um aus der Vergangenheit eine Lehre zu ziehen, so möchte dieser Beitrag hauptsächlich in zwei »Stationen« des Echolots Halt machen: Berlin, als zentraler und ›naher‹ Kriegsort gemeint, und Auschwitz, als ›ferne‹ und alleinige Chiffre der Shoah gemeint, weil diese zwei Orte Nähe und Ferne mit Bezug auf Deutschland insbesondere im letzten Echolot. Abgesang ’45 darstellen. Kempowski hat nämlich dem 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges mit der Veröffentlichung des zehnten Bandes seines monumentalen »EcholotProjekts« Ehre erwiesen. Eine vom Autor so bezeichnete »Reise ins Unbewusste« (Kempowski 2001, S. 422), die aus Notizen, Dokumenten, Ausschnitten aus Ta-
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gebüchern und Briefauszügen besteht. Zu diesen Texten kommt im Vorwort zum letzten kollektiven Tagebuch die Erinnerung hinzu, »an die Stillen Trecks der Flüchtlinge, an die zurückhetzenden fliehenden deutschen Soldaten […], an die fröhlich heimziehenden Fremdarbeiter mit ihren nationalen Kokarden. Auch an den weinenden Kindersoldaten auf der Protze seines zerstörenden Geschützes« (Kempowski 2005, S. 5–6). So stellt Kempowski dem Leser die Themen vor, die das Schicksal Deutschlands und Berlins unter dem Feuer der Alliierten prägten. Wie die anderen kollektiven Tagebücher beginnt auch Abgesang ’45 ›horizontal‹ mit einem Festtag, und zwar mit dem Protokoll des sechsundfünfzigsten Geburtstags Hitlers, der, nach Aussage des Flugkapitäns Hans Baur, im Führerbunker »trübe und traurig«(Kempowski 2005, S. 9) verlief. Zur Gratulation erschienen »die Großadmirale Raeder und Dönitz, Himmler und Goebbels« (Kempowski 2005, S. 9) am 20. April 1945 an diesem deutschen Erinnerungsort (vgl. Fest 2001), obwohl keiner von ihnen Lust oder Zeit zum Feiern hatte und Hitler bereits ahnte, dass der Krieg verloren war; während der Tagesbesprechungen, die im Abgesang ’45 zu lesen sind, benutzte er aber Euphemismen und Periphrasen, um sich auf die Lage Deutschlands zu beziehen. Oft wird im letzten Echolot diesen Persönlichkeiten des Reichs das Wort gegeben, damit Kempowski die unterschiedlichen Gesichtspunkte von Deutschland aus gesehen aus Nah und Fern zur Schlacht um Berlin präsentieren und ausführlich Bericht über die von Hitler befohlenen militärischen Vergeltungsoperationen erstatten kann. Dem Schriftsteller ist es so gelungen, dem Leser die durch den Konflikt verursachte Zerstörung Deutschlands vor Augen zu führen und über die letzten Kriegstage zu berichten. Parallel zu der Wahrnehmung der bevorstehenden Niederlage Hitlers seitens der Berliner und des Militärs und zu dem Gefühl eines bevorstehenden Sieges seitens der Alliierten tauchen im Abgesang ’45 auch die Stimmen der Zivilist:innen und der Angehörigen der damals sogenannten ›Bevölkerungsrandgruppen‹ auf. Zu den wichtigsten Orten dieses »großen Erinnerungsbuches der Gegenwart« gehört also Berlin, das im Abgesang ’45 zur endgültigen und wichtigsten »Station« des Zweiten Weltkrieges wird, daher stammen viele Stimmen des gesamten »Echolot-Projekts« aus Deutschlands Hauptstadt, die als strukturelles Zentrum der Nähe im Werk gilt. Schon der von Kempowski gewählte Titel des letzten kollektiven Tagebuchs vermittelt das Gefühl eines bevorstehenden Untergangs, der den Krieg, die Nazizeit und davor das Leben Hitlers betrifft. Das zweifache – ›vertikale‹ und ›horizontale‹ – organisatorische Prinzip des Tagebuchs verleiht darüber hinaus dem letzten Echolot das charakteristische Tempo eines musikalischen Abgesangs. Kempowski komponiert die Zeugenstimmen der letzten Tage des untergehenden Reichs zu »einem babylonischen Chorus« (Hage 2003, S. 198– 199), um sie vor dem Vergessen zu schützen (vgl. Calzoni 2018), wobei im ersten
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Teil des Bandes die militärische Lage des Kampfs um Berlin und im zweiten Teil die Sorgen der Überlebenden thematisiert werden: Seit langem bin ich wie besessen von der Aufgabe zu retten, was zu retten ist, ich habe nie etwas liegenlassen können, ich habe aufgesammelt, was zu sammeln war, und ich habe alles gesichtet und geordnet. Den Guten, die auch immer ein wenig böse sind, und den Bösen, die auch von einer Mutter geboren wurden, habe ich zugehört, und ich habe ihre Texte zu einem Dialog formiert. (Kempowski 1993, I, S. 7)
So Kempowski in den einleitenden Worten zum ersten Echolot, dessen doppelter Sinn darin besteht, »den vergangenen Schrecken einerseits zu (re)konstruieren und andererseits […] seine Bedeutung für die deutsche […] Gegenwart und Zukunft zu befragen« (Kumpfmüller 1995, S. 11). Es geschieht via Montage,3 dass es Kempowski mit seinem Projekt gelungen ist, dem Leser Folgendes zu bieten: »eine Vergegenwärtigung der Welthöllen, welche die Menschheit sich von Zeit zu Zeit bereitet, der Plagen, von denen schon in der Apokalypse die Rede ist« (Kempowski 2002, S. 5). Kempowskis dokumentarische Montage über diese »Welthöllen der Menschheit« beschäftigt sich mit den inkommensurablen Materialien des zweiten Weltkrieges und bringt Stimmen aus der Ferne und aus der Nähe miteinander ins Gespräch, die sonst unverbunden dastehen würden. Im Rahmen des pädagogischen Projekts der Erziehung nach Auschwitz im Sinne Th. W. Adornos (vgl. Adorno 1970) liegt wohl dem Echolot folgende Überzeugung zugrunde: »Chaos wird künstlich dargestellt, damit sich ein Weg in den Ursprung auftut, hier gewinnt man eine neue Ordnung. Dies ist für den nötig, der alles schon so klar vor sich sieht, dass ein Irrtum ausgeschlossen ist« (Kempowski 2007, S. 8). Mit seinem ›Echolot-Projekt‹ hat Kempowski »entdeckt, dass durch Collage etwas Literarisches geschaffen wird, weil sie eben nicht dokumentiert, sondern weil Bedeutung hergestellt wird« (Ladenthin 2010, S. 55). Es ist also die Montage, die es erlaubt, Überreste der Nazizeit noch in der Gegenwart einatmen und spüren zu lassen; was aber nur dann stattfinden kann – wie im Falle der kollektiven Tagebücher Kempowskis – wenn dem Leser »die Begegnung mit dem authentischen Sprechen« und mit den Bildern der Vergangenheit »möglich gemacht wird« (Ladenthin 2010, S. 55). Dank der Reibung der Sprachen aneinander und der Dialektik der Ferne und Nähe, die auf bestimmte Erinnerungsorte hinweisen, entstehen im »Totenhaus« (Schneider 2005, S. 66)4 des Echolots unterschiedliche Ansichten über den Krieg. 3 Vgl. Damiano 2005, S. 11: »The volumes reveal throughout German and Nazi responsibility for the Holocaust because the Nazis and many Germans indict themselves directly via the texts which Kempowski quotes. Echolot is not conceived as an apology for, but as an investigation of German/Nazi culpability.« 4 Zum Verhältnis zwischen Einzelnem und Kollektiv in der Darstellung der Nazi-Vergangenheit im ersten Echolot vgl. Kyora 2005.
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Man muss aber vorsichtig sein und die dargestellten Perspektiven sortieren, denn nach Kempowski ist das System der Gleichzeitigkeit […] banal. Interessant ist es nur durch die Schattierung; die Variante, die Gegenüberstellung. Und da sitzt dann auch das Lesevergnügen. […] Das Zauberwort heißt Transposition*, mit dem ich mir das ermögliche, nach dem ich so lange schon tastete: der eigentliche ›künstlerische‹ Eingriff. (Kempowski2007, S. 189)
Mit »Transposition« ist bei Kempowski »die Verschiebung von Texten auf ein zeitlich nahes Datum« (Kempowski 2007, S. 196) gemeint. Es geht hier also um ein literarisches »System«, dass Nähe und Ferne verbindet und aufgrund dessen die Meinungen der »Guten« und der »Bösen« über den Krieg nicht nur gegensätzlich sind, sondern ineinandergreifen, damit »in der Analyse des kleinen Einzelmoments der Kristall des Totalgeschehens« (Benjamin 1982, S. 575) rekonstruiert werde. Der Anspruch des Echolots nach Totalität bei der Rekonstruktion des geschichtlichen Prozesses zeigt sich besonders in den sogenannten Zwischentexten, die am Ende eines jeden Tages der kollektiven Tagebücher zu lesen sind und eine entscheidende Bedeutung für das gesamte Projekt haben. Diese Texte fassen in den Echolot-Bänden jeden Tag zusammen, nehmen Stellung zum Krieg, führen miteinander Dialoge und leiten die Ereignisse des folgenden Tages ein. Sie üben daher eine Funktion aus, dank der zeitliche und räumliche Nähe und Ferne in Kontakt treten. Darüber hinaus stammen sie aus unterschiedlichen sozialen Milieus und können daher als Beispiele für die für Kempowski typische Vielstimmigkeit der Geschichte (vgl. Calzoni 2008) und für die fragmentarische Darstellung der Wirklichkeit gelten, die nach Ergänzung durch die Leser:innen verlangen (vgl. Calzoni 2005). Mit anderen Worten: »Die Zurichtung der ›Echolot‹-Texte hat etwas vom Dominospiel an sich« (Kempowski 2007, S. 192), indem die einzelnen Einträge in wechselseitigem Zusammenhang zu sehen sind, damit das gesamte Bild der erlebten Zeitgeschichte von den Leser:innen begriffen wird. Hatte Kempowski bereits mit Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch. Januar und Februar 1943 den Deutschen wieder die »Welthöllen« der Schlacht um Stalingrad ins Gedächtnis gerufen, so wird im letzten Echolot das Gefühl des nahen Kriegsendes einerseits durch die Einfügung von Frühlingsgedichten (vgl. Czucka 2020, S. 104–109) Ludwig Uhlands und Friedrich Hölderlins (vgl. Kempowski 2005, S. 7, 107, 217, 309, 449) verstärkt, andererseits durch sechzehn Bilder, die diese »Abschiedssymphonie« – so definiert der Autor Abgesang ’45 in Culpa (vgl. Kempowski 2007, S. 348) – von Hitlers Deutschland begleiten. Diese Elemente sind Grundelemente der ›transmedialischen‹ Experimente der Ferne und Nähe des »Echolot-Projekts«. Die Fotographien verewigen die Parteifunktionäre im letzten Augenblick ihrer Laufbahn: Ein Bild Görings eröffnet den Band und zeigt den Großadmiral am 10. 5. 1945 »im amerikanischen Internie-
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rungslager in Augsburg beim Ablegen der Orden und Ehrenzeichen« (Kempowski 2005, S. 2), während eine Röntgenaufnahme von Hitlers Schädel dieses im Abgesang ’45 gestaltete »makabre visuelle Gruselkabinett« (Schallié 2006, S. 2) abschließt. Dazwischen liegen u. a. die Aufnahme der Leiche Himmlers, der sich am 23. 5. 1945 in britischer Gefangenschaft in Lüneburg umbrachte, die Fotographie der im Garten der Reichskanzlei halbverbrannten Körper von Magda und Heinrich Goebbels und die der Leichen der am 16. 10. 1946 in Nürnberg hingerichteten Nazis; es fehlt auch nicht das Bild von Albert Speer beim Arbeiten im Garten des Kriegsverbrecher-Gefängnisses in Berlin-Spandau, und das von Rudolf Heß, der 1977 im Hof derselben Haftanstalt fotographiert wurde. Wie Gespenster des untergegangenen Dritten Reichs gehen sie im »Totenhaus« des Abgesangs ’45 um und berichten über die verhängnisvollen Auswirkungen des nationalsozialistischen Wahnsinns. Die Leser:innen sollen jedoch die Fotographien und die Texte des »EcholotProjekts« nicht nur als bloße Instrumente der Abbildung einer zeitlich fernen existierten Wirklichkeit wahrnehmen, sondern auch als Medien von Erkenntnis und Erziehung, wie Kempowski in Culpa notiert: »Heute früh Fotos geordnet, Negative eingetascht, eine unangenehme Arbeit. […] Die weiter zurückliegenden haben einen größeren Zauber, das ist klar. Sich dazu erziehen, schon in der Gegenwart das Bleibende auszumachen« (Kempowski 2007, S. 57). Die bildlichen und textuellen Zeugnisse der Zeit stellen daher eine ganze Welt dar, sie gewinnen ihren Sinn aus sich selbst und können sich erst in ihrer Gesamtheit als (inter)textuelle Welt spiegel- und sinnbildlich erweisen. Die Leser: innen sollen sich mit einer Konstellation von Bildern und Texten auseinandersetzen, die aus der zeitlichen und räumlichen Ferne stammen und die sie durch eigenes Ergänzen zu einer Einheit bringen müssen. Das »Mosaik« (Schmidt 1995, S. 115) von Bildern und Dialogen aus der Vergangenheit bietet sich in der Tat als ein Erinnerungsraum an, in dem die Leser:innen sich mit der Geschichte auseinandersetzen sollen. Kempowski, der alles von allen Seiten beleuchten möchte, lässt, auf die Intelligenz der Leser:innen vertrauend, die Stimmen und die Bilder aus der Vergangenheit ihr Echo in den Köpfen heutiger – also näherer – Leser: innen finden. Mit Bezug auf die zweite und ›ferne‹ Station des letzten Echolots, also Auschwitz als Chiffre der Shoah, sind es insbesondere die Einträge aus den Konzentrationslagern Aschendorfer Moor, Bergen-Belsen, Theresienstadt, Dachau und Buchenwald, die im Echolot am 21. April 1945 Auskunft über die Lage der ›Endlösung der Judenfrage‹ geben. Im Abgesang ’45 erfährt man übrigens, dass die militärischen Befehle in den letzten Kriegsmonaten nur schwer zu übermitteln waren, weswegen viele Massenumsiedlungen zu Todesmärschen wurden. Alika Shek, in Theresienstadt interniert, erinnert sich im Echolot daran, dass die wenigen, die am letzten Führergeburtstag erschöpft ans Ziel kamen, sich in Lebensgefahr befanden:
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Um 6.30 kam ein Transport von 25 Waggons, 1800 Leute, an. Es flog die Nachricht durchs Ghetto: Leute aus den Lagern. Als sie an ›Kreta‹ [Stadtteil von Theresienstadt] vorbeifuhren, riefen sie ›Auschwitz‹, ›Birkenau‹, ›Hannover‹, ›Buchenwald‹, sie riefen alle die grausamen Formeln aus dem Zug […]. Stinkende, verpestete Viehwaggons, darin stinkende, verpestete Menschen, halb lebendig, halb tot oder Leichen. (Kempowski 2005, S. 92)
Während die Sowjets in Berlin einrückten, herrschte in den Konzentrationslagern Chaos, die »Goldfasane [waren] wegflogen« (Beevor 2002, S. 65), und als die Verteidigungslinie der deutschen Widerstandsnester durchbrochen wurde, hieß ein Bevölkerungsteil jubelnd die alliierten Truppen willkommen. Im Laufe des letzten Echolots konzentriert sich Kempowski auf das Protokoll vom 8. und 9. Mai 1945. Im letzten Teil des Abgesangs ’45 sind es vor allem die Fotographie Wilhelm Keitels beim Unterzeichnen der Kapitulationsurkunde in Berlin Karlshorst und der Bericht Georgij Shukows, die die Kapitulation Deutschlands versinnbildlichen. Zu den ›fernen‹ Äußerungen von Churchill, Truman, Stalin und De Gaulle kommen im Abgesang ’45 auch die ›nahen‹ Stimmen der kleinen Leute hinzu, welche den Untergang des Dritten Reichs als Augenzeugnisse erlebt haben. Darüber hinaus begleitet Kempowski den Leser durch eine Reise um die Welt, wobei die unterschiedlichen Standpunkte aus Nah und Fern zur Kapitulation Deutschlands zitiert werden. In diesem Sinne ist Kempowskis »Echolot-Projekt« ein Werk, das die Ferne und die Nähe der Geschichte durch einen fiktionalen und fingierten Dialog mit den Toten verbindet. Aufgabe eines jeden Schriftstellers sollte es dem Autor zufolge tatsächlich sein, den Worten der Toten zu lauschen und sie zu entziffern, um dadurch, einen pädagogischen Zweck verfolgend, die Stimme der Untergegangenen der Vergessenheit zu entreißen. Es ist der »Chor der Stummen« (Hage 2005, S. 166) des »Echolot-Projekts«, der nach Kempowski diese Aufgabe zum Teil absolviert: »Die Toten behalten ihre letzte Erfahrung für sich, aber ihre überall deponierten Mitteilungen können wir aufnehmen und entschlüsseln, darauf dürfen wir nicht verzichten« (Kempowski 1993, I, S. 7). Das Bedürfnis, eine Brücke zwischen den Toten und den Lebenden zu schlagen, um eine Lehre aus der Vergangenheit zu ziehen und letztere zu vergegenwärtigen, hat Kempowski gezwungen, sich mit unterschiedlichen Sprachen und Bildern der Geschichte auseinanderzusetzen (vgl. Arntzen 2001). Man kann daher diesen Beitrag mit dem Zitat »Nah und fern klappende Türen, aber keine Menschenseele« (Kempowski 1971, S. 351) beenden. Es stammt aus dem 30. Kapitel des Romans Tadellöser & Wolff von Walter Kempowski, in dem die Jahre dargestellt sind, die seine Familie im Dritten Reich durchlebte, und bezieht sich auf eine Dialektik zwischen den Toten und den Lebenden, die sich auf das unheimliche Klappen von unbewohnten Türen bezieht: Es sind diese Türen zur »Welthölle der Mensch-
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heit«, die das Echolot dank den Stimmen der Zeugen der Kriegstage aus Nah (Deutschland) und Fern (weit entfernte Orte) aufgestoßen hat.
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Raul Calzoni
Kempowski, Walter: Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch. Januar und Februar 1943. 4 Bde. München: Albrecht Knaus 1993. Kempowski, Walter: Das Echolot. Fuga furiosa. Ein kollektives Tagebuch Winter 1945. 4 Bde. München: Albrecht Knaus 1999. Kempowski, Walter: Alkor. Tagebuch 1989. München: Albrecht Knaus 2001. Kempowski, Walter: Das Echolot. Barbarossa ’41. Ein kollektives Tagebuch. München: Albrecht Knaus 2002. Kempowski, Walter: Das Echolot. Abgesang ’45. Ein kollektives Tagebuch. München: Albrecht Knaus 2005. Kempowski, Walter: Culpa. Notizen zum »Echolot«. München: btb 2007. Kumpfmüller, Michael: Die Schlacht von Stalingrad. Metamorphosen eines deutschen Mythos. München: Fink 1995. Kyora, Sabine: Subjekt und Geschichte(n) im »Echolot«. In: Damiano, Carla A./Drews, Jörg/ Plöschberger, Doris (Hg.): »Was das nun wieder soll?« Von Im Block bis Letzte Grüße. Zu Werk und Leben Walter Kempowskis. Göttingen: Wallstein 2005, S. 151–170. Ladenthin, Volker: Literatur als Gegensatz: Eine Einführung ins Werk Walter Kempowskis. In: Ladenthin Volker (Hg.): Die Sprache der Geschichte. Beiträge zum Werk Walter Kempowskis. Eitorf: Gata 2010, S. 7–55. Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt am Main: Fischer 1997. Schallié, Charlotte: Review of Walter Kempowski, Das Echolot. Abgesang ’45 – Ein kollektives Tagebuch. In: »H-German, H-Net Reviews«, January 2006, S. 2. http://www.h-net.m su.edu/reviews/showrev.cgi?path=13721145640208 [letzter Zugriff am 18. 02. 2023]. Schenzle, Markus: Kempowskieskes Erzählen: Narrative Strukturen in Walter Kempowskis »Echolot«. Heidelberg: Winter 2018. Schmidt, Arno: Berechnungen I (Ein Werkstattbericht). In: »Texte und Zeichen« 1955/1, S. 112–117. Schneider, Wolfgang: Das Echolot. Abgesang ’45. In: »Neue Zürcher Zeitung«, 2005/30.04., S. 66.
Federica Missaglia (Università Cattolica del Sacro Cuore, Milano)
Lautsprachliche Kennzeichen von Nähe- und Distanzsprechen
Im Beitrag werden die Konzepte der kommunikativen Nähe und der kommunikativen Distanz aus phonetischer und prosodischer Perspektive betrachtet. Zunächst werden die lautsprachlichen Phänomene des Deutschen auf den verschiedenen Ebenen phonetischer und phonologischer Forschung dargestellt und anschließend mit unterschiedlichen Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien in Verbindung gesetzt. In Anlehnung an das Nähe/Distanz-Modell von Koch und Oesterreicher (1985) werden dabei phonetische Aspekte auf segmentaler und suprasegmentaler Ebene sowie sog. intersegmentale Koordinationsphänomene als nähe- und distanzsprachliche Erscheinungen identifiziert, d. h. als phonetische und prosodische Eigenschaften gesprochener Sprache, deren Anwesenheit und Ausprägung als lautsprachliche Indizien für die Verortung von mündlich dargebotenen Textexemplaren bzw. von individuellen Diskursen auf dem konzeptionellen Nähe/Distanz-Kontinuum interpretiert werden können. German Phonetics & Phonology; German Prosody, Oral Communication, Language of Immediacy & Language of Distance; Koch & Oesterreicher’s Model of Communication.
1.
Einleitung
Das Modell der ›Sprache der Nähe‹ und der ›Sprache der Distanz‹ von Koch und Oesterreicher aus dem Jahre 1985 entstand im Bereich der Romanistik, wo es für die variationslinguistische Differenzierung des Sprachwandels entwickelt wurde (Ágel/Hennig 2010; Oesterreicher 2010). Dabei wurden So¨ lls (1974) Trennung von (phonischem vs. graphischem) Kode und (gesprochener vs. geschriebener) Konzeption sprachlicher Äußerungen und die Na¨ he/Distanz-Unterscheidung aufgegriffen und erweitert. In der Taxonomie Kochs und Oesterreichers ist »das Verha¨ ltnis von phonischem und graphischem Kode im Sinne einer strikten D i c h o t o m i e zu verstehen […] wa¨ hrend die Polarita¨ t von ›gesprochen‹ und ›geschrieben‹ fu¨ r ein K o n t i n u u m von Konzeptionsmo¨ glichkeiten mit zahlreichen Abstufungen steht« (1985, S. 17–18, Hervorhebungen im Original). Koch und Oesterreicher bezeichneten den konzeptionellen Mündlichkeits-Pol als ›kommunikative Nähe‹ und den Schriftlichkeitspol als ›kommunikative Distanz‹.
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Federica Missaglia
In den letzten Jahrzehnten hat das Modell auch innerhalb der Germanistik – nicht nur im Rahmen sprachhistorischer Betrachtungen – breite Anwendung gefunden. Aus diesem Grund wird heute in der romanisch- wie auch in der deutschsprachigen Linguistik von einer »Erfolgsgeschichte« des Modells von Koch und Oesterreicher gesprochen (etwa Hennig/Feilke 2018; Gruber/Grübl/ Scharinger 2021a), wobei es in mehrfacher Hinsicht – vor allem im Rahmen medienlinguistischer Forschungen – kritischen Revisionen unterzogen wurde.1 Im vorliegenden Beitrag soll die Brauchbarkeit des Nähe/Distanz-Modells (Koch/Oesterreicher 1985; Koch/Oesterreicher 22011; Oesterreicher/Koch 2018) für die Beschreibung mündlich dargebotener Texte diskutiert werden, wobei vor theoriegeleitetem sowie empirisch gestütztem Hintergrund das Augenmerk auf die lautsprachlichen Kennzeichen von Nähe- und Distanzsprechen in Verbindung mit Kochs und Oesterreichers Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien gerichtet wird. Der theoretische Rahmen des Beitrags liefert Begründungen aus zwei wissenschaftlichen Bereichen: aus dem phonetisch-phonologischen bei der Betrachtung des Mediums und aus dem variationslinguistischen in Bezug auf die Konzeption. Als Medium steht im Folgenden das Sprachsignal bzw. ›der phonische Kode‹ in der Terminologie Kochs und Oesterreichers im Zentrum des Interesses. Den wissenschaftlichen Rahmen stellen theoretische und empirische Forschungen im Bereich »Phonetik und Phonologie« mit besonderer Berücksichtigung der orthophonischen Eigenheiten der deutschen (Laut)Sprache dar (IPA 62007; Duden 62005; GWdDA 1982), wobei allen Ebenen phonetisch-phonologischer Betrachtung Aufmerksamkeit geschenkt wird. Das Interesse gilt daher nicht nur den Segmenten und den Suprasegmentalia bzw. der Prosodie, sondern auch satzphonetischen Aspekten bzw. sogenannten intersegmentalen Koordinationsphänomenen (Kohler 21995; Laver 1994). Bei der phonetisch und prosodisch orientierten Betrachtung der Konzeption in Verbindung mit spezifischen Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien wird auf das Nähe/Distanz-Kontinuum Bezug genommen (Koch/Oesterreicher 22011, S. 13, Oesterreicher/Koch (2018, S. 26). In der letzten Version des Nähe/Distanz-Kontinuums modellieren Oesterreicher und Koch (2018) ›kommunikative Nähe‹ und ›kommunikative Distanz‹ mit zehn konzeptionell relevanten Dimensionen oder ›Kommunikationsbedingungen‹ und vier ›Versprachlichungsstrategien‹; ferner unterschieden sie entlang des Kontinuums neun Kommunikationsformen oder ›Diskursarten‹: (I) spontanes Gespräch unter Freunden, (II) familiäres, spontanes Telefonge1 Für einen Überblick über die Rezeptionsgeschichte des Modells im Bereich der Germanistik s. Hennig 2019 und Feilke/Hennig 2018; s. auch Gruber/Grübl/Scharinger 2021b für eine kritische Auseinandersetzung mit der Dichotomie Nähe vs. Distanz aus medialer Perspektive.
Lautsprachliche Kennzeichen von Nähe- und Distanzsprechen
73
spräch, (III) Privatbrief unter Freunden, (IV) Vorstellungsgespräch, (V) PresseInterview, (VI) Predigt, (VII) wissenschaftlicher Vortrag, (VIII) Leitartikel, (IX) Gesetzestext. Sie nehmen Bezug auf weitere kommunikative Gattungen, etwa auf eine traditionell distanzsprachliche Diskursart wie den akademischen Vortrag oder die Bundespressekonferenz, und sehen auch Mischformen vor: »So kann ein schriftsprachlich verfasster Brief durch ein ›lockeres‹ Vorlesen im Familienkreis und/oder eine dialektale Aussprache verändert werden, und bei einem mündlichen Presse-Interview sind im Druck Formulierungen ›geglättet‹ und Gesprächswörter, hesitation phenomena u. ä. in der Regel getilgt« (2018, S. 22).
2.
Das Medium: die Lautsprache
Bei der Auseinandersetzung mit dem Medium »phonischer Kode« im Sinne mündlich dargebotener Sprache wird im vorliegenden Beitrag auf die Lautsprache Bezug genommen, wobei entgegen einer wörtlichen Interpretation des Nominalkompositums, ›Lautsprache‹ nicht allein aus Lauten bzw. sog. Segmenten besteht, sondern auch aus dem »Hinzugesungenen«, nämlich der Prosodie, d. h. den Suprasegmentalia – artikulatorisch/auditiv: Tonhöhe/Intonation, Lautheit bzw. Lautstärke und Quantität bzw. akustisch: Grundfrequenz (F0), Intensität und Dauer2 – sowie weiteren Erscheinungen, etwa Pausen, Sprechrhythmus und -tempo (s. u. 2.3.). Darüber hinaus ist mündlich dargebotene Sprache durch sogenannte satzphonetische oder intersegmentale Prozesse geprägt.
2.1
Segmente
Bei der phonologischen Darstellung der Einzellaute (Segmente) wird als Referenzsystem in der Regel die Symbolliste aus dem Handbuch der International Phonetic Association (IPA 62007) verwendet, die eine Systematisierung und Klassifizierung der Einzellaute nach den ihnen zugrunde liegenden distinktiven Merkmalen bietet. Dabei wird zunächst zwischen Konsonanten- und Vokalphonemen unterschieden, die zur besseren Übersichtlichkeit mittels der IPA2 Eine eingehende Betrachtung der Beziehungen zwischen artikulatorischer, auditiver und akustischer Ebene würde den Rahmen des Beitrags sprengen; so sei auf Einführungen in die Phonetik verwiesen, für das Deutsche etwa Kohler 21995 und Pompino-Marschall 32019. In Missaglia 2012 wird erklärt, weshalb zwischen artikulatorischer und akustischer Ebene nahezu eine 1:1-Beziehung vorliegt, während bei der Wahrnehmung die Phonologie als perzeptiver Filter operiert.
74
Federica Missaglia
Tabelle (IPA 62007, S. 86) und sogenannter Vokaltrapeze (Bild 1) dargestellt werden. i
y e ɛː
ɪ
ʊ
ʏ ø ɛ
u
ɪ
i
ʊ
e
o ə
ɔ
œ a
a:
ɔ a
a
ɪ
y
ɛː
ʊ
ʏ
u o
ø ɛ œ
ɔ ɐ a
Abb. 1: Die deutschen Vokalphoneme: Monophthonge (links), Diphthonge (Mitte) und [ɐ]Diphthonge (rechts) (eigene Darstellung nach IPA 62007, S. 87f.).
Zwar vertreten die IPA-Tabelle und die Vokaltrapeze einen phonologischen Ansatz, denn sie listen diejenigen Segmente auf, die in der jeweiligen – hier deutschen – Sprache distinktiven Wert haben und systematisieren sie in natürliche Lautklassen, wie sie linguistischen Regeln oder Lautveränderungen zugrunde liegen, doch geht die Organisation der IPA-Tabelle von der Bildungsweise, d. h. der Artikulation der Laute, aus. Mit der IPA-Tabelle wird daher eine Brücke zwischen phonologischen Beschreibungs- und Klassifikationskriterien und phonetischer (artikulatorischer) Manifestation geschlagen. Vom Ansatz her handelt es sich also sowohl um ein phonologisches – funktionales – System, das die distinktive Funktion der Laute und ihren systematischen Bezug zueinander berücksichtigt, als auch um ein phonetisches, nämlich artikulatorisches System, das die Bildungsweise der einzelnen Laute in Betracht zieht. Berücksichtigt man die Lautproduktion in ihrer konkreten phonetischen Substanz, etwa mit der Hilfe akustischer Analyseprogramme wie Praat,3 so lässt sich eine große Variation bei der Einzellautrealisierung (für Vokale s. etwa Bild 2) verzeichnen. Die Bestimmung der Vokalqualita¨t erfolgt ausgehend von den Mittenfrequenzen der ersten beiden Vokalformanten (F1 und F2), deren Werte ¨ ffnung und Klangfarbe) und den entsprechenden artimit der Vokalqualita¨ t (O kulatorischen Parametern korrelieren: F1 mit der Kiefero¨ ffnung und der Zungenlage auf der vertikalen Achse, F2 mit der der Lippenrundung und der Zungenlage auf der horizontalen Achse. Die Ho¨ he der Zunge im Mundraum korre¨ ffnungsgrad des Vokals, der zunimmt, je weiter die Zunge nach liert mit dem O unten verschoben wird. Die horizontale Verschiebung des Zungenteils, der an der Vokalartikulation beteiligt ist, ist hingegen fu¨ r die Unterscheidung zwischen vorderen (»hellen«), mittleren und hinteren (»dunklen«) Vokalen zusta¨ ndig.
3 https://www.fon.hum.uva.nl/praat/ [letzter Zugriff am 5. 12. 2022].
Lautsprachliche Kennzeichen von Nähe- und Distanzsprechen
75
F2 3000
2500
2000
1500
1000
500
0
F1
500
1000
1500
Abb. 2: Die deutschen Vokale einer erwachsenen Sprecherin (aus Missaglia 1999, S. 109). In der Darstellung der Vokalrealisierungen auf der Grundlage akustischer Werte entsprechen die einzelnen Punkte den gemessenen F1- und F2-Werten als akustische Korrelate des Öffnungsgrads und der Zungenposition.
Sprachnutzer:innen bilden sprachspezifische Hörgewohnheiten auf der Grundlage phonologischer Lautklassen heraus, die es ihnen erlauben, die wahrgenommenen Laute korrekt zu identifizieren, voneinander zu diskriminieren und – selbst im Falle extremer phonetisch-akustischer Variation – als das jeweils intendierte Phonem zu interpretieren bzw. in Extremfällen, etwa in akustisch gestörter Übertragung, korrekt zu rekonstruieren. Während in der Vergangenheit vorwiegend mit abstrakten Kategorien – etwa Phonemen als Merkmalsbündeln – operiert wurde, wird heute dank experimentalphonetischer Untersuchungen zur mentalen Repräsentation von Lautsprache mit konkreten Konzepten gearbeitet, etwa mit dem Prototypenkonzept (s. etwa Kuhl 1991; 1992; 1993; Kuhl/Iverson 1995). So wird heute davon ausgegangen, dass Lautklassen nicht in Form abstrakter Phoneme mental repräsentiert sind, sondern als konkrete Kategorien mit jeweils besseren Vertretern natürlicher Lautklassen (»Prototypen«) im Zentrum der jeweiligen Kategorie und weniger guten Vertretern an den Rändern (Bild 3). Die akustisch messbare artikulatorische Variation bei der Einzellautrealisierung hängt von linguistischen wie auch von extra- und paralinguistischen – kontingenten – Faktoren ab: vom lautlichen Kontext und von den Betonungsverhältnissen, von den Sprechbedingungen und -gewohnheiten der sprechenden Person, ihrem Gesundheits- und Gefühlszustand u. v. a. m.
76
Federica Missaglia
3200
2700
2200
F2
1700
1200
i:
700 300
u:
e: ɪ
ʏ
ʊ
ɛ:
o:
ɔ
700 F1
ɛ
500
a
German Vowels
900
ɑ
1100
FRA
MATH
MAR
mean values
1300
Abb. 3: Die deutschen Vokale deutscher Sprecherinnen im Grundschulalter (aus Missaglia 2010, S. 68) – Akustische Darstellung der Vokalrealisierungen und Mittelwerte der einzelnen Vokale. 2600
2100
F2
1600
1100 300
/i/ /e/
/o/ /ɛ/
600
neutral
Ärger
Ekel
Freude
Langeweile
Angst
Trauer
F1
/ɔ/
/a/
900
Abb. 4: Akustische Variation bei der Vokalrealisierung – die einzelnen Punkte entsprechen den Mittelwerten bei neutraler und emotionaler Sprechweise (aus Missaglia 2008, S. 218).
Lautsprachliche Kennzeichen von Nähe- und Distanzsprechen
2.2
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Intersegmentale Koordinationsphänomene
Bei der phonetischen – artikulatorischen und auditiven – Betrachtung der Lautsprache wird zwischen Wort- und Satzphonetik unterschieden, wobei die Wortphonetik dem präskriptiven Bestreben orthoepischer Werke entspricht und sich auf die hyperartikulierte phonetische Realisierung bezieht, die etwa in Form breiter phonemischer Transkription (sog. Zitierform: [hɑst] [duː] [ˡʔɑɪnən] [moˡmɛnt] [tsɑɪt]) wiedergegeben wird, während die Satzphonetik der Deskription spontaner und natürlicher Rede entspricht. Diese ist durch variierende Artikulation gekennzeichnet, die sich nicht selten durch Hypoartikulation charakterisiert. So ist die spontan realisierte Lautsprache von sog. Allegro-Formen betroffen: [ˡhɑs (m) moˡmɛn ˡtsɑɪt] (Kohler 21995, S. 201). Dabei handelt es sich um satzphonetische Prozesse bzw. intersegmentale Koordinationsphänomene (Laver 1994, S. 339–389): Reduktionen (etwa Tilgungen bzw. Elisionen, Koartikulationen, Assimilationen, Steuerungen, Monophthongierungen usw.) und Elaborationen (Epenthesen, Diphthongierungen und allgemein den Reduktionen entgegengesetzte Prozesse). Reduzierende und elaborierende satzphonetische Prozesse sind das artikulatorische Ergebnis der intersegmentalen Koordinierung neuromotorischer Befehle und feinmotorischer Artikulationsbewegungen, wobei sie gewissermaßen den Kompromiss zwischen zwei gegensätzlichen Tendenzen darstellen: einerseits zu auditiver Differenzierung (und zu maximaler Informationsübertragung mittels elaborierender Phänomene: Überdeutlichkeit, maximale Artikulationspräzision, vowel overshooting usw.) und andererseits zu motorischer Vereinfachung als Folge der Tendenz zu minimalem artikulatorischem Aufwand, wobei unterschiedliche Parameter relevant sind, z. B. artikulatorische und physiologische Bedingungen wie auch linguistische und situative Konditionen, etwa Sprechgeschwindigkeit, lautlicher Kontext, Position und prosodische bzw. suprasegmentale Eigenschaften. Die satzphonetischen Prozesse sind eng mit der Muskelspannung, der Artikulationsgeschwindigkeit und -genauigkeit verknu¨ pft, wie auch mit der neuromuskula¨ ren Koordination bei unterschiedlichem neurophysiologischem Aktivierungsgrad einzelner Emotionen. Nicht zuletzt wirken sich paralinguistische Bedingungen – u. a. der emotionale Zustand – auf die satzphonetische Ebene der lautsprachlichen Realisierung aus, sodass sich bei verschiedenen Emotionen Elaborationen und Reduktionen in unterschiedlichem Maße verzeichnen lassen (vgl. Bild 5).
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Federica Missaglia
Abb. 5: Assimilationen (links) und Anteil an Elisionen und Epenthesen (rechts) bei emotionaler Sprechweise jeweils bezogen auf neutrale Sprechweise (aus Kienast/Sendlmeier 2000, S. 93f.). Beim Lautzahlminderungsquotienten (LMQ, vgl. Hildebrandt 1963) deuten positive Werte auf Elisionen hin, negative auf Epenthesen.
2.3
Prosodie
Wie bereits ausgeführt, besteht Lautsprache nicht allein aus Lauten (Segmenten) und aus Koordinationsphänomenen zwischen den Segmenten: In gesprochener Sprache operiert auch eine ganze Reihe von Phänomenen oberhalb (»supra«) der Segmente. Sog. Suprasegmentalia – Tonhöhe, Lautstärke und Quantität – bestimmen die Art und Weise wie Einzellaute realisiert (und wahrgenommen) werden: hoch vs. tief, laut vs. leise, lang vs. kurz, wobei in der Regel nicht mit binären, sondern mit graduellen Merkmalen operiert wird, die unterschiedlich starke Ausprägungen aufweisen. Suprasegmentale Eigenschaften erfüllen relevante linguistische Funktionen (Missaglia 2012), in Verbindung etwa mit der Akzentzuweisung auf lexikalischer Ebene (Wortakzent), mit der Informationsverteilung bzw. der Fokussierung auf der Satzebene (Satzakzent) und mit der Kennzeichnung des Satzmodus (Intonationskontur, Tonhöhenverlauf). Darüber hinaus üben sie weitere etwa ausdrucksrelevante Funktionen auf individueller extralinguistischer wie auch auf kontingenter paralinguistischer Ebene aus. Dabei lässt sich die Ausprägung der suprasegmentalen Eigenschaften u. a. bei pathologischer und emotionaler Sprechweise empirisch nachweisen: Sprecheremotionen beeinflussen eine Vielzahl neuromuskula¨ rer Koordinationsprozesse, bei der Phonation etwa die Aktivita¨ t der laryngalen Muskulatur, sowie die Spannung der an der Artikulation beteiligten Muskeln, selbst die supralaryngale Konfiguration, d. h. die Einstellung der Artikulationsorgane im Mundraum. Emotionale Sprechweise wirkt sich verschiedenartig auf die prosodischen Eigenschaften der Lautsprache, die Akzentuierungs- und Deakzentuierungsprozesse, das Sprechtempo, die Artikulationsgenauigkeit und die satzphonetischen – intersegmentalen – Pha¨ nomene aus (Missaglia 2008, S. 216).
Lautsprachliche Kennzeichen von Nähe- und Distanzsprechen
79
Prosodie (aus dem Griechischen: »das Hinzugesungene«) betrifft neben den Suprasegmentalia weitere lautsprachliche Eigenschaften, etwa die Stimmqualität, das Sprechtempo, die Pausen, den Sprechrhythmus, Eigenschaften, die zwar keine linguistische Funktionen stricto sensu ausüben, aber u. a. stark mit dem kommunikativen Kontext, der Textsorte und der Beziehung zwischen Sender:in und Empfänger:in in Verbindung stehen.
3.
Die Konzeption: Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien
Auf die Frage, wie sich kommunikative Nähe und kommunikative Distanz lautsprachlich, d. h. auf suprasegmentaler, satzphonetischer und segmentaler Ebene erkennbar machen, kann allgemein geantwortet werden, dass Distanzsprechen sich in der Übertreibung des sog. orthoepischen Standards manifestiert, nämlich in Form hyperartikulierter Realisierung im Sinne hochsprachlicher, besonders sorgfältiger und überdeutlicher Artikulation, so wie sie in den maßgebenden orthoepischen Werken, etwa in den Wörterverzeichnissen normierender Aussprachewörterbücher oder für isolierte Sätze in Grammatiken und Handbüchern für den (Fremdsprachen)Unterricht vorgeschrieben wird. Sie entspricht der idealen Vorstellung segmentaler, inter- und suprasegmentaler Erscheinungen in kontextfreien Wörtern und Sätzen. Umgekehrt kann festgehalten werden, dass Nähesprechen sich in der Entfernung vom sog. orthoepischen Standard manifestiert, etwa in Form geringer Aussprachegenauigkeit und weiterer reduzierender sprechsprachlicher Eigenschaften. Bei der Untersuchung phonostilistischer Variation in Anbetracht segmentaler, satzphonetischer und prosodischer Erscheinungen in der lautsprachlichen Realisierung kann darüber hinaus festgestellt werden, dass bei steigendem Bekanntheitsgrad zwischen den Gesprächsteilnehmer:innen (etwa in informellen, zwanglosen und nachlässigen Diskussionen, in umgangssprachlichen Unterhaltungen usw.) verhältnismäßig mehr schwache Formen und reduzierende satzphonetische Phänomene sowie unpräzise Artikulationen auftreten als in Sprechsituationen mit formalem Charakter, etwa in Nachrichtensendungen (vgl. die sog. Vorleseaussprache, zumindest in konservativen Sendern), in Vorträgen oder im förmlichen Sprechstil.
80 3.1
Federica Missaglia
Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien in der Lautsprache
Bei der Betrachtung räumlicher, zeitlicher sowie referentieller und persönlichsozialer Verhältnisse lassen sich im postulierten Nähe/Distanz-Kontinuum (Koch/Oesterreicher 2018, S. 26) die Kommunikationsbedingungen (KB) a) Privatheit; b) Vertrautheit der Kommunikationspartner:innen; c) Emotionalität bzw. starke emotionale Beteiligung; d) Situations- und Handlungseinbindung; e) Referenzbezug stark abhängig von der Sprecher:innen-origo bzw. referentielle Nähe; f) physische bzw. raum-zeitliche Nähe (face-to-face); g) intensive kommunikative Kooperation; h) Dialogizität; i) Spontaneität; j) freie Themenentwicklung sowie die Versprachlichungsstrategien (VS) Präferenz für nichtsprachliche Kontexte und für Gestik, Mimik etc.; geringer Planungsaufwand; Vorläufigkeit und Aggregation mit dem Pol der kommunikativen Nähe und umgekehrt die Kommunikationsbedingungen a) Öffentlichkeit; b) Fremdheit der Kommunikationspartner:innen; c) keine Emotionalität bzw. geringe emotionale Beteiligung; d) Situations- und Handlungsentbindung; e) Referenzbezug maximal unabhängig von der Sprecher:innen-origo bzw. referentielle Distanz; f) physische bzw. raum-zeitliche Distanz; g) keine kommunikative Kooperation; h) Monologizität; i) Reflektiertheit; j) starke Themenfixierung sowie die Versprachlichungsstrategien Präferenz für sprachliche Kontexte; hoher Planungsaufwand; Endgültigkeit und Integration mit dem Pol der kommunikativen Distanz in Verbindung setzen, wobei entsprechend der Vorstellung eines Kontinuums zahlreiche Abstufungen und Ausprägungen der Dimensionen zu verzeichnen sind. So lassen sich prosodische – stimmliche und sprecherische – Eigenschaften auf die von Koch und Oesterreicher identifizierten charakteristischen Kommunikationsbedingungen des Nähe-Pols beziehen: Erhöhte Sprechgeschwindigkeit4 mit ihren charakteristischen Auswirkungen auf satzphonetischer und segmentaler Ebene5 und von neutraler Modalstimme abweichende Stimmqualität, wie sie etwa bei rauer und knarrender Stimme zu verzeichnen ist (s. Eckert/Laver 1994; Missaglia 2018) sind beispielsweise als Indizien für c) Emotionalität und i) Spontaneität (VS geringer Planungsaufwand) zu verstehen, Flüsterstimme und leise Stimme – suprasegmental niedrige Lautstärke bzw. geringer Luftdruck – für die KB a) Privatheit, b) Vertrautheit der Kommunikationspartner:innen und 4 In der Regel kann davon ausgegangen werden, dass bei steigendem Komplexitätsgrad der Konstrukte – der typischerweise elaborierte Mündlichkeit bzw. distanzsprachliche Texte auszeichnet – die Sprechgeschwindigkeit reduziert wird. 5 Zu den rhythmusbedingten reduzierenden Auswirkungen im Deutschen und zu den Beziehungen zwischen Rhythmus und segmentalen, inter- und suprasegmentalen Phänomenen in akzent- und silbenzählenden Sprachen s. Missaglia 2012.
Lautsprachliche Kennzeichen von Nähe- und Distanzsprechen
81
f) physische Nähe. Während leises Sprechen, Hauch- und Flüsterstimme in der Regel von Intimität und Nähe zeugen, verweist umgekehrt lautes Sprechen vor allem auf a) Öffentlichkeit und f) physische Distanz. Wird allerdings übertrieben laut gesprochen – mitunter sogar geschrien – so kann dies wiederum als Entfernung von normaler Lautstärke betrachtet und damit als Nähezeichen (KB c) Emotionalität und i) Spontaneität; VS geringer Planungsaufwand) interpretiert werden. Im Bereich der Suprasegmentalia können darüber hinaus Veränderungen der Quantität (etwa Vokaldehnung oder Längung frikativer, lateraler und nasaler Konsonanten) und des Sprechtempos, großer Stimmumfang (der sog. range als Differenz aus ho¨ chstem und niedrigstem F0-Wert) und Tonhöhenvariationen6 wie auch viele Betonungen als Merkmale emotionaler Sprechweise betrachtet werden (KB c) Emotionalität und i) Spontaneität; VS geringer Planungsaufwand, Vorläufigkeit), während umgekehrt monotone und wenig abwechslungsreiche Sprechweise, geringer Stimmumfang und geringe Tonho¨ henvariationen etwa durch wenige Betonungen und stabile Intonationskurven als Hinweise für c) keine Emotionalität und i) Reflektiertheit gelten. Zwar strahlt monotone Sprechweise Sachlichkeit aus, da sie einto¨ nig und leidenschaftslos wirkt.7 Ruhige Stimme, klare Stimmbögen durch regelmäßiges Senken der Stimme, Strukturierungspausen wie auch regelmäßige Tempo- und Betonungsstrukturen auf Wort- und Satzebene vermitteln den Eindruck von Reflektiertheit und Planung. Was die Prominenz und ihre Funktionen auf der Wort- und der Satzebene anbelangt, so zeigt sich im Allgemeinen, dass eine große Anzahl an Wort- und Satzakzenten zur Hervorhebung mehrerer Silben im Wort bzw. mehrerer Wörter im Satz eine starke fokussierende Funktion hat und daher mit d) Situations- und Handlungseinbindung korreliert bzw. sich mit den KB e) referentielle Nähe und j) freie Themenentwicklung verbindet. Im Gegensatz zu den »normalen« ¨ ußerungsakzenten, die sich durch »einfache« Prominenz auszeichnen, werden A sog. Hervorhebungsakzente durch starke Prominenz gebildet, und sie dienen ¨ ußerung als besonders ›wichtig‹ auszudazu, »einzelne Konstituenten einer A zeichnen. Im Einzelfall kann dies mit ganz unterschiedlichen Intentionen erfolgen« (Kehrein 2002, S. 95). Regelmäßigkeiten im Bereich der Akzentuierung und Intonation gelten im Allgemeinen als Distanzzeichen, da sie von i) Reflektiertheit und j) starker 6 Als akustischer Kennwert fu¨ r den Vergleich von Stimmqualita¨ten und zur Messung der Tonhöhenvariation gilt die Standardabweichung der Grundfrequenz, die u. a. ein Indikator fu¨ r die Lebendigkeit der Sprechweise darstellt. Wird etwa die mittlere Sprechstimmlage (»Indifferenzlage«) oft und abrupt verlassen – vor allem nach oben in die Falsettstimme – so gilt dies als Zeichen von c) Emotionalität und i) Spontaneität. 7 Zur Sprechwirkungs- und Persönlichkeitsforschung und zum Höreindruck von Stimme und Sprechweise vgl. Sendlmeier 32019. S. dazu bereits Neuber 2006 und Stock 1991.
82
Federica Missaglia
Themenfixierung (VP hoher Planungsaufwand) zeugen, während umgekehrt Akzentverletzungen und Verletzungen der Betonungsregeln (etwa Betonungsfehler, unnatürliche Betonungsmuster, Überbetonungen, stimmliche Hervorhebungen von Wortsilben und Wörtern, die nicht zu betonen wären) als Nähezeichen zu interpretieren sind, da sie auf i) Spontaneität und j) freie Themenentwicklung verweisen. Besonders markierte Prosodie, die zwar keine linguistische Funktion stricto sensu hat, sondern etwa zum Ausdruck von Einstellungen und Emotionen eingesetzt wird, kann auf die VP Präferenz für nichtsprachliche Kontexte bezogen werden, zumal sie nicht selten in Kommunikationsformen vorkommt, die durch Multimodalität gekennzeichnet sind,8 Kommunikationsformen nämlich, in denen neben der Lautsprache auch die Körperlichkeit – etwa Mimik und Gestik, Haltung und Blickkontakt – zum Einsatz kommt. Hypoartikulierte Sprechweise, die sich durch geringe Artikulationspräzision auszeichnet, auf satzphonetischer Ebene v. a. durch reduzierende intersegmentale Koordinationsphänomene (»Allegro-Formen«) und im segmentalen Bereich u. a. durch vowel undershooting realisiert wird, lässt sich mit den KB a) Privatheit; b) Vertrautheit der Kommunikationspartner:innen; c) Emotionalität; i) Spontaneität und mit den VS geringer Planungsaufwand und Vorläufigkeit in Verbindung setzen, wie auch Zögerungs- bzw. Häsitationsphänomene und Reparaturphänomene, während dialektale Färbung bei der lautsprachlichen Realisierung vor allem von Einzellauten und Lautverbindungen auf die KB b) Vertrautheit der Kommunikationspartner:innen bezogen werden kann. Hyperartikulierte, überdeutliche und besonders präzise bzw. saubere Artikulation, gekennzeichnet durch elaborierende satzphonetische Phänomene, vowel overshooting und geringe Abweichungen von der orthoepischen Norm kann hingegen auf die KB b) Fremdheit der Kommunikationspartner:innen; c) keine Emotionalität; d) Situations- und Handlungsentbindung; e) Distanz; i) Reflektiertheit und auf die VS hoher Planungsaufwand und Endgültigkeit bezogen werden. Nicht zuletzt kann eine hohe Anzahl an (unreflektierten, improvisierten) Pausen – sowohl Atem- als auch Staupausen bzw. Unterbrechungen im Redefluss – mit den KB c) Emotionalität und i) Spontaneität in Verbindung gebracht werden, während besondere lautsprachliche Signale wie das Absenken der Stimme, die Pause und die Dehnung am Ende der Intonationsphrase (final lengthening), und der fallende Intonationsverlauf als Kennzeichen einer abgeschlossenen Aussage, steigender Intonationsverlauf für Entscheidungsfragen sowie weitere spezifische Signale für die Turnusübernahme (turn taking) und 8 Für neue Kommunikationsformen, die multimodale Formate besitzen, und damit verbundene pragmatisch-kommunikative Aspekte s. etwa Koch/Oesterreicher 2018, S. 54ff.
Lautsprachliche Kennzeichen von Nähe- und Distanzsprechen
83
lautliche Gliederungs-9 und Kontaktsignale als Indizien für die KB g) intensive Kooperation und h) Dialogizität und die VS Aggregation gelten.
3.2
Überlegungen zur Verortung von Textexemplaren und Diskursarten
Nachdem das Nähe/Distanz-Modell von Koch und Oesterreicher dafür kritisiert wurde, dass es »keine konkreten Anhaltspunkte zur Verortung einzelner Diskursarten zwischen den Polen der Nähe und Distanz bietet« (Ágel/Hennig 2006b, S. 33), wurde nach Verfahren für die Positionierung von konkreten Textexemplaren und individuellen Diskursen statt von Diskurstraditionen und Textsorten entlang des postulierten Kontinuums gesucht. Einen Vorschlag in diese Richtung stellt Ágels und Hennigs (2006a und b; 2007) Methode dar. Sie besteht aus einer Merkmalsanalyse mit einem Punkte-System: Die Punktgebung erlaubt die Situierung der Texte entlang der Na¨he/Distanz-Skala. Ágel und Hennig gehen von einem prototypischen Na¨ hetext als Vergleichstext aus und führen ihre Analyse auf der Mikro- und Makroebene, ausgehend von einem Repertoire von Mündlichkeitsmitteln (»Nähemerkmalen«), durch; das Verfahren gliedert sich in mehrere Schritte, in denen ein quantitativ und statistisch gestützter Vergleich zwischen dem tertium comparationis und dem einzuordnenden Text gemacht wird. In Anlehnung an Ágels und Hennigs Vorschlag für medial schriftliche Texte kann auch für lautsprachliche Äußerungen, d. h. medial mündliche Texte, von einem Vergleichstext ausgegangen werden, wobei zunächst sprecherische, stimmliche und lautsprachliche Eigenschaften perzeptiv identifiziert, anschließend beschrieben und klassifiziert sowie akustisch ausgewertet werden, um sie schließlich mit den Merkmalen des zu verortenden Textes zu vergleichen. Die Anwesenheit und Ausprägung der jeweils erkannten Merkmale und die messbare Entfernung von den Merkmalen aus dem Vergleichstext sowie von der orthoepischen Norm kann als Indiz für die Positionierung auf der Nähe/DistanzSkala betrachtet werden. Während zur qualitativen Beschreibung der miteinander zu vergleichenden Texte die Wahrnehmung (sog. Ohrenphonetik) ausschlaggebend ist, kann eine akustische Analyse den Höreindruck empirisch untermauern und eine quantitative Basis für den Vergleich darstellen. Die akustischen Messungen geben ob9 »Der Status von sogenannten ›Diskursmarken‹ oder ›Gliederungssignalen‹ als lexikalischen, grammatischen und/oder pragmatischen Sprachzeichen kann nicht als gekla¨ rt angesehen werden. Wir betrachten die ›Na¨hezeichen‹ […] insofern als relevant auch fu¨ r die grammatische Beschreibung von Na¨ hekommunikation, als sie einerseits zur Strukturierung des Redeflusses beitragen und andererseits nicht Bestandteil benachbarter Einheiten sind, sondern eigensta¨ ndige Einheiten darstellen« (Ágel/Henning 2006, S. 26).
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jektive Hinweise auf die tatsächliche Manifestation bestimmter Stimm- und Sprechparameter, etwa akustische Parameter wie die Grundfrequenz, die Sprechgeschwindigkeit, die Artikulationsrate und die Pausenstruktur sowie die spektrale Energieverteilung für die Bestimmung der Vokalqualität. Globale statistische Auswertungen der Grundfrequenz (Durchschnittswert, range, Standardabweichung usw.) vermitteln relevante Informationen in Bezug auf die mittlere Sprechstimmlage, den Stimmumfang und die Tonhöhenvariation, während detaillierte Analysen Informationen zu den Betonungsverha¨ltnissen (betonte vs. unbetonte Silben, Wort- und Satzakzente) und Silbenstrukturen (Anzahl und Art der Segmente) bereitstellen. Zur akustischen Bestimmung der Akzentstrukturen werden die Grundfrequenz- bzw. F0, Intensitäts- und Dauerwerte gemessen und miteinander verglichen. Dem auditiven Eindruck von Hervorhebung – oder Akzentuierung – entspricht auf akustischer Ebene die Prominenz, deren phonetisches Korrelat aus dem Zusammenwirken von Grundfrequenz, Intensita¨ t und Dauer besteht. Betonte Silben zeichnen sich in der Regel durch erho¨ hte Intensita¨ t, erho¨ hte Grundfrequenz und/oder la¨ ngere Dauer aus. Die Extraktion und statistische Auswertung der F0-, Intensita¨ ts- und Dauerwerte aus dem Sprachsignal vermittelt somit Hinweise zur Aktivita¨ t der laryngalen Muskulatur, zum Luftdruck und zur Segmentdehnung, welche als Parameter für die Akzentuierung bewertet werden. Silbenstrukturen und Artikulationsgeschwindigkeit sind ausschlaggebende Kriterien für die Analyse der satzphonetischen oder intersegmentalen Prozesse, Anzahl und Art der Segmente, LMQ und Vokalqualität für die Aussprachegenauigkeit. Um den Grad der Artikulationsgenauigkeit bei der Vokalproduktion zu bestimmen und die Abweichungen von der erwarteten Zungenposition zu determinieren, müssen die F1- und F2-Werte betonter und unbetonter Vokale aus dem Sprachsignal extrahiert werden. Hohe F2-Werte für vordere, niedrige Werte für hintere Vokale, niedrige F1-Werte für geschlossene und hohe Werte für offene Vokale entsprechen der Artikulierung an den Extrempositionen des Mundraumes, d. h. der Realisierung gespannter und dezentralisierter, besonders gut erkennbarer Vokale (vowel overshoot): Die Vokale »schießen« gewissermaßen u¨ ber die Zielposition hinaus, sie werden mit einem ho¨ heren Grad an Artikulationspra¨ zision und Muskelspannung realisiert, als es funktionell relevant wa¨ re, d. h. als es zur phonologischen Unterscheidung der Vokallaute notwendig wa¨ re. Deuten die ermittelten Werte hingegen auf die entgegengesetzte Tendenz hin, na¨mlich auf ein vowel undershoot, so korreliert dies mit neutraler, zum Schwa-Laut neigender Klangfarbe.
Lautsprachliche Kennzeichen von Nähe- und Distanzsprechen
4.
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Fazit und Ausblick
Zur Diskussion stand im Beitrag, ob und inwiefern phonetische und prosodische Phänomene als lautsprachliche Kennzeichen von Nähe- und Distanzsprechen interpretiert werden können, wie bereits für lexikalische und morphosyntaktische Erscheinungen nachgewiesen wurde. Anhand einiger Beispiele wurde gezeigt, dass lautsprachliche Aspekte als nähe- und distanzsprachliche Erscheinungen identifiziert werden können, d. h. als phonetische und prosodische Manifestationen gesprochener Sprache, deren Anwesenheit und Ausprägung als Indizien für die Verortung von mündlich dargebotenen Texten auf dem konzeptionellen Nähe-Distanz-Kontinuum betrachtet werden können. Um lautsprachliche Äußerungen zwischen den Polen der kommunikativen Nähe und der kommunikativen Distanz zu positionieren, wurden die phonetischen und prosodischen Erscheinungen mit den Kommunikationsbedingungen und den Versprachlichungsstrategien des Nähe/DistanzModells von Koch und Oesterreicher in Verbindung gesetzt. Die angeführten Überlegungen erheben nicht den Anspruch auf allgemeine Gültigkeit, zumal die perzeptiv wahrgenommene und akustisch ermittelbare Ausprägung einzelner Parameterwerte lediglich als Indiz für die Lokalisierung konkreter Texte zu verstehen ist. Die Überlegungen sind als theoretische Ausgangsbasis für korpusgestützte empirische Untersuchungen intendiert, die in Anbetracht der phonetisch-phonologischen Regelmäßigkeiten – hier der deutschen Sprache – und der zahlreichen Sprecher:innen-, Situations- und kontextbedingten Variationsmöglichkeiten phonetisch-prosodischer Realisierung Einsichten für die kommunikativ-konzeptionelle Interpretation konkreter lautsprachlicher Äußerungen bieten.
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Ramona Pellegrino (Università di Genova)
»dem lebendigen Sprachraum seit fünfzig sechzig Jahren fern«:1 Nähe und Distanz zum deutschen Sprach- und Kulturraum in narrativen Interviews des Israelkorpus
Anhand ausgewählter Beispiele aus dem von Anne Betten und Mitarbeiter:innen erstellten Israelkorpus – einer Reihe narrativer autobiografischer Interviews mit jüdischen Emigrant: innen, die während des Nationalsozialismus aus deutschsprachigen Regionen Mitteleuropas nach Palästina/Israel geflohen sind – soll die Positionierung der Sprecher:innen in Bezug auf Nähe und Distanz zum deutschen Sprach- und Kulturraum beleuchtet werden. Narrative Interviews; Places and Memory; Family Chronotopes; Language Biographies.
1.
Einleitung: Untersuchungskorpus, Forschungsansatz und Fragestellung
In meinem Beitrag soll auf sprachliche Darstellungsformen von Nähe und Distanz in ausgewählten Beispielen aus dem sogenannten »Israelkorpus« eingegangen werden. Dies umfasst insgesamt 318 narrative autobiographische Interviews, die von Anne Betten und Mitarbeiterinnen von 1989 bis 2019 mit jüdischen Emigrant:innen (Jeckes2) aus deutschsprachigen Regionen Mitteleuropas meist in Israel aufgenommen wurden. Die Interviews sind in der Datenbank für Gesprochenes Deutsch (DGD) am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) enthalten und sind dort in drei Korpora unterteilt: Emigrantendeutsch in Israel (IS), Emigrantendeutsch in Israel: Wiener in Jerusalem (ISW) und Zweite Generation deutschsprachiger Migranten in Israel (ISZ). Da mein Forschungsinteresse vor allem den österreichischen Sprecher:innen der ersten Generation gilt, besteht mein Untersuchungskorpus aus dem gesamten Korpus Emigrantendeutsch in
1 Interview mit Alice Schwarz-Gardos (DGD, Ereignis IS-_E_00114, Transkript PID = http:// hdl.handle.net/10932/00-0332-C3F3-442B-7F01-B). 2 Dieser Begriff – der mit unterschiedlichen Vorstellungen und z. T. mit Vorurteilen, aber stets mit Konnotationen der Andersartigkeit verbunden war (vgl. dazu Betten 2013b) – bezeichnet deutschsprachige jüdische Einwanderer:innen, die überwiegend zwischen Hitlers Machtergreifung 1933 und dem Beginn des 2. Weltkrieges in das damalige Britische Mandatsgebiet Palästina (ab 1948 Israel) emigrierten.
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Israel: Wiener in Jerusalem (ISW), d. h. aus allen 28 Interviews mit 21 Sprecher: innen österreichischer Herkunft, und den 20 Interviewereignissen inklusive Wiederholungsinterviews des Korpus Emigrantendeutsch in Israel (IS), die mit 15 Österreicher:innen geführt wurden. Während des Erzählens und der Erinnerungsarbeit, die die Interviewten dabei leisten, nehmen Orte eine wichtige Rolle ein. Vor allem infolge des sogenannten spatial turn (vgl. u. a. Günzel 2010) und des darauffolgenden topographical turn (vgl. Wagner 2010) wurden die Vorteile eines Ansatzes, der sich mit Orten bzw. räumlichen Aspekten und deren Einbettung in die Lebensgeschichte eines Individuums befasst, zunehmend betont (vgl. u. a. Leonardi et al. 2023). Im Laufe eines biografischen Gesprächs, in dem die erzählende Person Episoden aus ihrer Lebensgeschichte wiedergibt, können Orte und räumliche Elemente auf unterschiedliche Art und Weise sprachlich dargestellt werden, was u. a. mit ihrer Wahrnehmung seitens der Sprecher:innen zu tun hat. Eindrücke und Emotionen, die mit bestimmten Orten verbunden sind, können sich im Laufe der Zeit verändern, z. B. wenn Orte der Vergangenheit aus der Perspektive der Erzählzeit (zu den Begriffen »Erzählzeit« und »erzählte Zeit« vgl. Müller 1947) betrachtet werden. In einem biographischen Gespräch wird Identitätsarbeit betrieben, d. h. die erzählende Person entwickelt eine sogenannte »narrative Identität« (vgl. Ricœur 1986; Bruner 1990; Lucius-Hoene/Deppermann 2004; Bamberg/Demuth/Watzlawick 2021), durch die sie eine gewisse Kontinuität und Kohärenz des Erzählten (vgl. dazu Lucius-Hoene/Deppermann 2004, S. 167) herstellt. Bei der Konstruktion der narrativen Identität handelt es sich um einen Prozess, in dem die erzählende Person bestimmte Aspekte der eigenen Identität aushandelt und sich somit positioniert (vgl. dazu Bamberg 2022). Durch die Positionierung ergibt sich die Perspektive der diskursiven Handlungen, denn sie umfasst die linguistischen Strategien, mit denen der Sprechende »sich in einer Interaktion zu einer sozial bestimmbaren Person macht, eben eine bestimmte ›Position‹ im sozialen Raum für sich in Anspruch nimmt und mit denen er dem Interaktionspartner zu verstehen gibt, wie er gesehen werden möchte (Selbstpositionierung)« (ebd., S. 168f.) oder – durch die Fremdpositionierung – wie andere gesehen werden sollen (vgl. ebd., S. 169). Sprachlich zeigt sich die Positionierung der erzählenden Person u. a. durch das Verwenden bestimmter Personalpronomen (vgl. dazu Imo/Ziegler 2019; Dannerer 2022; zur Wahl der Personalpronomen als Indikator für die jeweilige Identitätsinszenierung der erzählenden Person im Israelkorpus vgl. Betten 2007) und durch die Darstellung der eigenen Agency (Agentivität) (vgl. Duranti 2004). Orte nehmen eine wichtige Rolle auch in Hinblick auf Indexikalität ein (vgl. Duranti 2012), denn die Darstellung der Beziehungen zwischen Personen und Gegenständen in einer bestimmten Raum-Zeit-Konstellation in der Erzählung
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gibt Einsicht, wie die Erzählenden sich und andere als Teil einer bestimmten Gruppe positionieren. Durch die Analyse der deiktischen Elemente (z. B. lokaler Adverbien, Verbpartikeln, Bewegungsverben usw.), die die Sprecher:innen verwenden, um sich und andere zu lokalisieren, kann die Origo – d. h. das Wahrnehmungszentrum bzw. der »Koordinatenausgangspunkt« (Bühler 1965, S. 102) – des Erzählten und somit die Perspektivierung der erzählenden Person (auch bzgl. Ferne und Nähe zum deutschsprachigen Raum) ermittelt werden (zur Verwendung von Partikelverben im Israelkorpus vgl. u. a. Schneider 2023; Stieber/Schettino 2023). Bei der Analyse von räumlichen Elementen in Verbindung mit zeitlichen Koordinaten erweist sich das »Chronotopos«-Konzept als besonders geeignet. Der Begriff stammte ursprünglich aus der Biologie und wurde von Michail Bachtin in die Literaturwissenschaft eingeführt, wo er ihn als »Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten Zeit-und-Raum-Beziehungen« (Bachtin 2008, S. 7) bezeichnete. Das Chronotopos-Konzept wurde von der jüngeren Forschung in linguistisch orientierten Untersuchungen von autobiografischen Erzählungen angewandt. Dabei wurde betont, dass vieles von dem, was als Identitätsarbeit gilt, als chronotopisch betrachtet und beschrieben werden kann, denn the actual practices performed in our identity work often demand specific timespace conditions as shown by the fact that changes in timespace arrangements trigger complex and sometimes massive shifts in roles, discourses, modes of interaction, dress, codes of conduct and criteria of judgement of appropriate versus inappropriate behavior, and so forth. (Blommaert/De Fina 2016, S. 3f.)
