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German Pages 354 [360] Year 1995
Manfred Gawlina Das Medusenhaupt der Kritik
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Kantstudien Ergänzungshefte im Auftrage der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Gerhard Funke und Rudolf Malter f
128
Walter de Gruyter • Berlin • New York 1996
Manfred Gawlina
Das Medusenhaupt der Kritik Die Kontroverse zwischen Immanuel Kant und Johann August Eberhard
Walter de Gruyter • Berlin • New York 1996
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einbeitsaufnabme Gawlina, Manfred: Das Medusenhaupt der Kritik: die Kontroverse zwischen Immanuel Kant und Johann August Eberhard / Manfred Gawlina. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1996 (Kantstudien : Ergänzungshefte ; 128) Zugl.: München, Univ., Diss., 1994 ISBN 3-11-015047-6 NE: Kantstudien / Ergänzungshefte
© Copyright 1995 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: EDV & Kommunikation, München Druck: W Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin
Vorwort Die Auseinandersetzung zwischen I. Kant und ]. A. Eberhard läßt sich nicht als eine zwischen subjektiv auf sich bedachten Intellektuellen darstellen. In den konkreten Ausprägungen von Kritizismus und Dogmatischem Rationalismus stießen die beiden einzig möglichen philosophischen Grundgestalten einer Epistemologie und Ontologie aufeinander. Welche Personen dabei ins Spiel traten, war zuletzt zufallig, das gleichsam "logische" Ereignis hingegen im Notwendigkeitssinn des Wortes schicksalhaft. Der Konflikt mußte in voller Schärfe aufbrechen, sobald eine konsequent epistemologische Position, wie dies Kant erstmals vollbracht hat, ausgearbeitet war, denn Epistemologie verhält sich von ihrem Ansatz her oppositionell zu jeder Art von ontologischem Denken, das lange vor Kant in verschiedenen Facetten einen hohen Stand erreicht und sich wissenschaftlich etabliert hat. Solange überhaupt ein direkt oder indirekt philosophischer Diskurs von Gewicht aufrechterhalten werden kann, werden sich weiterhin Formen von primär ontologischem und primär epistemologischem Argumentieren begegnen müssen. Im Bereich der Epistemologie freilich dürfte der transzendentale Kritizismus Kants - schon um seiner wohlüberlegten Selbstbescheidung willen - überhaupt unübertreffbar bleiben, zumal noch immer längst nicht der Horizont alles dessen angemessen erschlossen und gewürdigt worden ist, was in ihm den Bedingungen der Möglichkeit nach grundgelegt ist. Hier wird die Vergangenheit von Kants abgeschlossenem Lebenswerk überhaupt noch erst im Denken eigenste Zukunft zu gewinnen haben. Dem Ziel der Abgrenzung der kritischen Philosophie gegen die Leibnizische Ontologie soll - in der Grenzbegegnung mit ihrem Verteidiger Eberhard - die nachfolgende Untersuchung dienen. Sie gliedert sich grob in drei Teile, (i) einen historischen Vorspann, (ii) den ausfuhrlichen philosophischen Hauptteil und (iii) einen ausblicksweise weiterführenden ebenfalls philosophischen Teil. Wer ohne Verzögerung direkt in die Erörterung der streitigen Gedankengänge einsteigen will, kann sogleich mit dem zweiten Teil (Kapitel 4.5.1 bis 4.6) zu lesen beginnen. Unsere Untersuchung zur Kant-Eberhard-Kontroverse wurde 1994 von der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen. Für die Anregung des Themas und die philosophischen Gespräche, die sich noch stets weiter intensivieren, spreche ich Herrn Professor Manfred Zahn meinen tiefen Dank aus. Er schließt Professor Wilhelm G. Jacobs und Professor Wolfhart Henckmann ein, ebenso die Studienstiftung des deutschen Volkes und die Professoren Helmut Girndt, Alfons Reckermann und Siegfried Stotz. Für die gleichfalls freundliche Anerkennung, die sie meiner Arbeit entgegengebracht haben, möchte ich mich im besonderen bei den Professoren Manfred Baum, Rüdiger Bubner, Gerhard Funke, Reinhard Lauth, Hans Maier, Julian Nida-Rümelin, Wolfgang H. Schräder und Thomas M. Seebohm heiz-
VI
Vorwort
lieh bedanken. Herrn Professor Funke danke ich darüber hinaus fiir die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der Kantstudien-Ergänzungshefte, Herrn Dr. Hans-Robert Cram fiir die verlegerische Betreuung.1
1
Einige technische Hinweise: Kürzere Zitate sind in der Regel in den Text eingebaut und nach heutigen Regeln orthographiert und grammatikalisiert. Die fiir Schriften verwendeten besonderen Abkürzungen finden sich - abgesehen von entsprechenden Fußnoten - im Literaturverzeichnis bei den jeweiligen Titeln angegeben. Was im Zitat kursi viert ist, bedeutet in der Originaltextausgabe meist Sperr- und gelegentlich Kursivdruck. Die altmodische vokalische Formung der Endungen der adjektivierten Eigennamen (z. B. "Leibnizens" statt des zungenbrecherischen und schreibhemmenden "Leibniz"*) erschien uns als passender als die heute gewöhnlich gebräuchliche. Wir bitten dafür - ebenso wie für den ähnlich altmodischen Pluralis modestiae zur Bezeichnung unserer selbst - um Verständnis.
Inhalt Vorwort
V
0.
Vorblick und Methode
1
1.
Die Konstellation der Kontroverse
6
1.1. 1.2. 1.3. 1.4.
Datierung und erste Charakterisierung Die philosophische Landschaft um Kant Institutionelle Gestaltung des Diskurses Die beiden Lager 1.4.1. Die Eberhardianer 1.4.2. Die Kantianer 1.5. Zum Verhältnis Kant-Eberhard 1.6. Die Rolle des Angreifers
6 15 20 26 26 28 33 39
These und Verfahren
42
2.1. Zur äußeren Strategie 2.1.1. Leibniz 2.1.2. Der Versuch der Reduzierung der Eberhardpartei 2.2. Eberhards These 2.3. Zielsetzung des "Philosophischen Magazins" 2.4. Die Methode des Vergleichs 2.5. Kant über Eberhards Vorgehen 2.6. Gründe fiir Kants Antwort
42 42 43 47 48 51 54 56
3.
Diskussion der Literatur
59
4.
Die Kontroverse im engeren Sinn.
74
4.1. Kant über den Zugang zu seiner kritischen Philosophie 4.2. Die innere Strategie 4.2.1. Eberhard gegen Kant 4.2.2. Kant gegen Eberhard 4.2.3. Kants Leibnizinterpretation 4.3. Die Akte der Handlung Korrektur an Kants Einteilung der Handlung 4.4. Inhaltsstenogramm der Eberhardischen Artikel 4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
74 77 77 80 81 88 91 93
2.
99
VIII
Inhalt
4.5.1. "Über die Schranken der menschlichen Erkenntnis" Schranken oder Grenzen? Gestalten des Dogmatismus David Hume Leibniz und Eberhard Zwei Einwände gegen Kant Zum Motto 4.5.2. "Über die logische Wahrheit oder die transzendentale Gültigkeit der menschlichen Erkenntnis" Die Kantische Bedeutung von "transzendental" Formale Logik, transzendentale Logik, bloße Logik . . . Ontologisches Denken Form und Materie Beweis des Satzes vom Grund Das Nichtwiderspruchsprinzip Die Materie der Erkenntnis Die Zeit Der Raum Kant über Eberhards Beweis der objektiven Realität des Einfachen 4.5.3. "Weitere Anwendung der Theorie von der logischen Wahrheit oder der transzendentalen Gültigkeit der menschlichen Erkenntnis" Das innere Objekt Nachtrag zum Beweis des Satzes vom Grund Weg zum Ding an sich Macht Kant Eberhard Zugeständnisse? 4.5.4. "Über das Gebiet des reinen Verstandes" Kants Theorie des Verstandes (nach Eberhard) Die rationaldogmatische Theorie des Verstandes (nach Eberhard) Kant über Abstraktion Nachweis der Erkenntnis der Dinge an sich Kant Uber intellektuelle Anschauung 4.5.5. "Über den wesendichen Unterschied der Erkenntnis durch die Sinne und durch den Verstand" Kants Leibniz-Kritik Kants Thesen Leibnizens Diärese der Vorstellungen Der Unterschied von Sinnlichkeit und Verstand Eberhards Theorie der Erscheinung Kant Uber sinnliche und intellektuelle Anschauung . . .
99 100 107 111 114 118 122 127 129 131 135 139 142 153 154 156 157 158
161 161 163 164 170 174 177 180 187 188 193 195 195 199 200 208 211 215
Inhalt
4.5.6. "Über die Unterscheidung der Urteile in analytische und synthetische" Die Originalität der Unterscheidung Die Kantische Unterscheidung der Urteile in analytische und synthetische Eberhards "Rekonstruktion" Erster Rekonstruktionszug Kant gegen Eberhards Logizismus Zweiter Rekonstruktionszug Dritter Rekonstruktionszug Der "oberste Grundsatz aller synthetischen Urteile". . . . Analytizität oder Synthetizität Wahrheitsfahigkeit 4.5.7. "Über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis" Der Grund der Wirklichkeit der empirischen Erkenntnis. Kant über "Kraft" und "Substanz" Der Grund der Wirklichkeit der Vernunfterkenntnis . . . Kant zur Frage der Angeborenheit Ontologisierung 4.6. Bewertung des Streits
5.
6.
IX
217 219 221 227 230 233 236 238 240 245 248 249 251 257 258 260 262 264
Die weiteren Teile der Kontroverse
270
5.1. Vorgeschichte 5.1.1. Eberhards frühe Kritik an Kants Raum-Zeit-Lehre 5.1.2. Kants Kritik an Eberhards Rationaltheologie 5.2. Nachgeschichte 5.2.1. Zu Schultzens Rezension von 1790 5.2.2. Kants "Preisschrift"
270 270 274 276 276 283
Leibniz und Kant
292
6.1. Kants Leibnizbild in der Streit-und Preisschrift 292 6.2. Zentrale Vergleichspunkte 295 6.3. Ein gemeinsamer Blickpunkt für Epistemologie und Ontologie?. . . 313
7.
Die Frage nach dem Sieger
323
8.
Anhang: Quellenübersicht
329
9.
Literaturverzeichnis
335
10. Register der Personennamen
343
0. Vorblick und Methode Noch immer schreckt und fasziniert als eines der größten philosophischen Medusenhäupter Kants "Kritik der reinen Vernunft" und überhaupt sein gesamtes transzendental-kritisches Unternehmen. Der Bann beschlägt sowohl von der Sache - dem Programm einer epistemologischen Rückversicherung der Bedingungen der Möglichkeit objektiver theoretischer wie praktischer Erkenntnis - als von der zu diesem Zweck zuzumutenden Sprachlichkeit her. In seine Aura zieht er Fachleute wie gebildete Laien. Wegen dieser doppelten Kodierung, daß man zwar rasch gewahr wird, an Kant sei intellektuell kein Vorbeikommen, daß andererseits aber selbst langes Studium die Verständnisrätsel oft eher nur verschieben und nicht lösen kann, behalten auch die großen Kontroversen um Kant ihre Aktualität. Vielleicht für manchen zum Trost werden gerade hier die keineswegs harmlosen Verständnisprobleme der Fachleute offenbar, zumal derjenigen unter ihnen, die sich als Gegenautoritäten zu Kant oder gar als "Metakritiker" aufzurichten bemüht haben.1 Zum heftigsten unter diesen Disputen, der sog. "Kant-Eberhard-Kontroverse", lag bislang keine Monographie vor, obwohl in der Literatur immer wieder auf sie hingewiesen worden ist. Mit der hier vorgelegten Untersuchung soll nun die seit über zweihundert Jahren klaffende Lücke in einer Hinsicht geschlossen, in einer anderen erst vorab systematisch exploriert und so in gewissem Sinn kontrolliert erweitert werden. Kants Zeitgenosse Johann August Eberhard wurde Ende des 18. Jahrhunderts zum Hauptexponenten der Leibniz- Wolffischen Ontotogie. Etwas vereinfachend gesagt, hatte sich Kant gerade von dieser überschwenglich rationalistischen Richtung durch seine "kopernikanische Revolution", also die Ausarbeitung seines transzendental-kritischen Ansatzes, mit aller Deutlichkeit entfernt und sie dabei in ihren Grundfesten erschüttert, ja, von seiner Warte aus gesehen, zerstört. Welche Bedrohung Kants Erfolg eines neuen "Experiments der Vernunft" fiir den Dogmatischen Rationalismus haben mußte, wurde dessen zurückgebliebenen Anhängern rasch klar, auch wenn sie sich zunächst nur zögerlich an Einwendungen gegen den Kritizismus und den Versuch einer Widerlegung seiner Haupttheoreme machten. Eberhard war nun einer, der den dazu nötigen Mut mit Vehemenz bis hin zum Übermut aufbrachte, und - was vor allem Kant beunruhigen mußte - einer, der seinen gleichsam reaktionären Kampf (seine Gegenrevolution) geschickt zu organisieren wußte. So entwickelte sich eine jeweils zwei Ebenen umfassende Konstellation (gleichsam ein "Geviert"): Auf Seiten 1
Typisch dafür steht Jacobis Äußerung gegenüber Hamann in seinem Brief vom 31. Oktober 1786 (in: Hamann: Briefwechsel, Bd. VII, S. 37): "[...] Ich will versuchen, ob ich den Leuten begreiflich machen kann, was er eigentlich lehrt. [...]" Auf die metakritischen Versuche von P. F. Strawson und D. Henrich werden wir in Kapitel 3 vor allem unter methodischem Gesichtspunkt zu sprechen kommen, ebenso auf die Zurückhaltung von R. Brandt, N. Hinske und noch einmal D. Henrich gegenüber der Kant-Eberhard-Kontroverse.
2
0 . Votblick und Methode
Kants wie Eberhards bildete sich zum einen faktisch-pragmatisch eine Front von "Streitern" und "Propagandamitteln" mit dem gesamten damaligen Deutschland als Austragungsgebiet heraus,2 zum anderen kristallisierten sich auf der eigentlich begrifflichen Ebene fiir sich gültige philosophische Argumente oder wurden bereits vorher begründete Theoreme neu adaptiert. Sie reihen sich um vier Kardinalthemen: den Status von Raum und Zeit, die Gültigkeit des Gebrauchs von Kategorien, die Bedeutung der Idee des Einfachen und die Leistungsfähigkeit von Letztprinzipien? Die Behandlungsart der gesamten Thematik muß deshalb ebenfalls zweifach ansetzen. Zunächst sind die historischen Eckpunkte zu bestimmen, die die kommunikativpragmatischen Abläufe bezeichnen. Danach beginnt die eigendich philosophische Analyse der kontrovers vorgebrachten Argumentationen. Beide Aufgaben wurden bislang unzureichend in Angriff genommen. Was die philosophische anbelangt, so kann die Forschungslücke nur dann geschlossen werden, wenn man sich zunächst um die inhaltliche Diskussion der sieben Haupttexte Eberhards gegen Kant kümmert.4 Ausschließlich auf sie hat Kant selbst in seiner schärfsten Streitschrift - sie ist betitelt mit "Über eine Entdeckung nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll"- 1790 öffendich geantwortet. Bei Eberhards sehr diffizil-krausen Aufsätzen (horribile lectu, was mit erklärt, warum die Forschung sie lange vernachlässigt hat) handelt es sich um Beiträge der von ihm eigens zur Agitation gegen Kant gegründeten Zeitschrift "Philosophisches Magazin"(seh 1788). Diese damit insgesamt acht Dokumente machen das Herzstück der Kant-Eberhard-Kontroverse aus. Deren Ambitus, der auch eine Verwandtschaft zur ontologischen Kantinterpretation im 20. Jahrhundert einschließt, wird durch dieses Zentralstück jedoch noch längst nicht erschöpft. Es läßt sich nämlich eine Vor- und Nachgeschichte zu diesem Mittelteil erkennen. Die dokumentliche Basis weitet sich damit, was selbst in Fachkreisen bislang kaum bekannt war, bei beiden Parteien ganz erheblich aus. Die gewaltige Forschungsaufgabe zum Kant-Eberhard-Verhältnis wird hier nun von der Mitte aus organisch aufzuarbeiten begonnen. Zwar bemühen wir uns, auch die wichtigsten philosophischen Implikationen der anderen Teile der Gesamtkontroverse darzustellen, doch eröffnet s\di, insbesondere, was die späte Geschichte des Streits anbelangt, durch unsere Ausfuhrungen überhaupt erst ein sehr reichhaltiges und ergiebiges Betätigungsfeld für künftige philosophische Studien.5
2
3 4 5
Als Hauptorte lassen sich benennen: Königsberg i. Pr., Halle, Jena und Salzburg. - In Salzburg erschien ab 1788 die "Oberdeutsche Allgemeine Litteratur-Zeitung" als Ableger der Jenaer "Allgemeinen Literatur-Zeitung". Wie diese ergriff sie eifrig die Partei des Kritizismus. Siehe dazu Kapitel 1.1. Siehe dazu Kapitel 1.1. Siehe dazu auch unsere Quellenfibersicht im Anhang. Auf Grundlage unserer Untersuchung böte sich etwa die Chance zu einer - sinnvoll nur als Forschungsprogramm durchzuführenden - hauptsächlich quantitativen Philosophiegeschichtsschreibung aber die faktischen Rezeptionstendenzen der Kantischen Philosophie durch die Vertreter der Leibniz-Wolfiischen Schulphilosophie.
0. Vorblick und Methode
3
Als für alle Herangehensweise wesentlich erscheint uns eine Versicherung der fundamentalen Ansatzdifferenz zwischen, wie wir das nennen, dem "epistemologischen Paradigma "Kants und dem "ontologischen "Eberhards.6 Dies gilt nicht nur fiir die heutige Forschung, sondern galt bereits fiir die an den Verästelungen der Debatte Beteiligten; durch die zu geringe Beachtung dieser Differenz scheiterte etwa Karl Leonhard Reinhold - von ihr aufgerieben - Uberhaupt als Philosoph. Auf nichts anderes als auf diesen Schreckpunkt vom abgründigen Unterschied muß man es beziehen, wenn kein Geringerer als Kant selbst in seiner Eberhard-Streitschrift das Bild vom "Medusenhaupt der Kritik" prägt.7 Nebenbei bemerkt: Daß gerade Kant, wie hier beleglich, zu einer sehr plastischen Sprache und oft sarkastischen Deutlichkeit in der Lage war, läßt seine prima facie oft so "verschachtelt" scheinende Ausdrucksweise innerhalb der transzendentalen Argumentation philosophisch in einem besonderen Licht erscheinen: Sein epistemologischer Ansatz verlangt nämlich per se ein höherstufiges hypotaktisches Verhältnis der Propositionen. Dies muß zunächst "natürliches Sprechen" - vor allem auf der Leseseite - strapazieren. Kant ist es jedoch alles in allem meisterhaft gelungen, auch das mit seinem Ansatz unmittelbar verbundene Sprachproblem8 zu bewältigen. Mit seiner Rede vom "Medusenhaupt der Kritik" weist Kant implizit durchaus auf die psychologisch sehr verständliche Reakdon eines in einem herkömmlichen Denksystem Befangenen (gemeint ist Eberhard) hin, den sich auch ihm wenigstens zur Prüfung stellenden neuen Anspruch bei aller scheinbarer Kenntnisnahme bloß abzuwehren. Darüber hinaus jedoch zeigt das Sprachbild vor allem an, daß hier philosophisch eine grundlegende Alternative geboten wird, mit Fichte ebenfalls bildlich gesprochen: "eine neue Welt". Hätte Eberhard die Souveränität besessen, über sich und seine konsuetudinale Sicherheit hinauszublicken und, worum Kant allein gebeten hatte, sich "bloß zur Prüfung" auf den kritischen Grundgedanken einzulassen, so hätte er irgendwann wählen müssen, zu welchem Paradigma er sich bekenne.9 Das "Medusenhaupt" steht so auch als Merk- und Aufforderungszeichen dafür, sich in seinem Denken seines je eigenen Ansatzes reflexiv zu versichern. Der Ansporn zur Besinnung ergeht dabei aus der Konfrontation mit dem Grundanderen. Blitzen damit also von Angesicht zu Angesicht immer zugleich zwei Medusenhäupter auf, das der Kritik und das der (absoluten) Ontologie?10 Muß Kant nicht mit der Elevation des einen auch den - vielleicht mittäglich geschrumpften - Schatten des anderen mitziehen? Erst 6 7 8 9 10
Siehe dazu unsere Kapitel 62 und 6.3. Aus: "Über eine Entdeckung [...]", zitiert nach der Akademieausgabe von "Kants gesammelten Schriften", Bd. VIII, S. 199, Z. 9-10. Hervorhebung von uns. Zum Auftreten fundamentaler Sprachprobleme im Rahmen transzendentalen Denkens vgl. Manfred Zahn: Fichtes Sprachproblem und die Darstellung der Wissenschaftslehre. In: Der transzendentale Gedanke. Hg. von K. Hammacher. Hamburg 1981; S. 155-167. Umgekehrt ist selbstverständlich ebenso Kant eine solche Entscheidung zu imputieren. Wie kaum einer durchschaute er auch immanent von der ontologischen Position aus die inneren Schwächen der zu diesem Paradigma dargebotenen Lehren. Der besondere Typus der absoluten Ontologie von Leibniz und Eberhard kann als Dogmatischer Rationalismus bezeichnet werden. Gewiß hat auch Kant "Seinsaussagen" getroffen, sie sind jedoch
4
0. Vorblick und Methode
gegen Ende der Arbeit können wir (und dies auch nur in einem ersten sehr formellen Versuch) auf diese metaphilosophische Grundfrage zurückkommen. Vorab aber hat die Rede vom Medusenhaupt den Stellungsvorteil des Innovativen und dabei in sich gut Begründeten auf ihrer (und seiner) Seite. Und in der Tat beanspruchte Kant dieses Zeichen allein fiir seinen Ansatz, zur von diesem aus unmittelbar berechtigten Warnung vor der Bodenlosigkeit scheinbar tragfahiger und "fruchtbarer" ontologischer "Felder".11 Das Bild erzwingt gegen Eberhard und seine Freunde die Frage, wie kompetent sie ihrem Gegner - dem unheimlichen Anderen - sich zu nähern bereit und in der Lage waren. Von daher läßt sich ein Entscheid nicht zwischen Paradigmen, wohl aber zwischen einzelnen ihnen jeweils zugehörigen Argumentationen durch einen Vergleich der inneren Kriterien (allen, zumal, wenn diese einander im Auge gehabt haben. Es wäre leicht, aber metaphilosophisch ungerecht, im Blick auf die unverkennbare philosophische Schwäche der Eberhardianer schon als Ontologen deren eigenstes Antlitz für überhaupt verfallen zu erklären. Vielleicht hat es aber in der Tat erst eines Martin Heidegger bedurft, um der Schale der Ontologie wieder zu ihrem vollen metaphilosophischen Recht zu verhelfen. Noch der weiteren Erläuterung bedarf die Zweifachheit unserer Methodik: Schon weil bislang die Haupttexte der Kontroverse weitgehend nur pauschal beurteilt worden sind, empfiehlt es sich, sie in der Zusammenschau der Beweisgänge beider Seiten auf argumentanalytische Weise zu bearbeiten. Eine solche synoptische Argumentanalyse schlüsselt die (bei Kant sehr komprimiert, bei Eberhard sehr verquer und repetitiv vorgebrachten) Beweisschritte auf und fuhrt sie einer zweifachen Erörterung zu, zunächst einer positionsimmanenten Bestimmung (Maßstab ist hierfür jeweils die Ontologie oder Epistemologie fiir sich genommen), dann aber - im Blick auf die besondere Adressiertheit der Beweisgänge - der jeweils gegnerischen Replik. Um diese textbezogene philosophische Methode konsequent durchführen zu können, mußte auf eine (im Verhältnis dazu abstrakte) Problemdiskussion der jeweils im Hintergrund stehenden Theoreme und ihrer Filiationen weitgehend verzichtet werden. Sie hätte den uns hier gesetzten Rahmen gesprengt und den die Arbeit legitimierenden Anlaß ausgehebelt. Die Argumentanalyse umfaßt konkret die Kapitel 2.2 und 2.4 sowie die im Zentrum eler Untersuchung stehenden Kapitel 4.5.1 bis 4.5.7. Abgezielt wird dabei also auf keine doxographisch-historisch angelegte Abbildung des tatsächlichen Hin und Her von Rede und Gegenrede; erstrebt wird vielmehr eine am Verlauf des Eberhardischen Angriffs und der Kantischen Antwort ausgerichtete Aufhellung dessen, was der Sache des Denkens nach auf beiden Seiten im Spiel war oder gar auf dem Spiele stand. Die Kapitel 6.2 und 6.3 folgen einer anderen philosophischen Methode. Hier widmen wir uns systematisch der grundsätzlichen Frage nach der Abgrenzung der beiden
11
theorematisch von seiner Epistemologie abhängig und können somit nur als relative Ontologie bezeichnet werden. "Über eine Entdeckung...", a.a.O., S. 199, Z. 8.
0. Vorblick und Methode
5
geschichtlich geleitet argumentiert, als das von uns dargebotene Modell mit aus der Denkerfahrung der Kontroverse und ihrer Argumentanalyse herstammt und in eine Befragung der damals aktuellen "neuen Theorien" von Karl Leonhard Reinhold und Jakob Sigismund Beck mündet. Ein drittes philosophisches Verfahren wurde in den Kapiteln 5.1.1, 5.1.2, 5.2.1, 5.2.2 und 6.1 angewandt. Dabei geht es weder um voll ausgeprägte synoptische Textanalyse noch um die Entfaltung einer systematischen Bewertung, sondern allein um die Hervorhebung der Hauptgedanken weiterer Quellentexte (etwa Kants "Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik") im Blick auf das Vorangegangene und noch Folgende. Die Mitte zwischen den beiden letzteren Verfahren halten die Kapitel 4.1, 4.2.1 und 4.2.2. Daneben sind zur Erleichterung der Orientierung einige Überblickskapitel eingefugt, 4.2.3,4.3,4.4 und 4.6. Die bisherige Behandlung der Kant-Eberhard-Kontroverse wird in Kapitel 3 diskutiert. Zur Verortung der philosophischen Dimension des Themas mußte - zunächst zu Beginn wie dann aber auch am Ende der Abhandlung, also in den Kapiteln 1.1, 1.2, 1.3, 1.4.1, 1.4.2, 1.5, 1.6, 2.1.1, 2.1.2, 2.3, 2.5, 2.6 und (obwohl hier auch noch einmal der systematische Gedanke auftaucht) in Kapitel 7 - die äußere, faktische, Konstellation der Lager und Kombattanten dargestellt werden. Die Anwendung dieses zweiten, eben historischen, Grundverfehrens entspricht der zweiten Dimension der Kontroverse, der pragmatischen. Diese in "Gegenstand" und Methode sich wiederfindende Unterscheidung wird durch eine philosophische Überlegung begründet: Gültigkeit und Stärkepotential einer Theorie liegen zwar, wenn es denn echte Theorie ist, in dieser selbst begründet, doch muß solche "innere Wahrheit" zunächst über durchaus äußere - kommunikative - Vermittlung immer noch erst historisch zur "Bekanntheit" geführt werden. Zwischen beiden Ebenen kann es, so wesensmäßig verschieden sie für sich sind, dann (alternativ zu möglicher Synergetik) durchaus zu einem realen Widerstreit kommen, etwa, wenn eine für sich gut begründete Theorie dezidiert negativ oder besonders einseitig (und damit letztlich verfälschend) aufgenommen wird. In diesem Sinne haben wir die Ebene der Rezeption "pragmatisch" genannt, hingegen "argumentativ" oder "begrifflich" die reine Theorieebene, also den Bereich dessen, was sich fiir eine empirische Öffentlichkeit und Fachwelt als Aufgabe der Kommunikation objektiv stellt. Bei allem methodischen DifFerenzierungsbedarf und aller wesensmäßigen Verschiedenheit gehören doch beide Ebenen im Erkenntnisprozeß - gleichgültig, in welche Richtung er sich je konkret entwickelt - eng zusammen. Kontroversen können danach als ganz besonders verdichtete, dabei aber meist sehr verknotete, "Bearbeitungen" von in Theorien niedergelegtem Potential betrachtet werden.
1. Die Konstellation der Kontroverse 1.1. Datierung und erste Charakterisierung A m Ende der Vorrede zur zweiten Ausgabe der "Kritik der reinen Vernunft", 1787, erklärte Immanuel Kant: "Meinerseits kann ich mich auf Streitigkeiten von nun an nicht einlassen [...]."' Der mittlerweile Dreiundsechzigjährige brauchte Zeit, um nach ablenkenden Diskussionen mit Garve, Herder und Jacobi seine Philosophie weiter auszufuhren. Die "Verteidigung des Ganzen" sollte "den verdienten Männern, die es sich zu eigen gemacht haben", 2 überlassen bleiben. Trotzdem verfaßte Kant vom Herbst 1789 bis Januar 1790 das Manuskript zu einem ebenso polemisch scharfen wie argumentativ gewichtigen Büchlein, das dann zusammen mit der "Kritik der Urteilskraft" zur Ostermesse 1790 erschien: 3 "Ober eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll". 4
Hier wandte sich Kant gegen den damaligen Hauptvertreter der Leibniz-Wolffischen Schulphilosophie, Johann August Eberhard (1739-1809), und bezog sich dabei auf sieben Aufsätze, die jener im ersten Band der von ihm im Herbst 1788 zur Widerlegung des Kritizismus gegründeten Zeitschrift "Philosophisches Magazin" 5 veröffentlicht hatte: 1 2 3
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5
KrVBXLIII. KrV B XLIV. Vorländer: Mann, Bd. I, S. 339. Die von Vorländer, a.a.O., S. 341, genannte Entstehungszeit Dezember 1789 ist zu eng gefaßt. In seinem Brief an Reinhold vom 21.9.1789 kündigt Kant erstmals an, er selbst werde gegen Eberhard schreiben (AK XI, S. 89). Am 19.11. geht Kiesewetter bereits davon aus, Kant werde den Text als selbständige Veröffentlichung drucken lassen (AK XI, S. 108). Am 29.12. spricht Kant gegenüber Johann Erich Biester davon, er habe eine Arbeit "von etwa nur einem Monate zu vollenden" (AK XI, S. 119). Vorländer deutet das augenscheinlich als rückgewandte Bemerkung. Das im nächsten Satz folgende "alsdenn" weist jedoch eher darauf hin, daß Kant zum Ausdruck bringen will, er benötige noch ungefähr einen Monat bis zur Vollendung dieser Arbeit. In einem Brief vom 29.4.1790 bittet Kant, die in der Druckschrift vorhandenen Druckfehler aufsuchen zu lassen (Kant an Friedrich Nicolovius, AK XI, S. 162). Daraus ist zu erschließen, daß "ÜE" zur Ostermesse im April (und damit zeitgleich zur "Kritik der Urteilskraft") erschienen sein muß. AK VIII, 185-251. "ÜE" ließ Kant in Königsberg bei Friedrich Nicolovius verlegen, die "Kritik der Urteilskraft" bei Lagarde und Friedrich in Berlin und Libau. - Die meisten Schriften erschienen damals unabhängig von der Fertigstellung des Manuskripts entweder im Frühjahr zur Ostermesse oder im Herbst zur Michaelismesse (der Tag des hl. Michael ist der 29. September). Das "Philosophische Magazin" (im Verlag von Johann Jacob Gebauer, Halle) umfaßt vier Bände zu je vier Stücken: Bd. I (1788/89), Stücke 1 und 2 (1788), Stücke 3 und 4 (1789); Bd. II (1789/90), Stücke 1 bis 3 (1789), Stück 4 (1790); Bd. III (1790/91), Stücke 1 bis 3 (1790), Stück 4 (1791); Bd. IV (1791/92), Stücke 1 bis 3 (1791), Stück 4 (1792). Angegeben sind hier die aufgedruckten Daten. Tatsächlich erschienen ist im Herbst (Oktober) 1788 nur das erste Stück des ersten Bandes; die restlichen Stücke zwei bis vier folgten zur Ostermesse 1789 (zur genauen Datierung s. den Quellenanhang).
7
1.1. Datierung und erste Charakterisierung
- "Über die Schranken der menschlichen Erkenntnis" (S. 9 - 2 9 ; Nummer zwei des ersten Stücks), - "Über die logische Wahrheit oder die transzendentale Gültigkeit der menschlichen Erkenntnis" (S. 1 5 0 - 1 7 4 ; Nummer zwei des zweiten Stücks), - "Weitere Anwendung der Theorie von der logischen Wahrheit oder der transzendentalen Gültigkeit der menschlichen Erkenntnis" (S. 2 4 3 - 2 6 2 ; Nummer eins des dritten Stücks), - "Über das Gebiet des reinen Verstandes" (S. 2 6 3 - 2 8 9 ; Nummer zwei des dritten Stücks), - "Über den wesentlichen Unterschied der Erkenntnis durch die Sinne und durch den Verstand" (S. 2 9 0 - 3 0 6 ; Nummer drei des dritten Stücks), - "Über die Unterscheidung der Urteile in analytische und synthetische" (S. 3 0 7 - 3 3 2 ; N u m m e r vier des dritten Stücks) sowie - "Über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis" (S. 3 6 9 - 4 0 5 ; Nummer eins des vierten Stücks). Als das "Philosophische M a g a z i n " A n f a n g 1 7 9 2 sein Erscheinen n a c h vier B ä n d e n einstellen m u ß t e , g r ü n d e t e E b e r h a r d n o c h im gleichen J a h r in einem anderen Verlag ( C a r l M a ß d o r f , Berlin) ein Nachfolgeorgan, das "Philosophische A r c h i v " , 6 das bis M i t t e 1 7 9 5 bestand u n d es n o c h a u f zwei weitere B ä n d e brachte. D i e letzten Seiten des zweiten Bandes blieben jedoch leer, u n d die Texte waren schmäler u n d schaler geworden. E i n e r der letzten war ein " G e s p r ä c h zwischen C h a r l o t t e C o r d é , der M ö r d e rinn des berüchtigten M a r a t zu Paris, u n d e i n e m kritischen P h i l o s o p h e n " . V o n Eberhard, d e r bis z u m
Beginn
des
"Philosophischen
Archivs"
die meisten
Beiträge
beigesteuert hatte, waren E n g a g e m e n t u n d Initiative i m m e r m e h r a u f J o h a n n C h r i stoph S c h w a b übergegangen. E b e r h a r d begnügte sich weitgehend damit, in einer Folge v o n " D o g m a t i s c h e n Briefen" meist Positionen aus d e m "Phil. M a g . " z u wiederholen. T r o t z ihrer s c h o n formal erkennbaren S c h w ä c h e n - etwa in Gestalt
häufiger
W i e d e r h o l u n g e n u n d Eberhards G e w o h n h e i t , sich meist n u r a u f die erste Ausgabe der "Kritik d e r reinen Vernunft" zu stützen - erlebte die Kritische Philosophie d u r c h Eberhards U n t e r n e h m e n den massivsten Angriff, den die Leibniz-Wolffische o d e r überhaupt eine ältere philosophische R i c h t u n g gegen K a n t führte. 7
6 7
Der vielbeschäftigte Kant hat danach sehr viel zeitnaher reagiert, als ein vergleichender Blick bloß auf die Daten 1788 (Aufleben des "Phil. Mag.") und 1790 (Erscheinen von "ÜE" zum nächstmöglichen Meßtermin) es zunächst nahelegen mag. Das "Philosophische Archiv" umfaßt zwei Bände zu je vier Stücken: Bd. I (1792/93), Stücke 1 bis 3 (1792), Stück 4 (1793); Bd. II (1793-1795), Stück 1 (1793), Stücke 2 und 3 (1794), Stück 4 (1795). Im 18. Jhd. unterscheidet Eberstein, ein Geschichtsschreiber der Philosophie vom Leibniz-Wolffischen Standpunkt, drei Feldzüge gegen Kant (Eberstein: Geschichte, Bd. II, S. 112-115; S. XI/XII, 219, 225, 231, 454). Zunächst habe der in Deutschland vertretene Empirismus reagiert, sei aber von der Kantsei tc leicht abgeschlagen worden (hierin ist Eberstein mit Kant gleichsam verbündet), dann mit sehr viel stärkeren Argumenten der Dogmatische Rationalismus unter der Führung Eberhards. Gegen ihn habe sich Kant nicht durchsetzen können und sich schließlich nur durch Schweigen der weiteren Diskussion entzogen. Das Urteil über den erst seit 1792 einsetzenden Feldzug des Skeptizismus läßt Eberstein offen. - Ahnlich wie Eberstein beurteilt im 20. Jhd. Allison die von Eberhard ausgehenden Aktivitäten als "full-scale attack on the Kantian philosophy and its defcnders" und als "by fitr the most extensive and vigorous criticism of the Kantian philosophy" (Allison: Controversy, S. 8, bzw. S. 6).
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1. Die Konstellation der Kontroverse
Eberhards Hauptthese lautete, die eigentliche Kritik der reinen Vernunft habe bereits Leibniz dargelegt. An Kants Kritik sei nur das wahr, was mit der Leibnizischen Kritik übereinstimme, was von ihr aber abweiche, fälsch.8 - Mit der Relativierung von Kants eigener philosophischer Leistung will Eberhard dessen Begrenzung der theoretischen Erkenntnis auf den Bereich möglicher Erfährung überwinden. Seine dogmatisch-rationalistische Argumentation setzt dazu an vier Punkten an: (a) Raum und Zeit - nach Kant als Formen der Anschauung Bedingungen der Möglichkeit aller objektiven theoretischen Erkenntnis - werden zu empirischen sinnlichen Vorstellungen (zu "Bildern") abgewertet und sollen damit nur mehr für einen Teilbereich der Erkenntnis unverzichtbar sein. (b) Die Kategorien (paradigmatisch die der Ursache oder des Realgrundes) sollen auch jenseits der Grenze möglicher Erfahrung Erkenntnisbedeutung beanspruchen können, wogegen sie nach Kant nur auf Anschauungen anwendbar sind. (c) Die - nach Kant transzendente - Idee des Einfachen oder eines "einfachen Wesens" soll als Element des Sinnlichen und damit als objektiv real erwiesen werden können. (d) Oberste intellektuelle Prinzipien, der Satz des zureichenden Grundes und das Nichtwiderspruchsprinzip, sollen die objektive Gültigkeit aller Aussagen - auch der transzendent-metaphysischen im Kantischen Sinn - gewährleisten, die ihnen gemäß gebildet werden können. Zudem soll sich die Kantische Unterscheidung aller Urteile in synthetische und analytische auf sie zurückfuhren lassen.9 Die spekulative Theologie als spezielles Problem der theoretischen Philosophie wurde ebenso wie die spekulative Kosmologie und Psychologie nur in wenigen Beiträgen, eher noch in Rezensionen als in Aufsätzen, angesprochen.10 In der traditionellen Terminologie ausgedrückt, ging es Eberhard zunächst um die Kritik an Kants Alternative zur "metaphysica generalis". Für die "metaphysica specialis", Kants Ausfuhrungen zu den "transzendentalen Ideen" Seele, Welt und Gott, interessierte sich Eberhard kaum, 11 obwohl doch gerade hier wie in der Moral (dem Hauptgegenstand der praktischen Philosophie) nach seiner eigenen theologisch geprägten Philosophie 8 9 10
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Zu Beleg und Diskussion der These siehe Kapitel 2.2. Dem Überblick Uber die angesprochenen Themen dienen die Kapitel 4. 3,4.4 und 4.6. Alle drei genannten traditionellen Disziplinen gehören in der "KrV" zur "transzendentalen Dialektik". Mit natürlicher Theologie setzte sich im "Phil. Mag." zum ersten Mal Maaß in einer Rezension von Flatts "Fragmentarischen Beiträgen" auseinander (a.a.O., Bd. I, S. 193-34). Eberhard schaltete sich zu dieser Thematik erstmals ein mit "Etwas über die Kantische Critik des cosmologischen Beweises für das Daseyn Gottes" (Phil. Mag., Bd. II, S. 93-110), führte aber den Untersuchungsgang nicht weiter. Erst in seinen "Dogmatischen Briefen" des "Phil. Archivs" kam Eberhard etwas ausführlicher auf die Gottesfrage zu sprechen und referierte einen Gottesbeweis: Die Existenz ewiger, absolut notwendiger Wahrheiten erfordere die Annahme eines unendlichen, also göttlichen, Verstandes, der diese Wahrheiten denke (Phil. Archiv, Bd. 1/4, S. 49-90). - Über ein anderes Thema der transzendentalen Dialektik, die Antinomie der reinen Vernunft, hatte wiederum Maaß im ersten Band des "Phil. Mag.", S. 469-495, einen vereinzelten Aufsatz veröffentlicht. 1788 trat er auch mit dem Buch "Briefe über die Antinomie der Vernunft" hervor.
1.1. Datierung und erste Charakterisierung
9
die destruktive Wirkung Kants am größten sein mußte. 12 So überrascht es nicht minder, daß Kants praktische Philosophie und Teleologie erst ab 1791 (dem dritten Stück des vierten Bandes des "Phil. Mag.") diskutiert wurden. Nur zwei kurze Aufsätze im "Philosophischen Archiv" beschäftigten sich mit Kants "Kritik der Urteilskraft". 13 Man kann also ganz allgemein bei der Beschäftigung der beiden Journale mit Kant Partialität und Verspätung konstatieren. Es hätte doch nahe gelegen, daß sich Eberhard schon wegen seines Interesses fiir Rationaltheologie in seiner 1788 gegründeten Zeitschrift zunächst mit der im gleichen Jahr erschienenen "Kritik der praktischen Vernunft" befaßt hätte (schon im Dezember 1787 waren davon die ersten Exemplare im Umlauf), aber nicht einmal die "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" (1786) wurde behandelt, genausowenig wie die - was ebenfalls zu untersuchen nahe gelegen hätte - Veränderungen in der zweiten Ausgabe der "Kritik der reinen Vernunft". Umgekehrt beschränkte sich auch Kant auf die Verteidigung von Elementartheoremen seiner theoretischen Philosophie. Dem Aufsatz von Maaß über die Antinomie antwortete er nicht. 14 Obwohl er in seinem Brief an Reinhold vom 12. Mai 1789 und in seinen Vorarbeiten zu "ÜE" einen Ansatzpunkt markierte,15 um die praktische Philosophie auf den Plan treten zu lassen, spielt sie in der Streitschrift selber keine Rolle.16 Auf die "KU" gibt Kant nur einen kurzen Hinweis. 17 Der Grund mag darin liegen, daß es ihm vor allem darum ging, Eberhards Manipulationen bloßzulegen.18 Die Auseinandersetzung wurde auf mehreren Ebenen ausgetragen, privat, akademisch und öffentlich. Jeder der beiden Exponenten schaltete Unterstützer auf seiner Seite ein, so daß man davon sprechen kann, daß sich zwei Lager gegenübergetreten seien. Am Ende des Streits standen sich zwei philosophische Grundpositiorien voneinander isolierter gegenüber, als das vor 1788 der Fall war, wo eine Seite hoffte, die andere werde sich zur kritischen Sicht bekehren, bzw. der Kritismus erweise sich als schwächere Spielart des Dogmatischen Rationalismus Leibniz-Wolffischer Prägung. Die Kontroverse war keineswegs 1790 mit dem Erscheinen von "ÜE" beendet. Nur die Kernphase können wir auf den begrenzten Zeitraum von 1788 bis 1790 datieren. 12
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Daß zwischen Eberhard und Kant in der Moralphilosophie Differenzen bestanden und der Öffentlichkeit bekannt waren (bzw. wurden), belegen u. a. die Briefe von Allard Hulshoff an Kant vom 5.8.1790: "Uwe morele prineipes zyn ook overgesteld tegen de nu heerschende, tegen die van Eberhard, Steinbart etc" (AK XI, S. 193, Z. 7-8) und Carl August Noeldechen an Kant vom 29.10.1793 (AK XI, S. 464, Z. 32). Ein Anonymus schrieb "Über den Kantischen Begriff vom Genie" (Phil. Archiv, Bd. II/2, S. 13-25). Gegen Kants Lehre vom interesselosen Wohlgefällen beim Schönen hatte Eberhard schon früher polemisiert: "Unterscheidung einiger Wörter, die gleichbedeutend scheinen. Angenehm. Gut. Schön. Nützlich": Phil. Archiv, Bd. 1/2, S. 92-98. In dieser Arbeit deutet sich zugleich der sprachphilosophische Ansatz an, den er nach Beendigung der Auseinandersetzung mit Kant entfalten sollte. "Über die Antinomie der reinen Vernunft": Phil. Mag., Bd. I, S. 469-495. Kant an Carl Leonhard Reinhold vom 12.5.1789 (AK XI, S. 39) und Kant in seinen "Vorarbeiten zur Schrift gegen Eberhard", AK XX, S. 373. ÜE 225 wird sie nur kurz gestreift. ÜE 250. ÜE 246.
10
1. Die Konstellation der Kontroverse
Später (hier reagierten die Eberhardianer zeitnaher als bei den Schriften Kants) wurde auch Karl Leonhard Reinhold m i t seinen Versuchen, die Kritische Philosophie weiterzufuhren, angegriffen, 1 9 ebenso J o h a n n Schultz, 2 0 der Hofprediger und Professor der M a t h e m a t i k zu Königsberg, bei d e m Kant z u m ersten M a l a u f ein tieferes Verständnis der "KrV 1 ' gestoßen war, 2 1 sowie Johann Gotdieb Fichte m i t seinem "Versuch einer Kritik aller Offenbarung". 2 2 D i e Auseinandersetzung dauerte also n o c h bis in den Zensurkonflikt Kants mit der preußischen Regierung. 2 3 A n f i n g 1 7 9 5 erschien letztmals das "Philosophische Archiv". Begonnen hatte die Gegnerschaft Eberhards zu K a n t bereits 1 7 7 0 mit dessen privaten Aufzeichnungen gegen die R a u m - Z e i t - L e h r e aus Kants " D e m u n d i sensibilis atque intelligibilis forma et principiis" v o m gleichen Jahr. Erst Alexander Altmann hat sie bei seinen Arbeiten zu einer Mendelssohnbiographie wiederentdeckt. 2 4 Von mehreren Seiten wird dann bezeugt, daß sich Eberhard spätestens seit 1 7 8 6 - seit 1 7 7 8 war Eberhard Professor fiir Philosophie in Halle - in seinen Vorlesungen kritisch gegen Kants Transzendentalphilosophie geäußert habe. 2 5 19 20 21
22 23 24 25
Phil. Mag. II/4; 111/1,2 und 3; IV/1 und 3; Phil. Archiv 1/1; II/l und 3. Phil. Archiv 1/2; 1/3. Johann Schultz (=Schulze) legte Kant den Text einer Rezension der "KrV" vor, die er zu veröffentlichen gedachte. Auf Kants Bitte hin erweiterte er ihn zu den "Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Critik der leinen Vernunft", Königsberg 1784. Später folgte in zwei Teilen die "Prüfung der Kantischen Critikder reinen Vernunft", Königsberg 1789-1792. Phil. Archiv II/l. Beginn Juni 1792; 1.10.94 Kabinettsorder gegen Kant. Vgl. Hinske: Kant, S. 120-121. A. Altmann: Eine bisher unbekannte frühe Kritik Eberhards an Kants Raum- und Zeitlehre. In: KantStudien 1988 (79) 320-341. Ludwig Heinrich Jakob an Kant vom 17.7.1786: "Denn HE E. sagt immer noch laut, daß er Sie nicht verstehe und schreckt dadurch alle Leute vom Lesen ab." (AK X, S. 459). Ganz generell weist Jakob darauf hin, daß "die Kritik [...] immer noch zu wenig gelesen" werde (a.a.O., S. 458), und er fugt hinzu "Uber Ihre Metaphysik der Sitten scheint das Misverstandnis doch noch weit grösser zu sein als über Ihre Kritik" (a.a.O., S. 462). Johann Christoph Berens an Kant vom 5.12.1787: "Der P: Eberhard befürchtete [Imperfektgebrauch, weil es sich bei dem Brief um einen Reisebericht von Berens an Kant handelt] Nachtheil fiir die Moral von Ihrer neuen Philosophie, die Sie der alten hätten anfügen sollen" (AK X, S. 507). In dem mit "W." unterzeichneten Artikel "Über Amyntor. An Herrn Prof. Eberhard" aus dem ersten und einzigen Band von Carl Friedrich Bahrdts "Neuen Litteratur-Briefen", Berlin 1786, heißt es S. 21: "Denn gesezt auch, es wäre wahr, was man sich ins Ohr sagt, daß Sief, Herr Eberhard,] auf die Kritik der reinen Vernunft als auf ein dunkles und unverständliches Buch schmähltcn [sie], Gallima thias es nennten, aus dem man nicht klüger würde; [...] so hätten Sie doch bedenken sollen, daß viele ganz anders urtheilen, daß bereits viele durch das Studium jenes Buchs, an der Würklichkeit unserer bisherigen metaphysischen Kenntnisse zweifelhaft geworden, oder doch eine sehr geringe Idee von Ihnen [= ihnen, den Kenntnissen] bekommen haben, und - daß ihr Inhalt sehr zusammenschmelzt" [Unterstreichungen im Original Großdruck]. Der Verfasser warf Eberhard vor, sich in seinem 1782 in Berlin und Stettin erschienen "Amyntor. Eine Geschichte in Briefen" nicht zuerst auf die Frage eingelassen zu haben "[o]b Erkenntniß a priori oder Erkenntniß aus reiner Vernunft in der Philosophie überall möglich, und - wie dieselbe möglich sey" (ebd.). Er sei somit einen "vollständigen Beweis von der Realität" (a.a.O., S. 20) seines dort behandelten Prinzips der Religion und Sittenlehre schuldig geblieben, dem angeborenen moralischen Gefühl (a.a.O., S. 18). Der Verfasser argumentiert gegen Eberhard von einem (der Absicht nach) Kantischen Standpunkt aus, wenn er gegen ihn zusammenfassend etwa in Erinnerung bringt: "1) Wir haben allerdings von einigen Vernunftwahrheiten apodictische Gewißheit, aber nur in sofern sie auf Gegenstände der Erfahrung angewandt werden. 2) Von innrer Anschauung wissen wir gar nichts [apodiktisch gewiß], [...] Die Begriffe von Realität, Güte, Vollkommenheit u.s.w.
1.1. Datierung und erste Charakterisierung
11
Nach der privaten und akademisch-halböffentlichen Phase schritt Eberhard gegen Kant mit den Zeitschriften beim breiteren Lesepublikum 26 öffentlich zu Werke. Anlaß mögen ihm die Neuausgabe der "KrV" oder Uberhaupt die sich gerade 1787/1788 intensivierende Diskussion der Kantischen Ideen geboten haben. In Buchpublikationen hat sich die Kant-Eberhard-Kontroverse kaum niedergeschlagen. In einer Darstellung des Leibniz-Wolffischen Systems27 - merkte Eberhard 1794 nur gelegentlich die abweichende Kantische Position an. Der Leser sollte dann entscheiden, welche Ansicht ihn mehr überzeuge. Dieses "kurze[.] Lehrbuch" sollte nichts neues enthalten, sondern das System in der lichtvollen und natürlichen Ordnung, worin es A. G. Baumgarten vorgetragen, bald zusammenziehen, bald etwas erweitern; zusammenziehen, um das Ganze nicht unter einigen bestrittenen Lehrsätzen leiden zu lassen, und die Uebersicht des Gebäudes in seinen Hauptfugen zu erleichtern; erweitern, da, wo die Anwendung der Lehren der dogmatischen Philosophie, zur Beurtheilung der Einwürfe gegen die Realität derselben, eine weitere Entwicklung der Lehrsätze nöthig machte. 28
Hinter dem Wort "Einwürfe" verbirgt sich Kants Kritizismus, den Eberhard durch Erweiterung einiger Stellen der dogmatischen Metaphysik widerlegen zu können glaubte. Er beanspruchte, die "Hauptgründe" zu geben, "von denen das Urtheil über die Rechtsbeständigkeit der Behauptungen von beyden Seiten abhängt", 29 doch die Art, wie er am Ende einiger weniger Paragraphen die Position des Kritizismus darstellt, angeblich, um die Leser "in den Stand zu setzen, sich nach eigener vernünftigen Beurtheilung ihr System zusammenzufügen", 30 zeigt ihn als bloße Partei, was er auch selbst durch den Hinweis auf Baumgarten offen zugegeben hat. 31 Schließlich finden wir in Eberhards "Allgemeiner Geschichte der Philosophie" von 1796 - allerdings erst in dieser zweiten Ausgabe, obwohl die erste erst 1788 erschienen war - zwei kurze Seiten zu Kant, seinen Anhängern und Gegnern sowie zu den "Erwei-
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sind relativ, und drüken blos die Beziehung der Gegenstände auf unser Erkennmißvermögen" aus (a.a.O., S. 135-136). Gegen Eberhard finden sich in diesem Artikel rudimentär Einwände, etwa bezüglich der Funktion des Satzes vom Widerspruch und vom zureichenden Grund oder Uber die Konstruktion mathematischer Begriffe, die auch in "ÜE" vorgebracht werden. Daß Eberhard nicht nur die Gelehrten, sondern die breitere gebildete Öffentlichkeit ansprechen wollte, beweisen die unterhaltenden, z. T. literarischen Beiträge des "Phil. Mag.". Eberhard: Kurzer Abriß der Metaphysik mit Rücksicht auf den gegenwärtigen Zustand der Philosophie. Halle 1794. Eberhard: Metaphysik, S. III-IV. Eberhard: Metaphysik, S. V-VI. Eberhard: Metaphysik, S. IV. In einer Rezension von Eberhards Buch im "Philosophischen Journal", Bd. II, 4. Heft (Dezember 1794), S. 280, heißt es dann auch enttäuscht: "Der [...] Rücksichten auf den gegenwärtigen Zustand der Philosophie, sind äußerst wenige. Mehrentheils erklärt der Hr. Verf. nur ganz kurz, daß die Sätze der kritischen Philosophie, wodurch sie vom Dogmatismus abweicht, falsch Seyen, und verweiset dabey auf sein philosophisches Magazin."
12
1. Die Konstellation der Kontroverse
terungfen]" der "Kritischen Philosophie" durch Reinhold, Fichte und Abicht. 32 Im Gegensatz zu einigen seiner Unterstützer hat Eberhard - ungeachtet seiner Neigung zum Vielschreibertum - keine Monographie gegen Kant vorgelegt. Kant wurde Anfang März 1789 durch einen Brief von Jakob erstmals auf das "Phil. Mag." aufmerksam. 33 Einen Monat später beschwor Reinhold Kant, nicht seine Zeit mit einer von ihm selbst ausgearbeiteten Entgegnung zu vergeuden, und riet nur zu einer kurzen "öffentlichen Erklärung", "[d]aß man (: z. B. Eberhard u.s.w.) Sie nicht verstanden habe", denn - und das mußte Kant besorgt machen - "ein sehr beträchtlicher und achtungswerter Theil glaubt Sie wären widerlegt". Den Text dieser Erklärung bräuchte Kant "nur in eine ostensible Stelle" seines nächsten Briefes an ihn "einkleiden". Er selbst würde sich dann um den Abdruck in der "Allgemeinen Literatur-Zeitung" und - zusammen mit "einigen begleitenden Gedanken" von Reinhold, bei welchen er "die größte mögliche Delikatesse anzuwenden suchen" würde, - zusätzlich im "Teutschen Merkur" kümmern. 3 4 In zwei langen Briefen von Mitte Mai urteilte Kant vernichtend über Eberhards Verfahren in den drei ersten Stücken des ersten Bandes des "Phil. Mag." und lieferte Reinhold Material zur freien Verwendung in seiner von ihm geplanten Entgegnung. 35 Einleitend heißt es dazu im ersten Brief: Daß Hr. Eberhard, wie mehrere andere, mich nicht verstanden habe, ist das mindeste, was man sagen kan (denn da könnte doch noch einige Schuld auf mir haften); aber, daß er es sich auch recht angelegen seyn lassen, mich nicht zu verstehen und unverständlich zu machen, können zum Theil folgende Bemerkungen darthun.36 Ungewöhnlich für Kant ist, daß er Reinhold aufforderte, nicht zu zurückhaltend gegen Eberhard vorzugehen: Die Delicatesse [...] könnte indessen gegen diesen Mann nicht allein unverdient, sondern auch nachtheilig seyn, wenn sie zu weit getrieben würde.37 Kant wollte also zunächst seinem Vorsatz und Reinholds Rat folgen und die "Vertheidigung" "[s]einen Freunden" "überlassen und empfehlen". 38 Das "gute[J Schwerdt[.]", das ihm Kant in dem ihm übersandten Material in die Hand legte, bewog Reinhold dazu, seine Pläne einer erläuterten Erklärung gegen Eber-
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Eberhard: Allgemeine Geschichte der Philosophie, zum Gebrauch akademischer Vorlesungen. 2., verbesserte, mit einer Fortsetzung bis auf gegenwärtige Zeit und chronologischen Tabellen vermehrte Ausgabe. Halle 1796; S. 316. Allerdings sind auch Leibniz und Woiff nur relativ kurz abgehandelt (a.a.O., S. 300-302 bzw. S. 305-308). Die "Chronologischen Tabellen" enden bereits mit dem Jahr 1699 und dem Eintrag "Erhard Weigel stirbt". Ludwig Heinrich Jakob an Kant (aus Halle) vom 28.2.1789 (AK XI, S. 4-7). Carl Leonhard Reinhold an Kant vom 9.4.1789 (AK XI, S. 18). Kant an Reinhold vom 12. und 19.5.1789 (AK XI, 33-48). AK XI, S. 33. Unterstreichungen im Original gesperrt. AK XI, S. 39. S. 47 heißt es, Reinhold solle von Kants Bemerkungen "wo möglich auf eine nachdrückliche Art" "Gebrauch machen". AK XI, S. 47.
1.1. Datierung und erste Charakterisierung
13
hard zu einer Rezension "des 3 ten und 4 ten Stückes" auszuweiten. 3 ' Vorher hatte jedoch schon August Wilhelm Rehberg - wie Reinhold abfallig feststellte - "nach seiner Weise" - das erste und zweite Stück ohne fremde Hilfe im Kantischen Sinne besprochen. 4 0 Reinholds umfängreiche Rezension erschien fortlaufend vom 11. bis 13. Juni 1 7 8 9 nach den Rehbergischen vom 10. Januar und 22. März desselben Jahres. 41 Obwohl er dadurch die Abschlußarbeiten an der "Kritik der Urteilskraft" hinauszögern mußte, 4 2 entschloß sich Kant dann doch - Rehberg und Reinhold hatten zwar bereits den ganzen ersten Band rezensiert
selbst öffendich im Streit aufzutreten. Am
21. September versprach Kant Reinhold nur erst einen "Aufsatz" über den ersten Band des "Phil. Mag.", also wohl einen unselbständigen Artikel. 43 Zwei Monate später meinte Kiesewetter, Kant arbeite an einer eigenständigen Druckschrift. 44 Auf eine solche bezog sich auch Kant, als er Reinhold am 1. Dezember schrieb: Ich habe etwas über Eberhard unter der Feder. Dieses und die Critik der Urtheilskraft werden hofFendich Ihnen um Ostern zu Händen kommen. 4 5
Noch nach der Publikation von " Ü E " - zu der uns noch aufschlußreiche Vorarbeiten erhalten sind 46 - versorgte Kant Schultz 47 mit Studien 48 zum zweiten Band des "Phil. Mag.", die dieser für die Besprechung 49 des Bandes verwendete. Mehr implizit rechtfertigte Schultz gegen Eberhard noch einmal 1792 im zweiten Teil seiner "Prüfung" Kants Raum- und Zeidehre. 50 Daß Kants " Ü E " schon 1791 neu aufgelegt und
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Reinhold an Kant vom 14.6.1789 (AK XI, S. 59). Ebd. Rehberg rezensierte das 1. und 2. Stück des 1. Bandes des "Phil. Mag." in der "A.L.Z.", 1789/1, Nr. 10, Sp. 77-80 und Nr. 90, Sp. 713-716. Auf Eberhards Antwort auf die Rezension des zweiten Stücks im "Phil. Mag.", Bd. II, St. 1, S. 29-52, reagierte wiederum Rehberg: A.L.Z. 1789/IV, Nr. 145, Sp. 1207-1212. Eberhard antwortete auch Reinhold (A.L.Z. 1789/III, Nr. 87, Sp. 730-731), und Reinhold returnierte: a.a.O., Sp. 731-732. Eberhard und Maaß antworteten noch an verschiedenen anderen Stellen im 2. und 3. Bd. des "Phil. Mag." auf die Rezensionen. Das 3. und 4. Stück rezensierte Reinhold: A.L.Z. 1789/11, Nr. 174-176, Sp. 577-597. Kant schob den Termin für die Absendung des Manuskripts hinaus, erst auf Ende Oktober, dann auf Ende November 1789. Schließlich übersandte er es in Teilen am 21. Januar, 9. Februar und 9. März 1790. - Kant an de la Garde vom 2.10., 15.10. 1789, 21.1., 9.2. und 9.3.1790 (AK XI, S. 91, S. 97, S. 123-125, S. 132, S. 143). Ursprünglich lütte die "Kritik der Urteilskraft" schon zur Michaelismesse 1789 erscheinen sollen, wovon Kant noch im Brief an Reinhold vom 12. Mai 1789 ausging (AK XI, S. 39. Kant an Reinhold, 21.10.1789 (AK XI, S. 89). Kiesewetter an Kant, 19.11.1789 (AK XI, S. 107). Kant an Reinhold, 1.12.1789 (AKXI, 111). "Vorarbeiten zur Schrift gegen Eberhard", AK XX, 353-378. Kant an Schultz, 29. Juni und 2. Aug. 1790 (AK XI, 183 und 184). AK XX, 381-399 und 410-423. AK XX, 385-423. Die Rezension erschien im September 1790 in der A.L.Z, 1790/III, Nr. 281-284, Sp. 785-814. Schultz, Johann: Prüfung der Kantischen Kritik der reinen Vernunft. 2. Teil. Königsberg 1792. Vgl. AK XX, 481. - Eberhard reagierte darauf selbst nicht (vgl. Eberstein: Geschichte, Bd. II, S. 213), von anderer Feder (Schwab) finden sich dazu aber im "Phil. Archiv" Repliken (1792).
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1. Die Konstellation der Kontroverse
(textlich unverändert, obwohl Eberhard inzwischen reagiert hatte) noch 1796 (in Grätz) nachgedruckt wurde, läßt auf reges Interesse beim Publikum schließen. Zwei Kant ferner als Reinhold und Schultz stehende Anhänger, Johann Heinrich Abicht und Friedrich Gottlob Born, unterhielten von 1789 bis 1791 eine Zeitschrift, das "Neue philosophische Magazin", die ebenfalls mit Eberhards Artikeln ins Gericht ging. 51 Johann Wilhelm Andreas Kosmann - auch er aus dem weiteren Kreis um Kant - gründete eine zusätzliche Zeitschrift, die sich als ein Ziel setzte, Kant gegen Eberhard zu verteidigen, das "Allgemeine Magazin für kritische und populäre Philosophie". 52 Es erschien erstmals 1791. Ein Beitrag aus Eberhards "Philosophischem Archiv" richtet sich speziell gegen sie.53 Die Artikel waren dann aber weniger contra Eberhard als pro Reinholds Standpunkt ausgerichtet. Neben den Zeitschriften und Rezensionen und Kants in diesen Zusammenhang gehörende Streitschrift bildete sich eine zweite Bühne zur Austragung der Kontroverse heraus: Die Einsendungen (bzw. Entwürfe) auf die im Januar 1788 mitgeteilte Preisfrage der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, welche Fortschritte die Metaphysik in Deutschland seit Leibnizens und Wolds Zeiten genommen habe. Viele Autoren, die für oder gegen Kant in der Kontroverse aufgetreten sind, haben sich an der Beantwortung dieser Frage beteiligt, allen voran 1794 Kant selbst.54 Nicht nur damit hatte er den in "ÜE" spezifiziert erneuerten Vorsatz, sich in keine Streitigkeiten mehr einzulassen,55 wiederum gebrochen, wie seine bereits erwähnten Aufsätze über den zweiten Band des "Phil. Mag." beweisen. Die wichtigsten anderen Kompetenten bei der Preisfrage hießen Reinhold, Abicht und Schwab. Der Letztere erhielt schließlich den ersten Preis in dem Jahr, in dem das "Philosophische Archiv" sein Erscheinen einstellte.56 So beendet die Jahreszahl 1795 das Geschehen auf beiden Hauptschauplätzen der Kant-Eberhard-Kontroverse. Vielleicht noch im gleichen Jahr, späte51
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Abichts Brief an Kant vom 22. April 1789 belegt, daß Kant ein gewisses Interesse an der Zeitschrift genommen hat (AK XI, S. 28). Bom meldete Kant am 10. Mai 1790 aus der Buchmessestadt Leipzig: "Uebrigens findet die kritische Philosophie in hiesigen Gegenden immer noch großen Widerstand. Denn, leider! giebts wenig, die denken können, und sich also auf Eberhards Gewäsch verlassen, und dem treulich nachbeten." Im gleichen Brief drückt er sich allerdings über seine Zeitschrift nicht zu optimistisch aus: "Mit meinem Magazin will es nicht recht sich fördern. Ich kan keine Mitarbeiter kriegen und die Aufsätze meines Mitherausgebers [Abicht] gefallen mir nicht, wegen der Flüchtigkeit, mit der sie hingeworfen sind" (AK XI, S. 173). Am 4. Februar 1790 teilte Kosmann Kant den Plan zu seiner Zeitschrift mit (AK XI, S. 131). Am 15. April schrieb er Kant: "Endlich ist es mir gelungen mein Magazin für kritische und populaire Philosophie, das ich dem Eberhardschen vorzüglich entgegen sezze, zu Stande zu bringen. [„.] Einen Aulsazz von Herr Reinhold erwarte ich noch" (AK XI, S. 152). Das erste Heft erschien dann aber doch erst ein Jahr später. Kosmann übersandte es Kant mit seinem Brief vom 21. Oktober 1791 (AK XI, S. 299300). "Philosophisches Archiv", Bd. I, Stück 2 (1792), S. 120-123. AK XX, 253-332. Kants unvollendete Arbeit wurde freilich weder eingereicht noch zu seinen Lebzeiten veröffentlicht. Nach Kants Tod gab Rink das Material in geglätteter Form 1804 heraus. ÜE 246: "Mit dieser Erörterung [...] mag es nun für jetzt und für immer genug sein." Auf die Preisschriften wird weiter unten noch eingegangen.
1.2. Die philosophische Landschaft um Kant
15
stens aber 1796, begann Kant in Abkehr von der Leibniz-Wolff-Problematik mit der Arbeit am sog. "Opus postumum".
1.2. Die philosophische Landschaft um Kant Besonders nach der zweiten Ausgabe der "KrV" 1787 wurden die Veröffentlichungen zur Kantischen Philosophie immer zahlreicher und substantieller.57 Noch vor der zweiten Ausgabe haben vor allem Reinholds "Briefe über die Kantische Philosophie", 1786 bis 1787 in Wielands "Teutschem Merkur" erschienen, anregend gewirkt. Die Publikationen der Jahre 1787/1788 fallen dabei quantitativ und qualitativ besonders auf. Repräsentative Beispiele seien hier - gestützt auf die Angaben des zeitgenössischen Philosophiehistorikers Hausius58 - zunächst aus der antikantischen, dann aus der prokantischen Literatur genannt: 1787 erschien Jacobis Text Uber den "transzendentalen Idealismus",59 Herders "Gott", der Seitenhiebe gegen Kant enthielt,60 Feders Untersuchung "Über Raum und Kausalität",61 Tit(t)els "Kantische Denkformen oder Kategorien".62 Johann Friedrich Flatt schrieb 1788 eine Arbeit über den Begriff der Kausalität und die Grundlegung der natürlichen Theologie. Schon ein Jahr später veröffendichte er ein weiteres Uber den moralischen Erkenntnisgrund der Religion überhaupt.63 Unter den Arbeiten von 1788 verdienen die von Adam Weishaupt, "Zweifel über die Kantischen Begriffe von Zeit und Raum", "Über die Kantischen Anschauungen und Erscheinungen" und "Über die Gründe der Gewißheit der menschlichen Erkenntniß. Zur Prüfung der Kantischen Critik der reinen Vernunft",64 die "Briefe über die Antinomie der Vernunft" von Maaß 65 und nicht zuletzt Gottlob
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1793 führte Hausius 218 Titel von Veröffentlichungen zur Kritischen Philosophie auf (Karl Gottlob Hausius: Materialien zur Geschichte der Kritischen Philosophie. Leipzig 1793). Deutlich mehr als die Hälfte der Arbeiten stehen Kant positiv gegenüber. - Vgl. Vorländer: Mann, Bd. I, S. 338-339 und Bd. II, S. 257. Hausius: Materialien, Einleitung. Jacobi, Friedrich Heinrich: Über den transscendentalen Idealismus. Beilage zu: Ders.: David Hume Ober den Glauben, oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch. Breslau 1787. Herder, Johann Gottfried: Gott. Einige Gespräche. Gotha 1787. Göttingen 1787. Frankfurt a. M . 1787. Im Anschluß an Kants "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten'' (April 1785) hatte er sich schon kritisch mit Kants praktischer Philosophie auseinandergesetzt: Über Herrn Kants Moralrefbtm. Frankfurt und Leipzig 1786. Flatt, Johann Friedrich: Fragmentarische Beytrage zur Bestimmung und Deduktion des Begriffs und Grundsatzes der Caussalität, und zur Grundlegung der natürlichen Theologie, in Beziehung auf die Kantische Philosophie. Leipzig 1788. - Ders.: Briefe über den moralischen Erkenntnißgrund der Religion überhaupt, und besonders in Beziehung auf die Kantische Philosophie. Tübingen 1789. Alle Nürnberg 1788. Halle 1788.
16
1. Die Konstellation der Kontroverse
Ernst Schutzes (erster Band) "Grundriß der philosophischen Wissenschaften"66 besondere Aufmerksamkeit. Aus der wichtigeren prokantischen Literatur seien hier für das Jahr 1787 Rehbergs "Über das Verhältnis der Metaphysik zur Religion" 6 7 und Jakobs "Prolegomena zur praktischen Philosophie"68 erwähnt. 1788 veröffentlichte Schmid ein Wörterbuch zur Kantischen Philosophie, 69 Abicht schrieb über die Vereinbarkeit des Kritizismus mit der Theologie, 70 Born legte eine Arbeit zur transzendentalen Ästhetik vor71 und Kiesewetter eine Abhandlung moralphilosophischen Inhalts.72 Grob gerechnet, halten sich im Verzeichnis von Hausius pro- und antikantische Schriften die Waage, sogar mit einem leichten Ausschlag zu Gunsten Kants (obwohl Hausius Kant zwar mit Respekt, aber eher distanziert gegenüberstand). Dieser numerisch-quantitativen Überlegenheit steht jedoch qualitativ gegenüber, daß gerade die damals bekannteren philosophischen Schriftsteller gegen Kant argumentierten. Im Blick auf die allgemeine Stimmung gegenüber der Kantischen Philosophie schrieb der Kantianer Reinhold 1790 in der Buchfassung seiner "Briefe über die Kantische Philosophie": [...] den kritischen oder so genannten Kantischen Philosophen [...] (den Anhängern einer neuen Art zu philosophiren, die bisher nur sehr wenigen Eingang gefunden hat, und von den berühmtesten Philosophen unsrer Zeit widerlegt wird) [...].73 Der Kantgegner Eberhard urteilte 1788 in seinem "Phil. Mag." gerade umgekehrt: Der Erfolg übertraf alles, was die sanguinischste Hoffnung von dem wärmsten Enthusiasmus erwarten konnte; die Critik der reinen Vernunft und die darin enthaltene Philosophie machten eine Sensation, dergleichen man in langen Zeiten nicht in der philosophischen Welt gesehen hatte [.].74
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Bd. 1 und 2. Wittenberg und Zerbst 1788-1790. In seinen "Materialien" nennt Hausius dieses Werk unter Nr. 93 und schreibt dazu: "Es ist vielleicht keine Schrift, worin man der Kantischen Philosophie auf der einen Seite so viel Gerechtigkeit widerfahren ließe, und ihre Vortheile mehr ins Licht stellte, und doch auf der andern Seite mit größerer Unparteilichkeit die Mängel und Unzulänglichkeiten in ihren Beweisen sichtbarer zu machen suchte als in dieser. Zum Beispiel kann die Behauptung Kants über den Raum dienen." Berlin 1787. Halle 1787. Wichtig Air das Verhältnis zwischen Kritizismus und Ontotogie ist Jakobs "Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden oder aller spekulativen Beweise Air das Dasein Gottes in Vorlesungen. Nebst einer Abhandlung von Herrn Professor Kant", Leipzig 1785. Schmid, Karl Christian Erhard: Wörterbuch zum leichteren Gebrauch der Kantischen Schriften nebst einer Abhandlung Qber den Empirismus und Purismus. Jena 1788. Abicht, Johann Heinrich: De philosophiae Kantianae habitu ad theologiam. Erlangen 1788. Born, Friedrich Gotdob: Versuch Ober die eisten Gründe der Sinnenlehre, zur Prüfung verschiedener, vornehmlich der Weishauptischen Zweifel über die Kantischen Begriffe von Raum und Zeit. Leipzig 1788. Kiesewetter, Johann Gottfried Karl Christian: Über den ersten Grundsatz der Moralphilosophien, nebst einer Abhandlung über die Freiheit von Jakob. Leipzig, Eisleben und Halle 1788. Reinhold: Briefe, Bd. 1, S. 22. Phil. Mag. 1,4.
1.2. Die philosophische Landschaft um Kant
17
Die konträre Beurteilung der philosophischen Landschaft bei Reinhold und Eberhard lag freilich im Interesse der jeweiligen Publikation: Eberhard mußte sich als einen Mann darstellen, der es mit einem bedeutenden - und sei es auch nur durch die Mode groß gemachten - Gegner aufnahm, während Reinhold ja gerade die Berechtigung seiner "Briefe" aus der allgemeinen Verkennung der Kantischen Philosophie herleitete. Insofern lag es nahe, daß Reinhold untertrieb (1786/7, als die Erstfassung der "Briefe" erschien, mochte diese Aussage in noch stärkerem Maße zugetroffen sein) und Eberhard übertrieb. Vielleicht kennzeichnet daher Hausius in einem 1793 veröffendichten, aber wohl schon früher verfaßten Text die Lage am besten: Es ist nun keine Akademie [im Sinne von "Hoher Schule", "Universität"] in Deutschland mehr übrig wo nicht Kants Philosophie gelehrt oder widerlegt werde, und beydes oft an einerley Orten zugleich. Auch die benachbarten Akademien außer Deutschland haben angefangen sich damit zu befassen [...].75
Kants Biograph Borowski bestätigt den Befund. 76 Aus seiner Liste der Kantanhänger und -gegner läßt sich erschließen, daß sich an den meisten Universitäten Befürwortung und Ablehnung gegenüberstanden. In Halle vertraten den Kantismus Jakob, Tieftrunk und Beck. Eberhard und Maaß standen ihnen entgegen. Dem Kantianer Reinhold in Jena stand v. a. eine gewisser Ulrich entgegen.77 In einer Rezension des ersten Stücks des "Phil. Mag." wird der Hoffnung Ausdruck verliehen, die Zeitschrift vermöchte es, "bei der jetzigen Gährung in der deutschen Philosophie die vorsichtige Scheidung des Wahren und Falschen befördern zu helfen". 78 Dahinter steckt die Erwartung, aus den unterschiedlichen Lagen lasse sich - um im Bild zu bleiben - ein einheidicher Wein keltern. Die Meinung des Rezensenten, "durch wechselseitige Belehrung und Verständigung" im Sinne eines Kompromisses
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Karl Gottlob Hausius: Skizze zu einer Geschichte der Kantischen oder kritischen Philosophie. In: Ders.: Materialien, S. CLXXI. - Hausius unterschied bei der Einteilung der zu Kant erschienenen Literatur nicht bloß zwischen Anhängern und Gegnern, sondern bezeichnete zwischen beiden Gruppen eine nicht unwichtige dritte Gruppe von Eklektikern. So richtig diese Dreiteilung als historische Beobachtung ist, so falsch ist sie in systematischer Hinsicht Vom Kantischen Standpunkt aus betrachtet bleibt nur die Alternative übrig, entweder den kritischen Weg zu beschreiten oder nicht und im letzteren Fall dann keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit mehr erheben zu können. Zur "Kantischen Schule" (Materialien, S. V) zählte Hausius neben Reinhold, Schultz und Rehberg die Philosophen Herz, Schmid, Peucker, Born, Jakob, Heinidte, Spazier, Snell, Pirner, Schaumann und Tieftrunk. Bei den Schriften zu Kants praktischer Philosophie sprach er nicht mehr von der "Kantischen Schule", sondern neutraler von "Kants Nachfolgern" (a.a.O., S. LXVII) und nannte u. a.: Kiesewetter, Mutschelle, Gebhard und Heidenreich. Zu den Eklektikern gehörten u. a.: Abel, Will, Maimon, Ulrich, Bomträger, Heidenieich, Abicht, Heinicke (der Name des letzteren tauchte auch bei der ersten Gruppe auf). Zu den "Kantischen Gegnern" (a.a.O., S. XXXV) rechnete er u. a.: Brastberger, Zwanziger, Stattler, Uttel, Schulze, Weishaupt, Joh. Albr. Reimarus, Seile, Flatt, Feder, Maaß, Ewald, Meineis, Eberhard, Platner; Herder, Jacobi. Borowski: Kant. In: Groß: Biographien, S. 42-44. Vgl. AK X S. 499, 526, 530 und 531. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 195. Stück, 6. Dez. 1788, S. 1945.
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1. Die Konstellation der Kontroverse
auf einer mittleren Linie ließen sich "die Partheyen einander näher" bringen, 79 teilte Eberhard tendentiell. Auch Kant ging von einem Einheitsmodell aller Philosophie aus, indem er hoffte, alle an Metaphysik Interessierten würden sich zunächst auf den von ihm gewiesenen Pfaden kritisch der Möglichkeit einer solchen Wissenschaft versichern. Daß sich die gelehrte Welt nach dem Auftreten des Kritizismus über seine Bewertung uneins war, belegt u. a. die Tatsache, daß auf die bereits 1788 von der Berliner Akademie ausgelobte Frage "Quels sont les progrès réels de la Métaphysique en Allemagne depuis le temps de Leibnitz et de Wolf?" bis zum 1. Januar 1792 nur eine einzige Arbeit eingereicht wurde, nämlich von Eberhards Anhänger Schwab. Erst nach einer Verdoppelung des Preisgeldes und der Verlängerung des Termins konnte im Jahr 1795 unter nunmehr über dreißig Einsendungen eine Prämierung erfolgen. 80 Mit der These, seit Wolff habe die Metaphysik keinerlei Fortschritte gemacht, gewann Schwab den ersten Preis. Obwohl die Akademie einen weiteren Antikantianer, Daniel Jenisch, 81 mit einem Akzessit würdigte, entschied sie sich mit dieser Wahl nur beschränkt fur die Leibniz-Wölffische Philosophie. Der zweite und dritte Preis wurde nämlich Vertretern des Kandagers zugesprochen, Abicht und Reinhold, wenngleich Reinhold damals schon stark von Kant abweichende eigene Wege eingeschlagen hatte und sich mit seinem Beitrag eher auf eine neutrale Beobachterhaltung zurückzog.82 Übrigens wurde auch mindestens eine Arbeit eingereicht, die die Fortschrittsfrage nicht mehr nur vom Gegensatz zwischen der Leibniz-Wolffischen Schulphilosophie und dem Kantischen Kritizismus aus behandelte, sondern bereits den Standpunkt der Fichteschen Wissenschaftslehre einnahm. 83 Ziemlich spät - 1793/94 - skizzierte Kant eine Antwortschrift. Das deutet darauf hin, daß Kant die durch Eberhard artikulierte Herausforderung der Leibniz-Wolffischen Schulphilosophie noch lange nach der Veröffentlichung von "ÜE" empfand, weil er es - wenigstens zeitweise, denn er vollendete diese (immerhin aus drei z. T. parallelen Aufsatzentwürfen bestehende) Schrift nicht - fur nötig erachtete, einen zweiten Schlag gegen die Eberhardianer zu fuhren, diesmal allgemeiner und nicht speziell gegen Eberhard allein argumentierend. Seine Grundstrategie scheint die gleiche gewe79 80 81 82 83
Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 195. Stück, 6. Dez. 1788, S. 1945. Lehmann: Einleitung, S. 481-482. Daniel Jenisch: Über den Grund und Werth der Entdeckungen des Herrn Professor Kant in der Metaphysik, Moral und Ästhetik. Nebst einem Sendschieiben des Verfassers an den Herrn Professor Kant über die bisherigen günstigen und ungünstigen Einflüsse der kritischen Philosophie. Berlin 1796. Rosenkranz: Geschichte; S. 352-353. Hülsen (=Hegekern), August Ludwig: Prüfung der von der Akademie zu Berlin aufgestellten Preisfrage: Was hat die Metaphysik seit Leibnitz und Wolf für Progressen gemacht? Altona 1796. Schon 1792 hatte auch Salomon Maimon eine Arbeit verfaßt, aber wohl nicht eingereicht, wo er die prinzipielle Frage behandelte, ob Metaphysik überhaupt möglich sei: Über die Progressen der Philosophie, veranlaßt durch die Preisfrage der Königl. Akademie zu Berlin [...] "Was hat die Metaphysik seit Leibniz und Wolf für Progressen gemacht?", in: Ders.: Streifereien im Gebiete der Philosophie. Theil 1. Berlin 1793; S. 1-58.
1.2. Die philosophische Landschaft um Kant
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sen zu sein wie in "ÜE": Dem Gegner sollte die Basis entzogen werden, von der aus er argumentierte, Leibniz im ersteren, die Ontologie überhaupt im letzteren Fall. Im philosophischen Diskurs hatte zwar zur Zeit der Kontroverse die LeibnizWolffische Schulphilosophie ihre Dominanz verloren84 - Empirismus und popularphilosophischer Eklektizismus hatten ihr wenigstens beim breiteren Publikum den Rang abgelaufen -, sie wurde aber wegen ihres methodischen und systematischen Verfahrens von einigen als die einzig ernst zu nehmende Gegenspielerin gegen die Kritische Philosophie betrachtet. 85 Unter den verschiedenen Formen der Schulphilosophie war sie die einflußreichste gewesen und hatte sich auch gegen Alternativentwürfe, die innerhalb der Schulphilosophie speziell gegen sie konzipiert wurden, durchsetzen können. 86 An den Universitäten wurden ihre Handbücher noch bis zum Ende des Jahrhunderts verwendet. 87 Mit Rosenkranz88 kann die philosophische Landschaft in Deutschland zur Zeit der Auseinandersetzung um Kants Kritizismus grob als Dreierfigur beschrieben werden: Der hauptsächlich Leibniz-Wolffischen Schulphilosophie stand eine Popularphilosophie (Johann Georg Heinrich Feder, Christian Garve u. a.) gegenüber, die sich teils aus der "Schule", teils gegen sie entwickelt hat. Als Gegenbewegung gegen den von ihr propagierten Maßstab eines "gesunden Menschenverstandes" bildete sich wiederum die Glaubensphilosophie heraus. Die letztere ist dabei in eine konfessionell gebundene und freie (Friedrich Heinrich Jacobi, Johann Georg Hamann, Johann Gottfried Herder) zu unterscheiden. Ergänzend dazu muß gesagt werden, daß sich die Popularphilosophie vor allem den Einflüssen des englischen Empirismus und der französischen Aufklärung öffnete. 89 Zu den Empiristen werden gewöhnlich Adam Weishaupt (Ingolstadt, nach 1785 Gotha), Christoph Meiners (Göttingen) und Christian Gottlob Seile (Berlin) gezählt.90 Andere waren Dietrich Tiedemann (Marburg), Gottlieb August Tittel (Karlsruhe) und Johann Christian Gotdieb Schaumann (Gießen). 91 Bei der katholisch gebundenen Glaubensphilosophie finden wir als Kantgegner den sonst so radikal auf-
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86 87 88 89 90 91
Eberstein: Geschichte, Bd. II, S. 50. Dagegen spricht Allison noch von ihr als der "official philosophy" (Alüson: Controversy, S. 6). Vgl. Kästner an Kant vom 2.10.1790 (AK XI, S. 213) und die Vorrede zu Reinholds "Neuer Theorie des Vorstellungsvermögens" vom Herbst 1789. Im Frühjahr des gleichen Jahres wurde sie vorab unter dem Titel "Über die bisherigen Schicksale der Kantischen Philosophie" (Jena 1789) veröffentlicht (vgl. dazu die Rezension in der "Allgemeinen deutschen Bibliothek", Band 116 (1794), S. 448-450, und die Bemerkungen in: Hausius: Geschichte, S. XCIV, Nr. 233). Vgl. Wundt: Schulphilosophie, passim. Bödeker: Leitwissenschaft, S. 26. Rosenkranz: Geschichte, S. 33-34. Bödeker: Leitwissenschaft, S. 27. Deshalb ist die Abgrenzung zwischen einem popularphilosophischen Eklektizisten und einem konsequenten Empiristen schwierig. Reininger: Kant, S. 264. Ebeistein: Geschichte, Bd. II, S. 53-74.
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1. Die Konstellation der Kontroverse
klärerischen Benedikt Stattler,' 2 als Anhänger Kants Matern Reuß 93 (Würzburg) und Sebastian Mutschelle94 (Freising). Das bunte Bild des philosophischen Gartens in Deutschland wird durch die skeptische Richtung eines Gotdob Ernst Schulze (Helmstedt) komplettiert. 95
1.3. Institutionelle Gestaltung des Diskurses Neben dem "Phil. Mag." und "Phil. Archiv" wirkten auch andere Zeitschriften 96 in ihrer Grundtendenz oder wie bei Eberhards Gründungen sogar von ihrer speziellen Zwecksetzung her gegen Kant. Zur ersteren Gruppe gehört die als Organ der Popularphilosophie von Eberhards Freund Friedrich Nicolai seit 1765 herausgegebene "Allgemeine deutsche Bibliothek". Dort trat Eberhard als Rezensent auf, und dort wurden meist von Gottlob Ernst Schulze - die Bände des "Phil. Mag." zustimmend besprochen. Als Vertreterin der zweiten Gruppe ist die "Philosophische Bibliothek" zu nennen. Sie wurde im gleichen Jahr wie das "Phil. Mag.", 1788, gegen die Kantische Philosophie von Johann Georg Heinrich Feder und Christoph Meiners lanciert. Nach vier Bänden stellte sie ihr Erscheinen 1791 wieder ein. Von der philosophischen Orientierung der Herausgeber her kann sie nicht dem Leibniz-Wolffischen Paradigma zugeordnet werden. Feder, den wir als Verstümmeier der von Christian Garve bereits unglücklich verfaßten Rezension der "Kritik der reinen Vernunft" kennen, 97 gilt gemeinhin als Popularphilosoph, Meiners als Empirist. Trotz der Unterschiede im Prinzipiellen bezog sich Eberhard im "Phil. Mag." manchmal auf die "Allgemeine deutsche Bibliothek" und auf selbständige Veröffentlichungen Feders. Im Gegenzug hatten sich Organe gebildet, die - wiederum entweder nur der allgemeinen Ausrichtung oder ihrem konstitutiven Zweck nach - die Verbreitung der 92 93 94 95 96
97
Vgl. Anti-Kant 2 Bde. München 1788; Anhang zum Anti-Kant in einer Widerlegung der Kantischen Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. München 1788. Z. B. mit seiner Arbeit: Aesthetica transcendentalis Kantiana, Würzburg 1788. Vgl. sein Werk; Über das sittlich Gute, München 1790. Reininger: Kant, S. 277; Eberstein: Geschichte, Bd. II, S. 51. Vgl. König: Internationale Gesamtbibliographie der philosophischen Zeitschriften seit dem 17. Jahrhundert. Göttingen 1970. - Bödeker weist darauf hin, die Bedeutung des Zeitschriftenwesens für den damaligen philosophischen Diskurs sei wie überhaupt seine institutionelle Gestaltung bislang noch nicht systematisch erforscht und ein dringendes Desiderat zur Rekonstruktion der Theoriebildung im 18. Jhd. (Bödeker: Leitwissenschaft, S. 47-48). Entgegen der landläufigen Meinung handelt es sich bei der sog. "Feder-Garveschen Rezension" (aus "Zugabe zu den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen", 1. Bd. von 1782, 3. Stück, 19.1.1782, S. 40-48) nicht um die erste Rezension der "KrV". Mehrere andere gingen ihr voraus, auch wenn es sich dabei oft um wenig mehr als bloße Buchanzeigen handelte. Einen Überblick über sämtliche (frühen) Rezensionen der "KrV" (und der in ihrem Umkreis erschienenen Werke) bietet: Landau: Rezensionen zur Kantischen Philosophie. Dort findet sich S. 3 bis 6 die überhaupt erste Besprechung der "KrV" aus den "Frankfurter gelehrten Anzeigen", Nr. LVII und LVIII, den 17. und 20. Juli 1781, S. 456-461. Garves ausführliche Rezension eischien 1785 im "Anhang zu dem 37. bis 52. Bande [= 2. Abteilung des Jahrgangs 1783] der allgemeinen deutschen Bibliothek", S. 838-862.