Das Chronotopos-Konzept wurde in der narratologischen Forschung aufgegriffen (vgl. Perrino 2015; Perrino/Kohler 2020; Wodak/Rheindorf 2017) und auch auf den sog. Israelkorpus angewandt (vgl. u. a. Leonardi 2016, 2021, 2022; Leonardi/Schettino 2020).3 Vor allem Simona Leonardi hat unterstrichen, dass sich das Chronotopos-Konzept in der Auseinandersetzung mit diesen autobiografischen Erzählungen als besonders geeignet erweist, zum einen, weil sich dadurch das Zusammenspiel der zeitlichen und räumlichen Dimensionen klar auszeichnet, das deren Wechselbeziehungen mit verschiedenen Selbstund Fremddarstellungen mit einschließt […]; zum anderen, weil in diesem Zusammenspiel Emotionen und den damit verbundenen Bewertungen eine wichtige Rolle eingeräumt wird. (Leonardi 2016, S. 5)
Die vorliegende Arbeit knüpft somit an vorangehende Untersuchungen an, die die Bedeutung von Orten und räumlichen Elementen im sog. Israelkorpus in 3 Vgl. außerdem das von Leonardi geleitete Projekt Orte und Erinnerung. Eine Kartografie des Israelkorpus: https://kartografiedesisraelkorpus.wordpress.com/ [letzter Zugriff am 30.11. 2022].
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Hinblick auf ihre Verbindung mit Erinnerungen und Emotionen und der daraus resultierenden narrativen Identitätsarbeit, die von den Interviewten geleistet wird, betont haben (vgl. u. a. Betten 2013a, 2018; Flinz 2022; Leonardi 2016, 2019, 2022; Thüne 2020). Ein weiterer Ausgangspunkt sind Analysen zur Bedeutung von Sprache für die Beziehung der Interviewten zu ihren Herkunftsländern (vgl. u. a. Betten 2007). In diesem Beitrag soll anhand einer qualitativen Analyse, die sich den Methoden der Narratologie bedient, die Positionierung der Sprecher: innen in Bezug auf Nähe und Distanz zum deutschen Sprach- und Kulturraum anhand ausgewählter Beispiele aus meinem Untersuchungskorpus beleuchtet werden, indem die Rolle der Raum-Zeit-Koordinaten (d. h. der Chronotopoi) und deren sprachliche Realisierungsformen vor allem in Hinblick auf den Ausdruck von Agency sowie auf die Verwendung von Personalpronomen und Deiktika untersucht werden.
2.
Nähe und Distanz zum deutschen Sprach- und Kulturraum
Wie im vorigen Abschnitt erwähnt, besteht mein Untersuchungskorpus aus 43 Interviews mit 36 Sprecher:innen österreichischer Herkunft. Die meisten Interviewten dieses anhand der familiären Biografien erfassten Subkorpus wurden zwar in Österreich geboren (30 von 36), bei den allermeisten stammte aber zumindest ein Elternteil nicht aus Österreich, sondern (überwiegend) aus anderen, ferneren Gebieten der Habsburgermonarchie (und auch im Falle von in Österreich geborenen Elternteilen waren deren Familien oft aus östlichen Regionen der Monarchie emigriert), was sich entsprechend auf die familiäre Sprachbiografie und das Spracherleben der Interviewten (vgl. dazu Busch 2013, 2015, 2016) auswirkt. In dieser Hinsicht erweisen sich die folgenden zwei Fallstudien als besonders beispielhaft: Beide Sprecherinnen wurden in Österreich geboren und verbrachten dort ihre Kindheit, wobei Mirjam Alexander zu den wenigen Interviewten gehört, deren Eltern auch beide in Österreich geboren wurden (obwohl ihre Großeltern alle aus Mähren kamen); Alice Schwarz-Gardos’ Eltern stammten dagegen aus der Slowakei, ihre Familienwurzeln reichten aber bis nach Ungarn. So wie die meisten ISW-Interviewten emigrierte Mirjam Alexander mit der Jugend-Alija4 nach Palästina und erfuhr die erste Sozialisation dort im Kibbuz; die Sprecher:innen des IS-Korpus – darunter Alice SchwarzGardos – waren meistens noch in der Zeit der Habsburgermonarchie geboren, wodurch sie womöglich stärker von ihr beeinflusst wurden, und waren auch im 4 Eine jüdische Organisation, die seit Ende 1932 versuchte, möglichst viele Kinder und Jugendliche aus Europa ins britische Mandatsgebiet Palästina zu bringen, um sie vor den nationalsozialistischen Verfolgungen zu retten.
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Durchschnitt älter, als sie Europa verließen. Zur Durchführung der Interviews muss schließlich noch erwähnt werden, dass die Interviews des IS-Korpus überwiegend von Anne Betten selbst geführt wurden, die damals Professorin an der Universität Eichstätt (dann Salzburg) war, während die ISW-Sprecher:innen in der Regel von jeweils zwei Studentinnen interviewt wurden, die altersmäßig ihre Enkelinnen hätten sein können. Es versteht sich, dass die verschiedenen Rahmenbedingungen, unter denen die beiden Korpora erstellt wurden, die jeweiligen Interviews aus pragmatischer Sicht unterschiedlich beeinflusst haben. Obwohl die untersuchten Sprecherinnen dem deutschsprachigen Sprach- und Kulturraum 50–60 Jahre nach der Emigration räumlich fernblieben, erhielten sie beide den Kontakt zur deutschen Sprache und zur deutschsprachigen Kultur aufrecht (s. u.). Welche Rolle Raum-Zeit-Koordinaten in der Narration einnehmen, um diese geistig-intellektuelle Nähe zum deutschen Sprachraum auszudrücken, und wie sich diese auf die narrative Identität der Interviewten auswirkt, soll anhand der folgenden Textstellen beleuchtet werden.
2.1
Alice Schwarz-Gardos
Die Sprecherin, aus deren Interview das Titelzitat meines Beitrags entnommen ist, wurde 1916 in Wien geboren und verbrachte dort ihre Kindheit bis zum Jahre 1929, als sie mit ihrer Familie nach Preßburg (Bratislava) zog, wo die Großeltern mütterlicherseits lebten. In Preßburg besuchte sie das deutsche Staatsrealgymnasium und nahm das Medizinstudium auf, brach es aber aufgrund der judenfeindlichen Maßnahmen im Land ab. 1939 flüchtete sie mit ihren Eltern und kam nach einer dramatischen Schiffsreise illegal in Palästina an (zum sprachlichen Ausdruck von Alice Schwarz-Gardos’ Fluchterlebnissen vgl. außerdem Haßlauer 2016). Dort arbeitete sie für eine Übergangszeit im Lokal ihrer Eltern, anschließend als Sekretärin und Journalistin. Von 1975 bis zum Jahre ihres Todes (2007) leitete sie die Redaktion der deutschsprachigen Zeitung Israel Nachrichten in Tel Aviv. Alice Schwarz-Gardos war außerdem als Schriftstellerin tätig, übersetzte täglich zwischen Deutsch und Hebräisch und las Bücher von israelischen Autor:innen in deutscher Übersetzung. Zu Beginn des Interviews wird die Sprecherin nach ihrem familiären Hintergrund gefragt, woraufhin sie die Herkunft ihrer Mutter und ihrer Vorfahren im Allgemeinen schildert:
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(1)
Gespräch Anne Betten (AB) mit Alice Schwarz-Gardos (SG), Tel Aviv, 1991. IS_E_001145, 00:02:48–00:03:47; Gesamtlänge 02:26:27
001 SG: […] meine Mutter stammte aus einer sehr wohlhabenden Familie, 002 die in Bratislava gelebt hat. 003 Die Familie wanderte seit Jahrhunderten zwischen Preßburg und Bratis/ 004 zwischen Preßburg und Wien, also Bratislava/ Preßburg und Wien 005 hin und her ** eine Folge der Diskriminierung der Juden *3* da es immer 006 mal Verbot der Ansiedlung von Juden in einer der beiden Städte 007 gegeben hat […]. 008 Und meine Vorfahren sind also hin und her gewandert *2* 009 und äh einer meiner Vorfahren war * 010 ein sogenannter Münzjude am Hof des Kaisers in Österreich, 011 Joseph des Zweiten.
Zwar erzählt die Sprecherin, dass ihre Wurzeln im damaligen Preßburg bzw. im heutigen (und in der Erzählzeit so genannten) Bratislava (Z. 1f.) lagen; direkt im Anschluss fügt sie aber hinzu, dass ihre Vorfahren eine Zeit lang auch in Österreich, genauer gesagt in Wien, ansässig waren. Durch die Erwähnung, dass die Familie »zwischen Preßburg und Wien hin und her wanderte« (Z. 3f. und 6) – die Bewegung zwischen den beiden Orten wird zusätzlich dadurch betont, dass die Formulierung »hin und her« zweimal in kurzer Folge wiederholt wird (Z. 5 und 8) – wird die mehrmalige Emigration der Vorfahren von der Slowakei nach Österreich und zurück in den historischen Rahmen gestellt, und zwar in den Kontext der Judenverfolgungen und -diskriminierungen, die sich im 18. und 19. Jahrhundert in der Slowakei bzw. im Königreich Ungarn ereigneten. Gerade der im oben wiedergegebenen Interview-Abschnitt erwähnte Kaiser Joseph II. setzte Reformen durch – u. a. das sogenannte Toleranzpatent6 –, die es den zuvor diskriminierten Minderheiten der Habsburgischen Herrschaftsgebiete ermöglichten, ihre Religion freier auszuüben. Der Verweis auf Joseph II. dient Alice Schwarz-Gardos aber nicht so sehr dazu, das Erzählte in Zeile 9f. (und zwar, dass einer ihrer Vorfahren am Hof des Kaisers tätig war) geschichtlich einzurahmen
5 PID = http://hdl.handle.net/10932/00-0332-C3F3-8EEB-8001-C In diesem Beitrag habe ich eine orthographische Transkription gewählt, da der Fokus meiner Untersuchung auf das Zusammenspiel von Orten und Positionierung der Sprecherinnen in Hinblick auf die Konstruktion ihrer narrativen Identität liegt und daher eher semantische sowie narratologische Elemente als paraverbale bzw. prosodische Phänomene berücksichtigt. Das Transkript des Interviews mit Mirjam Alexander ist in dieser Form auch auf der DGD-Seite abrufbar. Das ebenfalls auf der DGD-Seite einsehbare Transkript des Interviews mit Alice Schwarz-Gardos wurde dagegen nach DIDA-Konventionen erstellt. 6 Vgl. https://kulturstiftung.org/zeitstrahl/das-toleranzpatent-kaiser-josephs-ii [letzter Zugriff am 30. 11. 2022].
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– ihr Urahn war eigentlich bei Joseph I. kaiserlicher »Münzjude«7 – sondern das Zugehörigkeitsgefühl ihrer Familie darzustellen. Der im Abschnitt erkennbare Chronotopos, der räumlich durch den »Hof des Kaisers in Österreich« (Z. 10) definiert und zeitlich (durch den Hinweis auf den Vorfahren) auf das erste Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts geschätzt werden kann, ermöglicht es der Sprecherin, ihre Familie als zugehörig zum österreichischen, deutschsprachigen Teil der Habsburgermonarchie – und zwar zu dessen Zentrum – und nicht zum Königreich Ungarn bzw. zum slowakischsprachigen Gebiet des Reiches zu positionieren, obwohl sich ihre Geschichte an beiden Orten abspielte. Weiter im Interview – als es darum geht, dass Alice Schwarz-Gardos’ Eltern 1961 Israel verließen und nach Wien zurückkehrten – positioniert die Sprecherin ihre Familie noch einmal in der Nähe des deutschsprachigen Raums, indem sie Bezug auf das Identitätsgefühl ihres Vaters nimmt: (2)
IS-_E_00114, 00:49:09–00:49:26
001 SG: […] und er hat gesagt: Na gut, also dann geht er halt zurück. 002 Ich meine, er war ohnedies *3* im Herzen ein Wiener geblieben, 003 und er war auch viel zu spät weggegangen mit fünfundfünfzig 004 aus dieser Gegend, um sich hier wirklich zu a/ 005 wirklich zu akklimatisieren.
Die allgemeine Bezeichnung »aus dieser Gegend« (Z. 4) und die Partikel »weg-«, die mit dem Basisverb »gehen« (Z. 3) in Verbindung steht, heben eine Bewegung hervor, die vom Ausgangsort Wien weggerichtet ist und die Trennung von Österreich und dem gewohnten, im deutschsprachigen Mitteleuropa gelegenen Umfeld darstellt. Durch die Perspektive des »Sich-Entfernens«, die diese Verbpartikel repräsentiert, wird der Ort, der verlassen wird, in den Fokus gerückt, während der Zielort (Palästina) eher zweitrangig erscheint (vgl. hierzu Schneider 2023, S. 333). Das Präfix »zurück-«, das auch mit dem Verb »gehen« verbunden ist (Z. 1) und räumliche Informationen – dieses Mal nicht die Bewegung vom, sondern zum Ausgangspunkt – enthält, ist ein weiteres deiktisches Element, das sich indirekt auf Österreich bezieht und dadurch Nähe zum deutschsprachigen Raum ausdrückt. Besonders relevant ist die Verwendung des metaphorischen Phraseologismus (vgl. Häcki Buhofer 2002) »im Herzen« (Z. 2), der für die Gefühlswelt des Vaters der Interviewten steht: Durch die Behauptung, ihr Vater sei »im Herzen ein Wiener geblieben«, zeigt Alice Schwarz-Gardos einerseits, dass er sich bereits vor der Emigration eher als zugehörig zum deutschsprachigen als zum slowakischen 7 Es handelt sich um Simon Michael (auch Simon Michael Preßburg genannt), der 1656 in Raab – heute Gyo˝r (Ungarn) – geboren wurde und 1719 in Wien starb. Vgl. https://www.geni.com /people/Simon-Pressburg/6000000002765656042 [letzter Zugriff am 30. 11. 2022].
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(Kultur)raum wahrnahm, andererseits dass seine emotionale Verbundenheit zur »alten Heimat«8 trotz der geografischen Ferne – »hier« (Z. 4) steht ja für die »neue Heimat«9 Palästina/Israel – nicht verloren gegangen ist. Bemerkenswert ist auch, dass die Sprecherin ihren Vater nicht als Österreicher, sondern als Wiener definiert. In Anbetracht der Tatsache, dass Alice Schwarz-Gardos’ Vater Wien vor allem als Kaiserstadt, also als Zentrum des Habsburgerreichs erlebt hatte (er war 55 Jahre alt, als er 1939 emigrierte, d. h. er war schon 34, als die Monarchie zerfiel), wird er durch diese Bezeichnung als zugehörig zur kaiserlich-königlichen Welt – die nicht nur aus geografischer Sicht, sondern auch zeitlich fern ist – und nicht zu Österreich im Allgemeinen bzw. zur Republik Österreich fremdpositioniert. Das deiktische Adverb »hier« im oben wiedergegebenen Abschnitt gibt Aufschluss über die Origo des Erzählten (vgl. Bühler 1965), die dem folgenden Familienchronotopos entspricht: der neuen Heimat in Palästina/Israel in der Zeit von 1939 (als Alice Schwarz-Gardos’ engster Familienkreis flüchtete) bis 1961 (als ihre Eltern nach Wien zurückkehrten). Räumlich ist der Chronotopos in einem durch verschiedene Einwanderungswellen und auch Sprachen gekennzeichneten Land verortet (vgl. dazu Spolsky 1997), doch Alice Schwarz-Gardos’ Umfeld war sprachlich weitaus vielfältiger, wie in der nächsten Passage deutlich wird. Dort werden verschiedene Orte erwähnt, die sich auf Haifa beziehen, was die räumliche Distanz zum deutschsprachigen Raum unmittelbar zum Ausdruck bringt. Anschließend wird aber betont, dass dieses Gebiet (der Karmel in Haifa) damals deutschsprachig war bzw. von deutschsprachigen Einwanderern stark geprägt wurde, wodurch wiederum Nähe zur deutschsprachigen Welt entsteht: (3)
IS-_E_00114, 00:31:12–00:32:15
001 SG: […] und brachten, kratzten das/ sechzig britische Pfunde zusammen 002 und das genügte also, um ein Lokal zu übernehmen in Haifa, 003 und das haben meine Eltern bis in die sechziger Jahre geführt und 004 haben davon gelebt, und am Anfang ich auch, bis ich dann/ 005 AB: Ah ja, es wurde ein richtiges Familienunternehmen. 006 SG: (LACHT) Familienunternehmen, ja ja ja, das haben wir dann geführt, und und/ 007 AB: Wo war das in Haifa? 008 SG: Das war in Haifa in der Arlozorovstraße. Wenn Sie Haifa kennen. 009 AB: Ah, ja und nein.
8 Diese Bezeichnung geht auf die Kategorisierung der Orte in Bezug auf die verschiedenen Lebensabschnitte der Interviewten des Israelkorpus zurück, die im Rahmen des Projekts Orte und Erinnerung. Eine Kartografie des Israelkorpus vorgenommen wurde: 1) Orte der alten Heimat; 2) Transitorte im Rahmen der Emigration; 3) Orte der neuen Heimat; 4) Orte der (eventuellen/vorübergehenden) Rückkehr in die alte Heimat. Vgl. Flinz/Ruppenhofer 2021; Leonardi et al. 2023. 9 Vgl. ebd.
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SG: Das ist auf dem Hadar, das ist der mittlere Teil also. Es gibt die Unterstadt, der mittlere Teil und den Karmel den eigentlichen. AB: Ja. Ist das schon ein ziemlich deutschsprachiges Gebiet da? Oder ist es/ SG: Damals war das ein deutschsprachiges. Damals war eigentlich alles ein deutschsprachiges Gebiet. AB: Ja, na ja, in Haifa viel nicht/ SG: Haifa, ja, also was nicht deutschsprachig war, das war jiddischsprachig. Die die Leute aus Polen, die konnten doch wenigstens Jiddisch, und infolgedessen haben wir auch nicht Iwrit gelernt, das war einfach nicht nötig.
Der zu Beginn von Abschnitt 3 beschriebene soziale Raum (das Lokal von Alice Schwarz-Gardos’ Eltern) kann als untergeordneter Chronotopos des vorigen, in der zweiten Passage ermittelten Chronotopos (Palästina/Israel in den Jahren 1939–1961) aufgefasst werden. Auf Nachfrage lokalisiert die Sprecherin das Lokal (Z. 8ff.) gegenüber den wichtigsten Haifaer Stadtteilen (Z. 10f.). Interessanterweise gibt die Interviewte an, nicht nur der Stadtteil, in dem sie mit ihrer Familie lebte, sondern »alles« sei ein deutschsprachiges Gebiet gewesen (Z. 14), wobei mit dieser Hyperbel die gesamte Stadt Haifa gemeint ist. Nach Anne Bettens kurzem Einschub, Haifa könne nicht unbedingt als völlig deutschsprachiges Gebiet aufgefasst werden (vgl. dazu Betten 2016 zur Sprachsituation der Einwanderer:innen der 1930er Jahre in Haifa, u. a. mit weiteren Auszügen aus dem Interview mit Alice Schwarz-Gardos), relativiert die Interviewte ihre Aussage. Durch ihre Behauptung, wer nicht deutschsprachig war, konnte »doch wenigstens« Jiddisch (Z. 17),10 meint sie, dass ihre Familie sich auch mit NichtDeutschsprachigen verständigen konnte, da Deutsch und Jiddisch eng verwandte Sprachen sind. Indem sie behauptet, es sei zu der Zeit aufgrund der deutsch- und/ oder jiddischsprachigen Umgebung »einfach nicht nötig« gewesen, Hebräisch zu lernen (Z. 19), positioniert Alice Schwarz-Gardos ihren engsten Familienkreis erneut als zugehörig zum deutschsprachigen Raum. Was die Wahl der Personalpronomen als Indikator für die Identitätsinszenierung der Sprecherin betrifft, kommt in der oben transkribierten Textstelle oft die 1. Person Plural vor, nachdem die Interviewerin das Lokal als »Familienunternehmen« (Z. 5) definiert. Diese Fremdpositionierung wird von Alice SchwarzGardos übernommen (Z. 6), was sich in ihrem Gebrauch der Personalpronomen 10 Die fünfte jüdische Einwanderungswelle nach Palästina, die sich über den Zeitraum von 1930 bis 1939 erstreckte – die sogenannte fünfte Alija, zu der auch die Jugend-Alija gehörte –, unterschied sich von den vorherigen insofern, als die meisten Einwanderer:innen bis dahin aus Osteuropa kamen, wo sie in der Regel eine jüdische Erziehung genossen hatten, Hebräisch (zumindest in geschriebener Form) konnten und praktisch alle Jiddisch sprachen. Die deutschsprachigen Jüdinnen und Juden der fünften Alija kamen dagegen größtenteils aus assimilierten Familien und brachten nur geringe (wenn nicht sogar keine) Hebräischkenntnisse mit. Vgl. dazu Du-nour 2000, v. a. S. 185.
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widerspiegelt: Während sie anfangs noch »meine Eltern« und »ich« sagt (Z. 3f.), geht sie anschließend zur Wir-Form über (Z. 6 und 18), und positioniert somit nicht nur ihre Eltern, sondern auch sich selbst als nahe zum deutschsprachigen Raum.
2.2
Mirjam Alexander
Mirjam Alexander wurde 1924 in Wien geboren und verbrachte ihre Kindheit und Jugend in der österreichischen Hauptstadt. 1940 emigrierte sie mit der Jugend-Alija nach Palästina und lebte dort die ersten zwei Jahre in einem Kibbuz. Genau auf diesen sozialen Raum bezieht sich der folgende Interview-Ausschnitt: (4)
Gespräch Melanie Lanterdinger (ML) und Ingrid Reisenauer (IR) mit Mirjam Alexander (MA), Jerusalem, 1998. ISW–_E_0000111, 00:08:08–00:09:12; Gesamtlänge 02:08:25
001 MA: Und wir sollten von heut auf morgen nur noch Hebräisch reden 002 und nicht Deutsch * Und das war natürlich nicht leicht. 003 Und es war nicht nur nicht leicht, es hat uns auch gestört * 004 selbstverständlich. Denn, also, was wir/ wir haben in einem extra Haus 005 gewohnt. Nicht mit denen zusammen, also nicht mit den Mitgliedern 006 des Kibbuzes, wir waren ja nicht Mitglied, wir waren ja nur geduldet. 007 […] wir sollten kein Deutsch reden. Aber man darf nicht vergessen, 008 unter welchen Umständen war denn das vierzig, einundvierzig. 009 Ich war eben zweieinhalb Jahre in dem Kibbuz. Das Deutschreden war 010 verpönt. Und es war genug Grund dazu da. Denn alle hatten irgendwelche 011 Verwandten irgendwo und hatten keine Ahnung, was mit denen 012 passiert. Das war schon äh bedingt. Aber wir haben trotzdem Deutsch 013 geredet natürlich untereinander, das ist klar.
In der oben transkribierten Passage lässt sich ein Chronotopos festlegen, der dem Kibbuz in den Jahren 1940–1942 entspricht. Die Sprecherin erzählt, wie sie den Kontakt zur deutschen Sprache gleich nach ihrer Ankunft in Palästina aufrechterhielt, obwohl es im Kibbuz verboten war, Deutsch zu sprechen. Die nationalsozialistischen Gräueltaten waren in den Jahren 1940–1942 zwar vielleicht noch nicht allgemein bekannt, aber laut Mirjam Alexander hatten »alle« (Z. 10) Erfahrungen mit Diskriminierung und Verfolgung seitens der Nationalsozialisten gemacht, wodurch die Sprecherin das im Kibbuz geltende Verbot, Deutsch zu sprechen, aus der Perspektive der Erzählzeit als begründet bewertet (Z. 10ff.). Auf das Indefinitpronomen »alle« folgen mehrere vage Formulierungen, durch die Unbestimmtheit ausgedrückt wird: Das Indefinitpronomen »irgendwelche«, das 11 PID = http://hdl.handle.net/10932/00-0332-C42A-C81C-2701-A.
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Adverb »irgendwo« und die Phrase »keine Ahnung« (Z. 10f.). Durch diese Vagheitsindikatoren wird das Unbehagen der Betroffenen ausgedrückt, da gerade die Ungewissheit über die Lage in Europa und das Nichtwissen um die Lebensumstände ihrer Verwandten negative Emotionen auslösen (zu Vagheit in autobiografischen Erzählungen vgl. De Fina 2003; zum Unwissen über den Verbleib von Eltern und Angehörigen im Israelkorpus vgl. Thüne 2016). Den Sprachwechsel von Deutsch zu Hebräisch empfand Mirjam Alexander als abrupt (Z. 1). Im Gegensatz zu anderen Sprecher:innen der ersten Generation, die nach der Ankunft in Palästina überwiegend (oder fast nur noch) Hebräisch sprachen (z. B. Josef Amit, der 1939 als Sechzehnjähriger mit der Jugend-Alija nach Palästina flüchtete, sagt, in seinem Kibbuz sei es verpönt gewesen, Deutsch zu sprechen und er habe daraufhin die deutsche Sprache bewusst aus seinem Leben ausgeschlossen12), erzählt Mirjam Alexander, dass sie weiterhin Deutsch sprach: Zum einen erinnert sie sich daran, dass es »nicht leicht« war (Z. 2), sich das Hebräische schnell anzueignen, zum anderen wird diese Sprachpolitik innerhalb des Kibbuz als (von ihr und den anderen deutschsprachigen Jugendlichen) unerwünscht beschrieben (Z. 3). In den Sätzen »das war natürlich nicht leicht« und »es war nicht nur nicht leicht, es hat uns auch gestört« (Z. 2f.) werden die von der Sprecherin damals empfundenen Emotionen (Niedergeschlagenheit, Ärgernis o. Ä.) thematisiert. An anderen Stellen der oben transkribierten Passage werden Emotionen dagegen indirekt ausgedrückt (zu Emotionsthematisierung und -ausdruck vgl. Fiehler 1990; Schwarz-Friesel 2013; zu den Erzählstrategien der Sprecher:innen des Israelkorpus bzgl. Emotionsthematisierung und -ausdruck vgl. Leonardi/Thüne/Betten 2016). In diesem Zusammenhang sei zunächst auf die Verwendung des Personalpronomens »wir« hingewiesen, das durch den gesamten Abschnitt mehrmals wiederholt wird. Indem die Interviewte das Personalpronomen in der ersten Person Plural verwendet, positioniert sie sich deutlich als zugehörig zur Gruppe der deutschsprachigen Jugendlichen, die die erste Sozialisation in Palästina im Kibbuz erfahren haben, d. h. sie schildert die Erfahrungen des Sprachwechsels nicht nur aus ihrer eigenen Sicht, sondern aus der Perspektive dieser Gruppe. Es entsteht ein eindeutiger Gegensatz zwischen ihnen und den Mitgliedern des Kibbuz, die zunächst durch den Ausdruck »mit denen« (Z. 5) identifiziert werden. Diese Gegenüberstellung wird durch weitere linguistische Mittel unterstrichen. Noch bevor die Mitglieder des Kibbuz in der Erzählung auftreten, berichtet die Sprecherin darüber, dass die jüdischen Neuankömmlinge »in einem extra Haus« wohnten, d. h. »nicht mit denen zusammen« (Z. 4f.), wodurch nicht nur räumliche, sondern vor allem emotionale Distanz zwischen den Jugendlichen einerseits und den Kibbuz-Mitgliedern andererseits ausgedrückt wird. An12 DGD-Ereignis IS-_E_00144. PID = http://hdl.handle.net/10932/00-0332-C40C-441B-BF01-4.
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schließend gibt Mirjam Alexander wieder, wie ihre Gruppe von »denen« (aus ihrer Sicht) wahrgenommen wurde, und zwar als »nicht Mitglieder« (Z. 6) und als jemand, der »nur geduldet« (Z. 6) wurde. Die Jugendlichen seien auf Distanz gehalten und wie Fremde behandelt worden, obwohl sie ja gerade den schmerzhaften Abschied von den Eltern, der alten Heimat und ihrem gewohnten Leben sowie eine mehr oder weniger traumatische Flucht erfahren hatten. Somit werden die Fremdheitsgefühle, die von der Sprecherin damals im Kibbuz empfunden wurden, indirekt ausgedrückt. Mirjam Alexanders Verhältnis zum Deutschen ist im oben transkribierten Interview-Abschnitt nicht eindeutig: Zwar rechtfertigt sie, weshalb Deutsch im Kibbuz verpönt war, aber trotzdem stellt sie sich als deutschsprachigen Menschen dar, der nicht auf seine Erstsprache verzichten möchte. Auch in der folgenden Passage, in der es um Wien als Ort der vorübergehenden Rückkehr in die alte Heimat geht, beschreibt Mirjam Alexander ihr Verhältnis zum deutschsprachigen Raum – u. a. auch durch die Versprachlichung ihrer Einstellung zum Wienerischen – als zwiespältig: (5)
ISW-_E_00001, 01:30:53–01:31:36
001 MA: Wenn ich in Wien bin, dann äh sagt mir »Wo lebst du denn? 002 Du lebst doch nicht hier. Du sprichst ja nicht Wienerisch.« 003 Ja also, da sprech ich nicht Wienerisch, für die. Also, ich sprech 004 in Wien für die Wiener nicht genug Wienerisch. Und äh und hier 005 sagt man mir: »Na, das hört doch jeder, dass du aus Wien bist.« 006 Also, ich bin in/ mit der/ dieses dieses Wien, das ist mir immer 007 ein Zwiespalt in jeder Beziehung, in der Sprache, in allem. 008 Denn Wien ist/ das ist doch so wie ich gesagt, gleich gesagt, 009 ich kann das nur immer wiederholen: Das ist eine eine eine 010 Hass-Liebe. Und das ist ein Zwiespalt.
Dass die Sprecherin das Verhältnis zu Wien als gespalten empfindet, stellt sie nicht nur durch die Verwendung von »Zwiespalt« (Z. 7 und 10) und die explizite Emotionsbenennung »Hass-Liebe« (Z. 10) fest, sondern drückt es auch durch die Thematisierung ihrer Fremdwahrnehmung in der neuen und in der alten Heimat aus, die einerseits beschrieben wird (Z. 3f.), andererseits durch Redewiedergaben (Z. 1f. und 5) ausgedrückt wird. Interessanterweise spricht die Interviewte nicht vom deutschsprachigen Raum und vom Deutschen im Allgemeinen oder von Österreich und vom österreichischen Deutsch, sondern schränkt ihre Perspektive auf Wien und das Wienerische ein. Mirjam Alexander positioniert sich nicht als Wienerin, zumal sie »für die« (Z. 3) – d. h. für in Wien aufgewachsene bzw. lebende Menschen – »nicht genug Wienerisch« ist. Mirjam Alexander wird in Wien, auf das sich das Lokaladverb »hier« in Z. 2 bezieht, als »Nicht-Wienerin« fremdpositioniert und übernimmt diese Positionierung. Allerdings wird sie in
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ihrer neuen Heimat, für die das andere »hier« in Z. 4 steht, als Wienerin angesehen (Z. 5). Durch das Erzählen dieser Fremdwahrnehmung positioniert sich Mirjam Alexander weder als zugehörig zu dem einen (dem deutschsprachigen) Raum noch zu dem anderen (Palästina/Israel), sondern in ein »Dazwischen«, das weder »hier« (Israel) noch »dort« (Österreich) ist. Abschließend sei zu Mirjam Alexander noch erwähnt, dass die Sprecherin mit ihrem Ehemann und ihren zwei Söhnen ab 1950 zehn Jahre lang in Ecuador lebte. Als sie 1960 nach Israel zurückkehrten, reisten sie über Wien und verbrachten einige Wochen dort: (6)
ISW-_E_00001, 00:50:12–00:51:22
001 MA: […] wie wir von Ecuador hierher zurückgekommen sind, hab ich gesagt: 002 »Ich will in Wien Pause machen. Ich will * ich ** ich will sehen, 003 was da/ wie das ist, wie ich/ ** wie ich das * erlebe.« Und wir waren, 004 ich glaub ein Monat, zwei Monate sogar in Wien. […] 005 Das war neunzehnsechzig. Sechzig ist nicht neunzig. Sechzig war noch 006 sehr viel zu sehen vom Krieg. Und die Menschen vor allen Dingen, 007 denn die waren noch ra/ noch arm. […] dieser übertriebene Luxus, der 008 war sechzig noch nicht ** nein, aber es war schön.
Der erste Teil dieser Passage ist durch Mirjam Alexanders starke Agency geprägt: Dass die Sprecherin selbst (und nicht z. B. ihr Ehemann, Aaron Alexander, der übrigens aus Norddeutschland stammte und mit seiner Frau interviewt wurde) darauf bestand, nach Wien zu fahren, wird durch die Wiederholung des Personalpronomens »ich« zum Ausdruck gebracht. Dabei wollte die Interviewte nicht nur erfahren, wie ihr Geburtsort zwanzig Jahre nach ihrer erzwungenen Flucht aussah (»wie das ist«, Z. 3), sondern auch wie sie selbst mit der Rückkehr in ihre alte Heimat emotional zurechtkommen würde (»wie ich das erlebe«, Z. 3). Im Gegensatz zu anderen Sprecher:innen, die vor allem die erste Rückkehr an die Orte ihrer Kindheit (u. a. das Elternhaus) als traumatisch beschrieben haben (zur ersten Reise zurück nach Deutschland vgl. Betten 2013a) – wie z. B. Paul Beer13 –, konzentriert sich Mirjam Alexander eher auf die sichtbaren Spuren, die der Krieg im Stadtbild hinterlassen hat (Z. 5ff.) und bewertet ihre Erfahrung der kurzen Heimkehr als durchaus positiv (»es war schön«, Z. 8). Später im Interview fügt Mirjam Alexander noch hinzu, sie sei seit 1960 regelmäßig nach Wien zurückgekehrt, sie habe hauptsächlich deutschsprachige Bücher gelesen und deutsche bzw. österreichische Programme im Fernsehen verfolgt. Dadurch kann festgestellt werden, dass die Nähe zum deutschsprachigen Raum dauerhaft wiederhergestellt wurde.
13 DGD-Ereignis ISW-_E_00003. PID = http://hdl.handle.net/10932/00-0332-C42D-110C-2D01-A.
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Abschließende Bemerkungen
Die Detailanalyse der ausgewählten Interviewausschnitte hat gezeigt, dass die erwähnten Raum-Zeit-Koordinaten, durch die bestimmte Chronotopoi identifiziert werden können, den Sprecherinnen dazu dienen, sich als zugehörig zum deutschen Sprach- und Kulturraum zu positionieren, obwohl ihre dauerhafte Emigration nach Palästina/Israel zur Zeit des Interviews 50–60 Jahre zurücklag. Mirjam Alexander konzentriert sich auf ihre eigenen Lebenserfahrungen (die Anfangsphase im Kibbuz und die Rückkehr in ihre alte Heimatstadt). Interessanterweise erwähnt sie nicht, dass ihre Eltern beide in Österreich geboren wurden; das könnte darauf beruhen, dass der in Österreich gelegene Geburtsort ihrer Eltern aus Mirjam Alexanders Sicht keine besondere Tellability14 besitzt, d. h. nicht erwähnenswert ist. Im Interview blendet die Sprecherin auch aus, dass sowohl ihre mütterlichen als auch ihre väterlichen Großeltern nicht aus Österreich, sondern aus Mähren stammten. Diese Information gibt sie lediglich im Fragebogen an, den sie vor dem Interview ausgefüllt hat.15 Dadurch wird der Eindruck verstärkt, dass Mirjam Alexander sich und ihren engsten Familienkreis als zu Österreich zugehörig positioniert. Alice Schwarz-Gardos nimmt dagegen Bezug auf ihre Eltern und Vorfahren und betont dabei, dass diese trotz ihrer slowakischen Wurzeln eine enge Beziehung zu Wien – also zum ›Kern‹ der Habsburgermonarchie – hatten. Gerade dadurch, dass sie erwähnt, ihr Urahn sei am Hof des Kaisers tätig gewesen und ihr Vater habe sich »im Herzen ein Wiener« gefühlt, positioniert sie ihre Familie nicht nur als zugehörig zum deutschsprachigen Raum im Allgemeinen, sondern insbesondere zur kaiserlich-königlichen Welt, die durch Wien verkörpert wird. Im Interview-Ausschnitt Nr. 3 wird durch die Wiederholung des Personalpronomens »wir« deutlich, dass die Sprecherin auch sich selbst – trotz geografischer Ferne – als nahe zum deutschsprachigen Raum darstellt.
Korpora IS = Emigrantendeutsch in Israel, DGD, Leibniz-Institut für deutsche Sprache; PID = http://hdl.handle.net/10932/00-0332-C3A7-393A-8A01-3. ISW = Emigrantendeutsch in Israel: Wiener in Jerusalem, DGD, Leibniz-Institut für deutsche Sprache; PID = http://hdl.handle.net/10932/00-0332-C42A-423C-2401-D.
14 Der Begriff stammt aus dem Bereich der Konversationsanalyse und wird als »features that make a story worth telling, its ›noteworthiness‹« (Baroni 2013, S. 447) definiert. 15 Die Fragebögen der IS- und der ISW-Interviewten sind in den Zusatzmaterialen des jeweiligen Korpus auf der DGD-Seite abrufbar.
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Nähe und Distanz zum deutschen Sprach- und Kulturraum
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Ramona Pellegrino
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Sektion 2: Versprachlichungs- und Literarisierungsformen der Distanz
Claudia Maria Riehl (Universität München)
Deutsch spricht man auch in weiter Ferne: Varietäten des Deutschen in Europa und Übersee
Der Beitrag gibt einen kurzen Überblick über deutsche Sprachgemeinschaften weltweit. Anhand von Beispielen aus Russland und Übersee wird aufgezeigt, wie sich die deutsche Sprache unter dem Einfluss der verschiedenen Umgebungssprachen verändert. Dabei wird auch auf allgemeine Entwicklungsprozesse des Deutschen in einer Diasporasituation eingegangen. Schließlich werden Faktoren aufgezeigt, die zum Spracherhalt oder Sprachverlust des Deutschen in weiter Ferne führen können. German Language Enclaves; Language Contact; Grammatical Change; Language Maintenance; Language Shift
1.
Einleitung
Der Titel des Beitrags deutet auf ein Phänomen hin, für das das Deutsche einzigartig ist, nämlich die weltweite Verbreitung der Sprache in zahlreichen Sprachenklaven und Minderheitenregionen. Die deutschstämmigen Gemeinschaften blicken auf eine lange Geschichte zurück, die bis ins 11. Jahrhundert zurückreicht (vgl. Riehl 2010, Riehl/Beyer 2021). Die Tatsache, dass es deutschsprachige Siedlungen in so vielen Teilen der Welt gibt, lässt sich vor allem durch historische Faktoren erklären: In Europa hat es nichts mit der deutschen Ostkolonisation Vergleichbares gegeben. Weiter ist auch die Gründung ländlicher Siedlungen in Übersee ein spezifisch deutsches Phänomen. Da diese Siedlungen in der Regel von einer anderen Mehrheitssprache umgeben sind und ihre Sprache und Kultur in dieser Umgebung bewahren, werden sie in der deutschen Forschungstradition als Sprachinseln bezeichnet. Andere Sprachkolonien auf der ganzen Welt erfüllen die Kriterien der deutschen Sprachinseln nur teilweise, da sie den Kontakt zum Mutterland verloren und ihre eigene Sprache und Identität entwickelt haben (vgl. Riehl 2010). Im Folgenden wird zunächst ein kurzer Abriss über die Situation des Deutschen weltweit gegeben. Danach werden verschiedenen Konstellationen des Deutschen in der Ferne, nämlich in Russland, Australien und Brasilien näher
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Claudia Maria Riehl
beleuchtet, um so einen Einblick in die Entwicklungen von Varietäten des Deutschen in der Diasporasituation zu geben. Schließlich werden einige außersprachliche Faktoren aufgeführt, die zu unterschiedlichen Stadien des Spracherhalts des Deutschen in den jeweiligen Konstellationen beitragen.
2.
Überblick über die deutschen Sprachgemeinschaften
Neben den sog. Grenzminderheiten (Riehl 2014, S. 66), zu denen etwa Südtirol, das Elsass, Ostbelgien und die deutsche Gemeinschaft in Ostbelgien zählen, gibt es weltweit eine Vielzahl von deutschen Sprachenklaven, die sich isoliert in anderen Nationen befinden. In der germanistischen Forschung hat sich für diese Gemeinschaften der Begriff ›Sprachinsel‹ herausgebildet (vgl. Mattheier 1996, Földes 2006, Riehl 2010).1 Die deutschen Sprachinseln lassen sich in zwei Gruppen unterteilen: die alten Sprachinseln aus der Zeit des Mittelalters, die vom 11. bis 14. Jh. besiedelt wurden, und neuere Siedlungen aus dem 17. bis 19. Jh.
2.1
Kurzer historischer Abriss
Aus der ersten Siedlungswelle im Mittelalter sind noch einige Restgruppen jenseits der Alpen erhalten, z. B. die Walser im Aosta-Tal, die sog. Zimbern2 in den 7 und 13 Gemeinden in den Provinzen Trient und Verona und die sog. Mocheni im Fersental (vgl. Rabanus/Bidese/Dal Negro 2019). Die älteste Gruppe, die Zimbern, geht bereits auf das Jahr 1100 oder früher zurück (ebd.). Die größeren Siedlungswellen im Mittelalter gingen allerdings nach Osten. Förderer der Siedlungsbewegung waren Grundherren, die die fortschrittliche Agrartechnik (Dreifelderwirtschaft, Gebrauch von Sensen und Mühlen) und Wirtschaftsorganisation der deutschen Siedler:innen für ihr Land in Anspruch nehmen wollten. Als Ausgleich boten sie dann entsprechende soziale Vorteile an (Gottas 1995, S. 16). Alte Sprachinseln aus dieser Zeit finden sich vor allem im südöstlichen Mitteleuropa und in Südosteuropa, in Ungarn, der Slowakei und Rumänien (Siebenbürgen) (vgl. Riehl 2019a). Die zweite Siedlungswelle setzte dann Ende des 17. Jhs. ein und erstreckte sich teilweise bis in die Mitte des 19. Jhs. Viele der neuzeitlichen Siedlungen wurden nach Beseitigung der Türkenherrschaft in Südost- und Osteuropa gegründet 1 In neueren Forschungsarbeiten werden diese auch als »extraterritoriale Varietäten« des Deutschen bezeichnet (vgl. Riehl/Beyer 2021). 2 Diese Bezeichnung wurde in der Renaissance eingeführt, in der falschen Annahme, dass diese Siedler:innen Nachkommen germanischer Stämme waren, die sich dort Ende des zweiten Jahrhunderts v. Chr. niedergelassen hatten.
Varietäten des Deutschen in Europa und Übersee
111
(z. B. in Ungarn, Nord-Rumänien, im Banat und der Batschka). In diese Zeit fällt auch die Kolonisation deutschsprachiger Gebiete in Russland; es entstanden deutschsprachige Dörfer an der Wolga, in der Gegend um St. Petersburg und am Schwarzen Meer.3 Gleichzeitig begann auch die Übersiedlung in überseeische Gebiete, nach Nord- und Südamerika und nach Australien (s. Riehl 2010, S. 81f.). In den meisten Fällen waren wirtschaftliche Gründe dafür ausschlaggebend, dass die deutschsprachigen Siedler:innen ihre Heimat verließen, aber es gibt auch religiöse Motive: So siedelte etwa die ursprünglich aus der Schweiz stammende Sekte der Amischen (›Amish people‹) zunächst im Pfälzer Raum; als aber auch hier der Druck auf diese Religionsgemeinschaft zu groß wurde, ließen sie sich ebenfalls in den USA nieder, und zwar in Pennsylvania (ab 1730). Eine noch weitere Wanderbewegung machten einige Mennonitengruppen mit, die zuerst in der Ukraine siedelten. Als sich dort die Bedingungen änderten und sie mit dem Verlust ihrer Privilegien rechnen mussten, wanderten sie schließlich nach Kanada aus. Von dort zog etwa ein Drittel der deutschsprachigen Mennoniten nach Mexiko weiter (vgl. Siemens 2018). Die Varietäten des Deutschen in der Diaspora sind für die Sprachkontaktforschung besonders interessant, weil sie einerseits einen älteren Sprachstand bewahrt haben und andererseits Elemente aus den jeweiligen Umgebungssprachen aufgenommen haben. Der Einfluss der Mehrheitssprache auf die Inselsprache äußert sich zunächst im Wortschatz aus der jeweils anderen Umgebung. Dieser kann sich im Laufe der Zeit im Gebrauch so verfestigen, dass er schließlich als zur Mundart gehörig empfunden werden kann. Daneben gibt es strukturelle Entlehnungen, die bis hin zum Entstehen einer Mischsprache reichen können. In diesem Kontext sind besonders die deutschen Sprachenklaven in Oberitalien interessant (Bidese 2021).
2.2
Heutige Situation
Heute sind die meisten der alten Siedlungen, die sich teilweise über Jahrhunderte erhalten haben, in Auflösung begriffen. Der Hauptgrund dafür ist v. a. in Sprachverboten und Ressentiments gegenüber Deutschen im Zuge des Zweiten Weltkrieges zu sehen. In den USA und Australien setzte die antideutsche Bewegung bereits im Ersten Weltkrieg ein (vgl. Riehl 2018b).
3 Die neue Siedlungsbewegung unterscheidet sich von der mittelalterlichen Besiedlung in einigen wesentlichen Punkten (Gottas 1995, S. 19): Es handelt sich hier um eine »von oben gelenkte Bevölkerungsbewegung und um planmäßige Siedlungspolitik«. Diese wurde nicht nur von Österreich-Ungarn, sondern auch von Preußen betrieben und später von Katharina II. aufgegriffen.
112
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Eine radikale Veränderung der deutschen Siedlungen in Osteuropa ergab sich aus den Folgen des Zweiten Weltkriegs, die eine euphemistisch als »Umsiedlung« bezeichnete Migrationsbewegung auslöste. Mehr als 90 Prozent der Deutschen, die in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn siedelten, wurden nach Deutschland vertrieben. Nur Personen, die aus wirtschaftlichen Gründen gebraucht wurden (z. B. Arbeiter im Bergbau) oder die in einer interethnischen Ehe lebten, konnten bleiben, hatten aber unter entsprechenden Repressalien zu leiden. Von den südosteuropäischen Staaten verfolgte nur Rumänien die Vertreibungspolitik nicht, allerdings siedelten hier sehr viele Deutsche »freiwillig« aus. Die Deutschen in Russland wurden dagegen nach Sibirien deportiert (s. u. 3.1.2). Häufig kam es zu Sprachwechselprozessen, die auch dadurch bestärkt wurden, dass die deutsche Sprache in Folge des Krieges nicht nur einen völligen Prestigeverlust erlitt, sondern teilweise sogar verboten war und der soziale Aufstieg der Minderheiten an die vollkommene Beherrschung der Landessprache gebunden war. Viele Deutschsprachige gingen daher auch in der Familie zur Landessprache über und gaben das Deutsche (bzw. den deutschen Dialekt) nicht mehr an die Kinder weiter. Neben dem Prestigeverlust des Deutschen und Repressalien gegenüber den deutschen Siedler:innen sind aber auch die zunehmende Industrialisierung und Mobilität für den Sprachwechsel verantwortlich. Dies gilt besonders für die überseeischen Gebiete (vgl. Keel 2018). In vielen ehemals deutschen Sprachgebieten sprechen daher nur noch die ältesten Sprecher:innen die ursprünglichen Siedlungsvarietäten. Ausnahmen bilden hier religiöse Minderheiten (Amish, Mennoniten), die aufgrund ihrer Isolation von der Mehrheitsgesellschaft und der Verbundenheit ihres Glaubens mit der deutschen Sprache noch stärker am Deutschen festhalten (vgl. Siemens 2018).
2.3
Sprachliche Entwicklungen
In den Sprachinseln Osteuropas gibt es eine Vielzahl von Dialekten des Deutschen, die teilweise noch erhalten sind (v. a. in Ungarn, vgl. Knipf-Komlósi 2008). In der Regel sind diese Dialekte Mischvarietäten, in einigen Fällen haben sich teilweise auch überregionale Koinés entwickelt (z. B. Donauschwäbisch, Wolgadeutsch). Allerdings haben sich diese Varietäten durch jahrhundertelangen Sprachkontakt mit den Umgebungssprachen ebenfalls verändert. Das trifft v. a. auf die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg zu. In den Überseekolonien haben sich in kleinen Siedlungen noch Dialekte erhalten (z. B. Moundridge Schweitzer German), die sich aber durch Sprachkontakt stark verändert haben (vgl. Hopp & Putnam 2015). In anderen bildet sich eine eigene Koine aus (z. B. Hunsrückisch in Südbrasilien, Rio Grande do Sul) (Al-
Varietäten des Deutschen in Europa und Übersee
113
tenhofen 1996). In vielen Gemeinschaften findet sich allerdings keine einheitliche dialektale Varietät: z. B. im Texas German (Boas 2009, 2016). Hier wird mehr oder weniger eine regionale Standardvarietät gesprochen, die stark von Sprachkontakt geprägt ist (Riehl 2015). Diese unterschiedlichen Entwicklungen in den deutschen Sprachenklaven sollen im Folgenden am Beispiel dreier unterschiedlicher Sprechergruppen des Deutschen in der Ferne dargestellt werden. Die drei ausgewählten Beispiele umfassen einmal die wolgadeutsche Sprachgemeinschaft in Russland, das Blumenaudeutsche in Brasilien und das Barossadeutsche in Australien. Die Unterschiede bestehen zum einen darin, dass sich die Gemeinschaften in unterschiedlichen Stadien des Spracherhalts befinden (Barossadeutsch nur in der letzten Generation, das Wolgadeutsche in zwei Sprechergenerationen und das Blumenaudeutsche in drei Sprechergenerationen) und zum anderen in der unterschiedlichen Sprachkonstellation, d. h. dem Kontakt mit einer germanischen, slawischen oder romanischen Sprache. Ein weiterer entscheidender Unterschied besteht darin, dass die Wolgadeutschen eine eigene Mundart entwickelt haben, während in den beiden Überseekolonien kein spezifischer Dialekt, sondern eine regionale Standardvarietät verwendet wird. In den drei genannten Gemeinschaften wurden Interviews mit jeweils 20 Sprecherinnen und Sprechern analysiert. Die Daten entstammen verschiedenen Studien, die zwischen 2001 und 2018 von der Autorin dieses Beitrags durchgeführt wurden (vgl. Riehl 2018a, 2022). Der Umfang der Corpora beträgt ca. 100.000 Wörter für das Barossa- und Blumenaudeutsche und 89.000 Wörter für das Wolgadeutsche.
3.
Deutsch in weiter Ferne anhand dreier Sprachgemeinschaften
3.1
Russland: Wolgadeutsch
3.1.1 Historischer Hintergrund Die Siedlungen an der Wolga waren die ersten deutschen Siedlungen, die in Russland gegründet wurden, und gehen bis ins 18. Jahrhundert zurück. Dort entstanden in den Jahren 1764–67 unter Katharina II. 104 Dörfer (südlich und nördlich von Saratov). Die meisten Siedler:innen stammten aus Hessen, der Nordpfalz, Nordbayern, Nordbaden und der Fuldaer Gegend. In der Folge kam es zur Entstehung von Ausgleichs- oder Mischmundarten, sowie zur Ausbildung einer überregionalen Koiné, dem sog. ›Wolgadeutschen‹ (vgl. Berend 2011). In der 1924 gegründeten Wolgarepublik war die deutsche Sprache als Amtssprache garantiert und diente als Unterrichtssprache, Sprache der Öffentlichkeit und der
114
Claudia Maria Riehl
Medien. Noch in den 1920er Jahren waren die deutschsprachigen Zeitungen sehr wenig von der Kontaktsprache beeinflusst und konnten als Sprachnorm dienen (vgl. Berend/Riehl 2008). Mit dem Zweiten Weltkrieg änderte sich die Situation grundlegend: Wie bereits erwähnt, wurden alle deutschen Siedler:innen im europäischen Teil der damaligen UdSSR 1941 nach Sibirien und Mittelasien deportiert. Dies hatte nun zum einen zur Folge, dass sich in den nun frei werdenden Gebieten Sprecher:innen der Mehrheitsgesellschaft ansiedelten, zum anderen, dass deutschsprachige Personen aus unterschiedlichen Regionen in Kontakt kamen, wodurch es zu einer erneuten Dialektmischung kam (vgl. Blankenhorn 2008, S. 61). Viele Sprecher:innen gingen allerdings zum Russischen über und gaben den Dialekt nicht mehr an die Kinder weiter. Doch auch dann, wenn die primäre Sozialisation noch im Dialekt erfolgte, wurde in der zweiten Generation durch die sekundäre Sozialisation die Landessprache zur primären Varietät. Da jedoch die Erfahrung der Deportation und des Sprachverbots während der russischen Kommandantur so einschneidend war, wurde die deutsche Sprache häufig nicht mehr an die nächste Generation weitergegeben. Das geringe Prestige des Deutschen und die anhaltenden Repressionen gegen die deutsche Bevölkerung hatten auch zur Folge, dass Sprecher:innen der Mittel- und Oberschicht zum Russischen übergingen. Nach 1990 kam es zwar zu einer Wiederbelebung des Deutschen mit verstärktem Deutschunterricht und neugegründeten kulturellen Institutionen und Verbänden. Allerdings erfolgte parallel dazu eine massenhafte sog. ›Spätaussiedlung‹ in die Bundesrepublik Deutschland oder nach Österreich. Diese Faktoren führen dazu, dass die deutsche Sprachgemeinschaft in den meisten Gebieten Russlands in Auflösung begriffen ist (Riehl 2016, Rosenberg 2016). 3.1.2 Besonderheiten der wolgadeutschen Varietät 3.1.2.1 Lexik Das Wolgadeutsche weist einige Besonderheiten im Lexikon auf, die sich zum einen durch den Erhalt alter dialektaler Lexik und zum anderen durch Übernahmen aus der russischen Sprache auszeichnen. Alte Dialektwörter sind etwa: schwach ›schlecht‹, bang sein ›Angst haben‹, Mannsleit ›Männer‹, Weibsleit ›Frauen‹, sellmal ›damals‹, verzählen ›sprechen‹, Bud ›Geschäft‹ (vgl. Berend/ Riehl 2008). Übernahmen aus dem Russischen finden sich vor allem im Gebrauchswortschatz und bei Bezeichnungen für Dinge der neuen Lebenswelt. Das betrifft besonders den Bereich Lebensmittel (Warenje ›Marmelade‹, Pomodore ›Tomate‹), aber auch Einrichtungen wie Balnize ›Krankenhaus‹, Sadik ›Kindergarten‹, Savode ›Fabrik‹. Aus dem Russischen werden auch viele Wörter für
Varietäten des Deutschen in Europa und Übersee
115
technische Neuerungen, die es zur Zeit der Auswanderung noch nicht gab, transferiert: Waksal ›Bahnhof‹, Aftobus ›Bus‹, Samolot ›Flugzeug‹ (ebd.). Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang sog. semantische Übernahmen, d. h. die Übernahme der weiteren Bedeutung eines Wortes analog zur Kontaktsprache. Dabei wird kein fremdes Wortmaterial übernommen, sondern die Wörter bekommen eine zusätzliche Bedeutung, die sie auch in der Kontaktsprache haben (Riehl 2018a, S. 31f.), vgl.: (1)
a. So wie auch Televisor: was übergeba die? Alles in Wind! (russ. peredat’ ›übergeben, senden‹) b. Das Brot fakticˇeskij war doch schon wechgemacht (russ. chleb ›Brot, Getreide‹)
3.1.2.2 Grammatische Besonderheiten Das Wolgadeutsche weist auch einige Besonderheiten in der Grammatik auf, die einerseits auf dialektales Substrat zurückgehen oder aber durch die Kontaktsprache bedingt sind. Ein Beispiel dafür ist die mehrfache Verneinung. Diese ist typisch für das Russische, wird aber möglicherweise auch gestützt durch ähnliche Muster in den deutschen Basisdialekten der Sprecher:innen (Riehl 2014, S. 107): (2)
a. In meiner Familie spricht keiner nicht. (russ. V mojej sem’je nikto ne govorit.) b. Und niemals waren keine Probleme. (russ. I nikogda ne bylo nikakich problem.)
Eindeutigen Einfluss der Kontaktsprache Russisch kann man dagegen in Beispielen feststellen, in denen der Artikel analog zur russischen Sprache nicht gesetzt wird. Besonders bei Sprecher:innen, die die deutsche Sprache längere Zeit nicht mehr gebraucht haben, finden sich zahlreiche Beispiele ohne Artikel: in Saratover Gebiet, hast du zuhause Bibel?, und die Mutter hat Kommandant gefragt (vgl. Berend/Riehl 2008, S. 39f.). Dieser Einfluss des Sprachkontakts findet sich gleichermaßen auch in anderen Sprachenklaven mit Kontakt zu artikellosen Sprachen (vgl. Riehl 2014, S. 92). Der Einfluss des Russischen zeigt sich auch im Bereich der Wortstellung: Hier werden häufiger ein direktes thematisches Objekt oder ein pronominales Objekt oder ein Adverb ins Nachfeld gestellt. Im Gegensatz zur Ausklammerung von adverbialen Bestimmungen oder anderen nicht obligatorischen Satzgliedern ist diese Wortstellung auch in gesprochener deutscher Sprache ungrammatisch und kann grundsätzlich als eine Nachahmung von Wortstellungsgepflogenheiten der russischen Kontaktsprache gesehen werden (vgl. Riehl 2014, S. 106): (3)
a. No, ich hab jesessen auf die Schaukel und hab jelesen Buch. (russ. Ja sidela na kacˇalke i cˇitala knigu.) b. Sie haben uns gelernt sehr gut. (russ. Oni nas ucˇili ocˇen’ chorosˇo.) c. Dort hawen wir Arbeitstage verdient uns. (russ. Tam my trudodni zarabatyvali sebe.)
116
Claudia Maria Riehl
Auch diese Besonderheit ist nicht auf den Sprachkontakt Deutsch-Russisch beschränkt, sondern findet sich auch in vielen anderen Sprachkontaktkonstellationen (Riehl 2019a).
3.2
Deutsch in Blumenau
3.2.1 Historischer Hintergrund Während bei der deutschen Zuwanderung nach Brasilien in der ersten Hälfte des 19. Jhs. durchaus von einer »gelenkten Einwanderung« gesprochen werden kann, da den Siedler:innen bestimmte Privilegien (u. a. freie Passage, Landschenkungen, Bereitstellung von Werkzeug, Vieh und Saatgut sowie Steuerfreiheit) zugesagt wurden (vgl. Ziegler 1996, S. 32), beruhen die Einwanderungen ab 1850 auf der Initiative einzelner Persönlichkeiten. Eine dieser Initiativen war die des Braunschweiger Apothekers Dr. Hermann Blumenau, der am 2. September 1850 die Siedlung Blumenau gründete. Die ersten Einwander:innen kamen überwiegend aus der Gegend um Braunschweig und Niedersachsen und waren fast ausschließlich Handwerker (vgl. Riehl 2022). Besonders förderlich für den Erhalt der deutschen Sprache waren – wie in vielen Kolonien Südbrasiliens – die homogenen Siedlungsverhältnisse, häufig wanderten ganze Familien ein (Ziegler 1996, S. 34). Einen weiteren wichtigen Faktor bildete die schulische Situation. Da die brasilianische Regierung der schulischen Bildung der Einwandererkinder nicht nachkommen konnte, um diese nicht vor der einheimischen Bevölkerung zu privilegieren, gründeten die Siedler:innen eigene Schulen, die bis 1930 bestanden. Spracherhaltend wirkte sich weiter der Gebrauch des Deutschen in den Lutherischen Gemeinden aus, die Pfarrer aus Deutschland rekrutierten, welche den Gottesdienst auf Deutsch abhielten. Einen bedeutenden Einfluss auf den Erhalt der deutschen Sprache hatte auch das deutsche Vereinswesen, das einen hohen Stellenwert genoss (vgl. Riehl 2022). Grundsätzlich hatte nur die vor dem Krieg geborene Generation Deutsch als Unterrichtssprache. Wie in anderen Regionen Brasiliens wurde die deutsche Sprache während des Zweiten Weltkrieges als Unterrichtssprache verboten (Rosenberg 2018, S. 221) und erst ab den 1980er Jahren wurde in einigen Schulen Deutschunterricht in der Sekundarstufe (in der Regel eine Stunde) eingeführt. Seit 2005 gibt es auch Grundschulen mit Deutschunterricht (2 Std./Woche) (derzeit 13) (Pereira Fritzen & De Souza Nazarro 2018).
Varietäten des Deutschen in Europa und Übersee
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3.2.2 Besonderheit der deutschen Varietät in Blumenau 3.2.2.1 Lexik Auch bei den Sprecher:innen der deutschen Sprache in Blumenau ist ein bestimmter Wortschatz vorzufinden, der entweder auf ältere Sprachstufen des Standards oder Relikte aus den Herkunftsdialekten schließen lässt: etwa dicht für ›nah‹, Eisschrank für ›Kühlschrank‹, großwachsen für ›aufwachsen‹, Hintername für ›Nachname‹ oder Sammelbezeichnungen für Nutztiere: Melkvieh, Federvieh (vgl. Maierhofer 2020). Lexikalischer Transfer findet sich besonders für Bezeichnungen im Bereich der Landwirtschaft: Hier sind in der Regel die lexikalischen Übernahmen bereits völlig ins Deutsche integriert, wie etwa Begriffe für Obst und Gemüse (patate = port. batata ›Kartoffel‹, eibine = port. aipim ›Maniok‹), Bast (port. pasto ›Weide‹) Rosse (port. roça ›Feld‹). Neuere Übernahmen finden sich v. a. im Bereich technischer Neuerungen (z. B. televisão ›Fernseher‹, celular ›Handy‹) oder von Institutionen (ein Beispiel aus dem Bereich Universität: curso, faculdade, universidade, sala ›Unterrichtsraum‹, pesquisa ›Forschung, reunion ›Versammlung‹). Im Gegensatz zu den älteren Übernahmen sind diese in der Regel morphologisch nicht in das Deutsche integriert. Ebenfalls übernommen werden Bezeichnungen für Sprachen: Português, Inglês, Francês (vgl. Riehl 2022). 3.2.2.2 Grammatische Besonderheiten Über Besonderheiten in der Wortstellung hinaus gibt es (ähnlich wie im Russlanddeutschen) im Blumenaudeutschen eine Reihe von Besonderheiten im Bereich des strukturellen Transfers: Hier finden sich einige Konstruktionen, die im Sinne von Pivot-Matching (vgl. Matras 2020, S. 342) vom Portugiesischen ins Deutsche übertragen werden. Darunter versteht man das Phänomen, dass mehrsprachige Sprecher:innen in einer Äußerung alle Wörter aus der einen Sprache verwenden, aber die syntaktische Struktur völlig den Prinzipien der anderen Sprache folgt (vgl. Riehl 2014, S. 104f.). Im Blumenaudeutschen betrifft dies im Besonderen Existenzkonstruktionen wie hier bleibt (port. aqui fica) = ›hier gibt es‹ oder hier/da hats xy (port. aqui tem) = ›es gibt‹: (4)
a. Und hier hats so viel Wald, wie du sagst, ne? b. ja:: u:nd äh hier hats noch Platz für uns alle, ne?
Auch im Bereich der finalen Infinitive wird eine Konstruktion (para … de facer) aus dem Portugiesischen kopiert und im Deutschen mit der Konstruktion für… + Infinitiv wiedergegeben: (5)
a. und das Wasser ham die genommen für Zeug waschen b. nicht für immer ne aber für mal spazieren zu gehen
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Weiter findet sich ein Phänomen, das typischerweise in allen Sprachkontaktkonstellationen auftritt, in denen eine Pro-Drop-Sprache mit einer Nicht-ProDrop-Sprache in Kontakt tritt (vgl. Riehl 2018a, S. 35), nämlich dass die Regeln, wann ein Subjektpronomen gesetzt wird oder nicht, aus der Kontaktsprache übernommen werden. Bei dem sog. Pro-Drop-Phänomen handelt es sich um die Tatsache, dass das Subjektpronomen nur verwendet wird, wenn es besonders hervorgehoben werden soll, wie das etwa auch im Italienischen der Fall ist: z. B. ital. io vado a casa ›ich gehe nach Hause‹ (und nicht du). In anderen Fällen ist das Subjektpronomen nicht obligatorisch und kann weggelassen werden. Diese Eigenschaft besitzt auch das Portugiesische und so wird im Blumenaudeutschen in einigen Fällen analog zum Portugiesischen das Subjektpronomen nicht gesetzt (hier symbolisiert durch Ø): (6)
3.3
a. dann ham se fast alle da zwei vier fünf Jahre gelernt und auch gewohnt und auch da gearbeitet und dann nachher kamen Ø wieder zurück nach Brasilien b. Luan hat immer gepflanzt und jetzt hat Ø nicht gepflanzt (--) dann kaufen ma
Barossadeutsch
3.3.1 Historischer Abriss Die ersten deutschen Siedlungen in Australien entstanden um 1838. Die erste Siedlung im Barossa-Tal, etwa 70 km nordöstlich von Adelaide (Südaustralien), wurde 1842 gegründet. Die Siedler:innen stammten hauptsächlich aus Nordschlesien sowie der Lausitz und der Region um Posen (vgl. dazu Paul 1965). Allerdings wurden in der Sprachgemeinschaft bereits in den 1960er Jahren keine Dialekte mehr gesprochen, sondern eine auf dem Standarddeutschen basierende Regionalvarietät. Paul (1965, S. 12) erklärt diese Tatsache mit dem starken Einfluss des lutherischen Schulsystems und dem Sprachgebrauch im religiösen Umfeld. Im Gegensatz zu anderen deutschen Siedlungen in Australien konnte die deutsche Sprache auch nach 1918, als landesweit die deutsche Sprache als Schulsprache abgeschafft wurde, noch weiter aufrechterhalten werden, zum einen durch den Kontakt der australischen lutherischen Kirche zur lutherischen Kirche in Deutschland, zum anderen, weil noch regelmäßige Gottesdienste in deutscher Sprache abgehalten wurden und auch die Möglichkeit des Besuchs einer Sonnabendschule bestand (vgl. Clyne 1981). Allerdings sank das Prestige der deutschen Sprache bereits in der Zwischenkriegszeit deutlich, so dass vor allem die Nachkommen der Mittel- und Oberschicht der Barossadeutschen zum Englischen wechselten und die Sprache nicht mehr weitergaben (Clyne ebd., Riehl 2018b). Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges konnte Deutsch nicht
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mehr im öffentlichen Kontext verwendet werden und sogar der private Gebrauch wurde eingeschränkt. Dies führte dazu, dass die Verwendungskontexte immer mehr abnahmen und sich ganz auf die Familie und Gespräche mit der älteren Generation beschränkten. Eine besondere Einschränkung bestand auch darin, dass die deutsche Sprache nun nicht mehr als Schriftsprache gelernt werden konnte (vgl. Riehl 2016). Im Gegensatz zu Sprachinseln, in denen wir noch mehrere Generationen beobachten können, die die Sprachinselvarietät sprechen, ist die aktive Sprachkompetenz im Barossadeutschen auf die älteste Generation beschränkt. Das Barossadeutsche ist daher eine sog. Reliktvarietät (Riehl 2015). Die letzten Sprecher:innen zeigen auch sehr viele Muster, die in der Regel bei Sprachgemeinschaften zu finden sind, die zum Sprachwechsel übergehen (vgl. Thomason 2001). 3.3.2 Sprachliche Besonderheiten im Barossadeutschen 3.3.2.1 Lexik Wie bereits bei den anderen beiden Sprachinselvarietäten findet sich auch im Barossadeutschen altertümlicher Wortschatz wie etwa Hauptmann ›Chef‹, Backpfeife ›Ohrfeige‹, Stube ›Zimmer‹, dicht ›nah‹, forsch ›schnell‹. Transfer aus dem Englischen ist besonders in den Bereichen Farm, Obstanbau und Weinbau belegt: die Roode ›road‹, die Kricke ›creek‹, der Rai ›rye‹, der/die Fenz ›fence‹, die Päddock ›paddock‹ die Raasberi ›rasberry‹. Im Gegensatz zu diesem Wortschatz, den die Siedler:innen schon relativ früh in ihre Sprache integrierten, sind Bezeichnungen für bestimmte Institutionen jünger und werden deshalb auch nicht in das deutsche Sprachsystem integriert. Dazu zählen etwa Bezeichnungen von Institutionen: post office, hospital, high school, state school (vgl. Riehl 2018b). Auch im Barossadeutschen findet man viele semantische Übernahmen, was vor allem dadurch bewirkt wird, dass es zwischen dem Deutschen und Englischen viele etymologisch verwandte Wörter gibt, die dadurch die gleiche Lautgestalt haben, wie etwa das deutsche Wort Platz und das englische place (vgl. 7a). Aber auch andere Wörter übernehmen die zusätzliche Bedeutung des Englischen (7b): (7)
a. Der kam da zu unsere Platz (our place = ›unser Haus‹) b. Früher hab ich viel Gurken gewachsen (to grow ›wachsen, anbauen‹)
3.3.2.2 Grammatische Besonderheiten Eine Besonderheit im Bereich der Morphologie ist der Umbau des Pronominalsystems: Das Barossadeutsche verwendet nur noch ein einziges obliques Personalpronomen, das sowohl Akkusativ als auch Dativ markiert, und zwar das
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Dativpronomen für die 1. und 2. Person Singular (mir/dir) und das Akkusativpronomen für die 3. Person (sie/ihn): (8)
a. Das interessiert mir. b. Da kam ich mit sie.
Eine weitere interessante Entwicklung ist der Ausbau der tun-Periphrase. Die Umschreibung mit tun ist eine polyfunktionale Konstruktion im Deutschen und findet sich in vielen Dialekten (vgl. Schwarz 2009). Die Hauptfunktion ist dabei die Markierung von imperfektiven Handlungen oder im Verlauf befindlichen Handlungen (sog. Progressivkonstruktion). Im Barossadeutschen entwickelt sich nun diese Konstruktion weiter, indem sie v. a. gewohnheitsmäßiges Tun in der Vergangenheit anzeigt: (9)
a. Mutter tat Wurscht machen und äh… Schwein schlachten. b. Und immer wenn die Kinder was nicht sollten verstehen, dann taten wir Deutsch sprechen.
Bei einigen Sprecher:innen bemerkt man jedoch, dass sie die Periphrase im Präteritum sehr häufig gebrauchen, auch dann, wenn keine gewohnheitsmäßige, sondern eine einmalige Handlung beschrieben wird, vgl.: (10) Und es war n police-Mann. Der tat alle die Flinten… einnehm.
In diesem Sinne könnte die Existenz des englischen Habitual Past (markiert durch would + Infinitiv) als Auslöser für die weitere Grammatikalisierung dieser Konstruktion gedient haben. Ein Vergleich mit älteren Aufnahmen von Michael Clyne aus dem Jahr 1967 (vgl. dgd.ids-mannheim.de) zeigt, dass die Verwendung der Konstruktion im Präteritum in den letzten 50 Jahren deutlich zugenommen hat (von 43,2 % auf 81,26 %). Die tun-Periphrase wird jedoch auch verwendet, um vergangene Ereignisse anzuzeigen. In diesem Zusammenhang markiert die Konstruktion auch die progressive Aspektualität. Die progressive Verwendung nimmt in der diachronen Perspektive ebenfalls deutlich zu: Während im ClyneKorpus nur 2,97 % eine progressive Lesart aufweisen, kommt das aktuelle Korpus auf 12,01 %.
4.
Grammatische Entwicklungen: Abbau der Kasusmarkierung
Diasporavarietäten des Deutschen sind für die Germanistische Linguistik auch deshalb von großem Interesse, weil man hier allgemeine Tendenzen in der Entwicklung der deutschen Sprache feststellen kann: Dabei handelt es sich um Vereinfachungs- oder Restruktuierungsprozesse, die von den eigentlichen Sprachkontakterscheinungen zu unterscheiden sind, da sie unabhängig von der typo-
Varietäten des Deutschen in Europa und Übersee
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logischen Nähe und Distanz der Kontaktsprache beobachtet werden können. Dennoch wirkt sich der Sprachkontakt insofern aus, als hier in der Sprache bereits angelegte Prozesse beschleunigt werden (vgl. Clyne 1991). Rosenberg (2003) führt diese Entwicklungen u. a. darauf zurück, dass das Normbewusstsein in der Sprachgemeinschaft abnimmt (Mangel an linguistischem Wissen in Kombination mit Verlust der Sprachloyalität). Vereinfachungsprozesse betreffen besonders die Reduktion komplexer morphologischer Strukturen, wie etwa der Flexionsmorphologie. Ein Faktor, der in diesem Zusammenhang immer wieder ins Feld geführt wird, ist die Lernbarkeit der jeweiligen Strukturen (vgl. die Diskussion bei Rosenberg 2003, S. 299ff.).4 Ein sehr bekannter Vereinfachungsprozess, der in unterschiedlichsten Konstellationen des Sprachkontakts des Deutschen auftritt, ist der Abbau der Kasusmarkierung, namentlich der Abbau der Dativmarkierung. Diese wurde bereits in zahlreichen Kontaktvarietäten des Deutschen belegt (Salmons 1994, Louden 1994, Born 2003, Rosenberg 2003ff., Boas 2009, Riehl 2015, Yager 2015 u.v.m.). Dieses Phänomen soll nun anhand der drei verschiedenen bereits besprochenen Gemeinschaften des Deutschen in der Ferne gezeigt werden.
4.1
Der Abbau der Dativmarkierung in den Diasporavarietäten
Betrachtet man sämtliche Dativmarkierungen in den jeweiligen Gruppen, dann kann man feststellen, dass im Barossadeutschen nur 13 % der Phrasen, die den Dativ fordern, mit Dativmarkern versehen sind. Im Russlanddeutschen verwendet die älteste Generation noch die reguläre Dativmarkierung, nämlich zu 66 %, die zweite Generation verwendet dagegen nur zu 44,8 % Dativformen. Ähnlich ist es im Blumenaudeutschen: Dort sind es 44,9 % in der ersten Generation und 43,5 % in der zweiten. Das heißt, im Barossadeutschen ist die Entwicklung am weitesten fortgeschritten, während im Blumenaudeutschen der Prozentsatz in der ersten Generation der der zweiten im Russlanddeutschen entspricht. Der Unterschied zwischen den Generationen ist dagegen im Blumenaudeutschen eher gering. Es lassen sich nun in allen Sprachkontaktkonstellationen übereinstimmende Entwicklungen im Bereich des Abbaus der Dativmarkierung feststellen. Dabei gibt es aber Unterschiede zwischen der Markierung des Dativs in Nominalphrasen und bei Pronomina. Der Abbau beginnt zunächst in Nominalphrasen, in denen der Dativ vom Verb zugewiesen wird (z. B. jemandem zeigen). Hier wird 4 Tatsächlich können Bentz/Winter (2013) anhand einer statistischen Analyse von 66 Sprachen zeigen, dass Sprachen mit einer hohen Zahl an Zweitsprachlerner:innen zur Reduktion (oder sogar Aufgabe) der Nominalflexion tendieren.
122
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der Kasus dann entweder durch die Akkusativ- oder Nominativform wiedergegeben. Danach erfolgt der Abbau der Kasusmarkierung in Präpositionalphrasen. Interessanterweise ist die Dativmarkierung in allen drei Sprachkontaktkonstellationen am besten in Konstruktionen erhalten, in denen die Präposition mit dem Artikel verschmilzt, z. B. beim, zum, im, am etc. (zur Schule, im Krieg). Die Konstruktionen, die zusammengesetzte Formen enthalten, belaufen sich im Barossadeutschen auf 33 %, im Wolga-Deutsch auf 36,5 % und im Blumenaudeutschen auf 39 %. In einem Interview mit einem Sprecher aus Blumenau (OR) finden wir z. B. 12 Vorkommen von im, aber kein einziges Vorkommen mit dem Feminin in der (vgl. im Verein vs. in die Klinik statt in der Klinik), sowie ausschließlich vom, aber nur zweimal von der, letzteres bei Eigennamen (von der Jutta, von der Renate), d. h. in hochfrequenten Einheiten. Außerdem wird die Dativmarkierung bei besonders häufigen Substantiven verwendet, wie etwa Verwandtschaftsbezeichnungen (mit meiner Mutter, Tochter etc.) oder Bezeichnungen wie Zeit, Tag, Jahr, Woche. Ein Unterschied zwischen den Gruppen besteht allerdings darin, dass im Russisch-Deutschen überproportional häufig die Artikel weggelassen werden (z. B. mit Tochter, von Wolga, aus Krieg). Tatsächlich findet der Ausfall des Artikels in Präpositionalphrasen auch in den anderen beiden Gruppen statt, ist aber mit fast 25 % im Wolgadeutschen doppelt so hoch: Dies kann als ein typischer Fall von Transfer aus der artikellosen Kontaktsprache Russisch betrachtet werden (s. o. 3.1.2.2). Da die Kasusmarkierung in der Substantivphrase in der Regel am Artikel erfolgt (außer im Dativ Plural), ist in diesen Fällen keine Kasusmarkierung möglich. Doch auch wenn man die gleichen Tendenzen feststellen kann, so befinden sich die Kontaktvarietäten in unterschiedlichen Stadien des Reduktionsprozesses. Während im Barossadeutschen und Blumenaudeutschen nur noch ca. ein Viertel der Nominalphrasen im Dativ eine besondere Dativmarkierung zeigen (28,4 % im Barossadeutschen, 25,8 % im Blumenaudeutschen), ist der Anteil im Russlanddeutschen noch mehr als die Hälfte (51,8 %)). Die Markierung des Dativs bei den Personalpronomina ist dagegen sehr unterschiedlich: Wie bereits erwähnt, gibt es im Barossadeutschen nur noch ein obliques Pronomen, das Akkusativ und Dativ markiert. Im Russlanddeutschen ist die Dativmarkierung bei den Personalpronomina zu 78 % erhalten, im Blumenaudeutschen zu 60 %.5 Die unterschiedliche Geschwindigkeit in der Entwicklung kann nun einerseits an unterschiedlichen Ausgangsvarietäten liegen (Wolgadeutsch beruht auf mitteldeutschen Dialekten, in denen die Dativmarkierung generell besser erhalten ist, vgl. Boas 2009), aber es können auch die typologischen Unterschiede zwi5 Daher ergeben sich auch insgesamt höhere Werte für den Dativgebrauch im Blumenaudeutschen als im Barossadeutschen.
Varietäten des Deutschen in Europa und Übersee
123
schen den Kontaktsprachen einen Einfluss darauf haben, mit welcher Geschwindigkeit der Reduktionsprozess voranschreitet: Im Englischen und Portugiesischen werden keine Kasus markiert, während das Russische über ein sehr ausgeprägtes Kasussystem verfügt. Dies könnte sich auf die Tatsache auswirken, dass die Reduktion im Kontakt mit dem Russischen langsamer verläuft (vgl. Clyne 1991).
4.2
Variation zwischen Generationen und Sprecher:innen
Wie wir gesehen haben, befinden sich die Varietäten in unterschiedlichen Stadien der Entwicklung. Im Zusammenhang mit der Stabilität einer Diasporavarietät ist nun vor allem ausschlaggebend, mit welcher Geschwindigkeit der Dativabbau zwischen verschiedenen Generationen verläuft. Hier kann man etwas beobachten, was im Allgemeinen als Sprachwandel in apparent time angesehen wird. Da wir für das Barossadeutsche nur noch die letzte Generation aufnehmen konnten, wurden in diesem Fall historische Daten, nämlich die Aufnahmen von Michael Clyne herangezogen. Hier zeigt sich nun, dass in den historischen Daten noch 44,8 % der Dative korrekt markiert waren, es hat also ein relativ rascher Sprachwandel in dieser Sprachgemeinschaft stattgefunden (hin zu nur 13 %). Der geringste Unterschied zwischen den Generationen findet sich, wie oben erwähnt, bei den Blumenaudeutschen, die die vitalste Gemeinschaft darstellen. Darüber hinaus zeigt sich aber auch eine hohe Variation zwischen einzelnen Sprecher:innen. Diese ist im Barossadeutschen geringer, sehr ausgeprägt dagegen in den beiden anderen Sprachgemeinschaften. Dies hat wiederum damit zu tun, dass einige Sprecher:innen Zugang zur deutschen Standardsprache haben (s. u.).
5.
Außersprachliche Einflüsse auf den Spracherhalt
Als ein entscheidender Faktor für Spracherhalt gilt im Allgemeinen das Prestige der Sprache (vgl. Riehl 2014, S. 192f.). Der Prestigeverlust des Deutschen im Zusammenhang mit einer antideutschen Haltung setzte in Australien bereits nach dem Ersten Weltkrieg ein, in Brasilien und Russland während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Vorgehen gegen Deutsche und den Gebrauch der deutschen Sprache war allerdings in Brasilien lange nicht so einschneidend wie in Russland. Außerdem war die Gemeinschaft groß genug und konnte, da sie im Urwald isoliert lebte, die Herkunftssprache bewahren und an die nächsten Generationen weitergeben.
124
Claudia Maria Riehl
Ein weiterer Faktor, der, wie bereits erwähnt, auch vom Prestige abhängt, ist der Spracherhalt in den jeweiligen sozialen Schichten: Im Barossa-Tal hielt sich die deutsche Sprache vor allem in den unteren sozialen Schichten, hauptsächlich bei Bäuer:innen, Weinbäuer:innen und Handwerker (vgl. Riehl 2018b). Dies wirkte sich wiederum auf das Prestige des Barossadeutschen aus. Ähnliches gilt auch für das Wolgadeutsche; hier ist es vor allem die Arbeiterschicht, die die deutsche Sprache bewahrt hat. Das steht etwa im Gegensatz zu den Deutschen in St. Petersburg, in der es noch Sprecher:innen aus dem Bildungsbürgertum gibt, die das Deutsche pflegen (vgl. Berend/Riehl 2008). In Blumenau dagegen ist die Gemeinschaft viel heterogener, da die Sprache noch in verschiedenen sozialen Schichten verwendet wird: Diejenigen, die im Stadtgebiet von Blumenau leben, gehören oft zur Mittelschicht, haben Zugang zur deutschen Schriftsprache und pflegen eher eine Variante des Deutschen, die der Standardsprache nähersteht. Diejenigen, die in den ländlichen Gebieten des Municips in abgelegenen Gehöften leben, haben dagegen keinen Zugang zum Standarddeutschen und oft auch eine geringe Bildung. Sie haben die deutsche Sprache vor allem aufgrund ihrer Isolation bewahrt (vgl. Riehl 2022). Einige Sprecher:innen aus Russland haben über die neuapostolische Kirche Kontakt zu Deutschen oder lesen noch die Bibel und andere liturgische Texte. Einige Sprecher:innen aus Blumenau haben durch ihre Aktivitäten im deutschen Verein und die Organisation des Blumenauer Oktoberfestes Kontakt zu Standarddeutschsprecher:innen aus Deutschland. Dies wirkt sich zum einen auf den Erhalt der Sprache insgesamt, aber auch auf einen stärkeren Erhalt bestimmter sprachlicher Formen (z. B. der Dativmarkierung) aus (s. o.). Ein weiterer Faktor, der in diesem Zusammenhang wichtig ist, ist die Bedeutung der deutschen Varietät für die Identitätsbildung der Sprecher:innen. Tatsächlich identifizieren sich die Deutschsprachigen im Barossa-Valley vollständig als Australier:innen. Interessanterweise wechseln die Sprecher:innen sogar oft ins Englische, wenn sie die Frage beantworten sollen, als was sie sich fühlen (vgl. 11a). Im Gegensatz dazu fühlen sich die Wolgadeutschen eher als Deutsche (11b) und die Deutschen in Blumenau als eine Mischung (11c): (11) a. Never ever given it any thought to be anything else but Australian. b. ich sag (so), ich bin Deitscher. c. (.) so halb, halb, halb von jedes.
Varietäten des Deutschen in Europa und Übersee
6.
125
Zusammenfassung
Der Beitrag hat gezeigt, dass die deutsche Sprache in der Ferne von großem Interesse für die Germanistische Sprachwissenschaft sein kann, da sich hier einerseits Entwicklungen abzeichnen, die auf den Kontakt mit einer anderen Umgebungssprache zurückzuführen sind, andererseits aber auch älterer Wortschatz und ältere Formen bewahrt werden. Weiter zeigen diese Diasporavarietäten allgemeine Tendenzen auf, in welche Richtung sich die deutsche Sprache entwickelt. Diese Entwicklungen befinden sich aber in verschiedenen Varietäten in unterschiedlichen Stadien, was wiederum durch Einflüsse der Kontaktsprache oder aber durch soziolinguistische Faktoren erklärt werden kann.
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Claudio Di Meola / Daniela Puato (Università di Roma Sapienza)
Die deutschen Zukunfts- und Vergangenheitstempora im Spannungsfeld zwischen Nähe und Ferne
Die Zukunftstempora Präsens/Futur I und die Vergangenheitstempora Perfekt/Präteritum werden unter Bezugnahme auf die Kategorie der Distanz als weitgehend parallele Tempusoppositionen postuliert. Dabei werden die semantischen Dimensionen der Temporalität, Aspektualität und Kausalität sowie die pragmatische Dimension der Kommunikationsform berücksichtigt. German; Tense; Semantics; Pragmatics; Distance.
Tempora kodieren viel mehr als reine Zeitreferenz und weisen komplexe semantische und pragmatische Verwendungsbedingungen auf. Im vorliegenden Beitrag sollen die Zukunftstempora Präsens und Futur I sowie die Vergangenheitstempora Perfekt und Präteritum als weitgehend parallele Tempusoppositionen herausgestellt werden.1
1.
Einleitung
Für das Deutsche werden traditionellerweise sechs Tempora angenommen, vier für einfache und zwei für komplexe Zeitreferenz. Geht man von den jeweils kodierten Zeitverhältnissen aus, so ergibt sich folgendes Bild:2
1 In diesem gemeinsam konzipierten Aufsatz zeichnet Claudio Di Meola verantwortlich für die Abschnitte 1, 2 und 4, Daniela Puato für die Abschnitte 3, 5 und 6. 2 Gesamtdarstellungen des deutschen Tempussystems finden sich u. a. in den Monographien von: Fabricius-Hansen 1986; Thieroff 1992; Welke 2005. Verwiesen sei auch auf tempusübergreifende Artikel wie beispielsweise: Vennemann 1987; Eichinger 1995; Valentin 1997; Vater 2007; Puato 2019. Siehe auch die zusammenfassenden Einführungen von: Heinold 2015; Rothstein 22017; sowie die wissenschaftlichen Grammatiken: Weinrich 42007; Duden – Die Grammatik 92016.
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Claudio Di Meola / Daniela Puato
Einfache Zeitreferenz Gegenwart: Präsens Zukunft: Präsens / Futur I Vergangenheit: Perfekt / Präteritum Komplexe Zeitreferenz (Retrospektive) Zukunft: Perfekt / Futur II Vergangenheit: Plusquamperfekt Bei der einfachen Zeitreferenz erfolgt die Situierung des Geschehens einzig bezüglich der Sprechzeit. Bei der komplexen Zeitreferenz hingegen liegt ein zusätzlicher Referenzpunkt vor, von dem aus ein Rückblick vorgenommen wird. Eine Behandlung dieser Tempora der Retrospektive würde allerdings den vorliegenden Rahmen sprengen. Im Mittelpunkt stehen also die beiden zentralen Tempusoppositionen der einfachen Zeitreferenz: Präsens und Futur I für Zukunft sowie Perfekt und Präteritum für Vergangenheit.
2.
Zukunfts- und Vergangenheitstempora in der Forschung
Die Opposition der Zukunfts- und Vergangenheitstempora ist in der Forschungsliteratur jeweils eingehend untersucht worden. Fassen wir die Faktoren, die zur Differenzierung der betreffenden Tempora beitragen, nun kurz zusammen und geben dabei die jeweils vorherrschenden Interpretationen wieder. Was die Zukunftstempora betrifft,3 so unterscheiden sich Präsens und Futur hinsichtlich der temporalen Darstellung des Geschehens dahingehend, dass das Präsens typischerweise Kontinuität zur Gegenwart kodiert, das Futur demgegenüber eine Zäsur. Zudem wird das Präsens mit temporaler Nähe und das Futur mit temporaler Ferne in Verbindung gebracht. Die Forschung hat sich jedoch insgesamt wenig mit den temporalen Eigenschaften der Zukunftstempora befasst, sondern hauptsächlich Modalität im weitesten Sinne diskutiert. So wird das Präsens generell mit einem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad des zukünftigen Geschehens in Verbindung gebracht, während das Futur mehrheitlich als diesbezüglich undifferenziert betrachtet wird; in einigen Studien wird jedoch das Futur an einem bestimmten Wahrscheinlichkeitsgrad (niedrig, mittel oder hoch) festgemacht. Zudem unter3 Präsens und Futur I sind in der Forschung wiederholt gegenüberstellend behandelt worden. So vor allem in den Monographien: Gelhaus 1975; Dittmann 1976; Brons-Albert 1982; Hacke 2009; Di Meola 2013. Siehe auch die Artikel: Matzel/Ulvestad 1982; Welke 2009. Spezifisch zum Futur I: Vater 1975; Fritz 2000; Kotin 2003; Krämer 2005; Diewald 2005. Spezifisch zum Präsens: Ek 1996; Di Meola 2015.
Die deutschen Zukunfts- und Vergangenheitstempora
131
scheidet sich das Futur vom Präsens durch einen subjektiven Sprecherbezug, d. h. es wird auf Wissen und Emotionen der Sprecher:innen verwiesen, wodurch das Futur präferenziell in Sprechakten mit hoher Involvierung auftritt wie beispielsweise ein nachdrücklicher Befehl oder eine Drohung. Hinsichtlich der Gebrauchsdomänen wird Präsens zumeist der mündlichen Sprache und informellen Sprechsituationen zugeordnet, das Futur spiegelbildlich der schriftlichen Sprache und formelleren Situationen. Oftmals wird das Futur als stilistisch höherstehend betrachtet. Insgesamt zeigen alle Korpusuntersuchungen eine deutlich höhere Gebrauchsfrequenz des Präsens an. Auf Ebene der Verbsemantik ist die Relevanz von Aktionsart und Verbklasse hervorgehoben worden: Perfektive Verben treten typischerweise mit dem Präsens auf, imperfektive Verben mit dem Futur; Modalverben kommen fast ausschließlich im Präsens vor. Auf syntaktischer Ebene findet sich das Futur unterproportional in Nebensätzen und Passivkonstruktionen. Hinsichtlich der Markiertheit kann insgesamt das Präsens als das unmarkierte Tempus angesehen werden aufgrund seiner größeren Verbreitung und der Abwesenheit besonderer kommunikativer Absichten. Kommen wir nun zu den Vergangenheitstempora.4 Die Forschung hat sich eingehend mit der temporalen Darstellung des Geschehens bei Perfekt und Präteritum auseinandergesetzt, wobei Gegenwartsbezug und Abgeschlossenheit als bedeutsam erscheinen. Das Perfekt kodiert typischerweise vergangene Ereignisse, die sich bis zur Gegenwart erstrecken oder zumindest für die Gegenwart relevant sind, während beim Präteritum die aktuelle Sprechsituation in den Hintergrund gerät. Darüber hinaus stellt das Perfekt das betreffende Ereignis als perfektiv-resultativ dar (Abgeschlossenheit), das Präteritum hingegen als imperfektiv (Verlauf). Die Forschung hat außerdem intensiv die textuelle Dimension der beiden Tempora diskutiert. So wird das Präteritum typischerweise als Erzähltempus angesehen,5 das zum Aufbau chronologischer Aneinanderreihungen von Ereignissen dient. Demzufolge kommt das Präteritum präferenziell in narrativen Textsorten vor, literarischen wie nicht-literarischen. Das Perfekt wird hingegen nicht-narrativen Texten zugeschrieben. Hinsichtlich der Gebrauchsdomänen wird das Perfekt der gesprochenen Sprache und informellen Alltagskontexten zugeordnet, das Präteritum demgegenüber präferenziell bestimmten Formen der Schriftlichkeit, meist formeller 4 Besonders reichhaltig ist die Literatur zu Perfekt und Präteritum. Gegenüberstellungen der beiden Vergangenheitstempora: Hauser-Suida/Hoppe-Beugel 1972; Schecker 1987; Hennig 2000; Vater 2002; Sieberg 2003; Willkop 2003; Schumacher 2005; Jäger 2007; Welke 2010. Spezifisch zum Perfekt: Klein 2000; Musan 2002; Bäuerle 2015. Spezifisch zum Präteritum: Stark 2017; Fischer 2018; Leonhard 2021. 5 Vgl. bereits Weinrich 1964.
132
Claudio Di Meola / Daniela Puato
Art. Folglich erscheint das Präteritum als stilistisch höherstehend. Das Perfekt verdrängt in weiten Verwendungsbereichen, besonders in der Mündlichkeit, das Präteritum (süddeutscher Präteritumschwund). Bezüglich der Verbklasse ist die Dominanz des Präteritums bei Hilfs- und Modalverben festgestellt worden. Auf syntaktischer Ebene tritt das Präteritum überproportional in bestimmten Nebensatzarten auf, unterproportional in Passivkonstruktionen. Auf morphologischer Ebene ist schließlich zu beobachten, dass bei starken Verben seltene (oder schwankende) Präteritumformen gemieden und stattdessen Perfektformen gewählt werden. Hinsichtlich der Markiertheit kann das Perfekt insgesamt – gegenüber dem Präteritum – als das unmarkierte Tempus gelten, aufgrund seiner größeren Verbreitung in Gebrauchsdomänen, Textsorten und syntaktischen Konstruktionen.
3.
Nähe und Ferne als semanto-pragmatische Kategorien bei Tempusoppositionen
Wir haben gesehen, dass die Differenzierung der Zukunfts- und Vergangenheitstempora in der Forschung auf eine Vielzahl von Faktoren auf verschiedenen linguistischen Ebenen zurückgeführt wird. Strebt man eine systematische Darstellung der vier Tempora Präsens/Futur I und Perfekt/Präteritum an, so stellen sich zwei Fragen: 1) Lassen sich Verbindungen zwischen den einzelnen semanto-pragmatischen Faktoren herstellen, d. h. lassen sie sich übergeordneten Kategorien zuordnen? 2) Lassen sich Parallelismen zwischen den Tempusoppositionen Präsens/Futur und Perfekt/Präteritum erkennen? Was erstens mögliche Verbindungen zwischen den einzelnen Faktoren betrifft, so meinen wir, dass vor allem vier Faktoren enge Korrelationen aufweisen und sich den übergeordneten Kategorien Nähe/Ferne zuschreiben lassen: Zeitabstand, Kontinuität, Kausalzusammenhang und Kommunikationsform. Die ersten drei Faktoren sind (temporal)semantischer Art, wobei die Kategorie Distanz eine enge Beziehung (= Nähe) bzw. lose Beziehung (= Ferne) zum Sprechzeitpunkt beinhaltet; der vierte Faktor ist insofern pragmatischer Art, als dass Distanz sich auf das Bedingungsgefüge bezieht, unter dem Kommunikation zustande kommt.6 Es lassen sich folgende Korrelationen postulieren:
6 Vgl. Koch/Oesterreicher 1985.
133
Die deutschen Zukunfts- und Vergangenheitstempora
– rein temporale Dimension: Zeitabstand zum Sprechzeitpunkt (geringer Abstand = Nähe; größerer Abstand = Ferne) – temporal-aspektuelle Dimension: Kontinuität in Bezug auf den Sprechzeitpunkt (Kontinuität = Nähe; Diskontinuität = Ferne) – temporal-kausale Dimension: Kausalzusammenhang mit dem Sprechzeitpunkt (Vorhandensein = Nähe; Fehlen = Ferne) – kommunikative Dimension: Kommunikationsform (dialogisch-persönlich = Nähe; monologisch-unpersönlich = Ferne) Was zweitens einen möglichen Parallelismus der beiden Tempusoppositionen für die Zeitreferenzen Zukunft und Vergangenheit betrifft, so liegen in der Forschung diesbezüglich zwar einige Beobachtungen vor, die sich jedoch nicht zu einem systematischen Gesamtbild verdichtet haben. Gehen wir die Faktoren Zeitabstand, Kontinuität, Kausalzusammenhang und Kommunikationsform durch, so sehen wir, dass sie teilweise nur für eine Tempusopposition oder auch für beide Tempusoppositionen thematisiert wurden. Wir können diese Erwähnungen wie folgt tabellarisch zusammenfassen: Zeitabstand
Zukunftstempora X
Vergangenheitstempora
Kontinuität Kausalzusammenhang
X
X X
Kommunikationsform
X
X
Tab. 1: Forschungsliteratur: erwähnte distinktive Faktoren.
Die Faktoren Kontinuität und Kommunikationsform sind unabhängig voneinander für beide Oppositionen angeführt worden. Kontinuität wird in der Forschung sowohl für Zukunft als auch für Vergangenheit als relevant betrachtet, so dass Präsens und Perfekt als Tempora der Kontinuität (Nähe) erscheinen, Futur I und Präteritum als Tempora der Diskontinuität (Ferne). Hinsichtlich der Kommunikationsform werden Präsens und Perfekt als typische Tempora des persönlichen Dialogs (Nähe), Futur I und Präteritum als typische Tempora der unpersönlichen Massenkommunikation (Ferne) eingestuft. Die Faktoren Zeitabstand und Kausalzusammenhang werden demgegenüber lediglich für eine einzige Tempusopposition als relevant herausgestellt: Zeitabstand für Zukunftstempora und Kausalzusammenhang für Vergangenheitstempora. Als Arbeitshypothese möchten wir nun untersuchen, ob sich Anzeichen dafür finden, dass auch Zeitabstand und Kausalzusammenhang als distinktive Faktoren für beide Tempusoppositionen fungieren können. Mit anderen Worten: Ist
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Zeitabstand auch für Vergangenheitstempora relevant? Und ist Kausalzusammenhang auch für Zukunftstempora relevant? Würden sich diese Hypothesen bestätigen, könnten alle vier Zukunfts- und Vergangenheitstempora wie folgt durch die Kategorien Nähe und Ferne klassifiziert werden: Zukunft: Vergangenheit:
Präsens = Nähe Futur I = Ferne Perfekt = Nähe Präteritum = Ferne
Für die Tempora der Zukunft gibt es statistische Daten, die unsere These bereits untermauern. Wir beziehen uns hier auf die Studie von Di Meola (2013), die auf einer breiten Korpusgrundlage von insgesamt 6.000 Belegen basiert. Es wurden 3.000 Belege aus dem Bereich der konzeptionellen Schriftlichkeit (Sachbücher) sowie 3.000 Belege aus dem Bereich der konzeptionellen Mündlichkeit (Filme, Reality-Shows) berücksichtigt und in eine Datenbank mit über 30 Parametern eingegeben (Modalitätsangabe, Temporalangabe, Temporaldistanz, Sprechakt usw.), um die wesentlichen in der Literatur diskutierten Forschungsfragen zu operationalisieren. Insgesamt stellte das Präsens 81,5 % der Belege, das Futur 18,5 %. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden zu bewerten sein, ob hinsichtlich der vier Faktoren Zeitabstand, Kontinuität, Kausalzusammenhang und Kommunikationsform die Tempora Präsens und Futur I jeweils über- bzw. unterproportional vertreten sind. Für die Tempora der Vergangenheit hingegen steht eine derartige systematische Verifizierung der einzelnen Faktoren u. W. noch aus.
4.
Zukunftstempora
Betrachten wir für die Zukunftstempora zunächst die drei Faktoren der Nähe/ Ferne, die in der Forschung bereits erwähnt sind: Zeitabstand, Kontinuität und Kommunikationsform. Sodann wird die potentielle Relevanz des Faktors Kausalzusammenhang geprüft. Was den Zeitabstand betrifft, so tritt das Präsens bevorzugt im Kontext temporal naher Zukunft auf, das Futur im Kontext temporal ferner Zukunft, wobei der Abstand zum Sprechzeitpunkt entweder aus dem Kon- und Kotext geschlossen werden kann oder durch eine Temporalangabe expliziert ist. Im Einzelnen haben die statistischen Auszählungen ergeben, dass bei Ereignissen am gleichen Tag der Anteil der Futur-Belege unter 5 % liegt, bei mehrere Wochen oder Monate entfernten Ereignissen der Anteil über 40 % beträgt (vgl. Di Meola 2013, S. 103–105) – und dies vor dem Hintergrund eines Gesamtdurchschnitts des
Die deutschen Zukunfts- und Vergangenheitstempora
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Futurs von 18,5 %. Betrachten wir dazu folgendes Beispielpaar mit expliziter Temporalangabe: (1) Letzte Worte vor dem Unfall: »Mama, ich fahre jetzt heim«. Nach dem Unfall herrschte Trauer in Attnang-Puchheim. (www.nachrichten.at, Ausgabe 13. 12. 2021 [letzter Zugriff am 19. 05. 2022]) (2) »In 100 Jahren wird es neue Transportmittel geben, die individuelles Reisen ermöglichen, egal ob zum Bäcker, zur Arbeit oder zum anderen Ende der Welt«, sagt Reinhardt. (www.travelbook.de/reisen/experten-geben-antwort en-so-sieht-das-reisen-in-der-zukunft-aus/ [letzter Zugriff am 19. 05. 2022]) Kontinuität wird typischerweise durch das Präsens ausgedrückt, Diskontinuität durch das Futur. Im Einzelnen liegt der Futuranteil bei ca. 3 % für Ereignisse, die sich von der Gegenwart in die Zukunft erstrecken, bei knapp 20 % hingegen für Ereignisse, die eindeutig der Zukunft zuzuordnen sind (Di Meola 2013, S. 105 ̶ 106). Im folgenden Beispielpaar werden Kontinuität und Diskontinuität nicht nur durch den jeweiligen Tempusgebrauch (Präsens vs. Futur) angezeigt, sondern zusätzlich durch Lexikalisierungen expliziert (Teil der Gegenwart / in Zukunft): (3) Der Klimawandel beschleunigt die Veränderungen in der Staatenfiguration, erhöht die Spannungen und erzeugt Druck, schnelle Lösungen zu finden. Dass dies keine düstere Prognose, sondern bereits ein Teil der Gegenwart ist, zeigt die folgende Übersicht gewaltförmiger Umweltkonflikte […]. (Welzer 2010, S. 158) (4) In Zukunft wird sich die Situation verschlimmern. Die Versteppung großer Regionen als Folge des Klimawandels wird weiter zunehmen. […] In Indien, China und Afrika wird die Bevölkerung bis 2025 zwischen 30 und 50 Prozent zunehmen. Mehr als vier Milliarden Menschen werden dann in Ländern mit zum Teil gravierendem Wassermangel leben. (Bommert 2009, S. 114) Wenden wir uns nun der Kommunikationsform zu. In einem Kontext der Nähe (Face-to-face-Dialog) finden wir typischerweise das Präsens, in einem Kontext der Ferne das Futur. Im genannten Korpus lag der Futuranteil in nähesprachlichen mündlichen Kontexten bei lediglich 8 %, in fernesprachlichen schriftlichen Kontexten hingegen bei 29 % (Di Meola 2013, S. 94). Hier zwei Beispiele, in denen jeweils das Präsens in einem spontanen Dialog auftritt, das Futur in einem (sorgfältig durchdachten) Vorwort zu einem Sachbuch: (5) Valencia: Bekomme ich jetzt eine Antwort? Rayo: Später bekommst du die, wenn wir alle mal ausziehen. (Big Brother, 14. Mai 2011, 0:02 h) (6) Selbstverständlich wird dieses Buch von Kritikern und den Medien zerrissen werden. All die smarten Kommentatoren, die noch nicht im Crash reüssiert
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Claudio Di Meola / Daniela Puato
haben, geschweige denn Crashs vorausgesagt haben, werden sich lautstark zu Wort melden. Sie werden Einzelheiten sowie das wissenschaftliche Fundament der Argumentationsketten in Frage stellen. Sie werden den Stil, die Syntax kritisieren. (Homm 2016, S. 15) Gehen wir nun der Frage nach, ob für die Tempuswahl ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Ereignis- und Sprechzeit distinktiv sein kann – ein Faktor, der in der Forschungsliteratur als relevant für die Opposition der Vergangenheitstempora angesehen, aber für die Zukunftstempora nicht diskutiert wird. Mit anderen Worten: Lässt sich also eine Korrelation zwischen dem Vorhandensein eines Kausalzusammenhangs und dem Präsens sowie zwischen dem Fehlen eines solchen Zusammenhangs und dem Futur feststellen? Das generelle Problem ist, dass Kausalität als »weicher« Faktor erscheint und oftmals Interpretationssache ist. In einigen Kontexten jedoch ist Kausalität klar erkennbar, vor allem bei einer vom Sprecher geäußerten Handlungsankündigung, wo naturgemäß eine enge Relation zwischen Vorsatz und Handlung besteht. Hier erscheint durchgehend das Präsens (wenn es sich um »normale« Tätigkeiten handelt und nicht um emphatische Sprechakte wie feierliche Ankündigung und Versprechen): (7) Sven (zu Urlaubsbekanntschaft Willi): Ich hol noch ein bisschen Kaffee. (Bis zum Ellenbogen, 0:15 h) Das Futur hingegen erscheint oftmals in anonymen und komplexen Szenarien, in denen kaum ein direkter kausaler Zusammenhang erkennbar ist: (8) Eine radikale Abwertung des Dollars oder eine Währungsreform würde das Land [USA] mit einem Schlag entschulden. Das Ausland hätte das Nachsehen. Allerdings wird diese Entschuldung – auf welche offene oder versteckte Weise auch immer sie durchgeführt werden wird – weltweit solche gravierenden Folgen haben, dass auch Amerika nicht ungeschoren davonkommen wird. (Otte 2009, 109)
5.
Vergangenheitstempora
Wenden wir uns nun den Vergangenheitstempora zu und betrachten auch hier die einzelnen Faktoren unter dem Gesichtspunkt der Nähe und Ferne. Zunächst werden die von der Forschung erwähnten Faktoren – Kontinuität, Kausalzusammenhang und Kommunikationsform – behandelt, dann wird der Frage nachgegangen, ob der in der Literatur für die Zukunftstempora postulierte Faktor Zeitabstand auch für die Vergangenheitstempora relevant sein kann.
Die deutschen Zukunfts- und Vergangenheitstempora
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Das Perfekt kodiert typischerweise Kontinuität, das Präteritum Diskontinuität. Kontinuität tritt besonders deutlich hervor, wenn im Kontext zusätzlich lexikalische Angaben auftreten. So kommt im folgenden Beispiel das Perfekt mit einem Zeitadverbial der Gleichzeitigkeit vor (derzeit): (9) Die massiven Sanktionen, die die USA und ihre Vasallen derzeit gegen Russland, den Iran, Nordkorea, Syrien und Venezuela verhängt haben, haben allesamt eine massive Schattenseite. (Otte 2019, S. 131–132) Auch Präpositionen wie seit signalisieren eine ununterbrochene Chronologie: (10) Seit Ausbruch der Finanzkrise 2008 und besonders seit Sommer 2012 hat die Politik, Hand in Hand mit der Finanzbranche und den Notenbanken, lediglich die Symptome der Krankheit bekämpft. (Weik/Friedrich 2014, S. 12) Ist die Zeitangabe eindeutig der Vergangenheit ohne Gegenwartskontakt zuzuschreiben, erscheint hingegen eher das Präteritum. So zeigt im folgenden Beispiel die Zeitangabe (bis 1990) an, dass keine Kontinuität zur Gegenwart bestehen kann: (11) Deutschland gehört auch zu den Ländern mit zunehmender Ungleichheit, allerdings erst seit der Jahrtausendwende. Bis 1990 zeichnete sich Deutschland (West) hingegen entweder durch eine leicht sinkende Ungleichheit (1950er bis Ende 1970er Jahre) oder eine relativ stabile Einkommensverteilung aus (1980er Jahre). (Trabold 2014, S. 133) Was den Kausalzusammenhang betrifft, so liegt beim Perfekt oftmals eine ursächliche Verbindung zwischen dem vergangenen Ereignis und der Gegenwart vor. Im folgenden Beispiel sehen wir, wie das Ereignis (Kampf für die Freilassung des Sohnes) sich direkt auf die Gegenwart auswirkt (Leben des Sohnes in Freiheit): (12) Ich bedanke mich jeden Tag bei Gott, Jesus und Maria, dass ich noch lebe und nicht in einem desolaten amerikanischen Gefängnis nutzlos und schwer MS-krank bis zu meinem Tod vor mich hin vegetiere. Ich danke meiner Mutter, die sich wie eine Löwin für meine Freilassung eingesetzt hat und mir jeden Tag mit Rat und Tat zur Seite steht. (Homm 2016, S. 7) Bei einem Präteritum-Ereignis erscheint hingegen diese Kausalkette oftmals unterbrochen; es handelt sich um eine Situation, die keinen direkten Bezug zur Gegenwart mehr hat. So im folgenden Beispiel, das überholte Modelle der Finanzindustrie thematisiert: (13) Die Quants halfen nicht nur, eine neue Generation an Finanzinstrumenten zu konstruieren. Sie entwickelten auch die Computerprogramme, mit
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Claudio Di Meola / Daniela Puato
denen diese Neuerfindungen auf ihr Risiko getestet wurden. Doch die Denkmodelle, die sowohl den neuen Finanzinstrumenten als auch den Tests zugrunde lagen, basierten auf Annahmen, die sich im Nachhinein als fehlerhaft und unzureichend herausstellten. (Buchter 2015, S. 215) In einem Kommunikationskontext der Nähe wird zumeist das Perfekt verwendet, in einem Kommunikationskontext der Ferne häufiger das Präteritum. So haben wir im folgenden Perfekt-Beispiel einen informellen persönlichen Dialog, im Präteritum-Beispiel demgegenüber eine Betrachtung aus dem Vorwort zu einem Sachbuch: (14) Promi (zu Journalist, der sie auf der Straße angesprochen hat): Mann, Ludo, ich hab’s dir schon tausendmal gesagt, ich bin nicht schwanger. Ludo: Aha, dann hab ich mich vielleicht einmal nur getäuscht. Dann bist du wirklich nur fett geworden. (KeinOhrHasen, 0:05 h) (15) Immer wieder wurde mir von wohlmeinenden Menschen nach der Finanzkrise und dem Megaerfolg von Der Crash kommt geraten, doch ein weiteres Buch zu schreiben, an den Erfolg anzuknüpfen. Jemand riet mir, ein Buch mit dem Titel Der Aufschwung kommt zu verfassen. Da würde ich dann gleich den nächsten Hit landen, meinte er. (Otte 2019, S. 11–12) Der Abstand zum Sprechzeitpunkt wird in der Forschung als relevant für die Zukunftstempora angesehen. Kann dieser Faktor auch für die Vergangenheitstempora Perfekt und Präteritum gelten? Der Gebrauch von adverbialen Temporalangaben scheint zumindest darauf hinzudeuten, dass geringer Zeitabstand eher mit dem Perfekt korreliert, größerer Zeitabstand mit dem Präteritum. Im folgenden Beispielpaar verdeutlichen die jeweiligen Zeitangaben die unterschiedliche Distanz zum Sprechzeitpunkt ( jetzt bei Perfekt, vor hundert Jahren bei Präteritum): (16) IAEA-Chef Grossi war ja in Teheran und er hat jetzt durchaus etwas ausgehandelt, womit beide Seiten anscheinend leben können, dass jetzt erst mal gefilmt wird, dass die Aufnahmen aber noch nicht an die Öffentlichkeit geraten und dass Iran dann, wenn man tatsächlich zurückkommt zum Abkommen, diese Aufnahmen freigibt. (Iran-Expertin Katajun Amirpur im Interview mit Dlf, 2/03/2021) (www.deutschlandfunk.de/atomkonflikt-usa -iran-biden-sollte-das-wahrmachen-was-er-100.html/ [letzter Zugriff am 19. 05. 2022]) (17) Vor hundert Jahren wurde Matthias Erzberger im Schwarzwald erschossen: Eine Verschwörungstheorie wurde dem Politiker zum tödlichen Verhängnis. (www.suedkurier.de/ [letzter Zugriff am 19. 05. 2022, Ausgabe 24/08/ 2021])
139
Die deutschen Zukunfts- und Vergangenheitstempora
6.
Fazit
Halten wir zusammenfassend fest, dass Präsens und Perfekt als Tempora der Nähe gelten können: Präsens bei Zukunftsbezug und Perfekt bei Vergangenheitsbezug. Futur I und Präteritum können demgegenüber als Tempora der Ferne gelten. Betrachten wir den folgenden tabellarischen Überblick, der die in der Forschungsliteratur etablierten Faktoren berücksichtigt (vgl. Tabelle 1), »neue« Faktoren einbezieht und zu einem symmetrischen Gesamtbild gelangt: Präsens / Perfekt
Futur I / Präteritum
Zeitreferenz Zukunft / Vergangenheit
Zukunft / Vergangenheit
Dimension rein temporal
Faktor geringer Zeitabstand
temporalaspektuell temporalkausal
Kontinuität
X
ursächlicher Zusammenhang
X
kommunikativ
dialogischpersönlich großer Zeitabstand
X
rein temporal
Nähe X
Ferne
X
temporalaspektuell temporalkausal
Diskontinuität
X
kein ursächlicher Zusammenhang
X
kommunikativ
monologischunpersönlich
X
Tab. 2: Tempora der Nähe und Tempora der Ferne.
Interessanterweise stellen die Tempora der Nähe gleichzeitig die jeweils unmarkierte Tempusalternative dar: Präsens für Zukunft und Perfekt für Vergangenheit. Dies bedeutet, dass in der Chronologie die Verbindung zwischen den Ereignissen als Normalfall angesehen wird. Im Einzelnen wird die Zukunft durch das Präsens als Ergebnis der Gegenwart gesehen, die Vergangenheit durch das Perfekt als Voraussetzung für die Gegenwart. Während Präsens und Perfekt also das Verbindende auf dem Zeitkontinuum voraussetzen (als unmarkierte Tempora) oder gar das Verbindende hervorheben (als Tempora der Nähe), betonen Futur I und Präteritum das Trennende und segmentieren sozusagen künstlich das Zeitkontinuum, wobei die Gegenwart deutlich von respektive Vergangenheit und Zukunft getrennt erscheint.
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Claudio Di Meola / Daniela Puato
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Die deutschen Zukunfts- und Vergangenheitstempora
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Claudio Di Meola / Daniela Puato
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Filme/TV Bis zum Ellenbogen (Deutschland, 2007; Regie: Justus von Dohnányi). KeinOhrHasen (Deutschland, 2007; Regie: Til Schweiger). Reality-Show Big Brother (11. Staffel).
Anne-Kathrin Gärtig-Bressan (Università di Trieste)
(Auch) eine Frage der Distanz: Futur II oder Perfekt zum Ausdruck der komplexen Zukünftigkeit
Der Beitrag befasst sich mit der Opposition von Futur II und Perfekt zum Ausdruck der komplexen Zukünftigkeit im Deutschen. Vorgestellt werden zwei Studien: Die erste (GärtigBressan 2021), die auf der deutschen Übersetzung von vier englischsprachigen Sachbüchern beruht, zeigt, dass das Perfekt mit 71,7 % der Belege das häufiger gewählte Tempus ist und untersucht Faktoren, die mit einer höheren Frequenz von Futur II einhergehen. Die zweite Studie fokussiert auf das Vorkommen des Futur II im DWDS-Kernkorpus zwischen 1946 und 2010. Complex Futurity; German Future Tenses; German Futur II; German Perfekt; DWDS Kernkorpus.
1.
Einleitung
Es gibt Themen der deutschen Grammatik, die linguistischen Laien besonders aufzufallen scheinen und zu denen sich im (halb)öffentlichen Diskurs – in Sprachratgebern, in den Medien, in Internetforen – bestimmte Meinungen gebildet haben. Dazu gehört sicherlich der Gebrauch von weil in V2-Sätzen oder der vermeintliche Verlust des Genitivs – und dazu gehört auch das Futur II (oder Futurperfekt), das als extrem ungebräuchliche, ja sogar überflüssige Tempusform1 angesehen wird. Dabei haben die meisten Menschen vermutlich die temporale Funktion des Futur II (»Bis morgen werde ich diese Aufgabe erledigt haben«) im Blick, auf die im schulischen Grammatikunterricht – zumindest in der Vergangenheit – fokussiert wurde, und die tatsächlich sehr selten ist. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass die Zeitrelation, auf die sie referiert, nämlich die komplexe Zukünftigkeit (vgl. Di Meola 2013, S. 21), allgemein kognitiv weniger relevant und entsprechend rar ist, und zum anderen damit, dass für diese Relation mit dem Präsensperfekt ein anderes, morphologisch leichteres Tempus, zur Verfügung 1 Vgl. z. B. https://www.deutsch-als-fremdsprache.de/austausch/forum/read.php?4,23824 [letzter Zugriff am 02. 01. 2023].
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Anne-Kathrin Gärtig-Bressan
steht (»Bis morgen habe ich diese Aufgabe erledigt«), das häufiger verwendet wird. Die niedrige Frequenz hat dazu geführt, dass zur tatsächlichen Verteilung der Tempora zum Ausdruck der komplexen Zukünftigkeit relativ wenige empirische Studien vorliegen und über die Faktoren, die mit der Präferenz für das eine bzw. das andere Tempus korrelieren, kaum abgesicherte Aussagen möglich sind. Der vorliegende Beitrag möchte einen Ansatz vorstellen, wie diese Lücke methodisch geschlossen werden kann. Dazu stellt er nach einem Überblick über den Forschungsstand zwei Studien vor, von denen eine bereits abgeschlossen ist (Gärtig-Bressan 2021), während die andere sich noch in der Anfangsphase befindet. Die erste Studie ist an Di Meolas Arbeit zur Opposition von Futur I und Präsens zum Ausdruck der einfachen Zukünftigkeit (2013) orientiert und analysiert auf der Grundlage von vier aus dem Englischen übersetzten Sachbüchern mit Zukunftsthematik das Vorkommen von Futur II und Perfekt (insgesamt 99 Belege) zum Ausdruck der komplexen Zukünftigkeit und die Faktoren, die präferiert mit der Wahl des einen bzw. des anderen Tempus einhergehen. Die zweite Studie basiert auf sämtlichen Futur II-Belegen aus dem DWDS-Kernkorpus (1900–1999) nach 1945 und dem DWDS-Kernkorpus 21 (2000–2010) (269 Belege für temporales und 369 Belege für epistemisches Futur II) und untersucht, welche Faktoren mit einem besonders hohen Anteil an temporalen Futur IIBelegen einhergehen. Ausgewählt wurden aus beiden Studien neben den Faktoren Satzart und in Studie 2 Textsorte die Faktoren, die i. w. S. mit der Thematik der AIG-Tagung 2022, Nähe und Ferne, in Verbindung stehen, nämlich diskursive Distanz (Distanzierung der Sprecher:innen vom Gesagten durch Nennung einer externen Informationsquelle) und zeitliche Distanz (der Entstehung der analysierten Texte, der im jeweiligen Satz genannten realen Zeit und der Referenzzeit).
2.
Das Futur II zum Ausdruck der komplexen Zukünftigkeit: Forschungsstand
Das Futur II kann zwei Funktionen erfüllen. Zunächst begegnet es uns in Texten als temporales, zukunftsbezogenes Futur II wie in diesem Beispiel: (1) Bis zum Jahr 2002 wird die Nasa fast zwei Milliarden Dollar in die Grundlagenforschung investiert haben. (DWDS-Kernkorpus; Die Zeit, 16. 04. 1998, Nr. 17; Hervorhebungen in diesem sowie in allen weiteren Beispielen durch mich, AKGB)
Futur II oder Perfekt zum Ausdruck der komplexen Zukünftigkeit
145
In dieser Verwendungsweise wird eine spezifische Zeitrelation ausgedrückt, die sich wie in Abbildung 1 veranschaulichen lässt: S Vergangenheit
Gegenwart
E
R
Zukunft
Abb. 1: Zeitrelation der komplexen Zukünftigkeit (vgl. Gärtig-Bressan 2021, S. 34).
Die Sprecher:innen oder Textsender:innen machen eine Äußerung zur Sprechzeit (S), die im Falle des Beispiels (1) mit der realen Produktionszeit des Textes, also April 1998, zusammenfällt. Darin wird eine Referenzzeit (R) gesetzt, die nach der Sprechzeit, also in der Zukunft, liegt und häufig durch ein Zeitadverbial, in diesem Fall bis zum Jahr 2002, markiert wird. Das durch das Verb im Futur II kodierte Ereignis wird als vor dieser Referenzzeit oder parallel zu ihr abgeschlossen dargestellt. Das zugrundeliegende dreistufige Tempusmodell geht auf die Logik von Reichenbach (1947) zurück und ist in Folge in einer ganzen Reihe von Arbeiten und wissenschaftlichen Grammatiken angewendet und weiterentwickelt worden (z. B. in Bäuerle 1979; Fabricius-Hansen 1991; Thieroff 1992; Klein 1994; Ballweg 1997; Zifonun u. a. 1997). Die Zeitrelation, die ich mit Di Meola (2013, S. 21) als »komplexe Zukünftigkeit« bezeichnen möchte, scheint prototypisch mit der Angabe der Referenzzeit wie im Beispiel (1). Die Referenzzeit kann jedoch auch durch einen temporalen Nebensatz, häufig einen zeitlich-bedingenden wenn-Satz, gesetzt werden wie in (2) (vgl. Gelhaus 197, S. 156), oder sie kann lediglich durch den Kontext oder Ko-Text gegeben sein. Dabei hilft es, wenn wie in Beispiel (3) der Rest des Satzes klar in der Zukunft verortet ist, etwa durch den Gebrauch des Futur I. Schließlich kann das Futur II auch selbst in einem temporalen Nebensatz stehen (4). (2) Und wenn dieses Werk einmal getan ist, dann werden wir es nicht nur für uns selber getan haben […]. (DWDS-Kernkorpus; Archiv der Gegenwart, Bd. 35, 12. 06. 1965) (3) Der Stand unserer Zahlungsbilanz wird sich verbessern, und wir werden über den Atlantik hinweg eine Handelspartnerschaft zustande gebracht haben, die der Freiheit ungeheuer viel zu bieten hat. (DWDS-Kernkorpus; Archiv der Gegenwart, Bd. 32, 11. 01. 1962) (4) Wenn die Professoren und Studenten weit in den Norden der Stadt in eine neue Technische Hochschule umgezogen sein werden, nehmen sie vielleicht einen Teil der intellektuellen Treffpunkte mit, die Schwabing ausgemacht haben. (DWDS-Kernkorpus; Die Zeit, 08. 03. 1968, Nr. 11)
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Anne-Kathrin Gärtig-Bressan
Die temporal-zukunftsbezogene ist aber nur eine Funktion des Futur II, und es ist tatsächlich die seltenere. Forschungsarbeiten und Grammatiken (vgl. u. a. Duden, S. 521; Helbig-Buscha 2001, S. 139–141; Leiss 1992, S. 222) weisen darauf hin, dass es häufiger gebraucht wird wie im folgenden Beispiel: (5) Max Weber wird diese Nichtachtung vielleicht mit einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis genommen haben, als Durkheim das Buch seiner Ehefrau Marianne Weber Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung (1907) besprach. (DWDS-Kernkorpus; W. Lepenies: Kultur und Politik, München/Wien: Carl Hanser Verlag 2006, S. 220) In diesem epistemischen Gebrauch wird nicht über die Zukunft gesprochen, sondern eine Vermutung über ein vergangenes Ereignis angestellt. Die Ereigniszeit liegt also in der Vergangenheit, eventuell vorhandene Zeitadverbiale referieren auf diese und nicht wie beim zukunftsbezogenen Gebrauch auf die Referenzzeit, und diese letztere fällt mit der Sprechzeit zusammen.2 Weinrich hält in seiner Textgrammatik fest: »Es [das Vor-Futur] wird jedoch in der deutschen Sprache recht selten gebraucht und dient, außer in sehr pedantischem Sprachgebrauch, ausschließlich zum Ausdruck der rückschauenden Vermutung« (Weinrich 32005, S. 235). Die uns interessierende Zeitrelation der komplexen Zukünftigkeit, wie in Abbildung 1 dargestellt, wird dagegen häufiger durch ein anderes Tempus ausgedrückt, nämlich durch das Perfekt (oder Präsensperfekt) wie im folgenden Beispiel: (6) In zwanzig Jahren sind die wasserumspülten Stahlpfeiler, auf denen die Straße über den Linien 4, 5 und 6 der East Side ruht, verrostet und geben nach. (Weisman dt., S. 35) Dazu sei wiederum Weinrich zitiert: Der Zeitpunkt, auf den der Autor sich mit diesen Verbformen bezieht, ist gleichfalls die Zukunft […]. Dennoch stehen die Perfektformen zum Ausdruck der Rück-Perspektive […] Die deutsche Sprache setzt also in einem solchen Fall normalerweise kein VorFutur (»Exakt-Futur«). (Weinrich 32005, S. 210)
Die von mir durchgeführten Studien sollen genau diese Aussagen überprüfen: Ist es tatsächlich so, dass das Futur II überwiegend in epistemischem Gebrauch auftritt und seine temporale Funktion überwiegend durch das Perfekt über2 Für eine differenziertere Darstellung vgl. Duden, S. 509–511. Als weitere Funktion wird in Dogà (2020) die evidentiale Lesart analysiert.
Futur II oder Perfekt zum Ausdruck der komplexen Zukünftigkeit
147
nommen wird? Darauf weisen die zitierten Arbeiten hin und davon wird auch hier als Hypothese ausgegangen. Dagegen gibt es zur zweiten Frage bislang wenig Anhaltspunkte: Von welchen Faktoren hängt die Präferenz für das eine oder das andere Tempus ab? Zum Gebrauch des Futur II oder alternativ des Perfekts in zukunftsbezogener Lesart liegen, eben aufgrund der geringen Frequenz, nur wenige empirische Studien vor. Gelhaus (1975) hat in seiner Arbeit zu literarischen, journalistischen und populärwissenschaftlichen Texten mit insgesamt 156.039 Tempusformen lediglich 6 Belege von temporalem Futur II ermittelt. Dem stehen 2282 Belege von Futur I und 37 Belege von epistemischem Futur II gegenüber. Zukunftsbezogenes Perfekt wurde nicht betrachtet. Dittmann (1976) weist in 146 Texten der gesprochenen Standardsprache lediglich 2 Belege von zukunftsbezogenem Futur II und 8 Belege für zukunftsbezogenes Perfekt nach. Brons-Albert (1982) hat in einer Korpusuntersuchung zu gesprochener Sprache 2000 Sätze mit Zukunftsbezug analysiert und darin 18 Belege für Perfekt, dagegen keinen für Futur II gefunden. Mortelmans (2004) hat für das Futur II im Deutschen einen Anteil von lediglich 0,3 % ermittelt und Latzel (2004) in einem Korpus von dramatischen Texten herausgefunden, dass es lediglich 0,06 % aller Tempusformen ausmacht. Die wenigen Daten zeigen an, dass in der gesprochenen Sprache das Perfekt das dominierende Tempus für unsere Zeitrelation ist. Vor allem aber zeigen sie, dass, wie auch Dittmann (1976, S. 221) schlussfolgert, »nicht nur F 2-Formen selten auftreten […], sondern daß der Zeitreferenzakt ˈex nach sˈ mit entsprechender Spezifizierung […], in deren Vollzug F 2 bzw. PERF auftreten können, überhaupt sehr selten sind [sic!]«. Wie Di Meola (vgl. 2013, S. 23). annimmt, scheint die Zeitreferenz der komplexen Zukünftigkeit gegenüber der einfachen kognitiv weniger relevant zu sein.
3.
Zwei Studien zum Futur II in temporaler Lesart
Um die Forschungsfragen trotz der geringen Frequenz zu beantworten, wurden zwei Studien konzipiert, von denen eine abgeschlossen, die andere noch in Arbeit ist. Als methodischer Ausgangspunkt diente dabei die schon mehrmals zitierte Arbeit von Di Meola (2013) zu einer ähnlichen Tempus-Opposition, nämlich der Opposition von Präsens und Futur I zum Ausdruck der einfachen Zukünftigkeit, für die Ähnlichkeiten zur hier interessierenden anzunehmen sind: »Perfekt und Futur II in Zukunftsbedeutung verhalten sich wie Präsens und Futur in Zukunftsbedeutung zueinander« (Welke 2005, S. 42). Für seine Studie hat Di Meola aus einem Korpus von mündlichen und schriftlichen Texten mit Zukunftsbezug je 3000 Belege von Präsens und Futur I in Zukunftsbedeutung exzerpiert und systematisch eine lange Liste von Parametern
148
Anne-Kathrin Gärtig-Bressan
analysiert, die Einfluss auf die Präferenz für das eine oder das andere Tempus haben können. Die Arbeit enthält auch eine kontrastive Untersuchung, die das Italienische mit einbezieht und dessen Opposition von presente und futuro semplice mit der deutschen vergleicht. Hierfür wurden die italienischen und die deutschen Übersetzungen und Synchronfassungen von englischsprachigen Sachbüchern bzw. Filmen mit jeweils 500 Belegen für die Tempusformen auf die gleichen Parameter hin untersucht (vgl. Di Meola 2013, S. 225–236).
3.1
Studie 1
Nach diesem Vorbild wurde die erste der Studien zu Futur II und Perfekt durchgeführt (Gärtig-Bressan 2021), die kontrastiv italienisch-deutsch ausgerichtet war. Es wurde also mit einem Korpus übersetzter Texte gearbeitet, genauer gesagt mit den italienischen und deutschen Übersetzungen der Sachbücher, die auch Di Meola verwendet hat3 und von denen im Folgenden nur die deutschen Versionen relevant sind: Flannery, Tim F.: Wir Wettermacher. Wie die Menschen das Klima verändern und was das für unser Leben auf der Erde bedeutet. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2007 (= Flannery dt.); Rifkin, Jeremy: Der europäische Traum. Die Vision einer leisen Supermacht. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2006 (= Rifkin dt.); Stiglitz, Joseph: Im freien Fall. Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft. München: Siedler 2010 (= Stiglitz dt.); Weisman, Alan: Die Welt ohne uns. Reise über eine unbevölkerte Erde. München: Piper 2009 (= Weisman dt.).
Die Texte wurden von Di Meola ausgewählt, da sie Zukunftsszenarien beschreiben und somit eine gewisse Belegzahl von Tempora der Zukünftigkeit garantieren, was für die Opposition von Futur II und Perfekt noch wichtiger ist. Aus dieser Textgrundlage wurden, manuell, sämtliche Belege für die komplexe Zukünftigkeit exzerpiert. Trotz der gesteuerten Auswahl ergaben sich dabei lediglich 99 Belege, davon 28 (28,3 %) für das Futur II in temporaler Lesart und 71 (71,7 %) für das Perfekt. Belege für das epistemische Futur II wurden nicht gefunden. Es bestätigt sich also erneut die Seltenheit der komplexen Zukünftigkeit an sich. Die von Di Meola ermittelten Belege für die einfache Zukünf3 Es ist zu präzisieren, dass von den fünf von Di Meola (2013) verwendeten Sachbüchern für Gärtig-Bressan (2021) nur vier herangezogen wurden, um eine stärkere thematische Ausgewogenheit zu erreichen: Zwei sind stärker wirtschafts- und sozialwissenschaftlich, zwei stärker naturwissenschaftlich ausgerichtet, vgl. ebd., S. 49.
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Futur II oder Perfekt zum Ausdruck der komplexen Zukünftigkeit
tigkeit stehen hierzu in einem Verhältnis von 57:1 (vgl. Gärtig-Bressan 2021, S. 51). Zugleich resultierte aus dieser geringen Belegzahl natürlich ein Problem für die Belastbarkeit der Studie: Alle Ergebnisse können lediglich Tendenzen aufzeigen; außerdem ist zu beachten, dass es sich bei den analysierten Texten um übersetzte Texte handelt. Als erstes Resultat ist festzuhalten, dass das Perfekt mit 71,7 % der Belege das häufiger gewählte Tempus ist, zumindest in übersetzten, geschriebenen Sachtexten. Unter den Faktoren, die mit einer erhöhten Zahl an Futur II-Belegen einhergehen, sind diskursive Distanz, die Fixierung der Referenzzeit in einer (fernen) realen Zeit und die Satzart zu nennen. 3.1.3 Diskursive Distanz: Nennung einer Informationsquelle Di Meola (vgl. 2013, S. 116) hat herausgearbeitet, dass die Angabe einer Informationsquelle im Satz mit einem überdurchschnittlich hohen Anteil an Futur Igegenüber Präsens-Belegen korreliert. Durch eine Informationsquelle belegen die Sprecher:innen die Äußerung, objektivieren sie und distanzieren sich somit selbst davon. Bei den Quellen handelt es sich »um Informant:innen mit einer gewissen Autorität, also Expert:innen der jeweiligen Thematik, die sich auf Studien, Modelle etc. stützen und so eine höhere Sicherheit der Angaben gewährleisten« (Gärtig-Bressan 2021, S. 64). Der Anteil an Futur II- gegenüber Perfekt-Belegen liegt in entsprechenden Sätzen wie (7) deutlich über dem Durchschnitt, nämlich bei 71,4 %. Anzahl Futur II-Belege
Futur II-Anteil an allen Belegen komplexer Zukünftigkeit
Anteil an allen Futur II-Belegen
10
71,4 %
35,7 %
Tab. 1: Futur II in Sätzen mit Angabe einer Informationsquelle4.
(7) Computersimulationen lassen darauf schließen, dass 99 Prozent der KarruSukkulenten bis 2050 verschwunden sein werden. (Flannery dt., S. 207)
4 In dieser Tabelle sowie wie in Tab. 2 und Tab. 3 werden neben der absoluten Zahl der Futur IIBelege zwei Prozentwerte angegeben: der Futur II-Anteil an allen Belegen für die komplexe Zukünftigkeit in Sätzen mit dem jeweils betrachteten Parameter sowie der Anteil an allen Futur II-Belegen (N=28).
150
Anne-Kathrin Gärtig-Bressan
3.1.2 Fixierung der Referenzzeit in der realen Zeit Beispiel (7) zeigt noch etwas anderes: Die Referenzzeit liegt nicht in einer unbestimmten Zukunft (dann, eines Tages, …), sondern ist eine an die reale Zeit gekoppelte Angabe. In diesem Fall handelt es sich um eine konkrete Jahreszahl, möglich ist aber auch eine konkrete Zeitspanne wie in 30 Jahren. Die Fixierung der Referenzzeit in der realen Zeit ist ein weiterer Faktor, der mit einem besonders hohen Anteil an Futur II korreliert. Dieser liegt in entsprechenden Sätzen bei 88,9 % (vgl. Gärtig-Bressan 2021, S. 62). Anzahl Futur II-Belege
Futur II-Anteil an allen Belegen komplexer Zukünftigkeit
Anteil an allen Futur II-Belegen
16
88,9 %
57,1 %
Tab. 2: Futur II in Sätzen mit Fixierung der Referenzzeit in der realen Zeit.