1.3. Institutionelle Gestaltung des Diskurses
21
Kantischen Ideen fördern wollten. Als Pendant zur "Allgemeinen deutschen Bibliothek" ist hier die ebenfalls als reine Rezensionszeitschrift konzipierte "Allgemeine Literatur-Zeitung" zu verstehen. Christian Gottfried Schütz und Gottlieb Hufeland gaben sie seit 1785 in Jena heraus. Einer der ersten kapitalen Beiträge bestand in Kants - wie damals üblich - anonymer Rezension von Herders "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit".' 8 Nur drei Jahrgänge lang bestand von 1789 bis 1791 Johann Heinrich Abichts und Friedrich Gotdob Borns "Neues philosophisches Magazin". 99 Bereits der Titel deutet an, daß hier eine Gegenzeitschrift gegen das "Phil. Mag." aufgebaut werden sollte.100 Ähnlich verhält es sich mit Kosmanns "Allgemeinem Magazin für kritische und populäre Philosophie". Der wie Eberhard in Halle Philosophie lehrende Kantianer Ludwig Heinrich Jakob betreute ab 1795 die "Annalen der Philosophie und des philosophischen Geistes von einer Gesellschaft gelehrter Männer". Hier vollzog sich um eine geschichdiche Drehung weiter an einem anderen philosophischen homo novus, was Eberhard mit dessen Vorbild versucht hatte: Der Kantianismus sollte zur Vernichtung von Johann Gotdieb Fichte ins Feld geführt werden, wie Eberhard gegen Kant Leibniz hervorgeholt hatte. Anfang Februar 1795 publizierte hier J. S. Beck schneidende Rezensionen gegen Fichte.101 Schelling berichtete darüber am 21. Juli des gleichen Jahres dem damals noch mit ihm befreundeten Hegel, als er ihm seine Schrift "Vom Ich als Prinzip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen" 102 übersandte: Fichtes Wirksamkeit [in Jena] scheint vollends gar fiir jetzt wenigstens ganz unterbrochen zu sein. [...] öffentlich - in vielen Journalen - wird ihm moralisch-politischphilosophisch der Prozeß gemacht. In Jakobs Philosophischen Annalen wird er behandelt, wie sonst kaum der Auswurf der Literatur behandelt wurde. Alle, die seine Beiträge etc., seine neue Philosophie vor den Kopf gestoßen, triumphieren. 103
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103
Gulyga: Kant, S. 169. - Die beiden ersten Teile von Herders "Ideen" erschienen 1784, der dritte 1787, der vierte 1791. (Kant hat nur die beiden ersten Teile rezensiert.) Der vollständige Titel lautet: "Neues philosophisches Magazin zur Erläuterung und Anwendung des Kantischen Systems bestimmt". Abicht edierte später noch eine Zeilschrift, das "Philosophische Journal" und ein dazugehöriges "Intelligenzblau", 3 Bde., 1794-1795. Die Becks che Rezension von Fichtes "Programmschrift" und der "Grundlage" erschien im 16. - 18. Stück, S. 121-124,129-136 und 137-144, vom 6., 9. und 11. Februar 1795 in den "Annalen der Philosophie und des philosophischen Geistes". Um die Konstellation schlaglichtartig zu beleuchten, sei darauf hingewiesen, daß, als Eberhards Zeitschriftenakdon gegen Kant beendet wurde, Schelling bereits seine ersten Schriften vorgelegt hatte, neben der oben genannten auch "Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt" (1794). Fichte hatte 1795 schon die ersten Erfolge und Mißerfolge mit der Wissenschaftslehre hinter sich. Im gleichen Jahr erschienen von Kant "Zum ewigen Frieden" und von Schiller in den "Hören" "Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen". Hoffmeister (Hg.): Briefe von und an Hegel, Bd. 1, S. 28, Nr. 13. Mit "Beittäge etc." sind Fichtes "Beiträge zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution", Jena 1793, gemeint.
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1. Die Konstellation der Kontroverse
Hegel zog in seiner Antwort vom 30. August gelassen eine historische Parallele: Jakob wird wohl auch an der Fichte'schen Philosophie zum Ritter werden wollen, wie Eberhard an der Kantischen, und ihre pompvoll angekündigten Zeitschriften werden ein gleiches Schicksal haben. 104
Er behielt recht: Jakobs Zeitschrift - die auch gegen Schwab vorgegangen war 105 stellte schon 1797 ihre Arbeit ein. Das "Philosphische Archiv" hatte dies 1795 getan. Dennoch beweist wohl die Tatsache, daß der junge Hegel sich überhaupt mit Eberhard befaßt hat, daß dieser eine gewisse Wirksamkeit durchaus erzielen konnte. Die anderen Zeitschriften, die Rezensionen zu den von uns betrachteten Schriften Kants und Eberhards enthalten, sollen hier nur noch kurz nach dem Tenor des in diesen geäußerten Urteils eingeteilt werden: Die nach dem Vorbild der "A.L.Z." entstandene "Oberdeutsche allgemeine Litteraturzeitung" (Salzburg) befand sich ebenso auf Seiten Kants wie die "Gothaischen gelehrten Zeitungen". Gegen Kant richteten sich die "Tübingischen gelehrten Anzeigen" (wo Flatt als Rezensent auftrat), die "Nürnbergische", später: "Neue nürnbergische gelehrte Zeitung", die "Theologischen Annalen" (Rinteln) und die "Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen". In einer dritten Gruppe von Publikationsorganen schrieben Vertreter aus beiden Lagern, etwa in der "Berlinischen Monatsschrift", seit 1783 von Friedrich Gedike und Johann Erich Biester (später von diesem allein) herausgegeben.106 Kant publizierte darin "zwischen 1784 und 1796 nicht weniger als 15 Beiträge", 107 vor allem seine geschichtsphilosophisch-politischen Werke. Kants Aufsatz "Das Ende aller Dinge" (Juni 1794) führte zum Kulminationspunkt des Zensurkonflikts, als die Kontroverse mit Eberhard noch nicht beendet war.108 Reinhold rückte in sie u. a. "Von welchem Scepticismus läßt sich eine Reformation der Philosophie hoffen?" ein (Juli 1789). Von Eberhard finden wir darin etwa "Über Freiheit und Notwendigkeit" (August 1783), "Über Wahrheit und Irrtum" (September 1783) und "Über die Astronomie des Thaies und der Pythagoräer" (Juni 1787). Die Rezensionen von Büchern und Zeitschriften(artikeln) riefen oft eine rege Diskussion in Gestalt von Anti- und Gegenantirezensionen hervor.109 Auch das "Phil. Mag." wünschte - wenigstens offiziell - diese Form des Diskurses. Auf die "Untersuchungen auch bisweilen polemischer Art" erwartete man Widerspruch "so bald als möglich", damit die "Meinungen von beiden Seiten besser verstanden würden". 110 104 105 106 107 108 109
Hoffmeister (Hg.): Briefe von und an Hegel, Bd. 1, S. 30, Nr. 14. Jakob an Kant vom 7 . 1 2 . 1 7 9 6 (AK XII, S. 134). Vgl. Schulz: Die Berlinische Monatsschrift (1783-1796). Hildesheim 1969. Hinske: Kant, S. 120. Hinske: Kant, S. 121. In der "A.L.Z." meldete sich öfter Eberhard oder einer seiner Mitarbeiter mit einer zusätzlichen Entgegnung zu Wort, doch nur einmal findet sich in seinen Zeitschriften eine Antwort aus dem Kantlager abgedruckt: Rehberg: Über die Natur der geometrischen Evidenz. Zu Eberhards Philos. Magazin, 3ten Bandes 4tem Stück. S. 88: Phil. Mag. IV/4, S. 4 4 7 - 4 6 0 . 110 Phil. Mag. I, S. I V und V (Vorbericht).
1.3. Institutionelle Gestaltung des Diskurses
23
Damit dachte man vor allem an die Reaktionen der "A.L.Z.". 111 Die beständigsten Zeitschriften waren gerade diejenigen, die, wie die "A.L.Z." und die "Allgemeine deutsche Bibliothek", überhaupt nur Besprechungen der Neuerscheinungen aller literarischen und wissenschaftlichen Gebiete enthielten. Diese "Rezensionszeitschriften" waren gattungsmäßig älter als die erst in der Entstehung begriffenen "Fachzeitschriften", zu deren Frühfbrm das "Phil. Mag." zählt. Auf lange Sicht erwies sich allerdings die Gattung der Fachzeitschriften als erfolgreicher.112 Für die Herausbildung dieser Gattung darf die Aufgabe der Austragung von Streitsachen nicht unterschätzt werden. Die Lektüre von Rezensionen ersetzte oft die der besprochenen Schriften. Wer in ihnen schlecht abschnitt, dessen schriftstellerischer Erfolg konnte stark behindert werden. 113 Das mag auch zum Teil Kants Interesse fur das "Phil. Mag." erklären. Kant selbst kannte etwa Fichtes Wissenschaftslehre nur aus der Besprechung in der "A.L.Z.".114 Für die Aufnahme neuer Ideen kam also den Zeitschriften eine eminente pragmatische Bedeutung zu. Daß sich die inhaltlich definierten philosophischen Zeitschriften (die dann hauptsächlich Abhandlungen und nur z. T. Rezensionen enthielten) nur relativ kurze Zeit halten konnten, beweist nicht notwendig das Scheitern ihrer Anliegen, denn sonst müßte man dies von eigentlich allen diesen Blättern behaupten. Es scheint vielmehr leicht möglich gewesen zu sein, das lesende Publikum fur eine neue Zeitschrift und ihre Ziele zu gewinnen, aber ebenso, es auch wieder zu verlieren, vielleicht gerade deshalb, weil das Publikum die vorgetragenen Argumente verstanden und sich zu eigen gemacht hatte. Insofern ist es nicht ganz einfach, zu entscheiden, ob Eberhards "Phil. Mag." zu den erfolgreicheren oder schwächeren Blättern gehörte. Das "Philosophische Archiv" hatte sicherlich weniger Kraft als das erste Journal. Der Gegengründung, dem "Neuen philosophischen Magazin", war nur die Hälfte der Dauer des "Phil. Mag.", bzw. ein Drittel der Dauer beider Eberhardischer Zeitschriften, beschieden. Die "Philosophische Bibliothek" brachte es auf vier Bände, also bloß auf zwei Drittel der Dauer der beiden Blätter Eberhards. Als Vorstufe zum Medium Zeitschrift und manchmal auch zum Buch erfüllte die Korrespondenz eine über den privaten Bereich hinausweisende Funktion. Briefe wurden damals oft abgeschrieben und an Dritte weitergereicht. Es bedeutete über die persönliche Wertschätzung hinaus eine feierliche wissenschaftliche Anerkennung, wenn einem jüngeren Mitglied der "république des sciences" durch ein älteres und bekannteres der Austausch von Briefen angetragen wurde. So geschah das etwa bei Kant durch Johann Heinrich Lambert 115 und Moses Mendelssohn, dem Haupt der 111 112 113 114 115
Phil. Mag. I, S. 334. Bödeker: Leitwissenschaft, S. 48/9. Vgl. Bödeker: Leitwissenschaft, S. 47. Vorländer: Mann, Bd. II, S. 265. Kants Briefwechsel mit Lambert erschien 1781 in:J. Bernoulli (Hg.):J. H. Lamberts teutscher gelehrter Briefwechsel. Berlin 1781. Bd. 1, S. 333-368.
24
1. Die Konstellation der Kontroverse
Berliner Aufklärung. 116 Wie etwa das Beispiel der Korrespondenz zwischen Leibniz und Clarke zeigt, konnten die Briefe später in Buchform veröffentlicht werden. (Überhaupt war es Leibniz gewohnt, wichtige philosophische Arbeiten bloß in der Gestalt von persönlichen Briefen zu niederzulegen; etwa bei Eberhard entwickelte sich aus diesem Verfahren die Stilfbrm des fingierten Briefes.) Darüber hinaus bedienten sich auch philosophische Schriftsteller der literarischen Gattungsform des Briefes, etwa Eberhard bei Arbeiten über Ästhetik und zur Verteidigung Fichtes. Im "Philosphischen Archiv" beschränkte Eberhard seine Mitarbeit weitgehend auf den Abdruck von 42 "Dogmatischen Briefen" in Fortsetzungen. Den Briefen von und an Kant im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit Eberhard kommt deshalb eine nicht bloß subjektiv-biographische Bedeutung zu. Leider sind uns relevante Briefe von Eberhard nicht überliefert. 117 Zwischen Kant und Eberhard gab es keine Korrespondenz, während Kant mit seinen Kritikern Garve und Jacobi Briefe wechselte. Aus der besonders gepflegten Diskussion der Gelehrten untereinander und dem damit verbundenen Versuch, zu einem Konsens über wichtige Fragen zu kommen, ist auch die Institution der Preisfragen und -Schriften zu verstehen. Durch eine solche Preisschrift, die "Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens", 118 hatte sich Eberhard für den Lehrstuhl in Halle qualifiziert. Über die Rolle einer Preisfrage im Zusammenhang mit der Kant-Eberhard-Kontroverse wurde bereits gesprochen. Weitere ftir den philosophischen Diskurs im 18. Jhd. und damit den Kontext der Kantrezeption wichtige Textgattungen waren der Auszug (Epitome, Kurzfassung) und das Handbuch (Kompendium, Abriß, zu definieren als ein handliches, doch vollständiges Lehrbuch über ein Wissensgebiet). "Ein zusammengedrängter Auszug aus der Vernunftcritik" 119 wurde auf Anregung Kants von Johann Schultz, der ursprünglich nur eine Rezension zur " K r V schreiben wollte, 1784 vorgelegt. 120 Hier wurden in gekürzter Form Passagen der "KrV" wördich in ein unter eigenem Namen veröffent116 Gulyga: Kant, S. 88. Vgl. aus Kants Brief an Herz vom 21.2.1772 (AK X, S. 133): "Ein Brief von Mendelssohn oder Lambert verschlägt mehr, den Verfasser auf die Prüfung seiner Lehren zurückzuführen, als zehn solche Beurtheilungen [gemeint sind die gewöhnlichen Zeitschriftenrezensionen] mit leichter Feder." 117 In dem von N. Henrichs und H. Weeland herausgegebenen Nachschlagewerk "Briefwechsel deutschsprachiger Philosophen 1750-1850", 2 Bde. München 1987, wird man unter dem Stichwort "Eberhard" kaum fundig. Zu einem besseren Ergebnis gelangten unsere Bibliotheks- und Archivrecherchen in Berlin und Halle. Das von Eberhard erhaltene Material - z. B. eine sehr umfängreiche, aber rein technische Korrespondenz mit Friedrich Nicolai (Nachlaß Nicolai, Bd. 16, Slg. Darmst. 2b 1795; Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz) - war ftir unser Thema jedoch weder in historischer noch in philosophisch-systematischer Hinsicht von Interesse. 118 Berlin und Stettin 1776; neue verbesserte Ausgabe: Berlin und Stettin 1786. 119 Hausius: Materialien, S. V. 120 Schultz (=Schulze), Johann: Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Critik der reinen Vernunft. Königsberg 1784. Die "Erläuterungen" wurden u. a. in der "Allgemeinen deutschen Bibliothek", Bd. 66, St. 1 von H. A. Pistorius (=Sg.) rezensiert. Dieser Text findet sich bei Hausius: Materialien, S. 156186, abgedruckt.
1.3. Institutionelle Gestaltung des Diskurses
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lichtes Werk übernommen. Eigene Kommentare zur Vorlage oder zu Einwänden konnten bei dieser Textart dazukommen. Der u. a. als Übersetzer Kantischer Schriften ins Lateinische bekannte Born gab einmal121 auf 621 Seiten nicht nur einen "vollständigen Auszug[.]" der "ganzefn] Critik der speculativen und practischen Vernunft, wie auch der ästhetischen und teleologischen Urtheilskraft", sondern "beurtheilt[e] und beantwortete]" auch "die vornehmsten, gegen die Kantsche Critik der reinen Vernunft bekannt gewordenen Einwürfe".122 Auch Fichte plante 1790 eine Art Auszug aus der "KrV. 123 Die meisten Buchveröffentlichungen Eberhards trugen Handbuchcharakter und waren in der Regel besonders zur Einfuhrung gedacht Schon dieses äußere Merkmal zeigt, daß Eberhard kein wirklicher philosophischer "Kopf'124, sondern ein systematischer Popularisator gewesen ist. So verfaßte Eberhard auch Handbücher in Briefform, etwa sein "Handbuch der Ästhetik fiir gebildete Leser aller Stände in Briefen".125 Bei den in der Regel durch eine Lehrordnung festgelegten Vorlesungen - teilweise diktierte der Professor seinen Studenten nach fremden Lehrbüchern126 - konnte die Kritische Philosophie fiir sich genommen - sei es mit positivem, sei es mit negativem Tenor - nur selten intensiv behandelt werden. Selbst Kant hat keine Vorlesungen gehalten, die sie direkt und ausschließlich thematisierten.127 Umso größere Bedeutung 121 Born, Friedrich Gotdob: Versuch über die ursprünglichen Grundlagen des menschlichen Denkens und die davon abhängigen Schranken unserer Erkennmiß. Leipzig 1791. - Vgl. auch: Beck, Jakob Sigismund: Erläuternder Auszug aus den critischen Schriften des Herrn Prof. Kant auf Anrathen desselben, Bd. 1-3, Riga 1793-1796. Der dritte Band mit dem Titel "Einzig möglicher Standpunkt, aus welchem die critische Philosophie beurtheilt werden muß" enthält dann bereits Becks selbständigeres Philosophieren. 122 Alle Zitate aus Hausius: Materialien, S. VII. 123 In Fichtes Brief an Friedrich August Weißhuhn (August/ September 1790) lesen wir: "Ich habe mich jetzt ganz in die KdnAsehe Philosophie geworfen: Anfangs aus Noth; ich gab eine Stunde über die Kritik der reinen Vernunft; nachher seit meiner Bekanntschaft mit der Kritik der praktischen Vernunft aus wahrem Geschmack. Ein gewisser Peuker in Schlesien hat eine Darstellung der Kritik d. r. V., nebst kurzer Widerlegung der dagegen gemachten Einwürfe, geschrieben: es ist größten Theils ein Auszug, der mir indeß trefflich scheint; der mich aber im Grunde nicht freut, weil ich halb und halb Willens war, etwas Aehnliches zu thun. Eine Hauptursache von der Unverständlichkeit der Kritik scheinen mir die oftmaligen Wiederholungen und Digressionen, welche die Ideenreihe unterbrechen; und ich glaube, sie würde leichter seyn, wenn sie halb so dick wäre" (Fichte-Gesamtausgabe, Bd. III, 1; S. 168). Im vorletzten Satz gibt Fichte gleich den Zweck von Auszügen an: die Darstellung des hauptsächlichen Gedankenverlaufs. Bei dem angesprochenen Werk handelt es sich um: Johann Gottlieb Peuker: Darstellung des Kantischen Systems nach seinen Hauptmomenten zufolge der Vemunftcritik, und Beantwortung der dagegen gemachten Einwürfe. Besonders zum Gebrauch academischer Vorlesungen. Grottkau und Leipzig 1790. 124 Vgl. Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AK VII, 138. 125 1803 ff. 126 Bödeker: Leitwissenschaft, S. 38,39. 127 Da in Preußen die Vorlesungen nach Handbüchern gehalten werden mußten, hätte auch Kant einer entsprechenden Vorlesung ein Handbuch der kritischen Philosophie zugrundelegen müssen. In der Tat plante Kant die Abfassung eines solchen Hand- oder Lehrbuchs, aber nicht der Kritik selbst, sondern einen Schritt weiter der kritisch begründeten doktrinalen Metaphysik (Kant an M. Mendelssohn vom 16.8.1783; AK X, S. 346).
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1. Die Konstellation der Kontroverse
kam - nicht zuletzt wegen des allgemeinen Eindrucks der schweren Verständlichkeit von Kants Büchern - ihrer Diskussion in den Zeitschriften zu. Über den äußeren Erfolg hatten damit die Journale einen nicht zu vernachlässigenden Einfluß. Durch die Zeitschriften nahm die Debatte zwischen Eberhard und Kant hauptsächlich den Charakter der Schriftlichkeit vor einem Leser-Publikum, das sich nur in wenigen Ausnahmefallen aktiv zu Wort meldete, an. Rede und Gegenrede der Fachleute von beiden Seiten wurden in einem Fall fünfmal ausgetauscht.128 Drei Statements waren die Regel, erst die These (als Fachzeitschriftenaufsatz), dann Replik und Duplik als Beiträge in Rezensionsorganen oder kurze Stellungnahmen in den Fachzeitschriften selbst.
1.4. Die beiden Lager 1.4.1. Die Eberhardianer Durch das Mittel der Zeitschrift formierte Eberhard ein regelrechtes LeibnizWolffisches Aufgebot gegen Kant. Ihm gehörten neben einigen Unbedeutenden an: Johann Gebhard Ehrenreich Maaß (Halle), Johann Friedrich Flatt (Tübingen) und Johann Christoph Schwab (Stuttgart). Einige von ihnen hatten vor der Kant-Eberhard-Kontroverse in eigenständigen Schriften die Kantische Philosophie kritisiert.129 Sie veröffentlichten jetzt Artikel in Eberhards Blättern und schrieben dort oder an anderer Stelle Rezensionen, etwa zu "ÜE" oder Schultzens "Prüfung". Auf Schwabs Preisschrift wurde schon verwiesen. Nicht eigentlich zum Eberhard-Lager zu zählen sind der Göttinger Mathematiker Abraham Gotthelf Kästner, der Hallenser Mathematiker Georg Simon Klügel, Lazarus Bendavid (1791 Wien, 1797 Berlin) und der Geistliche Gebhard Ulrich Brastberger (Blaubeuren und Stuttgart), obgleich sie alle im "Phil. Mag." Aufsätze veröffentlichten. Brastberger entwickelte einen eigenen Standpunkt, den Eberhard in Kommentaren zu dessen Beiträgen von seinem abzugrenzen bedacht war. 130 Bendavid gilt gemeinhin als Kantianer. 131 Wie der Kantianer Rehberg 132 meldete er aber in "Deduction der mathematischen Principien aus Begriffen"133 Zweifel über Kants Auffassung 128 Es ging hier letztlich um Rehbergs frühe Rezension, inhaltlich um den Charakter mathematischer Sätze als analytisch oder synthetisch. Siehe die Quellenübersicht im Anhang. 129 Vgl. Kapitel 1.2. 130 Vgl. Eberhards "Nachschrift" (Phil. Archiv, Bd. II, S. 94-111) zu Brastbergers Abhandlung "Ist die kritische Grenzberichtigung unserer Erkenntnis wahr, und wenn sie es ist, ist sie auch neu?" (a.a.O., Bd. I, S. 91-122 und Bd. II, S. 70-94). 131 Rosenkranz: Geschichte, S. 265; Eberstein: Geschichte, Bd. II, S. 450. 132 Vgl. den Briefwechsel Rehberg an Kant und Kant an Rehberg, beide vor dem 25.9.1790 (AK XI, S. 205-210, Nr. 447 und 448, bzw. 877 und 418). 133 Phil. Mag., Bd. IV, S. 271-301 und S. 406-423.
1.4. Die beiden Lager
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von Mathematik an ("Nicht jeder Zweifler ist ein Gegner, und nicht jeder Einwurf soll das Gebäude umstürzen. Der Zweifler kann ein Freund seyn, der mit einem leichten Federball nach einer Vestung wirft, um gleichsam anzufragen: ist hier nicht eine schwache Stelle?"134). Kästner und Klügel äußerten sich nur als Mathematiker und betraten somit, obwohl sie eine philosophische Bildung 135 - wenigstens bei Kästner nachweisbar Leibniz-Wolffischer Art - besaßen, den Boden des philosophischen Streits nicht. Durch die ungünstige Quellenlage sind uns keine Dokumente, etwa Briefe, von Eberhard erhalten, wo er die Aktivitäten dieses Lagers vorbereitete oder koordinierte. Vielleicht brauchte es aber dazu keiner besonderen Mühe, weil Leibniz-Wolffisch inspirierte Kantkritik von selbst den Weg nach Halle fand, denn diese Universität galt als das Zentrum der Leibniz-Wolfifischen Schulphilosophie, und gleichsam von Amts wegen war Eberhard ihr Haupt, da er als Nachfolger Georg Friedrich Meiers auf Wölfls Lehrstuhl saß. (Auch der 1762 verstorbene Alexander Gotdieb Baumgarten hatte in Halle gelehrt. 136 1739 veröffentlichte er dort die erste Ausgabe seiner "Metaphysica", die zum wichtigsten Handbuch der Leibniz-Wolffischen Schulphilosophie avancierte.) Eberhard repräsentierte somit in gewisser Weise das (freilich schon etwas ins Hintertreffen geratene) philosophische Establishment, 137 das Lehrordinariat der Leibniz-Wolffischen Schulphilosophie. Durch Kant mußte es sich auf mehreren Ebenen bedroht fiihlen: philosophisch (durch die Aufgabe der Kritik vor aller Metaphysik), psychologisch (durch die Aufforderung umzulernen) und institutionell (durch das Aufkommen einer neuen Schule). Auch dieser Sachverhalt mag die Verbissenheit erklären, mit der Eberhard unter der Maske der Höflichkeit zu Werke schritt. "Ich fand [...] bey den Lehrern Verdrus, ihr altes Gebäude worin sie bisher, ihrer Eigenliebe so behaglich, gewohnet, ohne GrundMauern zu sehen", hatte Berens in einem Brief an Kant 1787 von einer Reise berichtet. 138 Daß Eberhard diese Tendenz vor der Öffentlichkeit so geflissentlich von sich wies, muß eher gegen ihn Verdacht erregen, zumal sein Optimismus, er könne wenigstens Teile seiner "Wissenschaft" weiterhin treiben, von Kant aus gesehen jeder Grundlage entbehrte: Ich bin mir bewußc, daß mich dabey kein Interesse der Bequemlichkeit, der Schule, des Systems und der Vorliebe besticht, ja auch nicht einmal die Furcht, eine Wissenschaft 134 A.a.O., S. 273. Wie schon der Titel des zweiteiligen Aufsatzes zeigt, führte Bendavid jedoch eine fundamental andere Position über den Status mathematischer Sätze ins Feld als Kant, so daß sich daraus schwerlich eine bloße Verbesserung der Kantischen Theorie hätte ergeben können. 135 Vgl. AK XI, S. 213 und 312. 136 Baumgarten lehrte seit 1735 in Halle, 1738 wurde er dort außeroidendicher Professor, 1740 wechselte er an die Universität Frankfurt an der Oder (Wundt: Schulphilosophie, S. 203). 137 Vgl. Vorländer: Mann, Bd. 1, S. 339: "Eigentümlicherweise mußte Kant seine Kritik gegen diejenige philosophische Richtung am stärksten verteidigen, der er in seiner vorkritischen Zeit nahegestanden hatte. Es waren eben die beati possidentes der deutschen Katheder und der philosophischen Literatur bis 1781, die sich in ihrem langjährigen Besitzstand durch ihn bedroht Ahlten." 138 Johann Christoph Berens an Kant vom 5.12.1787 (AK X, S. 507).
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1. Die Konstellation der Kontroverse [die spekulative Metaphysik, etwa die rationale Psychologie, Kosmologie und Theologie] aufzugeben, der ich einen großen Theil meines Lebens aufgeopfert habe. 1 3 9
Wenige Jahre später reagierte Kant gegen Abweichler aus seiner Schule - vor allem Fichte und Beck - formell in manchem ähnlich, wie Eberhard gegen Kant vorgegangen war. Er hatte selbst große Mühe, ja zeigte Unwillen, sich um einer fairen Prüfung willen in andere - selbst verwandte - Systemansätze hineinzudenken und konnte Widerspruch zunehmend weniger ertragen.140
1.4.2. Die Kantianer Genausowenig wie Eberhard operierte Kant allein. Seine engsten Kampfgefährten hießen Johann Schultz (Königsberg) und Carl Leonhard Reinhold (Jena). Weiter im Hintergrund wirkten auf seiner Seite August Wilhelm Rehberg (Hannover), Johann Heinrich Abicht (Erlangen), Friedrich Gotdob Born (Leipzig) und Johann Wilhelm Andreas Kosmann (Schweidniz). Durch die Üppigere Quellenüberlieferung um Kant werden die verschiedenen Ebenen, auf denen Maßnahmen abliefen oder organisiert wurden, deudicher als bei den Eberhardianern: Das Kant-Lager verfugte zeitweise über zwei - wenngleich nicht sehr starke - spezielle Zeitschriften, das "Neue philosophische Magazin"141 und das "Allgemeine Magazin filr kritische und populäre Philosophie". Reinhold - der im Frühjahr und Sommer 1789 seinen "Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens"142 vollendete (das Buch erschien vollständig zur Herbstmesse 1789) - trachtete danach, die Verteidigung der Kritik an sich zu reißen und im Sinne seiner Theorie des Vorstellungsvermögens den Einwürfen zu begegnen, denn er glaubte, nur auf dieser Basis könne der Streit ebenso souverän143 wie gerecht ausgeglichen werden. Der Kampf gegen Eberhard wäre damit zugleich ein Kampf für seine neue Theorie gewesen, Probe und Propaganda in einem.
139 Phil. Mag., Bd. I, S. 157. 140 Vorlander: Mann, Bd. II, S. 258 und S. 261-265. - Wir können hier nicht darauf eingehen, ob Kant für sein Verhalten nicht auch gute philosophische Gründe hatte. 141 Vor allem sind 1790/1 im zweiten Band Eberhaids Artikel aus dem "Phil. Mag." kritisiert worden. 142 Prag und Jena 1789. Zum Erscheinungsdatum vgl. AK XI, S. 18, 60, 39 (mit Kants Worten "Ihre schöne Schrift, die ich noch nicht ganz durchzulesen die Zeit habe gewinnen können" ist die spätere Vorrede der "Neuen Theorie" gemeint, der 1789 in Jena selbständig veröffentlichte Text "Über die bisherigen Schicksale der Kantischen Philosophie"; vgl. Adickes: Bibliography, S. 50). 143 Die Angehörigen der Gegenpartei nannte Reinhold verächtlich "Schildknappen". Seine eigene Rolle auf der anderen Seite mußte er daher grundsätzlich anders - also nicht bloß als untergeordnete Dienste verrichtend - verstanden haben (Reinhold an Kant vom 14.6.1789, AK XI, S. 60). Allenfalls den anderen Kantianern hätte er diese Rolle angesonnen, denn er äußerte sich abwertend über Rehberg (AK XI, S. 59) und "die Abichte, Borne u[nd] d[er] g[leichen]" (AK XI, S. 164). Im Gegensatz dazu hielt etwa Jakob Abicht für fähig (AK XI, S. 5).
1.4. Die beiden Lager
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Schon in seinem ersten auf Eberhard Bezug nehmenden Brief vom 9. April 1789 144 (es ist der erste nach einer längeren Pause an Kant zu einem Zeitpunkt gerichtete Brief, als er seinem "höchstverehrungswürdige[n] Lehrer und Freund" den Druckund Erscheinungstermin der "Neuen Theorie des Vorstellungsvermögens" mitteilen kann) verspricht er sich von der "Neuen Theorie", sie könne "etwas beitragen, dem unglücklichen Gange, den die sogenannte Prüfung" der Kantischen Philosophie "durch die berühmten und berühmt werden wollenden Kenner der Dinge an sich, genommen hat eine andere Wendung zu geben" (S. 18), 145 und fiigt hinzu: So lange man auf diesem Wege fortfahrt Sie zu widerlegen und zu vertheidigen; kann schlechterdings nichts fiir die Wahrheit gewonnen werden [...] (S. 18).
Reinhold kritisiert damit nicht nur die Angriffe auf Kant, sondern deutet an, daß auch die Art, wie Kant verteidigt wird, seiner Philosophie unangemessen geschieht. 146 Ein neuer Weg sei nötig. Dadurch könnten nicht nur die Gegner wirksam abgeschlagen werden, sondern auch die "in so vielen Rücksichten unentbehrliche Reformation" (S. 18) der Philosophie könnte - mit Hilfe des neuen Weges - vollendet werden. Ausdrücklich weist Reinhold Kant darauf hin, daß in seiner "Theorie des Vorstellungsv. durch äusserst auffallende Beyspiele erläutert" (S. 18) werde, inwiefern die Gegner man muß nach dem Kontext hinzufugen: und ebenso die inkonsequenten Verteidiger - Kant mißverstanden hätten. Die Arbeitsteilung, die Reinhold Kant in seinem Brief vom 5. April 1789 vorschlägt, sieht, wie wir schon eingangs dargestellt haben, vor, daß Kant nur in einer kurzen öffendichen Erklärung seinen Kritikern bescheinigen solle, sie hänen ihn nicht richtig gefaßt. Die eigentliche Beweislast käme dann Reinholds "Neuer Theorie" zu. Am 14. Juni 1789 übersandte Reinhold Kant nach der separat gedruckten Vorrede zur "Neuen Theorie" dessen "erste[s] Buch" und fugte im Blick auf das weitere hinzu: Das zweyte Buch welches die eigendiche Theorie des Vorstellungsvermögens überhaupt enthält, sehe ich für die eigendichen Prämissen Ihrer Theorie des Erkenntnißvermögens, und den Schlüssel zur Kritik der Vernunft an. 1 4 7
Damit unterstellt Reinhold Kants Philosophie mit einem doppelten Bedürfnis einen doppelten Mangel: Im Blick auf die Theoriebildung sollten die "Prämissen" expliziert werden. Zugleich sollte damit dem Publikum ein "Schlüssel" zum adäquaten 144 AK XI, S. 17-19. Die Seitenangaben im Haupttext beziehen sich darauf. 14$ Zur Stärkung seiner These beruft er sich dabei auf ähnliche Hoffnungen von Schütz und Hufeland, den Herausgebern der "A.L.Z." (a.a.O., S. 18). An anderer Stelle führt er an: "[D]enn Wieland, Göthe, und noch mehrere meiner Bekannten versichern mir einstimmig daß die Art von indirekten Beweis welche dieß Schriftchen [gemeint ist die "Neue Theorie"] Air die Probehaldgkeit Ihrer [=Kants] Philosophie ad hominem aufstellt für die Sache selbst, die itzt von so vielen sogenannten Prüfern so sehr verdreht, verzerrt, und verunstaltet wild, daß das Publikum nicht weiß wie es dabey daran ist, von Wirkung seyn müsse" (an Kant vom 14.6.1789, AK XI, S. 61/62). 146 Das kann besonders gegen Rehberg gemünzt sein, da Reinhold in seinem Brief an Kant vom 14.6.1789 bemerkt, er habe die "KrV" "nur halb verstanden" und sei ungeeignet, die "Neue Theorie" zu besprechen (AK XI, S. 61). 147 AK XI, S. 60.
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1. Die Konstellation der Kontroverse
Verständnis der "KrV" geboten werden. Die Mißverständnisse und Fehlverteidigungen der Kritik werden somit erklärt, ja beinahe gerechtfertigt, denn ohne den Schlüssel der Klarlegung der Grundvoraussetzungen kann ein richtiges Begreifen gar nicht verlangt werden: Ich nenne sie [die "Neue Theorie"] Schlüssel zur Cr. d. V. in wie ferne alles was den Gegnern davon bisher Geheimniß war, durch den blossen Begrif der blossen Vorstellung aufgeschlossen w i r d . U 8
Reinholds Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik trägt dann später stärkere Züge einer Apologie der Theorie des Vorstellungsvermögens als die einer Bewertung der Rolle der Kantischen Kritik für die Metaphysik.149 Als Kant dessen selbständigere - von ihm letztlich abweichende - Ambitionen bemerkte,150 drängte er ihn aus der Auseinandersetzung heraus151 und ermunterte freilich mit gewissen Einschränkungen - Beck zur Intervention gegen Reinhold.152 Er hatte Reinhold nur als Handlanger gebrauchen können, der sich auf Arbeiten nach dem Muster seiner Rezension des zweiten und dritten Stücks des "Phil. Mag." beschränkte. Andernfalls hätte Kant riskiert, daß wenigstens in den Augen des Publikums eine Niederlage Eberhards zum Sieg eines umakzentuierten Kantismus hätte werden können. Symptomatisch dafür ist, daß nicht mehr Reinhold den zweiten Band des "Phil. Mag." auf Kants Wunsch rezensieren sollte, sondern - wie gegebenenfalls weitere153 - der auch dem Buchstaben getreuere Schultz.
148 AK XI, S. 61. 149 Vgl. Eberstein: Geschichte, Bd. II, S. 504. 150 Kant scheute offensichtlich, Reinhold ein klares eindeutiges Urteil Aber seine Theorie des Vorstellungsvermögens (das nur negativ ausfallen konnte) zu geben. Auch wenn es stimmt, was Kant wiederholt entschuldigend gegen Reinhold vorbringt, daß er keine Zeit zum Studium des Buches finde, so dürfen wir doch annehmen, daß er sich früh - Reinhold übersandte ihm vor Erscheinen Teile daraus ein Bild darüber machte, inwiefern hier ein enger Freund einen anderen Weg eingeschlagen hatte. 151 Kant an Reinhold vom 21.9.1789, wo er ihn bittet, in der Sache gegen Eberhard zu ruhen, bis Kant seinen Text fertiggestellt habe (AK XI, S. 89). Die schon im Juni erschienene Rezension kann damit nicht gemeint sein. 152 Kant kritisierte Reinhold ebenso zart wie bestimmt, wie vor allem sein Brief an ihn vom 21.9.1791, S. 287 oben und S. 288/289, zeigt, wo er sich zugleich bemüht, den verlorenen Sohn zurückzulocken. Sechs Tage später unterstützte Kant Beck, gegen Reinholds "Theorie des Voxstellungsvermögens" zu schreiben (AK XI, S. 291), ebenso in seinem Brief an Beck vom 2.11.1791 (AK XI, S. 304). Am 1.6.1791 hatte sich Beck als treuer Kantianer bekannt: "Ich habe Ihre Philosophie lieb gewonnen, weil sie mich überzeugt. Aber unter den lauten Freunden derselben, kenne ich keinen einzigen, der mir gefallt. [...] Herr Professor Reinhold will durchaus alle Aufmerksamkeit an sich ziehen. Aber so viel ich auch aufgemerkt habe, so verstehe ich doch kein Wort [...] von seiner Theorie des Vorstellungsvermögens" (AK XI, S. 262-263). Daß die Abhandlung gegen Reinhold schließlich doch nicht zustande kam, beweist keinesfalls, daß Kant oder Beck Reinholds Theorie zu akzeptieren begannen (vgl. Kant an Beck vom 2.11.1791, AK XI, S. 304, und Beck an Kant vom 11.11.1791, AK XI, S. 310). Ganz offensichtlich ging Kant seit Erscheinen der "Neuen Theorie" zu Reinhold (trotz aller weiterhin freundschaftlichen Umgangsweise) auf Distanz und wandte sich insbesondere Beck zu. 153 Kant an Schultz vom 15.8.1790: Kant bedankt sich bei Schultz für seine (Kant vor Abdruck zur Beurteilung vorgelegte!) Rezension des zweiten Bandes des "Phil. Mag.", nicht ohne anzufügen, "daß eine ihr ähnliche nur allenfalls Uber ein Jahr wiederum veranlaßt werden dürfte" (AK XI, S. 200).
1.4. Die beiden Lager
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Die beiden wichtigsten Kantianer in Halle, Ludwig Heinrich Jakob und Jakob Sigismund Beck, gehörten nicht zu dieser speziellen Anti-Eberhard-Front. Seinen Schüler Beck bat Kant, im Rahmen seines Auszugs aus Kants kritischen Schriften auch die Einwände aus den "Abhandlungen" und "Rezensionen" des "Phil. Mag." zu berücksichtigen. 154 Beck nahm das aber nicht zum Anlaß, in den Kampf gegen Eberhard aktiv einzusteigen, obwohl er unmittelbar vor Ort wirkte und Eberhard, Kästner und Klügel persönlich kannte. Er teilte Kants Geringschätzung Eberhards nicht. 155 Bei Jakob fällt auf, daß ihn Kant nicht drängte, sich gegen Eberhard einzusetzen, obwohl gerade Jakob Kant auf das "Phil. Mag." aufmerksam gemacht hatte. Das lag wohl hauptsächlich daran, daß schon an seinen ersten diesbezüglichen Briefen der Verdacht entstehen konnte, er neige selbst dem Dogmatismus zu. Am 28. Februar 1789 hoffte er nicht nur, daß, "wenn sich nur erst die Hitze leg[e], die Partheien sich näher kommen werden", sondern urteilte über das nach Kant gänzlich verunglückte dritte Stück des ersten Bandes des "Phil. Mag.", in dem der fiir Kant wesentliche Unterschied zwischen synthetischen und analytischen Urteilen a priori behandelt wird: Das Räsonnement darinn ist meistentheils richtig u. die mehresten darin behaupteten Sätze sind wahr u. lassen sich rechtfertigen. 156
Am 4. Mai 1790 erfuhr Kant von Jakob, er sei "mit HE. Reinhold in Zwiespalt gerathen". Der Grund lag darin, daß Jakob das "Ding an sich" realistisch zu interpretieren begann. 157 Jakob unternahm auch im Jahr 1791 einen dezidierten Vermittlungsversuch in Richtung Dogmatismus mit seinem Artikel "Über Erkennen". 158 Im Gegensatz zu den Ansätzen von Reinhold und Beck in Richtung auf eine den Dissenspunkten vorgelagerte Verständigung (darauf wird noch zurückzukommen sein)159 muß er aber schon als Überlaufen zum Dogmatismus gewertet werden. 160 Deutlich fallt auf, daß Kant mit Abicht, Born und Kosmann keinen näheren Kontakt suchte. Die (erhaltene) Korrespondenz in beiden Richtungen feilt sehr spärlich aus; vor allem Kant hielt sich hier zurück. Ähnliches gilt auch gegenüber Rehberg. Mit 154 Kant an Beck vom 27.9.1791 (AK XI, S. 291). 155 In seinem Brief an Kant vom 10.11.1792 nannte er Garve und "Herr[n] Eberhard" - ungeachtet, daß er philosophisch anderer Ansicht war als sie - "achtungswürdige[.] Männer". 156 AK XI, S. 5. 157 AK XI, S. 168-170. Jakobs These lautet S. 169: "Wir erkennen ako wirklich] durch die Vernunft, daß es Dinge an sich selbst gebe und zwar durch die Idee". Ohne das hier näher analysieren zu wollen, liegen darin zwei Behauptungen, die aus dem Kritizismus hinaus zum Dogmatischen Rationalismus fuhren: Real existierende Dinge an sich können als solche erkannt werden. Die Vernunft kann durch bloße Ideen erkennen. Gegen Jacobi hatte er früher das Ding an sich als bloßes Denkbedürfnis der Vernunft erklärt (Eberstein: Geschichte, Bd. II, S. 421). 158 "Über Erkennen; ein Vorschlag zur Beilegung einiger philosophischer Streitigkeiten." In: Allgemeines Magazin für kritische und populaire Philosophie, Bd. I, St. 1, S. 1-17. Kosmann kündigt Kant den Artikel schon in einem Brief vom 15.4.1790 an (AK XI, S. 152). 159 Siehe Kapitel 6.3. 160 In seinem "Grundriß der allgemeinen Logik und kritische Anfangsgründe der Metaphysik", Halle 1794, gab er dann sogar, worauf Schopenhauer (Wurzel, S. 35) hinweist, einen zirkulären Beweis des pauschalen Satzes vom Grund.
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1. Die Konstellation der Kontroverse
seinen wichtigsten Gegnern - Eberhard, Maaß, Schwab - korrespondierte Kant ebenfalls nicht, genausowenig wie diese mit ihm. 161 Hinter Kant standen Männer von zwei verschiedenen Formaten, einmal die bloßen Kontinuatoren der Kantischen Orthodoxie, v. a. Schultz, zum anderen Kantianer mit Mut bis Übermut zum Weiterdenken der kritischen Theoreme, so Reinhold, Abicht, Born und später Beck. Kosmanns Zeitschrift hatte einen bereits ganz und gar Reinholdischen Standpunkt eingenommen. Eine nähere Analyse von Kants Anhängern zeigt, daß sein Aufgebot gegen Eberhard schon von Anfang an lockerer war als das um Eberhard. Jakob disqualifizierte sich früh selbst. Reinhold drohte den Kantismus in seine Richtung zu lenken. Rehberg stand abseits. Nachdem sich auch die Abichte, Borne usw. als unsichere Kantonisten erwiesen hatten, blieb schließlich nur noch Schultz übrig. Kants Diktum in "ÜE", die "scheinbare Eintracht, welche jetzt noch zwischen den Gegnern" herrsche, sei "nur eine versteckte Zwietracht", "indem sie in Ansehung des Princips", das sie an die Stelle der Kritik setzen wollen, "himmelweit aus einander" seien,162 bestätigte sich an seiner eigenen Anhängerschar stärker als bei den Leibniz-Wolffianern, wenngleich aus keinem anderen Grunde als dem, daß das Fruchtbarkeitspotential bei Kant größer war als bei der fossilierten Gegenpartei. Ein Blick auf Jakob und Reinhold zeigt, daß es um Kant schon zu Beginn keinen festen Konsens in der Art der Ablehnung von Eberhards Argumentation gab. Die nicht enden wollenden Angriffe auf Kant haben weiter dazu beigetragen, daß gerade die Kreativeren unter Kants Schülern durch eine Fortentwicklung seiner Ideen ein unbestreitbar sicheres "Fundament" (Reinhold 1791) oder einen "einzigmöglichen Standpunkt" (Beck 1796) erstrebten. 163 Ähnlich wie bei Reinhold sollten Anhänger und Gegner der Kritischen Philosophie durch Becks "Standpunkt" zu einem richtigen Verständnis der Kritik und ihrer eigenen Position im Verhältnis zu ihr kommen: Ich will zeigen, wie nicht allein alle Mißverständnisse der Critik, sondern auch alle Verirrungen der Vernunft, überhaupt ihre Quelle darin haben, daß man eine Verbindung
161 Einen Brief Flatts vom 27.10.1793 (AK XI, S. 461-464) ließ Kant offenbar unbeantwortet. 162 ÜE 246/247. 163 Reinhold: "Über das Fundament des philosophischen Wissens, nebst einigen Erläuterungen Ober die Theorie des Vorstellungsvermögens", Jena 1791, und Beck: "Einzig möglicher Standpunkt, aus welchem die kritische Philosophie beurteilt weiden muß", Riga 1796. Zu Eberhards Bedeutung für Beck vgl. Hinske: Halle, S. 10: "Die hohe Bedeutung, die Eberhards Kampf gegen die kritische Philosophie für die weitere philosophische Entwicklung in Deutschland zukommt, ist noch weithin unerforscht. Becks folgenreiche Schrift z. B. Ober den «Einzig-möglichen Standpunct, aus welchem die critische Philosophie beurtheilt werden muß», ist ohne die Einwände Eberhards und seiner Anhänger kaum denkbar.'' Hinske, der sein Statement nicht näher begründet, beachtet nicht, daß Beck die skeptischen Einwürfe von Gottlob Ernst Schulze ("Aenesidemus oder über die Fundamente der von dem Herrn Prof. Reinhold in Jena gelieferten Elementar-Philosophie, nebst einer Verteidigung des Skeptizismus gegen die Anmaßungen der Vernunftkritik", o. O. 1792) als stärkere Herausforderung empfand als die dogmatischen des Eberhard. Ein Hinweis darauf taucht in den beiden ersten Briefen, mit denen Beck Kant seine Idee vorstellt, auf (vom 17.6. und 16.9. 1794 AK XI, S. 510, Z. 35-36 und S. 525, Z. 506507).