Alle Zeitangaben beziehen sich dabei auf eine weit entfernte Zukunft, zeitlich kurze Distanzen – bei Di Meola wird ein Monat als Grenze angesetzt (vgl. 2013, S. 103–105) – finden sich dagegen unter den Belegen für die komplexe Zukünftigkeit nicht. 3.1.3 Verteilung der Belege nach Satzart Einen großen Einfluss auf die Wahl des Tempus bei Belegen der komplexen Zukünftigkeit scheint schließlich die Satzart zu haben (vgl. Gärtig-Bressan 2021, S. 65–66). Das Futur II steht überdurchschnittlich häufig in Hauptsätzen (vgl. Bsp. 8), hier macht sein Anteil 69,0 % aus. Dagegen liegt der Anteil in nichttemporalen Nebensätzen bei 30,4 % (9) und in temporalen Nebensätzen bei gerade einmal 2,1 % (10). In Nebensätzen wird also zumindest in den übersetzten Texten der ersten Studie eindeutig das Perfekt bevorzugt. Anzahl Futur II-Belege in Hauptsätzen: 20 in nicht-temporalen Nebensätzen: 7
Futur II-Anteil an allen Belegen komplexer Zukünftigkeit 69,0 % 30,4 %
Anteil an allen Futur II-Belegen 71,4 % 28,6 %
in temporalen Nebensätzen: 1
2,1 %
3,6 %
Tab. 3: Futur II in Haupt- und Nebensätzen.
(8)
Nach zweihundert Jahren, so schätzt Steven Clemants, stellvertretender Direktor des Brooklyn Botanical Garden, werden Baumgruppen die Pionierpflanzen weitgehend verdrängt haben. (Weisman dt., S. 38)
Futur II oder Perfekt zum Ausdruck der komplexen Zukünftigkeit
151
(9)
Die US-Rentenversicherungsbehörde schätzt, dass bis Ende 2011 wegen der Rezession eine Million Menschen mehr eine Erwerbsunfähigkeitsrente beantragt haben werden, und etwa 500 000 werden eine erhalten. (Stiglitz dt.: 101) (10) Was werden sie ihren Kindern sagen, wenn ihre immer größeren Häuser und Allradwagen sowie ihre Weigerung, das Kyoto-Protokoll zu unterzeichnen, dem Land die prächtigsten natürlichsten Schätze geraubt haben werden? (Flannery dt., S. 204)
3.2
Studie 2
Es sei wiederholt, dass eine Analyse, die auf lediglich 99 Belegen, zumal aus übersetzten Texten, beruht, höchstens Tendenzen aufzeigen kann. Das manuell zusammengestellte Korpus aus vier Sachbüchern, dessen Analyse für die von Di Meola (2013) untersuchte Opposition von Futur I und Präsens zum Ausdruck der einfachen Zukünftigkeit eine ausreichende Zahl an Belegen erbracht hat, hat sich für das niedrigfrequente Phänomen der komplexen Zukünftigkeit als unzureichend erwiesen. Um aussagekräftige Ergebnisse zu erzielen, ist die Analyse eines großen elektronischen Referenzkorpus notwendig. Diese wird momentan ausgewertet und ist Teil eines von der Region Friaul-Julisch Venetien im Rahmen des Programms Microgrants geförderten Forschungsprojekts »Futurperfekt e Präsensperfekt per l’espressione della futurità complessa in tedesco« (Projektleitung: Anne-Kathrin Gärtig-Bressan). Im Folgenden sollen die ersten Teilergebnisse vorgestellt werden. Als Korpus wurden das DWDS-Kernkorpus (1900–1999) und das DWDSKernkorpus 21 (2000–2010) gewählt, betrachtet wurde als Ausschnitt der deutschen Gegenwartssprache der Zeitraum 1946–2010. Die Entscheidung für das DWDS-Kernkorpus gegenüber anderen zur Verfügung stehenden Korpora wie DeReKo fiel aufgrund seiner Ausgewogenheit, was Textsorten und deren Publikationszeit über die einzelnen Jahrzehnte betrifft, da es für das übergreifende Projekt Teil der Fragestellung ist, inwiefern die Tempuswahl diachron bedingt bzw. von der Textsorte beeinflusst ist. Der gewählte Korpusausschnitt aus dem DWDS-Kernkorpus umfasst 73,2 Mio Tokens und eine Textauswahl, die sich wie folgt auf die vier Textsorten Belletristik, Gebrauchsliteratur, Zeitung und Wissenschaft verteilt:
152
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Belletristik Gebrauchsliteratur
26,35 % 21,77 %
Zeitung Wissenschaft
27,29 % 24,59 %
Tab. 4: Anteil der Textsorten im DWDS-Kernkorpus, vgl. https://www.dwds.de/d/korpo ra/kern [letzter Zugriff am 01. 01. 2023].
Aus diesem Korpus wurden bislang sämtliche Belege für das Futur II extrahiert und analysiert, während die Analyse der Perfektbelege mit Zukunftsbedeutung noch aussteht. Für das Futur II finden sich insgesamt 643 Belege, davon 269 (41,8 %) in temporaler und 369 (57,4 %) in epistemischer Funktion. Fünf Belege sind aufgrund fehlender Angaben und des engen Ko-Textausschnitts nicht eindeutig zuzuordnen. Es bestätigt sich also die Hypothese, dass die epistemische Funktion die häufigere ist, dass sie allerdings, zumindest in geschriebenen Texten, nicht so viel häufiger vorkommt wie angenommen. 3.2.1 Belege nach Textsorten Die folgende Tabelle zeigt, wie sich die Belege von temporalem und epistemischem Futur II auf die einzelnen Textsorten verteilen. Textsorten Belletristik
Temporales Futur II 70 26,02 %
Epistemisches Futur II 143 38,75 %
Anteil der Textsorten am Gesamtkorpus 26,35 %
Gebrauchsliteratur Zeitung
35 132
13,01 % 49,07 %
95 56
25,75 % 15,18 %
21,77 % 27,29 %
Wissenschaft
32 269
11,90 % 100,00 %
75 369
20,33 % 100,00 %
24,59 %
Tab. 5: Verteilung der Futur II-Belege auf die einzelnen Textsorten.
Das uns interessierende temporale Futur II kommt demnach durchschnittlich häufig vor in belletristischen Texten, ist deutlich unterrepräsentiert in Texten der Gebrauchsliteratur und der Wissenschaft und steht dagegen überdurchschnittlich häufig in Zeitungstexten. Allerdings ist dabei eine Besonderheit der Korpuszusammenstellung zu beachten. 97, also 73,7 % der temporalen Futur IIBelege in dieser Textsorte stammen nicht aus publizierten Zeitungsartikeln, sondern aus dem Archiv der Gegenwart (AdG). »The AdG summarized on an almost daily basis from 1931 until its end in 2004 the main events reported by news agencies, daily newspapers, and magazines« (Geyken 2007, S. 29). Seine Texte behandelten also die gleichen Themen wie tatsächliche Zeitungstexte und enthielten die entsprechende Lexik, was für das in erster Linie als Basis für das
153
Futur II oder Perfekt zum Ausdruck der komplexen Zukünftigkeit
Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache gedachte Korpus ausschlaggebend war, unterscheiden sich morphosyntaktisch jedoch teils erheblich davon. Epistemisches Futur II steht dagegen, wenig überraschend, überdurchschnittlich häufig in belletristischen Texten und besonders selten in Zeitungtexten. 3.2.2 Diachrone Verteilung der Belege Die Frage, ob das zukunftsbezogene Futur II in der Vergangenheit häufiger verwendet wurde, lässt sich teilweise bejahen. Die folgende Tabelle bildet ab, wie viele Belege sich jeweils in den vom Korpus abgedeckten Jahrzehnten finden ließen. Jahrzehnt
1940er- 1950er- 1960er- 1970er- 1980er- 1990er- 2000erJahre Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre
Anzahl der Belege von 57,5* temporalem Futur II
72
35
32
29
28
32*
Tab. 6: Diachrone Verteilung der Belege von temporalem Futur II.
Die Frequenz ist in den 1950er-Jahren besonders hoch und nimmt dann langsam ab, mit einem wiederum etwas höheren Wert für die 2000er-Jahre.5 3.2.3 Verteilung der Belege nach Satzart Die Verteilung der Futur II-Belege nach Satzarten zeigt einen großen Unterschied zwischen temporalem und epistemischem Futur II. Während das epistemische Futur seltener in Nebensätzen steht (nur 33 bzw. 8,9 % der Belege), kommt das temporale Futur II, anders als es in Studie 1 der Fall war, genau so häufig im Haupt- wie im Nebensatz vor ( je 134 Belege oder 49,8 %). Satzart HS NS Sonstige
Temporales Futur II 134 49,81 % 134 1
49,81 % 0,37 %
269
100,00 %
Epistemisches Futur II 336 91,06 % 33 0
8,94 % 0,0 % 100,00 %
Tab. 7: Verteilung der Futur II-Belege nach Satzarten. 5 Es ist allerdings methodisch zu bedenken, dass es sich bei den mit Asterisk markierten Zahlen um bearbeitete Werte handelt. Für den Zeitraum der 1940er-Jahre wurden aufgrund des zeitlichen Korpusausschnitts lediglich die Jahre von 1946–1949 betrachtet. In diesen vier Jahren fanden sich 23 Belege, die auf zehn Jahre hochgerechnet wurden. Dagegen umfasst das Kernkorpus 21, das nur die ersten zehn Jahre des 21. Jahrhunderts einschließt, eine im Verhältnis zu den übrigen Jahrzehnten höhere Tokenzahl. Die hier gefundenen 50 Belege wurden entsprechend der Tokenzahl der übrigen Jahrzehnte heruntergerechnet.
154
Anne-Kathrin Gärtig-Bressan
Bei den Belegen für temporales Futur II lohnt sich ein Blick auf die Art der Nebensätze, in denen sie auftauchen. Es sind zur Hälfte (67 oder 24,9 % aller Belege) temporale Nebensätze, wiederum ein großer Unterschied zu Studie 1, wo lediglich 3,6 % der Futur II-Belege im temporalen Nebensatz standen. Eine Erklärung für das häufigere Vorkommen im temporalen Nebensatz in Studie 2 könnte das größere Korpus sein. Auch der besondere Stil des AdG scheint eine Rolle zu spielen, denn 37 von 67 Belegen von Futur II im temporalen Nebensatz finden sich hier, wie das folgende Beispiel: (11) Die Ämter von Nowak und Waniolka wurden nicht neubesetzt und sollen vakant bleiben, bis sich im Zusammenhang mit geplanten Änderungen in der Planung und Leitung der Volkswirtschaft neue Aufgaben herauskristallisiert haben werden. (DWDS-Kernkorpus; Archiv der Gegenwart, Bd. 38, 22. 12. 1968)
3.2.4 Distanz der Referenzzeit Im Hinblick auf das Rahmenthema der AIG-Tagung 2022 wurde schließlich untersucht, ob eine größere temporale Distanz der Referenzzeit zur Sprechzeit ein Faktor für einen besonders hohen Anteil an temporalem Futur II ist. Nicht eingeschlossen in die Betrachtung wurden dabei Belege im temporalen Nebensatz, die Gesamtzahl der betrachteten Belege ist also 202. Referenzzeit
keine Fragesatz in Abhängig- unbestimmte konkrete konkrete Angabe mit wann keit von Angabe Angabe: Angabe: anderem < 1 Monat > Monat Ereignis
Anteil der 15,8 % Sätze mit Futur II
2,0 %
29,2 %
11,4 %
11,4 %
30,2 %
Tab. 8: Anteil der Sätze mit Futur II in Abhängigkeit von der Distanz der Referenzzeit.
15,8 % der entsprechenden Sätze mit temporalem Futur II enthalten keine Angabe der Referenzzeit (vgl. Bsp. 12). 2,0 % sind Fragen mit wann (13). In 29,2 % der Sätze steht die durch das Futur II bezeichnete Handlung in Abhängigkeit von einem anderen Ereignis, ist also in ihrer zeitlichen Realisierung an dessen Erfüllung gebunden (14). In 11,4 % der Sätze ist die Referenzzeit unbestimmt (15). Wo die Referenzzeit hingegen durch eine konkrete Temporalangabe ausgedrückt wird, ist diese seltener, in 11,4 % der Sätze, eine nahe Zeit von weniger als einem Monat Distanz zur Sprechzeit wie in Bsp. (16), viel häufiger (30,2 % der Sätze) dagegen eine entfernte Zeit von mehr als einem Monat Distanz (17).
Futur II oder Perfekt zum Ausdruck der komplexen Zukünftigkeit
155
(12) Doch sein alter Freund wird sich verändert haben, dafür werde ich sorgen! (DWDS-Kernkorpus; C. Funke: Tintenherz, Hamburg: Cecilie Dressler Verlag 2003, S. 449)6 (13) Wann wird die Praxis Sie verdorben haben? (DWDS-Kernkorpus; Die Zeit, 16. 02. 1996, Nr. 8) (14) Spätestens dann werden wir erreicht haben, wovon die Verfasser der Charta der Heimatvertriebenen nur zu träumen wagten: Ein geeintes, friedliches Europa der Menschen und der Menschenrechte. (DWDS-Kernkorpus; Archiv der Gegenwart, 2000, Bd. 70) (15) Ihr Sohn und ihre Tochter werden sie tatsächlich irgendwann vergessen haben. (DWDS-Kernkorpus; M. Beyer: Spione, Köln: DuMont 2000, S. 280) (16) In wenigen Tagen werden wir dieses Ziel erreicht haben. (DWDS-Kernkorpus; Schreiben Kohl an Antall vom 25. September 1990) (17) Während noch 1945 etwa 90 % allen Papieres aus Koniferenholz stammte, werden sich diese Verhältnisse in einigen Jahrzehnten grundlegend geändert haben. (DWDS-Kernkorpus; W. Sandermann: Grundlagen der Chemie und chemischen Technologie des Holzes, Leipzig: Geest & Portig 1956, S. 62) Wir können also festhalten, dass das Futur II, wenn es in Verbindung mit einer konkreten Referenzzeit auftritt, bevorzugt zusammen mit einem entfernten Zeitpunkt steht.
4.
Resümee und Ausblick
Beide Studien haben bestätigt, dass die Zeitrelation der komplexen Zukünftigkeit insgesamt sehr selten ist. Die bereits abgeschlossene Studie 1 belegt zudem die Tendenz, dass – auch in der Schriftsprache – das Perfekt die häufiger gewählte Tempusform zum Ausdruck dieser Zeitrelation ist. Faktoren, die mit einer höheren Präferenz für das Futur II einhergehen, sind die Nennung einer Informationsquelle im Satz, die Fixierung der Referenzzeit in der (fernen) realen Zeit sowie das Auftauchen der Relation in einem Hauptsatz. Für die größer angelegte Studie 2, die auf den DWDS-Kernkorpora nach 1945 mit rund 73,2 Mio Tokens basiert, wurden bislang nur die Belege von Futur II ausgewertet. Dabei zeigte sich, dass temporales Futur II unterdurchschnittlich belegt ist in der Gebrauchsliteratur und in wissenschaftlichen Texten, und dagegen besonders häufig in (zusammenfassenden) Pressetexten vorkommt. Sein 6 In diesem wie in den folgenden Zitaten sind die Futur II-Belege durch Fettdruck, die Angabe der Referenzzeit durch Unterstreichung hervorgehoben durch mich, AKGB.
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Gebrauch hat im Laufe der 1950er- bis 1990er-Jahre abgenommen. Anders als in Studie 1 kommt das Futur II genau so häufig in Neben- wie in Hauptsätzen vor; anders ist es beim epistemischen Futur II, das in mehr als neun von zehn Fällen im Hauptsatz steht. Das Futur II steht präferiert in Sätzen, die eine konkrete, zeitlich entfernte Referenzzeit nennen oder als Referenzzeit auf ein anderes Ereignis Bezug nehmen, zu dessen Realisierung die Verbalhandlung in einem konditionalen Verhältnis steht. Im nächsten Schritt werden derzeit die Perfektbelege zum Ausdruck der komplexen Zukünftigkeit aus dem Korpus nach Parametern annotiert. In der Folge ist auch der Einschluss mündlicher Daten aus dem DWDS-Spezialkorpus Gesprochene Sprache geplant, um am Ende differenziertere, abgesicherte Aussagen zum als ungebräuchlich, überflüssig und pedantisch gebrandmarkten Futur II und der zeitlichen Relation der komplexen Zukünftigkeit als Ganzem machen zu können.
Literatur Ballweg, Joachim: Zusammengesetzte Tempora und dynamische Tempusinterpretation im Deutschen. In: Quintin, Hervé/Najar, Margarete/Genz, Stephanie (Hg.): Temporale Bedeutungen. Temporale Relationen. Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 59–68. Bäuerle, Rainer: Temporale Deixis, temporale Frage: Zum propositionalen Gehalt deklarativer und interrogativer Sätze. Tübingen: Narr 1979. Brons-Albert, Ruth: Die Bezeichnung von Zukünftigem in der gesprochenen deutschen Standardsprache. Tübingen: Narr 1982. Di Meola, Claudio: Die Versprachlichung von Zukünftigkeit durch Präsens und Futur I. Eine ebenübergreifende Untersuchung samt kontrastivem Ausblick auf das Italienische. Tübingen: Stauffenburg 2013. Dittmann, Jürgen: Sprechhandlungstheorie und Tempusgrammatik. Futurformen und Zukunftsbezug in der gesprochenen deutschen Standardsprache. München: Hueber 1976. Dogà, Ulisse: Sul significato evidenziale del Futur II nella letteratura drammatica di Goethe e Schiller. In: »Studi germanici« 2020/18, S. 99–118. Duden: Die Grammatik. Berlin: Dudenverlag 92016. Fabricius-Hansen, Cathrine: Tempus. In: von Stechow, Arnim/Wunderlich, Dieter (Hg.): Semantik. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung. Berlin/New York: De Gruyter 1991, S. 722–748. Gärtig-Bressan, Anne-Kathrin: Komplexe Zukünftigkeit und ihre Versprachlichung durch Futur II und Perfekt bzw. passato prossimo im Deutschen und Italienischen. In: »L’Analisi Linguistica e Letteraria« 2021/29, S. 31–68. Gelhaus, Hermann: Das Futur in ausgewählten Texten der geschriebenen deutschen Sprache der Gegenwart. Studien zum Tempussystem. München: Hueber 1975.
Futur II oder Perfekt zum Ausdruck der komplexen Zukünftigkeit
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Datengrundlage DWDS-Kernkorpus (1900–1999) = https://www.dwds.de/d/korpora/kern [letzter Zugriff am 02. 01. 2023]. DWDS-Kernkorpus 21 (2000–2010) = https://www.dwds.de/d/korpora/korpus21 [letzter Zugriff am 02. 01. 2023]. DWDS-Spezialkorpus Gesprochene Sprache = https://www.dwds.de/d/korpora/spk [letzter Zugriff am 02. 01. 2023]. Flannery dt. = Flannery, Tim F.: Wir Wettermacher. Wie die Menschen das Klima verändern und was das für unser Leben auf der Erde bedeutet. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2007. Rifkin dt. = Rifkin, Jeremy: Der europäische Traum. Die Vision einer leisen Supermacht. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2006. Stiglitz dt. = Stiglitz, Joseph: Im freien Fall. Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft. München: Siedler 2010. Weisman dt. = Weisman, Alan: Die Welt ohne uns. Reise über eine unbevölkerte Erde. München: Piper 2009.
Luca Zenobi (Università dell’Aquila)
Lebenswelt und Virtualität im Fauststoff: Von den Volksballaden bis zum 20. Jahrhundert
Die Analyse und die Rekonstruktion eines merkwürdigen, eigenartigen Motivs in der früheren Überlieferung des Fauststoffes, das Lyrik und Prosatexte so wie auch Bilder und Ikonen miteinbezieht, werden auf die Rezeptionsgeschichte und Überarbeitung des Themas im 20. Jahrhundert bezogen. Fauststoff; Faustballade; Blutiges Kruzifix; Busoni; Sˇvankmajer.
Unter den ältesten literarischen Zeugnissen des Fauststoffs sind einige Balladen und Lieder aus dem 18. Jahrhundert zu verzeichnen: Es handelt sich um lyrische Texte, die sich in einigen Details voneinander unterscheiden und aus verschiedenen Regionen und Ländern, wie Deutschland, Österreich und Tschechien stammen.1 Von einigen dieser Gedichte ist auch die Transkription einer begleitenden Melodie erhalten, andere sind mit einem gestochenen Bild oder einer Vignette illustriert, die eine der Balladenepisoden darstellen. Diese Texte sind unterschiedlich lang und umfassen 18 bis 21 Strophen. Eine von diesen Balladen wurde Anfang des 19. Jahrhunderts in der von Achim von Arnim und Clemens 1 Ein ziemlich alter Aufsatz (Meier/Wiora 1938) hat sich mit dem Thema beschäftigt und mit großer philologischer Sorgfalt die Geschichte der faustischen Volksballaden und Volksschauspiele rekonstruiert. Das Thema wurde von der neueren Faustforschung nicht mehr behandelt. Die meisten Informationen über die verschiedenen Fassungen der Faustballade und über die in demselben Gedicht vorhandenen Themen konnte ich aus Meiers Arbeit schöpfen (Wioras Beitrag beschränkt sich auf einen kurzen Anhang über Die Melodien der Faustballade, ebd. S. 29–31). Meiers/Wioras Artikel wird in den beiden von Metzler ebenfalls 2018 veröffentlichten Faust-Handbüchern (Bauer 2018; Rohde/Valk/Mayer 2018) nicht einmal erwähnt, außerdem zitiert Bauer als einzigen kritischen Aufsatz über dieses Volkslied einen »grundlegenden« Artikel aus dem Jahr 1890 (Bauer 2018, S. 174). In seiner Rekonstruktion diskutiert und korrigiert Meier diverse Ungenauigkeiten und Fehler, die in der von Bauer angeführten Quelle enthalten sind. Ein 1938 verfasster Artikel über Volksdichtung soll wahrscheinlich mehr als einen Verdacht in späteren Literaturwissenschaftlern erweckt haben, nur so kann man die Tatsache erklären, dass Meiers und Wioras Essay, trotz seiner wichtigen Ergebnisse, aus der Faustforschung total verschwunden ist. Nur Heinz Rölleke hat im Kommentar seiner kritischen Ausgabe des Wunderhorns diese Studie zitiert (Arnim/Brentano 1975, S. 284).
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Brentano herausgegebenen Sammlung Des Knaben Wunderhorn veröffentlicht: Nach John Meiers Rekonstruktion entspricht diese Version der sogenannten Fassung H, einem fliegenden Blatt, das seinerseits zur dritten der drei von Meier festgestellten Gruppen gehört, in die die Überlieferungen der Ballade gegliedert werden (Meier/Wiora 1938, S. 5). 1806, ein Jahr nach der Veröffentlichung des ersten Bandes, schrieb Goethe, dem Arnim und Brentano ihre Sammlung gewidmet hatten, eine kurze Rezension, in der er sich allerdings an der romantischen Polemik zwischen Natur- und Kunstpoesie nicht beteiligen wollte, und sowohl den echten, originellen als auch den nachgedichteten Volkston der Lieder (vor allem in Arnims Überarbeitungen) lobte: Was man entschieden zu Lob und Ehren dieser Sammlung sagen kann, ist, daß die Teile derselben durchaus mannigfaltig charakteristisch sind. Sie enthält über zweihundert Gedichte aus den drei letzten Jahrhunderten, sämtlich dem Sinne, der Erfindung, dem Ton, der Art und Weise nach dergestalt voneinander unterschieden, daß man keins dem andern vollkommen gleichstellen kann. Wir übernehmen das unterhaltende Geschäft, sie alle der Reihe nach, so wie es uns der Augenblick eingibt, zu charakterisieren. (Goethe 1982, S. 271)
Über jedes einzelne Lied schrieb Goethe einige Worte, insbesondere über die Faustballade äußerte er ein ziemlich negatives Urteil: »Doktor Faust. (214.) Tiefe und gründliche Motive, könnten vielleicht besser dargestellt seyn« (Goethe 1982, S. 276). Zwei Jahre danach wäre Faust. Der Tragödie erster Teil erschienen, Ein Fragment wurde 1790 als eine überarbeitete Version der sogenannten ursprünglichen Fassung (Urfaust) veröffentlicht: Goethe war in diesen Jahren mit dem Fauststoff eng vertraut, die Art und Weise, wie solche »tiefe[n] und gründliche[n]« Themen in der Ballade behandelt wurden, fand er überhaupt unangemessen.2 Keine Spur von der Wissensbegierde und vom Streben sind in der eher als religiöse Warnung konzipierten Ballade zu finden. Auch in Bezug auf das von Schiller und Goethe in ihrem Briefwechsel entworfenen Balladenstudium scheint das Faust-Gedicht eher das Überbleibsel einer Volkskultur zu sein, die mit den »idealen« Konzepten von Volk und Nation der beiden Dioskuren nichts mehr zu tun hat. Trotz Goethes Urteil lohnt es sich aber, über eine besondere Eigenheit dieser Lyrik bzw. dieser Gruppe von Gedichten nachzudenken, vor allem in Bezug auf das umfangreichere Thema der Fauststoff-Rezeption. In diesen lyrischen Texten, und dann in einigen Puppenspielen,3 ist eine Episode aus Fausts Abenteuern enthalten, die aus den späteren Überarbeitungen 2 Mit noch eindeutigeren negativen Akzenten drückt sich der Rezensent der Allgemeinen Literatur Zeitung (1807) aus: »das […] geistlose ding […], das die einzelnen Motive der Legende ohne alle lyrische Anordnung und Verknüpfung gemein genug herableyert« (Arnim/Brentano 1975, S. 214). 3 Nach Meiers Rekonstruktion sei die Ballade älter als das Drama (Meier/Wiora 1938, S. 24–29).
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verschwindet und erst in einigen filmischen und musikalischen Faustwerken aus dem 20. Jahrhundert wieder in den Vordergrund rückt, freilich in einer neuen, moderneren Gestalt. Hört ihr Christen mit Verlangen, / Nun was Neues ohne Graus, / Wie die eitle Welt thut prangen, / Mit Johann dem Doktor Faust, / Von Anhalt war er geboren, / Er studirt mit allem Fleiß, / In der Hoffart auferzogen, / Richtet sich nach aller Weiß. (Arnim/Brentano 1975, S. 202)4
So klingen die bekannten Anfangsverse der Volksballade, die den »Anti-Helden« dem christlichen Publikum vorstellen wollen. Die zwölfte und die letzten drei Strophen (19 bis 21) haben einen relevanten Wert für unsere Fragestellung; die Verse der zwölften Strophe zeigen das einzigartige Objekt des Bündnisses zwischen Faust und dem höllischen Geist: Hör du sollst mir jetzt abmahlen, / Christus an dem heiligen Kreuz, / Was an ihm nur ist zu mahlen, / Darf nicht fehlen, ich sag es frei, / Daß du nicht fehlst an dem Titul, / Und dem heiligen Namen sein. (ebd., S. 204)
In einer anderen Fassung: Faustus tät den Geist befragen, / Wie Christus ausgesehen hat; / Darauf tät der Geist gleich sagen, / Daß kein Maler auf der Welt, / Der das Konterfei könnt treffen, / Wie der Herr ausg’sehen hat; / Faustus, sollst das nicht begehren, / Deine Reu’ ist viel zu spat (Meier/Wiora 1938, S. 8).5
Faust verkauft seine Seele, um der Kreuzigung Christi über die Vermittlung eines vom Teufel gemalten Bildes beiwohnen zu können. Nachdem dieser die Passion gemalt hat, weigert er sich, dem Bild den Namen Christi hinzuzufügen, und Faust darf das nicht einmal fordern, weil es – so der Teufel – auf der Welt nichts Heiligeres gebe. In einigen Fassungen hat die Ballade ein ziemlich rasches, negatives Finale für den zur Verdammung verurteilten Faust, in anderen Versionen beharrt Faust mit derartiger Sturheit auf dem Namen Christi im Bild, dass der Teufel ihm sogar droht, den Pakt aufzulösen und darüber hinaus mit allen Mitteln versucht, Faust umzustimmen, ihn zu Reue und Bekehrung zu bringen. In den letzten drei Strophen geschieht dann etwas Sonderbares:
4 Es werden auch die anderen Versionen der Ballade berücksichtigt, die in Meier/Wiora (1938, S. 7–12) durch die Buchstaben L, M, H, J konnotiert sind. Da ich eine thematische Analyse durchführe, halte ich mich an kein strenges philologisches Kriterium; aus dieser Perspektive scheint es mir legitim zu sein, auch auf verschiedene Versionen hinzuweisen, ohne auf philologische Einzelaspekte der Texte spezifisch einzugehen. 5 Hier handelt es sich um die Fassung M, eine achtzehnstrophige Version, die sowohl mündlich als auch schriftlich in der Wachau in Niederösterreich vor 1902 überliefert war und erst 1928 in der Zeitschrift Das deutsche Volkslied abgedruckt wurde.
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In derselbigen Viertelstunde / Kam ein Engel von Gott gesandt, / Der thät ja so fröhlich singen, / Mit einem englischen Lobgesang. / So lang der Engel dagewesen, / Wollt sich bekehren der Doctor Faust. / Er thäte sich alsbald umkehren, / Sehet an den Höllen Grauß; / Der Teufel hatte ihn verblendet, / Mahlt ihm ab ein Venus-Bild, / Die bösen Geister verschwunden, / Und führten ihn mit in die Höll. (Arnim/Brentano 1975, S. 205)6
Das schnell und mit wenigen Pinselstrichen angefertigte Venusbild, Symbol der Schönheit und der Wollust, wird an die Stelle der Kreuzigung gesetzt, und Faust wird durch diese Täuschung in die Hölle geführt. In diesen Versionen des FaustMythos wird »eine komplexe intermediale Konstellation aufgespannt, die verschiedene literarische Genres (Lied, Ballade, Anthologie) und Medien (Flugblatt, Buch, Musik) miteinander in Beziehung setzt und den Leser gewissermaßen multimedial in ein vergangenes Zeitalter zurückversetzen soll, um das gegenwärtige zu poetisieren« (Rohde/Valk/Mayer 2018, S. 190). Woher aber kommen diese beiden Motive, nämlich der Teufel als Maler und Venus als Trugbild? Die Reproduktion der Kreuzigung und die Anfertigung des Venusbildes erweisen sich hier als wichtige und entscheidende Elemente in Fausts Geschichte: Ersteres ersetzt den »traditionellen« Pakt und dessen Unterzeichnung mit Blut, Letzteres gilt als Werkzeug der Hölle, um Faust zu betrügen, seine Bekehrung zu verhindern und seine Seele zu erobern. Ist eine ganz allgemeine biblische Herkunft des Topos leicht erkennbar (Fausts Verdammung etwa wird durch die Versuchung einer Frau entschieden), so sollen einige in dieser Episode enthaltene Motive hervorgehoben werden, die eine sekundäre Linie in der Geschichte der Fauststoff-Rezeption darstellen, aber gleichzeitig wichtige Berührungspunkte mit der Hauptlinie zeigen, insbesondere in Bezug auf das Thema der Virtualität und auf die Grenzen zwischen realer und imaginärer Welt – ein Aspekt, der als konstitutives Element des faustischen Makrotextes zu betrachten ist (vgl. Rossi 2022, S. 442). Die Analyse und die Rekonstruktion dieses Motivs, das sich in einem dicht verwobenen Geflecht von Bildern und Texten entwickelt, bringen Elemente einer Reflexion ans Tageslicht, die weit über das bloße ästhetische Feld hinausgeht: »In diesem Zusammenhang wird dann deutlich, dass der Teufel als Produzent von Schein, als Illusionist, für die Bildkünste von hohem Interesse ist: insofern nämlich, als ihm die Aufgabe zufällt, den Raum zwischen Weltgewissheit und Selbstgewissheit und damit den Raum der Konstitution menschlichen Wirklichkeitsbewusstseins ikonisch zu markieren« (Berns 2020, S. 44).
6 Mit sehr wenigen Abweichungen in der Fassung J, einer mündlich überlieferten und mit Melodie aufgezeichneten Fassung, die 1875 in dem Band 110 Volks- und Gesellschaftslieder veröffentlicht wurde und aus 21 vierzeiligen Strophen besteht.
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In einer französischen Quelle aus dem 19 Jh. sind einige Geschichten oder Legenden enthalten, in denen ein junger Mann dem Teufel seine Seele verkauft, um das Bild des leidenden Christi betrachten zu können: Diese Geschichten spielen in Italien, meistens in Rom, einmal in Mailand, in einem Fall sogar in L’Aquila, und in einigen von ihnen wird der Protagonist durch die Fürsprache von Maria, der Mutter Gottes, gerettet. Le crucifix peint par le diable, à Rome wurde 1892 von Monseigneur Xavier Barbier de Montault, einem Archäologen und Historiker, in der Zeitschrift Revue de l’art chrétien veröffentlicht.7 Die Erzählung basiert auf anderen vom Autor selbst zitierten Quellen. Eine erste Sektion enthält einen Dialog zwischen Q. und R. über eine Episode aus dem Leben der heiligen Therese, die einer anderen religiösen Zeitschrift, L’ami du clergé (1891), entnommen wurde. In der Diskussion zwischen den beiden Figuren geht es um eine sehr ausgedehnte Darstellung oder Ikone der Kreuzigung, die angeblich einen teuflischen Ursprung hat: »Es lässt sich zeigen, dass im Streit um die phantasmatische Energie des Bildes Teufelsvorstellungen seinerzeit unverzichtbar waren« (Berns 2020, S. 43). Die Frage ist aber nicht nur aus ästhetischer oder medienhistorischer, sondern auch aus theologischer Perspektive besonders relevant: Wie sollten sowohl die Gläubigen als auch die kirchlichen Institutionen mit solchen (Kunst-)Werken umgehen? Sind diese (Trug-)Bilder trotz ihres Ursprungs als verehrungswürdig zu betrachten oder sollten sie als Andachtsbilder abgelehnt werden?8 Die Legende, die in der zweiten Sektion der Geschichte erzählt wird, sollte dank einem vorbildhaften Exemplum als Reflexionselement zu dieser Frage wirken: »On montre à Rome, dans l’église des capucins de la place Barberini, un tableau qui représente le Christ en croix, et dont voici la légende: ›Un jeune débauché, à bout de voie, voulait donner son âme au démon en échange d’un reste de vie et de plaisir. […]‹« (Montault 1892, S. 42). Das Incipit kündigt einen klassischen Pakt mit dem Teufel an, einen Vertrag, der Reichtum und sinnliches Vergnügen im Gegenzug für die Seele verspricht. Gegenstand des Paktes ist aber in der Tat »une inspiration singulière« (ebd.): Der junge Mann fragt Satan, ob er dem Tod Christi beigewohnt habe und nach dessen positiver Antwort verlangt er von ihm »de cette scène une exacte reproduction par la peinture« (ebd.). So trefflich malt der Teufel, dass der Sünder beim Anblick des Bildes sofort seine Taten bereut. Der letzte Teil der Geschichte erzählt, wie 7 Mit einem leicht veränderten Titel – Le crucifix du diable – wurde derselbe Text in den siebten Band von Montaults Oeuvres complètes (1893, S. 513–515) aufgenommen. 8 »Wann, wie und wo der Teufel für die Geschichte der Bildenden Kunst bedeutsam werden konnte, machen insbesondere die Kontroversschriften des deutschen Bilderstreits des 16. Jahrhunderts kenntlich. Die Konfessionsparteien bezichtigten sich in ihren Schriften wechselseitig der Teufelei. Bildverehrung sei teuflisch, sagten die einen. Nein, Bildbeseitigung sei teuflisch, sagten die anderen. Es lässt sich zeigen, dass im Streit um die phantasmatische Energie des Bildes Teufelsvorstellungen seinerzeit unverzichtbar waren« (Berns 2020, S. 43).
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eine Kopie des Bildes in die Sakristei der römischen Kapuzinerkirche an der Piazza Barberini gelegt wurde, während das Original vom Santo Uffizio (der ehemaligen Inquisition) beschlagnahmt wurde. In den letzten Teilen werden sowohl das Jahr 1695, in dem dieses merkwürdige Ereignis geschah, als auch seine ursprüngliche Quelle, ein historischer Text über die Passion Christi, erwähnt.9 Das Gemälde ist heutzutage im Museo der römischen Kirche S. Maria Immacolata Concezione in via Veneto-Cripta dei Cappuccini aufbewahrt (siehe Abb. 1). Auf der Rückseite der Leinwand ist die Geschichte niedergeschrieben, die wahrscheinlich im Jahr 1695 stattfand, aber einige Unterschiede zur französischen von Montault tradierten Fassung enthält: Der Protagonist kommt aus Mailand und nachdem er das Bild gesehen hat, bekehrt er sich sofort und beichtet sein Bündnis mit dem Teufel einem Priester, der ihm keine Absolution erteilt, sondern ihn stattdessen auffordert, beim Santo Uffizio um Vergebung zu bitten. Das Bild wird an die Inquisition abgegeben, eine Kopie aber bleibt im Besitz von Camilla Barberini, da der junge Mann ein Vasall der Edelfrau war. Später gelangt das Bild, zusammen mit einem Stich, der dasselbe Thema darstellt (Abb. 2), in die Hände von Pater Ignazio da Gaeta (1756–1845), einem Kapuziner im Ruf der Heiligkeit.10 In der französischen Version der teuflischen Kreuzigung wird außerdem eine photographische Reproduktion des Gemäldes erwähnt, die nach Frankreich mitgebracht wurde und zur Verbreitung des ikonischen Motivs beigetragen hat. Dieser Kern der Handlung gliedert sich dank zwei langen Fußnoten, die in der Fassung derselben Legende in den Oeuvres complètes Montaults enthalten sind, in denen zwei verschiedenen Varianten vorgestellt sind (Montault 1893, S. 514f.).11 Erstere basiert auf einer älteren Quelle, einer religiösen Zeitschrift, La Semaine religieuse du diocèse de Mende (1875): Die von einem gewissen Armand Dorex verfasste Geschichte wird unter der Rubrik »Variétés« mit dem Titel Le crucifix du diable eingegliedert, spielt aber nicht in Rom sondern in L’Aquila, 9 La Passion: essai historique wurde 1891 veröffentlicht und von Père Marie-Joseph Ollivier, einem französischen Dominikanerpriester, Prediger, Historiker und Biograf geschrieben. Die Geschichte der vom Teufel gemalten Kreuzigung wird in seinem historischen Essay als rhetorisches Instrument benutzt, um das eigene Werk mit Demut und Bescheidenheit den Lesern vorzustellen: »J’ai vue cette peinture, et, – je dois l’avouer à ma honte, – elle ne m’a donné d’autre impression que celle d’une œuvre misérable. Mais Dieu se sert des plus humbles moyens pour produire les plus merveilleux effets. Mon livre aura-t-il le sort heureux du Christ en croix des Barberini, comme il en a la médiocrité?« (Ollivier 1891, S. XXIV). Das Jahr 1695 wird in dem Essay nicht erwähnt, Montault hat es sehr wahrscheinlich anderen Dokumenten der Inquisition, die er zitiert (Montault 1893, S. 515), entnommen. 10 Für die wertvollen Informationen über diese Reliquien sowie für den Besuch im Museo della Cripta möchte ich der Museumsreferentin Esmeralda Shahinas für ihre große Hilfsbereitschaft danken. 11 Montault hat die Geschichte im neunten Kapitel (La passion) des siebenten Bandes seiner Werke (Dévotions populaires) eingegliedert.
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einer kleinen mittelalterlichen Stadt unweit von der italienischen Hauptstadt (ungefähr 100 km.). Der Erzähler spricht sogar von einem »fameux tableau d’Aquila« (Dorex 1875, S. 675), dessen Legende er von einem aus den Abruzzen stammenden Straßenhändler gehört hatte. Diese Version enthält viele biographische Details über den jungen Protagonisten, der von einer wichtigen adeligen Familie der Region abstammt. Seine Lebensgeschichte folgt dem »klassischen« Muster des Anti-Helden als Negativbeispiel, der, nachdem er all seine Güter verprasst und jeden Lebensgenuss ausgekostet hat, ganz einsam und verzweifelt am Rand des Selbstmordes steht:12 »Eh bien, s’écria-t-il avec frénésie, puisque je ne possède plus rien que mon misérable château, je vais me tuer, car à moins que le diable ne vienne me tirer d’affaire, je ne veux plus vivre dishonoré« (Dorex 1875, S. 674). Von dem Teufel wird noch einmal verlangt, dass die Kreuzigung dem »Original« so getreu und so wahr wie möglich dargestellt wird. Durch das vom bösen Geist angefertigte Bild – »d’une beauté inimitable« (ebd., S. 675) – bereut und bekehrt sich der junge Mann sofort, der seine Seele retten kann, weil ein Geistlicher mit einem Kreuz und einem ausgebreiteten Banner den Teufel zur Flucht zwingt. Das Bild wird eingerahmt und in die wichtigste Kirche von L’Aquila überführt (deren Name vom Erzähler ebensowenig erwähnt wird wie der Familienname des Protagonisten). Einige relevante Unterschiede findet man in der Fassung, die in der zweiten Fußnote von Montaults Erzählung wiedergegeben wird. Diese Version ist in einer Nachricht enthalten, die die nach Frankreich gelangte fotografische Reproduktion begleitet: eine erste Abweichung von den anderen Fassungen betrifft die Erlösung des jungen Protagonisten, die nur durch ein rettendes Eingreifen der Mutter Gottes stattfinden kann: »Cependant l’écrit qui contenait le pacte fatal était resté aux mains du jeune homme par un heureux effet de l’assistance de Celle que l’on nomme à juste titre le Refuge des pécheurs et qui voulut bien récompenser ainsi la faible marque d’amour que lui avait donnée ce serviteur si peu fidèle, en récitant chaque jour un Ave Maria« (Montault 1893, S. 515). Bekanntlich spielen die weiblichen Figuren der katholischen Ikonografie, besonders im Finale des zweiten Teils von Goethes Tragödie, eine sehr wichtige Rolle für die Rettung von Fausts Seele. Diesbezüglich muss man auch hervorheben, dass die Beziehung zwischen Satan und Maria ein wichtiges Kapitel in der Geschichte der Dämonologie darstellt: »Das parallele Fortschreiten des Mariendienstes mit dem Teufelsglauben ist nicht zu verkennen, und hieraus erklärt es sich, dass beide vom 13. Jahrhundert ab noch immer zunehmen« (Roskoff 1987/ 2, S. 198). Im Kampf um die Seele der Sünder erhält Maria einen entscheidenden Vorsprung gegenüber ihrem Erzfeind: »Der Antagonismus gewinnt noch mehr 12 Selbstmord ist ein wichtiges Element des Fauststoffes, dem man zum Beispiel in Goethes Faust I begegnet.
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Schärfe durch die hohe Stellung Maria als ›Himmelskönigin‹, wodurch sie die himmlische Macht stets auf ihre Seite lenkt und für ihre Günstlinge, die von ihr bemutterten Sünder gewinnt und dem Teufel entreisst, welcher sie von seinem abstracten, dürren Rechtstandpunkte als seine ihm rechtsmässig zukommende Beute betrachtet« (ebd., S. 199). Diese Version wird, wie gesagt, als eine zusätzliche Nachricht neben der photographischen Reproduktion der römischen Kreuzigung nach Frankreich geliefert. Es ist deswegen sehr wahrscheinlich, dass die Legende sich in dieser Fassung in anderen Ländern Europas verbreitet hat, und nicht in der »italienischen« Version, d. h. jener ohne die Intervention der heiligen Mutter Gottes. In seiner Rekonstruktion der Entstehung der Faustballade führt Meier (1938, S. 14) eine Tafel mit einigen Abbildungen an. Zwei davon wurden in Frankreich gedruckt, sind allerdings auf ihrer Rückseite mit einem deutschsprachigen Text versehen. Der erste Text gibt mit wenigen unbedeutenden Varianten die »römische« Geschichte Le crucifix du diable wieder, datiert aber die Episode auf das Jahr 1622,13 der zweite hingegen berichtet von einem Bild, das sich in Mailand befinden sollte: »Wahrhaftes Crucifix und abbildung (!) des Originals, welches zu Mayland durch Teüffel ist abgemahlet worden bey den P. Capuc«. Gleich nach diesem Zitat erzählt Meier: »Adolf Spamer14 kennt, wie er mir im Juni 1935 schrieb, nur ein Bild, das sich in Guns bei Mailand befinden soll und das in Andachtsbildchen weit verbreitet war, deren älteste Exemplare noch dem 18. Jahrhundert angehören« (Meier/Wiora 1938, S. 15). Es sind hier verschiedene Varianten der satanischen Kreuzigung vorhanden. Einige davon spielen in Rom, eine in L’Aquila, eine letzte in Mailand.15 Meier (1938, S. 16) kommt »mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit« zu dem Schluss, dass »wenn die Sage nicht in Italien entstanden ist, sie sich jedenfalls von dort aus in die übrigen Länder und so auch nach Deutschland verbreitet hat.« Die Verschmelzung der Geschichte des Teufelskruzifixes mit dem Fauststoff kann man philologisch nicht erklären; anhand der Bilder und der jeweiligen Tafeln kann man mit Sicherheit nur sagen, dass die Sage bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Südosten Deutschlands lebendig und verbreitet war. Die satanischen Malereien werden in bedeutenden Kirchen entweder ausgestellt oder versteckt, die Bilder und die damit verbundenen Legenden aber sind durch verschiedene Reproduktionsformen in ganz Europa nachgewiesen. Der radikale, 13 Nach Meiers Ansicht (1938, S. 15) weist dieses Detail eine Ungenauigkeit auf, da das Kapuzinerkloster auf dem Monte Pincio erst im Jahre 1624 erbaut wurde. 14 Es handelt sich um einen Germanisten und Volkskundler, der 1934 als Leiter der Abteilung Volkskunde in der Reichsgemeinschaft für Deutsche Volksforschung berufen wurde und gelegentlich auch die Leitung des Atlas der deutschen Volkskunde übernahm. 15 Über mögliche Begründungen für die Wahl der Stadt Mailand als Schauplatz der Geschichte siehe Meier (1938, S. 22–23).
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antiklerikale Schriftsteller und Bibliothekar Johann Pezzl, ein Aufklärer, der in seiner Zeit als der »österreichische Voltaire« bezeichnet wurde, ist Mitte der achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts durch Bayern gereist. Sein Reisebericht – »eine Wallfahrt« durch das bayerische Land, dessen Merkwürdigkeiten der Autor »dem profanen Paris« oder »dem heiligen Rom« vorzieht (Pezzl 1784, S. 1) – beschreibt unter anderem einige Aspekte der lokalen Kultur, die immer noch vom Aberglauben an Teufel, Hexen und Gespenster geprägt ist. In einer Kapelle in der Nähe von Straubing hat Pezzl ein Kreuzbild gesehen, »dessen Jesus über alle Beschreibung und Vorstellungskraft wund und zerrissen aussah«; auf einer daneben hängenden Tafel stand folgende Inschrift: »Dass dieses Kruzifix eine genaue Kopie von demjenigen sey, das der Teufel Maephistopheles dem Doktor Faust auf sein Begehren nach der wahren Gestalt hat malen mueßen, wie Christus am Kreuz gehangen ist; weil der Teufel die Sache gesehen, und also am besten abbilden konnte« (Pezzl 1784, S. 195f.). Der Teufel ist der einzige, der die Passion Christi mit absoluter Treue abbilden kann, weil er – so ist in einigen Geschichten und Inschriften zu lesen – bei der Kreuzigung anwesend war.16 Darüber hinaus verweisen einige Zeitschriften Anfang des 20. Jahrhunderts auf Bilder des Gekreuzigten mit der Stadt Jerusalem im Hintergrund, die begleitende Inschriften tragen, in denen die Gemälde als ein auf Fausts Geheiß vom bösen Geist ausgeführtes Werk angegeben werden. Dieses Motiv ist in verschiedenen Puppenspielen (aus Südtirol, Bayern oder Tschechien) und Balladen aus dem 18. und 19. Jahrhundert wiederzufinden. Wenn auch, wie gesagt, Meiers Rekonstruktion mittels einer äußerst fundierten und glaubwürdigen Methode erfolgt, muss man auf der Basis einiger Dokumente der Inquisition, die von einem italienischen Forscher gefunden und analysiert wurden,17 seine Schlussfolgerungen zum Teil widerlegen: Ein Soldat, der in Diensten bei Herzog Francesco II. D’Este war, ein gewisser Joseph Chrauwer,18 hatte dem Inquisitor von Modena, dem Dominikaner Alessandro Maria Arresti, zwei Bilder des Kruzifixes gegeben. Derselbe Soldat habe die beiden Gemälde gemalt, um sie in der Stadt zu verkaufen.19 Das größere Bild hatte 16 Schon im Mittelalter ein sehr verbreitetes Motiv sowohl in literarischen als auch in malerischen Darstellungen. 17 Für den Hinweis auf den Artikel von Orlandi (1992) bedanke ich mich bei meiner Kollegin, der Kunstwissenschaftlerin Cristiana Pasqualetti. 18 Schon aus der Zeit ihrer Herrschaft in Ferrara pflegte sich die Familie Este mit ausländischen Elitetruppen (Schweizer und deutsche Hellebardiere) zu umgeben. Der Name Chrauwer wurde von Orlandi (1992, S. 234) aus der Unterschrift auf dem Protokoll des Inquisitionsprozesses abgeleitet, aber seine Entzifferung bleibt, so Orlandi, unsicher, es gibt verschiedene andere Möglichkeiten wie etwa Brauwer, Cramler, Scrauwer, Schrauwer. 19 Von diesen Bildern kann Orlandi (1992, S. 221) keine weiteren Nachrichten geben, er vermutet sie im Archiv des Santo Uffizio (heutzutage Dicastero per la dottrina della fede), wo keine Forschungen möglich sind. Der Soldat aber war im Besitz von weiteren drei Bildern, die
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die Aufmerksamkeit des Inquisitors besonders auf sich gezogen: Es stellte Jesus Christus dar, »wie er war, als er am Kreuz starb, den der Teufel dem Doktor Faust auf dessen Wunsch hin vorstellte« (Orlandi 1992, S. 205).20 Die Kreuzigung sei außerdem die Reproduktion eines in Stuttgart aufbewahrten Bildes gewesen; das andere, die Kopie eines Bildes, das sich an einem nicht näher bezeichneten Ort zwischen Rom und Neapel befinden würde (ebd.; vielleicht das Bild von L’Aquila?). Der Titel Crocefisso del diavolo (Teufelskruzifix), den man in den französischen Erzählungen wiederfindet, wird zum ersten Mal von Pater Arresti benutzt, der in einem Bericht an seine Vorgesetzten meldet, dass »die Idioten« diesen Ausdruck häufig anwendeten, um malerische Motive dieser Art zu beschreiben (ebd.). In einer späteren Aussage erklärte der Soldat, er habe diese Bilder nie gemalt, auch die Verweise auf Faust und auf die »häretische« Stadt Stuttgart verschwanden aus seiner Erzählung, was den Zorn des Inquisitors erregte, der so die Aussage plötzlich unterbrach.21 Dank seinen Recherchen in verschiedenen Archiven formuliert Orlandi (1992, S. 227–228) die Hypothese, dass ein mögliches Modell für die beiden Bilder von Modena ein Holzschnitt sein könnte, der sich in der Galleria Estense befand und sehr wahrscheinlich von einem deutschen »Original« inspiriert worden war. Ohne auf Einzelfragen zu den möglichen Zuschreibungen der Gemälde einzugehen, scheint mir die Tatsache relevant zu sein, dass Fausts Name in Italien erwähnt wird (wenn auch nur in einer ersten Version des Geständnisses des deutschen Soldaten). Die Verbindung zwischen dem ikonischen Motiv des blutigen Christi und dem Fauststoff ist nicht durch die komplexe Übertragung der »italienischen« Geschichte entstanden, so wie Meier vermutet, sondern sie scheint vielmehr ein Grundelement der Erzählung zu sein, das schon im Jahr 169322 vorliegt und sehr wahrscheinlich eine deutsche Herkunft hat. Die französischen Geschichten haben eine eigene Version der Handlung »erfunden«, in der aus verschiedenen Gründen der Name Faust verschwunden war: Einerseits hatte der Soldat sein erstes Geständnis widerrufen, andererseits kann man auch an konfessionelle Motive denken (Fausts Figur war mit der protestantischen Welt eng verbunden). Wir haben es mit einem Motiv zu tun, das innerhalb einer einheitlichen textuellen und ikonographischen Tradition einige bedeutende Varianten zeigt. Sehr er zu einem späteren Zeitpunkt dem Pater Arresti abgab und die sich noch heute im Archiv der Inquisition von Modena befinden (die Bilder sind in einer Schwarz-Weiß-Reproduktion in Orlandis Artikel enthalten). 20 Übersetzung LZ. 21 Die beiden abgegebenen Bilder wurden von Arresti an den Santo Uffizio in Rom geschickt, während drei andere Kopien im Staatsarchiv in Modena aufbewahrt sind. Das römische Bild in der Kapuzinerkirche und die Geschichte auf dessen Rückseite werden in Orlandis Beitrag nicht erwähnt. 22 Der Brief, den Pater Arresti an die Congregazione del Sant’Uffizio in Rom sendet, trägt das Datum des 13. Juni 1693.
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wichtig ist in meiner Perspektive die Präsenz eines bildlichen Elements – des Themas der Kreuzigung oder des ecce homo –, das als Gegenleistung im Vertrag angegeben wird, den Faust und Mephistopheles schließen; der Name Christi, der auf eine für den Teufel im Unterschied zur malerischen Darstellung unzugängliche Dimension hindeutet, gilt je nach Fassung als Rettungs- oder als Verdammungselement für Faust. Dieses bildliche Sagenmotiv kommt wahrscheinlich über Italien nach Deutschland, wo es an eine traditionsreiche Darstellungsweise des blutenden Jesus gebunden ist. Das weibliche Element, das durch die Mutter Jesu vertreten ist und in den italienischen Geschichten eine rettende Rolle spielt, verwandelt sich durch die Verschmelzung mit dem Fauststoff in den deutschen Fassungen in ein Werkzeug des Teufels, der es sich zum Ziel setzt, Fausts Seele zu erobern und ihn zur ewigen Verdammung zu verurteilen: Die rettende Funktion des Bildes des ecce homo und der Kreuzigung wird ausgelöscht, die Mutter Jesu verwandelt sich im Text der Ballade in das Schönheitssymbol Venus, das als heidnisches Stoffelement mit dem Teufel in einem engen Zusammenhang steht. In der Volksballade bzw. in einigen Versionen dieses Textes findet der Kampf um Fausts Seele zwischen zwei Götterbildern statt, das heißt zwischen zwei Gegenpolen der westlichen Zivilisation, dem christlichen und dem heidnischen. Die Figur des Teufels trägt in diesem Zusammenhang eine kulturelle und ideologische Rolle mit sich, die in diesem Kontext hervorgehoben werden muss: Man suchte den heidnischen Aberglauben zu vertreiben und öffnete dem christlichen Teufelsglauben alle Thüren; indem man erstern auszurotten bestrebt war, wucherte letzterer als fette Parasitpflanze im Volke und umstrickte dasselbe in allen Lebenszweigen. Ebenso ist ersichtlich, dass in dieser Zeit Heidnisches und Teuflisches für gleichbedeutend galt, wie schon früher Ketzerisches damit in eine Linie gestellt worden war. (Roskoff 1987/1, S. 299)
Dass sich die Venus-Figur in Helena verwandelt, die im Gesamtkomplex des Fauststoffs als das weibliche Symbol der Schönheit schlechthin gilt, kann man ohne große Schwierigkeiten erklären: Die ferne olympische, göttliche Figur wird durch die homerische Heldin ersetzt, die einen Krieg zwischen zwei einander verfeindeten Völkern verursachte. Sie wirkt als irdische Verkörperung einer absoluten, idealischen Anmut, die zum Ziel des überirdischen faustischen Strebens wird: Tatsächlich sind die beiden Figuren in diesem Kontext völlig austauschbar. Aber dieses Motiv ist, wie schon gesagt, aus den modernen Faustgeschichten so gut wie verschwunden: Helena – oder Gretchen, oder vielleicht auch Venus? – ist in Goethes Faust I zunächst einmal als fernes und unerreichbares Trugbild nur durch einen Spiegel zu betrachten (Hexenküche). Später, im zweiten Teil der Tragödie, wird sie als ein Sinnbild dargestellt, das für den gescheiterten Versuch steht, die vergangene Kulturtradition des klassischen Griechenlands ins Mittel-
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alter zu übertragen. Sie wird außerdem von Faust evoziert und nicht von Mephisto gemalt oder als Trugbild angefertigt. Das Thema des Teufels als Maler der Kreuzigung ist aber – soviel ich weiß – in keinem anderen Text aus der FaustTradition zu finden, nicht einmal in jenen Werken, die eine besonders nihilistische »Philosophie« oder Ideologie in sich tragen (Faust-Werke vor allem aus dem 19. und dem 20. Jahrhundert [vgl. Zenobi (2013, S. 137–144)]). Berns (2020, S. 45–46) hat das Motiv des malenden Teufels in zwei holländischen allegorischen Illustrationen aus dem 16. Jahrhundert aufgespürt, die aber keine direkte Verbindung zum Fauststoff oder zum Teufelskruzifix zeigen. Aus kulturgeschichtlicher bzw. medienhistorischer Perspektive sind aus diesen Bildern einige interessante Betrachtungen in Bezug auf die Bedeutung der dämonischen Figur herauszulesen: Die Funktion des Teufels in diesen ikonischen Kontexten besteht vor allem darin, dass er als Medium wirkt, um die versteckten bzw. verdrängten menschlichen Grundbedürfnisse auszudrücken und sie durch eine bildliche Darstellung lebendig, sichtbar und deutlich zu machen: »Aus heutiger Sicht wäre der malende Teufel psychologisch und psychotherapeutisch durchaus progressiver als der malende Jesus« (ebd. S. 47, der Autor vergleicht das Bild der malenden Teufel mit einer Radierung, in der Jesus als Maler von guten und tugendhaften menschlichen Wünschen erscheint). Schematisch ist die komplexe Überlieferung des Motivs wie folgt zusammenzufassen: 1. Xavier Barbier de Montault a. Le crucifix peint par le diable à Rome (1892) in Revue de l’art chrétienne – Quellen: I. L’ami du clergé (1891); II. La Passion. Essay historique von Marie-Joseph Ollivier (1891) b. Dieselbe Erzählung mit dem Titel Le crucifix du diable in: Œuvres complètes, Bd. 7, enthält zwei neue Fußnoten: I. Geschichte, die in L’Aquila spielt – Quelle: La Semaine réligieuse du diocèse de Mende (Verfasser: Armand Dorex); II. Text, der eine photographische Reproduktion begleitet, die nach Frankreich geschickt wird: In dieser Fassung erscheint Maria, die Mutter Gottes, als Retterin des jungen Sünders und als Feindin des Teufels 2. Bilder, die in Frankreich gedruckt, aber mit einem deutschsprachigen Text versehen sind a. Version, die in Rom spielt und der in den französischen Quellen überlieferten Fassung (Le crucifix du diable) sehr ähnlich ist b. Version, die in Mailand spielt 3. Kreuzbilder mit Tafeln aus Süddeutschland und Tirol. Faust als Protagonist: Inschriften, die die Gemälde dem Mephistopheles auf Fausts Befehl zuschreiben a. Jochim Pezzls Reisebericht: 1784
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b. Zeitschriften Anfang des 20. Jhs. 4. Kreuzbild in der Kapuzinerkirche in Rom (vielleicht eine Kopie eines Originals, das von der Inquisition beschlagnahmt wurde) a. Die Geschichte auf der Rückseite der Leinwand spielt im Jahr 1693 in Mailand. Das Bild wäre nach einigen Dokumenten der Inquisition ein Werk des Teufels auf Fausts Wunsch b. Verschiedene Kopien des Gemäldes. Drei davon befinden sich im Staatsarchiv in Modena Wenn auch in einer andersartigen und überarbeiten Form belegen einige FaustBearbeitungen im 20. Jahrhundert erneut das hier behandelte Motiv. Doktor Faust von Ferruccio Busoni wurde im Jahr 1914 verfasst und vom Autor selbst als »Dichtung für Musik« bezeichnet, blieb aber wegen des Todes von Busoni unvollendet.23 Der Komponist ließ sich von verschiedenen literarischen Quellen inspirieren: »The libretto is based most directly on an 1846 text of the Faust puppet play by Karl Simrock, a synthetic version of several earlier plays combined with some original material. Busoni owned a copy of the Simrock play, but also read older texts from the puppet play tradition. Simrock’s version contains most of the elements from that tradition« (Chamness 2001, S. 77). Philipp Jarnach, ein Schüler Busonis, komponierte die fehlenden Partien, so dass Doktor Faust am 21. Mai 1925 in Dresden uraufgeführt werden konnte. 1977 hat der englische Musikwissenschaftler und Dirigent Antony Beaumont in der Staatsbibliothek Berlin zwei Partitur-Bögen entdeckt, mit denen Busonis Nachlassverwalter den Faust-Entwurf eingewickelt hatte.24 Diese Blätter beweisen die Wiederverwendung der Musik der Helena-Szene aus dem zweiten Bild der Oper und den von Busoni geplanten, hoffnungsvollen Schluss in C-Dur. Auf dieser Grundlage schuf Beaumont 1984 eine neue und auch sehr umstrittene25 Rekonstruktion der Partitur und des Librettos mit dem vollständigen Schlussmonolog. Diese Fassung wurde erstmals am 2. April 1985 in Bologna unter der Regie von Werner Herzog aufgeführt. Die Aussage am Anfang des Librettos Der Dichter an das Publikum, die leider in den Inszenierungen immer ausgelassen wird, klingt wie eine regelrechte ästhetische und poetische Erklärung, nicht nur als 23 »Seit Kriegsausbruch 1914 arbeitete er dann ausschließlich am Faust-Libretto, das er bereits im Winter desselben Jahres weitgehend vollendete. Es erschien 1918 erstmals in den von René Schickele herausgegebenen Weißen Blättern (allerdings sollte die fortlaufende Arbeit an der Komposition noch einige Textänderungen nach sich ziehen)« (Rohde/Valk/Mayer 2018, S. 302). 24 »Bei seiner Ergänzung der zwei Szenen hat Philipp Jarnach praktisch auf diese letzten beiden Skizzen verzichtet. Rätselhaft bleibt die Tatsache, daß Jarnach selbst im Besitz der zwei Blätter war […]« (Beaumont 1985, S. 219). 25 Vgl. u. a. Fontaine (2016, S. 58–59).
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Rechtfertigung für die Unwahrscheinlichkeit, sondern erscheint vielmehr als totale Überschneidung zwischen der künstlerischen Dimension und der Welt des Wunderbaren; fern vom gemeinen, realen Leben, wenn auch unecht, oder gerade deswegen, werden Spiel und Musik zum wahren, lebendigen und vor allem »unwiderstehlichen« Ausdruck des menschlichen Schicksals: Die Bühne zeigt vom Leben die Gebärde, / Unechtheit steht auf ihrer Stirn geprägt; / Auf dass sie nicht zum Spiegel-Zerrbild werde, / Als Zauberspiegel wirk’ sie schön und echt; / Gebt zu, dass sie das Wahre nur entwerte, / Dem Unglaubhaften wird sie erst gerecht: / Und wenn ihr sie, als Wirklichkeit, belachtet, / Zwingt sie zum Ernst, als reines Spiel betrachtet. / In dieser Form allein ruft sie nach Tönen, Musik steht dem Gemeinen abgewandt; / Ihr Körper ist die Luft, ihr Klingen Sehnen, sie schwebt… / Das Wunder ist ihr Heimatland (Busoni 2006, S. 66).
Ein phantastisches Musiktheater gilt als ästhetische Prämisse von Busonis FaustBearbeitung. Die Schlussszene und eine Szene im zweiten Bilde hat Busoni nicht vollenden können: Es handelt sich bezeichnenderweise um die zwei Szenen, in denen die Gestalt Helenas auftaucht. »Dieses Scheitern an der letzten Hürde läßt sich nur durch das Konzept der Helena erklären. Sie ist die geheimnisvolle Schlüsselfigur der Oper«, meint Beaumont (1985, S. 211). Als ein von Faust gejagter gespenstischer Geist tritt sie im zweiten Bild auf, dann verschwindet ihre Figur, um wieder in der letzten Szene zu erscheinen: Helenas letztes Scheinbild auf dem Kreuz – genauer gesagt, die Verwandlung des gekreuzigten Christi in Helena als Trick des Teufels26 – hat nichts mit Blasphemie zu tun und ist weder nur als ein teuflisches Werk zu betrachten, damit Faust nochmals in Verwirrung gerät, noch als ein Symbol der endgültigen Verurteilung des Protagonisten. Das Bild, das Faust aus der Ferne und in einem schwachen Licht anschaut, gilt als Zeichen der Erkenntnis dafür, dass es für den Protagonisten keinen Rückweg mehr gibt. Weder Christus noch Helena, die eigentlich nur als ein virtuelles und ungenügendes Surrogat einer unerreichbaren Vollkommenheit wirken, sondern nur ein »ewiger Wille« (Busoni 2006, S. 76) kann Faust und seinen auferstehenden Sohn ›hinanziehen‹: »Busonis Faust stirbt in der Hoffnung, daß sein Kind die Ziele, an denen er selbst gescheitert ist, in der nächsten Generation erfüllen könne. Heroisiert wird dabei nicht die Schuld Fausts, sondern seine Trauer und seine Versuche, auch nach Verbrechen, Irrtümern und Enttäuschungen weiterzuleben« (Fontaine 1998, S. 69). Die gekreuzigte Venus, durch die Busoni eine nihilistische Synthese der heidnischen und der christlichen Welt vollzieht, gilt nicht mehr, wie die gemalte Venus in der Volksballade, als Warnung vor den Gefahren der Lust, das Simulakrum kann die versteckten oder unzulänglichen menschlichen Wünsche nicht mehr enthüllen oder sie in seiner Virtualität – para26 Roskoff (1987/2, S. 183–184) erwähnt eine Geschichte, in der dem heiligen Peregrinus, der nach Jerusalem wanderte, der Teufel in Gestalt des Gekreuzigten erscheint.
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doxerweise – verkörpern. Helenas Präsenz auf der Bühne im letzten Bild stellt einerseits »in dicht gedrängter Folge Elemente aus allen vorangehenden Teilen wieder« her, damit ein »Eindruck strenger formaler Geschlossenheit entsteht« (Hentschel 2005, S. 324), andererseits lässt ihre trügerische Scheindimension eine eindeutige Seite der Wirklichkeit ans Licht treten: Ihre Virtualität bietet Faust keine Alternative an, sondern setzt sich vielmehr als Steigerung des realen und aussichtslosen menschlichen Zustandes durch. Fausts ewiger Wille, der in dem »mystische[n]« (Fontaine 2016, S. 58)27 Finale auf den jungen Mann übertragen wird, scheint eher eine Verdammung als eine Rettung zu sein. 1994 dreht der tschechische Filmemacher, Poet, Zeichner und Objektkünstler Jan Sˇvankmajer seinen Film Lekce Faust. Es handelt sich um eine sonderbare, zum Teil surrealistische Produktion, in der verschiedene Quellen aus dem gesamten Fauststoff zusammen verschmolzen sind und Live-Action-Materialien mit Stop-Motion-Animation, einschließlich Puppenspiel und Knetanimation zusammengesetzt sind. Der tschechische Regisseur nimmt dann eher vage, jedenfalls kaum mehr exklusiv Bezug auf Goethes Drama, und integriert Verweise auf die Bearbeitung des Stoffes durch Christopher Marlowe und auf verschiedene Fassungen der Puppenspiele. Faust erscheint hier als ein Jedermann auf der Suche nach dem Lebenssinn in der Stadt Prag. Die Szene, die in diesem Zusammenhang besonders relevant erscheint, stellt Helena als Trugbild und Versuchung dem Bild Christi gegenüber dar. Als Faust vor einem Bild Jesu betet und kurz vor einer vollen Bekehrung steht, taucht Helena als Puppe auf und zerstreut ihn. Faust, seinerseits in eine Puppe verwandelt, jagt dem Mädchen nach. Auch in diesem Fall wirkt Helena als satanisches Trugbild, um Fausts Bekehrung zu verhindern – mehr noch: Hier ist Helena selbst ein verkleideter Teufel, Faust wird seine wahre Identität entdecken, nachdem er den Beischlaf mit ihr vollzogen hat. Einmal mehr kann das Bild Christi, das übrigens nicht die Kreuzigung darstellt, sondern eine typische und auch ziemlich kitschige Ikone ist, Faust nicht retten. Das Bild von Jesus zerreißt sofort – es explodiert fast – Faust entscheidet, die Schönheit Helenas zu wählen. Die virtuale Dimension des Textes ist in diesem Film noch mehr verstärkt: Puppentricktechnik und reales Schauspiel werden ständig miteinander kombiniert, »sodass schon in der Tricktechnik unterschiedliche ontologische Sphären angezeigt werden […] So wie der Film die Figur erschafft, erschafft die Figur Marionetten. Der artifizielle Charakter der Figur (Marionetten) macht auf den fiktionalen Charakter des Mediums aufmerksam« (Rohde/Valk/Mayer 2018, S. 481). In einem solchen Kontext entpuppen sich die ikonischen Elemente der Tradition – sowohl die religiösen als auch die mytho27 Busoni selbst hat den Schluss mit diesem Wort in einem Brief an Gisella Selden-Goth (14 Mai 1920) definiert: »Der mystische Schluß entstand aber viel später, hier [in Zürich], auf Rubiners Kritik hin« (zit. in Fontaine 2016, S. 58).
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logischen – als ein abgenutztes Surrogat, das an ein Schreckensbild mit der Funktion eines Memento mori grenzt, und mit abstoßenden Zügen ausgestattet ist. In der Überlieferungsgeschichte des Faust-Stoffes werden Trugbilder oder Simulakra mit angeblicher teuflischer Herkunft zunächst zu religiösen Mahnungszwecken benutzt, sowie als Sinnbilder einer Weltkonzeption, in der christliche und heidnische Ikonen miteinander im Konflikt stehen. Die interund transmediale Entwicklung eines Kernmotivs, das in einer späteren Phase der Faust-Tradition als solches verschwindet, lässt neue ästhetische und anthropologische Elemente in den Vordergrund rücken, die seine Rezeptionsgeschichte aus einer kultur- und mediengeschichtlichen Perspektive zu einem Forschungsgegenstand von erheblichem Interesse werden lassen. Das Wiederauftauchen einiger Bestandteile des Motivs in Faust-Adaptionen aus dem 20. Jahrhundert kann man als erneute Formulierung eines literarischen Grundthemas interpretieren: die virtuale bzw. imaginäre Erfüllung archetypischer menschlicher Wünsche, die in einer realen und beschränkten Welt nicht zu befriedigen sind.
Abb. 1: Crocifisso sanguinante. Ende des 16. Jhs. Museo della Cripta dei Cappuccini, Roma. Foto des Autors.
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Abb. 2: Crocifisso sanguinante. Stich aus dem 18. Jahrhundert. Foto des Autors.
»Per le immagini riprese nella Chiesa di S. Maria Immacolata Concezione in via VenetoCripta dei Cappuccini si ringraziano la Direzione Centrale degli Affari dei Culti e per l’Amministrazione del Fondo Edifici di Culto del Ministero dell’Interno in qualità di Soggetto proprietario, e l’UfficioComunicazioni Sociali del Vicariato di Roma« [Für die in der Chiesa di S. Maria Immacolata Concezione in via Veneto-Cripta dei Cappuccini aufgenommenen Fotos, bedanken sich der Autor und der Verlag bei der Direzione Centrale degli Affari dei Culti e per l’Amministrazione del Fondo Edifici di Culto del Ministero dell’Interno, der als Eigentümer gilt, und bei dem Ufficio Comunicazioni Sociali del Vicariato di Roma].
Literatur Arnim, Achim von/Brentano, Clemens: Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von L. A. von Arnim und Clemens Brentano, Teil I. In: Brentano, Clemens: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 9,1. Hg. v. Heinz Rölleke, Stuttgart/Berlin/ Köln/Mainz: Kohlhammer 1975. Bauer, Manuel: Der literarische Faust-Mythos. Grundlagen – Geschichte – Gegenwart. Stuttgart: Metzler 2018.
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Beaumont, Antony: Doktor Faust. Ferruccio Busonis unvollendetes Meisterwerk. In: Malte, Jens (Hg.): Oper und Operntext. Heidelberg: Fischer 1985, S. 209–225. Berns, Jörg Jochen: Der malende Teufel. Zum ästhetischen Potential des ›mille artifex‹ in der Frühen Neuzeit. In: »Vorträge aus dem Warburg-Haus« 2020/14, S. 43–68 und 153–158. Busoni, Ferruccio: Doktor Faust. Dichtung für Musik in zwei Vorspielen, einem Zwischenspiel und drei Hauptbildern. Berlin: Staatsoper Unter den Linden 2006. Chamness, Nancy Otis: The Libretto as Literature: Doktor Faust by Ferruccio Busoni. New York, Bern u. a.: Lang 2001. Dorex, Armand: Le crucifix du diable. In: »La semaine religieuse du diocèse de Mende« 1875/3, S. 673–676. Fontaine, Susanne: Busonis Doktor Faust und die Ästhetik des Wunderbaren. Kassel/Basel/ London u. a.: Bärenreiter 1998. Fontaine, Susanne: »Der Mensch ist dem Vollkommenen nicht gewachsen«. Der Fauststoff, ein Bibliothekskatalog und die Sehnsucht nach Universalien. In: Busoni. Freiheit für die Tonkunst!, Publikation zur Ausstellung Berlin, Kunstbibliothek, 4. 9. 2016–8. 1. 2017. Hg. im Auftrag der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Kassel u. a.: Bärenreiter 2016, S. 56– 59. Goethe, Johann Woflgang: »Des Knaben Wunderhorn« Alte deutsche Lieder, herausgegeben von Achim von Arnim und Clemens Brentano. In: Ders., Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 12, Schriften zur Kunst und Literatur. Maximen und Reflexionen. Hg. v. Hans Joachim Schrimpf. München: dtv 1982, S. 270–284. Hentschel, Frank: Ferruccio Busonis Doktor Faust: Eine »Oper, die keine Oper« ist. In: »Archiv für Musikwissenschaft« 2005/62, S. 303–326. Meier, John/Wiora, Walter: Die älteste Volksballade von Dr. Faust. In: »Jahrbuch für Volksliedforschung« 1938/6, S. 1–31. Montault, Xavier Barbier de: Le crucifix peint par le diable, à Rome. In: »Revue de l’art chrétien« 1892/35, S. 41–42. Montault, Xavier Barbier de: Le crucifix du diable. In: Œuvres complètes, Bd. 7. Paris: Librairie H. Welter 1893, S. 513–515. Ollivier, Marie-Joseph: La Passion. Essay historique. Paris: P. Lethielleux 1891. Orlandi, Giuseppe: Crocifissi »apocrifi« censurati dall’Inquisizione alla fine del Seicento. In: »Spicilegium Historicum« 1992/39, S. 205–234. Pezzl, Joachim: Reise durch den Baierischen Kreis: mit vielen Zusätzen und Berichtigungen. Salzburg/Leipzig: o. V. 1784. Rohde, Carsten: Mediale Transformationen: Faust um 1800. In: Rohde, Carsten/Valk, Thorsten/Mayer, Mathias: Faust Handbuch. Konstellationen – Diskurse – Medien. Stuttgart: Metzler 2018, S. 185–193. Rohde, Carsten/Valk, Thorsten/Mayer, Mathias: Faust Handbuch. Konstellationen – Diskurse – Medien. Stuttgart: Metzler 2018. Roskoff, Gustav: Geschichte des Teufels. Eine kulturhistorische Satanologie von den Anfängen bis ins 18. Jahrhundert, 2 Bde. Nördlingen: Greno 1987. Rossi, Francesco: Hyperrealities and Simulacra in Goethe’s Faust. In: »Between«, 2022/XII (24), S. 441–459, https://doi.org/10.13125/2039-6597/5141. Zenobi, Luca: Faust. Il mito dalla tradizione orale al post-pop. Roma: Carocci 2013.
Maria Paola Scialdone (Università di Macerata)
Ferne und Nähe als strukturelles Prinzip und Leitmotiv im »Covid-19-Pandemoir« deutscher Sprache
Die Suche nach Antworten auf die COVID-19-Pandemie und die Verengung des Lockdowns haben einen Literaturkonsum und eine Literaturproduktion hervorgebracht, die zum Teil die Spuren der Epi/Pandemie-Produktion früherer Jahrhunderte nachzeichnen, zum Teil aber auch neue Merkmale aufweisen, wie z. B. – auf der Seite des Schreibens – das Aufblühen von Ego-Dokumenten, die aus einer auch durch die neuen Medien bedingten, produktiven Nähe-Distanz-Dynamik hervorgehen. Nach einer ersten Bestandsaufnahme der Literatur von COVID-19 konzentriert sich dieser Aufsatz auf die Ego-Dokumente dreier bedeutender Vertreter der DACH-Region in einer thematischen Perspektive, die gerade mit dem NahFern-Binom verbunden ist: das Tagebuch-Blog des Schweizer Schriftstellers Peter Stamm, das Tagesjournal der Österreicherin Marlene Streeruwitz und das Memoir von Marica Bodrozˇic´. Epi/pandemic Literature; Covid-19; Autobiography; Anthropology; Fremde; Boundaries.
Was haben Sie 2020 gemacht? (Volker Braun, Katarrhsis 2021) Wir haben in diesem Jahr gelernt wie man sich die Hände wäscht Wir haben in diesem Jahr gelernt was wichtig ist nämlich die einfachsten, simplen Dinge wie Mehl, Salz, Zucker, Seife Natron, eine gute Handcreme Essig, Kolonya die Anwesenheit von Familienmitgliedern die Stimme am anderen Ende der Leitung Vitamine für die Abwehrkräfte und das Einatmen frischer Luft. (Safiye Can, Wir haben in diesem Jahr gelernt 2021)
Aus dem Überblick einer Online-Umfrage der »Zeit Online« vom 3. Mai 2021 mit dem Titel Wie reagiert die deutsche Literatur auf Corona? geht hervor, dass das Thema »mitlaufe«, aber auch dass die Verlage, so bemerkt z. B. die Suhr-
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kamp-Lektorin Doris Plöschberger, bis jetzt »keine Texte auf sich zurollen sehen, in denen die Pandemie die Plots vorantreibe«. Der Lektor des HanserVerlags, Georg Oswald, berichtet sogar von Manuskripteingängen, welche den Hinweis »Garantiert ohne Corona!« trügen als Zeichen einer gewissen »Augenzu-Mentalität«, die nach der Überschüttung der letzten Jahre mit Informationen zu Hospitalisierungswerten, Quarantäneregelungen, Lockdowns oder Testvorschriften in den Medien von keinem Wunsch nach einer Corona-Literatur zeugen. In dieser Umfrage kommen Schriftsteller:innen und Vertreter:innen mehrerer Verlage und Agenturen zu Wort und auch wenn sie auf der einen Seite hervorheben, dass die Pandemie eine »selbstverständlich gewordene Begleiterin« des Literaturbetriebs sei, stellen sie auf der anderen Seite fest, dass die langfristig möglichen Spuren der Corona-Zeit in der deutschsprachigen Literatur eine viel zu offene Frage bleiben. Dazu äußert sich z. B. Diana Stübs vom Ullstein-Verlag: Es fällt mir sehr schwer, einzuschätzen, ob diese Pandemie so prägend sein wird wie zum Beispiel die Wende, oder ob sie, wenn das, was wir »Normalität« nennen, irgendwann wieder Einzug gehalten haben wird, schnell vergessen sein wird (»Zeit-Online« 2021).
Den Vergleich mit der Wende greift auch der Literaturjournalist Jürgen Deppe von der Redaktion NDR Kultur auf, der jedoch eine zukünftige Entwicklung der Corona Fiction prognostiziert: Mit dem großen Corona-Roman ist es wahrscheinlich wie mit dem großen WendeRoman: Da musste sehr, sehr viel Wasser den Rhein herunterfließen, bis der mal gekommen ist. […] Gute Bücher brauchen einfach ihre Zeit. Schlechte Bücher oder zumindest schlechte Manuskripte hat es zu Beginn der Pandemie gegeben […]. Das waren Krimi-Entwürfe über Virus-Pandemien oder Bücher über Lockdown-Erfahrungen, Befindlichkeitsliteratur. Das wollte man alles nicht lesen und das ist zum Glück auch nie zwischen zwei Buchdeckel gedruckt worden. […] Jetzt, nach zwei Jahren, kommt es ganz allmählich auch in der etwas besseren, etwas anspruchsvolleren Literatur an […]. (Deppe 2022)
Im Februar 2022, ein Jahr nach der Umfrage der »Zeit Online«, hat der Kulturjournalist der »Neue[n] Zürcher Zeitung«, Rainer Moritz, eine ähnliche Umfrage durchgeführt. Seine Bilanz ist der »Zeit-Online«-Umfrage ähnlich. Moritz gelangt ebenfalls zu keinem einheitlichen Bild bezüglich der Perspektiven des Themas im Literaturbetrieb, aber im Gegensatz dazu prophezeit er ironisch, dass »[…] die Möglichkeit [bestehe], dass Corona in den nächsten Monaten und Jahren vor dem Film- und Buchmarkt nicht haltmachen wird. […] sogar ängstlicher werden wir, wenn wir an die womöglich unvermeidliche Flut von Corona-Prosa denken, die uns demnächst heimsuchen könnte«. Noch wahrscheinlicher ist, »dass es eine Zeitlang dauern wird, bis aus der gegenwärtigen Hektik eine Literatur entsteht,
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die eine Vorstellung davon zu entwickeln vermag, was in den letzten beiden Jahren über die Welt gekommen ist. Ein Blick in die Literaturgeschichte zeigt es: Mitunter müssen Jahrzehnte vergehen, bis epochale historische Ereignisse literaturfähig werden« (Moritz 2022). Die letzte Anmerkung von Moritz beruht auf der Meinung vieler von ihm angesprochener Intellektueller: Der Schriftsteller Hermann Lenz erinnert daran, dass »Die Gegenwart erst als Vergangenheit begreifbar« wird und die Autorin Alina Bronsky bemerkt, dass auch wenn »für dystopische Seuchenromane […] es im Moment definitiv zu spät [sei]«, »[es sich] für einen realistisch erzählten Gegenwartsroman wiederum zu früh und unausgereift [anfühle]« (Moritz 2022). Die Lektorin des Diogenes Verlags bringt es wie folgt auf den Punkt: Es wird wohl noch lange ein Thema bleiben. Viele Autoren sprechen aber von einer längerfristigen Verarbeitung des Themas. Viele auch. davon, dass es eine gewisse Distanz braucht, um die Wirkung auf die Gesellschaft überhaupt künstlerisch erfassen zu können. (Moritz 2022),
denn »Literatur« sei – wie Paul Jandl ebenfalls im Feuilleton der NZZ schon betont hatte (Die Corona-Krise trifft die Literatur hart) – »für Ausnahmesituationen definitiv zu langsam« (Jandl 2020). Anders gesagt sei Covid, dieser »kontaktfreudige Jüngling«, wie ihn der Kulturjournalist Hoetker (NZZ) so schön definierte, ein uns zu nahes Phänomen, um gründlich verstanden zu werden. Auch wenn das große Meisterwerk der Corona-Fiction immer noch nicht vorliegt, sind im deutschsprachigen Raum, so wie – parallel – in anderssprachigen Kulturen, viele Corona-Fictions literarischer Art entstanden und sogar erschienen, manchmal auch als instant-book. Die literarische Produktion hat sogar sofort nach dem Ausbruch der Pandemie angefangen. Die Textsorten reichen von Ego-Dokumenten, Erzählungen und Romanen bis hin zur Lyrik. Obwohl viele Werke inhaltlich und ästhetisch eher ›Schnellschüsse‹ sind, hat Corona-Fiction schon die Aufmerksamkeit der Forschung erregt, die sich dessen bewusst ist, dass man mit diesem Thema noch Neuland betritt. Schon im März 2020 hat die Online-Ausgabe des Rezensionsforums »Literaturkritik.de« in diversen Serien, Sonderausgaben und Kolumnen den Akzent auf die Spuren gesetzt, die Corona in der Literatur- und Kulturwissenschaft hinterlässt (Seiler 2020). Mit einer wissenschaftlicheren Herangehensweise hat ein Team der Technischen Universität Graz unter der Leitung von Yvonne Völkl bereits 2020 ein literatur- und kulturwissenschaftliches Grundlagenprojekt »Corona-Fiction« (CoFi) gestartet. Obwohl das Team romanischsprachige Quellen erforscht, bietet sein Projekt methodologisch und thematisch einen interdisziplinären Rahmen. Die TU Graz erforscht Corona in vielen Feldern, nicht nur im literaturwissenschaftlichen wie hingegen Völkls Team, das verschiedene Forschungsfragen zu
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ergründen versucht: welche Themen besonders dominant sind, die Gemeinsamkeiten der Corona-Fiction zu früheren ›Pandemic Fictions‹ sowie konzeptionelle und begriffliche Strukturen, wie zum Beispiel Kriegsmetaphern, die das Virus als Feind darstellen und wie Corona-Fiction zu individueller und kollektiver Resilienz beitragen kann (vgl. Völkl). Die Forschungsgruppe hat auch eine aufrufbare Web-Datenbank angelegt, um Primär- und Sekundärliteratur über das Thema Pandemie und Corona in Literatur und Kultur zu sammeln. Bisher enthält sie circa 300 Items und ist ein work in progress. Im Juni 2023 erscheint der vom Team herausgegebene Sammelband Pandemic Protagonists. Viral (Re)Actions in Pandemic and Corona Fictions (Obermayr/Völkl/Hobisch 2023). Auch die Sprachwissenschaft hat ihre ersten Schritte mit einem 2022 erschienenen Band gemacht, der die verschiedenen Corona-Diskurse mit einem diskurs-linguistischen Ansatz auffächert (Jacosz/Kałaznik 2022). Zentraler bleibt immer noch Corona als literarisches Ereignis. Andere Studien heben hervor, wie sich die Literatur, die bekanntlich eine »weltordnende Funktion« (Schmidt 2020) hat, mitten in der außergewöhnlichen sanitären Corona-Krise als bedeutendes Hilfsmittel erwiesen hat. »Literatur eröffnet auch Perspektiven«, bemerkt die Literaturwissenschaftlerin Davina Höll von der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, die 2021 das Buch Das Gespenst der Pandemie: Politik und Poetik der Cholera in der Literatur des 19. Jahrhunderts veröffentlichte (Höll 2021). »[…] und bewirkt«, fügt sie in einem Interview aus Anlass des Deutschen Studienpreises der Körber-Stiftung für Ihre Dissertation über die Poetik der Cholera in der Literatur des 19. Jahrhunderts hinzu, »dass ich meinen Ängsten und meinem Unwissen nicht mehr hilflos ausgeliefert bin. Mit ihr kann ich Alternativen durchspielen und neue Wege aufzeigen« (Johannes-Gutenberg-Universität Mainz 2021). Ihre Meinung teilt auch Günter Blamberger in seinem 2022 erschienenen Aufsatz Erzählen gegen den Tod. Pandemie und Literatur: Literatur, die von Pandemien handelt, spiegelt diesen Kontrollverlust und widersteht ihm zugleich: In der poetologischen Ordnung ihrer Werke, durch deren freie, autonome Wahl, verteidigt sie das Recht auf einen eigenen Rhythmus und gibt dem Maßlosen wieder Maß. Mit Hilfe ästhetischer Ideen vermag Literatur zudem, so Kant, anders als die Wissenschaften mit ihren Vernunftbegriffen, auch Vorstellungen zu vermitteln vom empirisch wie begrifflich kaum Fassbaren und so das Unheimliche vertraut zu machen. Literatur kann in Sinnbildern vom Tod und tröstlich gegen den Tod erzählen. (Blamberger 2022, S. 132)
Unter dem Eindruck von Covid-19 wurde die Epi/Pandemieklassik neu gelesen und »dabei zeigt[e] sich«, unterstreichen die Romanist:innen Angela Oster und Jan Henrik Witthaus in ihrer Studie Pandemie und Literatur, »dass diese Erzähltexte erstaunlich aktuell sind, erkennt man doch gegenwärtig dank Manzoni, Heine und Co. [sic] eine gespenstische Wiederkehr lang bekannter Reaktions-
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muster« (Oster/Witthaus 2021, S. 2), welche zugleich Bewältigungsstrategien suggerieren können. »Die Epi-/Pandemieklassik [wurde] eifrig wiederentdeckt«, betont auch Martina Stemberger in der Einleitung ihrer komparatistischen Studie Corona im Kontext: Zur Literaturgeschichte der Pandemie, »allen voran Boccaccio, Defoe, García Márquez«, und Albert Camus Parabel Die Pest, die zum internationalen Corona-Besteller wurde (vgl. Stemberger 2021). Diese Wiederentdeckung, die im Laufe der Corona-Pandemie dem Lesen wieder Schwung gab, ermunterte auch zu neuen literarischen Experimenten. Auf der Folie des im März 2020 von der Redaktion des »New York Times Magazine« entworfenen [The] Decameron Project, das 29 internationale Schriftsteller:innen zu einer literarischen Erzählung des pandemischen Corona-Zustands aus ihrer Perspektive einlud (»New York Times« 2020), bat gleichzeitig die Redaktion der »Zeit Online« zehn deutschsprachige Autor:innen um grundsätzliche Aspekte des Lebens (Freundschaft, Liebe, Tod, Verlust usw.) thematisierende Geschichten, mit dem Ziel einer zeitgenössischen Version von Boccaccios Meisterwerk kollektiv zu schreiben. Das Dekameron-Projekt wurde, genauso wie sein amerikanischer Anreger, wenn auch etwas bescheidener und lokaler angelegt, wöchentlich online veröffentlicht (vgl. »Zeit-Online« 2020). Der stete Rekurs auf Lesen und Schreiben während des Lockdowns bestätigt nicht nur die Rolle der Geisteswissenschaften im Krisenmanagement, sondern hebt auch das Bedürfnis nach einer Distanznahme zum Geschehenen hervor – weil Erzählungen, egal ob schon vorhanden als Lektüre oder selbst erzeugt im neuen auf der Epi/Pandemie-Literatur der Vergangenheit aufbauenden Corpus der Corona-Fiction, über die Versprachlichung eine Distanz zum unmittelbaren Erfahren herstellen, und zugleich von der verzweifelten Suche nach einer Nähe zum fremden Corona-Phänomen auf der Basis vorheriger Erfahrungen zeugen, die hoffentlich Antwort und Trost zu bieten vermögen. Unter den verschiedenen Gattungen der Corona-Fiction ist das relationale Binom Ferne-Nähe, für die im Lauf der Corona-Pandemie erzeugten, deutschsprachigen Ego-Dokumente besonders relevant. Es handelt sich um Textsorten wie Tagebücher, biographische Notizen, Briefe oder Aufzeichnungen, die man dem Gesamtbegriff ›Pandemoir‹ zuordnen könnte. Die Bezeichnung ›Pandemoir‹ habe ich von Gregory Betts Avantgarde-Kunstwerk TweTwe. An alt-text Pandemoir (Betts 2021) übernommen und ich schlage sie als Gesamtdefinition für autobiographische Formen der Corona-Fiction vor. Das ›Corona-Pandemoir‹ erweist sich als ein sehr frühes Phänomen der Corona-Fiction. Als Kampf gegen die durch Covid erzeugte, erstaunte Sprachlosigkeit hat das Literaturhaus Graz schon Mitte März 2020 ein anthropologisches Experiment konzipiert und eine Reihe von österreichischen Autor:innen dazu eingeladen, ihren Alltag und Gedanken während der Corona-Krise in Tagebüchern zu dokumentieren, womit auch eine Art Selbsttherapie entstanden ist, die
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zur Verarbeitung des Erlebten führte. Eine Selektion dieser tagebuchartigen Einträge, die auch für deren Leser:innen hilfreich hätten sein können, wurde zwischen 2020 und 2021 jeden Freitag auf der Homepage des Literaturhauses Graz veröffentlicht. Das von Klaus Kastberger entworfene Projekt »Die CoronaTagebücher«, dessen vollständiges Ergebnis jetzt unter dem Titel Alles ist wieder halb normal online abrufbar ist, erstreckte sich über insgesamt 40 Wochen von der ersten Covid-19-Welle (1. 3. 2020 bis 28. 7. 2020) bis zur zweiten (3. 11. 2020 bis 5. 4. 2021) und nahm 19 Autor:innen in Anspruch (Literaturhaus Graz 2020). Unabhängig von diesem polyphonen und multiperspektivischen, österreichischen Projekt wurden mehrere andere Ego-Stimmen aus Deutschland und der Schweiz in Kolumnen oder (Blog-)Reihen der Zeitungen – vor allem in deren Web-Versionen – veröffentlicht: u. a. das schon im April 2020 in einer Sonderausgabe von »Literatur-Kritik.de« online hochgeladene Pandemoir Splitter aus der Quarantäne der Münchner Autorin Eva Strasser (Strasser 2020); Thomas Glavinics täglich erscheinendes Corona-Tagebuch auf der Website der »Welt«, das er Corona-Roman titulierte (Glavinic 2020); das mittlerweile bei Fischer erschienene Journal von Carolin Emcke (Emcke 2021). Einige sind nur in digitaler Version vorhanden, wie es zum Beispiel das Tagebuch des Schweizer Schriftstellers Peter Stamm (Stamm 2020), manche andere sind später auch in Buchform erschienen, wie es bei der österreichischen Autorin Marlene Streeruwitz (Streeruwitz 2020) und der Deutsch-Kroatin Marica Bodrozˇic´ der Fall ist (Bodrozˇic´ 2021), worauf unten ausführlicher eingegangen wird. Die ersten zwei Pandemoirs wurden direkt als web-Version geschrieben und gingen sofort viral, Bodrozˇic´ führte dagegen ein traditionelles Tagebuch, das sie später in Buchversion veröffentlichte. Autobiographische Zeugnisse dieser Art sind sehr kontrovers aufgenommen worden. Ob es sich um Instant-Diskurs-Produktion handelt, die in allzu großer Eile auf den Markt gebracht wurde? In dem vielsagenden Artikel Corona-Tagebuch, mir graut vor dir stempelt der Kulturjournalist der NZZ Sandro Benini sie als »im Moment erzeugte Nabelschau« ab (Benini 2020). Besonders skeptisch äußert sich auch Moritz dazu: »Solche Tagebuchnotate […] nehmen wir meist klaglos hin, wissend, dass ihnen der Zahn der Zeit binnen weniger Monate zusetzen wird und sie alsbald ihren Weg ins Antiquariat finden« (Moritz 2020). Meiner Ansicht nach lohnt es sich aber, sich dieses autobiographische Material näher anzusehen, denn besonders aus der Perspektive des Emotional Turns der literaturwissenschaftlichen Studien ist es ein bedeutsames anthropologisches Reservoir, sowohl für die Literatur- als auch für die Kulturwissenschaft und Kulturgeschichte, dessen Inhalt konkret widerspiegelt, welche Auswirkungen die Corona-Pandemie auf das alltägliche menschliche Leben hatte, wie die Personen auf die außerordentliche Situation reagierten, wie sie mit den ungewohnten Herausforderungen umgingen, welche Gedanken, Gefühle und Empfindungen
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ausgelöst wurden und was als eigentlich katastrophal erlebt und verarbeitet wurde. Die absolute Nähe zum Corona-Phänomen zur Zeit ihrer Entstehung zeugt von einer ungefilterten emotionalen Wiedergabe des Geschehenen, die sie in authentische Zeugnisse verwandelt. Es ist kein Zufall, dass der Romanist Jochen Mecke eine Lanze für die weniger prestigeträchtigen Gattungen der Chronik, des (öffentlichen) Tagebuchs und des Essays, für die er im Essays-Band von Oster und Witthaus (2021) zahlreiche französisch- und spanischsprachige Beispiele anführt, bricht (vgl. Mecke 2021). Trotz ihres minimalen Grades an Ästhetisierung betrachtet er sie als interessante Alternativen zu den trügerischen »Erzählungen des Imaginären«, die das Wahrheitsbild verzerren können: »Als ›Literaturen des Realen‹ zeichnen sie sich« Mecke zufolge dagegen »durch das Fehlen einer übergreifenden teleologischen Struktur aus, wobei Chroniken besonders durch ihren Verzicht auf Kausalzusammenhänge und ihren nüchternen Stil, Tagebücher durch subjektive Perspektivierung und Essays durch ihre experimentelle Vorgehensweise und radikale Ergebnisoffenheit bestechen« (Sartor 2021). Corona-Pandemoir ist ferner die Gattung, in der das Binom Ferne und Nähe eine nicht nur motivische Rolle spielt, sondern auch eine strukturelle, wodurch einige Textsorten der autobiographischen Ego-Dokumente eine grundlegende Erneuerung erfahren. Wie auch andere Gattungen der Corona-Fiction, die – wie das Grazer »Research Group Pandemic Fiction« unterstreicht – »spreading across different media formats and creating hybridity« dank dem digitalen Pubikationsformat von einem grenzüberschreitenden »transmedialen Storytelling« gekennzeichnet sind (Pandemic Research Group 2020, S. 4), spielt das Web besonders für das Corona-Pandemoir eine maßgebende Rolle. Gerade das Web erlaubt eine erste Überlegung zum Binom Ferne/Nähe. Denn das Corona-Pandemoir entsteht in der Dimension einer absoluten Nähe: im Verlust der Zeitkoordinaten im Lauf des Lockdowns, in dem alles nur ein unbefristetes Jetzt ist, aber auch in einem Zustand der Ferne, einer körperlichen Ferne, die man durch das Virtuelle in eine soziale Nähe verwandelt. Ein Paradox also, in dem gerade eben durch die Distanz des Digitalen eine ›neue Nähe‹ entsteht, welche das Charakteristische des Autobiographischen, das Intime nämlich, in einen viralen Appell an die Öffentlichkeit verwandelt, der eine transkulturelle und transnationale Annäherung unter Menschen trotz der und gerade durch die Distanzierung erzeugt. Ein Trend, der in der Ära der socials schon präsent war, welchen Corona – das vom Philosophen Maurizio Ferraris in seinem Pamphlet Post Coronial Studies definierte »virus della coscienza domiciliare«1 (Ferraris 2021, S. 19) – nur beschleunigt hat, da es, um safe zu kommunizieren, zum steten Rekurs auf das Web zwang, 1 Virus des häuslichen Gewissens.
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»l’essenza dell’umanità come documanità«2 hervorstechen ließ (Ferraris 2021, S. 14). Denn das weltweite Phänomen Corona – »la pandemia più documentata e commentata della storia« – hat es dazu gebracht, dass »chiusa in casa, l’umanità non ha mai scritto così tanto […]« und »anche chi non ha pensato nemmeno per un momento di fare storia, letteratura o critica del virus, ha prodotto, con la sua forzata permanenza in casa e dunque sulle piattaforme, una sterminata quantità di dati«3. (Ferraris 2021, S. 11). Das Interessante an diesen Daten ist, dass man mit keinen wirklich privaten Dokumenten konfrontiert ist, denn von Anfang an sind sie an die Öffentlichkeit gerichtet. Sie repräsentieren zivilgesellschaftliche Stimmen, die eine Kollektivierung der Erfahrung versprechen und die Leser:innen dazu einladen, einen nahen Blick auf die Bewältigung der Pandemie durch die Autor:innen zu werfen. Sie fordern die Leser:innen direkt auf, sich den Schreibenden besonders nah zu fühlen und automatisch selbst zum Teil der »Geschichte« zu werden, sehr genau wissend, wie es sich anfühlt, mit dem Staunen, der Irritation, der Sorge, dem Unbehagen und der Überforderung umgehen zu müssen. Bis jetzt wurde den Motiven und Themen der literarischen Corona-Zeugnisse keine ausführliche literaturwissenschaftliche Bearbeitung gewidmet. Im Rahmen eines vergleichenden Verfahrens mit früheren ›Pandemic-Fiction‹ wurden Corona-Zeugnisse viel mehr unter dem Gesichtspunkt der Gemeinsamkeiten einiger konzeptioneller und begrifflicher Strukturen der Covid-Fiktion hinterfragt, also auf der Suche nach »structures creating constants over time and space« (Pandemic Research Group 2020, S. 4). Das Zusammenspiel Ferne-Nähe, das sich als grundlegendes Strukturprinzip des Corona-Pandemoirs erweist, kann z. B. auch zu verschiedenen Reflexionen im Bereich einer Motivik anregen, die sich als sehr facettenreich herausstellen könnte. Das Bedürfnis nach einem Pandemoir während Covid-19 entsteht in einem Zustand von extremer Distanzierung, dem Lockdown, der körperliche Nähe verbietet. Die traditionell innerliche und intime Form des privaten Eintrags – wie tagebuchartige Aufzeichnungen oder persönliche Briefe u. a. – veräußerlicht sich während der Covis-19-Pandemie in einer verzweifelten Suche nach irgendeiner Form von Beziehung, welche die im Lauf der Jahrhunderte sedimentierte Struktur der Ego-Dokumente revolutioniert. Die geheimen, für sich selbst zu behaltenden Notizen verwandeln sich jetzt in einen Schrei nach Außen, in einen 2 Wesen der Menschheit als Dokumenschheit. 3 Denn das weltweite Phänomen Corona, die am meisten dokumentierte und kommentierte Pandemie der Geschichte, hat dazu geführt, dass die zu Hause eingesperrte Menschheit noch nie zuvor soviel geschrieben hat und dass auch diejenigen, die niemals damit gerechnet hatten, selbst Geschichte zu schreiben oder Literatur bzw. Viruskritik zu verfassen, durch die aufgezwungene Dauerhäuslichkeit – und die daraus folgende Dauerpräsenz auf den Online-Plattformen – eine Unmenge von Daten produziert haben.
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Appell an den »Rest der Welt«, in einem verzweifelten Versuch, mit einem durch das Schreiben evozierten und durch das Web erreichten Alter-Ego ein Gespräch zu führen. Die autobiographische Figur Betty von Marlene Streeruwitz, die den Lockdown ganz allein in ihrer Wohnung durchlebt, erfindet in ihrem tagebuchartigen Pandemoir So ist die Welt geworden – Der Covid-19-Roman (2020) zwei Doppelgänger-Figuren, welche zwei Aspekte ihres komplexen Ichs verkörpern und darstellen, und mit denen sie eine fingierte Form von Geselligkeit literarisch inszeniert. Im Vergleich zu anderen die Lockdown-Situation eher bejahenden Schriftsteller:innen drückt Streeruwitz der Illusion der durch das Digitale artifiziell erzeugten Nähe gegenüber eher Unbehagen aus und in ihrer literarisch erfundenen intradiskursiven Form von Nähe bietet sie eine autofiktionale Alternative an. Der Begriff ›Beziehung‹, in welcher Form auch immer, wäre in einem im Bereich der Ferne-Nähe-Konstellation entworfenen, thematisch-motivischen literarischen Lexikon des Corona-Pandemoirs sicherlich der erste Eintrag. Aber auch andere sind für dessen Aufbau bedeutend. Die Motive ›Erlebnis‹ und ›Angst‹ sind weitere Schlüsselworte. Von Dilthey zu Husserl hat der Begriff ›Erlebnis‹ im deutschen Kulturraum eine lange und berühmte Karriere. Um den Schock der unbegreiflichen CoronaPandemie in dem oben genannten Pamphlet besser zu beschreiben, greift Maurizio Ferraris gerade eben zu diesem deutschen Wort: in una letteratura virografica, che è enfaticamente esperienziale, e che in un solipsismo di massa ascende dall’individuale e lirico al collettivo, all’universale, all’epico, l’Erlebnis prevale sull’Erfahrung, in quanto trattasi di uno choc, una esposizione istantanea e ancora tutta da interpretarsi. (Ferraris 2021, S. 31)4
Abschließend fügt er noch hinzu: »La prima e più spontanea manifestazione dell’Erlebnis è il diario« (Ferraris 2021, S. 31). Die Erlebnisnatur dieser unbegreiflichen Begebenheit, die keine vorige Erfahrung vorausahnen ließ, wird sofort am Anfang von Marica Bodrozˇic´s autobiographischem Essay Pantherzeit verraten: Denn so viele Jahre haben wir uns immer wieder gefragt, was in unserer Zeit an der Stelle eines Kriegs auf uns zukommen könnte, das unser aller Leben verändert. Wir haben über Wasserknappheit nachgedacht, über Klimakatastrophen, über die Gier der wenigen Reichen, über Diktaturen, aber so etwas haben wir uns nie vorstellen können (Bodrozˇic´ 2021, S. 10).
4 In einer virographischen Literatur, die emphatisch erlebniszentriert ist und sich in einem Massensolipsismus vom Individuellen und Lyrischen zum Universellen und Epischen aufschwingt, überlagert das Erlebnis die Erfahrung, insofern als es sich um einen Schock, um eine momentane und noch in Gänze interpretationsbedürftige Darstellungsform handelt.
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Ein Erlebnis betrifft das Hier und Jetzt. Weder räumlich noch zeitlich hat es Bezugspunkte zur Vergangenheit oder zur Zukunft. Trotz der oben illustrierten Illusion, in der Epi/Pandemie-Literatur vergangener Zeit Aufschluss zu finden, bietet die in der Vergangenheit gesammelte Erfahrung, inklusive mündlich und schriftlich tradierter Überlieferungen von Naturkatastrophen, kein Erklärungsmodell in früheren Erfahrungen für das Erlebte in der Corona-Krise, und das Erlebte selbst bietet keine Garantie einer zukünftigen Wiederholung oder Lösung desselben. Das Erlebnis kennt nur die nahe Domäne des ›Jetzt‹ mit seiner Zeitlosigkeit und, wie Marlene Streeruwitz in ihrem autobiographischen Text wiederholt zum Ausdruck bringt, (Streeruwitz 2020, S. 119) einer »gewissen Hilfslosigkeit angesichts des Schicksals« (Streeruwitz 2020, S. 143). Die österreichische Autorin beschreibt das Corona-Erlebnis als etwas, was sich allen bekannten und gewohnten Koordinaten entzieht, einschließlich der sedimentierten Erinnerung, die einen nicht erleuchten kann: Erinnerung. Das wäre die Wiederholung des Gewesenen gewesen. Hohl. Das war hohl geworden. Leer. […] Ein Fallbeil war niedergegangen. Zwischen ihr jetzt und ihr früher. Katastrophen machen das, wagte sie sich (Streeruwitz 2020, S. 101). Das war eine neue Zeit. Neue Zeit. (Streeruwitz 2020, S. 176)
und noch: Das ist der Schock. […] Bis jetzt hat der Schock gewirkt. Und er wirkt nach (Streeruwitz 2020, S. 95). Die Zukunft [ist] immer nur auf die nächste halbe Stunde beschränkt. Weiter voraus. Sie konnte es sich nicht vorstellen (Streeruwitz 2020, S. 112). Betty [eine von den Alter Egos der Autorin] hatte keine Vorstellung, wie die nächste Minute verbracht werden konnte. Oder sollte (Streeruwitz 2020, S. 127). Und keine Zukunft. Sie konnte sich nur noch den nächsten Tag vorstellen. Weiter nicht. Keine Pläne. Kein Vorhaben (Streeruwitz 2020, S. 172). Unruhe war wieder da. Wie würde alles weitergehen. […] Die Unruhe. Es war diese Zukunftslosigkeit. Dieses Herumtorkeln aller. Niemand wusste, wie es weitergehen soll. (Streeruwitz 2020, S. 182)
Ähnlicher Natur (wie das Erlebnis) ist das Angstgefühl, welches diese Ego-Dokumente zum Ausdruck bringen. Sowohl in Peter Stamms Tagebuch als auch im Pandemoir von Marlene Streeruwitz wird eine neue Art von Angst erlebt und dargestellt, die wegen des ›Social Distancing‹ keine gewohnte Art von Trost lindern kann. Streeruwitz schreibt: »Mir ist auch klar, dass das eine Panikattacke war. […] Und niemand dürfte zu mir. […] niemand könnte mich in die Arme nehmen und mich beruhigen. Es gäbe nur Maskengesichter« (Streeruwitz 2020, S. 67). Dem Thema der Trostlosigkeit widmet Thea Dorn 2021 den Roman Trost. Briefe an Moritz. Es ist eine schwer zu bezeichnende Form von Angst, die unheimliche Züge trägt, da dieser Einbruch des Corona-Schreckens in den Alltag sowohl Ausdruck einer absoluten Ferne und Fremdheit als auch die Verkörperung einer unkon-
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trollierbaren Nähe ist, da das Virus um uns, in uns, sogar oft unbewusst in uns sein kann, wenn es symptomfrei vorkommt. Nicht zufällig registriert Marlene Streeruwitz ihr Unbehagen in der Wohnung: »Keine Sicherheit, nicht einmal in den eigenen vier Wänden« (Streeruwitz 2020, S. 125). Im Eintrag vom 22. 3. 2020 findet Peter Stamm keine passende Bezeichnung für das nie Dagewesene dieser neuen Art von Angst: Ich suche nach einem Wort. Angst trifft mein Gefühl nicht, denn Angst habe ich nicht vor dem Virus. Das englische »gloom« ist mir eingefallen, als ich nach einer genauen Übersetzung suche, finde ich »Trübsinn, Schwermut, Finsternis, Düsterheit«. Aber auch das trifft es nicht. Am ehesten könnte man das Gefühl als ein Rezept beschreiben: Man nehme etwas Sorge, etwas Nervosität, etwas Verwunderung, ziemlich viel Unruhe, ein paar Vorahnungen, Unentschlossenheit, Antriebslosigkeit und doch auch eine Prise Zuversicht. Das Gefühl kommt und geht in Wellen. (Stamm 2020)
Auch Streeruwitz verzichtet auf eine genaue Bezeichnung und versucht wie Stamm eine Angst-Beschreibung, und zwar eine sehr physische/körperliche und konfuse: 11. Mai 2020. Gleich beim Aufwachen war die Angst dagewesen. Eine dumpfe, weit entfernte Angst. Ein großer, durchlässiger Ball im Bauch. Und jederzeit. Jederzeit die Möglichkeit. Der lichte Ball sich zu einem scharfen Punkt zusammenzog und im Bauch zu kreisen begann. In alle Richtungen kreisend (Streeruwitz 2020, S. 111). [Ist es eine] Panikattacke? (Streeruwitz 2020, S. 67, 70–71). Gegen dieses Ansteigen der Verzweiflung. Gegen diese gleitenden Überfälle ihres Körpers gegen sie selbst. Ihr Bauch. Er wurde wieder fester Gummi. Kein Platz für die Luft, ihre Rippen. […] Aber das Herzrasen. Das war so. Das war so schrecklich. Ich war sicher, dass das Herz das nicht lange. Dass das Herz, das nicht lange. Und das Zittern. Da zitterst du plötzlich am ganzen Leib. Die Angst. Die Angst. Das verschließt dich. […] Wenn ich. Wenn ich. Abkratze. Und nicht gefunden werden. Wer soll mich hier finden… (Streeruwitz 2020, S. 67–68)
In diesem fragmentarischen, fast gestotterten Tagebucheintrag taucht auch das Motiv des Todes, der ›absoluten Ferne‹ auf, welche die zeitgenössische Kultur verdrängt hat, während sie in den Pandemien der Vergangenheit eher eine vertraute Konstante darstellte, die jetzt plötzlich wieder gespenstisch nah rückt. Ein interessanter Unterschied zu den Beschreibungen voriger epi/pandemischer Ereignisse, in denen die stoische Haltung der von schlimmen Seuchen heimgesuchten Menschen ein selbstverständliches Verhaltensmuster war. In der Unmöglichkeit sich vom verzweifelten Todesgedanken angesichts des durch die Medien wiederholt vermittelten Statistiken der Corona-Todesfälle zu distanzieren, verschob sich der (allzu)menschliche Verdrängungsmechanismus der Ängste in andere Bereiche, erzeugte z. B. die tröstende Romantisierung des Lockdowns zu einem Vorboten der bevorstehenden Ankunft einer besseren Welt. Darauf reagieren viele Autor:innen skeptisch und irritiert. Das Fata-Mor-
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gana-Bild einer besseren Welt, eines »Parkplatzparadies[es]« (Streeruwitz 2020, S. 185), in dem »die Stadt uns Fußgängern und Fahrradfahrern wieder oder überhaupt zum ersten Mal in unserem bisherigen Leben richtig gehört« (Bodrozˇic´ 2021, S. 16) wird von der bissigen Polemik Streeruwitz’ zunichte gemacht. Die Reaktion ihres autobiographischen Alter Egos wirkt besonders ungehalten: »Betty wollte nicht mehr hören, wie gut es nun allen gegangen wäre im Lockdown. Totale Ruhe. Verlangsamung. Die Friseurin hatte davon geschwärmt, dass sie noch nie so lange mit ihrer Familie zusammen sein hätte können wie in diesen 7 Wochen. Betty überlegte, ob dieses Schönreden der Krise eine echte Reaktion war oder schon das Verdrängungsergebnis« (Streeruwitz 2020, S. 184). Die bloße Feststellung einiger durch Corona gewonnener Vorteile entgrenzt sich in eine träumerische Utopie, welche, das palingenetischen Schema voriger Epi/Pandemien wiederaufrufend, die Nähe einer besseren Ära ankündigt. Besonders in Marica Bodrozˇic´s autobiographischem Essay Pantherzeit wird das Thema des Utopischen fokussiert. Utopien bzw. Dystopien sind schon immer Projektionen gewesen, die eine ferne Zukunft betreffen. Im besten Fall, wenn sie palingenetisch sind, geben/gestatten sie der Vergangenheit des verlorenen goldenen Zeitalters eine erneute Chance. Der in den Medien vieldiskutierte Ausblick auf die Zeit nach dem Corona-Virus, welcher oft als metaphorische Strafe für den globalisierten Kapitalismus und dessen katastrophale ökologische Nachwirkung gedeutet wird, reicht von einem Plädoyer für einen Umbau des Gesundheitssystems, über eine europäische Verfassung, das individuelle Recht, über die eigenen Daten zu bestimmen, bis hin zur Einforderung einer intakten Umwelt. Aber das Interessante an den Beschreibungen des Corona-Erlebnisses, besonders in der Phase des Lockdowns, ist meiner Meinung nach die diffuse Wahrnehmung der überraschenden Verwirklichung einer das Heute betreffenden Utopie. Man könnte mit einem erfundenen Schlüsselwort von der neuen Kategorie einer ›Jetzt-Topie‹ reden, deren Merkmale u. a. »der Stillstand, die totale Ruhe, die Verlangsamung« (Bodrozˇic´ 2021, S. 184) sind und eine menschenleere Welt, in der die Natur ihre Rechte endlich wieder zurückgewinnt. Bodrozˇic´ ist eine absolute Schwärmerin von diesem »Ausnahmezustand, [der] nun unser Normalzustand geworden [ist]« (Bodrozˇic´ 2021, S. 32). Sie glaubt begeistert am Anfang eines »[anderen] Zeitalters« (Bodrozˇic´ 2021, S. 32) zu stehen, in dem »Die Natur sichtbar wird und mit jeder Stunde mehr zu sich kommt, in der wir sie endlich in Ruhe lassen« (Bodrozˇic´ 2021, S. 28). Eine Idylle, denn: »Nun, da das undenkbare Alltag geworden, ist es ruhig, wir hören nur noch die Vögel« (Bodrozˇic´ 2021, S. 25) und »in diesem neuen Zeitzwischenraum sind wir nun Menschen, wie wir noch nie Menschen waren« (Bodrozˇic´ 2021, S. 18). In dem Herbeifabulieren einer Welt, wie sie einmal werden könnte, greift die Autorin bekannte Themen des palingenetischen Gedankens wieder auf, wie man sie besonders aus der Literatur der Physiko-Theologie des 18.–19. Jahrhunderts über die natürlichen Katastro-
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phen kennt, welche mit der Neugeburt einer besseren Menschheit nach dem apokalyptischen Ereignis rechnet (vgl. Cometa 2004). Streeruwitz’ fulminante Aufzeichnungen über den aktuellen Zustand: »Die ganze Welt ein Gefängnis« (Streeruwitz 2020, S. 201), »in Virusinseln und virusfreie Inseln aufgeteilt. Verbindungslos« (ebd.) finden in der optimistischeren Formulierung Bodrozˇic´s ihren Gegengesang: »Zimmerreisende sind wir innerhalb weniger Tage geworden, wir wachsen inne« (Bodrozˇic´ 2021, S. 20). Streeruwitz’ zunehmendes Fernweh, das am Ende ihres Romans in dem »Gefühl, flüchten zu müssen« (Streeruwitz 2020, S. 207) kulminiert, wird von Bodrozˇic´s geduldigem Sich-Abfinden mit dem begrenzten Raum, den das Virus erlaubt, konterkariert. Wie der Titel ihres autobiographischen Essays verrät, der sich auf Rilkes berühmtes Gedicht Der Panther bezieht (»endlich ist es Zeit für Gedichte«, Bodrozˇic´ 2021, S. 12), ist die Grenze der metaphorischen »tausend Stäbe« der Lyrik Rilkes nicht nur Schutz vor dem unbekannten Virus in der Außenwelt, sondern auch die Voraussetzung für einen persönlichen Wandel: Der Panther bin ich selbst. […] Schenkt der innere Gefangene mir auf diesem Umweg die Fähigkeit, langsam ein Sehen zu erlernen, das später alles auch für mein Selbst ändern wird? (Bodrozˇic´ 2021, S. 29–31)
Der Käfig des Panthers lässt sich auch als eine Grenze interpretieren, eine osmotische Linie, welche, indem sie den Blick ins entfernte Anderswo gestattet, fern und nah zusammenbringt und Entgrenzungsfantasien nährt. Grenze spielt auch in Peter Stamms Aufzeichnungen eine große Rolle. Sein Text zeugt von dem Revival, das das Thema während der Pandemie erfahren hat, und das meiner Ansicht nach umfangreichen Widerhall in der Literatur der näheren Zukunft finden wird: 06.05.20: Als ich ein Kind war, war Konstanz für uns die nächste Stadt […]. Wir waren nicht oft da, aber ein Teil des Vergnügens war es, dass wir beim Grenzübertritt die Ausweise zeigen mussten. Später wurde es selbstverständlich, die Grenze einfach so zu passieren. Nicht als Einkaufstouristen, ganz einfach, weil Konstanz und der Thurgau zusammengehören wie Basel und Lörrach oder Chiasso und Como. Man lebt in unterschiedlichen Ländern unter unterschiedlichen Gesetzen, aber kulturell ist man verbunden, man besucht sich, heiratet sich, arbeitet zusammen. Von Gottlieben, von meiner Schreibklause aus bin ich zu Fuß zur Grenze gegangen. Schon von Weitem sah ich ein Armeefahrzeug dort stehen, Soldaten, die die Grenze bewachten, wie wohl seit fünfundsiebzig Jahren nicht mehr. Die Grenze selbst war mit einem doppelten Zaun gesichert, an den sich von beiden Seiten Menschen lehnten, die miteinander sprachen, wie Nachbarn von ihren Balkonen aus. Zugleich ein trauriges Bild und ein hoffnungsvolles. (Stamm 2020)
Und weiter:
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28.04.20: wie wenig Grenzen heute noch zählen, wie leicht es geworden ist, hinüberzuwechseln, nachdem wir als Kinder noch unsere Identitätskarten zeigen mussten, wenn wir nach Deutschland gingen. Bald wird es wieder so sein, und das ist gut. (Stamm 2020)
Ob die Errichtung neuer Schutzmauern gut oder schlecht ist, ist eine heikle Frage, aber sicherlich hat die Pandemie wesentlich dazu beigetragen, den Traum der Globalisierung in eine Krise zu stürzen. Und in einer durch Vernetzung als entgrenzt wahrgenommenen und erfahrenen Welt muss jetzt das Zusammenspiel zwischen lokal und global, fremd und vertraut sowie fern und nah, komplett neugestaltet werden.
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Daniela Nelva (Università di Torino)
Konkrete und ideologische Nähe und Ferne in Stefan Heyms Leben und Werk
In seiner Prosa greift Stefan Heym auf historische Figuren (Daniel Defoe), auf geschichtliche Ereignisse (die deutsche Revolution von 1848–49) oder auf biblische Gestalten (König David) zurück, um eine indirekte – aber tiefe – Kritik an der DDR-Führung zu üben, ohne zu riskieren zensiert zu werden. Von diesem Zusammenhang ausgehend ist meine Absicht, die Dimensionen der ›Nähe‹ und der ›Ferne‹ zu funktionalisieren sowohl in Bezug auf die Identitätsfrage als auch auf die sprachlich-kulturellen Strategien, die zur Vermittlung literarischer Werke verwendet werden können. Stefan Heym; Daniel Defoe; Censorship; Historical Truth; Democratic socialism.
Stefan Heym wurde 1913 als Helmut Flieg in einer bürgerlichen Familie jüdischer Herkunft in Chemnitz geboren. 1931 wurde der achtzehnjährige Junge wegen der Veröffentlichung eines kritischen Gedichts gegen die deutsche Außenpolitik in der sozialdemokratischen Tageszeitung »Chemnitzer Volksstimme« heftig ermahnt. »Wir exportieren! Wir machen Export in Offizieren! Die Herren exportieren deutsche Wesen zu den Chinesen« – so prangert Flieg die militärische Unterstützung der nationalistischen Partei von Chiang Kai-schek im chinesischen Bürgerkrieg an (Heym 1988, S. 46). Wegen der Drohungen der erstarkenden Nationalsozialisten zog Flieg nach Berlin, wo er mit den Mitgliedern des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller wie zum Beispiel Johannes Becher und Anna Seghers verkehrte und Artikel für die Zeitung »Berlin am Morgen« von Willy Münzenberg und für die Zeitschrift »Die Weltbühne« von Carl von Ossietzky verfasste. In diesem politischen Kontext betrachtete der junge Autor die Spaltung zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten und ihre Unfähigkeit, eine gemeinsame antifaschistische Front zu bilden mit großer Sorge. Genau aus diesem Grund beschloss er, keiner Partei beizutreten. So betont Heym an einer Textstelle von Nachruf, dem in der dritten Person verfassten autobiographischen Text, der 1988 in der BRD veröffentlicht wurde: Er nimmt Partei: links natürlich, obwohl es nicht leicht ist zu entscheiden, welcher der linken Gruppierungen ein einigermaßen denkfähiger junger Mensch sich anschließen
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soll. Den Sozialdemokraten, die das Schicksal der Republik einem offenbar bereits senilen kaiserlichen Feldmarschall anvertraut haben, der für Demokratie oder gar Sozialismus kaum viel übrig haben kann? Den Kommunisten, die zwar eine Art Zukunftsvision haben und erkennen, daß der Feind rechts steht, in der Praxis aber ihr lautestes Geschimpf gegen ihre sozialdemokratischen Klassenbrüder richten […]. Oder einem der linken Splittergrüppchen, die im Streit der Brüder ihr dünnes Stimmchen zu erheben suchen, ohne Gehör zu finden, und ins Theoretisieren, wenn nicht gar Spintisieren geraten? (Heym 1988, S. 57)1
Unmittelbar nach dem Reichstagsbrand im Jahr 1933 flüchtete Flieg nach Prag. Mit dem Pseudonym Stefan Heym unterschrieb er eine an die Familie adressierte Postkarte, um den Eltern heimlich mitzuteilen, dass er in Sicherheit war. Der Autor wird nie mehr seinen ursprünglichen Namen verwenden: Als Stefan Heym hat er von da an sowohl seine erzählerischen Werke als auch seine essayistischen Schriften signiert. Die Wahl, für immer als Stefan Heym zu erscheinen, auch als dies nicht mehr notwendig war, ist aus der Perspektive der ›Nähe‹ bzw. der ›Ferne‹ zum eigenen Erlebten als Ausdruck einer tiefen Identitätskrise anzusehen. In Nachruf wird die Zersplitterung des Ich durch die definitive Modifikation des jüdischen Namens »Helmut Flieg« in das Pseudonym »Stefan Heym« hervorgehoben, das wiederum auf die Anfangsbuchstaben S.H. reduziert wird: Nur der Name des Absenders fehlt – welchen Namen soll er angeben um Gottes willen, der eigene kommt nicht in Frage […]. Und so schreibt er hin: Stefan Heym. Wieso gerade diesen Namen, ist Helmut Flieg später mehr als einmal gefragt worden, und nie hat er eine rechte Antwort parat gehabt. […]. Derart prosaisch, und aus der Not heraus, wurde S.H. geboren. (Heym 1988, S. 83)
In Prag besuchte Heym das Café Continental, wo sich die deutschen exilierten Intellektuellen so wie die Gebrüder Wieland Herzfelde und John Heartfield gewöhnlich trafen. Das politische Vorrücken der Nationalsozialisten machte aber bald den Aufenthalt in Prag zu riskant, da Heym regelmäßig engagierte Artikel und Gedichte in den Zeitungen »Prager Tagblatt« und »Arbeiter Illustrierte« veröffentlichen ließ. Mit der Unterstützung einer jüdischen Stiftung erreichte der Autor 1935 Chicago, wo er sein Studium der Germanistik mit einer Arbeit über
1 Der umfangreiche Band – es handelt sich um etwa 850 Seiten – ist eines der ersten Beispiele jener autobiographischen Strömung, die sich in der DDR seit der Mitte der achtziger Jahre unter dem Einfluss von Gorbatschows Glasnost ankündigte. Gerade in der sowjetischen Politik der Transparenz erkennt Wolfgang Emmerich jenen historischen Hintergrund, der den Antrieb der Wiederannäherung ostdeutscher Intellektueller an einen offenen Ausdruck der eigenen Individualität gefördert hat, der sich als kritische Bewältigung der Vergangenheit erwiesen hat. In diesem Sinne hat Nachruf dazu beigetragen, eine literarische Gattung wieder ans Licht zu bringen, die durch das Leitmotiv des sozialistischen »Wir« gehemmt worden war (Emmerich 20073, S. 479–487).
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Heinrich Heines Atta Troll abschloss – Heine war für Heym das Vorbild des engagierten Intellektuellen. Heyms Militanz im Namen eines internationalistischen Sozialismus verwirklichte sich 1937 in der Gründung des New Yorker »Deutschen Volksechos«,2 einer Wochenzeitung, deren Ziel es war, die Deutschamerikaner:innen in einer gemeinsamen antifaschistischen Front aus Kommunisten, Sozialdemokaten und Liberalen zu versammeln. Im »Deutschen Volksecho« erläutert Heym im Artikel, der am 20. Februar 1937 in der ersten Ausgabe erschien, den Auftrag der Zeitung: Auf der einen Seite nimmt man sich vor, politische Informationen zu verbreiten, die dazu beitragen können, der immer stärkeren Nachrichtenmanipulation seitens der Hitler-Diktatur entgegenzuwirken; auf der anderen Seite zielt man darauf ab, ein gemeinsames ideologisches Bewusstsein zu erzeugen, das gegen das gefährliche Eindringen des Nationalsozialismus in einige deutsch-amerikanische Kreise Partei ergreift. Im Volksecho erschienen Artikel von Heinrich und Thomas Mann, Ernst Bloch, Bertolt Brecht, Arnold Zweig, Lion Feuchtwanger. Leider wurden die Veröffentlichungen bereits im September 1939 wegen Geldmangels eingestellt. Heyms Bitte um eine staatliche Subvention in Höhe eines Bergmannslohns, die Erwin Piscator und Oskar Maria Graf durch Empfehlungsschreiben unterstützten, wurde abgelehnt.3 Mit der amerikanischen Staatsbürgerschaft nahm Heym an der Landung in der Normandie teil. Er gehörte zu der Abteilung der Besatzungsmacht, die für die psychologische Kriegsführung und die Vernehmung der deutschen Soldaten zuständig war – es handelte sich um die sogenannten »Ritchie Boys«. In diesem Zusammenhang verfasste Heym den Text des Salut zum vierten Juli betitelten Flugblattes, dessen Kopien am amerikanischen Unabhängigkeitstag jenseits der Frontlinien abgeworfen wurden, um die deutschen Soldaten zur Kapitulation zu bewegen. Das Flugblatt hat Heym dann in dem auf Englisch verfassten und 1948 publizierten Roman The Crusaders4 zitiert, in dem es der autobiographischen Figur Binz zugeschrieben wird, »eine[m] Niemand, ein[em] Jungen, der entwurzelt war, keine Beziehungen hatte, von Heim und Schule vertrieben und so nach Amerika gekommen war«. In Binz’ Einstellung zu den deutschen Gefangenen versinnbildlicht Heym den eigenen Standpunkt, den er während des Krieges entwickelt hat: »Ich hasse sie. […] Bing holte alles aus ihnen heraus, was 2 Alle Zeitschriftenausgaben sind online verfügbar: Deutsches Volksecho – https://zefys.staatsbi bliothek-berlin.de/list/title/zdb/27195491/. 3 Die Briefe Piskators und Grafs sind im Exilarchiv der Nationalbibliothek in Frankfurt am Main zugänglich (Mappe Stefan Heym). 4 Der Roman erschien 1948 in Boston im Little-Brown-Verlag. In der DDR wurde er 1950 im Leipziger List-Verlag unter dem Titel Kreuzfahrer von heute publiziert. Die Übersetzung ist von W. Grünau unter der Aufsicht des Autors. In der Bundesrepublik wurde das Werk im selben Jahr im Münchener List-Verlag unter dem Titel Der bittere Lorbeer herausgegeben.
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er wissen wollte, und noch einiges dazu« heißt es im Roman (Heym 2005, S. 29). Kontrapunktisch liest man in Nachruf: »Was an S.H. deutsch war, und er hoffte, es wäre nicht mehr viel, wurde verdrängt« (Heym 1988, S. 362). Dieses Ablehnungsgefühl gegenüber der ›alten Heimat‹, die als ›Ferne‹ wahrgenommen wird, konkretisierte sich in Heyms fester Entscheidung, nach der Entlassung aus der Armee in den USA weiterzuleben. Im Klima des Kalten Kriegs und des ›McCarthyismus‹ erschien aber ein Intellektueller wie Heym schnell unangenehm. Seine bissigen Artikel und Reden stigmatisierten die Methoden einer politischen Führung, die eine ›rote Verschwörung‹ vortäuschte, um die Bürgerechte zu beschränken. Den Entschluss, die USA zu verlassen, empfand Heym als sehr schmerzhaft, da die Trennung von dem Land, das ihn vor dem Nationalsozialismus gerettet hatte, eine weitere Zäsur bedeutete. Bis zur Mitte der Siebzigerjahre hat der Autor seine Werke zuallererst auf Englisch verfasst und sie dann ins Deutsche übersetzt. So schreibt er in Nachruf: Im Lauf der Jahre ist S.H. Amerikaner geworden, ein besserer vielleicht als mancher im Lande geborene, und Amerikaner wird er bleiben; […] Amerikanisch sind seine Haltungen, seine Gedanken, Gefühle, Reaktionen; amerikanisch ist die Sprache, in der er denkt, spricht, schreibt. Hier in dieses Land gehört er, jawohl, in dieses Amerika, unter diese Menschen, und hierher wird er zurückkehren, sobald dies wieder möglich. (Heym 1988, S. 490)
Nach langem Umherziehen durch ein von dem Krieg zerrissenes Europa ließ sich Heym trotz seiner Vorbehalte in der DDR nieder. Die anfängliche Skepsis gegenüber den Deutschen (auch den Ost-Deutschen) wurde aber allmählich durch das Vertrauen in eine politische Werkstatt überwunden, in der man »die Anfänge neuer demokratischer Strukturen, die aus einem Boden erwachsen, von dem noch kurz zuvor anzunehmen war, dass dort überhaupt nichts Brauchbares mehr entstehen konnte« (Heym 1988, S. 547). Bekanntlich hat Heym das große Projekt eines demokratischen Sozialismus nie aufgegeben: Seine literarische und publizistische Tätigkeit hat er als Beitrag zur Enthüllung der immer tieferen Kluft zwischen den ideologischen Grundsätzen, welche die Gründung der DDR geleitet hatten, und der von der SED vertretenen Politik konzipiert. Alle seine Texte, die keine beschönigte Darstellung des DDR-Alltags enthalten, wurden zensiert: Man denke zuallererst an den Roman Fünf Tage im Juni,5 den Heym dem Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 widmete, als die Arbeiter in Ostberlin und anderen Städten gegen den von Ul5 Laut Peter Hutchinson weist dieser Titel auf das Kapitel 8 von Trotzkis Geschichte der russischen Revolution (Fünf Tage. 23.–27. Februar 1917) hin. Am 23. Februar 1917, dem Internationalen Frauentag, begann in der Tat der Streik, der zur Revolution führte (Hutchinson 1999, S. 84).
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bricht eingeleiteten ökonomischen Fünfjahresplan streikten und durch das Eingreifen der sowjetischen Panzer zur Aufgabe gezwungen wurden. Indem er die Entfernung zwischen der Parteispitze bzw. der Gewerkschaft und der Arbeiterklasse betont, behandelt Heym schon in diesem Werk jenes Problem, um das sich seine folgende literarische Produktion drehen wird, das heißt die Grundfrage nach der mangelnden Beteiligung der Arbeiterklasse an der staatlichen Macht und damit die fehlende Konvergenz von Sozialismus und Demokratie. Den Grund dafür erkennt Heym in dem misslungenen Übergang von einer entschiedenen Staatsmacht, die zur Unterstützung der Revolution erforderlich sein kann, zu einem demokratischen Sozialismus, der auf der realen Machtausübung durch das Volk (»Wir sind das Volk!«) basiert. In diesem Kontext richtete Heym seine Aufmerksamkeit auf jene historischen, revolutionären Kräfte, die nach Demokratie strebten und unterdrückt wurden. Das geschichtlich ›Ferne‹ wird zum Interpretationsschlüssel der politischen Gegenwart. Im Roman The Lenz Papers, den Heym 1963 verfasste und dann mit dem Titel Die Papiere des Andreas Lenz6 ins Deutsche übersetzte, geht es um die Ereignisse des sogenannten dritten Badischen Aufstandes, der im Mai 1849 stattfand und zu den radikalen Revolutionen in den deutschen Staaten gehörte. In dieser Auflehnung erkennt Heym einen deutschen Bestandteil jener abendländischen, aufrührerisch-demokratischen Linie, die von der Französischen Revolution über die Insurrektionen 1830 und eben 1848–49 sowie über die Schlacht bei Gettysburg während des Amerikanischen Bürgerkriegs bis zu Hitlers Niederlage reicht. Im Prolog des Romans – man befindet sich in der zweiten Nachkriegszeit – nimmt sich ein (fiktiver) Schriftsteller vor, die Geschichte des (fiktiven) Dichters und Sängers Andreas Lenz, zu rekonstruieren. Als Grundlage seiner Recherchen verwendet er die ›Papiere‹ desselben Lenz, der an der Badischen Revolution teilgenommen und sehr präzise Aufzeichnungen hinterlassen hatte. Diese Papiere hat dem Ich-Erzähler die Witwe von Lenz’ Enkel übersandt, der in den Kämpfen während der Landung in der Normandie gefallen ist. In der erzählten Fiktion wird Lenz verhaftet, weil er flammende Reden über soziale Gerechtigkeit 6 Die deutsche Übersetzung wurde von Helga Zimnik unter Aufsicht des Autors angefertigt. Zwei Jahre später erschien das Werk auch in der Bundesrepublik, wenn auch in reduzierter Form und mit einem anderen Titel, nämlich Lenz oder die Freiheit. Auf die Verbreitung des Textes im Westen folgte ein langwieriger Rechtsstreit. Heym wurde vom Leipziger Verlag List, dem Inhaber der Urheberrechte in der DDR, wegen der Abtretung der Veröffentlichungsrechte an den Münchner Verlag List und der Einnahme der Verkaufseinkünfte aus der BRD verklagt. Das Verfahren endete mit einem Steuervergleich, der die Legitimität von Heyms Vorgehensweise anerkannte, da die zwei Verlage ursprünglich demselben Münchner Eigentümer gehört hatten. Mit den Einnahmen aus den Verkäufen in der BRD kaufte Heym Medikamente, die nach Vietnam geschickt wurden. Die englische Originalversion des Werkes erschien 1964 im Londoner Cassel Verlag.