1.5. Z u m Verhältnis Kant-Eberhard
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zwischen der Vorstellung und ihrem Gegenstande annimmt, die selbst Nichts ist [...]. [N]achdem ich [...] werde gezeigt haben, daß die meisten Ausleger der Critik, ob sie gleich dieselbe unterschreiben [gemeint sind also die zustimmenden Kant-Interpreten], sich dieses Vorurtheils noch gar nicht entschlagen haben [...], so werde ich in der Auseinandersetzung der ursprünglichen Vorstellungsart [nämlich das "eigendiche Transcendentale unserer Erkenntniß", die "synthetische!.] objective[.] Einheit des Bewußtseyns" mit den beiden "Handlungsweise[n]" "der ursprünglichen Beylegung (der Synthesis nach den Categorien) und der ursprünglichen Anerkennung (des transcendentalen Schematismus)"] [...] zeigen, worin denn die Verbindung liege, und folglich was die ganze Behauptung der Critik: Wir erkennen die Dinge bloß als Erscheinungen, sage. 164
1.5. Zum Verhältnis
Kant-Eberhard
Johann August Eberhard verdient einen kurzen Vergleich seines Wirkens mit dem Kants, damit er als Gegenspieler angemessen beurteilt werden kann. A m deudichsten fallt seine N e i g u n g zur Teilnahme an jeweils aktuellen Streitsachen auf. Das Werk, das ihn bekannt machte u n d ihn zugleich in seiner protestantisch-kirchlichen Laufbahn Eberhard hatte nach einem Studium der Theologie, Philologie u n d Philosophie neben einer Hauslehrertätigkeit eine Predigerstelle a n g e n o m m e n 1 6 5 - blockieren
sollte,
drängte das kirchliche D o g m a zu Gunsten eines rationalen Glaubenssystems zurück. Schon der Titel provozierte selbst aufklärerische Theologen: "Neue Apologie des Sokrates, oder Untersuchung der Lehre von der Seligkeit der Heiden" (Berlin und Stettin 1 7 7 2 ) . 1 6 6 Einige D o g m e n wurden hier als der Moral u n d Humanität wider-
164 Beck an Kant vom 16.9.1794, AK XI, S. 524/525. Die in eckigen Klammern eingeschobenen Zitate entstammen der S. 524. - Kant mußte Becks Bericht "[Ich] arbeite an einem Aufsatz, worin ich die Methode der Critick umwende" alarmieren. Der Satz stammt aus dem Brief an Kant, in dem er ihm erstmals "die Idee" zu seiner späteren Schrift mitteilte (vom 17.6.1794, AK XI, S. 510 und 509). 165 A. Richten Artikel "Eberhard" in der "Allgemeinen deutschen Biographie", S. 569. Lader Gäbe: Artikel "Eberhard" in der "Neuen deutschen Biographie", S. 240. Vgl. auch Heinrich Döring: Artikel "Eberhard" in: J. S. Ersch und J. G. Gruber (Hg.): Allgemeine Encyklopädie des Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge, Bd. 1/30, S. 223-226. - Eberhards theologische Lehrer waren S. J. Baumgarten und J. S. Semler; sein bekanntester Schaler war Schleiermacher. 166 Hamberger/Meusel: Das gelehrte Teutschland. 5. Ausgabe, Bd. 2, S. 128. - Beachtung sollte auch finden, daß die ebenfalls "bey Friedrich Nicolai", Berlin und Stettin 1776, also im Todesjahr Mendelssohns, verlegte "neue und verbesserte Auflage" dieses Buches zugleich die Zage einer Verteidigung Mendelssohns gegen Jacobi angenommen hatte: Eberhard spricht als Schreiber eines fiktiven Briefes an einen Freund (vielleicht ist dabei an F. Nicolai zu denken) von seiner Verwunderung, daß "unser[J sei. M*. [...] einmahl sollte an einer Seite angegriffen werden, wo er uns so wohl befestigt schien" (ebd., S. 1). Gegen Jacobi verteidigt Eberhard die rationale Theologie auch in einer sehr ausführlichen Rezension, die u. a. auch die zweite Auflage (1786) von Mendelssohns "Morgenstunden", behandelt. Sie erschien, zusammen mit Fußnoten von Nicolai, in der "Allgemeinen deutschen Bibliothek", Bd. 68, Sc. 2 (Oktober 1786), S. 311-379. Für die Kant-Eberhard-Kontrovetse unwichtig (da zu offensichtlich taktisch motiviert und interpretatorisch unfundiert), wird hier Kant mit seiner Moral- und Gotteslehre (in unrichtiger Darstellung seiner Position) gegen Jacobi im Interesse Mendelssohns herbeigerufen. Aus Hamanns Briefwechsel mit Jacobi erfahren wir, daß beide schnell die Verfasserschaft Eberhards erkannten (Brief Nr. 1025 von Jacobi, 31.10.1786 [Bd. III, S. 37]; Nr. 1035 an Jacobi, 3.-8.12.1786 [ebd., S. 81]).
34
1. Die Konstellation der Kontroverse
sprechend zurückgewiesen, etwa das von der Ewigkeit der Höllenstrafe. Gerade dieses verteidigte 1773 kein Geringerer als Lessing gegen Eberhard,167 und so zog Eberhard auch gegen diesen - freilich nur in jenem einen Punkt - mit einem zweiten Band 1778 zu Felde.168 (Im "Phil. Mag." plädierte er dann sehr dafür, Lessing ein Denkmal zu setzen.) 16 ' Die Anregung zur "Neuen Apologie" bezog Eberhard durch die vor allem in Frankreich und den Niederlanden ausgetragene Kontroverse um Marmontels fiir Toleranz eintretenden Roman "Belisaire". Gegen darin enthaltene Einwände gegen die Lehre von der kollektiven Verdammtheit der Heiden und die Gnadenwahl kämpfte der Amsterdamer Kalvinist Peter Hofstede. 1788 erschien die "Neue Apologie" in dritter Auflage. Gegen Ende seines Lebens verteidigte Eberhard Fichte gegen den Vorwurf des Atheismus, aber auf eine Weise, daß er damit zugleich dessen System kritisieren konnte und über die Fichte somit alles andere als erfreut war.170 So wie er im "Phil. Mag." das Wahre von Kants Kritik schon bei Leibniz finden wollte, so bezeichnete er jetzt sein eigenes System als den "vollständigsten Critizismus", denn es vereinige die Erkenntnisvermögen wieder, "welche die kritische Philosophie getrennt und vereinzelt ha[be]".171 Schließlich wandte er sich gegen Chateaubriand und sein gefühlsbetontes Christentum:172 "So wäre dann der kantische Vernunftglaube in den neuesten Gefuhlsglauben übergegangen."173 Das echte Christentum sei nicht auf Poesie, sondern auf Wahrheit gegründet,174 womit er vor allem die Sätze der spekulativen Vernunft meinte. Insbesondere hing fiir ihn der Gottesbegriff von der universellen Gültigkeit des Kausalbegriffs ab, denn sonst wäre Gottes Wirken in Schöpfung und Vorsehung undenkbar und somit die Vorstellung von Gott selbst defizient.175
167 G. E. Lessing: "Leibnitz von den ewigen Strafen"; = Nr. VII von: "Zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu WolffenbUttel." Erster Beytrag 1773. In: Lachmann (Hg.): Sämtliche Schriften, Bd. 11, S. 461-487. - Ders.: "Des Andreas Wissowatius Einwürfe wider die Dreieinigkeit"; = Nr. XII von: "Zur Geschichte [...]." Zweyter Beytrag 1773. In: Sämtliche Schriften, Bd. 12, S. 71-99. 168 Stapfer in seinem Artikel "Eberhard" der "Biographie universelle", Paris 1814, S. 414. 169 Phil. Mag., Bd. 1,240-241. 170 Über den Gott des Herrn Professor Fichte und den Götzen seiner Gegner, eine ruhige Prüfung seiner Appellation an das Publikum, in einigen Briefen, herausgegeben von J. A. Eberhard. Halle 1799. Eberhard: Versuch einer genauem Bestimmung des Streitpunktes zwischen Hrn. Professor Fichte und seinen Gegnern. Halle 1799. - Vgl. Werner Röhr (Hg.): Appellation an das Publikum, u. a. S. 75,169, 314. 171 Eberhard: Versuch, S. 90 und 91. S. 79 fF. Dort stellt er seine Theologie dar: Gott ist - positiv erkennbar - die höchste "Realität". 172 Der Geist des Urchristenthums. Ein Handbuch der Geschichte der philosophischen Cultur für gebildete Leser aus allen Ständen in Abendgesprächen, herausgegeben von J. A. Eberhard. 3 Teile. Halle 1807-1808. 173 Eberhard: Urchristentum, Bd. III, S. 376. 174 Eberhard: Urchristentum, Bd. III, S. 373 und 374. 175 Vgl. Eberhard: Urchristentum, Bd. I, S. 35-36.
1.5. Zum Verhältnis Kant-Eberhard
35
Eberhard hat auch auf die Ereignisse der Französischen Revolution reagiert. In seinen diesbezüglichen Schriften wird sichtbar, daß seine anfängliche aufklärerische Radikalität in eine Apologie des Bestehenden umgeschlagen war. 176 Die politische Revolution schien ihm ebenso unheimlich gewesen zu sein wie die durch Kant ausgelöste philosophische. Eine ehrenwerte Haltung zeigte Eberhard im seinem positiven Gutachten über die Abhandlung Kants, die später als der zweite Abschnitt des "Streits der Fakultäten" veröffendicht wurde: "Erneuerte Frage, ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Bessern sey". Nachdem die Berliner Zensurbehörde diese Schrift 1797 zurückgewiesen hatte, legte sie Kant - ein Thronwechsel hatte inzwischen stattgefunden - 1798 der preußischen Universität Halle vor.177 Eberhard plädierte fiir eine ungekürzte Veröffentlichung und nannte Kant "einen Mann von so erkannten Verdiensten und so lang erprobten Denkungsart". 178 Eberhard wie Kant gehörten der gleichen Generation an und repräsentierten damals typische Wege zur Philosophie. Eberhard erreichte sie von der Theologie aus, Kants Forschen setzte zuerst bei naturphilosophischen Fragen ein. 179 Beide bearbeiteten dann das gesamte Gebiet der Philosophie. Eberhard hatte sich hauptsächlich durch die 1776 von der Akademie preisgekrönte "Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens" qualifiziert, ein Werk der theoretischen Philosophie. Noch vor Gründung des "Phil. Mag." lagen von ihm Schriften zur Rationaltheologie, Moralphilosophie und Ästhetik vor. 180 Umso mehr wundert es, daß er hauptsächlich nur auf die Grundlagen von Kants theoretischer Philosophie eingegangen ist. Der sachliche Grund liegt wohl darin, daß seine Moral wie spekulative Theologie von der Ungültigkeit der Kantischen Beschränkung der theoretischen Erkenntnis abhing. Deshalb mußte Eberhard alles daran setzten, Kants Basis zu erschüttern. Eberhard wurde 1778 nach Halle als Nachfolger Wolfis und Meiers berufen, nachdem Kant der dringenden Bitte des zuständigen Ministers, des Freiherrn von Zedlitz, an die damals wichtigste Universität Preußens, vielleicht sogar Kontinentaleuropas, 181 176 Eberhard: Über Staatsverfassungen und ihre Verbesserung, ein Handbuch fiir teutsche Bürger und Bürgerinnen aus den gebildeten Ständen, in kurzen und faßlichen Vorlesungen über bürgerliche Gesellschaft, Staat, Monarchie, Freyheit, Gleichheit, Adel und Geistlichkeit. Halle 1793-1794. - Ders.: Über die wohlgeordnete Monarchie, in Briefen an einen Freund in der Schweitz. In: Jahrbücher der preußischen Monarchie, April 1798, S. 397-414. - Zu Eberhards konservativer politischer Philosophie vgl. Batscha: Despotismus, S. 178-211. 177 Kant an J. H. Tieftrunk vom 5.4.1798 (AK XII, S. 238-239). 178 Menzer: Zu Kants Zensurschwierigkeiten, S. 381. Auch KlQgel trat mit den Kantianern Tieftrunk und Jakob neben anderen Professoren, übrigens der Mehrheit der philosophischen Fakultät, fiir Kant ein (a.a.O., S. 382). Andererseits geht aus dem Brief Kants an Tieftrunk hervor, daß er an einem positiven Bescheid der Fakultät nicht zweifelte (AK XII, S. 238). 179 Hinske: Kant, S. 112, 113. 180 Vorbereitung zur natürlichen Theologie, zum Gebrauch akademischer Vorlesungen. Halle 1781; Sittenlehre der Vernunft. Berlin 1781, 2. Aufl. 1786; Theorie der schönen Wissenschaften, zum Gebtauch seiner Vorlesungen. Halle 1783, 2., verbesserte Aufl. 1786, 3. verbesserte Aufl. 1790. 181 Hinske: Halle, S. 9.
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1. Die Konstellation der Kontroverse
überzuwechseln, nicht nachgekommen war, denn er wollte sich an der Ausarbeitung seiner "KrV" durch einen Ortswechsel nicht stören lassen.182 Eberhard verdankte damit seinen Lehrstuhl genau dem Werk, gegen das er später so heftig stritt. Und wohl nur, weil Eberhard die angesehene Stelle bekleidete, vermochte er in größerem Umfang gegen Kant vorzugehen. Gemeinsam mit Kant und Herder183 wurde Eberhard Ende 1786 nach dem Tode Friedrichs II., der stets französische Wissenschaftler bevorzugt hatte, als auswärtiges Mitglied in die Berliner Akademie der Wissenschaften aufgenommen.184 Beide besaßen gemeinsame Freunde, z. B. Moses Mendelssohn, über den Zedlitz versucht hatte, Kant dazu zu bewegen, den Ruf nach Halle anzunehmen.185 Gegenüber Mendelssohn trat Eberhard übrigens außerordentlich bescheiden auf; ganz offenbar sah er in ihm so etwas wie einen philosophischen Mentor.186 Wenngleich sich Kant schon in seiner ersten Veröffentlichung mutig als "Selbstdenker"187 zu erkennen gab und in seinen vorkritischen Schriften, von denen er sich nach 1781 insgesamt lossagte,188 von Sätzen Wolfis abwich, war er dennoch hauptsächlich dessen Schulphilosophie verpflichtet. Alternativen hätte es - schon vom vielfältigen Geistesleben an der Universität Königsberg her gesehen 18 ' - durchaus gegeben. So hätte Kant einer anderen Spielart der Schulphilosophie, dem realistisch akzentuierten System des bedeutendsten Kritikers von Wolff, Christian August Crusius, folgen können. (Crusius betonte den realen Gehalt gegenüber dem Wolffischen Verstandesrationalismus, der Gefahr lief, Metaphysik auf bloße Denkzusammenhänge zu reduzieren. Er fand auch die Freiheit bei Wolff bedroht.)190 Tatsächlich hat er das punktuell getan, etwa bei seinen auf Crusius aufbauenden Einwänden gegen 182 S. dazu: Zedlitz an Kant vom 28.2.1778 (AK X, 224-225) und vom 28.3.1778 (ebd. 228-229), wo der Minister das für den Wechsel vorgesehene Gehaltsangebot von 600 Talern auf 800 Taler angehoben hatte. Kants Antwortschreiben an Zedlitz sind nicht erhalten, wohl aber kann seine diesbezügliche Haltung seinem Brief an Herz vom 1.4.1778 entnommen werden (ebd. 230-232). Kurioserweise geisterte dann noch genau ein Jahrzehnt später durch die gelehrten Zeitschriften eine Meldung des Tenors: Kant ginge anstelle Eberhards nach Halle, Eberhard nach Göttingen. Ebenso tauchten Mitte 1789 Meldungen auf, wonach nach Veidoppelung nunmehr Kants Gehalt in Königsberg 500 Taler betragen habe. 183 Jäger, Hans-Wolf: Artikel "Herder", in: Neue deutsche Biographie, Bd. 8, S. 599. Genau gesagt wurde Herder Ehlenmitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften (ebd.). 184 Vorländer: Mann, Bd. II, S. 43. 185 Gulyga: Kant, S. 114. Eberhard äußerte sich aber Mendelssohn im "Phil. Mag.", Bd. I, S. 240. 186 Das zeigen die - allerdings nicht sehr zahlreichen - erhaltenen Briefe Eberhards an Mendelssohn, die in den Bänden 12/2 und 13 der "Gesammelten Schriften. Jubiläumsausgabe" von Mendelssohn zugänglich sind. Es handelt sich hierbei um die Nummern 483, 540, 587, 594, 613, 638 und 701. Sie umspannen den Zeitraum von 1778, als Eberhaid nach Halle kam, bis in Mendelssohns vorletztes Lebensjahr 1785. Leider sind die Antworten darauf offensichtlich verloren. 187 Vgl. auch KrV B 864. 188 Vgl. Kants Reflexion 4964 (AK XVIII, S. 42): "Durch diese meine Abhandlung ist der Werth meiner vorigen metaphysischen Schriften völlig vernichtet. Ich weide nur die richtigkeit der Idee noch zu retten suchen." Vgl. auch Kant: Prol. 368. 189 Wundt: Schulphilosophie, S. 329. 190 Wundt: Schulphilosophie, S. 330, 257.
1.5. Zum Verhältnis Kant-Eberhard
37
den Wolffischen Gebrauch des Satzes vom zureichenden Grund in der "Principiorum primorum cognidonis metaphysicae nova dilucidado" (1755). 1,1 Kant hielt auch nach 1781 Vorlesungen nach Handbüchern der Leibniz-Wolffischen Philosophie. Zur Gotteslehre benutzte er neben Baumgartens "Metaphysica"192 Eberhards "Vorbereitung zur natürlichen Theologie", erschienen 1781. Das bedeutete jedoch keineswegs, daß er sich unter Verleugnung seines eigenen kritischen Ansatzes philosophisch nach ihnen orientierte. Kommentierend akzentuierte er stattdessen die Vorlage in seinem Sinn um. 193 Das wird trotz mancher Kompromisse (wir finden hier mehr spekulative Theologie, als es die "KrV" eigentlich zuläßt, obwohl man sich immer fragen muß, ob das, was Kant in der Sprache der theoretischen Philosophie ausfuhrt, nicht eigentlich praktisch im Sinne eines Vernunftglaubens gemeint war, bzw., inwiefern Kant nur vom Denken der Idee Gottes und nicht vom Erkennen eines göttlichen Wesens spricht) schon aus den erhaltenen Vorlesungsnachschriften - z. B. denen von Pölitz 194 zur Rationaltheologie - deudich, umso mehr aus Kants eigenen Bemerkungen zum Text der verwendeten Handbücher. Seine Reflexionen zu Eberhards "Vorbereitung" wirken im Sinn der "KrV kontrapunktisch zu Eberhards traditionell metaphysischer Doktrin. 195
191 Vgl. Crusius: Entwurf der notwendigen Vernunftwahrheiten, wiefern sie den zufälligen entgegengesetzt werden. Leipzig 1745, §§ 34-38 und 85. - Weil Kant Wolff nahe und Crusius fem stand, wurde er 1758 bei seiner Bewerbung um eine Professur an der Universität Königsberg (zur Zeit der russischen Besatzung) benachteiligt. Später gereichte das Kant zum Vorteil, als die peußische Kultusbehörde (Minister von Zedlitz) die Crusianische Philosophie unterdrückte (Gulyga: Kant, S. 53-55 und S. 113; Bödeker: Leitwissenschaft, S. 37). Während Gulyga den vorkritischen Kant zu einseitig als Exponent der Leibniz-Wolffischen Schulphilosophie betrachtet, neigt Wundt in seinen beiden Büchern "Kant als Metaphysiker" und "Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung" dazu, zu sehr Kants Abhängigkeit von Crusius zu betonen. Andererseits reiht er Kant wiederum unter die "Selbstdenker", die sich dem kanonischen Zwang einer bestimmten Richtung entzogen hätten. Nach Riehl wollte Kant "den Rationalismus nicht stürzen, sondern zwischen ihm und dem Standpunkt, den er für Skeptizismus hielt, vermitteln" (Riehl: Kritizismus, S. 208). Deshalb bezeichnet Riehl den Kritizismus als "restringierte[nj Rationalismus" (ebd.). Während nach WolfFdie Philosophie, wie es bei ihm heißt, "die Wissenschaft der möglichen Dinge, so ferne sie möglich [sind]", ist (a.a.O., S. 211), müßte Kants Definition im Verhältnis dazu lauten, Philosphie sei die Wissenschaft der Erkenntnis von Dingen, sofern sie (die Erkenntnis) möglich sei (vgl. a.a.O., S. 214). In beiden Fällen sei der Begriff der Möglichkeit "nicht psychologisch und subjektiv, sondern logisch und daher objektiv" zu verstehen (a.a.O., S. 213). 192 Baumgarten: Metaphysica. Pars IV (Theologia naturalis), §§ 800-1000 (vgl. AK XXV1II,2,2 S. 1360). 193 Arnolde Verzeichnis, S. 23/24,28/29, 30, 31/32. Wundt weist auf die Schwierigkeiten hin, die nur in Nachschriften von meist nicht sehr gut vorgebildeten Studenten dokumentierten Vorlesungen zu datieren und inhaltlich zu bewerten. Gerade die eigentlich kritischen Wendungen können von den Verfassern nicht verstanden und daher unterschlagen worden sein (Wundt: Kant, S. 9) Für auf andere An problematisch hält Wundt Kants Reflexionen. Sie enthalten oft einen Gedanken in einem vorläufigen Stadium (a.a.O., S. 10). - Vgl. auch Lehmann: Bericht Uber die Editionen von Kants Vorlesungen. In: Kant-Studien 56 (1966) 545-554. 194 "Philosophische Religionslehre nach Pölitz", AK XXVIII,2,2, S. 989-1126. 195 Siehe die "Bemerkungen Kants in seinem Handexemplar von Eberhards «Vorbereitung»" (AK XVIII, S. 489-606).
38
1. Die Konstellation der Kontroverse
Der kritische Kant lehnte zwar Wolfis Dogmatismus, den er weniger ihm als der Denkart seiner Epoche anlastete, ab, lobte aber sein dogmatisches Verfahren, nämlich "aus sicheren Prinzipien a priori strenge" (KrV B XXXV) zu beweisen. Wenn Kant "Dogmatismus" bestimmt als "das [.] Verfahren der reinen Vernunft, ohne vorangehende Kritik ihres eigenen Vermögens' (KrV B XXXV), so ist daraus noch die Hoffnung herauszuhören, einmal ein bereinigtes "Lehrgebäude" (Prol. 382) nach Wolffischer Form aufzuführen. 196 Eine kritische "Propädeutik" (KrV B 25) sollte danach in eine doktrinale Metaphysik der Sitten wie der Natur 1 ' 7 münden: 198 [Vielmehr ist die Kritik die nothwendige vorläufige Veranstaltung zur Beförderung einer gründlichen Metaphysik als Wissenschaft, die nothwendig dogmatisch und nach der strengsten Forderung systematisch, mithin schulgerecht (nicht populär) ausgeführt werden m u ß [...]. In der Ausfuhrung also des Plans, den die Kritik vorschreibt, d. i. im künftigen System der Metaphysik, müssen wir dereinst der strengen Methode des berühmten Wolffides größten unter allen dogmatischen Philosophen, folgen, der zuerst das Beispiel gab [...], wie durch gesetzmäßige Feststellung der Principien, deutliche Bestimmung der Begriffe, versuchte Strenge der Beweise, Verhütung kühner Sprünge in Folgerungen der sichere Gang einer Wissenschaft zu nehmen sei, der auch eben darum eine solche, als Metaphysik ist, in diesen Stand zu versetzen vorzüglich geschickt war, wenn es ihm beigefallen wäre, durch Kritik des Organs, nämlich der reinen Vernunft selbst, sich das Feld vorher zu bereiten: ein Mangel, der nicht sowohl ihm, als vielmehr der dogmatischen Denkungsart seines Zeitalters beizumessen ist [...].
Wie der zweite Teil des Zitats zeigt, hielt Kant Wolff prinzipiell für fähig, durch eine "vorläufige" (im Sinne von: vorgängige) "Kritik [...] der reinen Vernunft" sein metaphysisches Lehrgebäude zu einer sicheren Wissenschaft zu erheben. Dazu hätte allerdings die Meisterschaft in logischen Verfahren, die allein Kant an WolfF so rühmt, nicht ausgereicht. Angesichts dieser Ehrung "des größten unter allen dogmatischen Philosophen" in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der " K r V 1787 ist die Tatsache bemerkenswert, daß sich Kant - in derselben Vorrede hatte er angekündigt, er wolle sich als nächstes an die "Ausfuhrung des Systems" der "Metaphysik der Natur sowohl als der Sitten" machen (KrV B XLIII) - in der Folgezeit von der Verwirklichung des doktrinalen Systems durch eine Ausweitung des "kritischen Geschäfts" wieder entfernte. 200 Die "Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft" (1786) und die zur "Metaphysik der Sitten" (1797) zusammengefiigten "Metaphysischen Anfangsgründe der Rechts- und Tugendlehre" wirken - insbesondere, was die zweite Arbeit angeht - von Form und Inhalt her wie Feigenblätter vor einem nicht eingelösten oder nicht mehr einlösbaren Vorsatz. Auch beim "Opus postumum" drängt sich die 196 In Piol. 326 Anm., empfahl Kant, die analytischen Prädikabilien zu den synthetischen Kategorien mit einer "guten Ontologie (z. E. Baumgartens)" zu erganzen. Daraus ist noch ein gewisser Optimismus, was die Zusammenstimmung von Kritik und Leibniz-Woffischem System, sofern es sich der Kritik unterwirft, zu entnehmen. 197 Vgl. KrV B 869. 198 In der Vorrede zur zweiten Ausgabe der "KrV" spricht Kant davon, "daß die dornigen Pfade der Kritik" als Propädeutik "zu einer schulgerechten, aber als solche allein dauerhaften und daher höchstnotwendigen Wissenschaft der reinen Vernunft führen" (KrV B XLIII). 199 KrV B XXXVI-XXXVII.
1 . 6 . D i e R o l l e des Angreifeis
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Frage auf, ob nicht gerade der hier beabsichtigte Versuch, das System einer Metaphysik der Natur zu ergänzen, in eine transzendental-kritische Fragestellung zurückdrängte, wie sie fundamentaler nicht hätte ausfällen können. Beide philosophische Richtungen entwickelten sich dadurch weiter auseinander zu zwei endgültig verschiedenen Paradigmen. Der Dogmatische Rationalismus lebt von dem ontologischen Grundtheorem, daß widerspruchsfreies Denken das Sein repräsentiert. 201 Sein und Begriff gehören hier im Grunde zusammen. Der Kritizismus hält theoretische Begriffe nur unter der Bedingung einer korrespondierenden Anschauung für objektiv gültig - und dann auch nur zur Erkenntnis von Gegenständen als Erscheinungen. 202 Nach ihm hat sich das Erkennen auf etwas "Gegebenes" zu richten, das durch logische Verfahren nicht aufgehoben werden kann. Der im ersteren Fall vorausgesetzte absolute Seinsbezug, ohne den Denken sich selbst widersprechen würde, ist nach dem kritizistischen Paradigma eine Illusion.
1.6. Die Rolle des Angreifers So organisiert Eberhard gegen Kant vorging, so darf man doch nicht aus den Augen verlieren, daß - historisch und systematisch gesehen - nicht Eberhard, der Exponent der Leibniz-Wolffischen Philosophie, als ursprünglicher Aggressor auftrat. Es war vielmehr Kant selbst, der - freilich in bester irenischer Absicht mittels einer Selbstrechtfertigung der Vernunft auf einen ewigen Frieden in der Philosophie hoffend 203 - mit seinem Kritizismus einen Doppelangriff sowohl gegen die empiristische 200 Seinem Brief an Mendelssohn vom 16.8.1783 (AK X , S. 346) ist Kants Ziel zu entnehmen, "ein Lehrbuch der Metaphysik zu schreiben'', worunter nur die Ausführung einer doktrinalen Metaphysik (oder deren Kurzfassung) verstanden werden kann, denn es soll nicht die Grundsätze der Kritik darlegen, sondern bloß "nach critischen Grundsätzen" abgefaßt sein. Darin heißt es nämlich: "Vor dieser Zeit dencke ich indessen doch ein Lehrbuch der Metaphysik nach obigen critischen Grundsätzen und zwar mit aller Kürze eines Handbuchs, zum Behuf academischer Vorlesungen, nach und nach auszuarbeiten und in einer nicht zu bestimmenden, vielleicht ziemlich entferneten Zeit, fertig zu schaffen". - Kants Befürchtung, die Vollendung eines solchen metaphysischen Lehrbuchs weide sehr lange dauern, dürfte wohl schon mit den vermuteten neuen Explikationsaufgaben auf der transzendental-kritischen Ebene zusammenhängen. In den Einleitungen zur "KrV" unterschätzt Kant offenbar noch die Komplexität der gesamten Tranzendentalphilosophie, weil er den "Vorrat" aller "Erkenntnis a priori" zu gering ansetzt (B 26). Nach der zweiten Ausgabe der "KrV" schrieb Kant vor der Doktrin eine eigene "Kritik der praktischen Vernunft", dann gliederte er seine Philosophie sogar in drei s a t t bislang zwei Teile (vgl. Kants Brief an Reinhold vom 28.12.87; AK X, S. 4 8 8 ) und entwickelte die "Kritik der Urteilskraft". Trotz der dort gegebenen erneuten Versicherung, das "ganze[.] kritische[.] Geschäft" sei nun beendet, so daß mit dem "doktrinalen" (KU X ) begonnen werden könne, kam das Denken Kants - was seine Arbeit am "Opus postum um" zeigt - noch immer nicht zur Ruhe eines ausführlichen schulmäßigen Lehrgebäudes. Hinske: Kant, S. 119 und ders.: Weg, S. 26, Anm. 6 8 . 201 Riehl: Kritizismus, Bd. 1, S. 2 1 5 . 2 0 2 KrV B 185-187 und B 314-315. 203 Vgl. KrV B 7 9 6 .
40
1. Die Konstellation der Kontroverse
wie gegen die dogmatisch-rationalistische Hauptrichtung und ihre verschiedenen Spielarten initiierte.204 Er wollte den ewigen Streit zwischen metaphysischen Behauptungen205 auflösen, mußte dafür aber nachweisen, daß die bisherigen Theorieversuche unzulänglich waren, weil der Empirismus nur zufallige Gründe (Erfahrung oder Gewohnheit) für die Zuschreibung eines Prädikats zu einem Subjekt gelten ließ (wodurch aber objektive Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit nicht mehr möglich waren),206 der Dogmatische Rationalismus hingegen bloß logisch-begriffliche Gründe zur Erklärung der Notwendigkeit einer Verbindung von Vorstellungen aufbot. 207 Aus diesem Grund beschrieb Kant diese Richtung als die "Anmaßung, mit einer reinen Erkenntniß aus Begriffen (der philosophischen) nach Principien, so wie sie die Vernunft längst im Gebrauch hat, ohne Erkundigung der Art und des Rechts, womit sie dazu gelangt ist, allein fortzukommen" (KrV B XXXV). Rechenschaft von der Objektivität von Vorstellungen konnten nach Kant beide Modelle nicht geben. Kant war in diesem Sinn also noch radikaler oder fundamentaler, als viele seiner frühen Kritiker befürchteten, die ihn einseitig als Berkeleyschen Idealisten, Skeptiker oder Empiristen klassifizierten.208 Für seinen Ansatz gebrauchte er kühn das nicht gerade pazifistische Bild von der Revolution. "[D]urch eine auf einmal zustande gebrachte Revolution" (KrV B XVI) seien Mathematik und Physik von einem "Herumtappen" (KrV B XI) zu Wissenschaften geworden. Kant unternimmt es, dasselbe für die Metaphysik zu leisten: Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntniß müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntniß erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zu nichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser 204 Rosenkranz: Geschichte, S. 8; Borowski: Kant, in: Groß: Biographien, S. 82/3. 205 Vgl. KrV A VIII: "Der Kampfplatz dieser endlosen Streitigkeiten heißt nun Metaphysik-, in B XV präzisiert Kant, daß es sich bei diesen Streitigkeiten um "Spielgefecht" und "bloßes Herumtappen'' handelt, was freilich dem Geschehen den streitigen Charakter nicht nimmt. Kant spricht von einem "Skandal" (B XXXIV). Nach B XXXIV müssen sich die "Metaphysiker" "ohne Kritik" "unausbleiblich" in diese "Streitigkeiten" verwickeln. 206 KrV B XXXVI, AIX, B 792/793. 207 Prol. 260. Lewis White Beck spricht davon, Kant habe gegen Empirismus und Dogmatismus einen "two-front war" geführt (L. W. Beck: Kants Strategy, S. 4, 12). Da beide von der gemeinsamen Voraussetzung ausgegangen seien, Erkenntnis entstamme nur aus einer Quelle, Erfahrung bzw. Vernunft, habe Kant beide dadurch zugleich schlagen können, daß er diese Voraussetzung widerlegte. Kants Nachweis, daß sowohl Anschauung als auch Begriff als Bedingungen der Möglichkeit von objektiver theoretischer Erkenntnis notwendig sind (vgl. KrV B 75), ermöglichte zugleich die Begründung der Denkbarkeit (freilich nicht der Erkennbarkeit) der Freiheit (L. W. Beck: Kant's Strategy, S. 12, 16-17). 208 In einem Brief teilt Beck Kant mit, "Herr Prof. Eberhard" habe ihm von seinen Gesprächen mit Garve "in Beziehung auf die kritische Philosophie" berichtet und dabei gesagt, "daß so sehr auch Garve die Critick vertheidigt, so habe er doch gestehen müssen, daß der critische Idealism und der Berkleysche gänzlich einerley seyn" (J- S. Beck an Kant vom 10.11.1792, AK XI, S. 384). - In Kants Antwort an Beck weist er dieses Urteil entschieden zurück: "[I]ch rede von der Idealität in Ansehung der Form der Vorstellung, jene aber machen daraus Idealität derselben in Ansehung der Materie d.i. des Objects und seiner Existenz selber" (Kant an Beck vom 4.12.1792, AK XI, S. 395). Aus einem formalen Idealismus der Gestalt der Vorstellung wurde so ein materialer des Gegenstandes selbst herausgelesen.
1.6. Die Rolle des Angreifers
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fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntniß richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntniß derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll.209
Dabei bedeutet "Revolution" nicht so sehr die Kehre vom Objekt zum Subjekt, sondern die Reflexion vom scheinbar oder vielleicht auch wirklich Erkannten zu den Bedingungen der Möglichkeit von objektiver (hier theoretischer) Erkenntnis, also in der konsequenten Hinwendung zu einer epistemologischen Selbstversicherung der Vernunft. Auch die implizite Philosophie der "mathematischen Naturforscher" - Kant meint hier vor allem Newton mit seinen "Philosophiae naturalis principia mathematica" muß sich nach diesem Programm vor Kants Gericht rechtfertigen,210 und zwar insbesondere im Hinblick auf den von ihr postulierten objektiv-subsistierenden Charakter von Raum und Zeit, welchen damit in Kants Sprache der Status von Dingen an sich zugebilligt wird. Wenngleich Kant ganz offensichtlich Komponenten von Dogmatismus (den nicht aus der Erfährung entsprungenen Begriff), Empirismus (Erfahrung als Quelle einer Erweiterung unserer Erkenntnisse) und der neuen Physik (Newtons objektiv, d. h. allgemein und notwendig geltende Naturgesetze in mathematisierter Form211* rechtfertigen konnte, so besagte diese teilweise Rettung doch auch, daß wenigstens die Positionen von Empirismus und Dogmatismus als Theorieganzheiten vernichtet waren.212 In der gegenüber der Leibniz-Wolffischen Philosophie aus strategischen Gründen konziliant gehaltenen "Preisschrift" verfallt Kant darauf, deudicher als vorher die Zeit zum Subjekt der philosophischen Bewegung zu machen. Hier unterscheidet er "drey Stadien"213 der Metaphysik: Dogmatismus, Skeptizismus und Kritizismus. Kants Rolle als Promotor des historischen Fortschritts wird hier verschwiegen, ebenso, daß die früheren Stadien nicht einfach spontan einander ablösen, sondern auf argumentativer wie pragmatischer Ebene tätig überwunden werden müssen.
209 KrVBXVI.
210 KrV B 56. 211 Vgl. KrV B 128. 212 Kants Formulierung in Prol. 360, die "Kritik der Vernunft bezeichne [.] den wahren Mittelweg" zwischen Dogmatismus und Skeptizismus, klingt nur friedvoller, bedeutet aber der Sache nach nichts anderes als die geschilderte Widerlegung beider Positionen in ihrer Integralitit. Wie fordernd Kants Mittelweg ist, verbirgt sich hinter dem hier nicht näher erläuterten Epitheton "wahr", das die vordergründige Versöhnlichkeit des Substantivs "Mittelweg" im Sollen zurückgenommen hat. 213 AK XX, S. 264. Vgl. dazu jedoch bereits KrV B 789 und B 797 und ÜE 226-228.
2. These und Verfahren 2.1. Zur äußeren Strategie 2.1.1. Leibniz Eberhards Berufung auf Leibniz1 im Rahmen seiner äußeren Strategie ist nur richtig zu verstehen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die achtziger Jahre des 18. Jdh. eine "Leibniz-Renaissance"2 erlebten. Die Leibniz-Wolffische Schulphilosophie hatte Leibnizens Denken nur sehr eingeschränkt erschlossen. Erst jetzt wandten sich viele Philosophen, durchaus im Bewußtsein des Ungenügens der (bisherigen) Schulmetaphysik, intensiver Leibniz - wie auch seinem Paten Piaton - zu.3 Selbst wenn Eberhard nicht grundsätzlich an der Schulmetaphysik zweifelte, hinterließ diese Tendenz auch an ihm - ganz im Gegensatz zu Kant, fiir den Leibniz nur noch historische Bedeutung hatte, - ihre Spuren.4 Wenn er sich gegen Kant auf Leibniz bezog, so lag darin der Versuch, eine neuere Strömung, die Neoleibnizianische, gezielt gegen eine andere neuere, die Kantische, zu lenken, um mit derjenigen, die ihm näher stand, diejenige, die seine eigene Philosophie bedrohte, zurückzudrängen. Für Eberhard waren damit aber Gefahren verbunden: Wenn er Leibniz gegen Kant bemühen mußte, konnte das als Eingeständnis gewertet werden, daß die Schulphilosophie zu einer Kantkritik nicht hinreiche und daß sie deshalb Kant zurecht als unwissenschaftlich gebranntmarkt habe. Darüber hinaus konnte seine Argumentation nur so stark sein, wie seine Leibnizauslegung verläßlich erschien. Konnte man - wie das Kant versuchte5 - zeigen, daß Eberhard von Leibniz nicht gedeckt sei, so wurde seine Hauptthese unglaubwürdig.6
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Vgl. Phil. Mag., Bd. I, S. 393 Anm. Wunde Schulphilosophie, S. 317. Heinekamp: Beiträge, S. XIII/XIV. Wundt: Schulphilosophie, S. 317, 319. Wundt: Schulphilosophie, S. 288. So reserviert Eberhaid in seiner Rede "Von dem Begriffe der Philosophie und ihren Teilen" (1778) an Piaton orientiert den Ausdruck "Idee" nur fiir Verstandesbegriffe. Auch Kant verwendet bekanntlich den Ausdruck "Idee" im exklusiven Sinn ausschließlich fiir Vernunftbegriffe und erinnert dabei-lobend an Plato (KrV B 370-377). Siehe Kapitel 4.2.2. Schon äußerlich muß Verdacht erregen, daß die beiden kleineren Schriften, die überhaupt Eberhard Leibniz widmete, biographischer Natur waren: "Leben des Freyherrn von Leibnitz". In: Klein (Hg.): Leben und Bildnisse der großen Teutschen; Bd. 1. - "Gottfried Wilhelm Freyherr von Leibnitz". In: Pantheon der Teutschen. Bd. 2 (1795).
2.1. Z u r äußeren Strategie
43
2.1.2. Der Versuch der Reduzierung der Eberhardpartei Kant trachtete danach, in seinen öffentlichen Äußerungen die dogmatische Opposition auf die Person Eberhards zu beschränken, obwohl er doch nachweislich Abhandlungen auch anderer Autoren studiert hatte.7 Diese optische Verkleinerung der Gegenpartei finden wir sogar in Kants Briefen. Freilich darf man wiederum nicht vergessen, daß im ersten Band des "Phil. Mag." das spezielle Eberhard-Lager noch kaum zu erkennen war, 1790, zur Zeit der Veröffendichung von "ÜE", hatte sich die Situation jedoch längst geklärt. Daß Eberhard noch andere Anhänger der Leibniz-Wolffischen Philosophie um sich scharte, mußte Kant spätestens durch die noch vor Publikation von "ÜE" stattgefundene Lektüre des zweiten Bandes des "Phil. Mag." mit seinen Beiträgen von Klügel, Maaß, Flatt und anderen deutlich aufgefallen sein, zumal einige davon - voran Maaß - elaborierter als Eberhard argumentierten. Besonders eine Stelle in "ÜE" belegt, daß Kant vor allem Maaß bewußt aus dem Gesichtsfeld eliminiert hat: Dort will er anhand des zweiten Stücks des ersten Bandes des "Phil. Mag." zeigen, wie bunt zusammengemischt philosophische und nichtphilosophische Beiträge in der Zeitschrift sind. Die nicht-philosophischen zählt er alle auf, von den philosophischen erwähnt er zwar die von Eberhard, die von Maaß hingegen nicht.8 Kants Beschränkung auf Eberhard konnte seiner Seite einige Vorteile bescheren: Wenigstens vor dem Publikum schrumpfte eine respektable Gruppe von Gegnern zu einem einzelnen Individuum, das gegen den Kritizismus auftrat und sich dabei auf fremde Gedanken (Leibniz) stützen und - wie unten zu erläutern sein wird unfairer Mittel bedienen mußte. Durch Kants Gegenkritik wurde zudem den Leuten um Eberhard die Gelegenheit geboten, die eigene Position nochmals zu überdenken, sich von Eberhard zu distanzieren oder sich wenigstens aus Vorsicht aus der Kontroverse auszuklinken. Gegenüber Kästner' und Klügel10 verfolgte Kant eine besondere Strategie. Sie sollten als Mathematiker aus der Nähe zu Eberhard herausgelöst und neutralisiert werden. 7 8
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Kant an Reinhold vom 21.9.1790 (AK XI, S. 89). ÜE 188. Maaß veröffentlichte dort einen Artikel, "Über die transscendentale Ästhetik" (S. 117-149), und eine Rezension von Flatts "Fragmentarischen Beyträgen" (S. 193-234). - Es überrascht dann nicht mehr, daß auch Maaßens Beiträge aus dem zweiten Band des "Phil. Mag." in Kants Schultz überlassenen Aufsätzen über diesen Band übergangen werden. Von Kästner erschienen erst im 4. Stück des 2. Bandes des "Phil. Mag." drei Abhandlungen: "Was heißt in Euklids Geometrie möglich?" (S. 391-402), "Über den mathematischen Begriff des Raums" (S. 403-419), "Über die geometrischen Axiome" (S. 420-430). Im 3. Stück des 4. Bandes erschien von ihm "Über Kunstwörter, besonders in der Mathematik" (S. 255-270). Kästner hatte ein Vorwort zur Raspe'schen Leibniz-Ausgabe verfaßt: Oeuvres Philosophiques Latines & Françoises de feu Mr. De Leibnitz. Tirées de ses manuscrits qui se conservent dans la Bibliothèque Royale a Hanovre, et publiées par Mr. Rud[olphe] Eric Raspe. Avec une Préface de Mr. [Abraham Gotthelf] Kaestner Professeur en Mathématiques à Gôràngue. A Amsterdam et a Leipzig, Chez Jean Schreuder. MDCCLXV. - Ebenfalls von Kästner stamme Lobschrift auf Gottfried Wilhelm Freyherm von Leibniz. In der königl. deutschen Ges. zu Göttingen den 10. Juni 1769 vorgelesen. Altenburg 1769. Klügel veröffentlichte in Eberhards Zeitschriften einen Aufsatz in zwei Teilen: "Grundsätze der reinen
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2. These und Verfahren
Während Eberhard die Peitsche zu fühlen bekam, reichte Kant zu diesem Zweck den anderen - und vor allem Kästner - Zucker, nachdem er sie noch in "ÜE" vollständig übergangen hatte. In der Rezension des zweiten Bandes des "Phil. Mag." durch Schultz (September 1790) verwendete dieser in seinem Auftrag einen Aufsatzentwurf Kants über Kästner mit lobendem Tenor:11 In allem findet Ree. Hrn. H. R. Kästner mit der Critik d. r. V. vollkommen einstimmig [...]."
Damit sich Kästner und Klügel in keiner Weise provoziert fühlen sollten, gegen die Kantianer zu replizieren, bat Kant Schultz, in der Rezension nicht dessen "Theorie der Parallellinien" ins Spiel zu bringen.13 Kant versuchte sogar, Kästner, den "Nestor aller philosophischen Mathematiker Deutschlands" in die Rolle eines "Schiedsrichters" in den "Streitigkeiten" mit Eberhard zu drängen und sparte dabei nicht mit Schmeichelei, indem er etwa seiner Bitte die Worte hinzufugte: "wenn es erlaubt wäre, dem Oelbaum [gemeint ist Kästner] zuzumuthen, daß er seine Fettigkeit lasse, um über den Bäumen zu schweben". 14 Kästner zum Schiedsrichter gewonnen zu haben, hätte bedeutet, Eberhard einen Mann zu nehmen, den dieser für einen Kronzeugen seiner Sache hielt. Im gleichen Brief vom August 1790 erklärte er gegenüber Kästner ausdrücklich: Meine bisher auf Critik gerichtete Bemühungen sind keinesweges, wie es scheinen könnte, darauf angelegt, der Leibnitz-Wolfischen Philosophie entgegen zu arbeiten (denn die finde ich schon seit geraumer Zeit vernachlässigt) sondern nur durch einen Umweg, den wie mich diinkt, obige große Männer für Uberflüssig hielten, in dasselbe Geleise eines schulgerechten Verfahrens, und vermittelst desselben, aber nur durch die Verbindung der theoretischen Philosophie mit der Praktischen, zu eben demselben Ziele zu führen - eine Absicht, die sich klärer an den Tag legen wird, wenn ich so lange lebe, um wie ich Vorhabens bin, die Metaphysik in einem zusammenhängenden Systeme aufzustellen." Richtig ist, daß Kant, wie er etwa in der Vorrede zur " K U " aus d e m gleichen Jahr versichert hat, z u m "doktrinalen Geschäft" schreiten wollte. 1 6 Die Briefstelle deutet darauf hin, d a ß er dabei an eine bereinigte Version des Leibniz-Wolffischen Modells dachte. ( D a s steckt hinter Kants Bild v o m " U m w e g " . ) D u r c h e i n e solche kritische
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Mechanik" (Bd. I, Stück 4, S. 435-468 und Bd. II, Stück 1, S. 1-28). Nach Kästners Tod (am 20.6.1800) wurden Kästners und Klügeis Artikel unter beider Namen (im selben Verlag wie ehedem das "Phil. Mag.") als Buch neu vorgelegt: Philosophisch-mathematische Abhandlungen. Halle: Gebauer 1807. Vgl. Kants Briefe an Schultz vom 29.6. und 2.8.1790 (AK XI, S. 183 und 184). Die Abhandlung findet sich AK XX, S. 410-423 und beginnt mit den Worten: "Stücke von eines Käsmm, oder Klügils Hand, können jeder Sammlung einen Werth geben, ohne daß sie eben die Absicht haben, das wahr zu machen, worinn andere in derselben geirret hätten." A.a.O., S. 422. Kant an Schultz vom 16.8.1790 und nochmals am 2.8.1790 (AK XI, S. 200-201 und 184). Kant an Kästner vom 5.8.1790 (?), AK XI, S. 186. Kant an Kästner vom 5.8.1790 (?), AK XI, S. 186. Im Mai 1793 warb Kant erneut um Kästner (AK XI, S. 427-428). KUX.
2.1. Zur äußeren Strategie
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Überarbeitung (die zudem noch die theoretische und praktische Philosophie in Einheit darstellen sollte) würde die von Kant festgestellte Vernachlässigung dieser Philosophie wettgemacht. Insofern kann er sagen, er wolle ihr nicht entgegenarbeiten. Der Makel, daß "obige große Männer", gemeint sind Leibniz und Wolff, aber mit ihnen auch Eberhard, die "Critik" "für überflüssig hielten", wäre damit dann getilgt. In Kästners Antwort vom 2. Oktober 1790 17 distanzierte er sich tatsächlich von den "seichten" Versionen der dogmatisch-rationalistischen Philosophie. Ohne sich ihm anzuschließen, bezeugte er Kant seine Hochachtung und riet ihm, seine Ausdrücke deudicher zu erklären und zu bestimmen. Als aufschlußreich kann sich eine Bemerkung über den Unterschied des Verfährens in Mathematik und Philosophie erweisen. Mathematische Begriffe gestatten es nach Kästner, daß "sinnliche Bilder" "dem Verstände zu Hülfe" kommen. In der Leibnizianischen Tradition, in der Kästner steht, sind mathematische Sätze analytische Vernunftwahrheiten und beruhen als solche nur auf dem Begriff. Die Sinnlichkeit kann also hier keinerlei echte Hilfe leisten, allenfalls psychologisch zur Veranschaulichung des Gedachten. Sind also Kästners Worte vielleicht ein ungeschickter Ausdruck auf dem Weg zu der von Kant geforderten Anerkennung von Raum und Zeit als reine Anschauungen, die für mathematische Sätze mitkonstitutiv sind, ja hauptverantwortlich für die in ihnen sich vollziehende Erkenntniserweiterung? Auch wenn man nicht so weit geht, zu behaupten, Kästner habe sich Kants Philosophie der Mathematik angenähert, so bleibt doch festzustellen, daß sich Kästner im Brief nicht als Parteigänger Eberhards bekennen wollte. 18 Ähnlich verhielt es sich mit Klügel, den Kant durch Beck grüßen ließ.19 Im Gegenzug ließ dieser ausrichten: "[D]ie Ursache warum Sie von Freunden und Gegnern nicht verstanden werden, ist weil diese nicht Mathematicker sind". 20 Ganz anders klingt die Begründung, die, wie überliefert wird, Klügel seinem Aufsatz über die Grundsätze der reinen Mechanik gab: "Er war bestimmt als Gegenstück zu dem phoronomischen und mechanischen Teile von Kants metaphysischer Naturwissenschaft zu dienen, welcher (ur Mathematiker ganz unbefriedigend ist."21 Klügel, dessen "Scharfsinn" Beck oft zu bemerken Gelegenheit hatte, 22 half ihm jedoch wieder in mathema-
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AK XI, S. 213-215. Noch im "Opus postum um" beschäftigte sich Kant, worauf G. Lehmann hinweist, mit Kästner: "Von den Bemerkungen aber Kästner im op. post. (vgl. [AK] XXI 98, 240, 244; [AK] XXII 545) gehen einige auf die Eberhardaffire zurück" (AK XX, S. 506). Zum Verhältnis Kants zu Kästner vgl. die historisch ausgerichtete Arbeit von Förster "Kästner und die Philosophie" und mathematisch akzentuierte von Fichant "La controverse Kant-Kästner en 1790". Kant an Beck vom 9.5.1791 (AK XI, S. 257). Beck an Kant vom 1.6.1791 (AK XI, S. 263). Zitiert nach: Menzer: Zu Kants Zensurschwierigkeiten, S. 382. Klügel bezieht sich damit auf Kants "Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft". Die vier HauptstQcke behandeln Phoronomie, Dynamik, Mechanik und Phänomenologie. Beck an Kant vom 11.11.1791 (AK XI, S. 312).
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2. These und Verfahren
tischen Fragen bei der Ausarbeitung des Auszugs aus Kants Schriften. 23 Nach Beck sei Klügel im Begriff, die "KrV" immer mehr zu verstehen und zu schätzen.24 Kants Haltung zu Kästner kennzeichnet jedoch über den pragmatischen Aspekt hinaus noch ein argumentativer. Der Transzendentalphilosoph konnte den Mathematiker weiterhin dafür hochschätzen, daß er sich einst u. a. durch die Begegnung mit dessen "Anfangsgründen der Arithmetik" zur schließlich kritischen Theorie von Raum und Zeit vorgearbeitet hat. Letztlich durch seine Neubewertung von Raum und Zeit war es Kant der vollen Begründung nach nämlich nur möglich, "negative Größen" in die Metaphysik einzuführen. 23 In beidem verabschiedete sich schon der vorkritische Kant von Leibnizens Rationalismus. In Weiterfiihrung dieser Theorielinie erhärtete er in seiner Dissertation von 1770 die Idealität von Raum und Zeit unter dem Gesichtspunkt von deren Stetigkeitscharakter. Erneut setzte er sich dabei mit Kästner auseinander.26 Dieser hatte den Kontinuitätssatz im Blick auf eckige Gestalten in Zweifel gezogen und sich damit auch von Leibniz abgesetzt, seine Aussage dabei freilich bloß auf Mechanik und Mathematik beschränkt. Diesmal trat ihm Kant in widerlegender Absicht gegenüber (freilich ohne sich dabei in der Begründung mit Leibniz zu realliieren). Verwandte Fragen behandelte der kritische Kant später in den "Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft". Kästner rezensierte diese Schrift 27 und stimmte darin Kants Leibnizdeutung zu,28 die in Methode und Aussage dem Leibnizbild am Ende von "ÜE" gleicht.29 Auch aus diesen Erfährungen heraus mußte es für Kant nahe gelegen sein, Kästner als möglichen neutralen Dritten im Streit mit Eberhard zu betrachten.
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Beck an Kant vom 24.8.1793 (AK XI, S. 444). Beck an Kant vom 11.11.1791 (AK XI, S. 312). Im Gegensatz dazu urteilte jedoch Jakob in einem Brief an Kant vom 24.1.1792 (AK XI, S. 319): "Herrn Klügel über die Critik u. besonders über die reine N[atur] Wissenschaft] sprechen zu hören, ist kaum auszuhalten, u. Chymikern u. Physikern scheint es vollends ganz unbegreiflich zu seyn, wie man sich bei Beweisen aus der Induktion u. Analogie nicht beruhigen könne." S. Kant: Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen [1763]. AK II, S. 165-204. Auf Kastner und seine "Anfangsgründe der Arithmetik, Geometrie, ebenen und sphärischen Trigonometie und Perspectiv. [= Mathematische Anfängsgründe, 1. Teil, 1. Abteilung.]" (Göttingen 1758, 2 1763) verweist Kant ebd., S. 170. Kant bezieht sich in "De mundi [...]", Sectio III, § 14, no. 4 (AK II, S. 400), auf einen Passus (S. 353/ 354) von: Anfängsgründe der höhern Mechanik, welche von der Bewegung fester Körper besonders die praktischen Lehren enthalten. Göttingen 1766. [= Mathematische Anfängsgründe, 4. Teil, 1. Abteilung.] Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 191. Stück, 2. Dezember 1786, S. 1914-1918. - Wir können hier nicht die Frage erörtern, wen Kant in den "Metaphysischen Anfangsgründen" mit der Wendung "Ein großer Mann,-der vielleicht mehr als sonst jemand das Ansehen der Mathematik in Deutschland zu erhalten beiträgt" (AK V, S. 597, Z. 11-12) gemeint haben könnte. Gegen Leibniz spricht der Fortgang des Textes, gegen Kästner die Tatsache, daß er sich in seiner Rezension nicht gegen dieses Lob, wie das den Umgangsformen wohl entsprochen hätte, bescheiden verwahrte. AK V, S. 507-508. Bezug: Kants "Lehrsatz 4" (ebd., S. 503). S. dazu die Kapitel 4.2 und 6.1.
2.2. Eberhards These 2.2. Eberhards
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These
Für seine Hauptthese gebraucht Eberhard zwei Formulierungen. D i e knappere lautet gegen Ende v o n "Über die Schranken der menschlichen Erkenntnis": [D]ie Grenzbestimmung der menschlichen Erkenntniß nach der Leibnitzischen Vernunftkritik [darf] noch nicht aufgegeben werden; alles was die Kantische Kritik gründliches enthält, [ist] in ihrem Umfange enthalten, und außerdem noch vieles, was diese ohne Grund verwirft. 30 D i e ausführlichere stammt aus der Abhandlung "Über das Gebiet des reinen Verstandes": 31 1. daß die Leibnitzische Philosophie eben sowol eine Vernunftkritik enthält, als die Kantische; denn sie gründet ihren Dogmatismus aufeine genaue Zergliederung der Erkenntnißvermögen, indem sie genau anzugeben sucht, was durch ein jedes möglich ist; nur die Resultate von beiden sind verschieden. Sie kann also, wenn sie getreu dargestellt wird, nicht unkritisch genannt werden. 2. Daß die Leibnitzische Philosophie alles Wahre der Kantischen enthalten kann, aber außerdem noch mehr. Zu diesem Mehr ist sie durch die gegründete Erweiterung des Gebietes des Verstandes im Stande, wozu sie ihre kritische Zergliederung der Erkenntnisvermögen berechtigt. In der zweiten Version taucht der kantianisierende Ausdruck "Grenzbestimmung der menschlichen Erkenntnis" nicht mehr auf, er wurde durch den Begriff "Dogmatismus" synonym ersetzt. Das hat Folgen fiir Kants Rekonstruktion der These, die er zu Beginn seiner Streitschrift aus Eberhards zweiter Formulierung zusammenstellt: Herr Eberhard hat die Entdeckung gemacht, daß [...] "die Leibnizische Philosophie eben so wohl eine Vernunftkritik enthalte, als die neuerliche, wobei sie dennoch einen auf genaue Zergliederung der Erkenntnißvermögen gegründeten Dogmatism einführe, mithin alles Wahre der letzteren, überdem aber noch mehr in einer gegründeten Erweiterung des Gebiets des Verstandes enthalte,"32 A m Schluß v o n "ÜE" bezieht sich Kant knapp auf diese These mit ihrer Aussage einer angeblich nur wiederhergestellten, älteren, die Metaphysik zu großen Ansprüchen berechtigenden Kritik der reinen Vernunft. 3 3
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Phil. Mag., Bd. I, S. 26. Teile der These wiederholt Eberhard a.a.O., S. 391: Kants Theorie ist "entweder ganz oder zum Theil in der Leibnitzischen Theorie enthalten; und man sieht hier wiederum [...] daß alles, was die Kantische Vernunftkritik gründliches enthält, schon in der Leibnitzischen enthalten sey." Phil. Mag., Bd. I, S. 289. ÜE 187; "Leibnizische" im Original gesperrt. Die Stellen, die bei Kant und Eberhard (in etwa) gleich lauten, sind hier von uns kursiviert. - Dieselbe These, doch ohne das "dennoch" im (gekürzten und in indirekte Rede gesetzten) Zitat von Eberhards S. 289 lautet nach Kant, ÜE 226: Eberhard sagt, "daß die Leibnizische Philosophie eben so wohl eine Vernunftkritik enthalte, als die Kantische; denn sie gründe ihren Dogmatismus auf eine genaue Zergliederung der Erkenntnißvermögen, was durch ein jedes möglich sei." ÜE 246. Eine weitere (wie die Formulierung in ÜE 187 ironisierte) Wiedergabe der These liegt bereits im Titel von Kants Streitschrift vor: "Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll".
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2. These und Verfahren
Kants (ausführliche) Version weicht durch ein gewichtiges Detail von der Eberhards ab. Eberhard geht von einer Identität von "Vernunftkritik" und "Dogmatismus" aus und folgt damit seiner Begriffsbestimmung von Dogmatismus. Die Zugehörigkeit von "Dogmatismus" zur "Vernunftkritik" wird durch die Konjunktion "denn" und das Possessivpronomen "ihrer" klar angezeigt: Vernunftkritik bedeutet "Grenzbestimmung der menschlichen Erkenntnis", und diese ist nach Eberhard gleichbedeutend mit "Dogmatismus". Kant hingegen verändert das verbindende "denn" zum adversativen "dennoch". Kritik und Dogmatismus sind damit - seinem Verständnis von Dogmatismus gemäß - scharf entgegengesetzt. (Entsprechend ist auch das Possessivpronomen unterdrückt und durch den Heterogeneität anzeigenden Indefinitartikel "einen" ersetzt.) Durch das "dennoch" ist von Kant schon viel, in nuce sogar alles gegen Eberhard gesagt, denn zumindest von Kant aus gesehen liegt darin eine Absurdität: Kritik und Dogmatismus (eine von Eberhard einfachhin als möglich behauptete "Erweiterung des Gebiets des Verstandes" über den Bereich der möglichen Erfährung hinaus) können nicht zusammen bestehen.34 Eine Position, die beides behauptet, widerspricht sich selbst. Eine Meinung, die beides einem Dritten - wie Eberhard seiner Autorität Leibniz - ansinnt, macht ihn und sich lächerlich.3*
2.3. Zielsetzung des "Philosophischen Magazins '36 Sein eigentliches Anliegen, die Kantische Philosophie zurückzudrängen, kann Eberhard nicht offen zugeben. Das hätte ihn beim Publikum als fanatisch erscheinen lassen.37 Um dieses Ziel zu erreichen, mußte er eine streng sachliche Methode versprechen: Es sei ihm und seinen Mitarbeitern "nur um die Wahrheit zu thun" (S. V), und sie beabsichtigten eine der Philosophie günstige "Periode" (S. 2) auszunützen, "um einige nicht ganz helle Gegenstände ihrem besten Lichte näher zu bringen" (S. 2) aus Furcht, diese "möchte geschwind vorübergehen, und nicht so bald wiederkommen" (S. 2). Vor Abdruck sollten die Beiträge von den Mitarbeitern der Zeitschrift ("einige[n] Freundefn] der Philosophie") sorgfältig geprüft werden (S. 1). Die Leser werden, wenn sie mit den Ausfuhrungen nicht einverstanden seien, zu "Widerspruch" 34 35
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Vgl. ÜE 226; KrV B 7. Nach Riehl: Kritizismus, Bd. I, S. 220, gab es so etwas wie Kritizismus bei Lambert und Tetens, aber gerade nicht bei Leibniz. Riehl läuft freilich mit dieser These Gefahr, ähnlich wie Eberhard, nur bei anderen Autoren, eine "ältere" "Kritik der reinen Vernunft" (ÜE 185) entdeckt zu haben und dabei Kants Satz zu bestätigen "[W]ie viele für neu gehaltene Entdeckungen sehen jetzt nicht geschickte Ausleger ganz klar in den Alten, nachdem ihnen gezeigt worden, wornach sie sehen sollen!" (ÜE 187). Darüber geben v. a. folgende Texte Eberhards Aufschluß: "Vorbericht", Phil. Mag., Bd. 1, S. III-X; "Nachricht von dem Zweck und der Einrichtung dieses philosophischen Magazins, nebst einigen Betrachtungen über den gegenwärtigen Zustand der Philosophie in Deutschland", Phil. Mag., Bd. 1, S. 1-8; "Ausfuhrlichere Erklärung über die Absicht dieses philosophischen Magazins. Veranlaßt durch eine [= Rehbergs] Recension derselben in der Allg. Litt. Zeitung", Phil. Mag., Bd. 1, S. 333-339. Vgl. Phil. Mag., Bd. 1, S. 334 unten.
2.3. Zielsetzung des "Philosophischen Magazins"
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"so bald als möglich" aufgefordert (S. IV). "Belehrung" - "um unsern Irrthum verbessern zu können" - soll somit "sogleich auf dem Fuße folgen können" (S. V). 38 Den Namen Kants erwähnt Eberhard bei seinen Ausfuhrungen über die Zielsetzung des "Phil. Mag." erst ziemlich spät und entschuldigt sich bei seinen Lesern dafür, durch die jüngsten Veränderungen in der philosophischen Landschaft gezwungen zu sein, zu ihnen von Kant zu sprechen ("so werden wir unsere Leser oft mit den Eigentheiten der Philosophie des Königsbergischen Philosophen unterhalten müssen", S. 5). Vorher heißt es verschleiernd, die Autoren der Beiträge "wag[t]en" es, ihre "Gedanken über die neuesten Angelegenheiten in dem Reiche der Philosophie [...] dem Publico vorzulegen" (S. IV). Dabei ist jedoch schon von zwei Seiten ("daß die Meinungen von beiden Seiten besser verstanden würden", S. IV-V) und der Wahrscheinlichkeit des "'Widerspruch[s]" (S. IV) die Rede. Eberhards Aussage "Einige Freunde der Philosphie haben sich mit einander verbunden, die zerstreuten Gedanken, wozu ihnen die neuesten Vorfälle in der philosophischen Welt Gelegenheit geben, sich einander schriftlich mitzutheilen, und diejenigen, die eine sorgfältige Prüfung aushalten, in diesem Magazine aufzubewahren" (S. 1) beschreibt trotz ihrer Stilisiertheit auch den Übergang eines Kommunikationsmittels in ein anderes, die Entstehung einer Zeitschrift geplant war zunächst nur eine Rezensionszeitschrift3' - aus Briefen oder brieflich verbreiteten Aufsätzen. Zu erschließen ist, daß mit der "einen Seite" Kant und seine Anhänger gemeint sind, die "andere Seite", zu der sich Eberhard rechnet, offenbart ihre Identität oder philosophische Richtung nicht, ja es wird der Eindruck erweckt, eine solche fehle überhaupt (wenngleich die indirekte Kennzeichnung als Gegenseite ungewollt Indizien gibt). Diese Gruppe wird nur formal mit "einige Freunde der Philosophie" umschrieben. In Wahrheit waren diese angeblich selbsdosen "Freunde der Philosophie" gegen Kant voreingenommen und hingen dem Leibniz-Wolffischen System an. Der Plural "wir", bzw. "sie" suggeriert das Vorhandensein einer Gesellschaft von einander verbundenen "Freunden der Philosophie", doch angesichts der Tatsache, daß die meisten Beiträge von Eberhard stammen, ist daran zu zweifeln, daß es von Anfang an eine solche Gruppe gab. 40 Auch das spricht formal schon für eine versteckte Tendenz. Der Satz "Auch werden wir alle fremden Beyträge, deren Mittheilung den Lesern willkommen seyn können, mit der größten Dankbarkeit aufnehmen" (S. 8) ist dann nicht im Sinne einer ausgewogenen Informadonspolitik gegenüber dem Publikum zu verstehen, sondern als Ruf an Gleichgesinnte (aus den folgenden Abhandlungen ist die Tendenz des Journals eindeutig zu erkennen) und damit als Versuch, neue "Freunde" gegen Kant zu gewinnen. Darin erwies sich Eberhard durchaus
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Die Gegendarstellungen erwartet man nach S. 334 hauptsächlich in der "A.L.Z." "Wir wollten Anfangs unsern Plan auf bloße Recensionen neuer Schriften einschränken", heißt es S. 7. Später sei man übereingekommen, neben Rezensionen "eigene Aufsätze" zu drucken, die "nicht aus lauter speculativen Abhandlungen bestehen", sondern "bisweilen mit Beobachtungen, Nachrichten, kurzen Betrachtungen Uber Sitten, Gesetze, Begebenheiten, Characteie und ähnliche Gegenstände abwechseln" (S.8). Auch "Gedichte philosophischen Inhalts" sollten darunter sein (ebd.). In der Anfangsphase bestand das Eberhardlager wohl nur aus ihm und Maaß.
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2. These und Verfahren
als erfolgreich, wenn man an die hinzutretenden Autoren Flatt, Schwab, Bendavid und Brastberger zusätzlich zu anderen und einigen Anonymen denkt. Später heißt es (immer noch das eigendiche Anliegen vernebelnd), es würde von "Materien abstruser Speculation" (S. V) oder den "dornigsten Theile[n] des speculativen Philosophie" (S. 2) gehandelt. Diese unter allen Kantgegnern damals beliebte Redeweise sollte - im Fall von "dornig" sogar mit Kants Vokabel41 - gegen den Kritizismus gerichtet sein, trifft aber den Rationalismus nicht minder, sogar auf doppelte Art. Einmal, weil eine Diskussion abstruser - und das sollte wohl heißen: Uberkomplizierter - Spekulationen selbst ein Niveau an Spekulation verlangt, das ebenfalls als abstrus oder dornig zu qualifizieren wäre, zum anderen, weil Kants Kritizismus nachzuweisen versuchte, daß gerade der Rationalismus zwar sehr kunstvoll und diffizil spekuliert - "Spinneweben" lautet dafür Kants Ausdruck (KrV B XXXV) - dabei aber alle Möglichkeit zur Gegenprobe, ob den Gedankenziselierungen ein realer Gehalt entspreche, verliert. Eberhard schränkt allerdings die selbsdose Wahrheitsliebe wieder ein: "[Natürlicherweise" werden die "Untersuchungen auch bisweilen polemischer Art" sein (S. IV). (Schon gegen Rehbergs Rezension wurde dann aber der "Ton[.] des Glimpfes und der Ruhe", S. 334, eingefordert.) Unter dem Vorwand, "auf den kleinen zweideutigen Ruhm, das letzte Wort gehabt zu haben" zu verzichten, will man - doch damit kann man sich jeder Gegenargumentation entziehen -, wo sich "nichts gedeihliches mehr von der Untersuchung erwarten läßt", sie einfach "abbrechen" (S. VI). Ausdrücklich bekennt sich Eberhard zu der "Art, auf dem Wege der Untersuchung zu reisen", die "es sehr wohl erlaubt, daß wir unsere Tagereisen nach Belieben abbrechen und wieder fortsetzen, daß wir vorwärts und rückwärts gehen, und nach allen Richtungen ausbeugen können." 42 Ein anderes Mittel, mit ungleichen Waffen zu kämpfen, liegt in dem Satz verborgen "Ein jeder bringt zur Untersuchung einer Wahrheit seinen eigenen Gesichtspunct mit; je mehr dieser Gesichtspuncte, desto besser" (S. 6). Der Vorsatz, man wolle "alle nöthige Unpartheylichkeit dazu mitbringen" entwertet sich durch das einschränkende Adjektiv "nöthig", das im Text sogar fett und groß gedruckt ist (S. 5). Trotzdem streben die Autoren nach philosophischer Einheit mit Kant: Durch Rede und Gegenrede einer zeitnahen Diskussion "würde man endlich nach und nach sich verständigen, und - da so vieler Streit aus Mißverstand entsteht, - endlich vielleicht auch wol gar vereinigen können" (S. V; vgl. S. VI). Bei Eberhard besteht das Bewußtsein einer "philosophischen Crisis" (S. 5), worunter weniger allgemein die ambivalente Stellung der Philosophie beim Publikum, das sie einerseits begehrt, andererseits durch Popularisierung zu ihrer Verflachung beiträgt, 43 zu verstehen ist, als 41 42 43
KrVBXLIII. Phil. Mag., Bd. I, S. 255 in dem Artikel "Weitere Anwendung der Theorie von der logischen Wahrheit oder der transcendentalen Gültigkeit der menschlichen Erkenntniß". Kant zitiert diese Stelle in ÜE 188. Phil. Mag., Bd. I, S. 1-3.
2.4. Die Methode des Vergleichs
51
die Herausforderung durch "Herr[n] Prof. Kant in Königsberg" (S. 3), dessen "KrV" freilich "so gut den Uneingeweihten als den Eingeweihten"44 anziehe. Das "Phil. Mag." wolle - "mit Vergnügen" - Kants "Scharfsinne Gerechtigkeit widerfahren [.] lassen" (S. 5). Soll damit gesagt sein, man anerkenne durchaus Scharfsinnigkeit bei Kant und wolle somit das bei ihm Positive mit Vergnügen herausstellen? Oder will man sich genüßlich daran machen, Kants Argumentationen als nichtig zu endarven? S. 337 schreibt Eberhard ziemlich unvermittelt: "Da diese [Zeitschrift] eine sehr bestimmte Absicht hat, so werden wir von selbst die Feder niederlegen, so bald diese Absicht erfüllt ist." Offenbart sich darin - die Worte klingen in ihrem Zusammenhang wie eine Drohung - der polemisch-manipulative Impetus gegen Kant vom Vorsatz her oder beziehen sie sich nur harmlos auf die Bemerkung vier Seiten vorher, Ziel sei es, das Spezifische der "KrV" zu untersuchen? Nach der Skizzierung der Situation der Philosophie in Deutschland wird S. 3 von Kant gesagt, er habe "[i]n dieser Tage der Sachen" "den Muth, der Philosophie eine Revolution vorzubereiten, mit der sie entweder alles gewinnen oder alles verlieren sollte". Würde Kant gewinnen, so wäre nach Eberhard alles verloren, nicht nur für sein System, sondern seiner Meinung nach auch für die Philosophie, denn Kants Revolutionierung liefe darauf hinaus, daß die bedeutendsten Gegenstände der spekulativen Erkenntnis - Seele, Welt und Gott - als dialektische Scheingebilde enttarnt und von einer mit sich bereinigten Vernunft zum Verschwinden gebracht würden. Die "Critik der reinen Vernunft" habe auf verschiedene Art in Deutschland Wirkung erzielt: Jungen Philosophen wurde Arbeit abgenommen, weil "Materialien" (S. 4), die sie zu ihrem "Lehrgebäude[.]M verwenden wollten, sich nach Kant dafür nicht eigneten. Skeptiker fänden durch "Bestätigung" "ihre[r] Zweifel" "die Ruhe der Gewißheit" (S. 4) und brauchten sich deshalb auch nicht mehr philosophisch weiter abmühen. Kants reduktionistische Wirkung führte durch dessen, wie sich Eberhard hier positiv ausdrückt, "Kühnheit der Unternehmung", "Zuversicht in der Ausfuhrung", "Subtilität der Untersuchung" und "Neuheit der Terminologie" (S. 5) bei den "meisten" (S. 4) schlicht zu einer "Betäubung", von der "sich noch wenige erholt haben mögen" (S. 5). Wirklichen Auftrieb hätten nur diejenigen durch Kant bekommen, "die ihre Kenntnisse nur aus den neuesten Büchern schöpfen, und bey denen immer der letzte Recht hat" (S. 4).
2.4. Die Methode des Vergleichs Über das durch seine These erzwungene methodische Verfahren der Komparation gibt Eberhard etwas näher hauptsächlich auf S. 6 Auskunft: "[D]ie neue philosophische Sprache [Kants]" soll "mit der alten verglichen werden". Der Nutzen aus einer 44
Phil. Mag., Bd. I,S. 4.
52
2. These und Verfahren
Gegenüberstellung läge in mehreren Punkten: Man könne "manchem Wortstreite zuvorkommen", "manchem Mißverstande ein Ende machen" und "manche Dunkelheit in den Kantischen Schriften45 heben". Das komparative Verfahren ("das Alte neben das Neue stellen") ermögliche ein genaueres Urteil über "Nothwendigkeit und Gränzen der philosophischen Reformation" und, "den Werth von beiden richtiger zu schätzen". Dem "Muthwillen", "bald das Eine, bald das Andere, ohne beides zu kennen", zu verwerfen, könne begegnet werden. Schließlich könne die "Defensión der [.] Metaphysik" übernommen werden. Im letzten Punkt, dem freilich interessantesten, wird Eberhard ganz augenfällig Partei. Er will - als Herausgeber und Autor - Advokat, kein unbeteiligter Prozeßbeobachter oder ein die Gründe und Gegengründe abwägender Richter sein. In neun Zeilen stecken hier Ansätze zu komplexen teils widersprüchlichen Gedanken:46 Verteidigt er die "bisherige" oder die "künftige" Metaphysik? Er will seinen Worten nach die bisherige "zu Gunsten einer künftigen" Metaphysik verteidigen. Das hieße aber, daß er sich wenigstens partiell der Aburteilung der bisherigen anschließt, die ihre Gegner bewirken wollen. Andererseits kann man nur etwas gegenwärtig Bestehendes, das ja auch als "Übelthäter" angeklagt wird und vor Gericht erschienen ist, verteidigen. Also muß Eberhard, jedenfalls, wenn er das Wohl seines Mandanten verficht, die bisherige in Schutz nehmen, ob es ihm gefällt oder nicht. Wie soll aber dann die künftige aussehen? Soll sich die bisherige aus sich selbst heraus läutern und damit selbst zugeben, sie sei doch nicht ohne Makel? Es ist auch nicht klar, ob es um die "Defensión" von etwas geht, das - wenigstens bis zum Urteil - als unschuldig und deshalb verteidigbar betrachtet werden kann oder bloß noch darum, einer Sache "Gnade zu verschaffen", der nur übrig bleibt, um Erbarmen zu flehen, das zudem die Wissenschaft unmöglich schenken kann, wollte sie sich damit nicht selbst zerstören. Eberhard appelliert an zwei verschiedene Instanzen, einerseits an die richterliche "Gerechtigkeit" (er muß daher glauben, die Sache der bisherigen Metaphysik lasse sich wenigstens im wesendichen rechtfertigen), andererseits an einen boßen Gnadenakt. Merkwürdig ist auch, wen Eberhard als Richter im Auge hat. Wegen fehlender näherer Angaben kann nur aus dem Kontext geschlossen werden, und da ergibt sich, daß er die Leser, denen er "erleuchtete Unparteylichkeit" zumutet, fiir die "befugten Richterf.]" hält.47 S. 336 furchtet er aber selbst, der Richter werde durch die Verhandlung - wo abstruse Spekulationen und spitzfindige Streitigkeiten diskutiert werden müssen - ermüden. Unparteilich mag das Publikum sein, aber nach Eberhards in diesem Zusammenhang lobend geäußerter Meinung hält es sich gern an den "bloßen gesunden Verstand[..]" 45
46 47
Später wird präzisiert, "insonderheit'' sollte in den Untersuchungen des "Phil. Mag." "das Unterscheidende in des Hrn. Prof. Kant Kritik der reinen Vernunft" begriffen werden (S. 333) und noch genauer, man eröffne "eine gründliche und ruhige gemeinschaftliche Untersuchung der Grundsätze der Kantischen Vernunftkritik" (S. 334). Dadurch nehme man "die so oft wiederholte billige Aufforderung der Vertheidiger derselben" (S. 334) an. S. 6 unten. Vgl. S. 298,306,393,405.
2.4. Die Methode des Vergleichs
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(S. 336), der beim Entscheid über den Wert der alten Metaphysik wohl schwerlich ausreichen würde, den guten Willen zur Unparteilichkeit in ein gerechtes Urteil umzusetzen. - Am Schluß ist von Eberhards hehrem Anspruch, die "Defensión" der Metaphysik zu übernehmen, nur die bescheidene Hoffnung geblieben, "ihr sogar vielleicht noch hie und da [...] Gnade zu verschaffen". Eberhard sinnt Kant an, die Metaphysik überhaupt nicht bloß aburteilen, sondern gleich hinrichten zu wollen. (Mit den "Anklägern" sind zunächst sicherlich zusammen mit Kant auch Locke und Hume ganz grundsätzlich gemeint, freilich ist es dann Eberhard im speziellen gegen Kant zu tun.) Darin liegt aber ein schweres Mißverständnis. Etwas, was schon als Naturanlage in die Menschenvernunft gelegt ist (KrV B XVI), kann Kant gar nicht abschaffen, und er will es auch nicht. Es geht ihm nur darum, die Metaphysik von angemaßten Erkenntnisansprüchen wegzuholen und sie auf den "sicheren Gang einer Wissenschaft" (KrV B XXX) zu bringen. Er beseitigt damit keinen wirklich vorhandenen Besitz, sondern zerreißt nur "Spinneweben" (KrV B XXXV). Wo sich die Spekulation - wie das der Dogmatische Rationalismus erstrebt über die Grenze der Erfährung hinauswagt, wird der Gebrauch der Vernunft nicht erweitert, sondern ganz im Gegenteil verengt, denn, was unter der Beschränkung der Sinnlichkeit im Phänomenalen, d. h. dem raum-zeidich bestimmten Bereich möglicher Erfahrung, gilt, wird verabsolutiert und auf das Übersinnliche übertragen. 48 Die vermeintliche Erweiterung, die die bisherige Metaphysik leisten zu können glaubte, erweist sich als Beschränkung und die Beschränkung, die Eberhard Kant unterstellt, als eigentliche Erweiterung: Ich kann also Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zum Behuf des nothwendigen praktischen Gebrauchs meiner Vernunft nicht einmal annehmen, wenn ich nicht der speculativen Vernunft zugleich ihre Anmaßung überschwenglicher Einsichten benehme, weil sie sich, um zu diesen zu gelangen, solcher Grundsätze bedienen muß, die, indem sie in der That bloß auf Gegenstände möglicher Erfährung reichen, wenn sie gleichwohl auf das angewandt weiden, was nicht ein Gegenstand der Erfahrung sein kann, wirklich dieses jederzeit in Erscheinung verwandeln, und so alle praktische Erweiterung der reinen Vernunft für unmöglich erklären. Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen, und der Dogmatismus der Metaphysik, d.i. das Vorurtheil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft fortzukommen, ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens, der jederzeit gar sehr dogmatisch ist.49
Nach Kant trifft der Verlust, den die spekulative Vernunft "an ihrem bisher eingebildeten Besitze erleiden muß" (B XXXI), nur das "Monopolder Schulen" - etwa des von Eberhard verteidigten Leibniz-Wolffischen Lehrgebäudes -, nicht das - für Eberhard in den Lesern seines Magazins repräsentierte 50 - "Interesse der Menschen", die solcher "subtiler Spekulation" nie bedurft haben, um im Glauben an Gott mit der Hoffnung auf ein künftiges Leben im Bewußtsein der Freiheit ihre Pflicht zu tun. 5 1 48 49 50 51
Vgl. KrV B XXIV-XXV. KrV B XXDC-XXX. S. 336 KrV B XXXII. Vgl. auch KrV B XXXIII: "die arroganten Ansprüche der Schulen".
54
2. These und Verfahren
Eberhard bedenkt nicht, daß seine Methode des Vergleichs in dreierlei Hinsicht Gefahr läuft, sich selbst zu entwerten: Sie tendiert dazu, das Neue schon vom Alten her zu verstehen, bzw. zu interpretieren (typisch dafür ist Eberhards Rede von durch Kant beigebrachten Teilaspekten, Modifikationen und Wiederholungen). Sie mißt und bewertet das Neue am Maßstab des Alten, ohne darauf zu verfallen, diesen selbst zu hinterfragen (dazu paßt Eberhards an Kant gerichteter Vorwurf des Irrtums und der Abweichung). Schließlich werden voraussetzungsreiche Argumentationen auf isolierte Resultate reduziert, durch die sachlich wenig gewonnen wird.52
2.5. Kant über Eberhards Vorgehen Kant hält Eberhard nicht nur für polemisch (ÜE 221), sondern auch für gegenüber der kritischen Partei wie dem Publikum unaufrichtig und manipulativ.53 Obwohl Eberhard nach Kant durchaus in der Lage ist, eine Strategie zu seinem Vorteil aufzubauen,54 sieht er in ihm das gerade Gegenteil eines "Selbstdenkers".55 Durch seinen Rückgriff auf Leibniz versuche er standessen ein "Widerlegen reiner Vernunftsätze durch Bücher , die, wie Kant ergänzt, "doch selbst aus keinen anderen Quellen geschöpft sein konnten, als denen, welchen wir eben so nahe sind, als ihre Verfasser".56 In "ÜE" schildert Kant Eberhards Vorgehen mit deudichen Worten: Eberhard verfährt nach dem Beispiel "jenes künstlichen Mannes, der aus Sand einen Strick drehen konnte".57 "Wenn jemals einem Schriftsteller Verfälschung eines Begriffs (nicht Ver52
53 54
55
56 57
In konzentrierter Form fuhrt Eberhard die Methode des Vergleichs in einer Reihe von Übersichten durch. Hier werden Kantische Thesen solchen von Leibniz abstrakt gegenübergestellt: Phil. Mag. I, 20-22 [hier nur Leibniz-Wolff]; 257-258; 284-288; 393-404; II, 58-75; 380-383 [Liste der von Eberhard angeblich bewiesenen Sätze]; 431-435; 486-492; III 70-82; 212-216. ÜE 188, 195,201,238. ÜE 194, 200/201,203, 218, 234. In ÜE 189 schreibt Kant: "Es ist schlimm mit einem Autor zu thun zu haben, der keine Ordnung kennt, noch schlimmer aber mit dem, der eine Unordnung erkünstelt, um seichte oder falsche Sätze unbemerkt durchschlüpfen zu lassen." Nach Kant liegt bloße "cognitio ex datis" ("historische" Erkenntnis im Gegensatz zur "cognitio ex principiis" oder "rationalen Erkenntnis") vor, wenn jemand ein philosophisches System, "z. B. das Wolffischt lediglich "gelernt hat", denn "er weiß und urteilt nur so viel, als ihm gegeben war". "Er bildete sich nach fremder Vernunft [...], nicht aar Vernunft" (KrV B 864). ÜE 187. Vgl. auch Kant an Reinhold vom 19.5.1789 (AK XI, S. 42): "Er [=Eberhard] hat, wie es überhaupt seine Gewohnheit ist, anstatt der Sache selbst durch eigene Untersuchung nachzugehen, Bücher durchgeblättert, die er nicht verstand [...]". ÜE 192. Kant spielt dabei auf eine Figur aus Samuel Buders (1612-1680) parodisüschem Epos "Hudibras" (erschienen in drei Bänden 1663-1678; deutsch von J. J. Bodmer, 1765) an, einen Mann, der mit Sand gefüllte Därme als Stricke verkauft (siehe Part I, Quito I, Vers 157 ff.). - Interessant ist, daß Kant später das gleiche Bild ("wie Hudibras, aus Sand einen Strick drehen zu wollen") auf die selbständigen Versuche von Reinhold und Fichte in seinem Brief an Kiesewetter vom 19.12.1798 bezieht (AK XII, S. 256). Konkret bedeutet das, daß Kant (um hier von Reinhold abzusehen) Fichtes Wissenschaftslehre und Eberhards Operieren mit Begriffen, denen keine korrespondierende Anschauung beigegeben ist, gemeinsam als "bloße Logik" ("Erklärung in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre", AK XII, S. 396) qualifiziert.
2.5. Kant über Eberhards Vorgehen
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wechselung, die auch unvorsetzlich sein kann) mit Recht ist vorgeworfen worden", so ist es etwa bei Eberhards Begriff des "Nichtsinnlichen" (ÜE 201). Er begeht mit seiner "Doppelsprache" (ÜE 206) "absichtliche Berückung des ungeübten Lesers", um ihm etwas "unterzuschieben" (ÜE 201) und treibt so "ein bloßes Spiel mit Worten, die durch ihren Doppelsinn einen Augenblick hinhalten sollen" (ÜE 204). Eberhard bemerkt gewiß die bei ihm so offenbar vorhandenen Widersprüche, aber er "verklebt und übertüncht" sie, um sie "unmerklich zu machen" (ÜE 203). "[D]en Sinn der Kritik" sieht Eberhard vielfach nicht ein oder - was Kant für wahrscheinlicher hält - er "miß[..]deutet" ihn. 58 Es ist ihm "Verdrehung der Sätze der Kritik" und "Mißdeutung und Verwechslung logischer Sätze" (ÜE 214) mit materialen vorzuwerfen. Er begeht "künstliche[.] Wendungen, um statt dessen, wovon die Frage ist, etwas anderes unterzuschieben, wornach kein Mensch fragt" (ÜE 193). "Wir haben es mit einem künstlichen Manne zu thun, der etwas nicht sieht, weil er es nicht sehen lassen will" (ÜE 207). So begeht er "Täuschung" (ÜE 208; vgl. 238), keine "bloße Kinderei" (ÜE 209). Kant zögert aber auch nicht, Eberhard in einigen Punkten "gänzliche[.] Unkunde der Frage, worauf es ankommt" (ÜE 211) zu bescheinigen. "Was soll man [.] an Herrn Eberhard bezweifeln: die Einsicht oder die Aufrichtigkeit?" (ÜE 214). Von Eberhard wird "alles, was aus der Kritik in seine Hände kommt, vorher verdreht und verunstaltet, um es einen Augenblick im fälschen Lichte erscheinen zu lassen" (ÜE 233). Mit seinem sophistischen Verfahren schadet sich Eberhard jedoch schließlich und aufs Ganze gesehen selbst: "Allein wie es bei Listen zuzugehen pflegt, so hat sich Herr Eberhard durch die seinigefn] selbst verwickelt".59 In Kants "Vorarbeiten" hingegen finden sich kaum Aussagen dieser Art. Die beinahe einzige Stelle lautet: Von dieser Neuen hevristischen Methode aus Begriffen von denen es noch nicht fest steht ob sie etwas oder nichts vorstellen Erkenntnisse herauszubringen macht H . E. nun Gebrauch welches ungefähr mit der Manier jenes Künstlers zu vergleichen ist der aus Sand einen Strick drehen konnte. 6 0
Die Formulierungen aus Kants frühen Briefen an Reinhold fallen noch krasser aus, als später gegenüber der Öffentlichkeit in der Streitschrift:61 Im ersten Stück des "Phil. Mag." spricht Eberhard mit "übermüthige[m] Charlatanston" nach Kant von der "Critik" und den von ihr "bewirkten Sensationen" "wie ein Mann, der fürs Theater, oder die Toilette schreibt, von seinem Nebenbuhler", und "als einer der satt ist, dem Spiele länger zuzusehen, entschließt er [^Eberhard] sich, demselben ein Ende zu machen" (S. 33). Der "in keinem Stücke aufrichtige Mann versteht aus dem Grunde alles, sowohl worinn er selbst schwach, als wo sein Gegner stark ist, in ein zweydeutiges Licht [- mit "Hinterlist" -] zu stellen" (S. 34). Er begeht "anfangliche Verirrungen, 58 59 60 61
ÜE 207; vgl. auch ÜE 210. ÜE 195; vgl. ÜE 232. AK XX, S. 359; vgl. zum Motiv "Strick" die philologisch schlechtere Version in ÜE 192. Kant an Reinhold vom 12. und 19.5.1789 (AK XI, S. 33-48). Im folgenden Absatz weiden oben im Text in Klammern die Seitenzahlen des XI. Bandes der Akademie-Ausgabe angegeben.