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gehalten und die berühmte Ballade de Mercy von François Villon gesungen hat – es handelt sich hier wahrscheinlich um eine Anspielung auf den Liedermacher Wolf Biermann. Gerade Lenz’ Festnahme und dessen darauf folgende Befreiung gelten als Auslöser der Aufstände. In diesen frei erfundenen Rahmen schiebt Heym viele unterschiedliche historische Belege ein – Übersichtskarten der Kriegsschauplätze, Zitate aus Berichten und Zeitungsartikeln –, die dem Werk einen ›authentischen‹ Ton verleihen. Bei den detailgenauen Beschreibungen der Schlachten greift der Autor außerdem auf seine strategische Erfahrung während des Zweiten Weltkriegs zurück. Nach dem Überlaufen fast der gesamten Armee auf die Seite der Aufständischen und der Flucht des badischen Großherzogs ins Ausland bildet sich in Baden ein demokratischer Landesausschuss. Zu den führenden historischen Persönlichkeiten gehören bekanntlich der Liberale Lorenz Brentano, der zum Vorsitzenden der Regierung wird, der Radikaldemokrat Gustav von Struve, die Kommunisten Johann Philipp Becker und Friedrich Engels. Die vom Komitee verabschiedete Resolution sieht die Gründung eines revolutionären Staates vor: Die Resolution verkündete die Bewaffnung des Volkes, die Zurückberufung aller politischen Flüchtlinge, die Freilassung aller politischen Gefangenen, die Abschaffung der Militärgerichte, die freie Wahl der Offiziere beim Heer und die alsbaldige Verschmelzung des stehenden Heeres mit den zu organisierenden bewaffneten Volkseinheiten! […]. Aufhebung aller Grundsteuern und feudalen Zehnten! […]. Annullierung des alten, ungerechten Wahlgesetzes! Geschworenengerichte! Abschaffung der alten Bürokratie! Eine Nationalbank für Gewerbe, Handel und Ackerbau zum Schutz gegen die großen Kapitalisten! Abschaffung des alten Steuerwesens, Einführung einer progressiven Einkommenssteuer! Ein Landespensionsfonds für alle durch Alter oder Krankheit arbeitsunfähig gewordenen Bürger! (Heym 2005a, S. 130)
Indem er sich für die politischen Abläufe interessiert, fokussiert Heym die Auseinandersetzungen zwischen den von Brentano geleiteten großbürgerlichliberalen Kräften, die auf »Einigkeit! Einer Verfassung, Einem Reich, Einem Kaiser! Und freiem Handel und industrieller Revolution!« (Heym 2005a, S. 112) beharren und der sozial-revolutionären Gruppe, der Struve, Becker und Lenz angehören, welche die Erhebung über die badischen Grenzen hinaus auf ganz Deutschland ausweiten wollen und damit nach einer Republik auf gesamtdeutscher Ebene streben. »Mit einem Schlage würden Sie Ihren lokal begrenzten Aufstand aus dieser kleinen Ecke Deutschlands hinaustragen und ihn zu einer nationalen Angelegenheit machen« (Heym 2005a, S. 243): Dies betonte Karl Marx während einer historisch nachweisbaren Begegnung mit Engels und Brentano. Es handelt sich also um die Gelegenheit, auf deutschem Boden eine demokratische Nation zu gründen. Diese Möglichkeit scheitert aber an der Schwierigkeit, einen gemeinsamen politischen Weg einzuschlagen. Dieser Problemkomplex wird von Becker verdeutlicht, der den Gegensatz zwischen dem Volk und einer bürgerli-
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chen Klasse betont, deren Wohlstand durch das Andauern feudaler Strukturen geschützt ist: Wessen Revolution? […]. Der Revolution der Soldaten? Der Bauern? Der Advokaten und Schulmeister und Intellektuellen? […]. Solange ihr euern Großherzog hattet und seine Regierung von großen und kleinen Bürokraten, konntet ihr alle dagegen sein. Aber jetzt muß man für etwas sein. Wofür seid ihr? Für Freiheit? Welche Sorte von Freiheit? Wessen Freiheit? Für eine konstitutionelle Monarchie? Aber habt ihr die denn nicht gehabt, mehr oder weniger? Für eine Republik? Welche Sorte Republik? Wer soll die Macht darin haben? (Heym 2005a, S. 225–226, kursiv im Text)
Gerade diese unterschiedlichen Einstellungen führen zu einer tiefen Spaltung des Landesausschusses in zwei unüberbrückbaren Fronten. In dieser unsicheren Atmosphäre führt die militärische Intervention preußischer Truppen das Ende der Republik herbei: Mit der Kapitulation der Festung Rastatt am 23. Juni 1849 und der Flucht der Revolutionäre über die Schweizer Grenze löst sich der letzte Widerstand in ganz Deutschland auf. Was den Plot angeht, gelingt es Lenz, nach Amerika zu fliehen, wo er während der Schlacht bei Gettysburg fallen wird. Also: Die Hauptfigur stirbt im Amerikanischen Bürgerkrieg, ihr Enkel (wie schon erwähnt) im Zweiten Weltkrieg – Heym zieht damit, quasi leitmotivisch, Parallelen durch die westliche Geschichte. In diesem Zusammenhang taucht – wie gesagt – die Frage auf, wie man eine vollkommene deutsche Republik bzw. eine revolutionäre deutsche Nation hätte schaffen können, in der das Volk Souverän gewesen wäre. Eine mögliche Antwort, die vom Kommunisten Becker vertreten wird, betrifft die Notwendigkeit einer revolutionären Gewalt, sogar einer von den fortschrittlichsten Gruppen im Lande getragenen ›Diktatur‹, die imstande sei, die Blockaden des Großbürgertums zu brechen. Die Freiheit müsse also in einer solchen Notsituation eingeschränkt werden, um die Republik zu schützen. Der Problematik des Verhältnisses zwischen »Freiheit« und politischer ›Gewalt‹ ist sich Heym sehr bewusst: Nicht zufällig erwidert Lenz, dass »die Freiheit die ausgesprochene Antithese des terreur ist« (Heym, 2005a, S. 195, das französische Wort steht im Text), indem er betont, dass das gewalttätige Element, das in jeder absolutistischen Macht verwurzelt ist, nicht mit einer sozialen Ordnung übereinstimmen kann, welche die Rechte und die Unabhängigkeit ihrer Bürger gewährleistet. Damit lässt Heym die Frage offen. Das Scheitern des Versuchs, auf deutschem Boden eine Republik zu errichten, hinterlässt – so Heym – ein politisches Trauma, welches das Demokratieverständnis der Deutschen bis in die Gegenwart beeinflusst und sich auch in der DDR-Situation widerspiegelt. Während des 1965 stattgefundenen 11. Plenums des SED-Zentralkomitees, das in die DDR-Geschichte als Kahlschlagplenum eingegangen ist, wurde Heym (zusammen mit Heiner Müller und Wolf Biermann) des ›Nihilismus‹ gebrand-
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markt – es handelte sich um die übliche Anklage gegen die Intellektuellen, welche die Widersprüche des real existierenden Sozialismus immer wieder offenlegten. Gerade zu diesem Zeitpunkt stieß Heym auf die Ereignisse, die Daniel Defoe nach der anonymen – aber bald ihm zugeschriebenen – Veröffentlichung des Pamphlets The Shortest Way with the Dissenters; Or, Proposal for the Establishment of the Church (1702) erlebte. Indem er den extremen Standpunkt des englischen Absolutismus parodiert, schlägt der Liberale Defoe in seiner Schmähschrift spöttisch vor, alle von der anglikanischen Kirche als Andersgläubige betrachteten Menschen des Landes zu verweisen – seine eigene Familie eingeschlossen, die zur in Schottland entstandenen, presbyterianischen Kirche gehörte – und deren Pastoren zu erhängen. Obwohl Defoes extrem radikale Vorschläge unzweifelhaft den provokatorischen Charakter der Schrift verrieten, hielten einige Konservative diese Vorlage für ernsthaft und sprachen sich für ihre tatsächliche Umsetzung aus. Mit seinem Pamphlet zielte Defoe darauf ab, die Despotie der englischen Krone zu entlarven und damit das kritische Gewissen der Bürger zu wecken. Als sich die Würdenträger über die tatsächliche Absicht der Schrift klar wurden, wurde Defoe, der inzwischen als Autor des Pamphlets identifiziert worden war, an den Pranger gestellt. Das Volk ergriff aber für ihn Partei und bedeckte den Pranger mit Blumen. So wurde Defoe in die Freiheit entlassen. Da Heym eine gewisse Übereinstimmung zwischen Defoes Geschichte und seiner eigenen Biografie erkannte, schrieb er die Erzählung The Queen against Defoe from the notes of one Josiah Creech; der Titel der von ihm angefertigten deutschen Fassung lautet Die Schmähschrift oder Königin gegen Defoe. Erzählt nach den Aufzeichnungen eines gewissen Josiah Creech. In einem fiktiven Vorwort des Werkes behauptet S.H., dass er die Tagebuchaufzeichnungen eines gewissen Creech herausgeben will, der 1703 als Sekretär des Earl of Nottingham, dem Außenminister unter Königin Anne Stuart, diente. Die literarische Aufarbeitung der Justizaffäre um Defoe ermöglicht es Heym, auf eine indirekte Weise – da es um eine ›vergangene‹ Geschichte in einem ›fernen‹ Kontext geht – die heikle Frage der eingeschränkten Meinungsfreiheit und der Zensur in der DDR zu erörtern. So heißt es in einem Textabschnitt von Nachruf: Dies ist schon unsere Epoche, die Machtverhältnisse, die Konflikte, die Triebkräfte entsprechen den unseren: und was für ein Mensch, dieser DeFoe: bei aller Angst, die er hat, denn es geht ums Leben, seines, und das von Frau und Kindern, welche Haltung noch in Newgate, dem düstren Gefängnis, welch herrliche Courage den Herren Lords und Herzögen und Ministern gegenüber! Über die Jahrhunderte hinweg, Bruder DeFoe, Kuß und Umarmung. (Heym 1988, S. 750)
Gerade auf diese Themen weisen mit einem Augenzwinkern für die ost-deutschen Leser:innen einige Ausdrücke der deutschen Version hin. Das englische
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Wort Dissenters wird von Heym als Abweichler übersetzt, das heißt mit einem Substativ, das zum DDR-Sprachgebrauch gehörte. In der deutschen Fassung entscheidet sich der Autor im Übrigen für einige Ausdrücke, welche die Sprache der ostdeutschen Bürokratie nachahmen: Es ist kein Zufall, dass der Ich-Erzähler Creech nicht nur den »unchristlichen« sondern auch den »umstürzlerischen« Charakter des Pamphlets erwähnt, der zur »staatsfeindlichen« Literatur gehöre. Die subversiven Werke – so muss aber Creech anerkennen – erweisen sich als interessanter und spannender als die »orthodoxen«: Derliebe Gott hat im Garten Eden keine Druckerpressen aufgestellt, äußerte sich mein Lord Nottingham einmal, folglich muß es der Teufel gewesen sein, der das Alphabet erfand. Ich möchte dem zustimmen: Wie sonst läßt sich der beklagenswerte Umstand erklären, daß alles Unchristliche und Umstürzlerische so viel geschickter und wirkungsvoller geschrieben ist als die rechtschaffenen, gottesfürchtigen Traktate der rechtmäßigen Kirche? (Heym 2005b, S. 199)
So äußert sich die quälende Furcht vor dem rebellischen Wort, das mit seiner angeborenen Kühnheit die Macht in Frage stellt. »Wir sind in ein Zeitalter geraten, da Ihre literarischen Possenreißer zu einer rechten Plage zu werden beginnen und da ein Staatsmann von einer scharfen Feder ebenso leicht gestürzt werden kann wie durch Schießpulver« sagt Lord Nottingham diesbezüglich zu Creech (Heym 2005b, S. 204). In einem sarkastischen Crescendo weigern sich sogar die drei Prediger Defoe zu treffen, an die er sich aus dem Gefängnis mit der Bitte gewandt hatte, zusammen zu beten »obwohl einer von ihnen einige Jahre zuvor einem Verbrecher beigestanden« hatte. »Aber der erwähnte Mr. Whitney war ein Bandit und ein Mörder, und kein Schriftsteller, der mit seinem eigenen Kopf denken konnte«, heißt es im Text (Heym 2005b, S. 199). Es handelt sich um den Triumph des freien Denkens gegen die arrogante und feige Autorität – was auch immer sie ist. Was die Veröffentlichungsgeschichte des Textes betrifft, übergab Heym das fertige Manuskript dem Anglisten Alfred Schlösser, Dozent an der HumboldtUniversität in Berlin, der bestätigte, dass die Inhalte in allen Details den historischen Tatsachen entsprechen. Das einzige fiktive Element ist eben der Rahmen der Erzählung. Trotzdem wurde das Erscheinen des Werkes von der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel, der für die Pressegenehmigung zuständigen Abteilung des Kulturministeriums, abgelehnt: Das Werk wurde nämlich als Angriff auf die DDR-Kulturpolitik angesehen. Eine Anspielung auf die DDRZensur enthält im Übrigen die Bezeichnung »Bote der Königin für Pressefragen zuständig«, die der Gestalt Mr. Stephen zugeschrieben ist. Derselbe Defoe wird darüber hinaus als »staatsfeindlich« bezeichnet. Dasselbe literarische Verfahren liegt auch dem Roman Der König-David-Bericht zugrunde, dessen Abfassung auf das Jahr 1969 zurückgeht. In diesem Werk
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verwendet Heym einen biblischen Stoff, das heißt die zum Teil widersprüchlichen Versionen der Geschichte des Königs Davids im Alten Testament, um durch eine sarkastische Darstellung den Persönlichkeitskult und damit die Entstellungen einer Geschichtsschreibung offenzulegen, die man nicht in Frage stellen darf. Der Psalmen-Dichter und Historiker Ethan von Esrah, der angeblich zur Zeit von Salomo lebte, bekommt von dem als Muster der Weisheit geltenden König den Auftrag, die »einzig wahre Geschichte« des »rätselhaften« Davids, Salomons Vater, in einer offiziellen, »gereinigten« Version zu verfassen. Diese Version soll den Thron Salomos selbst rechtfertigen: ›Es wird dir wohl bekannt sein, Ethan ben Hoshaja, daß mein Vater, König David, höchstpersönlich mich, seinen geliebten Sohn, zum Thronnachfolger bestimmt hat und veranlaßte, daß ich das königliche Maultier bestieg und nach Gihon ritt, um dort zum König gesalbt zu werden […]‹. Ich versicherte dem König, diese Tatsachen seien mir bekannt […]. ›Du wirst also erkennen, Ethan‹, fuhr der König fort, ›daß ich dreifach erwählt worden bin. Erstens erwählte Herr Jahweh das Volk Israel vor allen anderen Völkern; sodann erwählte er meinen Vater, König David, zum Herrscher über das solcherart erwählte Volk; und schließlich erwählte mein Vater mich, um an seiner Statt zu herrschen‹. Ich versicherte König Salomo, seine Logik sei unangreifbar […]. ›Wir benötigen einen autoritativen, alle Abweichungen ausschließenden Bericht über das Leben, die großen Werke und heroischen Taten meines Vaters, König David, welcher mich erwählt hat, auf seinem Thron zu sitzen‹. (Heym 2005c, S. 10–11)
Der erste Schritt, den der Protagonist unter der sorgfältigen Aufsicht eines Expertenkomitees, zu dem ein Priester, ein hoher Armeeoffizier, der Hofschatzmeister und der Prophet Nathan gehören, unternimmt, ist eine präzise Untersuchung der Quellen. Ethan widmet sich also einer umfangreichen Archivforschung und damit der Analyse der von den Historikern verfassten Dokumente und der von den Sängern rezitierten Texte. Dazu führt er lange Gespräche mit zahlreichen Zeugen. Das Ergebnis seiner Forschung erweist sich als eine vielschichtige Mischung aus verschiedenen Perspektiven, aus denen sich David als rätselhafte Gestalt herausstellt. Auf der einen Seite erscheint er als ein sensibler Dichter und Sänger, ein kluger Stratege und ein geschickter Führer, der von Gott ausgewählt wurde; auf der anderen Seite offenbart er sich ganz im Gegenteil als zynischer und opportunistischer Politiker, als skrupelloser Krieger und erbarmungsloser Tyrann. Alle Fehler und Missetaten, die er begangen hatte, wurden im biblischen Dogma im Licht einer unvermeidlichen ›Notwendigkeit‹ gerechtfertigt. Infolgedessen wird auch die Figur von Salomo als seinem legitimen Nachfolger in Frage gestellt. Nicht zufällig wird schon auf den ersten Seiten des Romans sein Aufstieg zum Thronfolger auf die Manipulationen seiner Mutter und einiger Priester zurückgeführt.
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So stellt Heym die Rolle, den Raum, die Grenzen der Figur des Historikers und damit das Wesen der Geschichtsschreibung zur Debatte. Diese Frage wird vom Autor durch ein wirksames Gleichnis dargestellt: »Die Wahrheit«, so heißt es, »ist wie eine Wiese voller Blumen, von der jeder nimmt, was er mag« (Heym 2005c, S. 44). Durch die Verwendung von linguistischen Anachronismen und indirekten Anspielungen, die den ansonsten meisterhaft reproduzierten – und teilweise parodierten – biblischen Stil unterbrechen, zeichnet Heym eine Parallele zwischen der Gesellschaft des alten Israel und der Gegenwart, indem er die Fälschungen der zeitgenössischen DDR-Geschichtsschreibung sowie den Personenkult entlarvt, egal ob es sich um Stalin oder andere Figuren handelte, denen eine totalitäre Struktur unterstand. So erläutert der Autor rückblickend in Nachruf: Spaß […] macht es ihm, die Parallelen nachzuzeichnen, die er entdeckt zwischen dem Verhalten der Menschen zu Davids Zeiten und in unseren: wie die Fehden der Mächtigen untereinander vor gut dreitausend Jahren doch denen der Gegenwart gleichen, und die Beziehungen derer, die das Schwert halten, zu jenen, die den Griffel führen, und wie immer noch die Frage steht, auf welche Weise die Wahrheit zu finden und inwieweit es ratsam sei, sie auszusprechen. (Heym 1988, S. 764)
Zurück zu Ethans Aufgabe. Für das von Salomon eingesetzte Expertenkomitee soll die historisch-biblische Wahrheit einem unanfechtbaren religiösen Dogma entsprechen. So gelangt Ethan an einen heiklen Scheideweg: Entweder führt er die ihm anvertraute Aufgabe aus oder folgt er seinem Gewissen, das ihn dazu zwingt, der Wahrheit – zumindest teilweise – treu zu bleiben. Da er sich der Tatsache wohl bewusst ist, dass ihm kein Freiraum gelassen werden wird, entscheidet er sich endlich für einen Kompromiss. Mit diesen Worten wendet er sich an Salomon, um ihn zu überzeugen, dass zumindest ein Teil der Wahrheit zu verbreiten ist, da sich ansonsten die Gerüchte schnell verbreiten würden: Ich begann, indem ich erklärte, daß ich den mächtigen Herren, welche der Kommission angehören, gar dankbar sei, weil sie das Problem so säuberlich herausgeschält und darüber so scharfsinnig gesprochen hätten. Auf der Grundlage ihres Streitgesprächs, so sagte ich, hätte ich eine Liste der verschiedenen Möglichkeiten, wie man mit unbequemen Tatsachen verfahren könne, aufgestellt: (a) alles zu berichten, (b) mit Diskretion zu berichten, (c) gar nicht zu berichten. Alles zu berichten (Möglichkeit a) sei offensichtlich unweise; das Volk zöge sehr rasch die falschen Schlüsse und bildete sich ebenso rasch falsche Meinungen über Personen, die hochgeschätzt zu werden verdienten. Gar nicht zu berichten (Möglichkeit c) sei ebenso unweise; die Dinge sprächen sich doch herum, und die Leute erführen immer, was sie eigentlich nicht erfahren sollten. Damit verbliebe uns die Möglichkeit b: mit Diskretion zu berichten. Diskretion nun, sagte ich, sei keineswegs gleichzusetzen mit Lüge; der weiseste der Könige, Salomo, würde den Gebrauch von Lügen in einer Geschichte seines Vaters, König David, be-
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stimmt nie gutheißen. Diskretion sei Wahrheit gezügelt durch Weisheit. (Heym 2005c, S. 94)
Mit einem Trick, der auf der offensichtlichen Diskrepanz zwischen dem ›Gesagten‹ und dem ›Gedachten‹ beruht, plant Ethan, »ein Wörtchen hier und eine Zeile dort in den König-David-Bericht einzufügen, aus denen spätere Generationen ersehen würden, was wirklich in diesen Jahren geschah« (Heym 2005c, S. 14). Zuerst scheint Salomon zufrieden zu sein: ›Du weißt das Wort listig zu handhaben, Ethan, und die Gedanken der Menschen zu lenken, so daß mich dünkt, ich habe weise gewählt und den rechten Mann zum Redaktor des Berichts über meinen Vater, König David, gemacht‹. Ich aber dachte: War sein Vater, König David, ein großer Mörder, so ist dieser ein kleiner Halsabschneider. (Heym 2005c, S. 95)
Ethans Ziel ist es also, zumindest andeutungsweise die entmythologisierte Wahrheit, d. h. die Widersprüche sowohl bezüglich des ›autoritären‹ David als auch des größenwahnsinnigen Salomo darzustellen. Leider ist sein Vorhaben zum Scheitern verurteilt. Als Salomo Ethan entlarvt, wird ihm der Prozess gemacht: Das Urteil erklärt ihn zur ›Unperson‹. Dabei handelt es sich um einen Begriff, der sowohl im Bereich der stalinistischen Säuberungen in der Sowjetunion als auch in der DDR in Bezug auf die ›Staatsfeinde‹ verwendet wurde. Sowohl die Schmähschrift als auch der König David Bericht wurden erst 1974 dank der partiellen von Honecker eingeführten Liberalisierung veröffentlicht. In beiden Fällen haben aber die Rezensenten jeden Bezug zur direkten Gegenwart der DDR geleugnet, indem sie den König David als rein historischen Roman und die Schmähschrift als Anspielung auf die Bücherverbrennung 1933 gedeutet haben. Die DDR-Leser:innen haben aber Heyms Wink sicherlich verstanden.
Literatur Corbin-Schuffel, Anne Marie: Auf den verwickelten Pfaden der Erinnerung: autobiographische Schriften nach der Wende. In: Volker Wehdeking (Hg.): Mentalitätswandel in der deutschen Literatur zur Einheit (1990–2000). Berlin: Erich Schmidt Verlag 2000. Emmerich, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Berlin: Aufbau Verlag 20073. Heym, Stefan: Die Schmähschrift oder Königin gegen Defoe. In: Gesammelte Erzählungen. München: btb 1998, S. 195–248. Heym, Stefan: Nachruf. München: Bertelsmann 1989. Heym, Stefan: Kreuzfahrer – Der bittere Lorbeer. München: btb 2005 (2005a). Heym, Stefan: Lenz oder die Freiheit. München: btb 2005 (2005b). Heym, Stefan: Der König David Bericht. München: btb 2005 (2005c).
Konkrete und ideologische Nähe und Ferne in Stefan Heyms Leben und Werk
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Hörnigk, Therese (Hg.): Ich habe mich immer eingemischt. Erinnerungen an Stefan Heym. Berlin: Verlag für Berlin-Brandenburg 2013. Hutchinson, Peter: Stefan Heym – Dissident auf Lebzeiten. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999. Hutchinson, Peter/Zachau, Reinhard K. (Hg.): Stefan Heym: Socialist – Dissenter – Jew / Stefan Heym: Sozialist – Dissident – Jude. Bern: Lang 2003. Lindner, Doris: »Schreiben für ein besseres Deutschland«. Nationenkonzepte in der deutschen Geschichte und ihre literarische Gestaltung in den Werken Stefan Heyms. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002. Mählert, Ulrich: Kleine Geschichte der DDR. München: Beck 1998. Malinowski, Bernadette/Uhlig Ulrike (Hg.): Der Jahrhundertzeuge. Geschichtsschreibung und Geschichtsentwürfe im Werk von Stefan Heym. Würzburg: Königshausen & Neumann 2016. Tait, Mag: Taking Sides. Stefan Heym’s Historical Fiction. Bern: Lang 2001. Weissgerber, Ulrich: Giftige Worte der SED-Diktatur: Sprache als Instrument von Machtausübung und Ausgrenzung in der SBZ und der DDR. Berlin: List 2010.
Sektion 3: Treue oder Verfremdung: Textnähe und Textferne in Literatur, Übersetzung und Sprachdidaktik
Elena Raponi (Università Cattolica del Sacro Cuore, Milano)
Hofmannsthals Alkestis (1894). Zwischen Mythos und Metapher
Hofmannsthals Alkestis (1894) stellt den ersten vollendeten Versuch des österreichischen Dichters dar, die Tragödie der griechischen Antike aus der Starrheit philologischer Bühnenbearbeitungen zu lösen und für das moderne Empfinden neu zu beleben. Durch die metaphernreiche lyrische Sprache schafft Hofmannsthal ein Werk, das sich eindeutig in die künstlerischen Stilrichtungen des Fin de Siècle einreiht. Gleichzeitig bietet die neue symbolistisch gefärbte Alkestis einen wichtigen Beitrag zur zeitgenössischen Reflexion des Dichters über das Wesen von Mythos und Metapher. Hofmannsthal’s Alkestis; Rewriting Greek Tragedies; Symbolism; Myth; Metaphor.
Die »märchenhafte«1 Geschichte der Alkestis, die ihr Leben freiwillig opfert, damit ihr Gemahl weiterleben kann, und von Herakles aus Dankbarkeit für die edle Gastfreundlichkeit des Königs dem Reich des Todes entrissen und ihrem Mann Admet gleichsam als göttliches Pfand lebend zurückgebracht wird, hat seit ihrer ersten literarischen Gestaltung durch Euripides zahlreiche Schriftsteller und Schriftstellerinnen immer wieder dazu angeregt, sich schöpferisch mit dem mythischen Stoff auseinanderzusetzen.2 Dabei galt die griechische Vorlage lange Zeit als hochproblematisch. Bedenken rief unter anderem der Anschein einer gewissen Kälte in der Beziehung zwischen der sterbenden Alkestis und Admet hervor; Schwierigkeiten bereitete auch das Auftreten des Helden Herakles als genusssüchtiger Zecher sowie die mangelnde Weisheit Apolls, der für Admet das ›Privileg‹ erwirkt, dem Tod zu entfliehen, wenn sich ein anderer findet, der an seiner Statt stirbt, und dann erkennen muss, dass seinem Schützling durch das Opfer der Alkestis das Einzige genommen wird, was sein Leben lebenswert machte. Besonderen Anstoß erregte aber die Figur des Admet selbst. Dass der König von Thessalien den Menschen um sich herum die verhängnisvolle Frage überhaupt stellt und das Opfer seiner Frau annimmt, wurde als moralisch 1 Zum Mythos der Alkestis, zu seinen märchenhaften und volkskundlichen Motiven sei hier auf die grundlegende Studie von Lesky 1925 verwiesen. Vgl. auch Pattoni 2004, insbes. S. 279–280. 2 Vgl. Pattoni 2004.
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fragwürdig empfunden. Daher der Versuch moderner Alkestis-Übertragungen, – hier sei exemplarisch auf Wieland verwiesen – die Figuren des Admet und des Herakles zu entlasten und zu ›rehabilitieren‹, was aber mit tiefgreifenden Änderungen der Handlung einherging.3 Anders Hofmannsthal: Er bleibt der griechischen Vorlage inhaltlich treu und löst die angeblichen Schwächen4 des Urtextes durch kleine, oft unmerkliche Eingriffe. Gleichzeitig schafft er durch die metaphernreiche lyrische Sprache ein Werk, das sich eindeutig in die künstlerischen Stilrichtungen des Fin de siècle einreiht, meilenweit entfernt von Euripides. Doch wie der vorliegende Beitrag zeigen möchte, rückt die symbolistische Bearbeitung der Tragödie diese wieder in die Nähe des Mythos, dem Hofmannsthal bekanntlich die gleiche Funktion wie der Poesie und der Metapher zuschreibt: das Chaos zu gestalten und im Gleichnishaften des Daseins die Einheit der Welt aufleuchten zu lassen.5 In dieser Hinsicht wirkt Hofmannsthals Übertragung der griechischen Tragödie nicht nur als ein Manifest symbolistischer Poetik, in dem die Grundstimmung und die Figurenkonstellation seines Jugendoeuvres wieder durchscheint, sondern auch als ein zwischen Mythos und Metapher vermittelnder, metapoetischer Text. Denn bei Hofmannsthal wird die mythische Geschichte der Alkestis zum Gleichnis des metaphorischen Prozesses schlechthin. Hofmannsthal arbeitet im Januar und Februar 1894 an der Übertragung der Alkestis.6 Zu dieser Zeit hat er schon eine Fülle von Gedichten und die lyrischen Dramen Gestern (1891), Der Tod des Tizian (1892) und Der Tor und der Tod (1893) veröffentlicht. Auch eine Übersetzung des symbolistischen Dramas Les aveugles von Maurice Maeterlinck, die heute als verschollen gilt, hat er bereits angefertigt.7 Die eigene vielfältige dichterische Produktion begleitet Hofmannsthal mit einer reichen essayistischen Prosa, mit der er den Leser:innen die bedeutendsten 3 Vgl. Hofmannsthal 1997, SW VII, S. 219–220 und Marelli 2004. 4 Paduano erklärt z. B. die vermeintliche Kälte zwischen den Ehegatten mit dem Puritanertum der attischen Kultur und verweist dabei auf die Mechanismen der Zensur und der Substitution, die in der euripideischen Tragödie aktiviert werden (Euripides 2004: Introduzione). 5 In einem Brief vom 30. März 1922 an Alfred Roller bemerkt Hofmannsthal bezüglich einer Aufführung von Das Salzburger Große Welttheater: »Daß Gestalt da sein und daß nichts ungestaltet, Chaos, dahinter bleibe, das ist der Sinn alles Mythos.« (Hofmannsthal 1977, SW X, S. 205–206) Ähnliche Stellungnahmen findet man in früheren Jahren bei Hofmannsthal in Fülle. In einem am 17. Januar 1894 erschienenen Aufsatz über den Maler Franz Stuck, heißt es: »Indem der Künstler so die Formen ihres banalen Sinnes entkleidet, steht er wieder in seiner eigentlichen Lebensluft, ein Mythenbildner inmitten der chaotischen, namenlosen, furchtbaren, leuchtenden Wirklichkeit.« (Hofmannsthal 2015, SW XXXII, S. 116) Am 3. Mai 1895 schreibt Hofmannsthal an den Freund Edgar Karg von Bebenburg: »Ich fühle das Leben wieder sehr stark und die große Einheit aller seienden Dinge« (Hofmannsthal/Karg von Bebenburg 1966, S. 73). 6 Zur Entstehung der Alkestis vgl. Hofmannsthal 1997, SW VII, S. 203–212. 7 Vgl. Volke 1967, S. 37.
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Vertreter und Erscheinungen der neuen Tendenzen in Kunst und Literatur vorstellt und kritisch bespricht: Henri-Frédéric Amiel, Algernon Charles Swinburne, Gabriele D’Annunzio, die Maler Franz Stuck und Arnold Böcklin sind nur einige der Namen, die seine poetologische Reflexion damals beschäftigen. In einem Aufsatz Die malerische Arbeit unseres Jahrhunderts (1893) stellt Hofmannsthal der toten Gelehrsamkeit der Historienmalerei die symbolistischen Bilder von Böcklin entgegen und begrüßt sie als »einen frischen Stoß vom Morgenwind«, als das »Hereinbrechen des Modernen, des Alleinlebendigen, in die Stickluft von Ateliers, voll von antiken Gipsabgüssen, braunen Copien, drapirten Modellen und Theatermöbeln«.8 Sein Entschluss, die Alkestis des Euripides zu bearbeiten, entspringt wohl dem gleichen Wunsch: dem Historismus des 19. Jahrhunderts den Rücken zu kehren und sich von der »Gypsgriechelei der Heysezeit«9 – wie Hermann Bahr rückblickend in seine Tagebücher einträgt – abzuwenden. Um die Tragödie des Euripides aus der Starrheit philologischer Bühnenbearbeitungen zu lösen und für die moderne Sensibilität neu zu beleben10 verzichtet 8 Hofmannsthal 2015, SW XXXII, S. 98. 9 Hofmannsthal 1997, SW VII, S. 216. 10 Eine Aufzeichnung vom Januar 1894 lautet: »Vorschlag, Alkestis des Euripides zu bearbeiten, aus maskenhafter Starrheit zu lösen.« Anregungen dazu erhält der Dichter wahrscheinlich auch durch den Umgang mit Alfred von Berger, dessen Kurs »Dramaturgie der Antiken Tragiker« er im WS 1893/94 belegte (vgl. Hofmannsthal 2013, SW XXXVIII, S. 265 und die Erläuterungen dazu in Hofmannsthal 2013, SW XXXIX, S. 429 und S. 524). Bei seiner Alkestis steht aber auch Swinburnes lyrisches Drama Atalanta in Calydon (1865) Pate, mit seiner – so Hofmannsthal – »wunderbaren Verlebendigung des erstarrten Mythos, prachtvollen Gebeten und Chören« (Hofmannsthal 2015, SW XXXII, S. 72). Bereits 1891 erklärt er in einem Brief an Gustav Schwarzkopf die »Auflösung erstarrter Mythen« zur poetischen Hauptarbeit seiner Zeit (vgl. Hofmannsthal 1997, SW VII, S. 216, Anm. 69). In dieser Hinsicht muss die Bearbeitung der Alkestis als ein Beispiel für den Willen des Dichters verstanden werden, sich mit den disparatesten literarischen Überlieferungen der westlichen Kultur schöpferisch auseinanderzusetzen. Gegen das »Übergewicht der Philologen«, das »in die deutsche Cultur ein Element des Formalen, der inhaltslosen Gedankenschemen, des Anempfindens« bringe, betont Hofmannsthal das Symbolische an den alten Mythen und Traditionen als das Lebendige, das neu erweckt werden muss. Diesen Gedanken formuliert er in zahlreichen Aufzeichnungen aus dem Jahr 1893. So z. B.: »Symbolismus/Form des künstlerischen Grundtriebes, des Triebes, dem Geschaffenen die letzte Deutlichkeit, den göttlichen Hauch des Lebens, zu geben. […] Wir leben eingebohrt in die großen Reste alter Poesie (Mythus, Volkslied, Christenthum) wie die armen Winzer der Baux eingenistet in prachtvolle Ruinen, monumentale Cisternen, polychrome Kamine«; und weiter: »Wir stecken in alten Symbolen wie Borkenkäfer in der Rinde./Die Volksliedmotive bei Hopfen, Storm. […] Motiv der Rebecca am Brunnen im Parzival« (die Zitate in: Hofmannsthal 2013, SW XXXVIII, S. 237, S. 209–210 und S. 241; vgl. aber auch das Gedichtfragment Wonnen des Denkens in Hofmannsthal 1988, SW II, S. 99 und S. 355). Zum schöpferischen Umgang des Dichters mit den Werken der Antike sei hier auf Rispoli 2016, S. 66 verwiesen: »Il suo rapporto con l’antichità va […] considerato come un esempio tra gli altri di quel confronto creativo con le più disparate tradizioni, che viene condotto in tutta la sua opera.«
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Hofmannsthal auf das antike Versmaß – den jambischen Trimeter – und verwendet den modernen Blankvers. Mythologische Beinamen, antike Ortsbezeichnungen und Beschreibungen von Ritualen und Bräuchen, die den Text schwerfällig machen würden, werden vom Dichter gleichermaßen beseitigt. Ferner streicht er die traditionellen Chöre der griechischen Tragödie und ersetzt sie durch lyrische Einschübe, wie das Wechsellied der älteren und jüngeren Frauen,11 die durch eine bilderreiche und gleichzeitig unbestimmte Sprache die onirische Atmosphäre des Ganzen mitgestalten. Die langen Reden, die in »echt euripideischen scharfen Argumenten«12 den Stil der griechischen Vorlage charakterisieren, werden von Hofmannsthal drastisch zusammengestrichen. Dadurch verliert das Wortgefecht zwischen Admet und seinem Vater an Schärfe, das mit den schroffen gegenseitigen Vorwürfen der Feigheit und Selbstsucht die Figur des Admet schwer belastete. Auch der Dialog zwischen der sterbenden Alkestis und Admet wird um die längeren rhetorisch anmutenden Reflexionen gekürzt und nimmt im Gegenteil durch geringfügige, beinahe unmerkliche Änderungen – den Wechsel eines Personalpronomens, eine Interjektion bewegter Anteilnahme – einen Ton der Zartheit und ehelicher Vertrautheit an,13 den es im Urtext so nicht gibt. Die innigere, liebevolle Nähe, die die Beziehung zwischen den Figuren dieser modernisierten Alkestis gegenüber der euripideischen Vorlage auszeichnet,14 wird wiederum auf formaler Ebene durch eine bilderreiche Sprache gespiegelt, die ihrerseits Inneres und Äußeres, Göttliches und Menschliches miteinander verbindet. Die Natur wird zum Symbol innerer Seelenvorgänge: So stellt sich Admet das einst mit Fackeln und Musik angefüllte Haus nach dem Tod der Königin als »hohl und tot« vor, »ein Sarg der Lust,/Wie Früchte innen voller Moderstaub«. Und nach ihrem Hinscheiden ruft er aus: »[…] die Wiesen reden/ Von ihr, die Teiche sehnen sich nach ihr!/Die Bäume sind, als ob sie weinen wollten!«.15 Schon in diesen wenigen Beispielen werden einige der Sprachmittel 11 Vgl. Hofmannsthal 1997, SW VII, S. 22. 12 Hofmannsthal 1979, S. 501: Die ägyptische Helena (1928). 13 Vgl. Hofmannsthal 1997, SW VII, S. 16, Zeilen 29–32 und die Erläuterungen dazu auf S. 267– 268. 14 Apoll z. B. sieht in Admet nicht nur einen ›frommen‹ Mann, sondern er »gewann ihn lieb« (ebd. S. 9 und die Erläuterung dazu auf S. 258). Daher auch sein unbedachtes, weil zu ›menschliches‹ Handeln zugunsten Admets. Auch die Opferbereitschaft der Alkestis wird in der Rede Apolls dramatisiert, und gewinnt dadurch einen emotionalen Ton der liebevollen Hingabe, die in der indirekten Berichterstattung bei Euripides nicht zum Vorschein kam: Aus »Doch fand er Niemand, als die Gattin, die für ihn/Den Tod erdulden, scheiden will vom Sonnenlicht« wird »Da trat sein junges Weib lautlos vor ihn/Und sagte: ›Herr, ich sterbe gern für dich‹« (Euripides 1876, S. 3: zitiert wird aus der deutschen Übersetzung von Johann Jacob Christian Donner, die Hofmannsthal als Vorlage benutzte; Hofmannsthals Alkestis-Zitat in Hofmannsthal 1997, SW VII, S. 10). 15 Ebd., S. 19 und S. 35.
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sichtbar, die Hofmannsthals symbolistische Poetik kennzeichnen: Metaphern, Gleichnisse, die Belebung und Vermenschlichung von Naturelementen und eine onirische Syntax, die durch irreale Als-ob-Vergleichssätze die Konturen der Wirklichkeit verschwimmen lässt und die Wahrnehmung um neue seelische Nuancen steigert. Hofmannsthals erste nachweisbare Begegnung mit dem Symbolismus geht bekanntermaßen auf das Jahr 1891 zurück, als er das Buch Fragments d’un journal intime von Henri Frédéric Amiel rezensiert.16 Damals notiert sich der junge Dichter in einer leicht abgeänderten Variante Amiels berühmten Satz: »Un paysage quelconque est un état de l’âme«.17 Erst auf das Zusammentreffen mit Stefan George im Dezember 1891 folgt aber eine intensivere Beschäftigung Hofmannsthals mit der »neuen Technik«,18 die ihren vollendeten literarischen Niederschlag in den Werken der Jahre 1892–1894 finden wird, von den bereits erwähnten lyrischen Dramen Der Tod des Tizian und Der Tor und der Tod bis zu den späteren, auf den Sommer 1894 datierten Terzinen der Vergänglichkeit. Mit all diesen Dichtungen, insbesondere aber mit den Gedichten Ich lösch das Licht (Dezember 1893) und Fremdes Fühlen (Januar 1894) hat Hofmannstahls Übertragung der Alkestis nicht nur ein bis zum Verwechseln gleiches Bildmaterial gemein,19 sondern auch einen Wortschatz, der sich in jenen Jahren als Koiné des literarischen Fin de siècle etabliert. Es handelt sich um symbolträchtige offene Worte – Leben, Liebe, Abend, Tod, Früchte20 –, die eng miteinander verbunden 16 Hofmannsthal 2015, SW XXXII, S. 18–27: Das Tagebuch eines Willenskranken (Henri-Frédéric Amiel, Fragments d’un journal intime. Genf 1882). 17 So Hofmannsthal: »Symbolismus: Un paysage est un état de l’âme.« (Hofmannsthal 2013, SW XXXVIII, S. 108) In Amiels Journal intime liest man vollständig: »Un paysage quelconque est un état de l’âme, et qui lit dans tous deux est émerveillé de retrouver la similitude dans chaque détail.« (Hofmannsthal 2013, SW XXXIX, S. 303) In einer Aufzeichnung vom Juli 1892 kam Hofmannsthal erneut auf das Thema zurück: »Die neue Technik/Amiel: Tout paysage est un état de l’âme. Das heisst auch: jede Sensation findet ihren feinsten und eigensten Ausdruck nur in einem bestimmten Milieu; erste Liebe ist eine hellgrüne Frühlingslandschaft zwischen weißen Gardinen durch gesehen« (Hofmannsthal 2013, SW XXXVIII, S. 171). 18 Ebd. 19 In Fremdes Fühlen (entstanden 22. Januar 1894) liest man folgende Verse: »Zwischen Hecken tauchten Paare auf,/Verliebte, müde, dann und wann/Mit welkem Flieder geschmückt und schauten/Uns durch die Dämmerung seltsam an//Wie Menschen schauen, die ihre Welt/So trunken und traumhaft umfangen hält,/ Sie schauen auf einen als träten sie ein/Aus Dämmerung in einen grellen Schein« (Hofmannsthal 1988, SW II, S. 102). Man vergleiche sie mit Herakles’ Rede: »Weintrunkne und Verliebte, die Berauschten/Der Kypris, schaun mit solchen sonderbaren/Augen auf einen, als ob sie, aus Dämmrung/Voll Wundern, zwinkernd ins Alltäglich-Grelle/Einträten –« (Hofmannsthal 1997, SW VII, S. 31). Vgl. für weitere Entsprechungen das Gedicht Ich lösch das Licht (entstanden 19.–20. Dezember 1893) in Hofmannsthal 1988, SW II, S. 88. 20 Zum produktivsten semantischen Feld gehört z. B. das Wort ›Früchte‹, das bei Hofmannsthal abwechselnd ›Leben‹, ›Liebe‹ und ›Poesie‹ bedeutet. Verwiesen sei hier auf die jeweiligen Stellen im Tod des Tizian (1892): »Und alle Früchte, schweren Blutes, schwollen«; im Aufsatz
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sind und in immer neuen Kombinationen eine Atmosphäre, eine Stimmung, einen seelischen Zustand heraufbeschwören, den Hofmannsthal im Hinblick auf die Alkestis als »das unsäglich Wundervolle des Lebens« definiert. ›Wundervoll‹ im etymologischen Sinn des Wortes: Gemeint ist das Sich-Wundern, das Staunen über das Mysterium des Lebens, das der Tod erst vollständig zur Geltung bringe, und das Hofmannsthal in seinen Aufzeichnungen zur Alkestis mit dem griechischen Wort θαυμάζειν bezeichnet.21 Unter den vielen Bildern, von denen die hofmannsthalsche Neuschöpfung geradezu wimmelt, fällt eines besonders auf. Es kommt im Text zweimal vor, einmal als Metapher, einmal als Gleichnis, beide Male auf Alkestis bezogen. Admet verwendet es zuerst am Ende einiger Verse, in denen er der sterbenden Königin anschaulich und mit Nachdruck seine ewige Treue verspricht: »Der Gürtel und der Reif, die bleiben leer, – beteuert er untröstlich –/Leer wie mein Herz, wie meine Arme leer,/Goldfassung ohne Sinn und ohne Wert,/Daraus der Dieb den Diamanten brach!«22 Das Bild des Diamanten wird später von Herakles wiederaufgenommen. Der Halbgott, der über die Identität der Toten, die im Haus des Admet beweint wird, falsch unterrichtet ist, versucht den mürrischen, ihm widerwillig dienenden Sklaven über das Mysterium des Lebens und des Todes zu belehren. Tote – dies der Sinn seiner Rede – trügen das Wissen um das Geheimnis der Existenz in sich, in noch höherem Maße als Verliebte und – der dionysischen Charakterisierung des Herakles entsprechend23 – Weintrunkene. Denn, kämen Tote wieder, – fährt Gabriele d’Annunzio I (1893), wo es aus den Bildern der Renaissance ruft: »Wir hatten das heiße Leben; wir hatten die süßen Früchte und die Trunkenheit, die ihr nicht kennt«, und weiter: »Unter den Händen Goethe’s war sie [die Liebe] nichts als ein schöner Baum mit duftenden Blüthen und saftigen Früchten«; weiterhin in einer Notiz zur Rezension des Buches von Alfred Biese, Philosophie des Metaphorischen (1893/1894): »diese einzelnen Worte [die Metaphern] sind wohl die wirklichen Früchte des Baumes der Poesie«; schließlich im Aufsatz Eduard von Bauernfelds dramatischer Nachlass (Dezember 1893), wo Hofmannsthal klagt, Wien sei älter geworden, seitdem die Stadt keinen wirklich großen Dichter mehr gehabt habe: »Es ist, als hätten für eine Weile unsterbliche Hände gefehlt, als wäre Niemand da gewesen, die goldenen Aepfel, die jung erhalten, vom Baum zu brechen«, womit die mythische Figur des Herakles heraufbeschworen wird, der die wertvollen Früchte aus dem Garten der Hesperiden raubt (die Zitate jeweils aus: Hofmannsthal 1982, SW III, S. 44; Hofmannsthal 2015, SW XXXII, S. 99 und S. 105; ebd., S. 736; ebd., S. 111). 21 Die Notiz N1 lautet vollständig: »Grundstimmung der Alkestis: das unsäglich wundervolle des Lebens/ τό μέν ϑαυμάζειν πρῶτον καὶ μέγιστον εἶναι.« (Hofmannsthal 1997, SW VII, S. 232) 22 Ebd., S. 19. 23 Das Dionysische, das im Frühwerk Hofmannsthals vielerorts nachweisbar ist – man denke nur an seine jugendlichen Dichtungen Idylle, der Tod des Tizian und Der Tor und der Tod – trägt unmissverständlich auch nietzscheanische Züge. Hofmannsthals Nietzsche-Lektüre geht vermutlich auf das Jahr 1890 zurück (vgl. Hofmannsthal 2013, SW XXXIX, S. 289); im Mai 1891 beginnt er, Jenseits von Gut und Böse mit seinem privaten Französisch-Lehrer zu übersetzen (Hofmannsthal 2013, SW XXXVIII, S. 108); Aufzeichnungen aus dem Jahr 1894
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er fort, indem er die glückliche Wendung der Tragödie vorwegnimmt – »Sie hätten noch viel wundervollre Augen,/So vollgesogen innerlich mit Wundern, –/Mit riesenhafter Lust, mit schwarzen Flammen,/Und was noch sonst im Herzen träumt der Erde –/Wie Diamanten, die vom Licht des Tags/Dem eingeschluckten, nachts unmäßig strahlen!«24 In den Worten des Herakles ist die Figur der Alkestis nicht mehr nur das wertvolle Kleinod, dessen Admet durch den Tod mit Gewalt beraubt wurde; sie ist zu einem Symbol der tiefsten Geheimnisse des Lebens geworden. Das gleiche Bild kehrt interessanterweise noch einmal in einem Aufsatz von Hofmannsthal wieder, der im März 1894 veröffentlicht wird. Es handelt sich um die Rezension des Buches von Alfred Biese Philosophie des Metaphorischen,25 das der Dichter vermutlich in den Tagen liest, während er an der Übertragung der Alkestis arbeitet. Wie es für Hofmannsthals ›Kunst des Lesens‹26 charakteristisch ist, hinterlässt auch diese Lektüre zahlreiche Spuren in seinem Werk. In Bieses Abhandlung findet er unter anderem das Bild des Samens27 sowie das von Brot und Wein vor, die als Metaphern für den Tod der Alkestis verwendet werden.28 Gleichzeitig gibt
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zeugen weiterhin von seiner Lektüre von Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik (vgl. ebd., S. 261 und die Erläuterungen dazu in: Hofmannsthal 2013, SW XXXIX, S. 519–520). Das Dionysische in seinem Werk speist sich aber aus vielen verschiedenen Quellen, und deckt sich nie mit einem naiven, gemeinen Vitalismus. Eine moralische tiefere Instanz ist immer unüberhörbar. So wird das dionysische Bekenntnis des Herakles, als er dem mürrischen Diener seinen Sieg über den Riesen Antäus erzählt (»Bring mir mehr vom dunklen Saft der Mutter!/Im Rausch begreifst du alles, auch den Tod!/– Ich würgte einmal einen Riesen tot,/Weiß nicht mehr wo, der war der Erde Sohn/Und prahlte, durch die Sohlen ströme Kraft/Ihm auf, wie durch die Wurzeln in den Baum./Ich hob ihn in die Luft und würgt ihn dort!/Nüchterne Menschen sind wie der arme Narr,/Und zappelnd sehnen alle sich zurück/Nach ihrem Muttergrund, der Trunkenheit!«) bei Hofmannsthal durch andere Texte relativiert, ergänzt und umgedeutet. Hier sei auf einen berühmten Brief des Dichters erinnert, der am 30. Mai 1893 seinem Freund Edgar Karg von Bebenburg offenbart: »Man ist wie ein Gespenst bei hellem Tage, fremde Gedanken denken in einem, […]. Bei mir ists jetzt eine grenzenlose, heftige Sehnsucht nach Natur, […], womöglich nach Bauernleben; ich hab ein Gefühl, wie es der Antäus gehabt haben muß, der von der mütterlichen Erde seine Kraft empfing, wie ihn Hercules beim Ringen emporhob und in der Luft langsam erdrückte« (Hofmannsthal/Karg von Bebenburg 1966, S. 32). Verwiesen sei hier auch auf die Prosagedichte Geschichte der kleinen Anna und Der Riese Antäus aus dem Jahr 1893 (Hofmannsthal 1978, SW XXIX, S. 26–27, S. 231–232 und S. 275–278). Zu Hofmannsthal und Nietzsche vgl. die einschlägigen Studien von Mayer 2002; Meyer-Wendt 1973; Mommsen 1980; Niefanger 2009; Riedel 2009 und Steffen 1978. Hofmannsthal 1997, SW VII, S. 31. Hofmannsthal 2015, SW XXXII, S. 129–132. Rispoli 2021. Biese 1893, S. 4. Vgl. Hofmannsthal 1997, SW VII, S. 26: »Der schöne Leib der jungen Königin/ Ward in die Erde eingesenkt als Same«. Für »Brot und Wein« vgl. Biese 1893, S. 51. Erst in einer späteren Fassung seiner Bearbeitung ersetzt Hofmannsthal »Brot und Wein« durch das weniger eucharistisch konnotierte »Öl und Wein« (vgl. Hofmannsthal 1997, SW VII, S. 19 und die Erläuterungen dazu auf S. 271).
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ihm das Buch den Anstoß, weiter über das Wesen des Metaphorischen nachzudenken. So schreibt Hofmannsthal in seiner Besprechung von Bieses Werk: »Ich wollte, wir hätten mehr solcher Worte, die zauberhaft und furchtbar gleichsam aus dem Herzen der Dinge heraustönen […], diese Worte, in denen das tiefsinnig redende Wasser des Bergquells von Dodona in einen Diamanten zusammengepresst erscheint; denn – so schließt er – die strahlen in der trüben Schattenhaftigkeit des Daseins ein innerliches Feuer aus«.29 In der Rezension fehlt, wie man sieht, jeglicher explizite Hinweis auf Alkestis, aber der Rahmen, in den das Bild des Diamanten eingebettet ist, enthält so viele Anklänge an die Rede des Herakles, dass der Bezug unüberhörbar ist. Durch eine potenziell »unendliche Kette von Analogien«30 hat die Figur der Alkestis ihre konkrete mythische Individualität verloren, und sich allmählich in reine metaphorische Substanz verwandelt, ja in eine Metapher der Metapher. Nun geht Hofmannsthal in dem Aufsatz aber auch den umgekehrten Weg: von der Metapher zum Mythos. Denn in der Rezension schreibt er weiter, er habe von der Abhandlung des deutschen Philologen etwas anderes erwartet, eine Darstellung der »plötzlichen blitzartigen Erleuchtung, in der wir einen Augenblick lang den großen Weltzusammenhang ahnen«, eine Darstellung »dieses ganzen mystischen Vorganges, der uns die Metapher leuchtend und real hinterlässt, wie Götter in den Häusern der Sterblichen funkelnde Geschenke als Pfänder ihrer Gegenwart hinterlassen«.31 Dieses Gleichnis verweist unmissverständlich auf den Schluss der euripideischen Tragödie, als Herakles dem Admet die wieder lebendige Ehegattin als persönliches, wertvolles Geschenk anvertraut; gleichzeitig wird dadurch – wie das Bild der Alkestis im Kleinen – der märchenhafte Mythos »im Ganzen und Grossen«32 zum Symbol des metaphorischen Prozesses restlos umfunktioniert.33
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Christliche Anklänge findet man auch an anderen Stellen im Text, sowohl auf Alkestis als auch auf Herakles bezogen: Bei Erscheinung des Herakles ruft z. B. »ein sehr alter Mann« aus: »So hab ich noch den Herakles gesehn,/Bevor ich starb, und kann im Schattenland/Davon erzählen, wenn mich einer fragt!« (ebd., S. 23), was an die Worte des alten Simeon bei der Darstellung Jesu im Tempel erinnert. Hofmannsthal 2015, SW XXXII, S. 130. Rispoli 2014, S. 161. Hofmannsthal 2015, SW XXXII, S. 131. In der Abhandlung von Biese liest man folgendes Zitat aus Dilthey: »Das Bild ist nur Abbreviatur dessen, was die Dichtung im Ganzen und Großen ist.« (Biese 1893, S. 15) Die besonders ergiebige Biegsamkeit, die der Alkestis-Mythos im bildhaften Denken Hofmannsthals aufweist, zeigt sich auch in der späteren (1898?) allegorischen Lektüre des euripideischen Dramas: »Alkestis des Euripides/allegorischer Sinn: junge Ideale schwinden uns aus dem Sinn wie Todte, dann bringt sie ein starker genialer Gott aus den Armen des Todes zurück und legt sie vor uns hin; wir sind bewegt, die Fremde scheint uns an eine geliebte Todte zu erinnern und wir können nicht fassen das sie es selbst ist.« (Hofmannsthal 1997, SW VII, S. 245)
Hofmannsthals Alkestis (1894). Zwischen Mythos und Metapher
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Nur noch eine Schlussbemerkung: Die Übertragung der Alkestis steht beispielhaft für Hofmannsthals symbolistische Poetik und für die Tendenz seines Frühwerks, im Gleichnishaften den zarten Zusammenhang des Daseins zu erahnen.34 Doch enthält der Text auch eine moralische Instanz, die der Auflösung des ›Principium individuationis‹ entgegenwirkt. Ist die Figur der Alkestis bei Hofmannsthal repräsentativ für das ästhetische und, durch ihre maßlose Hingabe, auch moralische Verwischen der Grenzen, die zwischen einzelnen Wesen bestehen, so stellt Admet durch seine Entscheidung, Herakles würdig zu empfangen, jene Achtung vor den Grenzen wieder her: Indem er persönlich Verantwortung übernimmt, überwindet Admet sein früheres egoistisch sensitives Dasein,35 das ihn dazu geführt hatte, seinen Mitmenschen die verhängnisvolle Frage zu stellen und somit die zu bewahrende Distanz zwischen sich und ihnen freventlich zu verletzen. Sein Schicksal und seine ›Heilung‹ stellen ihn somit in eine Reihe mit zahlreichen Gestalten von Hofmannsthals Jugendoeuvre, wie z. B. Claudio im lyrischen Drama Der Tor und der Tod. Auch von ihm heißt es nicht zufällig, er habe »beim Vorübergehen seiner lebendigen Todten« – der Mutter, der Geliebten und des Freundes – »das ϑαυμάζειν, wobei man plötzlich über die ganze Existenz staunt«.36 Selbst die Lebensregel, »übe stets Gerechtigkeit«, die Herakles zum Schluss König Admet mit auf den Weg gibt, durchläuft – mag sie auch eine bereits bei Euripides vorhandene Anregung aufgreifen –37 Hofmannsthals Gesamtwerk als ein Leitmotiv.38 Aber gerade mit dieser Schluss- und Schlüsselszene seines ›Trauerspiels nach Euripides‹ – so heißt ab 1911 die Übertragung der Alkestis – ist Hofmannsthal unzufrieden, und er betrachtet sie lange Zeit als der Revision bedürftig.39 Tatsächlich folgt Hofmannsthal hier der 34 Eine Notiz, die auf die Rezension des Buches von Biese zurückgeht, lautet: »Im Finden von Metaphern liegt ein fortwährendes Ahnen des großen Weltzusammenhangs, man fühlt den Schauer der Idee durch, es ist eine der mystischen Wonnen der Kunst« (Hofmannsthal 2015, SW XXXII, S. 736, Varianten, N1). 35 Der Ausdruck findet sich bei Hofmannsthal in einer Aufzeichnung aus dem Jahr 1893 mit Bezug auf die Figur des Protagonisten von D’Annunzios Roman L’innocente (Hofmannsthal 2013, SW XXXVIII, S. 223). Hinweise auf eine leichtlebige Existenz des Admet vor dem Tod der Alkestis sind schon bei Euripides vorhanden. Hofmannsthal weist mit folgenden Worten darauf hin: »Sonst war mein Haus mit Fackeln, Flötenschall/Und Blumenkränzen tönend angefüllt,/Und seine Fugen bebten von Musik!« (Hofmannsthal 1997, SW VII, S. 19). Er arbeitet die Charakterisierung des Admet als modernen Dilettanten konsequent aus (vgl. Admets Monolog ebd., S. 34, Zeilen 11–20, und Claudios Monolog in Hofmannsthal 1982, SW III, S. 69). 36 Ebd., S. 436. 37 Vgl. Euripides 1876, p. 52: »[…] übe stets/Gerechtigkeit, Admetos, sei den Fremden hold!«. Hofmannsthal erweitert und variiert die Aufforderung des Herakles durch ein in der Fin-desiècle-Dichtung beliebtes Bild: »Und, König, übe stets Gerechtigkeit:/Wie der Granatapfel die vielen Kerne/Hält die in sich die Keime alles Guten« (Hofmannsthal 1997, SW VII, S. 41–42). 38 Vgl. insbes. das Prosagedicht 5: Gerechtigkeit (Hofmannsthal 1978, SW XXIX, S. 228–230). 39 Vgl. Hofmannsthal 1997, SW VII, S. 205–206.
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Elena Raponi
griechischen Vorlage ausnahmsweise sehr eng: Er behält die langen Stichomythien des letzten Dialogs zwischen Herakles und Admet fast wörtlich bei. Was den Dichter aber nachdenklich stimmt, werden nicht nur formale Elemente gewesen sein. Das Schweigen der Alkestis nach ihrer Rückkehr aus dem Reich des Todes, das Ungesagte zwischen ihr und Admet muss ihm als ein zu billiger Ausgang erschienen sein. Hofmannsthal findet damals aber offensichtlich keine passende Lösung. Erst viele Jahre später wird der Dichter in einer ähnlichen Situation tiefer in den euripideischen Mythos eingreifen, um eine künstlerisch und menschlich befriedigendere Antwort auf die Frage zu suchen, »was Furchtbares und schließlich Sühnendes zwischen beiden vorgefallen sein könne«.40
Literatur Primärliteratur Hofmannsthal, Hugo von: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe [= SW]. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Hg. von Rudolf Hirsch et al., Frankfurt a.M.: Fischer 1975– 2022. SW I: Gedichte 1. Hg. von Eugene Weber. 1984. SW II: Gedichte 2. Aus dem Nachlass hg. von Andreas Thomasberger/Eugene Weber. 1988. SW III: Dramen 1. Hg. von Götz Eberhard Hübner/Klaus-Gerhard Pott/Christoph Michel. 1982. SW VII: Dramen 5. Hg. von Klaus E. Bohnenkamp/Mathias Mayer. 1997. SW X: Dramen 8. Hg. von Hans-Harro Lendner/Hans-Georg Dewitz. 1977. SW XXIX: Erzählungen 2. Aus dem Nachlass hg. von Ellen Ritter. 1978. SW XXXII: Reden und Aufsätze 1. Hg. von Hans-Georg Dewitz/Olivia Varwig/Mathias Mayer/Ursula Renner/Johannes Barth. 2015. SW XXXVIII: Aufzeichnungen. Text. Hg. von Rudolf Hirsch und Ellen Ritter in Zusammenarbeit mit Konrad Heumann und Peter Michael Braunwarth. 2013. SW XXXIX: Aufzeichnungen. Erläuterungen. Hg. von Rudolf Hirsch und Ellen Ritter in Zusammenarbeit mit Konrad Heumann und Peter Michael Braunwarth. 2013. Hofmannsthal, Hugo von: ›Die ägyptische Helena (1928)‹. In: Hofmannsthal, Hugo von: Dramen V. Operndichtungen. Hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a.M.: Fischer 1979, S. 498–512 [Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden 5]. Hofmannsthal, Hugo von – Karg von Bebenburg, Edgar: Briefwechsel. Hg. von Mary E. Gilbert. Frankfurt a.M.: Fischer 1966.
40 Hofmannsthal 1979, S. 502: »Die ägyptische Helena (1928)«.
Hofmannsthals Alkestis (1894). Zwischen Mythos und Metapher
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Sekundärliteratur Biese, Alfred: Die Philosophie des Metaphorischen in Grundlinien dargestellt, Hamburg/ Leipzig: Voss 1893. Euripides: Alkestis. In: Euripides. Deutsch in den Versmaßen der Urschrift von Johann Jacob Christian Donner. Band II. Leipzig/Heidelberg: Winter 31876, S. 1–55. Euripides: Alcesti. Introduzione, traduzione e note di Guido Paduano. Milano: BUR 82004. Lesky, Albin: Alkestis. Der Mythus und das Drama. In: »Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften in Wien« 203, 1925/2, S. 1–86. Marelli, Cesare: »Costretto ad abbellire Alcesti«: Christoph Martin Wieland tra Euripide e Goethe. In: Pattoni, Maria Pia/Carpani, Roberta (Hg.): Sacrifici al femminile. Alcesti in scena da Euripide a Raboni. In: »Comunicazioni sociali. Rivista di media, spettacolo e studi culturali« 2004/3, S. 451–460. Mayer, Mathias: Die Rhetorik der Lüge. Beobachtungen zu Nietzsche und Hofmannsthal. In: Lubkoll, Christine (Hg.): Das Imaginäre des Fin de siècle. Ein Symposion für Gerhard Neumann. Freiburg i.Br.: Rombach 2002, S. 43–63. Meyer-Wendt, Hans Jürgen: Der frühe Hofmannsthal und die Gedankenwelt Nietzsches. Heidelberg: Quelle&Meyer 1973. Mommsen, Katharina: Loris und Nietzsche. Hofmannsthals »Gestern« und frühe Gedichte in neuer Sicht. In: »German Life and Letters« 1980/34, S. 49–63. Niefanger, Dirk: Nietzsche-Lektüren in der Wiener Moderne. In: Valk, Thorsten (Hg.): Friedrich Nietzsche und die Literatur der Klassischen Moderne. Berlin/New York: De Gruyter 2009, S. 41–54. Paduano, Guido: L’unità dell’»Alcesti« e la doppia ricezione. In: Pattoni, Maria Pia/Carpani, Roberta (Hg.): Sacrifici al femminile. Alcesti in scena da Euripide a Raboni. In: »Comunicazioni sociali. Rivista di media, spettacolo e studi culturali« 2004/3, S. 343–359. Pattoni, Maria Pia/Carpani, Roberta (Hg.): Sacrifici al femminile. Alcesti in scena da Euripide a Raboni. In: »Comunicazioni sociali. Rivista di media, spettacolo e studi culturali« 2004/3. Pattoni, Maria Pia: Le metamorfosi di Alcesti. Dall’archetipo alle sue rivisitazioni. In: Pattoni, Maria Pia/Carpani, Roberta (Hg.): Sacrifici al femminile. In: »Comunicazioni sociali. Rivista di media, spettacolo e studi culturali« 2004/3, S. 279–300. Riedel, Manfred: Im Zwiegespräch mit Nietzsche und Goethe. Weimarische Klassik und klassische Moderne. Tübingen: Mohr Siebeck 2009. Rispoli, Marco: Venedig. Weg vom festen Land, il faut glisser. In: Hemecker, Wilhelm/ Heumann, Konrad (Hg. in Zusammenarbeit mit Bamberg, Claudia): Hofmannsthal. Orte. 20 biographische Erkundungen. Wien 2014, S. 156–175. Rispoli, Marco: Il ricordo di un ricordo. Nota sul viaggio in Grecia di Hofmannsthal. In: »ACME« 2016/2, S. 65–75. Rispoli, Marco: Hofmannsthal und die Kunst des Lesens. Zur essayistischen Prosa. Göttingen 2021. Steffen, Hans: Hofmannsthal und Nietzsche. In: Hillebrand, Bruno (Hg.): Nietzsche und die deutsche Literatur. Bd. 2. München: Niemeyer 1978, S. 4–11. Volke, Werner: Hugo von Hofmannsthal: mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1967.
Federica Rocchi (Università di Perugia)
»Zeit ist Trug und Jahre rannen«. Karl Wolfskehl – Übersetzer im Exil
Der deutsch-jüdische Dichter Karl Wolfskehl wird in diesem Beitrag als Übersetzer im Exil dargestellt. Wolfskehls Übertragung des Gedichts von Lorenzo de’ Medici aus dem Italienischen, Triumphzug des Bacchus und der Ariadne (Il trionfo di Bacco e Arianna), entsteht zwischen den Jahren 1935 und 1936, und zwar zur Zeit seines Exils in Italien. Ziel dieses Beitrags ist, die Kategorien der Ferne und der Nähe im Rahmen der Ausgangstextgebundenheit und des deutsch-italienischen Kulturtransfers zu analysieren. Es wird dadurch bewiesen, wie die Poetik des Dichters sein Übersetzungsverfahren prägt, und insbesondere, wie sich seine italienische Exilerfahrung darauf auswirkt. Karl Wolfskehl; Lorenzo de’ Medici; Cross-cultural; Exile; Translation.
1.