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2. These und Verfahren
nachher vorsetzliche Blendwerke" (S. 35) und wird damit zu einem "Taschenspieler der Metaphysik" (S. 36). Im zweiten Stück wagt Eberhard "eine wirkliche hämische Bosheit, doch zugleich mit Verachtung seiner Unwissenheit" (S. 39). Insbesondere wirft ihm Kant - abgesehen von seiner oft zweideutigen Wortwahl - das Verfahren vor, Zitate zu falschen und verweist dabei auf einige Stellen im "Phil. Mag.".62 "[D]a wird er ein wirklicher Falsarius" (S. 47). Auf "Falsarius", den lateinischen Ausdruck fiir einen betrügerischen Urkundenfälscher, ist wohl auch die Frage gemünzt, die wenig später auftaucht: "Wie nennt man den, der ein zu einem Rechtsstreit gehöriges Document vorsätzlich verfälscht?" (S. 47). So hart wie Eberhard fuhr Kant nur noch einen an - ein Jahrzehnt später Fichte: Es gibt [...] aber auch bisweilen betrügerische, hinterlistige, auf unser Verderben sinnende und dabey doch die Sprache des Wohlwollens fuhrende [...] sogenannte Freunde, vor denen und ihren ausgelegten Schlingen man nicht genug auf seiner H u t h seyn kann. 6 3
Andererseits heißt es Ende 1790 in der "Neuen nürnbergischen gelehrten Zeitung": Wer sich für die Geschichte und Polemik unserer neuesten Philosophie interessirt, der findet noch immer in diesem Journale [gemeint ist das "Philosophische Magazin"] die wichtigsten und scharfsinnigsten Angriffe auf das Kantische System. [...] [J]eder unpartheyischer Prüfer wird die darinnen [der Rezensent bezieht sich auf Eberhards Artikel im "Phil. Mag.", Bd. III, Stück 3] gebrauchten Waffen mehr scharf als stumpf finden. 6 4
2.6. Gründe fiir Kants Antwort Kant ist auf argumentativer Ebene von der Uneinnehmbarkeit der kritischen Bastion Uberzeugt. So schreibt er im Mai 1789 an Reinhold: Im Grunde kann mir die allgemeine Bewegung, welche die Critik nicht allein erregt hat, sondern noch erhält, sammt allen Allianzen, die wieder sie gestiftet werden (wiewohl die Gegner derselben zugleich unter sich uneinig sind und bleiben werden), nicht anders als lieb seyn; denn das erhält die Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand. Auch geben die unaufhörliche Misverständnisse oder Misdeutungen Anlas, den Ausdruck hin und wieder bestimmter zu machen, der zu einem Misverstande Anlas geben könnte [...]. 65
Wegen Eberhards manipulativem Verfahren, durch das die Öffentlichkeit zu vielleicht nicht ganz unbeträchdichen Teilen davon abgehalten werden konnte, sich auf
62 63 64 65
S. 19 bis 20, 301,290 und 298. öffentliche Erklärung Kants in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre vom 7. August 1799; AK XII, S. 397. Rezension von Bd. III, StQck 3 des "Phil. Mag." in der "Neuen nümbergischen gelehrten Zeitung", XCVI. Stück, 30. November 1790, Nr. 302, S. 762. In der Rezension des 2. Stücks des IV. Bandes finden wild in etwa das gleiche Urteil (a.a.O., XXI. Stück, 13. März 1792, Nr. 62, S. 165). Kant an Reinhold vom 19.5.1789 (AK XI, S. 48).
2.6. Gründe f ü r Kants Antwort
57
Kants wirkliche Grundgedanken einzulassen,66 mußte Kant seine Attacken auf pragmatischer Ebene fiir wichtiger nehmen, als sie es unter rein inhaltlich-philosophischen Gesichtspunkten nach Kants Einschätzung waren,67 zumal, da Eberhard als Widersacher nicht alleine operierte. Schon in dem oben zitierten Brief an Reinhold hält es Kant deshalb fiir geraten, gegen den "Mann, der aus Falschheit zusammengesetzt ist", - nicht zuletzt zum Schutz der "beqveme[n] Leser" vor Mißleitung - "gleich zu Anfang" einzuschreiten, was "Wohlthat fürs gemeine Wesen"68 sei. Gerade weil die Kernpunkte des kritizistischen Ansatzes gering beachtet oder maliziös uminterpretiert wurden, lag darin im Gegensatz zur argumentativen auf pragmatischer Ebene für den äußeren Erfolg des Kritizismus eine gewisse Gefahr.69
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Reinhold, Jakob und Born sahen durchaus diese Gefahr "Das Lesende Publikum wird durch die Fechterstreiche der Eberhaide, Weishaupte, Flatte u.s.w. wirklich schüchtern gemacht, die Sache selbst erhalt ein widerliches abschreckendes Aussehen, und die in so vielen Rücksichten unentbehrliche Reformation [der Philosophie] wird verzögert [...] Ein sehr beträchdicher und achtungswehrter Theil glaubt Sie wären widerlegt, und kömmt dadurch um alle die herrlichen Vortheil, die er duch die Kritik für Kopf und Hera ziehen könnte" (Reinhold an Kant vom 9.4.1789, AK XI, S. 18). "Denn, leider! giebts wenig, die denken können, und sich also auf Eberhards Gewäsch verlassen, und dem treulich nachbeten" (Born an Kant vom 10.5.1790, AK XI, S. 173). Jakob dachte - wie aus dem Kontext des Briefes hinreichend erhellt - auch an Eberhaid, als er Kant am 24. Januar 1792 mit den Worten tröstet: "Zuletzt wird doch wohl die Wahrheit den Sieg davon tragen [...]" (AK XI, S. 320). Im Gegensatz dazu hielten andere Eberhards Einfluß für gering: Aus dem Munde des Marburger Professors Bering, eines Kant-Verehrers, vernahm Jachmann, "im Publikum" habe Eberhard "wenig credit" (Johann Benjamin Jachmann an Kant vom 14. 10.1790, AK XI, S. 221). Der schlesische Oberkonsistorialiat Krickende liefert auch nur ein indirektes Zeugnis: Der frisch nach Halle ernannte Prof. Peuker, ein Kantianer, habe geäußert, er mache "in Halle ein Glück", "dessen sich HE Prof: Eberhaid nicht rühmen" könne (Samuel Krickende an Kant vom 11.8.1794, AK XI, S. 521). Aus demselben Brief ist zu erfahren, daß Peuker in Halle tatsächlich scheiterte. Auch Jachmann referierte nur ein fremdes Urteil, in dem zweifellos aus Höflichkeit ihm und Kant gegenüber Eberhards Bedeutung tendentiell heruntergespielt wurde. Schon am 28.12.1787 drückte sich Kant in einem Brief an Reinhold sehr selbstsicher aus: "Ich darf, ohne mich des Eigendünkels schuldig zu machen, wohl versichern, daß ich, je länger ich auf meiner Bahn fortgehe, desto unbesorgter werde, es könne jemals ein Widerspruch, oder sogar eine Alliance (dergleichen jetzt nicht ungewöhnlich ist) meinem System erheblichen Abbruch thun. Dies ist eine innigliche Ueberzeugung [...]" (AK X, S. 488). Etwa ein Jahr nach dieser Äußerung stellte Eberhard dann tatsächlich eine "Alliance" gegen Kant auf. AK XI, S. 47. Dieser Einschätzung widersprechen Kants Worte am Schluß der Streitschrift (ÜE 246) keineswegs. Dort heißt es: "Übrigens mag die Kritik der leinen Vernunft, wenn sie kann, durch ihre innere Festigkeit sich selbst weiterhin aufrecht erhalten. Verschwinden wird sie nicht, nachdem sie einmal in Umlauf gekommen, ohne wenigstens ein festeres System der reinen Philosophie, als bisher vorhanden war, veranlaßt zu haben." Kants Urteil wirkt hier nicht bloß aus stilistischen Gründen bescheiden. Er ist zwar (was zur argumentativ-syttematischen Ebene gehört) von ihrer "inneren Festigkeit" überzeugt, äußert sich aber über einen pragmatischen Erfolg eher pessimistisch, direkt eigentlich überhaupt nicht. Nur indirekt erfahren wir etwas, wie sich Kant - freilich im ungünstigsten Fall nur - die Aufnahme seiner Philosophie vorstellt, nämlich so, daß sie dazu beitrage "ein festeres System der reinen Philosophie, als bisher vorhanden war" zu schaffen. Damit hält aber Kant - für den schlimmsten Fall - seinen Ansatz nur in allerallgemeinster Form Air in der philosophischen Landschaft realisierbar. Die Worte "Verschwinden" und "in Umlauf gekommen" beziehen sich auf die pragmatische Ebene der Rezeption. Auf argumentativer Ebene muß ein System, das "innere Festigkeit" hat, sich notwendig aufrechterhalten, auch wenn kein empirisch vorhandener Philosoph es fiir sich akzeptiert.
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2. These und Verfahren
Es war unverkennbar, daß Eberhard ein breiteres Publikum gegen Kant einnehmen wollte. Das Medium Zeitschrift war dafür schon grundsätzlich bestens geeignet, hinzu kam, daß er durch den Einbau leichterer Stücke, etwa von Gedichten oder Erzählungen, auf unterhaltsame Art beeinflussen wollte.70 Eberhards Zielsetzung muß von daher als primär pragmatisch bezeichnet werden,71 und Kant rechtfertigt in "ÜE" seine Intervention damit, es sei fiir diesmal nur geschehen, "um ein gewisses Benehmen, das etwas Charakteristisches an sich hat [...] bemerklich zu machen".72 Damit ist seinerseits ausdrücklich die pragmatische Ebene in den Vordergrund gestellt.73 Da es Eberhard nicht darum ging, ganz allgemein seine Philosophie systematisch darzustellen oder weiterzuentwickeln, sondern Kant zu relativieren, dürfen nicht zu hohe Maßstäbe an seine Abhandlungen angelegt werden. Prinzipiell gilt das auch fiir Kants "ÜE", wenn man sie betont von ihrem pragmatischen Anlaß her als streitige Entgegnung begreift. Dennoch vermag sie durchaus Eigengewicht auf der reinen Theorieebene zu entwickeln. Ihren Aussagen kommt dabei sogar transzendental-kritische Wertigkeit zu; sie gehören zu Kants Grundlegungsargumentation. Kants zweite Hauptarbeit gegen das Eberhard-Lager, die "Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik", ist hingegen der Absicht nach nur mehr doktrinal, wie Kant in einem Brief an Kästner, sie von "ÜE" abgrenzend, ausfuhrt.74
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Auch hier ging es durchaus um Themen der Kantischen Philosophie; vgl. etwa die Erzählung "Das feste Land", Phil. Mag., Bd. III, S. 349-357. Eberhards Schüler von Eberstein bestritt das und erweckte den Eindruck, als hätte das "Phil. Mag." die Leibniz-Wolffische Philosophie auf argumentativer Ebene weitergebracht. Dabei nennt er jedoch nur die Themen "transzendentale Gültigkeit der höchsten Vernunftgesetze" (gemeint sind die Sätze vom Grund und vom Widerspruch) und die "mathematische Gewißheit" (Eberstein: Geschichte, Bd. II, S. 225-227). Die Antworten der Kant-Seite wertete er hingegen als weitgehend polemisch ab (a.a.O., S. 219). ÜE 246. - Zu beachten ist, daß auch der zweite Hauptschauplatz der Kontroverse, die Preisschriften, ebenso wie Kants Streitschrift und die Zeitschriften (gemeint ist hier die Eberhardische Konzeption einer sich an ein breiteres Publikum wendenden Zeitschrift) den primär pragmatischen Charakter der Kontroverse belegt. Daß die Kontroverse fiir Kant hauptsächlich pragmatische Bedeutung hatte, wird vor jeder inhaltlichen Analyse nicht zuletzt durch die Tatsache bestätigt, daß die dritte Originalausgabe der "KrV", die Kant 1790 vorbereitete, im Wortlaut von der zweiten nicht abwich. Hätte Eberhard tatsächlich Schwachstellen ermitteln können, so hätte Kant seiner Gewohnheit gemäß sicher Präzisierungen am Text vorgenommen, ähnlich wie er mit den Verbesserungen zur zweiten Ausgabe dem Idealismusvorwurf vollends den Boden entziehen wollte. Das geschah jedoch 1790 genauso wenig wie bei der nächsten Ausgabe der "KrV" 1794. - Kant verschmähte es nicht, zur Entfaltung oder Vertiefimg seines systematischen Gedankens sich auf aktuelle Einwände zu beziehen: Die "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" ist auch als Antikritik zu Garves "Cicero" zu verstehen. Auch fiir die Entstehung der "Kritik der praktischen Vernunft" spielte das Bedürfnis Kants eine Rolle, Kritikern, etwa Tittel, Feder, Pistorius und Wizenmann, erläuternd entgegenzutreten. Kant an Kästner vom Mai 1793, AK XI, S. 427. Deutlicher wird die Aussage ("in einem doctrinalen Vortrage") in dem Entwurf zu diesem Brief, AK XIII, S. 344. Es ist G. Lehmanns Verdienst, auf die Bedeutung dieses Briefes und seines Vorentwurf! im Zusammenhang mit der Preisschrift hingewiesen zu haben (AK XX, S. 481).
3. Diskussion der Literatur Mit Nachdruck wies Gerhard Lehmann 1941 darauf hin, daß das "Ganze" des "Kampfes Kants mit Eberhard" "noch immer nicht grundsätzlich genug" gewürdigt worden sei.1 Daran hat sich bislang wenig geändert. Zwar gibt es einige Arbeiten dazu - die wichtigste stammt von Henry E. Allison2 aber sie beschränken sich de facto meist auf Teile der Gesamtkontroverse und greifen nur einzelne der im Spiel befindlichen Hauptprobleme heraus. Ein Aufsatz von Moltke S. Gram3 trägt zwar im Titel den Namen der Auseinandersetzung, ist aber in seinem (technisch gewiß sehr elaborierten) Argumentationsgang, der weit mehr mit Strawson als mit Kant und Leibniz zu tun hat, sachlich nur marginal mit ihr verknüpft.4 In den mit Allison und Gram signifikant vertretenen amerikanischen Horizont gehört auch die kommentierende Mitteilung eines frühen Eberhard-Textes zu Kants Raum-Zeit-Theorie. Alexander Altmann war, wie oben erwähnt, auf ihn gestoßen.5 Daß sich Angelsachsen mit Kants Antwort auf Eberhard beschäftigt haben, hängt sicherlich mit ihrem Interesse dafür zusammen, wie nahe sich Kant der empiristischen Antithese zu Leibniz/Wolff durch die von Eberhard provozierte Abgrenzung vom Dogmatischen Rationalismus darstellen konnte. Allison weist darauf hin, daß in seinem Kulturraum Kant bislang zu einseitig als Gegner Humes rezipiert wurde.6 Allison wurde durch Lewis White Beck (und dessen Auseinandersetzung mit A. O. Lovejoy) zur Eberhard-Problematik gefuhrt.7 Die Ausfuhrungen in der Einleitung zu seiner 1
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Die Stelle findet sich in dem von Lehmann zusammengestellten "Anhang" zu dem von ihm herausgegebenen Bd. XX von "Kants gesammelten Schriften" (AK XX, S. 480). Die zitierten Worte sind im Original sogar gesperrt gedruckt. Er bezieht sich dabei auf einige Anmerkungen Hans Vaihingen in dessen "Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft", Stuttgart 1892, Bd. II, S. 533-540. Henry E. Allison: The Kant-Eberhard Controversy. An English translation together with supplementary materials and a historical-analytic introduction of Immanuel Kant's "On a Discovery According to which Any New Critique of Pure Reason Has Been Made Superfluous by an Earlier One./ "Über eine Entdeckung [...]". Baltimore and London 1973. Moltke S. Gram: The Crisis of Syntheticity: The Kant-Eberhard Controversy. In: Kant-Studien 71 (1980) 155-180. Eberhards Position wird sogar falsch dargestellt: S. 163 und 167 werden als dessen Rekonstruktion der beiden Urteilstypen synthetisch/analytisch zwei Versionen des analytischen Urteils vorgestellt. - Die "Krise der Synthetizität" entstand nach Gram nicht, wie man aus dem Titel vermuten könnte, durch Eberhards Einwände, sondern liegt schon in Kants - vorgeblicher! - Erklärung des synthetischen Urteils enthalten. Sachlich unrichtig ist auch - vgl. unser Kapitel 4.5.6 -, daß Gram Kants logische Beschreibung der Unterscheidung der Urteile in analytische und synthetische (gemäß ÜE 228/229) als transzendentale ausgibt (a.a.O., S. 159/160). A. Altmann: Eine bisher unbekannte frühe Kritik Eberhards an Kants Raum- und Zeitlehre. In: KantStudien 79 (1988)329-341. Allison: Controversy, S. X, 104. Allison: Controversy, S. XI/XII. Allison listet die Veröffentlichungen von L. W. Beck nicht auf, in denen dieser besonders auf die Bedeutung des Streits hinweist. Es handelt sich dabei erstens um Artikel
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3. Diskussion der Literatur
Übersetzung von "ÜE" ins Englische stützen sich stark auf die Kant-Eberhard-Problematik betreffende Teile von H. J. de Vleeschauwers "La déduction transcendantale dans l'oeuvre de Kant".8 Überhaupt zeichnet seine Methode aus, daß er nicht textund argumentanalytisch von dem Eberhardmaterial ausgehend einen Überblick zu geben versucht, sondern von der Sekundärliteratur zu Kant her - Allison verweist selbst auf die Bedeutung einer Arbeit von Daval und reagiert u. a. auf Kemp Smith und eine Monographie von Gram9 - sich mit dem Eberhard-Lager befaßt. Sein Blickwinkel ist somit stark von "ÜE" und der Kantforschung geprägt. Es liegt dann nahe, sich Einzelfragen zu widmen, die wegen der zugleich vorkommenden Ausblendungen anderer Diskussionspunkte eher in die Kontroverse importiert erscheinen, als daß sie aus ihr herauspräpariert worden wären. Überdies wirken sie manchmal trivial oder am eigentlichen Problem vorbei, etwa, wenn mit viel Aufwand nachgewiesen werden soll, transzendentale Schemata seien reine Anschauungen,10 oder Anschauungen seien der Inhalt und nicht bloß der Gegenstand synthetischer Urteile,11 und bei Kant fänden sich keine zwei inkompatiblen Theorien der Prädikation.12 Die von uns anhand der
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in dem Sammelband "Studies in the Philosophy of Kant" (Indianapolis 1965; unveränderter Nachdruck: Westport 1981) nämlich um die Beiträge "Can Kant's Synthetic Judgements Be Made Analytic?", "Kant's Theory of Definition", "On the Meta-Se man tics of the Problem of the Synthetic A Priori" und "Lewis' Kantianism", zweitens um Beiträge in dem Sammelband "Essays on Kant and Hume" (New Haven 1978), und zwar um die Aufsätze "Lovejoy as a Critic of Kant" und "Analytic and Synthetic Judgements before Kant". Wichtig flir L. W. Becks Interesse fllr Eberhard scheint Arthur Oncken Lovejoys (1873-1962) KantKritik zu Beginn des 20. Jhd. gewesen zu sein. Sie manifestiert sich vor allem in Lovejoys Artikel "Kant's Antithesis of Dogmatism and Criticism", in: Mind (1906), wiederabgedruckt bei: Gram (Hg.): Disputed Questions (2. Aufl.: Atascadero 1984), S. 107-132. Zwei andere relevante Artikel von Lovejoy finden sich ebenfalls bei Gram, a.a.O., wiedergegeben: "On Kant's Reply to Hume", a.a.O., S. 386-410, und "Kant's Classification of the Forms of Judgement", a.a.O., S. 371-385. De Vleeschauwer: Déduction, Bd. III: Paris 1937, S. 370-443. Daval, Roger: La métaphysique de Kant. Paris 1951; Kemp Smith, Norman: A Commentary to Kant's Critique of Pure Reason. 2. Aufl. New York 1962; Gram, Moltke S.: Kant, Ontology, and the A Priori. Evanston 1968. Allison: Controversy, S. 86-88. Reine Anschauungen müssen zwar, wie Allison a.a.O., S. 85, richtig feststellt, von Bildern und Formen der Sinnlichkeit unterschieden werden, es wäre aber zu einseitig, sie mit transzendentalen Schemata einfach gleichzusetzen ("pure intuitions are transcendental schemata", a.a.O., S. 86 und 88), schon weil dadurch alle schematische (d. h. mathematische) Konstruktion sich auf oberster transzendentaler Ebene bewegen wQrde. Der Begriff der reinen Anschauung muß also weiter sein als der eines transzendentalen oder mathematischen Schemas. Allison: Controversy, S. 68, 69. Die Anschauung speziell als das Dritte oder Vermittelnde, das nicht bloß dem Prädikat, sondern beiden Hauptbegriflfen im Satz zugrundeliegen muß, wird von Allison wohl deshalb nicht tiefer analysiert, weil dies auch "ÜE" im Gegensatz zu den relevanten Parallelen der "KrV" nicht macht. Schon durch die bloße Beschränkung auf die Rede vom "Dritten" würde die Kantische Theorie mit ihren Bedingungsinstanzen Apperzeption, Synopsis, Apprehension, Rekognition usw. stark vereinfacht. Wegen der hochgradigen Verschlungenheit der Explikation dieser Theoreme bei Kant (die Kantischen Texte der "KrV" konkurrieren mitunter gegeneinander) können auch wir uns in der vorliegenden Arbeit hier nur auf der - durch Kant selbst in "ÜE" - vereinfachten Darstellungsebene bewegen. Allison: Controversy, S. 68, 72. Nach seiner expliziten Theorie bestimmt Kant (laut Gram in "Ontology", S. 50) den Unterschied synthetisch/analytisch nach dem Kriterium, ob ein (Haupt-)Begriff im anderen enthalten ist. Gemäß Kants impliziter von ihm nicht bewußt thematisierter ("hidden", nach
3. Diskussion der Literatur
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Quellentexte und ihrer Hintergründe nicht als unwesendich herausgestellten Unterscheidungen von sinnlicher und intellektueller Anschauung13 und metaphysischer und empirisdscher Abstraktionstheorie14 werden von Allison nicht gezogen (wenngleich auch nicht bestritten). Auch Eberhards ontologisches Anliegen wird von ihm weniger deudich betont.15 Im Gegensatz zu unserer Arbeit diskutiert Allison Eberhards und Maaßens Einwände gegen Kants Theorie der Mathematik (wenngleich, da es sich um eine sehr komplexe und auch innerhalb des Kant-Lagers sehr umstrittene Thematik handelt, nicht ausführlich genug, weshalb wir es aus Platzgründen so gut wie ganz ausklammern mußten).16 Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, daß er die geometrische Konstruktion als die Konstruktion eines Schemas (gestützt auf Kants Angaben in der Anmerkung von Seite 191/192 seiner Streitschrift) erklärt.17 Von der Eberhard-Seite aus betrachtet, findet Allison "classical objections" und "classical misinterpretations" schon in dieser frühen Rezeptionsphase am Werk,18 von der Kant-Seite aus gesehen, liegt ihre Bedeutung erstens in der von Kant geleisteten Aufklärung über den nicht bloß logisch, sondern transzendental bedeutsamen Unterschied von Analytizität und Synthetizität der Urteile und zweitens den von "intuition and sensibility".19 (Mit den im letzteren Fall ein wenig künstlich einander gegenübergestellten Ausdrücken meint Allison den Unterschied von reiner und empirischer Anschauung oder Form der Sinnlichkeit und sinnlicher Empfindung.) Diese Aufklärung sei deudicher ausgefallen als in der "KrV" und den "Prolegomena".20
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Gram) Theorie werden in synthetischen Sätzen Begriffe von Anschauungen prädiziert. - Allison bemüht sich, den Vorwurf der Inkompatibilität beider Theorien zurückzuweisen, indem er den Behauptungsgehalt der ersteren vermindert (a.a.O., S. 74). An folgenden Stellen seiner "Controversy" wäre es für Allison sinnvoll gewesen, die beiden Arten der Anschauung zu unterscheiden: S. 22, 30, 94, 100. Auf S. 25 seines Buches begreift Allison Abstraktion ausdrücklich nur nach Lockes Manier (vgl. auch S. 100), dennoch ist die metaphysische Abstraktionstheorie implizit in seinen Ausführungen enthalten, etwa S. 68 (wo er von "occasion" spricht) oder S. 76. Vgl. Allison: Controversy, S. 19,21, 29. Allison: Controversy, S. 31-34. Leider vollzieht er aber nicht nach, daß das mathematische Schema (etwa da Dreiecks), an dem (und nicht etwa an einem Bild von einem Dreieck, das nur immer bloß individuell sein könnte) geometrische Beweise mit Anspruch auf Allgemeingflltigkeit und Notwendigkeit durchgeführt werden können, nicht auf gleicher Stufe mit den transzendentalen Schemata (gemäß KrV B 176-187), etwa der Substanz, stehen kann, sondern solche - von ihren unterschieden - voraussetzt. Geometrische Schemata mfißte man also vielleicht "figürlich" nennen, zur Abgrenzung von den obersten (eigentlich so zu nennenden) "transzendentalen", ohne die entere nicht möglich sind. Allison: Controversy, S. 103. Allison nennt hier als Ansatzpunkte für die Einwendungen den (für vage erklärten) Unterschied synthetisch/analytisch, die (bloß empirisch begriffene) Rolle der Konstruktion in der Anschauung bei mathematischen Urteilen, die (als inkonsistent angesehene) Unerkennbarkeit der Dinge an sich, die (so nicht mitvollzogene) Beziehung von Raum und Zeit (als Anschauungen a priori) nur auf Erscheinungsgegenstände. Die klassischen Verständnisfehler betreffen die gleichen Themen (Kants Theorie der Anschauung und Sinnlichkeit, die Abgrenzung transzendentaler von empirischer Idealität, die Bedeutung von Kants Frage nach den Erweiterungsurteilen). - Siehe zu beidem im einzelnen S. 31, 34,42, 56, 65, 68, 69. Allison: Controversy, S. 103/104. Allison: Controversy, S. IX, 14, 45, 48, 54, 69,74. Mehr dazu im Kapitel 4.6.
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3. Diskussion der Literatur
Allison und Gram explizieren dabei jedoch Kants Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile mit zweitrangigen Belegstellen meist aus der Einleitung der "KrV. 2 1 Gram geht so weit, gar nicht mehr spezifisch transzendental zu fragen; er untersucht nur ihre Form, d. h. forscht nach einer Formel, die eindeutig "genuinely synthetic judgments" von "coverdy analytic [judgments]" abgrenzt. 22 Kants Anliegen einer epistemologischen Theorie der Objektivität wird damit völlig ausgeblendet.23 Allison nennt zwar das Kapitel über die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe "the very heart of the «Critique»",24 sucht hier aber nicht explizit was er von der von ihm gewählten Themenstellung und Akzentsetzung her hätte tun müssen - Aufschluß Uber die grundsätzliche Struktur und Bedeutung der synthetischen Urteile a priori. Erst das Schematismus-Kapitel beachtet er mehr, wogegen er das Grundsatz-Kapitel wiederum beiseite läßt. 25 Daß Allison in "ÜE", von der er selbst zugiebt, diese Schrift sei "in many ways an «occasionai piece»",26 eine Erläuterung und Ergänzung der Erklärung der synthetischen Urteile über den Standard der "KrV" hinaus (wenngleich freilich nicht im Gegensatz zu ihr) 27 erblickt, wirkt dann etwas naiv. Das stark von der ontologischen Kant-Rezeption (Giorgio Tonelli) geprägte KantStudium in Italien hat wohl unter dem gegenteiligen Aspekt wie bei den Angelsachsen einige Forscher zur Kant-Eberhard-Kontroverse gefuhrt, in neuerer Zeit M. Paolinelli,28 G. Tognini 29 und A. Pupi. 30 Da diese Richtung Kant stärker von der Tradition her zu verstehen versucht, steht sie per se Eberhards Position näher. Zwei deutsche Dissertationen aus dem 19., bzw. 20. Jhd., die sich - im ersten Fall ganz, im zweiten zum Teil - mit der Kant-Eberhard-Auseinandersetzung befassen, ver21 22 23
24 25 26 27 28 29
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Gram nennt KrV A 6-7 = B 10-11, A 598 = B 626 und - völlig ungeeignet, da es hier Kant, wie wir zeigen werden, nur um eine logische Darstellung geht - ÜE 228/229 (vgl. Gram: Crisis, S. 155 und 159). Allison bezieht sich auf KrV A 6-7 = B 10-11 und Prol. 266. Gram: Crisis, S. 167. So unterscheidet Gram nirgends zwischen synthetischen Urteilen a priori und a posteriori. Der Begriff einer reinen Anschauung a priori taucht bei ihm nie auf. Wie Gram die "Krise" lösen will, zeigt folgender Satz: "If the subject of predication in such a [synthetic] judgment is an individuai not reducible to a set of concepts, then no such judgment can be coverdy analytic." (Gram: Crisis, S. 175; vgl auch S. 172). Allison: Controversy, S. 59. Dadurch kann Allison nicht mitvollziehen, daß Kant den - real verstandenen - Satz vom Grund als Kausalprinzip für Phaenomena akzeptiert. Allison: Controversy, S. IX. Allison: Controversy, S. 104. Marco Paolinelli: I motivi della polemica antikantiana di J. A. Eberhard. In: Contributi dell'Instituto di Filosofìa, Bd. 1, Mailand 1969, S. 35-80. = Pubblicazioni dell'Università Cattolica del Sacro Cuore. Contributi. Serie terza. Scienze filosofiche, 14. Ausfuhrungen zu Eberhard finden sich bei Giorgio Tognini in dem Aufsatz: Tradizione e "nuova filosofìa" nel realismo logico di C. G. Bardili. In: Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa, Classe di Lettere e Filosofia, Serie III (1987) 771-826. - Bardili hatte sein Hauptwerk "Grundriß der Ersten Logik" (Stuttgart 1800) u. a. Eberhard gewidmet. Pupi, Angelo: La formazione della filosofia dì K. L. Reinhold. Milano 1966. - Zu Eberhard s. S. 151 ff., zum Verhältnis Reinhold/Schwab S. 253 ff.
3 . Diskussion der Literatur
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bleiben zu sehr im allgemeinen, O. Ferbers "Der philosophische Streit zwischen I. Kant und J. A. Eberhard"31 und Elisabeth Böhms "Die Auseinandersetzung zwischen I. Kant und J . A. Eberhard über Fragen der Ästhetik und Rhetorik. Eine semiotische Untersuchung".32 Der Vorwurf der Pauschalität trifft auch die stark biographischwerkgeschichtlich und wenig argumentativ ausgerichteten italienischen Arbeiten. Eine erfreuliche Ausnahme der italienischen Kantforschung bietet Claudio La Rocca mit seiner Einleitung zur - ebenfalls von ihm geleisteten - italienischen Übersetzung von "ÜE". 33 (Trotzdem spricht auch dieser Autor auffallend häufig ohne nähere Differenzierung von Kants "metaphysischem" Anliegen.) Seine Veröffentlichung kann als vergleichbares Pendant zu Allisons Arbeit gelten. Wenngleich La Roccas Einleitung nur etwa halb so umfängreich ausgefallen ist wie die von Allison, ergänzen sich beide durchaus. Von der Zielsetzung her kann es gerechtfertigt erscheinen, daß La Rocca (im Gegensatz zu Allison) seine Erläuterungen sehr von Kants Warte aus konzipiert hat;34 der Gesamtdimension der Kontroverse, wo sich zwei philosophische Grundmodelle begegneten, kann dieses einseitige Verfahren freilich nicht entsprechen. (Ebensowenig kann es zuletzt konsequent sein, nur den einen - den Kantischen - Teil quellenmäßig zu erschließen und den anderen nur am Rande, von einigen Leitsätzen her, zu berücksichtigen.) Philosophisch bringt La Roccas Darstellung, abgesehen vielleicht von einigen bedenkenswerten Überlegungen zu Kants und Eberhards Hermeneutik, nichts Neues. Es muß auch überhaupt bezweifelt werden, ob man die Auseinandersetzung auf den Nenner "una qucrelle tra illuministi"35 bringen kann, zumal La Rocca selbst durchaus um den Unterschied zwischen absoluter Ontotogie und Epistemologie weiß.36 Die gängigen Philosophiegeschichten berichten so gut wie nichts Uber die Kontroverse. Das gilt auch für die älteren Standardwerke von Rosenkranz, Erdmann, Zeller, Überweg und Vorländer. Mit einigen zur Thematik gehörenden Artikeln beschäftigt sich Dilthey weitgehend nur mit quellenkundlichen Fragen.37 Einen hervorragenden Überblick über die meisten für die Gesamtkontroverse relevanten Quellentexte bietet 31 32 33 34 35 36
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O . Ferben Der philosophische Streit zwischen I. Kant und J . A. Eberhard. Diss. Gießen 1894. Elisabeth Böhm: Die Auseinandersetzung zwischen I. Kant und J . A. Eberhard über Fragen der Ästhetik und Rhetorik. Eine semiotische Untersuchung. Diss. Stuttgart 1981. Immanuel Kant: Contro Eberhard. La polemica sulla cririca della ragion puia. A cuia di Claudio La Rocca. Pisa 1994. = BibGoteca di "Studi kantiani", 1. Die Einleitung umläßt die Seiten 1 bis 54. La Rocca: Polemica, S. 7-8, S. 17 f., S. 26, S. 38, S. 53-54. Ebd., S. 50. Ebd., S. 27, dort insbesondere Anm. 92, und S. 32-33. Deutlicher als Allison stellt La Rocca im Aufbau (und damit im Argumentationsgang) seiner Einleitung Kants zentrale Unterscheidung und Bestimmung der Urteile (ebd., S. 17-38) dem Leibniz-Eberhaidischen Prinzip des zureichenden Grundes (ebd., S. 38-42) als Konkurrenten auf derselben obersten Ebene gegenüber. Dilthey, W.: Aus den Rostocker Kanthandschriften. II. Ein ungedruckter Aufsatz Kants über Abhandlungen Kästners. In: Archiv fiir Geschichte der Philosophie 3 (1890) 79-90. D e n . : Kants Aufsatz über Kästner und sein Antheil an einer Recension von Johann Schultz in der Jenaer Literatur-Zeitung. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 3 (1890) 275-281. Ders.: Neue Kanthandschriften. In: KantStudien 3 (1899) 367-368 [zu den beiden Kant-Aufsätzen A r Schultzens Rezension],
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3 . Diskussion der Literatur
die "German Kantian Bibliography" von Adickes.38 Abgesehen von den mittlerweile selbst zu den Quellentexten zu zählenden Arbeiten39 - etwa von Schultz40 - berichtet nur eine Abhandlung aus dem 18. Jhd. ausführlicher von der Debatte, wenngleich noch lückenhafter als Allison und mit deudichen Sympathien fiir Eberhard: Wilhelm L. G. Ebersteins "Versuch einer Geschichte der Logik und Metaphysik bey den Deutschen von Leibniz bis auf die gegenwärtige Zeit". 41 Nach Rosenkranz macht Kant in "ÜE" dem Dogmatismus Zugeständnisse.42 Er übersieht dabei jedoch den Unterschied zwischen einem Nachgeben in der Sache, das bei Kant nicht feststellbar ist, und taktischen Bemühungen, dem Gegner den Wind aus den Segeln zu nehmen. Im Gegensatz zu Allison und - soweit erkennbar - Gram tendiert auch Eberstein, wohl zum eigenen Trost, in diese Richtung.43 Uber die Wirkung der Kontroverse liegen Zeugnisse von Fichte vor. In der Zeit von August/September 1790 schrieb er an Friedrich August Weißhuhn: H a b e n Sie seine Schrift gegen Eberhardt,
"übet eine ältere Kritik, die alle neue Kritik
überflüssig machen soll" - gelesen? Sie wirft viel Licht auf die Kritik d. t. V., und noch mehr über die Verdrehungen und hinterlistigen Wendungen Eberhardt's,
und ist hier
und da mit mehr W i t z geschrieben, als man von Kant hätte erwarten sollen. 4 4
Hier bewertet Fichte Kants Streitschrift als durchaus mehr als nur eine Gelegenheitsarbeit. Ähnlich wie Allison45 sieht er in ihr eine Erläuterung zur "KrV". Sieben Jahre später bezog er sich in seiner "Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre" an drei Stellen auf die Diskussion um Eberhard. Wie Kant weist er vehement auf den "Unterschied!.] der Logik [...] von der reellen Philosophie", den Eberhard vernachlässige, hin. 46 J. Schultz soll durch die Feststellung diskreditiert werden, er gestehe Eberhard "oft" zu, "daß der objektive Grund der Erscheinungen in etwas liege, 38 39 40 41
42 43
44 45 46
Adickes, E.: German Kantian Bibliography. Teil I bis III. Boston 1896. Neudruck: Würzburg o. J . Siehe das auf Vollständigkeit bedachte Verzeichnis der Quellentexte zur (gesamten!) Kant-EberhardKontroverse im Anhang. Schultz: Prüfung der Kantischen Kritik der reinen Vernunft. Teil 2. Königsberg 1792. Eberstein: Versuch einer Geschichte der Logik und Metaphysik bey den Deutschen von Leibniz bis auf die gegenwärtige Zeit. Bd. II. Halle 1799; S. 165-233. Eberstein behandelt "ÜE" auffallend kurz, geht aber ausfuhrlich auf einige frühe Rezensionen des "Phil. Mag." in der " A . L . Z e i n , so ausfuhrlich, daß Kants Position geradezu aus der Sicht der Kantischen Rezensenten dargestellt wird. Ganz generell erörtert der Autor wichtige Rezensionen als Reaktionen auf neue Werke, was spätere Philosophiegeschichten - etwa Rosenkranz oder Erdmann - gänzlich aufgeben. Rosenkranz: Geschichte, S. 161. Am meisten freut sich Eberstein, daß Kant Dinge an sich als Gründe von Raum und Zeit bezeichnet habe, was er als Eingeständnis der Erkennbarkeit von Dingen an sich durch Kant wertet (Eberstein: Geschichte, S. 183, 1 8 5 , 2 2 2 , 2 2 4 ) . Wohl da Kant nach Eberstein den Raum (wie die Zeit) als "virtualiter angeborene" "Formen a priori" (a.a.O., S. 184) zugebe, hält er zwischen Kant und Eberhard einen Ausgleich bezüglich des Raums fiir möglich (a.a.O., S. 222). Dazu stimmt dann aber nicht, daß er gerade in der Frage nach den synthetischen Urteilen keinerlei Chance zum Konsens sieht (a.a.O., S. 184/185). Fichte: Briefe, Bd. I I I / l , S. 167/168 (Nr. 63). Allison: Controversy, S. 104: "[...] a good deal of light [...]". Fichte: Zweite Einleitung, S. 249/250.
3. Diskussion der Literatur
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das Ding an sich ist",47 d. h. wohl, daß er nach Fichte Realität und Erkennbarkeit von Dingen an sich behaupte. Dasselbe Urteil, das wir oben bei Beck und Reinhold kennengelernt hatten, nämlich, daß nach ihnen selbst prominente Kantianer den eigendichen Wesensgehalt des Kritizismus nicht verstünden, finden wir hier auch bei Fichte.48 So verwundert es nicht, daß Fichte sich im dritten Punkt dazu bekennt, Kants am Schluß von "ÜE" explizierte und angewandte Methode der Leibniz-Auslegung nach dem Geist (d. h. der Konsistenz des Systems) und nicht nach dem Buchstaben auf Kant selber anzuwenden.49 In allen drei Aussagen liegt eine Spitze gegen Kant verborgen, der Fichte vorwirft, seine Wissenschaftslehre sei "bloße Logik",50 der Schultz öffentlich als seinen korrekten "Ausleger" bestätigt51 und der auf der Buchstäblichkeit seiner Lehre besteht.52 Schopenhauer hat sich als zweiter großer Philosoph im Rahmen seiner Dissertation "Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde" mit der KantEberhard-Kontroverse befaßt. Sie ist fiir ihn ein Akt in dem generellen "Streit[..] zwischen Realismus und Idealismus". Er nennt sie den "Streit des alten Dogmatismus mit den Kantianern, oder der Ontologie und Metaphysik mit der transscendentalen Aesthedk und transscendentalen Logik".53 Leider begeht Schopenhauer vielfach ähnliche Rezeptionsfehler wie Eberhard. So mißversteht er Kants Position als subjektiven Idealismus, ontologisiert Kategorien und Formen der Anschauung ("Gehirnfunktionen") und faßt Erscheinung im Leibnizischen Sinn als phaenomenon bene fundatum auf.54 Insgesamt ist das Werk Eberhards bislang kaum wissenschaftlich untersucht worden. Außerhalb unseres Themas sind hier die beiden älteren Dissertationen von K. Lungwitz "Die Religionsphilosophie Eberhards"55 und G. Draeger "J. A. Eberhards Psychologie und Ästhetik"56 zu nennen.
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49 50 51 52 53 54
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Fichte: Zweite Einleitung, S. 234; Fichte bezieht sich dabei auf S. 99 des zweiten Teils von Schultze's "Prüfung.". Inwiefern sich Fichte mit seiner Wissenschaftslehre selbst auf einen Eberhard näher als Kant stehenden Logizismus (ungeachtet der Tatsache, daß er das abstreitet) begeben hat, kann hier nicht erörtert werden. Die Thematisierung des Satzes vom Grund und die Rede von der "Ableitung" - etwa im "Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre" - liefern dafür allerdings klare Indizien. ÜE 246-251. Fichte: Zweite Einleitung, S. 231 (zweite Anmerkung); vgl. auch S. 265. Vgl. AK XII, S. 396. Gemäß Kants Erklärung vom 29.5.1797; AK XII, S. 367 f. Vgl. AK XII, S. 397. Schopenhauer: Wurzel, S. 151. Schopenhauer: Wurzel, S. 44, 56, 64, 89. "Phaenomenon bene fundatum" bedeutet in unserem Zusammenhang eine in einem objektiv erkennbaren Sein gegründete Erscheinung. Daß es nach Leibniz auch Erscheinungen geben kann, die durch ihre regelmäßige Verbindung mit anderen Erscheinungen wohl gegründet sind, wird damit nicht bestritten. K. Lungwitz: Die Religionsphilosophie Eberhards. Diss. Erlangen 1911. G. Draeger: J. A. Eberhards Psychologie und Ästhetik. Diss. Halle 1915.
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3. Diskussion der Literatur
In der neueren Spezialliteratur zu Kants "Preisschrift" - zu nennen sind hier Han und Caimi57 - wird der Zusammenhang mit der hauptsächlich pragmatisch bedeutsamen Kant-Eberhard-Kontroverse so gut wie verschwiegen. Während Caimi von sich aus gar nichts über die äußeren Umstände der Textentstehung verlauten läßt, taucht der Name "Eberhard" (aber auch nicht mehr!) bei Han nur einmal auf.58 Schon Wundt hatte den Bezug zur Kant-Eberhard-Kontroverse nicht offengelegt.59 Die inhaldichen Aussagen des Kant-Textes werden dadurch in argumentativ-systematischer Hinsicht über Gebühr aufgewertet. So spricht Han von diesen Fragmenten als "Kants Selbstinterpretation der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der praktischen Vernunft".60 Caimi sieht in ihnen sogar den Versuch Kants, die Frage nach der Möglichkeit der Metaphysik neu aufzurollen. Der Autor spricht in diesem Zusammenhang von einer "zweite[n] Schiffehrt".61 Den Zusammenhang der "Preisschrift" zum Kant-Eberhard-Streit und zu "ÜE" sieht im Gegensatz zu den oben genannten Arbeiten Felix Duque 62 (La Rocca bezieht sich mehrfach meist zustimmend auf ihn). Andererseits erweckt dessen Gesamturteil über Eberhard Zweifel an der richtigen Gewichtung der Problemlage, hält er doch den Hallenser für einen ebenso tiefen und versierten wie würdigen Gegenspieler Kants.63 Er hat wohl auch nur in einem anderen Sinn, als er meint, recht, wenn er Eberhards Kantkritik als "modern" bezeichnet.64 Noch immer nämlich halten sich viele heutige Kantkritiker, neben ontologisch-metaphysischen Kantdeutern etwa auch Strawson, topisch bei denselben Fehlurteilen auf wie schon damals etwa die Eberhardianer. Was bereits den meisten zustimmenden Kantfbrschern und kantianischen Philosophen nicht gelingt, vermögen umso weniger sie zu leisten: Sie stellen sich nicht dem genuin epistemologischen Ansatz und der Frage nach der Rechtmäßigkeit der von uns mit Objektivitätsanspruch urteilend gebrauchten Begriffe. Dabei ist vor allem wichtig zu sehen, daß Kants Rede von den "Grenzen" (etwa unserer Erkenntnis) allein dieser epistemologischen "quaestio iuris" verpflichtet ist. In diesem Sinn unterscheiden sich - was Eberhard nicht bemerkt hat oder bewußt ignorieren wollte - Grenzen himmelweit von Schranken. Auf Schranken kann man nur faktisch stoßen (egal, ob unmittelbar empirisch oder "struktural" oder "konstitutiv"). "Grenzen" hingegen verlangen nach einer systematischen Grenzbestimmung (einer Grenzziehung de jure, die nach Kant dann 57 58 59 60 61 62
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J. Han: Transzendentalphilosophie als Ontologie. Diss. Würzburg 1988; M. Caimi: Kants Metaphysik. Zu Kants Entwurf einer metaphysica specialis. In: Akten des Siebenten Internationalen Kant-Kongresses, Bonn 1991; Bd. 1, S. 103-126. Han: Ontologie, S. 8 (Fußnote 16). Vgl. Wundt: Kant, S. 379-400. Han: Ontologie, S. 4. Caimi: Metaphysik, S. 104. Es handelt sich dabei um die gut zweihundert Seiten umfassende Einleitung ("Estudio preliminar"), die F. Duque seiner spanischen Ausgabe der "Preisschrift" vorangestellt hat (in: I. Kant: Los progresos de la metaflsica desde Leibniz y Wolff. Madrid 1987; S. XI-CCXXVII). Ebd., S. XLV und S. XXXV. Ebd., S. XLV.