Karl Wolfskehl: der Übersetzer
Die literarische Identität der Exilautor:innen entwickelt sich durch die Dekonstruktion und Rekonstruktion ihrer nationalen Identität (Spies 2004, S. 50–75), die aufgrund der Emigration von Phänomenen der Deplatzierung geprägt ist. Unter den deutsch-jüdischen Intellektuellen, die ab 1933 aus Deutschland auswandern, finden sich auch Schriftsteller:innen, die Italien als Zufluchtsort erreichen. In Florenz, einer Stadt, die seit dem 18. Jahrhundert eine hohe Anziehung auf die deutsche Kulturwelt ausübt, finden sich in den dreißiger Jahren der Verleger Kurt Wolff und Autoren wie Rudolf Borchardt, Walter Hasenclever, Alfred Neumann und Karl Wolfskehl wieder. Ab 1933 beginnt für Karl Wolfskehl, Mitglied des George-Kreises, der Weg ins Exil, der ihn in die Schweiz, nach Italien und schließlich nach Neuseeland führt. Während der Emigration bildet sich in Wolfskehl eine kosmopolitische literarische Identität, die er selbst in seinem Gedichtzyklus Mittelmeer oder Die Fünf Fenster (1950) »jüdisch, römisch und deutsch zugleich« definiert (Wolfskehl 1960a, S. 191, Franke 2006). Im Mittelpunkt dieser Phase seiner literarischen Produktion stehen Gedichtsammlungen, wie Die Stimme spricht (1934) und Hiob oder Die Vier Spiegel (1950) sowie das Gedicht An die Deutschen (1935). Heterogene literarische Traditionen beeinflussen die poetische Produktion Wolfs-
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Federica Rocchi
kehls, der sich auch in die Debatte über die sogenannte »deutsch-jüdische Symbiose« einschaltet (Brumlik 2019, Di Taranto 2019). Deutschtum und Judentum nähern sich in seinen Exilwerken aber auch in seinen Übersetzungen einander an. Die Exilerfahrung ist für Wolfskehl die Phase des Studiums der jüdischen Literatur, in Kooperation mit dem jüdischen Verleger Salman Schocken (Voit 2005, S. 197). Schon ab den zwanziger Jahren zeigt sich Karl Wolfskehl als sehr aktiver literarischer Übersetzer mit einer Vorliebe für die poetische Gattung, wie die große Reihe von Übertragungen aus dem Englischen, Niederländischen, Hebräischen und Italienischen zeigt (Wolfskehl 1960b).1 Es geht aber nicht nur um Übersetzungen aus Fremdsprachen im Schaffen Wolfskehls. Ein großer Teil seiner Übertragungen, die in der Sammlung Älteste Deutsche Dichtungen erscheinen, besteht aus Modernisierungen von Texten, die zu den Klassikern der deutschen Literatur zählen – von den Merseburger Zaubersprüchen bis hin zu den Minnesängern (Wolfskehl 1960b, S. 8–140). Zehn Jahre nach der Veröffentlichung der Sammlung Älteste deutsche Dichtungen beginnt Wolfskehl seine Auseinandersetzung mit italienischen Texten und im Jahr 1924 übersetzt er Lorenzo da Pontes Libretto für Mozarts Opera Buffa Le nozze di Figaro (1786) ins Deutsche.2 Eine Passage seiner Wiedergabe der berühmten neunten Arie Non più andrai farfallone amoroso (I, 8) lautet folgendermaßen: Lorenzo Da Ponte, Le nozze di Figaro
Karl Wolfskehl, Hochzeit des Figaro
Non più andrai, farfallone amoroso, notte e giorno d’intorno girando, delle belle turbando il riposo, Narcisetto, Adoncino d’amor. Non più avrai questi bei pennacchini, quel cappello leggero e galante, quella chioma, quell’aria brillante, quel vermiglio, donnesco color (Da Ponte 1988, 426)
Nun ist’s aus falterhaft, liebeslohend Früh und spät überall hinzuschwärmen, Aller Frauen Gewissen bedrohend, Ein narzissisch adonischer Tor. Lass zu Haus alles, lass Band und Litzen, Lass das Hütchen, die feine Verschnürung, Lass die Löckchen, des Lächelns Verführung Auf der Wängelein rosigem Flor (Wolfskehl 1974, S. 27–28)
Die Vorliebe für die gesungenen Verse und für das Musiktheater führt 1932 zu seiner deutschen Version von Rossinis komischer Oper Il signor Bruschino o Il figlio per azzardo (Voit 2005, S. 65). Wolfskehls Auseinandersetzung mit dem Ton der Bacchanale ist sowohl anhand dieser ersten Übersetzungsversuche als auch der späteren Übertragung von
1 Das Übersetzen zählt auch zu Wolfskehls Verdienstquellen, vgl. Voit 2005, S. 65. 2 Wolfskehls Version entsteht als »rezitative und szenische Einrichtung nach der Übersetzung von Karl Dietrich Gräwe«. Wolfskehl 1974, S. 4.
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Lorenzo de’ Medicis Trionfo di Bacco e Arianna (Canzona di Bacco) (1936) nachweisbar. Nach der Abfassung des Figaro folgt einige Jahre später die Übertragung eines toskanischen Trinkspruches aus dem 17. Jahrhundert von Francesco Redi, Bacco in Toscana: Francesco Redi, Bacco in Toscana
Karl Wolfskehl, Brindisi (Trinksprüche), III
[…] Su su, dunque, in questo sangue Rinnoviam l’arterie e i musculi; E per chi s’invecchia e langue Prepariam vetri maiusculi: Ed in festa baldanzosa Tra gli scherzi e tra le risa Lasciam pur, lasciam passare Lui, che in numeri e in misure Si ravvolge e si consuma, E quaggiù Tempo si chiama; E bevendo, e ribevendo I pensier mandiamo in bando (Redi 1821, S. 2)
[…] Auf! Erwachet ihr Camoenen, Brindisi will in uns tönen, Auf! Man lache, auf! Man leime Doch nur reine nette Reime! Auf mit Schlücken, mit gewaltigen, Nerv und Muskeln stärkt, die spaltigen! So mit Trinken, Singen, Schwanken, Scheuchen wir die Nachtgedanken. Und vor allem muss der Zecher Selber kränzen seinen Becher, Geb als Lohn gelungner Feste Auch sein Brindisi aufs Beste! (Wolfskehl 1960b, S. 149–150).
Wolfskehls Intention, die formalen Aspekte der dichterisch-musikalischen Gattung zu bewahren, wird in den oben genannten Übersetzungen besonders deutlich. Er versucht, den Ton und die Musikalität des italienischen Trinkspruches in die deutsche Version zu übertragen. Besonders aus der musikalischen Perspektive ist eine gewisse Nähe der Übersetzung zum Original zu bemerken. Wolfskehls Figaro verrät sein Vorhaben, ein Libretto zu verfassen, dessen performative Aspekte im Mittelpunkt stehen, zusammen mit einer besonderen semantischen Adäquatheit in Bezug auf die Zielsprache. Folgendes behauptet nämlich der Übersetzer selbst in seiner Einführung zum Text, Eine neue FigaroÜbersetzung: Nur im Vorbeigehen streife ich, dass die eigentliche selbstverständliche, wenn auch von keiner der bisherigen Übersetzungen beachtete musikalische Figurierung, in der Wiederholung, Zerteilung, Umstellung von Halb- oder Ganzversen oder einzelnen Worten genau wiedergegeben ist, die Musik also auch in dieser Beziehung ganz so zum Deutschen sich verhält wie zum italienischen Urtext (Wolfskehl 1974, S. 5).
Mozart habe beim Komponieren sich »sehr eng an das Wort gehalten«, behauptet Wolfskehl, der in dieser Hinsicht immerhin versucht, sowohl der Zielsprache als auch der Musikalität treu zu bleiben (ebd.). Ohne relevante semantische Änderungen gelingt es dem Übersetzer, das originale Reimschema des Librettos zu übertragen, in dem Paarreime und Kreuzreime aufeinander folgen:
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Federica Rocchi
Le nozze di Figaro (I, 8)
Hochzeit des Figaro (I, 8)
[…] ed invece del fandango, una marcia per il fango. Per montagne, per valloni, con le nevi e i sollïoni, al concerto di tromboni, di bombarde, di cannoni, che le palle in tutti i tuoni all’orecchio fan fischiar. Cherubino, alla vittoria! Alla gloria militar! (Da Ponte 1988, S. 426)
Und statt zarter Sarabande Geht der Mensch durch schlamm’ge Lande. Kommst in kalt und heisse Zonen, Schluchten, wo die Wölfe wohnen, Zur Musik der Millionen Donnerbüchsen und Kanonen. Der Gesang der blauen Bohnen, Der Dir um die Ohren kracht. Cherubino, auf zum Siege, Ring um Ruhm in heisser Schlacht! (Wolfskehl 1974, S. 28)
Ein Ziel, nach welchem Wolfskehl ständig strebt, ist die Adaptierung seiner Fassungen an eine moderne Zielsprache. »Diese Verse haben für unser Ohr keinen rechten Klang mehr. Ich muss sie erst zu sich selber bringen. Es steckt alles darin, man muss es nur herausholen«, berichtet er, als er, bereits in Neuseeland angekommen, an der Übersetzung von Byrons Hebrew Melodies arbeitet (Ruben 1959, S. 392, Grimm 1973, passim, Ferron 2021, S. 245–246). Wolfskehls Interesse an europäischen Literaturen, darunter die englische, die französische, die holländische und die italienische, enthüllen seinen Kosmopolitismus und seine Fähigkeit, sein Netzwerk im Exil weiter auszubauen.3 Das Verhältnis Wolfskehls zu der Sprache und Literatur des Judentums scheint jedoch tiefgründiger zu sein, weil es sich um die Kultur seines Volkes handelt. Im italienischen Exil wird sein Verhältnis zur jüdischen Literatur noch inniger: aus Wolfskehls Freundschaft und literarischer Zusammenarbeit mit dem florentinischen Hebraisten und Rabbiner Isaiah Sonne entstehen Gedichtübersetzungen (Wolfskehl 1959, S. 157). Es handelt sich um Texte aus der mittelalterlichen jüdischen Literatur, zum Beispiel die Werke des Dichters Jehuda Halevi. Karl Wolfskehl schätzt überdies Isaiah Sonne als Intellektuellen und Lehrer und definiert dank dieser Freundschaft seine italienische Exilerfahrung als »nicht lichtlos« (ebd.). Zu einer solchen positiven Wahrnehmung der Exilzeit in Italien trägt aber auch die Fortsetzung seiner literarischen und übersetzerischen Tätigkeit bei. Einige Briefe aus diesem Kontext enthüllen Überlegungen hinsichtlich der Übersetzung per se (ebd., Wolfskehl 1959, S. 395). »Karl Wolfskehl war ein antiker Mensch, ein mediterraner Mensch. Als ein solcher trieb es ihn stets, sich nach außen zu verwirklichen« berichtet seine Sekretärin und Begleiterin im italienischen und neuseeländischen Exil, Margot Ruben (Ruben 1959, S. 392). Wolfskehls Poetik und die »Züge seines Judentums« 3 Bei den Übersetzungen aus dem Holländischen handelt es sich um einige Gedichte seines Freundes Albert Verwey, ebenso Mitglied des George-Kreises. Wolfskehl überträgt sein Gedicht Juden. Wolfskehl 1959, S. 177, Conterno 2020, S. 194.
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entwickeln sich außerhalb des George-Kreises, und zwar in der Emigration (Brumlik 2019, S. 20). Seine tiefe Kenntnis der klassischen und europäischen Literaturen und sein starkes Interesse an der Übertragung von alten Texten verstärken sich im Laufe seiner Exilerfahrung. Seine doppelte Perspektive, als Übersetzer und als übersetzter Autor, beeinflusst seine Auffassung von der Aufgabe der Übersetzer:innen (Voit 2005, S. 514ff.).
2.
Trionfo und Triumphzug
Die Annäherung der emigrierten Intellektuellen an die Kultur des Zufluchtsortes führt sie zu einer Selbstidentifizierung mit anderen Dichter:innen, die ebenso Exilant:innen waren. In der Auseinandersetzung mit der italienischen Literatur, spielt Wolfskehls Studium von Dante Alighieri eine entscheidende Rolle. So fühlt sich der Dichter als »exul immeritus« (Ruben 1983, S. 60) indem er auf Dantes Epistola II an Oberto und Guido de Romena anspielt (Alighieri 2016, S. 74). Diese Behauptung verweist nicht nur auf seine Selbstwahrnehmung als Exilant (aber auch als Exildichter), sondern auch auf seine Annäherung an die italienische Kultur. Die Übersetzungskunst, mit welcher Wolfskehl auch theoretisch konfrontiert ist, spielt in dieser Hinsicht eine entscheidende Rolle. 1909 drückt Wolfskehl in seinem Aufsatz Über die Erneuerung dichterischen Erbguts seine Grundprinzipien in Hinblick auf die Übersetzung aus, und zwar anlässlich der Veröffentlichung seiner ersten Übersetzungen. Der Autor selbst beschreibt das Übersetzungsverfahren durch die Polarisierung der Kategorien Ferne und Nähe, was besonders für seine literarische Tätigkeit im Exil gelten könnte: Jede wahrhaft dichterische Übertragung aber arbeitet mit dem was sie hat, mit den gegenwärtig vorhandenen, steigerbaren, freilich vertiefbaren Sprachmitteln, denn nur aus dem Lebendigen entsteht Leben. […] Eben die Fern-Nähe unseres Sprachschatzes nach Gehalt und Gestaltigkeit verbietet jeglichen Schematismus, zerbricht jedes festgelegte Fordern. In einem Falle sind die Nachrechenbarkeit und die genaue Wiedergabe von Sinn, Wortstellung, Silbenzahl möglich, also Gebot, ein andermal wird Freiheit, ja scheinbares Paraphrasieren (niemals freilich Willkür oder Deutung!) dichterische Gewissenspflicht. (Wolfskehl 1960b, S. 10)
Darüber hinaus preist er die Übersetzungskunst und die Rolle des Übersetzers in einem anderen Aufsatz, Von Sinn und Rang des Übersetzens (1926): »Treue und Richtigkeit einer deutschen Übersetzung werden nicht wie bei den erstarrten oder den unentwickelten oder den zerpflückten Sprachen durch die Grenzen des Materials bestimmt. Die Güte einer Übersetzung richtet sich bei uns lediglich nach Wert und Adel dessen, der sie schuf« (Wolfskehl 1999, S: 49).
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Federica Rocchi
Die Übersetzung ist ein transkultureller Prozess par excellence, wie KlausDieter Krohn sie definiert hat, und erweist sich als besonders prägnant, wenn die Auseinandersetzung mit einer ausländischen Kultur nicht nur literarisch, sondern auch persönlich erlebt wird (Krohn 2008, S. XI). Egal, ob sie Italien als jüdische Flüchtlinge oder als einfache Besucher:innen erreichen, befassen sich verschiedene deutschsprachige Autor:innen mit der Übertragung literarischer italienischer Texte ins Deutsche. Unter den nach Florenz ausgewanderten Dichtern sind daher auch Übersetzer wie Max Krell, Alfred Neumann und Rudolf Borchardt, der zwanzig Jahre lang an seiner Dantes Commedia Deutsch arbeitet (Borchardt 1967). Borchardt entscheidet sich, Dantes Verse ins mittelalterliche Deutsch zu übertragen, und sich damit sprachlich und stilistisch ans Original anzunähern. Wolfskehl beschäftigt sich mit der Übersetzung auch in Kooperation mit anderen Intellektuellen, was auf sein weites literarisches und freundschaftliches Netzwerk hinweist. Die Übersetzung von mittelalterlichen Texten von Jehuda Halevi unter Mitarbeit von Rav Isaiah Sonne »entspricht dem Geist einer Freundschaft« (Voit 2005, S. 135), ebenso auch Wolfskehls Version von Lorenzo de’ Medicis Triumphzug des Bacchus und der Ariadne. Das Gedicht widmet Wolfskehl zwei befreundeten Personen, die er 1934 in der toskanischen Hauptstadt wiedertrifft: dem Buchsammler Kurt von Faber du Faur und dessen Frau Emma. Ihnen fühlt sich der Dichter immer verbunden, auch wenn er seinen Freund nicht mehr sehen und ihm nur Briefe schreiben kann (Wolfskehl 1959, S. 32, 42). Karl Wolfskehl, ebenso Bibliophiler wie Kurt von Faber du Faur, schenkt ihm ein übersetztes Gedicht, das der Kultur Italiens, und zwar der Zufluchtsstadt Florenz, gewidmet ist. Il trionfo di Bacco e Arianna oder Canzona di Bacco stammt von einem der wichtigsten politischen Vertreter der florentinischen Renaissance: Lorenzo de’ Medici. Unter Verwendung mythologischer Figuren der dionysischen Sphäre besingt Lorenzo de’ Medici die Unsicherheit der Zukunft und die Vergänglichkeit der Zeit, preist damit die Jugend und den Frohsinn und fordert zum Genuss des Lebens auf. Diese Hymne an die Jugend zirkuliert bereits als »Karnevalsgesang« im deutschsprachigen Raum, wie die deutsche Version in der Opera Buffa Dürer in Venedig (1899) des Komponisten Waldemar von Baußern beweist. Verfasser des Librettos ist der Schriftsteller Adolf Bartels (1862–1945), der Lorenzos Gedicht im Finale des zweiten Aktes seiner Oper verwendet (Bartels 1898, S. 32). 1935 erscheint außerdem ein Zitat aus Lorenzos Trionfo – in derselben Version von Bartels – in der deutschen Zeitschrift »Italien Post«, deren allgemeine Adressaten Deutsche sind, die sich – die meisten in den Dreißigerjahren nun als Flüchtlinge – in Italien aufhalten. Der entsprechende Artikel Wieso nach Florenz?
»Zeit ist Trug und Jahre rannen«. Karl Wolfskehl – Übersetzer im Exil
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dient jedoch dem Zweck, den Tourismus in der Toskana zu fördern (Voigt 1987, S. 177): Warum soll man nach Florenz reisen? Weil in der Atmosphäre etwas flutet, das die Sorgen vergessen macht, das eine wohltätig umstimmende Wirkung auf Körper und Geist ausübt. Noch immer, immer etwas von der freien geistigen Heiterkeit, der Unbeschwertheit der Künstler, die zur Medicäerzeit den Florentinern ihre Maskenzüge entwarfen. Noch immer scheint irgendwo zu summen und zu singen Lorenzo dei Medicis Karnevalsgesang: Quant’è bella giovinezza, Che si fugge tuttavia! Chi vuol esser lieto, sia, Di doman non c’è certezza. Oh wie schön ist doch die Jugend, Die uns täglich mehr entschwebt Drum ist Frohsinn heute Tugend Und wer weiß, wer morgen lebt. (Leppmann 1935, S. 1)
Lorenzo de’ Medicis Zitat fungiert im oben genannten Kontext als Verherrlichung der Stadt Florenz und ihrer Region. Die Beschreibung der Sehenswürdigkeiten Italiens befindet sich übrigens unter den wenigen möglichen Themen, die das faschistische Regime einer ausländischen Zeitung erlaubte. Diese Version scheint im Vergleich zu derjenigen von Wolfskehl dem Ton der Bacchanalien näher zu sein. In seinem kurzen Kommentar zu Wolfskehls Triumphzug beobachtet Guido Luzzatto einige subtile Änderungen in semantischen Nuancen, die diese Übersetzung besonders prägen. Nach einer wörtlichen Analyse geht er davon aus, dass Karl Wolfskehl den frohlichen Charakter des Gedichts schwäche (Ferron 2021, S. 244). Der Dichter vermeidet nämlich das Wort Frohsinn, das an den Ton eines Karnevalsgesangs erinnern würde: »Il componimento di Lorenzo il Magnifico ha perduto le ali, ha perduto lo squillo della gaiezza« kommentiert Luzzatto (Luzzatto 1975, S. 455).4 Des Weiteren beschreibt er diese Version wie folgt: »un mirabile componimento poetico che riesce a trasformare in riflessi oscuri le tinte accese e smaglianti dell’inno spensierato del Rinascimento fiorentino« (ebd.).5 »Die Jahre rannen«, so schreibt Karl Wolfskehl, der zur Zeit der Entstehung dieser Übersetzung bereits im Alter von 67 Jahren ist und nun die Zeit der Jugend als fern wahrnimmt:
4 [Lorenzo il Magnificos Gedicht hat seine ›Flügel‹ und den Klang des Frohsinns verloren] (eigene Übersetzung). 5 [Ein wunderbares Gedicht, das die heitere und gedankenlose Hymne der Florentiner Renaissance in dunkle Reflexe verwandelt] (eigene Übersetzung).
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Federica Rocchi
Lorenzo de’ Medici, Canzona di Bacco
Karl Wolfskehl, Triumphzug des Bacchus und der Ariadne
Quest’è Bacco e Arianna, belli, e l’un dell’altro ardenti: perché ’l tempo fugge e inganna, sempre insieme stan contenti. Queste ninfe ed altre genti sono allegre tuttavia. Chi vuol esser lieto, sia: di doman non c’è certezza (Medici 1970, S. 583)
Hier ist Bacchus mit Ariannen, Beide schön und so verschossen. Zeit ist Trug und Jahre rannen, Doch die zwei sind unverdrossen. Nymphenscharen samt Genossen Sind vergnüglich alleweile. Willst du froh sein, sei’s und eile, Denn das Morgen ist nicht sicher (Wolfskehl 1960b, S. 170)
Wolfskehl meidet auch einige Ausrufezeichen in seinem Ausgangstext, wie der Refrain beweist: »Schöne Tage Jugendlicher,/Ihr entschwindet alleweile« (»Quant’è bella giovinezza,/che si fugge tuttavia!«). Das Adjektiv »schön« bezeichnet die »Tage« und nicht mehr die »Jugend«. Der Dichter fokussiert nicht mehr auf das Lob der Jugend, sondern auf die Sehnsucht nach jener fernen vergangenen Zeit – vor seiner Auswanderung. Die Verwandlung des fröhlichen Tons und die Entfernung vom Original verbinden sich jedoch mit einer sehr deutlich an den Ausgangstext gebundenen Version, die dem Rhythmus des Italienischen treu bleibt. Übersetzungseinheiten bleiben aus einer syntagmatischen Wortartenperspektive identisch, so wie auch das Reimschema. Canzona di Bacco
Bacchus und Ariadne
Quant’è bella giovinezza, Che si fugge tuttavia! Chi vuol esser lieto, sia, Di doman non c’è certezza (Medici 1970, S. 583).
Oh wie schön ist doch die Jugend, Die uns täglich mehr entschwebt Drum ist Frohsinn heute Tugend! Niemand weiß, wer morgen lebt (Heyck 2022, S. 127).6
Triumphzug des Bacchus und der Ariadne Schöne Tage Jugendlicher, Ihr entschwindet alleweile. Willst du froh sein, sei’s und eile, Denn das Morgen ist nicht sicher. (Wolfskehl 1960b, S. 171).
Die Änderungen in den semantischen Nuancen einiger Verben sind besonders bemerkenswert: Wolfskehls Verb »entschwinden« im Refrain verstärkt den Anklang des Unwiederbringlichen im Vergleich zu dem italienischen fuggire und dem deutschen »entschweben« in der älteren Fassung (Bartels 1898, S. 32, Heyck 2022, S. 127). Nach dem Vers »willst du froh sein, sei’s und eile« distanziert sich Wolfskehl noch weiter vom Frohsinn und so lautet das Finale: »denn das Morgen ist nicht sicher«. Die Wahl fällt auf das Wort »sicher«, das sich auf »Jugendlicher« reimen 6 Die Version, deren Übersetzer bisher unbekannt ist, zirkuliert bereits im 19. Jahrhundert und ist auch in Adolf Bartels Libretto Dürer in Venedig zu finden. Bartels 1898, S. 32.
»Zeit ist Trug und Jahre rannen«. Karl Wolfskehl – Übersetzer im Exil
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soll. Man bemerkt allerdings sofort, dass die Unsicherheit im Mittelpunkt steht. Die ältere deutsche Version von Il trionfo schließt hingegen mit dem Motto »Niemand weiß wer morgen lebt«, was trotz der Unsicherheit des Morgens ein Gefühl von Sorglosigkeit vermittelt. Solche semantischen Änderungen können vielleicht den Frohsinn in Sehnsucht verwandeln, aber die Verkommenheit der Zeit ist sehr gut bewahrt, sowie die syntaktische Genauigkeit, die viele Entscheidungen des Autors motiviert. Man denke an den dritten Vers, »Zeit ist Trug und Jahre rannen«, das dem italienischen »perchè ’l tempo fugge e inganna« entspricht. Die Verbindung zwischen der Zeit und ihrem Lauf wird mit dem hinzugefügten Subjekt »Jahre« kombiniert, was die Vergänglichkeit der Zeit noch deutlicher verstärkt. Was hingegen die mythologischen Figuren betrifft, wird die älteste von ihnen besonders hervorgehoben: Silen, der mit Bezug auf die Zeit als »volljährig« und »uralt« charakterisiert wird. Canzona di Bacco
Triumphzug des Bacchus und der Ariadne
Questa soma, che vien drieto sopra l’asino, è Sileno: così vecchio, è ebbro e lieto, già di carne e d’anni pieno; se non può star ritto, almeno ride e gode tuttavia. Chi vuol esser lieto, sia: di doman non c’è certezza. (Medici 1970, 584)
Hier Silen, er sitzt so rüstig – Auch der Esel ist willfährig – Uralt, trunken doch und lüstig. So vollfleischig wie volljährig Wankt er merklich – doch gehörig Lachen mag er alleweile. Willst du froh sein, sei’s und eile, Denn das Morgen ist nicht sicher. (Wolfskehl 1960b, S. 171)
Der Dichter im Exil konnotiert die Zeit mit seiner eigenen Erfahrung, die von Verfolgung und Auswanderung geprägt ist; deswegen bezeichnet Luzzatto diese Übersetzung als »traduzione ebraica« (Luzzatto 1975, S. 453).7 Die Polarisierung von Ferne und Nähe erhält deswegen auf verschiedenen Ebenen Bedeutung: Innerhalb seines fernen und nahen Netzwerks tauscht der Dichter diverse literarische Impulse aus, die den deutsch-jüdischen Kulturtransfer sowie andere literarische Kontexte einbeziehen. Wolfskehl hält die Übersetzer:innen für Kämpfer:innen gegen die Barbarisierung (Wolfskehl 1999, S. 53) und häufig greift er Nähediskurse in seinen Überlegungen in Hinblick auf das Übersetzen auf. Daher schätzt er die »gemeinsame Arbeit« zusammen mit einer »idolatrischen Treue vor dem Wortlaut«, wie er Isaiah Sonne in einem Brief aus Neuseeland mitteilt (Wolfskehl 1959, S. 157).
7 [Übersetzung].
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Federica Rocchi
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»Zeit ist Trug und Jahre rannen«. Karl Wolfskehl – Übersetzer im Exil
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Ruben, Margot: Karl Wolfskehl Exul Immeritus. Erinnerungen an Neuseeland. In: Klussmann, Paul Gerhard (Hg.): Karl Wolfskehls Colloquium. Vorträge – Berichte – Dokumente. Amsterdam: Castrum Peregrini Presse 1983, S. 45–60. Spies, Bernhard: Konstruktionen nationaler Identität(en) – Exilliteraturforschung und Postcolonial Studies. In: Bannasch, Bettina/Rochus, Gerhild (Hg.): Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur. Von Heinrich Heine bis Herta Müller. Berlin: De Gruyter 2004, S. 50–75. Voigt, Klaus: Zuflucht auf Widerruf. Bd. I. Stuttgart: Klett-Cotta 1987. Wolfskehl, Karl: Zehn Jahre Exil. Briefe aus Neuseeland 1938–1948. Hg. von Margot Ruben. Darmstadt/Heidelberg: Verlag Lambert-Schneider 1959. Wolfskehl, Karl: Gesammelte Werke. Dichtungen. Dramatische Dichtungen. Bd. I. Hg. von Margot Ruben, Claus Viktor Bock. Hamburg: Claassen 1960a. Wolfskehl, Karl: Gesammelte Werke. Übertragungen. Prosa. Bd. II. Hg. von Margot Ruben, Claus Viktor Bock. Zürich: Classen, 1960b. Wolfskehl, Karl (Übers.): Die Hochzeit des Figaro. Komische Oper in Zwei Akten. Marbach am Neckar: Marbacher Schriften 1974. Wolfskehl, Karl: Gedichte, Essays, Briefe. Hg. von Cornelia Blasberg, Paul Hoffmann. Marbach am Neckar: Marbacher Schriften 1999.
Federica Ricci Garotti (Università di Trento)
»Ich kann Sie nicht mehr hören…« Ergebnisse einer Studie über die online DaF-Didaktik
Im Beitrag wird versucht, durch eine Analyse von aufgezeichneten und transkribierten Unterrichten die Veränderungen der Kommunikationsformen in der online DaF-Didaktik aufzuzeigen. Unterstützt wird die Analyse durch eine Teilnehmerbefragung, aus der teilweise unerwartete Ergebnisse hervorgehen. Forms of Classroom Communication; Online Didactics; Multimedia Communication.
1.
Einleitung
Die Unterrichtskommunikation wurde in den letzten drei Jahren aufgrund der Covid-Pandemie in Form einer gerätevermittelten Aktivität umgesetzt, die das Thema der Kommunikation zwischen Nähe und Distanz und die damit zusammenhängenden Analysemodelle neu aufgreift und in spezifischen Bezug zum didaktischen Diskurs setzt. Im vorliegenden Beitrag wird über Befunde einer im Jahre 2020 durchgeführten Studie berichtet, die aus zwei Forschungsaktionen besteht: 1) einer Befragung zu Einstellungen von Studierenden zum Online-Unterricht und 2) dem Vergleich sprachlicher Merkmale von online und traditionell im Hörsaal durchgeführten Universitätskursen über DaF-Sprachdidaktik. Der Beitrag besteht aus folgenden Teilen: Zunächst werden einige wissenschaftliche Voraussetzungen bezüglich der fachdidaktischen Kommunikation und der medienlinguistischen Interpretationsmodelle dargelegt; danach wird die Studie methodologisch beschrieben und werden die dazu gehörenden Forschungsfragen präsentiert; anschließend werden die Ergebnisse vorgestellt, die vor allem den Unterschied zwischen der Kommunikation im Online-Unterricht zur Zeit der Pandemie und im traditionellen Unterricht in der Aula hervorheben; schließlich wird versucht, Impulse für weitere Studien im Rahmen der Online- und der traditionellen Unterrichtskommunikation mit besonderem Fokus auf DaF anzubieten.
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2.
Federica Ricci Garotti
Wissenschaftliche Voraussetzungen
Seit den 70er Jahren wurden die Kommunikationsmuster im Unterricht als eine prinzipiell lehrerzentrierte und fragenbasierte Sprachhandlung betrachtet, die den Lernenden bzw. Studierenden eine geringere Sprechzeit zur Verfügung stellt. Deshalb wird die didaktische Kommunikation nicht als authentisch, aber zugleich auch als symptomatisch für bestimmte sozial-institutionell kristallisierte Rollen angesehen. Das rigide Handlungsmuster des Unterrichts wurde als eine Sequenz von »Aufgabenstellung – Aufgabenlösung – Bewertung« hervorgehoben, die immer wieder vorkommt und den kommunikativen Kern des Unterrichts darstellt (Ehlich/Rehbein 1979 und 1986). Dieses Muster folgt dem Ansatz der Diskursanalyse (Sinclair/Coulthard 1975) mit dem Zweck, sprachliche Kategorien für die Analyse von Unterrichtsdialogen zu identifizieren. Infolgedessen wurde die I-R-E Sequenz (Initiation – Reply – Evaluation) von Mehan (1979, S. 152) propagiert und verbreitet. Später wurden diverse Studien publiziert, die nicht nur das Ziel hatten, die tatsächlich empirischen Kommunikationsmuster im Unterricht zu fotografieren, sondern auch neue Impulse für eine authentische Gesprächsdidaktik zu bieten (vgl. Becker Mrotzek/Vogt 2009). Diese Tendenz wird auch dadurch verstärkt, dass sich die kommunikativen Kanäle inzwischen enorm geändert haben. Das Aufkommen des Internets und der neuen Medien auch in der Unterrichtskommunikation haben sowohl das Kommunikationsmodell als auch die Kommunikationstexte selbst in unausweichlicher Weise verändert. Das Kommunikationsereignis findet nicht mehr hier und jetzt statt, sondern kann sich auch in zeitlicher und räumlicher Entfernung vollziehen. Die medienlinguistischen Texte haben eigene Merkmale, die nicht immer auf das traditionelle Muster zurückzuführen sind: Es handelt sich um offene, zerdehnte Texte, die oft aus einem Netz von Mikrotexten bestehen oder sich wie ein vergrößerter Text präsentieren und natürlich eine spezifische Analysemethode verdienen (Chowchong 2022). Der in der Pandemie notwendig gewordene Online-Unterricht präsentiert sich dabei als neues Gebilde, das alle bisher bekannten Kommunikationsmuster und -analysen in sich vereint. Es ist eben nicht nur so, dass die vorher übliche Situation (der Unterrichtskontext) die Wahl der sprachlichen Mittel bestimme, sondern vielmehr geht es darum, dass die Mittel ihrerseits die Sprache mitbestimmen und diese verändern können (Androutsopoulos 2007, S. 80). In der Medienlinguistik wird häufig auf die Arbeiten von Koch/Oesterreicher und ihre Nähe-Distanz-Theorie1 referiert – und dies nicht selten auch kritisch –, um daraus Impulse für die neueren technologischen Modelle zu entwickeln (vgl. 1 Die Arbeit von Koch/Oesterreicher wird hier als Ansatz und nicht als Modell bezeichnet, da die Autoren von ihrem Werk nie als Modell sprachen (vgl. Dürscheid 2016).
Ergebnisse einer Studie über die online DaF-Didaktik
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Kattenbusch 2002, Kailuweit 2009, Stark 2011). Das Werk von Koch/Oesterreicher wurde jedoch nicht zu diesem Zweck konzipiert (Dürscheid 2016, S. 365): In der Nähe-Distanz-Theorie sind die Merkmale der Versprachlichung nicht zentral, die für eine Analyse des didaktischen Diskurses in der medienlinguistischen Perspektive am relevantesten sind. Für eine Analyse der konzeptionell relevanten Eigenschaften der sprachlichen Äußerungen selbst muss man deshalb über das Handlungsmuster von Koch/Oesterreicher hinausgehen (Biber 2004). Eines der Probleme, die die Verwendung des Ansatzes von Koch/Oesterreicher nach sich zieht, ist die Verwendung der Termini ›Medium‹ und ›Kommunikationsform‹, die einerseits als miteinander nah und verbunden definiert werden, andererseits auch auf eine »prinzipielle Unabhängigkeit von Medium und Konzeption« hinweisen, die eine Trennung von konzeptueller Mündlichkeit/Schriftlichkeit und medialer Realisierung voraussetzt (Koch/Oesterreicher 1994, S. 587). Die Kommunikation im Online-Unterricht kann hingegen genauso einseitig und nicht dialogisch wie die Vorlesung im Hörsaal sein und umgekehrt, wobei sich der methodologische und sprachdidaktische Ansatz als grundlegender Bestandteil für die Analyse der Kommunikation im Unterricht erweist. Die Eigenschaft der sprachdidaktischen Kommunikation macht es notwendig, sich für die Analyse auf die Untersuchung einzelner sprachlicher Indikatoren zu stützen, die sowohl den methodologischen Ansatz als auch die kommunikative Kompetenz der Lehrperson aufdecken. Es kann sich bei der didaktischen Kommunikation um eine »gegenläufige Kombination« (z. B. medial graphisch, konzeptionell mündlich) handeln, in der sprachliche Merkmale zu finden sind, durch die es möglich ist, die Natur der Kommunikation und ihre Unterschiede in Bezug auf das verwendete Medium (online oder face-to-face) zu erkennen. Geht man von Faktoren wie ›Spontaneität‹, ›Vertrautheit‹, ›Expressivität‹, ›affektive Teilnahme‹ aus, die nach Koch/Oesterreicher für eine »nähesprachliche Kommunikationsform kennzeichnend« seien (Koch/Oesterreicher 1985, S. 24), so soll man sich auf die Merkmale fokussieren, die auf einen gemeinsamen Hintergrund bezogen sind: Lokale und persönliche Deiktika können die ›affektive Teilnahme‹ im Diskurs verstärken, indem sie einen bekannten und erkennbaren Kontext schaffen, in den ein neues Wissen einfließen kann. Diese Überbetonung des situativen Gebrauchs, die auch das vorherige Wissen im dialogischen Text miteinbezieht, wird besonders durch die Verwendung von Lokal- und Diskursdeiktika hervorgehoben und erlaubt die Vermeidung dunkler Bedeutungen bzw. fremder oder abstrakter Erkenntnisse im Unterricht (Gunkel 2007, S. 221). Laut Gunkel dienen die Demonstrativa – genauso wie die Deiktika – auch dem Zweck, bei den Hörenden das nötige Wissen zur Identifizierung der Referenten zu aktivieren, deswegen kann ihre Verwendung in einer Online-Kommunikation erwartet werden, wenn die Sprecher:innen den Eindruck haben, dass die Erwähnung der Namen allein nicht ausreicht, um auf etwas hinzuweisen, was als
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bekannt vorausgesetzt wird (ebd., S. 222). Auf den Gebrauch von Demonstrativa in der mündlichen Kommunikation geht u. a. Ahrenholz näher ein: Er unterscheidet ihren situativen, anaphorischen, diskursdeiktischen, anadeiktischen und anamnestischen Gebrauch. Letzterer diene vor allem der Aktivierung eines vermuteten gemeinsamen Wissenstandes. Deshalb darf davon ausgegangen werden, dass Demonstrativa im Unterrichtsdiskurs besonders geeignet sind: Bei der anamnestischen Verwendung wird mit dies- (+ Nomen) auf etwas verwiesen, was als gemeinsamer Wissensbestand vermutet wird. Anamnestischer Gebrauch von dies- ist nur adnominal möglich. Es handelt sich um eine genuine Form der gesprochenen Sprache. Anamnestischer Gebrauch von dies- zeichnet sich dann durch Neueinführung einer Referenz aus (…). (Ahrenholz 2007, S. 350)
Im Hinblick auf die bildungssprachlichen Merkmale, mit spezifischem Bezug auf die wissenschaftliche Kommunikation an den Universitäten und Hochschulen, sind in der Literatur unterschiedliche Genres der schriftlichen und mündlichen Wissenschaftssprache unter die Lupe genommen worden. Überblicksartig wurde vor allem die Vorlesung von folgenden Autorinnen und Autoren empirisch untersucht: Fandrych (2004), Fandrych/Tschirner (2007), Sucharowski (2001), Hanna (2003).2 Aus der kommunikativ-didaktischen Perspektive zeigt sich, dass die in der mündlichen deutschen Wissenschaftssprache auftauchenden Elemente vor allem die Nominalisierung, die Passivformen und im Allgemeinen die unpersönlichen Strukturen betreffen, wobei sie mit Merkmalen des Vereinfachungs- bzw. Didaktisierungsprozesses wie Wiederholungen, Redundanz, Paraphrasen, Synonymie, rhetorische Fragen kombiniert werden (Redder/Heller/ Thielmann 2014). Auf der Grundlage dieser empirischen Studien sollen dann noch die sprachlichen Routinen des Online-Unterrichts qualitativ-kontrastiv untersucht werden, die dieser Unterrichtsform spezifisch zuzuweisen sind. In dieser Hinsicht stellt doch gerade die Vergleichsdimension zwischen der Onlineund der Face-to-Face-Unterrichtskommunikation im Bereich DaF eine neue Perspektive dar. Alle bisher durchgeführten Studien fokussieren nämlich entweder auf die Unterrichtssprache oder auf die Wissenschaftssprache, wobei sich die Dimension der mündlichen, dialogischen Wissenschaftssprache im Unterricht auf eine traditionelle Situation im Hörsaal bezieht. Einige Studien haben bisher zwar durchaus die sprachlich-kommunikativen Veränderungen untersucht, zu denen uns die Pandemie durch hauptsächlich online stattfindende Interaktionen gezwungen hat (Lay/Giblett, 2020, Helm/Huber/Loisinger 2021, Lampert/Thiel/Güngör 2020). Es handelt sich jedoch hauptsächlich um Befragungen über die Einstellungen der Teilnehmenden, ihre Reaktionen und alle
2 Für einen Überblick über die unterschiedlichen Forschungen zu den deutschen wissenschaftlichen Textgattungen wird hier auf Fandrych et al. (2009) hingewiesen.
Ergebnisse einer Studie über die online DaF-Didaktik
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sozio-kulturellen Faktoren, die in den neuen Kontexten aufgedeckt wurden. Die sprachlich-kommunikative Dimension bleibt noch unerforscht.
3.
Beschreibung der Studie
Ziel der Studie ist es, eine kontrastive Analyse von Online- und Face-to-FaceUnterrichtsdiskursen im sprachdidaktischen Bereich durchzuführen, um folgende Fragen zu beantworten: – Inwieweit ändert sich die Kommunikation im Online-Universitätsunterricht im Vergleich zur traditionellen Situation im Hörsaal? – Formt die Unterrichtssprache und -kommunikation einen eigenen Kontext mit oder ist sie vom Kommunikationsmittel bestimmt? Zu diesem Zweck wurden zwei Datentypologien gesammelt: a) Befragung der Studierenden, die mit jeweils denselben Universitätsprofessor:innen zwei Kurse besucht haben, von denen einer online in synchroner Modalität, der andere in Präsenz stattgefunden hat; b) Analyse eines Korpus universitärer Unterrichtsstunden. Es handelte sich um 360 Minuten Unterricht, die vier Unterrichtsstunden entnommen wurden. Die Stunden wurden von zwei Dozent:innen gehalten: Jede:r Dozent:in hat einen Online-Unterricht und einen Präsenzunterricht in zwei unterschiedlichen Momenten durchgeführt. Alle Kurse haben Aspekte der deutschen Sprachdidaktik für Germanistik-Studierende zweier unterschiedlicher italienischer Fremdsprachen-Fakultäten zum Thema. Insgesamt hat derselbe/ dieselbe Dozent:in zwei unterschiedliche Unterrichtseinheiten zur Verfügung gestellt, eine im Präsenzunterricht, die andere im Fernunterricht (letztere wurde während der Pandemie gehalten, erstere danach). Es ist wichtig anzumerken, dass es sich nicht um den gleichen wiederholten Unterricht handelt, sondern um zwei verschiedene Unterrichtsstunden im selben Kurs. Die 2 involvierten Dozent:innen sind keine deutschen Muttersprachler:innen und unterrichten nicht an derselben Universität. Beide waren von der Studie informiert und haben ihr Einverständnis zur Aufnahme gegeben mit der Bedingung, anonym bleiben zu dürfen.3 Die Befragung wurde 2021 mittels Online-Fragebögen durchgeführt, die folgende Fragen enthalten:
3 Die Autorin der vorliegenden Arbeit gehört nicht zu den beiden an der Studie teilnehmenden Dozent:innen.
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Federica Ricci Garotti
1) War der Online-Unterricht mehr oder weniger dialogisch als der Präsenzunterricht? Antworten: mehr – weniger – gleich 2) Wie würden Sie die Sprache der Online-Kommunikation im Unterricht bewerten? Antworten: dialogisch trotz der Situation; rigide aufgrund der Situation; kreativ; von der Situation sehr konditioniert; Sonstiges 3) Wie bewerten Sie das direkte Ansprechen der Studierenden während des Online-Unterrichts? Antworten: positiv, weil es der aktiven Konzentration hilft; negativ, weil es in einer Online-Verbindung schwierig ist, in einer Fremdsprache zu sprechen; es ist kein Problem, weil ich weder in der Aula noch online sprechen möchte; Sonstiges 4) Falls Sie Unterschiede in der Online-Unterrichtskommunikation im Vergleich zum Präsenzunterricht festgestellt haben – abgesehen von technischen Problemen –, wie können Sie die von den Dozent:innen im Online-Unterricht verwendete Sprache definieren? Antworten: die Dozent:innen haben langsamer gesprochen; die Dozent:innen haben schneller gesprochen; ich habe keinen Unterschied gefunden; die Tonstimme war lauter; ich habe die nonverbale Sprache vermisst; alles war schwieriger zu verstehen; Sonstiges An der Studie haben insgesamt 86 Studierende teilgenommen, von denen 47 die eine Universität und 39 die andere besuchen. Beide Gruppen frequentierten das zweite Jahr des Bachelors und ihr Sprachniveau in DaF wurde von den jeweiligen Dozent:innen als B1 definiert. Die Unterrichtsstunden wurden zunächst aufgenommen und dann traditionell transkribiert. Da die Fokussierung weder auf die phonetisch-prosodischen Merkmale noch auf die nicht-verbale Sprache abzielt, wurde keine spezifische Transkriptionsmethode verwendet. In beiden Kontexten (online und in Präsenz) war der Unterricht insgesamt wenig interaktiv. Meistens handelte es sich, falls vorhanden, um lehrer:innengeleitete Fragen bzw. Sprachhandlungen, auf die die Studierenden einfach reagierten. Für die Analyse wurde deshalb auf die Sprache der Dozent:innen fokussiert und zwar auf jene Merkmale, die als typisch für die Universitätsdidaktik und -kommunikation betrachtet wurden: Lokal- und Personaldeixis; Demonstrativa; Nominalisierungen; Passiv- und unpersönliche Formen; Vereinfachungsäußerungen wie Paraphrasen und Wiederholungen. Die jeweiligen Elemente des Online-Korpus wurden so in Vergleich mit jenen der Aufnahmen von traditionellen Unterrichtsstunden im Hörsaal gesetzt. Der Zweck ist es, festzustellen, welche Elemente als spezifisch für Online-Kontexte definiert werden können, während für dieselben Phänomene im Präsenzunterricht keine bedeutsame Okkurrenz hervorzuheben ist.
Ergebnisse einer Studie über die online DaF-Didaktik
4.
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Ergebnisse und Diskussion
Was die Erhebung der Daten durch den Fragebogen anbelangt, muss zunächst gesagt werden, dass die Proband:innen keine großen Unterschiede zwischen der Art der Unterrichtskommunikation online und in der Aula wahrgenommen haben: Die Antworten auf die erste und vierte Frage legen diese Interpretation nahe. Alle Studierenden haben bei der ersten Frage (»war der Online-Unterricht mehr oder weniger dialogisch als der Unterricht in der Aula?«) die dritte Option gewählt (»das Gleiche«), während die meistgewählte Antwort auf die vierte Frage (»Falls Sie Unterschiede in der Online-Kommunikation im Unterricht in Vergleich zum Unterricht in der Aula festgestellt – abgesehen von technischen Problemen – wie können Sie die von den Dozenten im Online-Unterricht verwendete Sprache definieren?«) die zweite war, nämlich: »ich habe keinen Unterschied festgestellt« (62 %). 14 % der Studierenden haben erklärt, die Dozent: innen sprachen im Online-Unterricht »langsamer«, 13 % hingegen fanden ihr Sprechtempo »schneller« und 2 % haben die non-verbale Sprache während der Online-Kurse vermisst. Ebenso 2 % haben die dritte Option gewählt (»die Tonstimme war lauter«), 7 % haben andere unterschiedliche Antworten (Sonstiges) gegeben, wie: Die Dozent:innen haben mehr Beispiele gegeben (2 Proband:innen), es gab mehrere Unterbrechungen (3 Proband:innen), es gab mehrere Wiederholungen als sonst (eine Probandin). Niemand hat die Option »alles war schwieriger zu verstehen« gewählt. Was die zweite Frage anbelangt, haben die meisten Studierenden erkannt, dass die Sprache im Online-Unterricht von der Situation geprägt war (49 %); 18 % haben sie als rigide aufgrund der Situation und 16,4 % als kreativ empfunden, während 16,6 % die Sprache trotz der Situation als dialogisch definiert haben. Schließlich war die meistgewählte Option zur dritten Frage (»Wie bewerten Sie das direkte Ansprechen der Studierenden während des Online-Unterrichts?«) die erste (»positiv, weil es der aktiven Konzentration hilft«, mit 61 % der Stimmen); 25 % der Studierenden haben sie hingegen als negativ bewertet, weil es in einer Online-Verbindung schwierig ist, in einer Fremdsprache zu sprechen; für 14 % war es egal, weil sie im Unterricht nicht gerne sprechen. Zur Analyse der sprachlichen Merkmale im gesamten Korpus und zum Vergleich zwischen Online- und Face-to-Face-Kommunikation lassen sich zunächst im Online-Korpus im Allgemeinen zahlreiche Äußerungen der Dozenten mit einer phatischen Funktion erkennen, wie dauernde Unterbrechungen des eigentlichen Unterrichtsdiskurses, z. B.: 1) »Hören Sie mich?«, 2) »Soll ich wiederholen?«, 3) »Ist alles klar?«, 4) »Gibt es Fragen?«
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und Einladungen zur Interaktion: 5) »Können Sie bitte die Kamera einschalten?«, 6) »Geben Sie mir ein Lebenszeichen«, 7) »Sie können auch mit einer Reaktion antworten«. Dazu sind auch die von den Lehrpersonen verwendeten Äußerungen der explikativen Funktion zahlreicher im Online-Korpus als in den Unterrichtsaufnahmen in Präsenz: Es handelt sich um sogenannte aboutness-Ausdrücke wie »und zwar«, »nämlich«, »infolgedessen«, »darüber«, »mit anderen Worten«, »das würde heißen«, »ich möchte es umformulieren«, »diesbezüglich«, die auf eine gewisse Angst der Dozenten vor einer opaken Kommunikation schließen lassen, als ob sie kein Vertrauen in die Online-Vermittlung hätten (Wulf 2019). Deswegen tendieren sie dazu, die Explizitheit zu vergrößern, sogar redundant zu machen, um Missverständnisse zu vermeiden und die Konzentration zu unterstützen. Einige Ergebnisse waren überraschend und unerwartet. Die Diskursdeiktika wurden z. B. im Online-Unterricht wesentlich weniger verwendet als in der Aula, wie der Abbildung 1 zu entnehmen ist.
Diskursdeixis 20 15 10
Diskurdseixis
5 0
Online Aula
Abb. 1: Verwendung der Diskursdeiktika.
Deiktische Ausdrücke lassen sich hingegen in den transkribierten Unterrichtssequenzen im Hörsaal zahlreich finden. Einerseits überrascht es nicht, dass die Deixis in Präsenz mit einer größeren Frequenz vorkommt als online: Die Teilnehmer:innen befinden sich im selben Raum, innerhalb dessen die Sprechhandlung geschieht. Sie teilen denselben Hintergrund, in dem sie sich auch mittels Gesten oder sprachlicher Ausdrücke im gleichen Verweisraum auf Situationselemente beziehen können. Deiktika sind schließlich ikonische Elemente, weil sie oft mit Gesten verbunden bzw. assoziiert werden, deshalb gehört ihr Vorkommen in Face-to-Face-Situationen zu dem natürlichen Kommunikationsverlauf.
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Auf der anderen Seite haben Deiktika auch eine prozedurale Funktionalität als elementare sprachliche Handlungseinheiten, deren Funktion u. a. die Neufokussierung der Aufmerksamkeit ist. Diese Funktion gilt nicht nur im Wahrnehmungsraum, sondern auch im Diskursraum, zum Beispiel: »Sie haben dies sehr gut erklärt« und im Textraum, z. B. »Wir haben das auf Seite XXX des Buchs«. Laut Thielmann (2019, S. 106) wird »der prozeduralen Funktion von Deiktika eine Verallgemeinerungsfunktion zugewiesen, die eine Verweisung im Wissensraum gestattet«. So könnte erwartet werden, dass die Dozent:innen im Online-Unterricht sprachliche Mittel ausnutzen müssen, mit denen sie sich auf Elemente beziehen können, die nicht unmittelbar sichtbar sind, und zwar mit dem Zweck, die Aufmerksamkeit der Studierenden neu zu fokussieren. Es handelt sich im Prinzip um eine typische Strategie von Texten mit explikativer Funktion. Die einzige deiktische Form, die sehr oft in den Online-Aufnahmen vorkommt, ist die inklusive Deixis, (»wir«), die mit großer Wahrscheinlichkeit ein Zeichen für die erwünschte Involvierung der Teilnehmenden beim gemeinsamen Wissensaufbau ist und manchmal als Einladung zur Kooperation gilt. Trotzdem bleibt die Benutzung inklusiver Deixis im Präsenzunterricht immer häufiger als online, wie in der Abbildung 2 gezeigt wird. 80 60 40 20 0
inklusive Deixis exklusive Deixis online 49
Aula 62
Abb. 2: inklusive/exklusive Deixis.
Die inklusive Deixis ist ein Beispiel der sogenannten emotiven oder empathischen Deiktika, unter die auch die Demonstrativa (»diese/jene«) zu zählen sind. Dies-Formen werden hauptsächlich verwendet, um der Sprechperson emotionale Nähe zu zeigen, im Gegenteil zu jen-Formen, die eher Distanz ausdrücken. Im Gegenteil zur Deixis erweist sich die Verwendung von Demonstrativa im OnlineKorpus als sehr umfangreich, wie der Abbildung 3 zu entnehmen ist. Die Okkurrenz der Demonstrativa ist in den Aufnahmen des Präsenzunterrichts sehr unbedeutend, was vermuten lässt, dass die Dozent:innen keine Betonung eines situativen Gebrauchs in der Face-to-Face-Kommunikation brauchen, wie hingegen in der Online-Kommunikation, in der die Demonstrativa, besonders diesFormen, die Funktion einer Überbetonung im Sinn einer übergreifenden Verweisung erfüllen.
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Demonstra"va 200 100 0
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Aula 8
Abb. 3: Verwendung von Demonstrativa.
Die Demonstrativa in den unten aufgeführten Sätzen der Lehrpersonen scheinen ihre multidimensionale Funktion nicht völlig zu erfüllen, weil sie hauptsächlich in einem anamnestischen Gebrauch vorkommen: 8) Konsequenz von diesem Experiment ist, dass…, 9) Wir haben so diese Auseinandersetzung, zwar dass…, 10) Das ist diese Theorie. Sehr selten werden sie in Online-Aussagen in situativer Hinsicht verwendet, wie zum Beispiel in 11: 11) Dieses Buch. (zeigt vor der Kamera) Der häufige Gebrauch von Demonstrativa im Online-Unterricht kann als Kompensationsstrategie interpretiert werden, wenn man sich auf diese meistens als Indikatoren für situativen Gebrauch bezieht. Wie es aber bei der inklusiven Deixis der Fall ist, scheinen sie hier eher eine empathische emotionelle Funktion zu erfüllen, in dem sie – wie es bei anamnestischem Gebrauch üblich ist – auf etwas verweisen, was als gemeinsamer Wissenstand, nicht aber als gemeinsamer Wahrnehmungsraum vermutet wird. Diese Hypothese könnte einerseits die hauptsächlich allgemeine explikative Funktion der Unterrichtsaussagen bestätigen, auf der anderen Seite können sie ein Ausdruck sein, um den Teilnehmenden die emotive Nähe in einer medienbedingten Kommunikation zu vermitteln. Der Grund für das Fehlen von Demonstrativa im Präsenzunterricht im Vergleich zum Online-Unterricht ist jedoch immer noch fraglich. Wenn Demonstrativa als Referenzen in Raum und Zeit interpretiert werden, kann ihre Funktion in der Face-to-Face-Kommunikation von den Deiktika übernommen werden, die in der Tat in den betreffenden Belegen zahlreich vorhanden sind. Die reiche Verwendung von Demonstrativa nur im Online-Korpus lässt sich als Argument für den Ausdruck einer emotiven Funktion interpretieren, die sehr kontextabhängig ist. Die Studierenden selber haben in ihren Antworten im Fragebogen behauptet, die Online-Sprache der Dozent:innen sei durch die Situation bedingt und das könnte einer der Fälle sein, in denen die Sprechpersonen
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eine schwierige kommunikative Situation auch gelegentlich durch Kompensierungen zu bewältigen versuchen. In einigen Passagen herrschte der Eindruck vor, dass die Redundanz von Demonstrativa als sprachliche Strategie gebraucht wird, wobei sie eher als Platzhalter verwendet werden. Diese Interpretation steht keineswegs im Widerspruch zu derjenigen der Kompensationsstrategie: Es kann sein, dass der anamnestische Gebrauch auch dabei hilft, eine flüssige, nicht rigide Kommunikation in einem für die Gesprächsdidaktik nicht optimalen Kontext zu unterstützen. Die für den Vereinfachungs- bzw. Verständigungsprozess notwendigen Merkmale wie Paraphrase und Wiederholung sind – wie erwartet – im Online-Korpus zahlreicher als im Präsenzunterricht (s. Abbildung 4). Auch ein solcher Unterschied zwischen den zwei Korpora bestätigt die Strategie der Dozent:innen, die Schwierigkeiten einer Kommunikation in der Distanz durch unterstützende Sprachhandlungen zu lösen. Demgegenüber kommen die für die wissenschaftliche Unterrichtskommunikation spezifischen Merkmale wie Nominalisierung und unpersönliche bzw. Passivformen in dem Online-Korpus viel seltener vor. Dieser Unterschied, der für bestimmte Merkmale (Wiederholung und Nominalisierung) sehr ausgeprägt ist, führt zu folgender Frage, die über die Analyse der Kommunikation im Unterricht hinausgeht, obwohl sie auch damit verbunden ist: Verliert die Unterrichtssprache in der Hochschule typische Merkmale der akademischen bzw. wissenschaftlichen Sprache aufgrund der kommunikativen Bedingungen, in denen sie eingesperrt ist? Ausgehend von dieser Frage bildet sich sogar die Hypothese heraus, dass der Erwerbsprozess besonders in einem fremdsprachenwissenschaftlichen Bereich darunter leiden kann, weil die Inhalte sprachlich vereinfacht werden und die Studierenden einer wissenschaftlichen Sprache nicht ausreichend ausgesetzt werden. Um diese Hypothese zu bestätigen, sollte man über andere Analysemittel verfügen, die die Kompetenzen der Studierenden in Online- und traditionellen Kursen miteinander vergleichen bzw. andere Indikatoren verwenden und weitere Forschungsfragen stellen. Auf der anderen Seite gilt es hervorzuheben, dass sich die Dozent:innen der nicht zuletzt sprachlichen Schwierigkeiten der Studierenden in einem OnlineKontext so viel bewusster sind, dass sie bei der Unterrichtskommunikation scaffolding anwenden, was unter »normalen« Bedingungen nicht geschieht. Das würde die Hypothese bestätigen, dass die Analyse didaktischer Kommunikation nicht von der Analyse methodologischer Ansätze zu trennen ist. Darüber hinaus: die Online-Erfahrung hatte auch einen positiven Effekt und zwar das Bewusstsein der Dozent:innen dafür zu schärfen, dass auch der Erwerb der Wissenschaftssprache das Ergebnis eines Prozesses ist und nicht einfach als unmittelbarer Effekt einer frontalen Vermittlung wie in einer Vorlesung resultiert.
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Federica Ricci Garotti
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online Aula
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Abb. 4: Verwendung von unterschiedlichen Redeformen.
5.
Fazit und provisorische Schlussfolgerung
Die Kommunikation der Dozent:innen im Online-Universitätsunterricht ändert sich im Vergleich zur traditionellen Situation in der Aula. In der Studie wurden einige Merkmale im Unterrichtsdiskurs gezeigt, die sich in einigen Fällen in den zwei verglichenen Kontexten als sehr unterschiedlich erwiesen. Einerseits ist das Ergebnis nicht überraschend, denn es ist wohl bekannt, dass der Kontext und vor allem die Kanäle die Kommunikation und die Sprechhandlungen beeinflussen können. Auf der anderen Seite muss man, um die Natur der Veränderung deutlicher zu verstehen, auf bestimmte Phänomene näher eingehen und die spezifische Sprache, die Funktion und die Faktoren der jeweiligen Situationen unter die Lupe nehmen. Im Beitrag und in der Studie wurde versucht, jene Phänomene zu identifizieren, die mehr als andere die Kommunikation im Unterricht mit besonderem Fokus auf die Universität und auf den Bereich DaF bestimmen und diese auf die von der Pandemie verursachten Bedingungen zu beziehen. Das Ergebnis zeigt, dass gewisse Indikatoren in der Online-Kommunikation sehr relevant sind (Demonstrativa, Vereinfachungsstrategien) und das verweist auf die Sensibilität der Lehrpersonen für den Verständigungsprozess bzw. für den Spracherwerb ihrer Studierenden. Im Zusammenhang damit ist die Frage nach einer vergleichbaren Sensibilität in einer nicht online vermittelten Didaktik berechtigt, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass nur in der Pan-
Ergebnisse einer Studie über die online DaF-Didaktik
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demie die Hürden und die Schwierigkeiten der Studierenden plötzlich sichtbar geworden wären. Diese Hypothese wird von der im Fragebogen präsentierten Reaktion der Studierenden etwas relativiert, denn sie haben in der Befragung erklärt, dass sie keinen großen Unterschied in den zwei Kontexten bemerkt hätten. Emotive Strategien der Nähe, wie die Deiktika, die Wiederholung und die Paraphrasen, die auf eine deutlichere explikative Textfunktion hinweisen, sind vermutlich von den Studierenden nicht wahrgenommen worden. Jedenfalls muss klar gesagt werden, dass die hier präsentierten Ergebnisse auf eine vergleichsweise kleine Fallstudie bezogen sind; für eine weitere und überzeugende Bestätigung der Ergebnisse müssten weitere, umfassendere Studien durchgeführt werden. Die Unterrichtssprache und -kommunikation der Dozent:innen formt keinen eigenen Kontext, weil sie eher – wie erwähnt – vom Kommunikationsmittel bestimmt wird. Zum kommunikativen Kontext des Unterrichts in einer medienlinguistischen Perspektive würden sich weitere Studien lohnen, die eine Antwort auf die Frage über die Spezifizität didaktischer Online-Kommunikation geben könnten. In dieser Studie wurde jedoch festgestellt, dass das Online-Medium sich gewisser konsolidierter Merkmale der Wissenschaftssprache im Unterricht in nur geringem Maße bedient und eher den Versuch privilegiert, die Distanz zwischen den Teilnehmenden (Studierende und Dozent:innen) zu reduzieren. Wie es in der Forschung üblich ist, ziehen die Antworten auf die Forschungsfragen auch in dieser Studie weitere Forschungsfragen nach sich, und zwar über die Notwendigkeit, die Distanz zwischen Lehr- und Lernpersonen bezüglich des Wissenstands in jeder Unterrichtsform, und nicht nur im OnlineKontext, zu reduzieren. In dieser Hinsicht sollten weitere Studien zur linguistischen Unterrichtsanalyse in ihrem komplexen Zusammenspiel zwischen kommunikativen, emotional-affektiven und kognitiven Prozessen durchgeführt werden.
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Federica Ricci Garotti
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Ulrike Simon (Università di Bari)
Warum in die Ferne schweifen? – Zum Nutzen von Linguistic Landscapes im DaF-Unterricht
Der vorliegende Beitrag zeigt auf, inwiefern die Forschung zu Linguistic Landscapes wichtige Impulse für den Fremdsprachenerwerb geben kann. Nach der Beschreibung von möglichen Lernzielen und methodischen Zugängen, die mit diesem Ansatz in Verbindung zu bringen sind, wird das fremdsprachendidaktische Potenzial von Linguistic Landscapes anhand konkreter Beispiele illustriert. Linguistic Landscapes; Spot German; Culture Awareness; Language Awareness; Semiotics.
1.
Einführung
Zu den Aufgaben des interkulturellen Fremdsprachenunterrichts gehört es, möglichst vielfältige Gelegenheiten für Sprach- und Kulturerfahrungen zu schaffen, damit Lernende in eine für sie zunächst fremde Welt eintauchen, sich diese vertraut und zu eigen machen können. Obwohl die Mobilität im Bildungsbereich beispielsweise durch EU-Programme wie Erasmus+ stark gefördert wird, fehlt Lernenden in Schule und Hochschule noch oft die Möglichkeit, direkte Erfahrungen im Zielsprachenland zu sammeln, ein Wunsch, der gerade zu Pandemiezeiten verstärkt in die Ferne gerückt ist. Umso wichtiger scheint es, den Fokus (auch) auf die eigene Lebenswelt zu richten und Lernende ihre Umgebung als Sprachlandschaft entdecken zu lassen. Vor diesem Hintergrund möchte der vorliegende Beitrag aufzeigen, inwiefern die Forschung zu Linguistic Landscapes für den Fremdsprachenunterricht genutzt werden kann, um die gewohnte, selektive und damit reduktive Wahrnehmung der eigenen Umgebung aufzubrechen und den Blick insbesondere für Zeichen zu schärfen, die auf die Sprache und Kultur(en) des Zielsprachenlandes verweisen.1
1 In diesem Beitrag wird es vornehmlich um Deutsch als Fremdsprache gehen. Wenn hier und im folgenden Text aus sprachökonomischen Gründen der Begriff Zielsprachenland im Singular benutzt wird, sind damit im Sinne des DACH-Prinzips Deutschland, Österreich und die deutschsprachige Schweiz gemeint.
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Ulrike Simon (Università di Bari)
Zu diesem Zweck wird im folgenden Kapitel zunächst in die Forschung zu den Linguistic Landscapes und dem Bereich Spot German eingeführt. Dabei stehen vor allem die Lernziele im Vordergrund, die mit diesem Ansatz in didaktischen Kontexten in Verbindung zu bringen sind. Danach werden relevante Bezugswissenschaften und Fachgebiete aufgezeigt, die für die Arbeit mit Linguistic Landscapes entsprechende methodische Zugänge liefern können. Im daran anschließenden empirischen Teil des Beitrags werden zuerst zentrale Aspekte einer Langzeitstudie zu diesem Thema skizziert und dann die wichtigsten Ergebnisse eines Wettbewerbs präsentiert, der im Rahmen dieser Studie für DaF-Lernende in Bari ausgeschrieben wurde.
2.