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nur synthetisch-transzendental vollzogen werden kann). So gabelt sich - "quia parvus error in principio magnus est in fine"65 - bei der philosophischen Bestimmung von Schranke und Grenze der Weg aller möglichen Philosophie. Bewußt gewühlt muß dabei zwischen dem Paradigma von Epistemologie und dem von Ontologie werden, selbst wenn sich mitunter manche Vertreter des einen mit den Zeichen des anderen maskieren. Wenn etwa Peter Frederick Strawson das Hauptwerk seiner Beschäftigung mit Kant unter das Programm "The Bounds of Sense"66 stellt, muß gefragt werden, ob er mit dem Wort "bounds" (verborgen) ontologische Schranken oder epistemologische Grenzen meint und, falls das letztere der Fall sein sollte, ob er dann die Epistemologie im speziell transzendentalen Sinn Kants auch zu treffen vermag. Selbst wenn man außer Acht läßt, daß er seine eigene philosophische Tätigkeit als "descriptive metaphysics" bezeichnet,67 ist es leicht zu zeigen, daß er seinen Begriff von Begrenzung nicht aus einer transzendentalen quaestio iuris entspringen läßt. Das betrifft: nicht nur die expresse Charakterisierung seines Untersuchungsziels;68 es kommt auch in eklatanten Fehlurteilen zum Vorschein, so wenn ähnlich wie bei Eberhard Kant zum Berkeleyschen Idealisten gestempelt,69 die Unterscheidung der Urteile in analytische und synthetische (und dabei insbesondere die Auszeichnung der Synthesis a priori) vernachlässigt wird,70 die Antinomie der Vernunft zum Verschwinden gebracht werden soll71 oder Kant die Behauptung einer Affektion der Sinne durch Dinge an sich unterstellt wird.72 Als Quintessenz von beidem ist dann seine faktische Redeweise von den "two faces of the Critique"7i zu verstehen. Durch diese dem Werk verpaßte Ur-Teilung wird jedoch Kants Ansatz selbst zu einem faktischen (der Erfahrungssignifikanz) per65
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68 69 70 71 72 73
So der noch neutrale Beginn eines der Hauptdokumente des ontologischen Paradigmas, der Abhandlung "De ente et essentia" von Thomas von Aquin (die Wendung stammt ursprünglich aus Aristoteles' "De caelo", I, cap. 5, 271 b 8-13). Das oben zitierte "parvus" ist von uns zunächst ironisch gemeint, denn es handelt sich der Sache nach gleich am Anfang um eine radikale - also eigentlich große - Unterscheidung; andererseits soll zum Ausdruck gebracht werden, wie leicht eine fundamentale Verwechslung, hier konkret bei der Bestimmung des Sinnes von "Grenze", unterlaufen kann. Strawson: The Bounds of Sense. An Essay on Kant's "Critique of Pure Reason". [Papeiback-Rcprinc] London 1989. 1 1966. Strawson: Einzelding und logisches Subjekt. Stuttgart 1972. In der Einleitung dieses Werks ordnet Strawson wie sich selbst so ausdrücklich Kant der "deskriptiven" Metaphysik zu (ebd., S. 9). Diese "begnügt sich damit, die tatsächliche Struktur unseres Denkens über die Welt zu beschreiben". Im Gegensatz dazu steht die "revisionäre" Metaphysik. Mag diese auch das "Ziel" verfolgen, "eine bessere Struktur hervorzubringen", so bleibt sie ihrem Status nach doch ebenso dogmatisch-faktisch wie die deskriptive. Das Erkenntnisziel seiner Kantforschung lautet nach "The Bounds of Sense" folgendermaßen: "determining the fundamental genetal strueture of any concepdon of experience such as we can make intelligible to ourselves" (S. 44); ähnlich S. 11, 15, 18. Ebd., S. 18, S. 22, S. 150. Ebd., S. 42-44. Dies zieht gleichfalls die Distanzierung gegenüber den Theoremen von Raum und Zeit als reinen Anschauungen nach sich (ebd., S. 47-57). Ebd., S. 35. Ebd., S. 39-42, S. 236 ff. Ebd., S. 15-24.
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vertiert, da die konsequente Fortführung der transzendentalen Argumentation über das Kapitel der "Analytik" der "KrV" hinaus als ebenso transzendent angesehen wird wie die metatheorematische Ebene selbst. Faktisch gelten soll nur das Gesicht der "Metaphysics of Experience", das angebliche zweite Gesicht ("Transcendent Metaphysics" und "The Metaphysics of Transcendental Idealism")74 hingegen soll sich über der positiv erbrachten Leistung des ersten ohne Verlust auflösen lassen können. Umgekehrt betrachtet, muß aber eher Strawsons geisterseherische Doppelsichtigkeit vor dem vollen Blick des "Medusenhauptes" vergehen! Bereits hinsichtlich des "principle of significance"75 zeigt sich, daß Strawsons Metakritik nicht vor dem materialen Kriterium der Kritik bestehen kann. Seine Schlüsselbegriffe "sense" und "significance" bestimmt er nämlich so offen, daß sie nicht zwingend im Sinne von Kants objektiver Bedeutung verstanden werden müssen und somit auch lediglich formale Valenz annehmen können. Strawsons eigentlich empiristischer Erfahrungsbegriff wird damit einer beliebigen Konstruierbarkeit ausgeliefert und zuletzt von Spekulationen äußerlich ununterscheidbar.76 Bei aller Überlegenheit von Allisons Kantkompetenz gegenüber Strawson ist doch auch in seiner Einleitung zur Übersetzung von "ÜE" das spezifisch transzendental-epistemologische Moment eher nur schwach ausgeprägt erkennbar. Anstelle einer voll bewußten quaestio iuris (der es zuletzt um Grenzbestimmung geht), operiert er hauptsächlich mit einem strukturalen Sinn von "limitation"77 (ähnlich verfahrt La Rocca). Gegen diese Akzentuierung bleibt aber ein Restdogmatismusverdacht wie etwa auch gegen die alternativ oder ergänzend dazu privilegierte Rede von "Konstitution".78 Allisons Schwachstelle mag wohl z. T. damit erklärt werden können, daß er die Kantische Argumentation spiegelbildlich auf den "Eberhardischen Angriff" antworten läßt. Dessen barer Faktizismus klingt dann noch in die Darstellung des Transzendentalismus hinüber. 74 75 76
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Die Ausführungen dazu umfassen Teil drei und Teil vier der Strawson'schen "Grenzen des Sinns". Strawson: Bounds, S. 16. Gewöhnlich übersetzt wird es mit "Sinnprinzip". Die prinzipielle Offenheit seiner Vorstellung von einem Erfahrung!begriff wird von Strawson sogar emphatisch herausgestellt (ebd., S. 44). - Darauf, daß das von ihm (in, wie er S. 47 sagt, "karger Deutung") Kant zugesprochene "Sinnprinzip" zu dessen eigentlicher Position in einem Hysteron-proteronVerhältnis steht, kann hier nur hingewiesen werden. Entsprechend verkehrt er das Theorem von der transzendentalen Apperzeption (z. B. ebd., S. 26-27). Fungiert es bei Kant (neben anderem!) als eine Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung, muß nach Strawson alle Erfahrung strukturell so beschaffen sein, daß einheitliches Selbstbewußtsein eist möglich wird. Allison: Controversy, S. 15-104 passim. Siehe insbesondere S. 71 ("two senses of limitation"), S. 70 ("key features"), S. 61 ("the connection"). S. 59 sagt Allison implizit, Kant bewege sich auf derselben Ebene wie Leibniz und Hume, auch genügt dort die ausdrückliche Bestimmung von "transcendental" als "non-logical" nicht Ebd., S. 69, S. 75/76. Gegen eine konstitutions- und vermögenstheoretische Kantdeutung wendet sich - in diesem Fall mit Recht - Strawson (Bounds, S. 15-16), wenngleich er seine eigene Kanterklärung (krypto-)fakrizisdsch um den Begriff "Struktur" kreisen läßt (die für ihn zuletzt nur homogen "begriffliche Struktur" ist, ebd., S. 18). Eine besonders ausgeprägte Spielart von konstitutionstheoretischer Kantinterpretation vertritt Gerd Buchdahl in seiner Aufsatzsammlung "Kant and the Dynamics of Reason" (Oxford 1992).
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Unsere Begriffe "Argumentanalyse" und "Konstellation" sind von dem besonderen Sinn abzugrenzen, den Dieter Henrich den beiden Worten zu verleihen sucht. Mit einer gewissen Verzögerung erfahren wir in einer Fußnote seines Buches von 1992, 79 seine frühere Abhandlung "Identität und Objektivität" 80 "praktizier[e]" - wie ebenfalls der dritte Teil des späteren Buches - das "«argumentanalytische» Verfahren". (Wir nennen es kürzer: die Argumentanalyse.) Zur Begründung dieses Verfahrens weist Henrich stets auf das Eingangskapitel von "Identität und Objektivität". 81 Dort findet sich allerdings eine Erklärung dieses Begriffes ebensowenig wie überhaupt diese Formulierung selbst. Statt dessen spricht Henrich von drei "bisher" üblichen "Verfahren der Kommentierung", zunächst der "paraphrasierend-erläuternden" und der "genetischen Kommentierung". Davon setzt er die "argumentierende Rekonstruktion" ab. 82 Allen drei Kommentierungsarten stellt er schließlich die eigentliche "Interpretation" gegenüber.83 Aus den gewundenen Ausfuhrungen geht im Ganzen hervor, daß sich die These von "Identität und Objektivität" zur, wie ihr Autor formuliert, "transzendentalen Deduktion" (als ob sich bei Kant nur eine solche fände!) zwischen der Rekonstruktion, welche im Gegensatz zu den beiden ersten Formen der Kommentierung allererst "versucht", den Text hinsichtlich seiner "Gedanken- und Argumentzusammenhänge" "aufzuschließen",84 und einer Interpretation, die als solche über deren Leistungsfähigkeit hinausgreift, bewegt. Nur die Interpretation vermöge es, "den Text zur Transparenz und sein theoretisches Potential zu voller Geltung" zu bringen (S. 11). Die zwitterhafte methodische Selbstverortung besiegelt sich in Wendungen wie "die Interpretationsform der Rekonstruktion" (S. 12), obwohl doch die Rekonstruktion nur "Vorarbeit für eine Interpretation" sein soll (S. 10); S. 14 versteht Henrich seine Arbeit noch "nicht als das Ganze einer Interpetation" und hat damit dann doch die vorher von ihm selbst artikulierte Skepsis überwunden, wonach "unsere Fähigkeit zur Interpretation [...] noch immer weit hinter allen berechtigten Erwartungen zurückbleibt" (S. 12; vgl. auch den ersten Satz der Abhandlung: "Wir [sie!] wissen noch nicht, wie philosophische Texte zu interpretieren sind."). Später bezeichnet er seinen Text nur wieder als einen "Kommentar" - sogar einen sehr punktuellen - und scheint sich damit von jedem Anspruch auf Interpretation (welches Verfahren er vorher nicht unter den Oberbegriff eines Kommentars subsumiert hat, was auch durchaus gegen den gängigen Sprachgebrauch, der bekanntlich Kommentar und Interpretation trennt, versto-
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D. Henrich: Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794-1795). Stuttgart 1992; Anmerkung 208, S. 808. D. Henrich: Identität und Objektivität. Eine Untersuchung Ober Kants transzendentale Deduktion. Heidelberg 1976. = Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophischhistorische Klasse, Jahigang 1976, 1. Abhandlung [vorgetragen am 9.11.1974], Dies geschieht etwa in "Grund", S. 13, und vorher in Henrichs Buch "Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789-1795)", Stuttgart 1991, S. 20. Identität und Objektivität, S. 9. Ebd., S. 10. Ebd., S. 10. - Die (bigenden Seitenangaben beziehen sich alle auf "Identität und Objektivität".
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3. Diskussion der Literatur
ßen hätte) zurückgezogen zu haben.85 Genug, die rückschauende Selbstdeutung von "Identität und Objektivität" charakterisiert die Argumentanalyse als Amalgam aus Rekonstruktion und weitergreifender (fiir sich noch unvollständiger) Interpretation.86 Das spezifisch Henrich'sche Moment betrifft dabei nicht so sehr die argumentierende Rekonstruktion als vielmehr die angezielte Dimension der Interpretation. Von ihr hatte Henrich behauptet, erst sie sei imstande, "auch noch jene Eigentümlichkeiten eines Textes zu erfassen, kraft deren er vage und undeutlich ist" (S. 10/11). Auch noch die nach Henrich fiir innovative Texte der Philosophie gerade konstitutiven Gründe der Vagheit und Undeutlichkeit (vgl. S. 11: der Text ist "seiner eigenen theoretischen Perspektive nicht mächtig") objektiv erklären zu wollen, muß jedoch alle Deutungsanstrengung in eine Gefahrenzone treiben, wo überall die Verfuhrung zu interpretatorischem Konstruktivismus und Hypothetizismus lauert. So sehr wir uns mit Henrich in der Bewertung von Interpretation als hoher philosophischer Aufgabe und im Bemühen, das innere Potential von Beweisgängen (wenigstens in einigen Hinsichten) herauszupräparieren und selbständig darzustellen, einverstanden erklären können, halten wir es doch methodisch fiir unbedingt geboten, alle Aussagen am Text konsequent nachzuprüfen und zu belegen und somit an seiner Autorität zu messen, auch wenn dies heißt, den Sinn der Worte (etwa nach Konsistenzkriterien) überhaupt erst adäquat zu ermitteln, also mit den textlich nachweisbaren Stärken eines Autors seine - ebenso nachweisbaren - Schwächen und Lapsus auszugleichen. An dieser Linie - von der zugestanden werden mag, daß sie jenseits der Positivität des Buchstabens verläuft - scheidet sich unser Verständnis von Argumentanalyse vom Henrich'schen. Henrichs späteres Programm einer "Konstellationsforschung" steigert nur weiter die Haltung des (formal vielleicht durchaus brillianten) Konstruktivismus.87 Er unterscheidet jetzt explizit "zum einen die Konstellation zwischen den Begriffs- und Systembildungen der großen Theorien" - sie erfordere die Argumentanalyse - und "zum anderen die Konstellationen des philosophischen Gesprächs" - mit ihrer Methode der historischen Quellenforschung.88 Die Zusammenschaltung der Fundergebnisse beider Typen von Konstellationen erbringe dann den Aufschluß über den vollen Gehalt eines Textes, und zwar sowohl positiv als dessen Leistung wie negativ als dessen Unvermögen betrachtet. Den Zusammenhang von "Konstellationsfbrschung" und "argumentanalytische[m] Interpretationsverfahren"89 bestimmt Henrich selbst an wichtiger Stelle sehr unscharf und nur negativ:
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Ebd., S. 15, Anm. 2. Dies wird bestätigt, wenn Henrich in "Konstellationen'', S. 20, vom "argumentanalytischen Interpretationsverfahren" spricht. Schon in "Identität und Objektivität" feilen gewiß nicht zufallig die Worte "Fluchtlinien", S. 14, und "Konstellationen", S. 112. Konstellationen, S. 42. Ebd., S. 20.
3. Diskussion der Literatur
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Beide gehen davon aus, daß Erschließungsleistungen des Denkens nicht schlechthin von denen ausgehen, die sie erbracht haben, und daß sie auch von ihnen nicht durchaus beherrscht werden können. Der in Konstellationen erschlossene Denkraum gibt ihnen Aufgaben vor, die für sie unabweisbar und in vieler Weise informell bestimmend sind, wenn sie auch im Ausgang von ihm ihrem Denken eine ihnen eigentümliche Orientierung geben. Und die sachlichen Möglichkeiten, die sich ihnen einerseits aus diesem Denkraum und andererseits im Rahmen des ihnen eigentümlichen Konzepts erschließen, greifen über das von ihnen selbst Ausgearbeitete immer auch hinaus - je kraftvoller und origineller die Konzeption ist, desto mehr. Henrich verkehrt damit geradezu das Verhältnis von Interpret und Primärautor. "Originell" u n d "kraftvoll" ist nicht mehr der behandelte Philosoph, sondern der sich subtil auf Metaebenen bewegende Supervisor von Konstellationsforschung. 9 0 Dieser Instanz nun billigt er einfachhin die Kompetenz eines transparenten Selbstverhältnisses z u , das er den anderen philosophischen Gründern im gleichen Z u g e aberkannt hat. Dächte Henrich konsequent, so m ü ß t e er fiir die Konstellationsforschung selbst n o c h einmal eine höhere W i n d u n g v o n Aufschlüsselung fordern, die dann ihrerseits wiederum konstellativ zu bearbeiten wäre usf. Beachtet man den Begriff der Philosophie als ein Streben nach Erkenntnis u n d Weisheit, so m u ß unmittelbar klar werden, daß jedes echte B e m ü h e n überhaupt nur einen besonderen u n d seiner Leistungsfähigkeit nach begrenzten Ansatz verfolgen kann. Oberstes Ziel bei der kommentierenden oder interpretierenden Beschäftigung mit irgendwie "klassischen" Positionen m u ß es daher sein, die intern grundgelegte Tragweite des jeweiligen
Ansatzes zu ermessen (und gegebenenfalls den Fundamenten
gemäß systematisch weiterzuentwickeln). Dies ist immanent bei der Analyse je eines Denkers ebenso zu beachten wie bei einem Vergleich m i t anderen Autoren (und so der Darstellung einer philosophischen Kontroverse). Henrichs Konstellationsförschung hingegen weicht spätestens in einem zweiten Schritt alle solche Ansatzgebundenheit auf.» 1 90
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Darauf, daß Henrich diese Meinung auch im Blick auf sich selbst vertritt, deutet schon eine relativ frühe Äußerung von ihm hin. In seinem Aufsatz "Fichtes «Ich»", der deutschen Version eines französischen Vortrags vom Frühjahr 1966, meint er in Bezug auf seine eigene Fichteforschung, "die Anstrengungen des Interpreten [!], Fichtes Entdeckung aus den dunklen Seiten unvollendeter Manuskripte herauszubringen,'' seien "sogar mit denen zu vergleichen, die Fichte selbst unternehmen mußte, um zu seiner Entdeckung zu kommen" (zu finden S. 66 von Henrichs Sammelbändchen: Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie. Stuttgart 1982. = Univeisal-Bibliothek Nr. 7852). Vgl.: Konstellationen, S. 10-22; Grund, S. 11; Identität und Objektivität, S. 9. Als beispielhaft dafür ist Henrichs Pekinger Versuch anzusehen, zwischen so radikal verschiedenen Ansätzen wie dem Hegels und Kants (in einem freilich sehr verklausulierten Sinn) zu vermitteln: Kant und Hegel. Versuch zur Vereinigung ihrer Grundgedanken. [Ursprünglich vorgetragen auf einem Kongreß in Peking, September 1981.] In: Ders.: Selbstverhältnisse, S. 173-208. Welche konkreten Resultate dieses Verfahren zeitigt, läßt sich etwa an folgendem Satz aus dem eben genannten Text belegen (S. 194/195): "Kant", so Henrich, "nimmt" die "Existenz" einer "Welt der Dinge an sich" "an". Er "denkt sie als eine Welt von Einzelnen in Ordnung, die nur nicht unter Raum-Zeit-Bedingungen steht und deien Gesetze wir nicht kennen können. So aber unterscheidet sie sich von unserer Erfahrungswelt nicht grundsätzlich durch den Typ der Ontologie, die fiir sie gilt" Solche Thesen lassen sich weder von Kants noch von Hegels Ansatz her begründen!
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3. Diskussion der Literatur
Bei Henrichs Bemühen um die Schicksale der "klassischen deutschen Philosophie" erstaunt, daß er die Kant-Eberhard-Kontroverse völlig ignoriert. Dies steht in einem auffallenden Mißverhältnis zu der Tatsache, daß er Kants Auseinandersetzung mit Christian Garve weit höhere Bedeutung zuspricht als, wie sich bei ihm nur mittelbar erschließen läßt, Kants Disput mit Eberhard.92 Dabei hätte ihm doch schon ganz äußerlich zu denken geben müssen, daß die dokumentliche und personale wie argumentative Basis im Streit mit Eberhard ungleich breiter ausgefallen ist als im Fall von Garve.93 Wie stellen sich nun zwei sich selbst so verstehende Schwerpunkte der spezielleren Kantforschung zu unserer Kontroverse? Gemäß dem Vorwort zum ersten Band der von Reinhard Brandt und seinem Schüler Werner Stark herausgegebenen "Kant-Forschungen" soll sich zwar das "Marburger Kant-Archiv", gegründet 1982, als ein "The92
93
Dies gilt gemäß S. 11 von Henrichs Einleitung ("Über den Sinn vernünftigen Handelns im Staat") zu: Kant Gena Rehberg. Über Theorie und Praxis. Hg. von Hans Blumenberg, Jürgen Habermas, Dieter Henrich und Jacob Taubes. Frankfurt a. M. 1967. = Theorie 1; S. 7-36. - Der Text wurde in amerikanischer Übersetzung neu vorgelegt als "On the Meaning of Rational Action in the State" in: Ronald Beiner/ William James Booth (Hg.): Kant and Politicai Philosophy. The Contemporary Legacy. New Häven 1993; S. 97-116. Die Aussage, auf die wir uns beziehen, findet sich dort (in dabei durch Wiederholung bekräftigter Form) S. 98. - Henrich bezieht sich hier lediglich auf die späten Einwände Garves gegen Kants Moralprinzip. Der Kant-Eberhard-Kontroverse kommt Henrich am nächsten in "Grund" mit dem Satz (S. 17/18): "öffentliche Fehden, in denen Kant wiederum auf seine Schüler und Freunde rechnete, konnte er von drei Gruppen von Gegnern erwarten: von den letzten Vertretern der Schule von Leibniz, von den Empiristen, die sich inzwischen einer popularphilosophischen Mitteilungsart bedienten, und von orthodox-theologischen und theosophischen Lehrern, die nach Kants Meinung mehr oder weniger direkt den berechtigten Ansprüchen der Vernunft und dem Fortgang der wissenschaftlichen Erkenntnis entgegenwirken wollten." Wir zeigen, daß Kant bei der von uns behandelten Kontroverse, die mehr als eine bloße "Fehde" war, sich gerade nicht einfach auf seine "Schüler und Freunde" verlassen konnte, ebenso, daß der abschiedliche Ton in der Wendung "von den letzten Vertretern der Schule von Leibniz" nicht berechtigt ist, zunächst deshalb, weil Leibniz selbst gar kein Schulhaupt war (es damit im strengen Sinn gar keine "Schule von Leibniz" gegeben hatte), vor allem aber, weil die Philosophie von Leibniz - in Absetzung von den starken Übermalungen durch WoUFund Baumgarten - eher wieder im Kommen begriffen war oder überhaupt erst tiefer verstanden wurde. Leibnizisches Gedankengut erlebte einen Höhepunkt in der Romantik! Bei Henrichs konstellativem Denken fallt hier auch die Asymmetrie auf, daß er zwar der Spinoza-Rezeption im Deutschen Idealismus einen großen Platz einzuräumen bereit ist, darüber aber dessen Antipoden Leibniz ganz vergessen hat. Man vgl. dazu das Urteil aus § 761 der Nachschrift "Fichte's Vorlesungen über Logik und Metaphysik als populäre Einleitung in die gesammte Philosophie. Nach Plattners philosoph. Aphorismen I " Theil 1793[; gehalten] Im Sommerhj. 1797, Jena" über beide Gestalten, in welchem Fichte die Bedeutung von Leibniz klar über die von Spinoza stellt: Akademie-Gesamtausgabe, Bd. IV/1, S. 375, Z. 22-28; S. 372, Z. 9-10; S. 374, Z. 35-37. Die unwiederbringliche Verwindung seines vorkantischen "Spinozismus" belegt Fichte etwa auch in der "Wissenschaftslehre, Königsberg, d. Sten Januar. 1807" (konkret vor allem: GA Bd. 11/10, S. 113, Z. 23-25 und ebd., S. 114, Z. 9-11). Wenn Fichte davon spricht, er sei "als ein junger Mensch" tief in den "Spinozismus" "eingewurzelt" (ebd., S. 114) gewesen, so muß man sich auch die damit verbundene Blindheit der Wurzel oder philosophischen Grundhaltung - im Fichteschen Sinn von «blind» vergegenwärtigen (ebd., S. 112, Z. 31/32: "Ein nicht erbliktes Princip; blind in der Wurzel. Blinda Tappen [...]". Der Problematik eines transzendental teils erst eigentlich angemessen verstandenen, teils umgebauten Leibniz im Werk Fichtes geht Reinhard Laudi in seiner Abhandlung "Leibniz im Verständnis Fichtes" nach (sie erscheint voraussichtlich 1996 in den "Kant-Studien").
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menfeld" die "Umgebung Kants und die Kant-Rezeption im 18. Jahrhundert" 94 vorgenommen haben, bislang aber wurde von ihnen diese wichtigste Streitsache bei der Aufnahme Kantischen Gedankenguts noch nicht einmal von außen beschrieben, geschweige denn rezeptionsgeschichtlich oder gar philosophisch zu würdigen versucht. Der Trier Kantforscher Norbert Hinske glaubt zwar die Bedeutung des Streits seit längerem erkannt zu haben, hat jedoch nichts Entscheidendes dazu publiziert. Schwankt er zwischen einer Deutung vom Idealismus und einer von Kants Leibnizischer Vergangenheit her?95
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Reinhard Brandt und Werner Stark (Hg.): Neue Autographen und Dokumente zu Kants Leben, Schriften und Vorlesungen. Hamburg 1987. = Kant-Forschungen, Bd. 1; S. V. In jedem Fall steht zu erwarten, daß seine Sicht der Dinge stark dogmatisch-realistisch gefärbt sein wird. Sein (abgesehen von den zahlreichen "Indizes", etwa zu Lambert) noch am ehesten wissenschaftliches Buch "Kants Weg zur Transzendentalphilosophie" hat Hinske schlicht mit "Der dreißigjährige Kant" untertitelt (erschienen Stuttgart 1970; 21987).
4. Die Kontroverse im engeren Sinn 4.1. Kant über den Zugang zu seiner kritischen Philosophie Kant teilt die Ansicht Eberhards, [e]s k a n n nicht anders als nützlich, und d e m Schriftsteller, der etwas neues wagt, selbst w i l l k o m m e n seyn, daß seine Gedanken von allen Seiten geprüft werden. 1
Die Worte aus der Streitschrift "Es gibt keinen klassischen Autor in der Philosophie"2 - gelten nach Kant nicht nur gegen Leibniz, sondern auch gegen ihn selbst.3 Statt eines klassischen Autors der Philosophie stellt jedoch Kant der Philosophie eine klassische Aufgabe vor - die Kritik der Vernunft,4 einer "Wissenschaft der bloßen Beurteilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen und Grenzen".5 Nun kommt es darauf an, daß die Prüfung eines solchen Versuchs der Kritik der reinen Vernunft der "Sache" gemäß vorgenommen wird. Wie sie sich Kant vorstellt, hat er in öffentlichen und brieflichen Äußerungen skizziert. So legt er sehr ausführlich in seinem Brief an Mendelssohn vom 16. August 1783 dar, welche Schritte zu untersuchen seien: M a n würde also 1. untersuchen, ob es mit der Unterscheidung der analytischen und synthetischen Urtheile seine Richtigkeit u n d mit der Schwierigkeit, die Möglichkeit der letzteren, w e n n sie a priori geschehen sollen einzusehen, die Bewandnis habe, die ich ihr beylege u n d ob es auch von so großer Nothwendigkeit sey, die D e d u k t i o n der letzteren Art von Erkentnisse zu Stande zu bringen, o h n e welche keine Metaphysik statt findet.
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Phil. Mag., Bd. I, S. 5. - Vgl. dazu bei Kant: ÜE 246 und Prol. 372/373, 378-379, 380, insbesondere 382. Vollständig lautet Kants Satz, ÜE 219 Anm., so: "Denn was phibsophisch-richtig sei, kann und muß keiner aus Leibnizen lernen, sondern der Probirstein, der dem einen so nahe liegt wie dem anderen, ist die gemeinschaftliche Menschenvernunft, und es giebt keinen klassischen Autor der Philosophie." Vgl. K r V B 775, B 781/782. Hier hofft Kant darauf, daß sich (in Propädeutik und Doktrin, vgl. die nächstfolgende Anmerkung) ein abgeschlossenes und unüberbietbares Wissen erwerben und niederlegen ließe (KrV B 26, B 732, B 785; Prol. 366, 382). KrV B 25. Diese Wissenschaft bezeichnet - was nicht im dogmatisch-rationalistischen Sinn mißverstanden werden darf - Kant auch als "System aller Principien der reinen Vernunft" (B 27) und als solches als "die vollständige Idee der Transscendental-Philosophie" (B 28). Die Kritik geht damit als "Propädeutik" (B 25) der Transzendentalphilosophie als "Doctrin" (B 25) voraus. Das "vornehmste Augenmerk" bei der Kritik ist, "daß gar keine Begriffe [oder Vorstellungen] hineinkommen müssen, die irgend etwas Empirisches in sich enthalten, oder daß die Erkennmiß a priori völlig rein sei" (B 28). Zur Erkenntnis a priori gehört auch die Sinnlichkeit, sofern sie "Vorstellungen a priori enthalten sollte, welche die Bedingung [A: "die Bedingungen"] ausmachen, unter der uns Gegenstände gegeben werden" (B 29/30 = A 15). Damit demarkiert sich Kant gegen Ende der "Einleitung" der "KrV" endgültig vom Dogmatischen Rationalismus.
4.1. Kant über den Zugang zu seiner kritischen Philosophie 2. O b es wahr sey, was ich behauptet habe, daß wir a priori über nichts als über male Bedingung einer möglichen (äußeren oder inneren) Erfahrung überhaupt tisch urtheilen können, so wohl was die sinnliche Anschauung derselben, als Verstandesbegriffe betrift, die beyderseits noch vor der Erfährung vorher gehen allererst möglich machen.
75 die forsynthewas die und sie
3. ob also auch meine letzte Folgerung richtig sey: daß alle uns mögliche speculative Erkentnis a priori nicht weiter reiche, als auf Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung, nur mit dem Vorbehalte, daß dieses Feld möglicher Erfahrung nicht alle Dinge an sich selbst befasse, folglich allerdings noch andere Gegenstände übrig lasse, ja so gar als nothwendig voraussetze, ohne daß es uns doch möglich wäre von ihnen das mindeste bestimmt zu erkennen. Wären wir erst soweit, so würde sich die Auflösung, darinn sich die Vernunft selbst verwickelt, wenn sie über alle Grenze möglicher Erfährung hinauszugehen versucht, von selbst geben, imgleichen die noch nothwendigere Beandtwortung der Frage, wodurch denn die Vernunft getrieben wird über ihren eigentlichen Wirkungskreis hinauszugehen, mit einem Worte die Dialectick der reinen Vernunft würde wenig Schwierigkeit mehr machen und von da an würde die eigentliche Annehmlichkeit einer Critik anheben, mit einem sicheren Leitfäden in einem Labyrinthe herum zu spatziren, darinn man sich alle Augenblicke verwirrt und eben so oft den Ausgang findet.6
Der zentrale Punkt der "Analytik" der "KrV" liegt damit im Nachweis der Möglichkeit einer Synthesis a priori. (Die dazu hinführende Frage, ob man noch einen anderen Urteilstypus als den analytischen zu denken genötigt ist, ist somit keine Frage der logischen Rekonstruktion von Urteilen, sondern eine transzendentale ihrer ursprünglichen Konstitution.) Gelingt der Nachweis, ist eine Metaphysik der Erfahrung fundiert, die freilich - und zwar wegen ihres apriorischen Bezugs auf mögliche Anschauung - nur fiir Gegenstände als Erscheinungen gelten kann, allerdings in dem denkbar stärksten Sinn, daß sie nicht nur die Möglichkeit der Erfährung, sondern eodem actu die Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung darlegt. Durch die Restriktion des Objektbereichs einer solchen Metaphysik der Natur ergibt sich andererseits die Möglichkeit einer von ihr logisch unabhängigen Metaphysik der Sitten. Von da her bekommt die "Dialektik" der "KrV" einen doppelten Wert. Sie demonstriert, wie ein über die Grenze der Erfährung hinausgetriebener theoretischer Gebrauch der Vernunft scheitern muß, und weist auf, daß es nur dem praktischen Vernunftgebrauch vorbehalten sein kann, unabhängig von Erfahrung zu objektiven, bzw. allgemeinverbindlichen Urteilen zu gelangen, nicht über das, was ist, sondern über das, was sein soll. Knapper finden sich die Begutachtungshinweise auch in Kants Brief an Garve vom 7. August 1783. 7 Daß sie ungeachtet ihrer Mitteilung in Briefen nicht bloß privaten Charakter haben, bezeugen die Briefe selbst. In beiden äußert Kant die dringende Hoffnung, die Adressaten möchten sich selbst an eine intensive Prüfung der Kritik
6 7
Kant an Moses Mendelssohn vom 16.8.1783; AK X, S. 345-346. [Die Absätze wurden von uns eingefügt.] Kant an Christian Garve vom 7.8.1783; AKX, S. 340/341.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
machen oder eine solche vermitteln, damit aber die Kriterien der Prüfung nach außen tragen. 8 öffentlich legt Kant im Anhang zu den auch von Eberhard konsultierten "Prol." dar, wie ein Prüfer oder Rezensent der "KrV" verfahren muß, wenn er als solcher ernst genommen werden will: Da die Sätze der bisherigen Metaphysiken umstritten sind, soll die Vernunftkritik nicht an der von ihm bislang zufällig vertretenen metaphysischen Doktrin gemessen werden, sondern er soll diese vorläufig ruhen lassen, um die Kritik aus den von ihr selbst dargelegten Voraussetzungen heraus zu prüfen. Er soll also nur ein solches Urteil abgeben, das auf die unvoreingenommene Untersuchung der " K r V folgt und ihr nicht schon vorausgeht. Der umgekehrte Weg wäre nur dann legitim, wenn ein "sicheres Kriterium der Wahrheit eigentlich-metaphysischer (synthetischer) Sätze"' bereits verfügbar wäre und zur Prüfung angewandt werden könnte. 10 Unter einer Vernunftkritik versteht also Kant zunächst nicht eine mehr oder minder neue Art von Metaphysik, sondern eine Erkundung der Vernunft in rechtfertigender Absicht, die überhaupt erst die Möglichkeit einer theoretischen (wie auch praktischen) Metaphysik aufzeigt. Diesen Unterschied hat Kant wiederum besonders in den "Prol." betont. Trotzdem, daß Eberhard selbst beansprucht, nichts Geringeres als eine Vernunftkritik bei Leibniz zu rekonstruieren, verwischt er diesen für Kant entscheidenden Unterschied. Er gehört damit zu den dogmatischen Philosophen, die die Quellen metaphysischer Urtheile immer n u r in der Metaphysik selbst, nicht aber außer ihr, in den reinen Vernunftgesetzen überhaupt, 1 1
suchen. Damit muß er auch Kants Kritizismus als ein bloßes Stück Metaphysik mißverstehen. Die Unterscheidung zwischen einer aufs Geratewohl "bloß um ihres Gelingens willen" (ÜE 226) gewagten oder zunächst epistemologisch reflektierten Metaphysik liegt auch Kants Vorwurf an Eberhard zugrunde, er wolle die Kantische Vernunftkritik aus Büchern heraus kritisieren - gemeint ist das metaphysische Erbgut von Leibniz -, nicht aber aus der Vernunft selbst.12 Nach Kant läuft das bei Eberhard darauf hinaus, daß er die vorab gebotene Erörterung des Kriteriums für die Gültigkeit von metaphysischen Sätzen überspringt, u m den Leser, ehe noch der Probirstein der Wahrheit ausgemacht ist u n d er also noch keinen hat, für Sätze, die einer scharfen P r ü f u n g bedürfen, zum voraus einzunehmen u n d nachher 1 3 die Gültigkeit des Probirsteins, der hintennach gewählt wird, nicht, wie 8
9 10 11 12 13
Kant an Garve vom 7.8.1783 (AK X, S. 340 und S. 341) und an Mendelssohn vom 16.8.1783 (AK X, S. 345 und S. 346). Förmlich bittet Kant in besagtem Brief Mendelssohn darum, sein "Ansehen" und seinen "Einfluß dazu zu verwenden [.], eine nach einem gewissen Plane verabzuredende Prüfung" der Hauptsätze der Kritik "zu vermitteln und dazu auf eine Art wie sie Ihnen gut dünckt aufzumuntern" (a.a.O., S. 345). Unmittelbar daran folgt dann der Hinweis auf die drei oben genannten zentralen Punkte einer solchen Prüfung. Prol. 372. Prol. 371-372; vgl. auch Prol. 378, 383 sowie KpV 17/18. Prol. 270; vgl. auch Prol. 377 und KrV B 789, 791. ÜE 187, Z. 18-21; ferner ÜE 247, 2. Abs. Kant bezieht sich damit, wie unten besprochen werden wird, auf Eberhards spät nachgeschobene Diskussion des Untetschieds der synthetischen und analytischen Urteile.
4.2. Die innere Strategie
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es doch sein sollte, aus seiner eigenen Beschaffenheit, sondern durch jene Sätze, an denen er die Probe hält (nicht die an ihm die Probe halten), zu beweisen. Es ist ein künstliches hysteron proteron [...].14 Die von Kant in der "Transzendentalen Dialektik" systematisch erörterte Gefahr, durch Schlüsse nach unverdächtig scheinenden Prinzipien oder durch Ausdehnung von Grundsätzen der Erfahrung über den Bereich möglicher Erfahrung hinaus in Nebelbänke von Scheinwissen zu geraten, schreckt den auf Tradition, Autorität, gesunden Menschenverstand und bloße Logik 15 vertrauenden Eberhard nicht von spekulativen Urteilen ab. Die Analyse von Eberhards Aufsätzen wird sogar zeigen, daß er ganz bewußt jenseits der Grenzen möglicher Erfahrung alles das als der "Logik der Wahrheit" 16 zugehörig verstanden hat, was Kant als Fälle vernünftelnden Schließens 17 im Rahmen einer "Logik des Scheins" 18 nachgewiesen hat. 19
4.2. Die innere Strategie 4.2.1. Eberhard gegen Kant Der "im Namen des Leibnizischen Systems"20 auftretende Eberhard versucht, Kants Kritizismus nach zwei Seiten hin historisch zu relativieren. Das in ihm enthaltene "Wahre" sei nach Eberhard Leibniz zuzuordnen, das "Falsche" als ein subjektiver Idealismus (in Richtung auf Hume und Berkeley)21 zu entlarven. Gelänge es Eberhard, dieses Programm beweiskräftig durchzuführen, so wäre Kants Eigenleistung vollständig aufgehoben. (De facto wird sich Eberhard allerdings weitgehend - seiner Hauptthese gemäß - auf den Vergleich Kant/Leibniz beschränken.) Daß man bloß durch Begriffe und ohne ihre objektive Gültigkeit vorab zu prüfen zu wahren Erweiterungserkenntnissen gelangen könne, versucht Eberhard immer wieder an mathematischen Beispielen zu belegen. Ohne zusätzliche Begründung soll dann auch dasselbe rein begriffliche Verfahren in der Metaphysik gelten. Eberhard will damit exemplarisch an der Mathematik zeigen, daß Vernunfterkenntnis auf keinerlei Anschauung angewiesen sei. Durch Eliminierung der Anschauung - es handelt sich hier um die Kantische reine Anschauung a priori, Raum und Zeit, als Formen der sinnlichen Anschauung 22 - verschwinden auch die Grenzmarken, die nach Kant den 14 15 16 17 18 19 20 21 22
ÜE 188 (vgl. auch Prol. 372 und KrV A 5); "die Probe halten" bedeutet "die Probe bestehen". Zum letzteren Punkt vgl. KrV B 85 und B 88. KrV B 87. KrV B 397. KrV B 86. Vgl. ÜE 228, Z. 5-6, sowie KrV B 796. - Zu Eberhard vgl. Phil. Mag., Bd. I, S. 157-158. Phil. Mag., Bd. I, S. 393 Anm. Vgl. dazu unsere Analyse von Eberhards Aulsatz "Über die Schranken der menschlichen Erkenntnis" (Kapitel 4.5.1). Vgl. KrV B 73.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
Bereich objektiver theoretischer Erkenntnis auf den Bereich möglicher Anschauung restringieren. Aus Kants Sicht liegt dabei das Täuschungsmanöver darin, daß bei mathematischen Sätzen notwendig wenigstens die Zeit als reine Anschauung im Spiel ist (bei geometrischen Sätzen zusätzlich der Raum), daß also anstelle der Erweiterung durch bloße Begriffe eine Erweiterung durch Konstruktion von Begriffen durch die produktive Einbildungskralt in der reinen Anschauung stattfindet. 23 Eberhard hat damit entweder einen Standardfehler begangen und reine Anschauung intellektualisiert24 oder bewußt die Rolle der Anschauung unterdrückt und somit sein Beweisverfähren erschlichen. Bei der Verwendung von mathematischen Beispielen25 ging Eberhard ganz augenfällig in die Schule von Leibniz. Für diesen sind alle mathematischen Urteile analytisch und beruhen wesentlich nur auf dem Begriff.26 (Für die Sätze der Geometrie wird Eberhard zeitweilig zugestehen, daß hier ein anschauliches Moment mit konstitutiv ist.27^ Ist a priori in irgendeiner Form eine Erkenntniserweiterung festzustellen, muß Eberhard mit Leibniz annehmen, diese sei begrifflich gegründet. Hinter dem Versuch, ein Beweisverfehren von einer Gattung der Erkenntnisse (der Mathematik) in eine andere (die Metaphysik) zu übertragen, steht ein unitaxisches Modell von Philosophie und überhaupt Erkenntnis, das die Oimensionsverschiedenenheit bei der Bildung philosophischer und mathematischer Sätze, von der besonders Kant wie kaum ein Philosoph vor ihm ausging, 28 verwirft, nämlich das wiederum Leibnizische Konzept einer "mathesis universalis".29 23 24
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ÜE 190-192, 195-196, 212, 234. Vgl. KrV A 4/5: Man kann die Erweiterung der Erkenntnis a priori in der Mathematik falschlich leicht als durch den Begriff geleistet betrachten, "weil gedachte Anschauung selbst a priori gegeben werden kann, mithin von einem bloßen reinen Begriff kaum unterschieden wird. Durch einen solchen Beweis von der Macht der Vernunft aufgemuntert, sieht der Trieb zur Erweiterung keine Grenzen. Die leichte Taube, indem sie im freien Fluge die Luft theilt, deren Widerstand sie fühlt, könnte die Vorstellung fassen, daß es ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen werde." Einige Beispiele für Leibnizens Rückgriff auf mathematische Beispiele zum Beleg physikalischer oder metaphysischer Sätze seien hier genannt: "Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der teutschen Sprache", §§ 6 und 8; "Principes", § 5; "Dialogus" vom August 1677, passim. Auch den Musikgenuß erklärt Leibniz über sein Theorem von den "petites perceptions" als Nachvollzug mathematischer Kalküle und Proportionen ("Principes", § 17; vgl. dazu § 13). In Leibnizens zweitem Brief an Glarke fuhrt er (zu Beginn) S. 355 aus, die Mathematik beruhe ausschließlich auf dem "Principe de la Contradiction, ou de l'Identitf. Alle arithmetischen und geometrischen Sätze und Prinzipien könnten daraus abgeleitet werden. Ironischerweise unter dem Einfluß von Bendavids Aufsätzen im "Phil. Mag." revidierte Eberhard seine ursprüngliche - vielleicht als Konzession Kant gegenüber zu verstehende - Ansicht, daß einigen geometrischen Axiomen nur anschauliche Gewißheit zukommt, und zwar in dem Aufsatz: "Beweis daß die Principien der Geometrie allgemeine Begriffe und der Satz des Widerspruchs sind", Phil. Archiv 1/1, S. 126-140. Man beachte vor allem das Kapitel "Die Disziplin der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauche" in der "KrV" (B 740-766, insbesondere B 763-766); vgl. auch Prol. 370, Z. 25. Zum Konzept einer "mathesis universalis", das mit der Idee eines allgemeinen Symbolisierungssystems, der "characteristica universalis" (oder "ars characteristica combinatoria") verbunden ist, vgl. die
4.2. Die innere Strategie
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So ergibt sich der Fall, daß jeder der beiden Kontrahenten von seiner eigenen Konzeption von Mathematik, Philosophie und Erkenntnis gedeckt ist, wenn er den anderen angreift. Eberhard als den Auslöser der Kontroverse trifft aber in besonderem Maße die Schuld, daß er bei Kant zu wenig die unterschiedlichen Hintergründe seiner Resultate untersucht und dargelegt hat. Anstatt die Differenz erst einmal voll offenzulegen und sich dann um eine Entscheidung durch stärkere Argumente zu bemühen eine nicht zuletzt wegen des Standpunkts, von dem aus das Endurteil gefallt werden soll, allerdings sehr schwere Aufgabe -, versucht Eberhard, Kants Position an der Leibnizischen Norm zu messen. Das zeigt sich nicht nur daran, daß Eberhard den Status mathematischer Sätze bei Kant mit dem bei Leibniz stillschweigend identifiziert (sonst würde ihm subjektiv das Recht zum Einsatz der mathematischen Illustrationen fiir metaphysische Sätze fehlen), sondern etwa auch an seiner "Rekonstruktion" des Unterschieds synthetischer von analytischen Urteilen, wodurch, wie wir sehen werden, 30 Eberhard mehr oder minder versteckt die synthetischen zu analytischen ummodelt (und sich dabei wiederum von Leibniz gedeckt weiß). Kant stellt fest, daß sich ihm Eberhard mancherorts insofern annähert, als er es unternimmt, bestimmte metaphysische Begriffe an der Anschauung zu belegen. 31 Von Eberhard aus könnte das strategisch gemeint sein, um bei einem Publikum, das Kants Insistenz bezüglich der fiir die Objektivität von Begriffen unabdingiichen Korrespondenz in der Anschauung vage kennt, überzeugend zu wirken und, nachdem es zutraulich geworden ist, fiir Sätze einer Kant vorgeblich überlegenen Warte einzunehmen.
von Gerhardt in Bd. IV und VII seiner Leibniz-Ausgabe veröffentlichten Texte, insbesondere die "Dissertatio de Arte Combinatoria", Bd. IV, S. 27-104, und "Ohne Überschrift, die Characteristica Universalis betreffend", Bd. VII, S. 184-189, wo es im ersten Absatz, S. 184, heißt: "Sed nihil est quod numerum non patiatur. Itaque numerus quasi figura metaphysica est, et Arithmetica est quaedam Statica Universi, qua rerum potentiae explorantur." Es handelt sich dabei nicht eigentlich um den Versuch einer Verabsolutierung speziell der Mathematik, sondern um die Idee einer Generalisierung der auch der Mathematik zugrunde liegenden logischen Kalkülmethode auf alle Bereiche der Erkenntnis. Berechnet werden kann in diesem (onto-logischen) Sinn auch die letzte, d. h. absolute, Wirklichkeit oder Möglichkeit der Dinge ("potentiae rerum"). Ganz im Gegensatz dazu ist für Kant die Gültigkeit des Berechnens und der Mathematik auf die phänomenale Wirklichkeit begrenzt. Einen irgendwie metaphysischen Anspruch kann damit das Mathematische und Logische nach Kant nicht erfüllen. War für Leibniz das Grundmodell aller Erkenntnis der logisch-mathematische Kalkül, ist es bei Kant der Entscheid über mit Urteilen erhobene Rechtsansprüche auf Geltung der Aussage. In beiden Modellen spielt der Ausdruck "Deduktion" eine verbal identische, der Bedeutung nach aber fundamental andersartige Rolle. Bei Leibniz ist "Deduktion" ein logisches Ableitungsverfahren, bei Kant ein gleichsam rechtskundliches Beweisverfahren, die Gültigkeit von Begriffen a priori darzulegen (durch notwendigen Bezug auf mögliche Anschauung). Im eisten Fall ist die Logik in Anlehnung an Kants Sprache konstitutiv (ein Organon), im zweiten Fall regulativ (ein Kanon). In einer seiner Vorarbeiten nennt Leibniz selbst die allgemeine Charakteristik "Verum Organon Scientiae Generalis" (Gerhardt, Bd. VII, S. 205). 30 31
Siehe Kapitel 4.5.6. Ü E 201-202, 204,206, 216, 223, 224.