Zum Untersuchungsgegenstand
2.1
Linguistic Landscapes
Als Pioniere auf dem Gebiet der Linguistic Landscapes gelten Rodrigue Landry und Richard Y. Bourhis, die den Begriff 1997 in die Forschung einführten, indem sie ihn auf die Sichtbarkeit und Wahrnehmbarkeit von Sprachen auf öffentlichen und gewerblichen Schildern bezogen, die aus soziolinguistischer Perspektive Rückschlüsse auf die Macht und den Status einer Gemeinschaft von Sprecher: innen eines bestimmten Raums erlauben: Linguistic landscape refers to the visibility and salience of languages on public and commercial signs in a given territory or area. It is proposed that the linguistic landscape may serve important informational and symbolic functions as a marker of the relative power and status of the linguistic communities inhabiting the territory. (Landry/ Bourhis 1997, S. 23)
Dieser Ansatz stieß auf großes Interesse, so dass Anfang der 2000er-Jahre zahlreiche Studien, vor allem aus dem englischsprachigen Raum erschienen, u. a. auch im Bereich der Mehrsprachigkeits- und Zweitsprachenerwerbsforschung (vgl. Gorter 2006 und Cenoz/Gorter 2008), auf die bald Beiträge aus dem deutschsprachigen Raum (allen voran Androutsopoulos 2008 und Auer 2010) folgten. Mit dem steigenden Forschungsinteresse an Linguistic Landscapes wurde der Untersuchungsgegenstand zunehmend erweitert, zunächst vom öffentlichen Raum (wie der Straße) um semi-öffentliche Räume (z. B. Schulen und Universitäten), wie man der Definition von Ben-Rafael/Shohamy/Barni aus dem Jahr 2010 (zit. in Marten/Saagpakk 2017, S. 7, Ergänzung bereits dort) entnehmen kann: »[…] any written sign[s] found outside private homes, from road signs to names of streets, shops and schools«. Jüngere Studien schließen sogar virtuelle Räume ein. Darüber hinaus ist eine Öffnung des Untersuchungsgegenstands in
Zum Nutzen von Linguistic Landscapes im DaF-Unterricht
251
Bezug auf die untersuchten Zeichentypen festzustellen. Während zunächst rein (schrift)sprachliche Zeichen im Vordergrund standen, werden zunehmend auch andere Zeichen berücksichtigt. Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass es bei Linguistic Landscapes um die Sichtbarkeit und Wahrnehmbarkeit von (sprachlichen und nicht sprachlichen) Zeichen in öffentlichen, semi-öffentlichen und virtuellen Räumen geht. Doch welches Verständnis von Raum liegt diesem Ansatz eigentlich zu Grunde? Aus pragmatischer Sicht »ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht« (de Certeau, zit. in Ehrhardt/Müller-Jacquier 2018, S. 12, Hervorhebung im Original), den Menschen nach ihren Bedürfnissen gestalten, den sie sich immer wieder neu aneignen (vgl. ebd., S. 13). Entsprechend wird der Raum aus kulturwissenschaftlicher Perspektive als von Menschen diskursiv gestalteter Raum verstanden und damit auf die »diskursive Verfasstheit sozialer Wirklichkeiten« verwiesen (Schiedermair 2018, S. 10). Dies bedeutet (aus Rezipient:innenperspektive), dass Menschen in Räumen nicht nur vielfach von Zeichen umgeben sind, die es zu entschlüsseln gilt, falls sie als relevant wahrgenommen werden, sondern (aus Produzent:innenperspektive) auch, dass Menschen in Räumen (sprach)handeln, sich in ihnen mitteilen bzw. mit einer bestimmten Intention Zeichen hinterlassen. In der Forschung zu Linguistic Landscapes werden mit der Untersuchung von Räumen unterschiedliche Ziele verfolgt (vgl. Ehrhardt/Marten 2018). Während anfangs mehrheitlich deskriptiv-quantitative Studien veröffentlicht wurden, in denen die Präsenz mehrerer Sprachen in demselben urbanen Raum untersucht wurden, um daraus u. a. Rückschlüsse hinsichtlich der Mehrsprachigkeit, Sprachhierarchien und Sprachenpolitik zu ziehen,2 sind in jüngster Zeit vermehrt qualitative Studien erschienen. Letztere richten den Fokus verstärkt auf das Umfeld, in dem das Zeichen sichtbar ist und untersuchen u. a. dessen Funktion (in diesem Raum) sowie mögliche Prozesse der Sinnerschließung. Darüber hinaus ist ein steigendes Interesse an Linguistic Landscapes im Bereich der (Fremdsprachen-)Didaktik festzustellen.
2 Bildungspolitisch besonders relevant sind in diesem Bereich auch jüngere Studien zum sog. »Educational Landscaping« (vgl. Scarvaglieri/Salem 2015) bzw. »Schoolscaping« (vgl. Androutsopoulos/Kuhlee 2021), bei denen es u. a. darum gehen kann, den »monolingualen Habitus« (vgl. Gogolin 22008) an Schulen aufzudecken.
252 2.2
Ulrike Simon (Università di Bari)
Spot German
Eine didaktische Ausrichtung haben oft auch sog. Spot-German-Projekte. Wie aus dem von Kathrin Schödel (zit. in Marten/Saagpakk 2017, S. 9) eingeführten Begriff selbst teilweise hervorgeht, handelt es sich um »das ›Spotten‹, also das Entdecken und Wahrnehmen der deutschen Sprache in einem öffentlichen Raum, in dem diese eben gerade nicht häufig zu erwarten ist« (ebd., S. 10). Im Rahmen solcher Projekte werden Lernende in ihrer Umgebung auf die Suche nach deutschsprachigen Zeichen geschickt bzw. nach Zeichen, die auf die deutsche Sprache und/oder Kulturen deutschsprachiger Länder verweisen.3 Methodisch basieren Spot-German-Projekte folglich zumeist auf den Prinzipien des entdeckenden, erfahrungs- bzw. handlungsorientierten, selbstgesteuerten und lernendenzentrierten Lernens.4 Das didaktische Potenzial von Spot-German-Projekten liegt in den vielfältigen Lernzielen begründet, die mit diesem Ansatz verfolgt werden können. Zu den übergeordneten Zielen zählt die Motivation für das Sprachenlernen, die hier sowohl intrinsisch (durch die Entdeckerfreude) als auch extrinsisch (durch Belohnung, etwa im Rahmen von Wettbewerben) erfolgen kann (vgl. Heimrath 2017, S. 31f., u. a. in Anlehnung an Riemer). Ebenso zentral ist das affektive Lernziel der »Sensibilisierung für das Entdecken einer Sprache im öffentlichen Raum« (ebd., S. 30). Aufgrund der Flut an Schildern und Schriftzügen jeglicher Art, mit denen Menschen täglich im Alltag konfrontiert sind, wird das Sichtbare durch selektive Wahrnehmung oft unbewusst auf das vermeintlich Relevante reduziert. Ziel vieler Spot-German-Projekte ist es, diesen verengten Blick aufzubrechen und ein neues Bewusstsein für die Präsenz (fremd)sprachiger Zeichen im öffentlichen Raum zu schaffen, um damit sprachliche und (inter)kulturelle Lernprozesse zu initiieren: Die Schüler und Studenten sehen plötzlich etwas, was sie vorher übersehen hatten – und können dadurch, ggf. unter geeigneter Anleitung, historische und politische Kontexte ihrer Alltagswelt besser verstehen. (Marten/Saagpakk 2017, S. 11)
Das hier angedeutete Lernziel der culture awareness (vgl. Janíková 2018, S. 143f.) bezieht sich jedoch nicht nur auf die neuentdeckte Eigenkultur, sondern schließt Erkenntnisse über die Fremdkultur und deren Beziehung zueinander mit ein. Die Bewusstmachung fremdkultureller Bezüge zur eigenen Lebenswelt führt folglich 3 Da bei der Bedeutungs- und Sinnerschließung (vgl. Kap. 3) der gesammelten Zeichen oft landeskundliche Aspekte im Vordergrund stehen, eignet sich diese Projektform in der Schule auch gut für die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Fächern wie Geschichte und Geographie. 4 Vgl. zu den methodisch-didaktischen Prinzipien des Fremdsprachenunterrichts Schart/Legutke 2012, S. 40ff.
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zu einem Perspektivenwechsel, der sich langfristig auf die Wahrnehmung von Lernenden auswirkt: »Dabei wird der vertraute Lebensraum aus neuen Perspektiven kennengelernt und als interkultureller Raum erkannt.« (Heimrath 2017, S. 31) Durch die Reflexion der im Raum entdeckten Zeichen, die sowohl inhalts- als auch formorientiert erfolgen kann, wird zudem die Sprachbewusstheit5 und das metasprachliche Reflexionsvermögen der Lernenden gefördert. Da es sich bei den zu entschlüsselnden Zeichen – wie bereits angedeutet – nicht nur um sprachliche Zeichen, sondern auch um Bilder und materielle Dinge handeln kann, die »auf ihre symbolisch-zeichenhafte Seite hin untersucht werden«, wird dazu der Erwerb von visual literacy, d. h. der »Fähigkeit, Bilder zu lesen und zu verstehen« (Chen 2018, S. 138) durch Linguistic-Landscape-Projekte wie Spot German nachhaltig unterstützt sowie semiotische bzw. symbolische Kompetenz (vgl. Kramsch 2018) gefördert.6
3.
Bezugswissenschaften und methodische Zugänge
Wie aus dem vorangegangenen Diskurs bereits hervorgeht, kann die LinguisticLandscape-Forschung – je nach Ansatz und Untersuchungsziel – von den Erkenntnissen und dem methodischen Instrumentarium verschiedener Bezugswissenschaften profitieren. Dazu gehören neben der Linguistik (mit den Teilbereichen Semiotik, Pragmatik, Soziolinguistik, Spracherwerbsforschung, Interkulturelle Kommunikation, Mehrsprachigkeitsforschung, Bildlinguistik und Textlinguistik) die Kulturwissenschaften und die Soziologie (vgl. Janíková 2018). Da es bei Linguistic-Landscape-Projekten – wie oben erläutert – um das Sichten und Interpretieren von Zeichen im öffentlichen Raum geht, stellt die Semiotik eine sehr wichtige Bezugswissenschaft dar, aus der methodische Zugänge abgeleitet werden können. Davon ausgehend, dass die Interpretation des Zeichens einerseits stark an seine Verwendung im Raum gebunden ist, andererseits vom sprachlichen und außersprachlichen Wissen der Rezipient:innen abhängt, erscheint es sinnvoll, sich an einer pragmatisch ausgerichteten Zeichentheorien wie der von Keller (22018) zu orientieren, die nicht das Zeichen selbst, sondern seine Nutzer:innen in den Vordergrund stellt: 5 Vgl. zur affektiven, sozialen, politischen, kognitiven und performativen Dimension von Language Awareness Janíková (2018, S. 142ff). 6 Der von Kramsch aus soziolinguistischer Perspektive geprägte Begriff symbolic competence bezieht sich auf »die Fähigkeit, symbolische Systeme zu manipulieren, Zeichen und ihre vielfältigen Beziehungen zu anderen Zeichen zu interpretieren, semiotische Praktiken zu nutzen, um Bedeutung zu produzieren und zu vermitteln und um sich selbstbestimmt im alltäglichen Machtspiel zu positionieren« (Kramsch 2018, S. 193).
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Diese Auffassung von Zeichen ist im Vergleich zu traditionellen Zeichenkonzeptionen sehr viel stärker aus der Perspektive des Rezipienten formuliert. Sie eignet sich zur Anwendung auf Sprachlandschaften sehr gut, weil sie der Tatsache Rechnung trägt, dass Zeichen in erster Linie Interpretationsimpulse sind und allein in den meisten Fällen als isolierte Einheit keine hinreichende Bedingung für den Schluss auf ihren Sinn darstellen […] und dass zusätzliches Wissen über Zeichen und Zeichenverwendung sowie über den Kontext aktiviert werden muss, um verstehen zu können. (Ehrhardt/Müller-Jacquier 2018, S. 19)
Rezipient:innen interpretieren die von Produzent:innen im Raum zu dessen diskursiven Gestaltung hinterlassenen Zeichen, mit dem Ziel, ihren Sinn zu erschließen. Dabei muss betont werden, dass in Kellers Theorie, die auf einem instrumentalistischen Zeichenverständnis beruht,7 Bedeutung und Sinn grundsätzlich voneinander unterschieden werden müssen. Mit Bezug auf Wittgenstein setzt Keller die Bedeutung eines Wortes mit seinen Gebrauchsregeln in der Sprache, und zwar auf der Ebene der Langue gleich; der Sinn einer Äußerung liegt dagegen in dem Zweck, zu dem sie gemacht wurde. Rezipient:innen erschließen den Sinn einer Äußerung mit Hilfe von Interpretationsvorlagen, d. h. auf der Grundlage ihrer Kenntnis der Bedeutung sowie ihres Situations- und Kontextwissens: Das Interpretieren eines geäußerten Satzes gleicht der Wahrheitsfindung in einem Indizienprozess. Bedeutungen sind Indizien, die der Sprecher dem Adressaten zur Verfügung stellt, damit dieser auf der Basis der Kenntnis der Gebrauchsregeln und seines Situations- und Kontextwissens den Sinn der Äußerung erraten möge. ›Bedeutung‹ und ›Sinn‹ sind vollständig verschiedene Kategorien. Der Sinn einer Äußerung ist ihr Zweck; die Bedeutung eines Wortes ist seine Gebrauchsregel. (Keller 22018, S. 178)
Ehrhardt verweist diesbezüglich auf die aus pragmatischer Sicht zentrale Unterscheidung zwischen Gesagtem und Gemeintem, die er (in Anlehnung an Récanati und Sperber, zit. in Ehrhardt 2020, S. 142) um eine »dritte Ebene zwischen Wortbedeutung und Äußerungssinn oder situativer Bedeutung« ergänzt (ebd., S. 147): Die Kommunikation im öffentlichen Raum lässt sich als ein Beispiel dafür anführen, dass es zwischen der Ebene der wörtlichen Bedeutung und der der Äußerungsbedeutung tatsächlich mindestens eine weitere wichtige Stufe gibt, die man in einem ersten Ansatz als habitualisierte Bedeutung beschreiben kann […]. (ebd., S. 143)
Zur Untersuchung der Kommunikation in öffentlichen Räumen plädiert Ehrhardt dafür, mit den Griceschen Begriffen konversationelle Implikaturen, die das Mitgemeinte sowie entsprechende Anreicherungen seitens der Rezipient:innen 7 Vgl. zu einer ausführlichen Darstellung instrumentalistischer und repräsentationistischer Zeichenauffassungen sowie deren Abgrenzung voneinander Keller (22018, S. 29ff.).
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betreffen, und Präsuppositionen, die sich auf das Weltwissen der Rezipient:innen sowie die diesbezügliche Angemessenheit der Äußerung beziehen, zu arbeiten.8 Auch hier wird die Interpretationsleistung von Rezipient:innen unter Rückgriff auf die Griceschen generalisierten konversationellen Implikaturen als Integration von Wissensbeständen verstanden: Mit der habitualisierten Bedeutung von Zeichen sind bestimmte Normalitätserwartungen hinsichtlich ihrer Verwendung verbunden, die den Rezipient:innen im Zusammenspiel mit ihrem Situationswissen Schlussfolgerungen in Bezug auf den Sinn der Äußerung erlauben. Einfacher formuliert bedeutet die Sinnerschließung einer Schrift in öffentlichen Räumen, herauszufinden, »wer das Zeichen zu welchem Zweck und für welchen Adressatenkreis produziert hat und welche kommunikativen (perlokutiven) Effekte damit erzielt werden« (Ehrhardt/Müller-Jacquier 2018, S. 19). Neben der Frage nach der habitualisierten Bedeutung von Zeichen und ihrem Sinn in einem bestimmten Verwendungskontext, sollte aus interkultureller Perspektive gefragt werden, ob bzw. welche möglichen Rückschlüsse die entdeckten Zeichen auf die Eigen- und Fremdkultur sowie auf den entsprechenden Sprach- und Kulturkontakt erlauben. Darüber hinaus bietet die Untersuchung von Schriften in öffentlichen Räumen in didaktischen Kontexten häufig Gelegenheit dazu, über formale Auffälligkeiten wie Irregularitäten, Übersetzungsfehler, Codemixing u. v. a. m. nachzudenken.
4.
Von der Theorie zur Empirie
Im Folgenden werde ich nun einen Einblick in meine Studie zu Linguistic Landscapes geben, die sowohl ein eigenes Korpus mit Bildmaterialien als auch einen von mir ausgeschriebenen Wettbewerb unter Deutschlernenden in Bari und Umgebung umfasst.9
4.1
Langzeitstudie
Die vorliegende Studie basiert auf der Ausgangsthese, dass sich auch in einem historisch und soziopolitisch nicht wesentlich durch Sprach- und Kulturkontakt mit deutschsprachigen Ländern geprägten Umfeld wie der Stadt Bari (und ihrer Umgebung) Spuren ausfindig machen lassen, die auf die deutsche Sprache und/ oder deutschsprachige(n) Kultur(en) verweisen und entsprechend für didaktische Zwecke genutzt werden können. Das von mir 2018 angelegte und seither 8 Vgl. zu dieser Begrifflichkeit Ehrhardt/Heringer (2011) und Liedtke (2016). 9 Eine ausführliche Darstellung und Auswertung der Studie ist in Vorbereitung.
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ständig erweiterte Korpus umfasst derzeit10 ca. 250 in Bari und Umgebung aufgenommene Fotos von Schriftzügen und anderen in öffentlichen und semi-öffentlichen Räumen gesammelten Zeichen. Im Hinblick auf die Klassifizierung eines solchen Korpus zeigt die LinguisticLandscape-Forschung ( je nach Untersuchungsinteresse) verschiedene Möglichkeiten auf. Androutsopoulos (2008) unterscheidet u. a. in Bezug auf die Urheberschaft zwischen top down Schildern, d. h. amtlichen Schildern bzw. solchen, die z. B. zur Orientierung an Flughäfen oder Bahnhöfen angebracht werden, und bottom up Schildern, d. h. privat-kommerziellen Schildern von privaten Unternehmen, wie sie etwa an und in Gaststätten oder Geschäften vorzufinden sind. Daneben weist Androutsopoulos auf nicht autorisierte Zeichen wie Graffiti als weitere mögliche Kategorie hin. Aufgrund meines fremdsprachendidaktischen Interesses und den damit u. a. verbundenen Lernzielen der culture und language awareness (siehe Kap. 2.2) wurde das hier vorgestellte Korpus bisher in drei große Kategorien mit verschiedenen Subkategorien eingeteilt. Kategorie 1 bezieht sich auf den Bereich der Landeskunde und umfasst Subkategorien wie Geschichte, Geografie, Wirtschaft, Gastronomie und Lebensmittel, Kunst (also Literatur, Musik, Film etc.), Jugendkultur usw. Kategorie 2 fokussiert auf den Kulturkontakt und schließt damit Subkategorien wie den großen Bereich des Tourismus ein. Kategorie 3 rückt sprachliche Aspekte in den Vordergrund und umfasst dementsprechend Subkategorien wie mehrsprachige Texte, Fehlübersetzungen, Codemixing, Lehnwörter etc. Im Folgenden werden nun einzelne Beispiele aus diesen Kategorien herausgegriffen und deren Potenzial für den Fremdsprachenunterricht skizziert. 4.1.1 Fokus Landeskunde Ein für landeskundliche Fragestellungen wichtiger Bereich stellt die Geschichte dar. Diesbezüglich stößt man auch heute noch auf Symbole11 und Schriftzüge, die auf die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands (und den damit einhergehenden Faschismus in Teilen Europas) verweisen. Abbildung 1 zeigt ein Metallschild mit der Aufschrift SS, das neben anderen Objekten und historischen Fotografien, auf denen nationalsozialistische Schriften und Symbole zu sehen waren, auf einem Trödelmarkt in der Stadt zum Verkauf angeboten wurde. Anhand von Fotos wie diesem kann im Unterricht gut die Bedeutung solcher Schriften und Symbole, d. h. ihre Gebrauchsregeln in der damaligen Zeit, besprochen und generell in dieses dunkle Kapitel der deutschen Geschichte ein10 Die Angabe bezieht sich auf den Stand von Dezember 2022. 11 Vgl. zur zeichentheoretischen Unterscheidung von Symptomen, Ikonen und Symbolen Keller (22018, S. 157ff.).
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geführt werden. Darüber hinaus kann man Überlegungen dazu anstellen bzw. Recherchen dazu durchführen, die hinterfragen, was die Präsenz solcher Objekte über den Raum aussagt, in dem sie heute sichtbar sind: Warum werden Objekte mit nationalsozialistischen Zeichen zum Verkauf angeboten? Wer sind die potenziellen Käufer?12 Was ist über das Leben während des Faschismus in Bari bekannt? Gibt es auch heute noch faschistische Gruppierungen in der Stadt?
Abb. 1: Metallschild der SS13.
Eine Brücke zur Gegenwart und zu entsprechenden neofaschistischen Tendenzen einerseits bzw. antifaschistischen Einstellungen andererseits bietet ein in einem Supermarktaufzug in Bari aufgenommenes Foto (siehe Abbildung 2), auf dem in der Mitte das Hakenkreuzsymbol zu sehen ist. Bei genauerem Hinschauen liest man links und rechts neben dem Hakenkreuz, unter den Aufklebern die Schrift »Juden raus«, die als Zeugnis neofaschistischen Gedankenguts in der Stadt bewertet werden kann. Der Effekt der Ablehnung, den diese Schrift im öffentlichen Raum bewirkt hat, ist daran zu erkennen, dass sie gezielt überklebt wurde.14 Die Erschließung der Bedeutung und des Sinns dieser (überklebten) Schrift lässt sich im Unterricht mit zahlreichen Leitfragen steuern: Welche Bedeutung hatte die Äußerung im historischen Kontext? Wo war sie zur damaligen Zeit erwartbar und 12 Auf Nachfrage äußerte der Händler, dass es in der Stadt zahlreiche Historiker gäbe, die aus wissenschaftlichem Interesse an solchen historischen Fundstücken interessiert seien. Ob diese wirklich die Hauptklientel darstellen, oder nicht auch neofaschistisches Publikum dazu zählt, lässt sich nicht nachweisen. 13 Foto von der Autorin. 14 Dies kann mit Sicherheit behauptet werden, da die Schrift wenige Tage zuvor ohne die Aufkleber gut zu sehen war und diese also erst im Nachhinein angebracht worden sind.
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welche Intention war damit verbunden? Welche graphischen Aspekte verweisen auf den historischen Kontext? Wer könnte der/die Urheber:in einer solchen Schrift sein? Wie ist die Schrift im vorgefundenen Raum zu interpretieren? Mit welcher Intention wurde die Schrift in diesem Raum hinterlassen? Wie wurde sie rezipiert bzw. warum wurde sie überklebt? Welche Rückschlüsse können einerseits durch das Vorhandensein dieser Schrift, andererseits durch ihr Überkleben auf die Einstellungen bestimmter Bevölkerungsteile in der Stadt gegenüber der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands gemacht werden?
Abb. 2: Überklebtes Hakenkreuz mit Schrift »Juden raus«15.
4.1.2 Fokus Sprache Wie oben bereits angedeutet können Linguistic Landscapes in didaktischen Kontexten nicht nur zur Erarbeitung landeskundlicher Thematiken genutzt werden, sondern auch der Sprachreflexion dienen. Abbildung 3 zeigt das Ladenschild eines Reisebüros mit dem Namen Wanderlust.16 Beispiele wie diese bieten Anreiz dazu, sich mit Lehnwörtern in der L1 und in der Fremdsprache zu beschäftigen und diese beispielsweise neben den Fragen zu (Wort-)Bedeutung und (Äußerungs-)Sinn in Bezug auf morphologische und semantische Eigenschaften zu untersuchen. Für das vorliegende Beispiel können dabei folgende Fragen im Mittelpunkt stehen: Aus welchen Morphemen setzt sich das Wort zusammen? Um welche Wortbildungstechnik handelt es sich? Welche Bedeutung hat das Wort in der Herkunftssprache Deutsch? Woher kommt das Wort im
15 Foto von der Autorin. 16 Das Reisebüro befindet sich in Ruvo di Puglia, einer Ortschaft in der Provinz Bari.
Zum Nutzen von Linguistic Landscapes im DaF-Unterricht
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Deutschen? Welche Bedeutung nimmt das Wort im Italienischen an?17 Was möchte der Ladenbesitzer durch diesen Geschäftsnamen bewirken?
Abb. 3: Reisebüro Wanderlust18.
Zur Sprachreflexion eignen sich auch in besonderem Maße fehlerhafte Übersetzungen, welche u. a. auf mehrsprachigen Schildern zu finden sind, die sich an Tourist:innen wenden. Abbildung 4 zeigt drei Schilder, die am Eingang eines Strandes19 von dessen Pächter:innen offensichtlich zu informatorischen Zwecken aufgestellt wurden. Das Beispiel enthält zahlreiche eklatante Übersetzungsfehler, die das Verständnis vor allem dann behindern, wenn der Text nicht durch ein Bild unterstützt wird.
17 Das Lehnwort Wanderlust ist sprachlich besonders interessant, da es m. E. gerade auf dem Weg über das Englische ins Italienische gelangt und so die dort verzeichnete Bedeutung ›Reiselust‹ und nicht die im Deutschen kodifizierte Bedeutung ›Lust, Freude am Wandern‹ übernimmt. Diese Hypothese kann im Unterricht durch die Recherche entsprechender Paralleltexte überprüft werden. 18 Foto von Thomas Bauer. 19 Das Foto wurde in Capitolo aufgenommen, einer Ortschaft, die zu der Stadt Monopoli (Provinz Bari) gehört.
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Abb. 4: Mehrsprachige Schilder mit Übersetzungsfehlern20.
Folgende Übersetzungsfehler können in diesem Beispiel herausgearbeitet und untersucht werden: Ausgangstext it. accesso it. lettino
Fehlübersetzung Zugang *Cot Meer
mögliche korrekte Übersetzung dt. Eintritt dt. Strandliege
it. sdraio it. con lettino o sdraio l’accesso incluso
*Strandkorbe der Eingang mit Tisch oder Stühle ist im Preis inbegriffen
dt. Liegestuhl dt. beim Mieten einer Strandliege oder eines Liegestuhls ist der Eintrittspreis inbegriffen
it. La differenza di prezzo Der Preisunterschied ist dt. Der Preisunterschied ergibt è dovuta alla distanza tra fällig vom Abstand von sich aus dem Abstand der Songli ombrelloni. Regenschirmen. nenschirme. Tab. 1: Fehlübersetzungen mit Korrekturvorschlägen.
Wie die Fehlübersetzung *Strandkorbe verdeutlicht, kann bei der Übersetzungsanalyse neben semantischen, morphologischen, syntaktischen, pragmatischen und funktionalen Aspekten auch die Kulturspezifik eine große Rolle spielen. Diese kann in diesem Beispiel durch folgende Leitfragen reflektiert werden: Warum ist die Übersetzung von it. sdraio mit *Strandkorbe falsch bzw. irreführend? Was bedeutet das Wort Strandkorb und welche Normalitätserwartungen sind damit in seinem üblichen Gebrauchskontext im Deutschen verbunden? 20 Foto von der Autorin.
Zum Nutzen von Linguistic Landscapes im DaF-Unterricht
4.2
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Wettbewerb
Um die didaktische Relevanz des Spot-German-Ansatzes zu testen, habe ich im Rahmen meiner Studie im Frühjahr 2022 einen Wettbewerb unter Deutschlernenden der Sekundarstufe II an Schulen und der Universität Bari durchgeführt.21 Die Laufzeit des Wettbewerbs betrug sechs Wochen. Innerhalb dieses Zeitraums sollten sich die Teilnehmenden auf Spurensuche begeben und in öffentlichen bzw. semi-öffentlichen Räumen der Stadt Bari und Umgebung Fotos von einer Schrift oder einem Objekt machen, das auf die deutsche Sprache und/oder Kultur(en) der deutschsprachigen Länder verweist. Darüber hinaus musste zu jedem Bild ein Text verfasst werden, in dem die Bedeutung und/oder der Sinn der abgebildeten Schrift bzw. des Objekts reflektiert, aber auch Gefühle und persönliche Gedanken geäußert werden konnten. Im direkten Anschluss an die Teilnahme am Wettbewerb sollte ein Fragebogen beantwortet werden, der über google forms zugänglich war, und der Evaluierung des Projekts diente. Insgesamt haben 36 Deutschlernende, teils individuell, teils in Gruppen, an dem Wettbewerb teilgenommen. Jede/r Teilnehmende bzw. jede Gruppe konnte bis zu drei Fotos einsenden. Es wurden insgesamt 38 Fotos mit entsprechenden Texten eingereicht. Alle Einsendungen wurden von einer Jury22 hinsichtlich der Aussagekraft des Bild-Text-Verbundes bewertet. Der Wettbewerb mündete in einer Ausstellung aller Einsendungen an unserem Institut (Dipartimento di Ricerca e Innovazione Umanistica), bei deren Eröffnung die drei Hauptgewinner:innen ausgezeichnet wurden. Mit dem ersten Platz wurde ein Foto mit dem Titel »Una via tedesca a Palo del Colle« ausgezeichnet, das ein Straßenschild mit dem Namen »Biebesheim am Rhein« zeigt (siehe Abbildung 5).
21 Die Durchführung des Wettbewerbs fand mit der großzügigen Unterstützung unserer DAADLektorin Laura Kersten statt, der an dieser Stelle herzlich gedankt sei. Darüber hinaus gebührt den Schulleiterinnen und Lehrer:innen des neusprachlichen Gymnasiums »Marco Polo« sowie des altsprachlichen Gymnasiums »Socrate« besonderer Dank für die gute Zusammenarbeit im Rahmen des Projekts. 22 Die Jury setzte sich aus der Autorin, der bereits erwähnten DAAD-Lektorin Laura Kersten und Ulrike Reeg, Professorin für Deutsche Sprache und Sprachwissenschaft an der Universität Bari, zusammen. Auch ihr sei herzlich gedankt.
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Abb. 5: Gewinnerfoto des Wettbewerbs »Spot German in Bari«23.
Der für die Ortschaft ungewöhnliche Straßenname gibt der Studentin Anlass für vielfältige Reflexionen hinsichtlich seiner Bedeutung und des Sinns, den er im Verwendungskontext erhält: Dieses Bild repräsentiert eine der vielen Straßen meiner kleinen Stadt, die Palo del Colle heißt und etwa 30 Minuten von Bari entfernt ist. Sie hat eine Besonderheit im Vergleich zu anderen Straßen, denn sie hieß ursprünglich Via Toritto, aber nach der Städtepartnerschaft zwischen einer kleinen Stadt in Apulien, Palo del Colle, und der deutschen Stadt Biebesheim, ist sie den Via Biebesheim am Rhein genannt. Die Städtepartnerschaft wurde im Jahr 1986 von Bürgermeister Domenico Frisone zu Ehren der nach Deutschland ausgewanderten Einwohner von Palo del Colle gewollt, die die Be-
23 Foto von Dorotea L.
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ziehung zu ihrem Herkunftsland aufrechterhalten wollten. Dank dieser Städtepartnerschaft ist es möglich, Gastgeber zu sein und Gastgeber zu werden, um kulturelle Vereinigungen, Patronatsfeste und Traditionen beider Länder kennenzulernen. Diese deutsche Straße in Palo del Colle ist also das Symbol unserer Städtepartnerschaft.
Der am Textanfang erfolgte Hinweis auf die Umbenennung der Straße gibt zu verstehen, dass die Teilnehmerin die Straße der Ortschaft als dynamischen, diskursiv gestalteten Raum erkannt hat, der etwas über die Stadtgeschichte mitteilt. Durch das Hinterfragen des informatorischen Verweises auf die Städtepartnerschaft von Palo del Colle mit Biebesheim am Rhein und der dabei aufgedeckten Motivation für die Umbenennung der Straße entdeckt die Studentin zahlreiche kulturelle Hinweise in Bezug auf ihren Herkunftsort, das Zielsprachenland sowie deren interkulturelle Beziehung zueinander: Zunächst wird Palo del Colle als Ort der Auswanderung und Biebesheim am Rhein bzw. Deutschland als Einwanderungsland erfasst. Bei weiterführenden Diskussionen im Unterricht kann dieses Zeugnis also Anlass dazu geben, über die meist wirtschaftlichen Gründe der Auswanderung tausender Süditaliener:innen ab den 1950er Jahren, über den durch das Wirtschaftswunder in Deutschland bedingten Arbeitskräftemangel und das damit verbundene Phänomen der sogenannten »Gastarbeiter« sowie über dessen Auswirkungen auf die heutige plurikulturelle Gesellschaft in Deutschland nachzudenken. Darüber hinaus sagt der Text der Studentin etwas über die Identität bzw. die kulturelle Verwurzelung der Auswander:innen in ihrem Herkunftsort aus, da betont wird, dass die Straße zu Ehren der ausgewanderten Einwohner:innen von Palo del Colle umbenannt wurde, »die die Beziehung zu ihrem Herkunftsland aufrechterhalten wollten«. Zudem wird auf die Funktion der Städtepartnerschaft verwiesen, interkulturelle Begegnungen und damit interkulturelles Lernen zu fördern. Abschließend wird der symbolische Charakter des Straßennamens erkannt. Wie bereits erwähnt, wurde der Wettbewerb mittels einer Fragebogenerhebung evaluiert, an der insgesamt 30 Lernende anonym teilgenommen haben. Dabei erklärte die Mehrheit der Teilnehmenden, dass es »sehr« oder »ziemlich einfach« war, in ihrer Stadt interessante Elemente ausfindig zu machen, die mit der deutschsprachigen Kultur in Verbindung stehen. Darüber hinaus ließ sich das Erreichen vielfältiger Lernziele durch folgende, mehrheitlich geäußerte Aussagen bestätigen: – Die Teilnahme am Wettbewerb führte zu einer neuen Wahrnehmung der eigenen Stadt und es wurden Dinge gesehen, die vorher nicht aufgefallen waren. – Durch die Teilnahme am Wettbewerb konnte etwas Neues über die Heimatstadt erfahren und ein Bewusstsein bezüglich der Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität der eigenen Stadt geschaffen werden.
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– Dank der Teilnahme am Wettbewerb wurde neues Wissen über die deutsche Sprache und Kultur erworben, das auch Anlass dazu war, die deutsche Sprache und Kultur zu reflektieren. – Die Teilnahme am Wettbewerb war motivierend, um weiter Deutsch zu lernen.
5.
Fazit
Wie die Evaluierung des Wettbewerbs Spot German in Bari zeigt, steckt in der Forschung zu Linguistic Landscapes ein weitreichendes (fremdsprachen)didaktisches Potenzial. Dieses konnte im Rahmen des vorliegenden Beitrags nur ansatzweise theoretisch skizziert und exemplarisch illustriert werden. Das zunehmende wissenschaftliche Interesse an diesem recht jungen Forschungsgebiet lässt jedoch hoffen, dass einerseits weitere methodische Impulse aus den verschiedenen Bezugswissenschaften zu erwarten sind und andererseits deren Umsetzung im Unterrichtsalltag durch entsprechende Projektarbeit Fuß fassen kann. Abschließend sei angemerkt, dass die dem Beitrag vorangestellte Frage »Warum in die Ferne schweifen?« selbstredend rhetorisch-provokativ zu verstehen ist. Natürlich gibt es unzählige gute Gründe, Deutschlernende zu motivieren, z. B. durch die Teilnahme an Austauschprogrammen wie Erasmus+, direkte Erfahrungen in einem deutschsprachigen Land zu sammeln. Da es sich dabei jedoch nur um vereinzelte, wenn auch nachhaltige, so doch zeitlich begrenzte Erfahrungen handelt, gibt es mindestens ebenso viele Gründe, im eigenen Lebensalltag nach Sprach- und Kulturerfahrungen zu suchen. Denn gerade in Zeiten, in denen die Mobilität der Lernenden wie in den vergangenen Jahren durch die Coronapandemie stark eingeschränkt ist, scheint es umso wichtiger, den Blick für das eigene Umfeld zu schärfen und diese als Sprachlandschaft wahrzunehmen, die oft erstaunlich viele Anlässe dazu gibt, über die zu erwerbende Sprache und die mit ihr verbundenen kulturellen Aspekte zu reflektieren.
Literatur Androutsopoulos, Jannis: Linguistic Landscapes: Visuelle Mehrsprachigkeitsforschung als Impuls an die Sprachpolitik, Vortrag auf dem Internationalen Symposium »StädteSprachen-Kulturen«, King’s College London, 2008, verfügbar unter: https://jannisandr outsopoulos.files.wordpress.com/2011/05/j-a-2008-linguistic-landscapes.pdf [letzter Zugriff am 01. 12. 2022]. Androutsopoulos, Jannis/Kuhlee, Franziska: Die Sprachlandschaft des schulischen Raums. Ein diskursfunktionaler Ansatz für linguistische Schoolscape-Forschung am Beispiel
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eines Hamburger Gymnasiums. In: »Zeitschrift für angewandte Linguistik«, 2021/75, S. 195–243. Auer, Peter: Sprachliche Landschaften. Die Strukturierung des öffentlichen Raums durch die geschriebene Sprache. In: Deppermann, Arnulf/Linke, Angelika (Hg.): Sprache intermedial. Berlin/New York: De Gruyter 2010, S. 271–298. Chen, Eva Veronica: Neues (Er-)Leben zwischen alten Dingen? Kulturvermittlung und Visual Literacy – ein Pilotprojekt für neu Zugewanderte und Geflüchtete in Thüringer Museen. Deutsch als Fremd- und Zweitsprache & Kulturwissenschaft. Zugänge zu sozialen Wirklichkeiten. München: iudicium 2018, S. 135–158. Cenoz, Jason/Gorter, Durk: Linguistic Landscapes as an Additional Source of Input in Second Language Acquisition. In: »IRAL – International Review of Applied Linguistic in Language Teaching«, 2008/46, S. 257–276. Ehrhardt, Claus: Was muss man wissen, um Straßenschilder zu verstehen? Pragmatische Anmerkungen zur Kommunikation in öffentlichen Räumen. In: »Studi Germanici – Quaderni dell’AIG«, 2020/3, S. 127–147. Ehrhardt, Claus/Heringer, Hans Jürgen: Pragmatik. Paderborn: W. Fink 2011. Ehrhardt, Claus/Marten, Heiko F.: Linguistic Landscapes – Sprachlandschaften. Ein einleitender Forschungsüberblick. In: »Der Deutschunterricht«, 2018/4, S. 2–11. Ehrhardt, Claus/Müller-Jacquier, Bernd: Zeichen und Raum. Zeichentheoretische und pragmatische Anmerkungen zu Sprachlandschaften. In: »Der Deutschunterricht«, 2018/ 4, S. 12–24. Gogolin, Ingrid: Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster: Waxmann 2 2008. Gorter, Durk: Introduction: The Study of the Linguistic Landscape as a New Approach to Multilingualism. In: »International Journal of Multilingualism«, 2006/3:1, S. 1–6. Heimrath, Ralf: Spot German in Malta – Spurensuche an allen Ecken und Enden. In: Marten, Heiko F./Saagpakk, Maris (Hg.): Linguistic Landscapes und Spot German an der Schnittstelle von Sprachwissenschaft und Deutschdidaktik. München: iudicium 2017, S. 19–42. Janíková, Veˇra: Linguistic Landscapes aus fremdsprachendidaktischer Perspektive. In: Badstübner-Kizik, Camilla/Janíková, Veˇra (Hg.): »Linguistic Landscape« und Fremdsprachendidaktik. Perspektiven für die Sprach-, Kultur- und Literaturdidaktik. Berlin: Lang 2018, S. 137–172. Keller, Rudi: Zeichentheorie. Eine pragmatische Theorie des semiotischen Wissens. Tübingen: Narr Francke Attempto 22018. Kramsch, Claire: Symbolische Kompetenz. In: Schiedermair, Simone (Hg.). Deutsch als Fremd- und Zweitsprache & Kulturwissenschaft. Zugänge zu sozialen Wirklichkeiten. München: iudicium 2018, S. 189–206. Landry, Rodrigue/Bourhis, Richard Y.: Linguistic Landscapes and Ethnolinguistic Vitality. An Empirical Study. In: »Journal of Language and Social Psychology«, 1997/16, S. 23–49. Liedtke, Frank: Moderne Pragmatik. Grundbegriffe und Methoden. Tübingen: Narr Francke Attempto 2016. Marten, Heiko F./Saagpakk, Maris: Linguistic Landscapes und Spot German an der Schnittstelle von Sprachwissenschaft und Deutschdidaktik. In: Marten, Heiko F./Saagpakk, Maris (Hg.): Linguistic Landscapes und Spot German an der Schnittstelle von Sprachwissenschaft und Deutschdidaktik. München: iudicium 2017, S. 7–18.
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Ulrike Simon (Università di Bari)
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Maria Paola Bissiri (Università dell’Insubria, Como) / Livia Tonelli (Università di Genova)1
Annäherung der Distanz zwischen dem Deutschen und anderen Sprachen: die phonetische Konvergenz
Mit dem Begriff phonetische Konvergenz wird die Annäherung der Aussprache zweier Kommunikationspartner:innen bezeichnet. Sie erfolgt hauptsächlich automatisch und unbewusst und wurde für eine große Vielfalt von sowohl prosodischen als auch segmentalen phonetischen Eigenschaften akustisch gemessen. Unser Beitrag fokussiert auf die Ergebnisse der bestehenden Studien zur phonetischen Konvergenz zwischen Deutschmuttersprachler: innen und Muttersprachler:innen des Französischen, Englischen, Spanischen und Polnischen und zielt speziell auf die Faktoren ab, die dieses Phänomen auslösen. Phonetics; Phonology; Phonetic Convergence; Phonetic Adaptation; German L1/L2.
1.
Einführung
Verbale Kommunikation erfolgt durch die gegenseitige Annäherung von zwei mehr oder weniger entfernten Teilnehmer:innen. Dies geschieht zunächst durch die Kopplung der neuronalen Prozesse im Gehirn der sprechenden mit den neuronalen Prozessen im Gehirn der hörenden Person mittels der Übertragung eines Sprachsignals (Hasson et al. 2012). Verschiedene Studien haben gezeigt, dass sich während der Kommunikation die phonetischen – segmentalen und suprasegmentalen – Eigenschaften der Sprache zweier Sprecher:innen auf natürliche Weise annähern, d. h. phonetisch konvergieren (Pardo 2006). Die meisten Studien zum Thema beschäftigen sich mit der phonetischen Konvergenz zwischen Muttersprachler:innen (vgl. hierzu unten Kap.1.1), einige neuere Studien untersuchen jedoch die phonetische Konvergenz zwischen L1und L2-Sprecher:innen (u. a. Kim 2011; Kim et al. 2011; Lewandowski 2012; Lewandowski/Jilka 2019; Ulbrich 2019; Gessinger et al. 2020; Gnevsheva et al. 2021; Wagner et al. 2021 und weitere Verweise in 1.2). Diese zweite Form der phonetischen Konvergenz bildet den Untersuchungsgegenstand unseres Beitrags. Er fokussiert auf die Ergebnisse der bestehenden 1 Der Beitrag ist das Ergebnis einer gemeinsamen Diskussion zwischen beiden Autorinnen, für die Konzeption und die schriftliche Fassung ist jedoch Maria Paola Bissiri verantwortlich.
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Maria Paola Bissiri / Livia Tonelli
Studien zur phonetischen Konvergenz zwischen Deutschmuttersprachler:innen und Muttersprachler:innen des Französischen, Englischen, Spanischen und Polnischen (vgl. hierzu Kap. 2) und zielt speziell auf die Faktoren ab, die dieses Phänomen auslösen.
1.1
Die phonetische Konvergenz
Mit dem Begriff phonetische Konvergenz – auch Adaptierung genannt – wird die Annäherung der Aussprache zweier Kommunikationspartner:innen bezeichnet (Pardo 2006; Lewandowski/Jilka 2019). Diese Annäherung der phonetischen Eigenschaften zweier Sprecher:innen erfolgt hauptsächlich automatisch und unbewusst (Lewandowski 2012). Phonetische Konvergenz wurde für eine große Vielfalt von sowohl prosodischen als auch segmentalen phonetischen Eigenschaften akustisch gemessen (s. Pardo et al. 2022), z. B. Äußerungsdauer (Matarazzo et al. 1963; Cappella et al. 1981), Intensität (Natale 1975a), Pausendauer (Natale 1975b), Artikulationsrate (berechnet als Verhältnis zwischen Silbenzahl und Vokalisierungsdauer) (von Schweitzer/Lewandowski 2013), Grundfrequenz und Stimmqualität (Levitan/Hirschberg 2011; Aubanel/Nguyen 2020), Grundfrequenz, gefüllte Pausen und Sprechgeschwindigkeit (Priva/Sanker 2018), Stimmeinsatzzeit bei Plosiven (Nielsen 2011), Vokalqualität (Babel 2012; Schweitzer/ Lewandowski 2014). Als Erklärung der phonetischen Konvergenz gibt es grundsätzlich zwei Hauptansätze: die Communication Accomodation Theory (CAT) (z. B. Giles/ Powesland 1975; Giles 2016) und das Interactive Alignment Model (IAM) (Pickering/Garrod 2004, 2021). Laut dem CAT-Ansatz wird die phonetische Konvergenz durch soziale Faktoren bedingt. Der IAM-Ansatz berücksichtigt hingegen keine sozialen Faktoren und sieht die phonetische Konvergenz als einen automatischen und unbewussten Prozess, der das gegenseitige Verständnis zwischen Gesprächspartner:innen vereinfacht (Hasson et al. 2012, S. 117). Laut beiden Ansätzen ist die Konvergenz die Default-Einstellung: Divergenz hingegen erfolgt nur, wenn sich Sprecher:innen absichtlich sozial distanzieren möchten (Giles/Ogay 2006) bzw. einem unangebrachten Sprachverhalten der Gesprächspartner:innen entgegenwirken möchten, z. B. wenn man langsamer mit zu schnellen Sprecher:innen spricht (Pardo et al. 2022, S. 2). Neben den CAT- und IAM-Ansätzen sind weitere »hybride« Modelle entstanden, die nicht nur soziale und physiologische, sondern auch linguistische, kognitive und psychologische Faktoren berücksichtigen (z. B. Krauss/Pardo 2004; Pardo 2012; Lewandowski 2012; Lewandowski/Jilka 2019). Am häufigsten wurden soziale Faktoren als Auslöser der phonetischen Konvergenz untersucht (Lewandowski/Jilka 2019). Die Konvergenz wird von der
Annäherung der Distanz zwischen dem Deutschen und anderen Sprachen
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sozialen Hierarchie beeinflusst: Gesprächspartner:innen mit geringerem sozialem Status konvergieren mit Gesprächspartner:innen mit höherem sozialem Status (Gregory/Webster 1996). Soziale Voreingenommenheit spielt z. B. auch eine Rolle, s. etwa rassistische bzw. sexistische Vorurteile (Babel 2009, 2012; Abrego-Collier et al. 2011). Darüber hinaus wird die Konvergenz von der Evaluierung der Gesprächspartner:innen beeinflusst, z. B. von der wahrgenommenen Freundlichkeit bzw. Attraktivität (Pardo et al. 2012; Schweitzer/Lewandowski 2013, 2014). Sowohl der CAT- als auch der IAM-Ansatz vernachlässigen den Einfluss psychologischer und kognitiver Faktoren auf die phonetische Konvergenz (Pardo et al. 2022), so dass dieser seltener untersucht wurde (Lewandowski/Jilka 2019). Lewandowski und Jilka (2019) fanden allerdings, dass Persönlichkeitseigenschaften wie Offenheit für neue Erfahrungen und Neurotizismus einen positiven, während Verhaltenshemmung einen negativen Einfluss auf die Konvergenz haben. Laut ihren Ergebnissen wirkt sich auch eine langsame Aufmerksamkeitsumschaltung – ein kognitiver Faktor – ungünstig auf die Konvergenz aus. Nach einer Studie von Abel und Babel (2017) wird die phonetische Konvergenz durch die kognitive Belastung bei der Durchführung einer Aufgabe verringert. Neben den obengenannten »hybriden« Ansätzen, die nicht nur soziale, sondern auch psychologische und kognitive Faktoren in Betracht ziehen, beruht ein weiterer Ansatz auf der Interpersonal Synergy (zwischenmenschliche Synergie) (Fusaroli et al. 2014; Fusaroli/Tylén 2016). Laut diesem Ansatz kooperieren Gesprächspartner:innen zielorientiert, d. h. die phonetischen Konvergenzphänomene dienen dem jeweiligen kommunikativen Ziel und übernehmen daher eine dialogspezifische Funktion. Olmstead et al. (2021) fanden diesen Ansatz besonders geeignet, um die Variation der phonetischen Konvergenz zwischen L2und L1-Sprecher:innen zu erläutern (s. 1.2).
1.2
Phonetische Konvergenz zwischen L2- und L1-Sprecher:innen
Die phonetische Konvergenz und das erfolgreiche Lernen der L2-Aussprache haben gleiche Voraussetzungen, d. h. das Vorhandensein der Fähigkeit, die phonetischen Eigenschaften der L2 korrekt wahrzunehmen und diese in der eigenen Aussprache treu zu reproduzieren (Lewandowski/Jilka 2019). Man könnte annehmen, dass L2-Sprecher:innen mit L1-Gesprächspartner:innen mehr konvergieren, weil sie sie als sprachlich überlegen betrachten. Jedoch müssen Sprecher:innen, die bewusst oder unbewusst konvergieren, die Fertigkeit besitzen, die erforderliche akustisch-phonetische Information schnell zu speichern und wiederzuverwenden (Lewandowski/Jilka 2019, S. 6). L2-Sprecher: innen könnten wegen ihrer begrenzten sprachlichen Fähigkeiten in der L2
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Maria Paola Bissiri / Livia Tonelli
Schwierigkeiten haben, mit L1-Sprecher:innen nicht nur phonetische (Olmstead et al. 2013, Hwang et al. 2015), sondern auch überhaupt linguistische Konvergenzeffekte zu erzielen (Costa et al. 2008; Olmstead et al. 2021). Darüber hinaus kann die Interaktion mit L2-Sprecher:innen Kommunikationshürden mit sich bringen, die zur Erhöhung der kognitiven Belastung führen und dadurch die phonetische Konvergenz hindern können (Abel/Babel 2017). Studien zur phonetischen Konvergenz zwischen L2- und L1-Sprecher:innen ergaben, dass im Vergleich zu Interaktionen zwischen L1-Gesprächspartner:innen weniger, oder sogar keine Konvergenz bestand (s. Olmstead et al. 2021 und darin enthaltene Verweise). Die phonetische Konvergenz kann jedoch durch eine spezifische Zielaufgabe moduliert werden: In der Studie von Hwang et al. (2015) erzielten die L2-Sprecher:innen größere Konvergenzeffekte, wenn die Gesprächspartner: innen die Aufgabe hatten, Elemente von Minimalpaaren zu unterscheiden. Olmstead et al. (2021) fanden nicht nur, dass die von L2-Sprecher:innen erzielten phonetischen Konvergenzeffekte abhängig von der Rolle der Gesprächspartner: innen (L1- bzw. L2-Sprecher:innen) variierten, sondern auch in jedem Dialog unterschiedlich waren: In jeder dialogischen Interaktion variierten die Strategien, um die kommunikative Zielaufgabe zu erreichen. Aus diesem Grund finden Olmstead et al. (2021) den Ansatz der Interpersonal Synergy (Fusaroli et al. 2014; Fusaroli/Tylén 2016) am geeignetsten, um die phonetische Konvergenz zwischen Sprecher:innen unterschiedlicher Muttersprachen zu erklären. In jedem Dialog synergieren Gesprächspartner:innen, um ein kommunikatives Ziel zu erreichen. Dabei ist die phonetische Konvergenz nur ein – nicht obligatorisches – Verfahren, das in der Kommunikation verwendet wird. Statt sich aneinander anzupassen, könnten Gesprächspartner:innen sich gegenseitig kompensieren (reciprocal compensation) (Fusaroli et al. 2014; Olmsted et al. 2021), wenn dies dem kommunikativen Zweck besser dient.
2.
Konvergenz zwischen Muttersprachler:innen des Deutschen und Muttersprachler:innen anderer Sprachen
Wie in der Einführung bereits erwähnt, sind uns wenige Studien zur phonetischen Konvergenz zwischen deutschen Muttersprachler:innen und Muttersprachler:innen anderer Sprachen (L2-L1 Konvergenz) bekannt: Lewandowski (2012), Lewandowski und Jilka (2019), Ulbrich (2019, 2021), Gessinger et al. (2020), Demenko et al. (2016), Bachan et al. (2020). Im Folgenden werden die erwähnten Studien kurz dargestellt und besprochen.
Annäherung der Distanz zwischen dem Deutschen und anderen Sprachen
2.1
271
Lewandowski (2012), Lewandowski und Jilka (2019)
Abb. 1: Phonetische Adaptierung talentierter (yes) bzw. weniger talentierter (no) L2-Sprecher: innen an den amerikanischen Sprecher (Am) sowie an die britische Sprecherin (Br) am Anfang und zu einem späteren Zeitpunkt des Dialogs (Dialog time 1 und 2). Abbildungsquelle: Lewandowski und Jilka (2019, S. 11).
Lewandowski (2012) und Lewandowski und Jilka (2019) untersuchten den Einfluss des phonetischen Talents und psychologischer und kognitiver Faktoren auf die phonetische Adaptierung deutscher L2-Sprecher:innen des Englischen an englische Muttersprachler:innen. Das Talent wird von Lewandowski und Jilka (2019, S. 5) als eine stabile und angeborene Eigenschaft definiert, die von äußeren Umständen – z. B. Sprachinput, Erfahrung und Lernalter – und von anderen persönlichen Eigenschaften – z. B. Motivation und Intelligenz – unabhängig ist. Das phonetische Talent von 20 deutschen Englischlernenden wurde durch phonetische Produktions-, Perzeptions- und Nachahmungstests (s. Jilka 2009a, 2009b und Tabelle 2 in Lewandowski/Jilka 2019 auf S. 8) gemessen. Danach wurden die Gespräche der deutschen Englischlernenden (zehn Sprecherinnen und zehn Sprecher) mit zwei englischen Muttersprachler:innen analysiert. Die englischen Muttersprachler:innen waren ein Sprecher des amerikanischen Englischen und eine Sprecherin des britischen Englischen. Der berücksichtigte Parameter war die Amplitudenhülle: eine akustische Messung, die alle spektralen Eigenschaften des Sprachsignals umfasst (Lewandowski/Jilka 2019, S. 9f). Anhand der Evaluierung des Talents durch die oben genannten phonetischen Tests wurden die deutschen Englischlernenden in zwei Gruppen – phonetisch talentiert vs. weniger talentiert – aufgeteilt. Die Ergebnisse zeigen, dass talentierte
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Maria Paola Bissiri / Livia Tonelli
Englischlernende signifikant mehr als die anderen mit den englischen Muttersprachler:innen konvergierten (siehe Abbildung 1).
2.2
Ulbrich (2019, 2021)
Ulbrich (2019) untersuchte die phonetische Konvergenz bei der Interaktion zwischen 12 spanischen Deutschlernerinnen und a) einer deutschen Muttersprachlerin, b) einer spanischen Deutschlernerin mit Sprachkenntissen von Niveau B1.1 und c) einer spanischen Deutschlernerin mit Sprachkenntissen ab Niveau B2.2.2 Ulbrich (2019) analysierte folgende phonetisch-phonologische Eigenschaften: 1. Neutralisierung der Stimmhaftigkeitsopposition von Auslautplosiven (z. B. Rat und Rad als /raːt/), 2. Realisierung vom glottalen Frikativ /h/ im Anlaut, und 3. Tonhöhenumfang bei nuklearen Tonakzenten,3 da bei spanischen Sprecher:innen ein niedrigerer Tonhöhenumfang als bei deutschen erwartet wird (Hirschfeld 1988). Die Konvergenz wurde anhand akustischer Parameter und eines Perzeptionstests analysiert. Die Ergebnisse zeigen, dass sich fortgeschrittene Deutschlernende mehr als weniger fortgeschrittene phonetisch anpassten, und dass die Konvergenz weniger fortgeschrittener Deutschlernender nicht die segmentalen Eigenschaften, sondern nur den Tonhöhenumfang betraf. In der darauffolgenden Studie, die ebenfalls mit spanischen Deutschlernerinnen durchgeführt wurde, formulierte Ulbrich (2021) die Hypothesen, dass eine phonetische Konvergenz von segmentalen und suprasegmentalen Eigenschaften stattfindet und dass sie vom Niveau der L2-Lernenden (B2 vs. C1) und der Gesprächspartnerin (B2-Lernende vs. C1-Lernende vs. deutsche Muttersprachlerin) abhängt. Ulbrich (2021) untersuchte 1. die /r/-Realisierung als uvularen Frikativ [ʁ] im Deutschen, da /r/ im Spanischen häufiger als alveolarer Vibrant [r] oder Tap [ɾ] realisiert wird, 2. den Tonhöhenumfang bei pränuklearen Tonakzenten und 3. die Artikulationsrate (Anzahl der Phone pro Sekunde). Gemessen wurde das Verhältnis zwischen der gemeinten Artikulationsrate (ARi), d. h. der Anzahl der Phone in der kanonischen Transkription, und der tatsächlich realisierten Artikulationsrate (ARr), d. h. der Anzahl der tatsächlich produzierten Phone. Da unbetonte Silben im Deutschen mehr als im Spanischen reduziert werden, war die Hypothese, dass das ARi/ARr-Verhältnis der deutschen Muttersprachlerin höher als das der spanischen Sprecherinnen sei. Ulbrichs Ergebnisse (2021) zeigten, dass fortgeschrittene spanische Deutschlernerinnen mit der 2 Die Niveaustufen beziehen sich auf den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (Council of Europe 2001). 3 Unter nuklearem Tonakzent versteht man den letzten Tonakzent einer Intonationsphrase (s. z. B. Ladd 2008).
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Abb. 2: Verhältnis zwischen gemeinter (ARi) und tatsächlich realisierter (ARr) Artikulationsrate am Dialoganfang (rect1: dunkelgraue Balken) und am Dialogende (rect2: hellgraue Balken) für die spanischen Deutschlernenden mit C1-Niveau (HP: high proficiency), mit B2-Niveau (LP: low proficiency) und für die deutsche Muttersprachlerin (G: German) im Gespräch mit der deutschen Muttersprachlerin (_G), mit der C1-Niveau-Deutschlernenden (_HP) und mit der B2-NiveauDeutschlernenden (_LP). Abbildungsquelle: Ulbrich (2021, S. 16).
deutschen Muttersprachlerin in allen drei untersuchten Eigenschaften konvergierten, während Deutschlernerinnen mit einem niedrigeren Sprachniveau – wie bereits Ulbrich (2019) fand – nicht in den segmentalen Eigenschaften, sondern nur in dem Tonhöhenumfang konvergierten. Die Konvergenz wurde auch vom Sprachniveau der Gesprächspartnerin beeinflusst, jedoch hing sie von der phonetischen Eigenschaft ab: Spanische Deutschlernerinnen mit einem höheren Niveau konvergierten nur mit der deutschen Muttersprachlerin und mit der Deutschlernerin mit gleichem Niveau bezüglich der /r/-Realisierung und des Tonhöhenumfangs, jedoch konvergierten sie mit allen Gesprächspartnerinnen – auch mit der Deutschlernerin mit niedrigerem Niveau – bezüglich des ARi/ARrVerhältnisses (siehe Abbildung 2). Möglicherweise realisierten fortgeschrittenere Deutschlernerinnen im Gespräch mit der Anfängerin weniger Reduktionen, um der Anfängerin das Verständnis zu erleichtern. Dieses Ergebnis kann durch den Ansatz der Interpersonal Synergy (s. 1.1 und 1.2) erklärt werden: Die Adaptierung der Sprecherinnen an die Gesprächspartnerin kann eine der möglichen Strategien sein, um das kommunikative Ziel zu erreichen.
274 2.3
Maria Paola Bissiri / Livia Tonelli
Gessinger et al. (2020)
Gessinger et al. (2020) untersuchten die phonetische Adaptierung von elf französischen Deutschlerner:innen mit Sprachniveau B2 bis C1 an die virtuelle Sprachtutorin Mirabella. Es handelte sich um ein sogenanntes Wizard-of-OzExperiment: Die Teilnehmer:innen glaubten, mit einem autonomen Dialogsystem zu kommunizieren, die Äußerungen der virtuellen Sprachtutorin wurden aber von einem Menschen vorgespielt. Gessinger et al. (2020) wie Ulbrich (2019, 2021) untersuchten die Konvergenz sowohl von segmentalen als auch von suprasegmentalen Eigenschaften. Gessinger et al. (2020) analysierten 1) Intonation: fallende vs. steigende Intonationskonturen und Position des Nuklearakzents in W-Fragen und 2) Aussprachevarianten: das Suffix realisiert als [ɪç] vs. [ɪk] (z. B. in traurig) und den Vokal /ɛː/ in betonter Silbe realisiert als [ɛː] vs. [eː] (z. B. in Jäger). In der ersten Interaktionsrunde produzierte Mirabella W-Fragen – in der Form Wo hat sich versteckt? – mit Nuklearakzent auf den jeweiligen Tiernamen und mit fallender Intonationskontur, d. h. mit der erwarteten Kontur in deutschen W-Fragen (Grice/Baumann 2002). In der zweiten Interaktionsrunde produzierte Mirabella Äußerungen mit steigender Kontur und mit dem Nuklearakzent auf dem Fragewort wo, wie es bei Echo-Fragen im Deutschen üblich ist (Grice/Baumann 2002).4 Im Vergleich zur Aufnahme vor der Interaktion mit Mirabella (zur baseline) realisierten die französischen Deutschlerner:innen in der ersten Runde mehr fallende Konturen und in der zweiten Runde mehr steigende Konturen (siehe Abbildung 3). Es erfolgte also eine phonetische Adaptierung an die virtuelle Sprachtutorin, jedoch war der Unterschied zur baseline nur in der ersten und nicht in der zweiten Runde statistisch signifikant (Gessinger 2020, S. 4120). Die französischen Deutschlerner:innen setzten nie den Nuklearakzent auf das Fragewort wo, wahrscheinlich weil im Französischen die Hervorhebung des Fragewortes in Echo-Fragen eher durch syntaktische Variation als durch die Intonation erfolgt (z. B. L’animal se cache où?, s. Gessinger 2020, S. 4121). In der Untersuchung zur Sprachvariation realisierte Mirabella während der Interaktion mit jeder bzw. jedem Deutschlernenden ihre bzw. seine nicht-bevorzugte Variante. Die zwischen [ɪç] vs. [ɪk] bevorzugte Variante vor der Interaktion mit Mirabella war für die meisten Deutschlernenden [ɪç], d. h. die Standardvariante, die sie möglicherweise im Formalunterricht gelernt hatten (Gessinger et al. 2020, S. 4121). Demnach realisierte Mirabella während der Interaktion mit den meisten Probanden die [ɪk]-Variante. Die Probanden passten sich offensichtlich an Mirabella an, da sie ihre nicht-bevorzugte Variante 4 Für die Beschreibung der Methode veweisen wir auf Gessinger (2022).
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Abb. 3: Intonationskonturen (falling=fallend, falling-rising=fallend-steigend, rising=steigend) der 11 französischen Deutschlernenden (non-native speakers of German) in W-Fragen, z. B. Wo hat sich versteckt? a) ohne Input von Mirabella (baseline), b) wenn Mirabella fallende Konturen mit Nuklearakzent auf realisiert (Q&A round 1), c) wenn Mirabella steigende Konturen mit Nuklearakzent auf wo realisiert (Q&A round 2). Abbildungsquelle: Gessinger et al. (2021, S. 4120).
des Suffixes signifikant häufiger verwendeten. Es ergab sich hingegen keine phonetische Adaptierung des Vokalkontrasts [ɛː] vs. [eː] an die virtuelle Sprachtutorin.
2.4
Demenko et al. (2016), Bachan et al. (2020)
Demenko et al. (2016) und Bachan et al. (2020) stellten das Harmonia Korpus zusammen, ein Korpus für die Analyse der phonetischen Konvergenz in der Mensch-Mensch- und Mensch-Maschine-Kommunikation. Für das Korpus wurden sowohl L1- als auch L2-Sprecher:innen aufgenommen und zwar a) 16 Paare polnischer Sprecher:innen, b) zehn Paare deutscher Sprecher:innen, c) zwölf Paare deutscher und polnischer Sprecher:innen, die miteinander Polnisch sprachen, d) zehn Paare polnischer und deutscher Sprecher:innen, die miteinander Deutsch sprachen. Das Korpus umfasste Gespräche, die über 27 Stunden entsprachen und in verschiedenen Szenarien aufgenommen wurden: Die Gesprächspartner:innen mussten z. B. entscheiden, welche Gegenstände sie auf eine einsame Insel mitnehmen würden, Bilder kommentieren oder Unterschiede zwischen zwei Bildern finden (für eine detaillierte Darstellung und weitere Szenarien s. Bachan et al. 2020). Die gesammelten Sprachmaterialien sollten nicht nur der Analyse der phonetischen Konvergenz dienen, sondern auch der Realisierung von Dialogmodellen, die für die Mensch-Maschine-Interaktion verwendet werden können (Bachan et al. 2020).
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3.
Maria Paola Bissiri / Livia Tonelli
Fazit und Ausblick
Die in diesem Beitrag dargestellten Studien haben gezeigt, dass sowohl phonetisches Talent (Lewandowski 2012; Lewandowski/Jilka 2019) als auch höhere Sprachkompetenz (Ulbrich 2019, 2021) die phonetische Adaptierung von L2Sprecher:innen an L1-Sprecher:innen begünstigen bzw. überhaupt ermöglichen. Das Sprachniveau der Gesprächspartner:innen beeinflusst nämlich die phonetische Konvergenz: In den Studien von Ulbrich (2019, 2021) passten sich weibliche L2-Sprecherinnen mit höherer Sprachkompetenz an die Muttersprachlerin oder auch an die L2-Sprecherin mit gleicher Sprachkompetenz an. Sie passten sich an die L2-Sprecherin mit niedrigerem Sprachniveau nur hinsichtlich des Reduktionsgrads an: Möglicherweise neigten sie weniger zur Reduktion, um der Gesprächspartnerin das Verständnis zu erleichtern. Die unterschiedliche Verwendung der phonetischen Konvergenz kann durch den Interpersonal Synergy Ansatz (Fusaroli et al. 2014; Fusaroli/Tylén 2016) erklärt werden: Die phonetische Konvergenz ist eine der Strategien, die Gesprächspartner:innen verwenden, um das kommunikative Ziel zu erreichen. Ein gelegentliches Ausbleiben der phonetischen Konvergenz ist dadurch bedingt, dass die phonetischen Eigenschaften der L1 zu sehr von denen der L2 abweichen und Lernende sie nicht korrekt wahrnehmen. Ein Beispiel ist etwa das Vorverlegen des Nuklearakzents bei Echo-Fragen im Deutschen, woran sich französische Deutschlernende nicht anpassen, da Echo-Fragen im Französischen durch syntaktische Variation und nicht durch Umstellung des Nuklearakzents realisiert werden (Gessinger et al. 2020). Ein weiteres Beispiel für das Ausbleiben der phonetischen Konvergenz ist durch die Schwierigkeiten spanischer Deutschlernender mit niedrigem Sprachniveau bei der Produktion des uvularen Frikativs des Deutschen bedingt (Ulbrich 2021). Darüber hinaus hat die Studie von Gessinger et al. (2020) gezeigt, dass Lernende auch mit einer virtuellen Tutorin konvergieren können. Des Weiteren haben Bachan et al. (2020) ein Korpus zusammengestellt, das nicht nur für die Analyse der phonetischen Konvergenz, sondern auch für die Realisierung von Dialogmodellen in der Mensch-Maschine-Interaktion verwendet werden kann. Die Anzahl der Studien, die sich bisher mit der phonetischen Konvergenz zwischen Muttersprachler:innen des Deutschen und Muttersprachler:innen anderer Sprachen beschäftigt haben, ist insgesamt begrenzt. Darüber hinaus gibt es unseres Wissens noch keine Studien, in denen die Konvergenz für das Sprachenpaar Deutsch-Italienisch untersucht wurde. Interessant wäre es, die phonologischen bzw. phonetischen Eigenschaften des Deutschen zu analysieren, die im Italienischen keine Korrespondenz haben bzw. unterschiedlich realisiert werden. Beispiele dafür sind etwa die Reduktion der unbetonten bzw. der un-
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akzentuierten Silben, die Realisierung von Betonung und Akzent, die Auslautverhärtung, die Vokalqualität und -quantität und die Stimmeinsatzzeit bei Lenisund Fortisplosiven, wobei die Liste natürlich erweitert werden kann. Bei solchen Untersuchungen sollte man den Einfluss der Familiarität bzw. der perzeptuellen Deutlichkeit auf die Konvergenz mitanalysieren. Sehr hilfreich wären auch Studien zur Wirkung von gezieltem phonetischem Training auf die Konvergenz: Wenn durch gezieltes Training die Aufmerksamkeit von L2-Sprecher:innen auf bestimmte Laute bzw. prosodische Eigenschaften gerichtet wird, kann man vermuten, dass die phonetische Konvergenz positiv beeinflusst wird. Von großer Bedeutung wären auch Untersuchungen der langfristigen Effekte der phonetischen Konvergenz, wie z. B. der Frage, ob und welche Ausspracheänderungen, die durch phonetische Konvergenz verursacht werden, nach einer gewissen Zeit noch vorhanden sind. Die phonetische Konvergenz ist auch insofern interessant, als ihre Erforschung helfen kann, nicht nur die Mensch-Mensch-, sondern auch die MenschMaschine-Kommunikation besser zu verstehen, womit sie relevante Implikationen für das computergestützte Sprachenlernen hat.
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