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4. D i e Kontroverse i m engeren Sinn
4.2.2. Kant gegen Eberhard Der Vorwurf an Eberhard, die "KrV" mißverstanden und sogar verfälschend32 dargestellt zu haben, kann nicht ausschließlich als polemisches Stratagem gewertet werden; zu auffallig sind hier Eberhards Defizite. Daß Eberhard nicht überall die für ihn eigentlich tragende Strategie verfolgt, die Bedeutung der reinen Anschauung herunterzuspielen und an einigen Stellen mit dem Verweis auf eine dem Begriff entsprechende Anschauung arbeitet, kann Kant als Bestätigung der Überlegenheit seiner Position ausnützen. Konsequent versucht er dann auch, Eberhards Aussagen als schlicht fälsch33 oder bloß logisch legitimiert34 also als nicht objektiv gültig - darzustellen, wo Eberhard sich von der Anschauung emanzipiert. Dem dient wiederum der oben bereits genannte Vorhalt, nach dem Eberhard keinen "Probierstein der Wahrheit" - für Kant enthüllt sich ein solcher in der Auflösung der Frage, wie synthetische Urteile a priori möglich seien - habe, um über die Logik und das bloße Denken hinaus zu inhaltlich fundierten Sätzen zu gelangen.35 An manchen Stellen ist deutlich sichtbar, daß sich Kant bemüht, seine Position einem Dogmatiker wie Eberhard plausibel zu machen. Daß Kant im wahrsten Sinne des Wortes "ad hominem" argumentierend Eberhard entgegenkommt - denn nur so kann ihm Wind aus den Segeln genommen werden -, kann nur dann als Abweichung vom kritischen Kurs gewertet werden, wenn man erstens den pragmatischen Kontext außer Acht läßt und zweitens Kants Unterscheidung von (bloßem) Denken und (wirklichem) Erkennen vernachlässigt.36 Freilich ist deshalb noch nicht ausgeschlossen, daß Kant lapsarisch einige Unstimmigkeiten zur "KrV!' unterlaufen sind. 37 Im Ganzen versucht Kant, Eberhard die Grundlagen seines Denkens zu entziehen. Dies betrifft vor allem den interessantesten Aspekt von Kants Strategie, nämlich wie er 32 33 34 35 36
37
Vgl. dazu auch die gleichsam Eberhards Vorgehen antizipierenden Worte KrV B 376-377. Ü E 198 und 213 Anm. ÜE 223. ÜE 188. Dies erklart Kants stark realistisch klingende Redeweise von "Dingen an sich" (etwa ÜE 207, 209/ 210). "Objektive Gründe" (ÜE 207) sind aber keine objektiven Ursachen, sondern nur objektive Denkgründe. Freilich hat Kant schon in der " K r V häufig den logischen Ausdruck "Grund" durch das Wort "Ursache" (vgl. in diesem Zusammenhang insbesondere KrV B 344) wiedergegeben und umgekehrt. D a ß die Dinge an sich in "ÜE" tatsächlich sogar den Stoff zur Erkenntnis zu liefern scheinen, erklärt sich aus einer zu starken Anpassung an die von Kant explizit aufgenommene Rede Eberhards von dessen S. 275 (ÜE 215, 2. Abs. und 219, Z. 21-22). Ebenso akzeptiert Kant ein Stück weit Eberhards These, die Gründe der Vorstellungen von Raum und Zeit und der Begriffe seien angeboren (ÜE 222-223). So heißt es ÜE 203, Z. 2-3, Raum und Zeit seien "bloße Gedankendinge und Wesen der Einbildungskraft". In der " K r V unterscheidet Kant scharf zwischen "Gedankending" ("ens rationis") und "ens imaginarium" (hier zu übersetzen mit "Wesen der Einbildungskraft"); danach sind Raum und Zeit nur entia imaginaria (KrV B 347-348). Unter dem Gedankending versteht Kant in der "KrV" das Noumenon. Nach "ÜE" würden Raum und Zeit denselben Status haben wie Dinge an sich. (Das ließe sich noch dadurch verstärken, daß man "und Wesen der Einbildungskraft" als Hinweis auf die Apprehension von Raum-Zeit-Konfigurationen durch die Einbildungskraft versteht.)
4.2. Die innere Strategie
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sich zu Leibniz, auf den sich Eberhard ja konstant beruft, stellt. Wie oben gesagt, weisen äußere Gesichtspunkte darauf hin, daß Kant in "ÜE" das Leibnizbild auch hier pragmatischen Zwecken anpaßt. Ist Kants Leibnizauslegung im Schlußteil der Streitschrift akzeptabel, ergibt sich nichts weniger als ein "renvirement des alliances": Mit Leibniz kann dann Eberhard nicht mehr Ungegründetheit und Überflüssigkeit der Kritik belegen, wohl aber vermag Kant mit Leibniz die Notwendigkeit, zu einer Kritik der reinen Vernunft zu gelangen, zu begründen. 38 Indem sich Kant äußerlich dem "argumentum ad verecundiam" unterwirft, 39 kann er - Leibniz zunächst beiseite lassend - umso direkter Eberhard angreifen (letztlich auch wegen dessen Berufung auf Leibniz in Gestalt eines solchen sachlich ja nicht zwingenden Arguments). In einem zweiten Zug wird dann im positiven Sinn Leibniz dazu gebracht, für Kant und gegen Eberhard zu zeugen.40 Dennoch hat Kant schon vorher Eberhard ein mangelhaftes Leibniz-Verständnis vorgeworfen und auch Leibniz als grundsätzlich fallibel in die Sachdiskussion zurückgeholt.41 Durch die vorläufige Ausklammerung Leibnizens braucht Kant auch nicht auf Eberhards Methode des Vergleichs eingehen. Am folgenreichsten für Leibniz ist jedoch, daß nach Kant die Kritik der Vernunft auch den Schlüssel aller Hermeneutik enthält. 42 Dadurch erscheint es als möglich, einen Leibniz sogar adäquater zu verstehen, als er sich selbst verstand und als es seine Anhänger zu leisten im Stande sind, da sie Uber diesen Schlüssel nicht verfugen. Dies geschieht konkret nicht erst in "ÜE", wo Leibniz, um ihn gegen Eberhard fuhren zu können, so interpretiert wird, daß ihn Kant letztlich nur loben kann, sondern vollzieht sich schon in der " K r V .
4.2.3. Kants Leibnizinterpretation 43 (a) Das hervorstechendste Merkmal an dem differenzierten Bild, das Kant von Leibniz in der " K r V zeichnet, liegt in dem scharf formulierten Vorwurf, Leibniz habe eine falsche Auffassung von Sinnlichkeit vermittelt, wonach sie nur eine verworrene Vorstellungsart sei, d. h. andere (nämlich intellektuelle) Vorstellungen als gegeben voraussetzt, die sie dann in konfuser Gestalt repräsentiert, und keine positive durch 38 39 40 41 42
43
ÜE 250: "So möchte denn wohl die Kritik der reinen Vernunft die eigentliche Apologie für Leibniz selbst wider seine ihn mit nicht ehrenden LobsprQchen erhebende Anhänger sein [.]" ÜE 187; dort preist Kant Leibniz als einen "großen Mann". ÜE 247-251. ÜE 219 (auch Anm.). Das sagt Kant schon zu Beginn der zweiten Ausgabe der "KrV", B 27; vgl. auch B 779. Unter hermeneutischen Gesichtspunkten verfuhr Kant in der "KrV" mit Plato ähnlich wie mit Leibniz (vgl. B 370). Vgl. überhaupt das Kapitel "Die Geschichte der reinen Vernunft", KrV B 880-884. Es geht hier - unter Beschränkung auf den kritischen Kant und die theoretische Philosophie - hauptsächlich um die Auflistung der Kritikpunkte. Die flir unser Thema wichtigsten werden später wiederaufgenommen.
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4. D i e Kontroverse im engeren Sinn
andere Vermögen unvertretbare Erkenntnisquelle.44 Dadurch habe er nicht nur selber ein "intellektuelles System" errichtet (KrV B 337), sondern auch den Weg zu einer Kritik der reinen Vernunft verschüttet. 45 Ohne sinnliche Anschauung als genuine Erkenntnisquelle gibt es nämlich gar keine echten Erweiterungsurteile, in Bezug auf die dann kritisch untersucht werden müßte, worauf sich deren Geltungsanspruch gründe. Die die Sinnlichkeit betreffenden Angriffe finden sich erstmals in der "Allgemeinen Anmerkung zur transzendentalen Ästhetik" 46 (KrV B 60-B 62). Sie werden in dem Kapitel verstärkt wiederaufgenommen und mit anderen Kritikpunkten systematisch vernetzt, das zentral der Abgrenzung gegen Leibniz (freilich auch mit umgekehrtem Vorzeichen gegen Locke) gewidmet ist: "Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe durch die Verwechslung des empirischen Verstandesgebrauchs mit dem transzendentalen" (B 332). Noch undeutlicher als später in "ÜE" 47 unterscheidet er bei Leibniz die von diesem angenommene intellektuelle Anschauung der Dinge an sich und eine Sinnlichkeit der Empfindung, die sich auf die Perzeptionen der intellektuellen Anschauung bezieht.48 (b) In der "Anmerkung zur Antithesis" der ersten Antinomie äußert Kant ein teilweises Einverständnis mit Leibnizens Raum-Theorie (KrV B 459 und 461). Er stimmt dem idealen Charakter des Raums (und analog der Zeit) zu, wendet sich aber gegen die Koppelung des Raum-Zeit-Begriffs mit dem Konzept eines "mundus intelligibilis". (c) Leibnizens Monadenlehre wird in den «Anmerkungen zur Thesis und Antithesis» der zweiten Antinomie (erneut nach Stellungnahmen in der "Amphibolie") zurechtgerückt (KrV B 466-470, insbesondere B 469 und 470; dazu ÜE 203, 209 Anm.): Sie könne nicht als von Gegenständen der (sinnlichen) Anschauung und der Geometrie gültig aufgefaßt werden, sondern betreffe nur den problematisch zu denkenden übersinnlichen Grund der Erscheinungen. 49
44 45
46 47 48
49
Vgl. KrV B 60-61 = A 43-44. KrV B 61 unten in Verbindung mit B 882, wonach nach Leibniz alle Erkenntnis aus Verstand und Vernunft entspringt (deshalb nimmt Leibniz nach Kant auch eine intellektuelle Anschauung an und m u ß diese streng von der für die Erkenntnis prinzipiell irrelevanten, bestenfalls als Gelegenheitsursache zur Aktuierung eines intellektuellen Vermögens nützlichen, sinnlichen Anschauung scheiden). U m keine Verwirrung zu saften, geben wir nicht die Seitenzahlen der hier behandelten Kapitel der "KrV" an, sondern nur die jeweils für die Sachfiagen relevanten Stellen. Ü E 219 (Kant stellt die zwei Konzeptionen der Sinnlichkeit einander gegenüber), 220; vgl. auch 248/ 249. Vgl. KrV B 332: Kant sagt, daß Leibniz "der Sinnlichkeit keine eigene Art der Anschauung zugestand, sondern alle, selbst die empirische Vorstellung der Gegenstande im Verstände suchte und den Sinnen nichts als das verächtliche Geschäfte ließ, die Vorstellungen des eisteren zu verwirren und zu verunstalten." Hier ist es im Grunde einerlei (und beides als Interpretation möglich), ob es sich bei den im Verstände gesuchten Vorstellungen um Begriffe oder intellektuelle Anschauung handelt. Siehe auch Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft; AK IV, S. 507/508.
4.2. Die innere Strategie
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(d) Ohne seinen Namen zu erwähnen, kritisiert Kant im Kapitel "Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena" Leibnizens Lehre von der Realdefinition, fiir die Widerspruchsfreiheit noch keine hinreichende Bedingung sei (KrV B 300-303, B 308 und B 311, insbesondere B 302). (e) Am Schluß des Kapitels "Von der Unmöglichkeit eines ontologischen Beweises vom Dasein Gottes" (KrV B 630) weist Kant daraufhin, Leibniz sei es nicht gelungen, die reale Möglichkeit Gottes mit Hilfe des Begriffs des "höchsten Wesens" zu erweisen. (f) Zum "Satz des Grundes" und zu den Erwartungen, die von Leibnizianischer Seite an ihn gestellt werden, nimmt Kant in der " K r V dreimal Stellung (KrV 246, 264, 811). Die Ausführungen in ÜE 247-248 werden dadurch ergänzt. (g) Kant akzeptiert das von Leibniz formulierte Prinzip der "kontinuierlichen Stufenleiter der Geschöpfe" (KrV B 696) als Fall des von Kant aufgestellten transzendentalen Grundsatzes der Affinität (als regulatives Prinzip der reinen Vernunft). 50 Dagegen wendet er sich gegen die Annahme einer ins Unendliche gehenden diskreten Untergliederung des Ganzen (KrV B 554). (h) Zur Frage der Angeborenheit der Vorstellungen von Raum, Zeit, Kategorien und Ideen äußert sich die "KrV" allenfalls indirekt (KrV B 91, 118). Erst "ÜE" beschäftigt sich explizit damit (ÜE 211 Anm., 221-223, 249). (i) Kant beleuchtet Leibnizens Konzept einer vorherbestimmten Harmonie in den drei Fällen der Gemeinschaft der Substanzen (KrV B 293, 331), der Leib-Seele-Einheit (KrV A 390-396; ÜE 250) und der Verbindung eines phänomenalen "Reichs der Natur" mit einem noumenalen "Reich der Gnaden" (B 840; ÜE 249-250). In den ersten beiden Fällen wird es verworfen, bzw. uminterpretiert, nur im dritten nimmt Kant das Leibnizische Theorem positiv auf. 51 (j) In der "Geschichte der reinen Vernunft" werden zum Ende der " K r V zwei Aussagen über Leibniz gemacht, doch taucht sein Name nur einmal auf: Unter dem Gesichtspunkt des Ursprungs reiner Erkenntnis werden Plato und Leibniz als "Noologisten" genannt (KrV B 882). Unter dem Gesichtspunkt des Gegenstandes der Erkenntnis ist Leibniz mit Plato ein "Intellektualphilosoph" (KrV B 881). 52 Von Kant aus gesehen, ist freilich die Behauptung des Ursprungs einer Vorstellung aus reinem Verstand und reiner Vernunft solange legitim, wie nicht die aus reiner Sinnlichkeit 50 51
52
Vgl. KrV B 685/686. Zur dann im eigentlichen Sinn Kantisch gewordenen Unterscheidung Reich der Natur/Reich der Gnaden siehe KpV 72-87. In der "KpV" ist Leibnizens "beste Welt" (KpV 226), bei ihm die wirkliche Welt ("Principes", $ 10; dessen ungeachtet nimmt Leibniz eine künftige Glückseligkeit - und damit eine bessere als die beste Welt - an, a.a.O. § 18), für das höchste (abgeleitete) Gut vorbehalten. Unter dem Namen Wolfis nennt die "KpV" als heteronomes und daher illegitimes Moralprinzip die "Vollkommenheit" (KpV 69, vgl. 112-113). Kant bezeichnet in B 881 der "KrV" Leibniz nicht ausdrücklich als einen Intellektualphilosophen, hat ihn aber schon vorher, B 323, einen solchen genannt. Die Position der Intellektualphilosophen lautet B 881/882: "In den Sinnen ist nichts als Schein, nur der Verstand erkennt das Wahre."
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
entspringenden Vorstellungen (was allerdings Leibniz und Plato taten) bestritten werden. Bloße Gedankendinge als objektliche Gegenstände - sogar als die eigentlich wahren Gegenstände - anzunehmen, gestattet Kant hingegen in keinem Fall. (k) Im bereits erwähnten "Amphibolie"-Kapitel laufen mehrere Fäden aus im Text der "KrV" früheren wie späteren Ausfuhrungen zusammen. Es ist das Herzstück von Kants Leibniz-Kritik. Kant diskutiert hier die vier Paare der "Reflexionsbegriffe", nämlich "Einerleiheit und Verschiedenheit", "Einstimmung und Widerstreit", "Inneres und Äußeres" und "Materie und Form" (Kant nennt es auch "das Bestimmbare und die Bestimmung"). Nach ihnen seien nicht logisch-formal, sondern inhaltlich alle Vorstellungen zu vergleichen. Je nachdem, ob es sich dabei um nicht-schematisierte Vorstellungen des reinen Verstandes handelt oder um Vorstellungen mit korrespondierender sinnlicher Anschauung, fällt das Resultat anders aus. (Kant spricht im ersten Fall vom "transzendentalen", im zweiten vom "empirischen" Verstandesgebrauch.) Vor einer Erkenntnis des Objekts geht es also um die Klärung, ob eine Vorstellung etwas sinnlich Gegebenes enthält oder nur einen reinen Begriff.53 Nur unter Bedingung des Ersteren kann die Vorstellung zu einem objektiv-gegenständlich gültigen Erkenntnisurteil verwandt werden. Unter Bedingung des Letzteren kann nur ein problematisches Urteil bloßer Denkmöglichkeit gefällt werden. Bei Nichtbeachtung dieser "transzendentalen Reflexion"54 drohen "Erschleichungen", "Blendwerke", "Täuschungen",55 da Erkennen mit Denken verwechselt wird und die "Reflexionsbegriffe" in der Ordnung des Denkens auf andere Konsequenzen fuhren als in der Ordnung des Erkennens. Das "Amphibolie'-Kapitel besteht aus drei aneinandergehängten Darstellungszügen, die weitgehend dasselbe thematisieren (KrV B 319-324; B 324-334; B 337-346), aber unterschiedliche Akzente setzen. Den Reflexionsbegriffen gemäß wird Leibniz unter vier Hauptaspekten kritisiert: - Leibniz nahm Erscheinungen für Dinge an sich und sinnliche Vorstellungen für (verworrene) intellektuelle (KrV B 320; B 326-327; B 331-333). Seine Bestimmung von Identität als UnUnterscheidbarkeit, d. h. sein "Satz des Nichtzuunterscheidenden", gilt daher für Erscheinungen nicht, da er an der reinen Anschauung versagt (KrV B 320; B 327; B 337-338). Die in der "KrV schon früh geäußerte Kritik an Leibnizens Auffassung von Sinnlichkeit wird hier abgerundet. - Leibniz kannte nur den logischen Widerstreit und wurde somit dem realen nicht gerecht (KrV B 320/321; B 328-330; B 338).* - Leibniz machte aus allen Substanzen denkende Substanzen, Monaden, denn, da er "Substanz" nur begrifflich bestimmte, konnte er ihr ausschließlich innere Merkmale 53 54 55 56
KrV B 316-319 und B 324-326. KrV B 318. Diese Ausdrücke (KrV B 324, bzw. B 331) stehen hier synonym für "Amphibolie". Wie unten erläutert werden wird, ist in der ersten Version von Leibniz explizit noch nicht die Rede.
4.2. D i e innere Strategie
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ohne Beziehung auf etwas von ihr Verschiedenes beilegen (KrV B 321-322; B 330331; B 339-342; ÜE 203, 209, 209 Anm.) Kants «Anmerkungen» zur zweiten Antinomie kommen später darauf zurück. - Leibniz stellte die Materie vor die Form, d. h. Dinge vor die Vorstellung (KrV B 322-324, B 331-333).57 Hier stellt Kant Leibnizens Raum-Zeit-Lehre die eigene gegenüber. Dazu gehört nachfolgend die "Anmerkung zur Antithesis" der ersten Antinomie. Was die beiden Arten des Verstandesgebrauchs, den transzendentalen (d. h. den jenseits aller möglichen Erfahrung) und den empirischen (d. h. den Gebrauch der VerstandesbegrifFe, um sinnlich Gegebenes ordnen und als Erfahrung lesen zu können) angeht, so akzeptiert Kant in der ersten Version (KrV B 319-324) beide parallel als jeweils fiir sich legitim. Nur das Übergreifen auf den je fremden Bereich ist zu ahnden. Leibniz wird damit gerechtfertigt: Er hat vom Standpunkt des transzendentalen Verstandesgebrauchs (z. B. bei der Annahme von Monaden)58 recht. Seine Aussagen gelten dann allerdings nur fiir diese intellektuelle Betrachtungsart, nicht fiir die reale.59 In der zweiten (KrV B 324-334) und dritten (KrV B 337-346) Version gewinnt die Frage nach dem Gegenstand an Gewicht. Dadurch verschiebt sich die Struktur der Legitimität. Begrifflich-noumenal entwickelte Gedankendinge gleiten in den Bereich des Fiktionalen, wenn gilt, daß nur solche Vorstellungen Objektivität beanspruchen können, denen Anschauung korrespondiert. Das hat Konsequenzen für das Leibnizbild. Der zweite - legitime, nur streng vom ersten zu scheidende - Standpunkt wird angesichts der erweisbaren Objektivität des empirischen Verstandesgebrauchs marginal.60 So sagt Kant, Ziel der transzendentalen Reflexion sei das Aufzeigen der Nichtigkeit aller Schlüsse über Gegenstände, die m a n lediglich im Verstände miteinander vergleicht. 6 1
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Hierzu findet sich in der dritten Version keine Entsprechung. KrV B 322. Kaulbach nennt die zwei Standpunkte den "phänomenalen" und "noumenalen". Da Phänomene neben der sinnlichen auch eine begriffliche Komponente enthalten, ergibt sich daraus eine "Zweiseitigkeit von Begriffen", einmal "Erscheinungsbegrifle", zum anderen "noumenale Begriffe" (Kaulbach: Kant, S 162/163). Kaulbach spricht in Beziehung auf das gesamte "Amphibolie"-Kapitel ohne nähere Differenzierung von den "zwei verschiedenen Standpunkten" (Kaulbach: Kant, S. 162). Er geht jedoch bei weitem nicht so weit wie Rosenkranz, der in diesem Kapitel quasi durch die Hintertür zwei Ordnungen des Erkennens - das phänomenale des Verstandes und das noumenale der Vernunft - bei Kant schattenhaft legitimiert sieht. (Rosenkranz: Geschichte, S. 142-143, 408-414). Hinter seiner Bewertung steht das Hegel'sche Denken, dessen Hauptverwandtschaft mit Leibniz damit zugleich offengelegt wird. Paton sieht in dem dem "Amphibolie"-Kapitel gewidmeten Aufsatz "Kant on the Errors of Leibniz" weder die repetitive Struktur des Textes noch die Verschiebungen in der Argumentation bezüglich der Gedankendinge, bzw. des bloß Denkbaren. KrV B 334. Kant geht dabei so weit, sogar die Möglichkeit der Annahme von Dingen an sich zu gefährden. Er will Dinge an sich - der "Transzendentalen Analytik" gemäß - nicht als "Objekte" zulassen, schießt aber über das Ziel hinaus, wenn er sagt, nicht einmal der Begriff (also das bloße Denken) sei auf sie anzuwenden (KrV B 345).
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
Allerdings nimmt Kant in seinem Brief an Garve vom 7. August 1783 wieder die Lehre der zwei Standpunkte an, wenn er bemerkt, daß man alle uns gegebene Gegenstände nach zweyerley Begriffen nehmen kan, einmal als Erscheinungen und dann als Dinge an sich selbst.62 In der zweiten Version wendet sich Kant schärfer und ausfuhrlicher gegen Leibniz und zugleich - als sein Antipode - gegen Locke. Hatte Leibniz selbst in den "Nouveaux Essais" die Überlegenheit gegenüber Locke darlegen zu können geglaubt, siedelt Kant jetzt beide als von komplementären Fehlern geprägt auf derselben inferioren Stufe an: Leibniz inttllectuirte die Erscheinungen, so wie Locke die Verstandesbegriffe [...] sensificirt [...] hatte. 63 - [Leibniz] verglich alle Dinge bloß durch Begriffe mit einander, und fand, wie natürlich, keine anderen Verschiedenheiten, als die, durch welche der Verstand seine reinen Begriffe von einander unterscheidet.64 Gegenüber der ersten Version sind zwei Punkte neu: Im Blick auf die Realrepugnanz (den wechselseitigen Abtrag wirklicher Phänomene) 65 fallt erst jetzt Leibnizens Name (KrV B 328-330). Inhaltlich liegt die gravierende Abweichung darin, daß aus dem noumenalen Gegensatz, wonach anders als bei Erscheinungen Dinge an sich nicht als einander widerstreitend vorgestellt werden können, ein nur logischer Gegensatz, wonach Begriffe logisch sich nicht widerstreiten können, geworden ist. 66 Kant wirft Leibniz nun vor, reale Repugnanz mit logischem Widerspruch verwechselt zu haben. Zweitens lehnt Kant im Blick auf die Unterscheidung Innen/Außen Leibnizens Erklärung der Gemeinschaft der Substanzen durch eine "vorherbestimmte Harmonie" ab (KrV B 330/331). 6 7
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Kant an Garve vom 7.8.1783; AK X, S. 341 Anm. KrV B 327. KrV B 326; siehe zu Leibniz auch KrV B 336. Kant unterscheidet (etwa in KrV B 328-330) zwei Arten von Widerstreit, den logischen zwischen einander widersprechenden Begriffen (der eine hebt dabei den anderen auf, so daß sich Uberhaupt kein Resultat ergibt) und - genannt "Realrepugnanz" - den realen zwischen zwei zueinander in Beziehung stehenden, aber einander entgegengesetzten (Wirkungen von) Dingen (deren Begriffe einander nicht widersprechen), etwa entgegengerichtete Kräfte (woraus gerade ein stabiler Zustand resultiert, also das Gegenteil einer vom logischen Widerspruch bekannten Aufhebung ins Nichts) oder Aktiv- und Passivfbrderungen an dieselbe Person. Da Leibniz die Dinge nur vom logisch-begrifflichen Standpunkt betrachtet, kann er als das einzige Widerstreitende nur "Schranken" als logische Negation annehmen. Aus diesem Grunde muß nach Kant auch sein Gottesbeweis scheitern, denn die Vereinigung aller Realität kann nicht mehr die von ihm benötigte "höchste" oder "vollkommenste" Wirklichkeit ergeben, da sich wenigstens einzelne reale Komponenten gegenseitig aufheben, also in ihrer Vereinigung in einem Subjekt (Gott) weniger positive Realität haben als für sich allein genommen. Die reale Möglichkeit der Gottesidee, die Leibniz brauchte, um von dieser Idee eines vollkommensten Wesens auf seine Existenz zu schließen (vgl. Leibniz (wahrscheinlich) an die Herzogin Sophie von Hannover; Gerhardt, Bd. IV, S. 295-296), geht damit verloren. Diesen Wechsel übernimmt auch die dritte Version, KrV B 338 und B 338/339 Anm. Vor dem "Amphibolie"-Kapitel hatte sich Kant jedoch dazu schon in B 293 der "KrV" geäußert. Dieser Faden wird also wiederaufgenommen, allerdings nur in der zweiten Version.
4.2. Die innere Strategie
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In der dritten Version (KrV B 337-346) schließlich fuhrt Kant im Zusammenhang mit der Unterscheidung Einerlei/Verschieden als neues Argument gegen Leibniz an, er habe das logische "dictum de omni et nullo" 68 zu dem Grundsatz verkehrt: [W]as in einem allgemeinen Begriffe nicht enthalten ist, das ist auch in den besonderen nicht enthalten, die unter demselben stehen[.] 69
Das ganze System von Leibniz ist nach Kant auf diesem Grundsatz errichtet (KrV B 337). Leibniz verwechselt also die Sache mit dem Begriff und begeht mit dem Begriff einen fundamentalen logischen Mißgriff. Als Ergebnis läßt sich feststellen: Leibniz erhält - wenigstens nach dem ersten Darstellungszug - eine Art Reservat oder ehrenhaftes Exil, wo er weiter über das objektivgegenständlich gänzlich bedeutungslose problematische Denken nach noumenalen Begriffen herrschen kann. 70 Als Philosoph, der beansprucht, Aussagen über die Wirklichkeit zu machen, ist er damit aber entmachtet. Insbesondere zwei Vorhalte sind ebenso kühn wie hart: Die Philosophie des großen Denkers Leibniz erscheint nach Kant gerade als unreflektiert. Damit wird zugleich seine Bedürftigkeit nach einer kritischen Supervision behauptet, durch die ihm überhaupt erst Standpunkt und Kriterium der transzendentalen Reflexion beschafft würden. Der zweite Vorwurf hängt vom ersten ab, ist aber spezieller: Der große Logiker Leibniz hat sein philosophisches System auf einen logischen Fehlschluß errichtet; dann aber gilt sogar: "Ex fälso quodlibet". (1) Im Gegensatz zur Position der "KrV", nach der Leibniz die Bedeutung der Sinnlichkeit verfälschte, zu einer Verabsolutierung der intellektuellen Erkenntniskomponente verführte und damit den Weg zu einer Kritik der reinen Vernunft gerade behinderte, stellt Kant im Schlußteil von "ÜE" 71 Leibniz als eine Art Johannes der Täufer der Vernunftkritik vor: Durch seinen Satz des zureichenden Grundes habe er nichts anderes als den Hinweis geben wollen, noch ein anderes Prinzip der Urteile, als das nur für analytische gültige Nichtwiderspruchsprinzip zu suchen.72 Er verwies damit gleichsam auf Kant und seine Frage, wie synthetische Urteile a priori möglich seien, ohne sie freilich selbst schon beantwortet oder gar nur gestellt zu haben. Doch so richtig der letzte Satz in seinem zweiten Teil zu sein scheint (und so grundsätzlich akzeptabel es ist, in der Vernunftkritik auch den Probierstein fiir alle philosophisch aufgeklärte Interpretation zu suchen), hier hat Kant zweifellos das "principium rationis sufßcientis" bei Leibniz zu anspruchslos (und nicht bloß nur zu sehr in Richtung auf Kant selbst hin) ausgelegt (obwohl hinter einer solchen interpre68
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Es lautet nach Kants Worten, KrV B 337, so: "[W]as einem Begriff allgemein zukommt oder widerspricht, das kommtauch zu oder widerspricht allem Besondern, was unter dem Begriff enthalten ist[.]" Dieses Argument gehört sachlich zur Kritik an Leibnizens Begriff des Nichtzuunterscheidenden. KrV B 337. Insofern ist es zu kurz gegriffen, wenn Adickes das gesamte "Amphibolie"-Kapitel mit dem Titel "Kampf gegen die Leibniz'sche Philosophie" belegt (Adickes: Kant, S. 134). Siehe Inhaltsübersicht in Kapitel 4.3. ÜE 247-248.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
tativen Bescheidenheit durchaus eine sinnvolle methodische Regel stecken könnte). Ähnliches gilt (ur die anderen Punkte des Leibnizbildes im Schlußteil der Streitschrift. 73 (m) Des kritischen Kant weiteste - wenngleich episodische - Annäherung an Leibniz findet sich aber in seinem Brief an Schultz vom 26. August 1783. Er bittet ihn als Mathematiker darum, die Tafel der Kategorien anhand der Leibnizischen "ars characteristica combinatoria" weiterzuentwickeln. Dahinter scheint die Hoffnung zu stehen, damit zu einem System der reinen Vernunft als einem wirklichen Organon zu gelan-
4.3. Die Akte der Handlung Im wesentlichen besteht nach Kant "die Handlung des ersten Bandes des Eberhard'sehen Magazins aus zwei Akten" (ÜE 189). Nachdem sich Kant vorher juridischer Metaphorik bedient hat - und später weiter bedienen wird, der Gedanke der Rechtfertigung von Urteilsansprüchen ist ja überhaupt der Kern des Kritizismus75 schwenkt er um zur Sprache des Theaters und mag dabei im Blick auf Eberhard an eine Posse denken. 76 Eberhard wolle - so Kant - zum ersten die unbegrenzte objektive Realität von nicht-sinnlichen Begriffen zeigen, zum zweiten solle dann erst geklärt werden, wie "synthetische Sätze a priori möglich" seien.77 Des Satzes vom Grunde bediene sich Eberhard in beiden "Akten". Seine Antwortschrift gliedert deshalb Kant zwischen der «Einleitung» (ÜE 187-189) und den «Schlußbemerkungen» (ÜE 246-251) auf folgende Art: 78
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In der "Preisschrift" hingegen interpretiert Kant Leibniz wieder in seiner fundamentalen Differenz zum Kritizismus (AK XX, S. 282-285). Kant an Schultz vom 26.8.1783; AK X, S. 351. Vgl. KrV B 24-25. In seiner Antwort gibt Schultz die von ihm als höchst sinnvoll bejahte Aufgabe als ihn überfordernd zurück (Schultz an Kant vom 28.8.1783; a. a. O., S. 354). Vgl. KrV A XI-XII: Um sich selbst und dabei Kraft und Aufgabe ihrer verschiedenen Vermögen zu erkennen, "setzt" die Vernunft "einen Gerichtshof" "ein", und zwar in Gestalt der "Kritik der reinen Vernunft. Er soll ihre "gerechten Ansprüche sicher[n]", "alle [ihre] grundlosen Anmaßungen [dagegen], nicht durch [dogmatische] MachtsprQche, sondern nach ihren [eigenen] ewigen und unwandelbaren Gesetzen, abfertigen". - Zur Metaphorik des Rechts vgl. u. a. ÜE 187, 188, 190 Anm., 221, 223, 227, 238. Im Gegensatz zu Kant verwendet Eberhard solche Metaphern nur sehr äußerlich, vgl. etwa Phil. Mag., Bd. I, S. 150, 155, 157, 247, 250, 264. Zur Theatermetaphorik vgl. ÜE 247, 189,187. ÜE 189. Die Gliederung wird hier gestützt auf Bd. VIII, S. VI, der Akademieausgabe von "Kant's gesammelten Schriften" wiedergegeben, auf welchen Band sich auch die Seitenzahlen nach dem KUrzel «ÜE» beziehen. Die zitierten Überschriften stammen von Kant.
4.3. D i e Akte der Handlung
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Erster Abschnitt. Ober die objektive Realität derjenigen Begriffe, denen keine korrespondierende sinnliche Anschauung gegeben werden kann, nach Herrn Eberhard (ÜE 190-225). A) Beweis der objektiven Realität des Begriffs vom zureichenden Grunde nach Herrn Eberhard ( Ü E 193-198). B) Beweis der objektiven Realität des Begrifft vom Einfachen an Erfährungsgegenständen nach Herrn Eberhard (ÜE 198-207). C) Methode, vom Sinnlichen zum Nichtsinnlichen aufzusteigen, nach Herrn Eberhard (ÜE 2 0 7 - 2 2 5 ) . Zweiter Abschnitt. Die Auflösung der Aufgabe: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? nach Herrn Eberhard (ÜE 2 2 6 - 2 4 6 ) .
In groben Zügen sei der Inhalt von "ÜE" dem Gliederungsschema zugeordnet:79 Von Kant aus gesehen, hat Eberhard zunächst ohne Disziplin der Vernunft80 Dialektik getrieben und erst hinterher - der Dialektik angemessen - Analytik. Im vierten Absatz der Einleitung-weist Kant auf diese Umkehrung der Argumentation hin (ÜE 188189). Vorher hat er Eberhards Generalthese referiert (1. Absatz, ÜE 187) und zu ihr und Eberhards formalem Verfahren kurz Stellung genommen (2. und 3. Absatz der Einleitung, ÜE 187-188). Der fünfte und letzte Absatz gliedert, wie oben dargestellt, das von Eberhard vorgelegte Material (ÜE 189). Aus seinem ersten Brief an Reinhold über Eberhard geht schon hervor, daß Kant die Problematik, die er im zweiten Abschnitt behandelt, fiir primär hält, denn die Auflösung der Frage, wie synthetische Urteile a priori möglich sind, bietet den "Probierstein der Wahrheit".81 Zu Beginn dieses zweiten Abschnitts erklärt Kant Eberhards und den eigenen Begriff von Dogmatismus im Zusammenhang mit Skeptizismus und Kritizismus (ÜE 226, 2. Abs. bis 228, 2. Abs.). Anschließend wird die Kantische Urteilstheorie mit ihren zentralen Bestimmungen - "analytisch", "synthetisch", "a priori" und "empirisch" ("a posteriori") - erläutert und der Eberhardischen Rekonstruktion in widerlegender Absicht gegenübergestellt (ÜE 228, 3. Abs. bis 232, 1. Abs.). Als nächstes wendet sich Kant gegen den ihm von Eberhard unterschobenen Status der Urteile in verschiedenen Wissenschaften. Nicht nur die Mathematik, auch die Metaphysik und reine Naturwissenschaft enthielten im Gegensatz zu Eberhards Darstellung synthetische Urteile a priori (ÜE 232, 2. Abs. bis 233, 1. Abs.). Danach diskutiert Kant Eberhards Verfahren bei der Anfuhrung von Beispielen und insbesondere einige Sätze, die Eberhard für analytisch ausgibt (ÜE 233, 2. Abs. bis 239, 1. Abs.). Der vorletzte Punkt betrifft den obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile bei Kant und Eberhard (ÜE 239, 2. Abs. bis 243, 1. Abs.). Abschließend antwortet Kant seinem Gegner auf den Vorhalt, die Unterscheidung der Urteile in analytische und synthetische finde sich schon früher (ÜE 243,2. Abs. bis 246, 1. Abs.). Anzumer79 80 81
Der Inhalt von Eberhards sieben fiir die Kontroverse im engeren Sinn hauptsächlich bedeutsamen Artikel wird im Kapitel 4.4 überblicksartig dargestellt. Vgl. KrV B 738-739. ÜE 188.
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4. D i e Kontroverse im engeren Sinn
ken ist, daß Kant im Anhang der "Prol."82 ähnlich argumentiert wie in diesem Abschnitt von "ÜE" gegen Eberhard. Auch der Popularphilosoph Garve ist für Kant im Grunde ein Dogmatiker (wie auch ein Skeptiker ihm bloß als Dogmatiker mit umgekehrtem Vorzeichen gilt). Zu Beginn des ersten Abschnitts (ÜE 190-192) wendet sich Kant gegen Eberhards Auffassung von Mathematik als Kombination bloßer Begriffe unabhängig von Anschauung; vielmehr würden mathematische Begriffe, was Eberhard geflissentlich übersehe, in der reinen Anschauung "durch die bloße Einbildungskraft einem Begriffe a priori gemäß" 83 konstruiert. Nur so erhielten sie "objektive Realität".84 In Punkt A des ersten Abschnitts kritisiert Kant Eberhards Versuch, den materialen (transzendentalen) Satz des Grundes als formalen (logischen) durch Rückführung auf den Satz vom Widerspruch zu beweisen. Eberhard habe dabei vor allem versucht, den Begriff der Ursache (des Realgrundes) als von Dingen überhaupt und nicht bloß - wie bei Kant - als von Gegenständen als Erscheinungen geltend zu erweisen. Punkt B beschäftigt sich mit Eberhards nächstem Schritt: Während der nach Eberhard von Dingen überhaupt gültige Begriff der Ursache noch in einigen Fällen mit korrespondierender Anschauung unterlegt und damit in seinem Gebrauch teillegitimiert werden kann, liegt der Begriff eines einfachen Wesens außerhalb jeglicher sinnlicher Korrespondenz. Nach Kant handelt es sich dabei um einen Vernunftbegriff, eine Idee.85 Um auch ihm objektive Realität zu sichern, versucht Eberhard, ihn als über Erfkhrungsgegenstände erschließbar zu beweisen, und zwar als das "einfache" nichtsinnliche Element der sinnlichen Anschauung. Nach Kants Ausführungen unter Punkt C verwechselt Eberhard Erkenntnis von Gegenständen, die durch sinnliche Anschauung gegeben werden können müssen, mit dem bloß logisch-schlußfolgernden Denken in Bezug auf Dinge an sich, für das die Anschauung keine Rolle spielt. Durch Absehen von der Anschaung kann somit kein erkennender Aufstieg vom Sinnlichen zum Nichtsinnlichen (und dennoch Objektiven), vom Bedingten zum Unbedingten, stattfinden. Insbesondere zeigt Kant, Eberhard verfüge über kein hinlängliches Kriterium der Unterscheidung von "Sinnen-" und "Verstandeswesen" (ÜE 210, 2. Abs. bis 214, 1. Abs.) und verwechsle bei seiner Lektüre der "KrV" logische Sätze mit transzendentalen (ÜE 214, 2. Abs. bis 4. Abs.). Ferner stellt Kant beider Theorien über Sinnlichkeit und Verstand gegenüber (ÜE 215, 1. Abs. bis 221, 1. Abs.) und erörtert die Frage nach der Angeborenheit von Raum und Zeit und den Kategorien (ÜE 221, 2. Abs. bis 223,1. Abs.). Zuletzt erfolgt
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Prol. 372-380 ("Probe eines Urtheik über die Kritik, das vor der Untersuchung vorhergeht"). Es handelt sich, worüber oben bereits gesprochen wurde, um den Abschnitt gegen Christian Garve (eigentlich nur gegen die noch anonyme Feder-Garve'sche-Rezension aus den "Göttingischen gelehrten Anzeigen"). ÜE 192 Anm. ÜE 191. ÜE 204, Z. 5.
4.3. Die Akte der Handlung
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noch ein Vergleich beider Bestimmung von Substanz und Kraft (ÜE 223, 3. Abs. bis 225). In den Schlußbemerkungen kommentiert Kant zunächst noch einmal im Ganzen Eberhards Angriffe auf die Kritik (ÜE 246, 2. Abs. bis 247,2. Abs.). Sie seien philosophisch unlauter unternommen. Weil die Kritik in sich gegründet sei, könne sie nicht, wie Eberhard hoffe, gestürzt werden. Da ihren Gegnern ein verbindlicher Maßstab fehle, seien diese sich im Grunde völlig uneins und würden nur durch den gemeinsamen Feind (Kant) und eine gegen ihn gemeinsam ins Feld geführte Autorität (Leibniz) zusammengehalten. Anschließend präpariert Kant drei Hauptgedanken der Metaphysik von Leibniz heraus und interpretiert sie als mit der Vernunftkritik kompatibel (ÜE 247, 3. Abs. bis 251): Leibnizens Satz vom Grund bedeute nichts anderes als einen Hinweis auf die Aufgabe, das Prinzip synthetischer Sätze zu suchen. Leibnizens Monadenlehre beziehe sich nicht auf die sinnliche Welt, sondern auf die ihr der Idee nach zugrunde liegende intelligible Welt. Die Erklärung der Sinnlichkeit als verworrene Vorstellungsart und die Angeborenheit von Begriffen dürften zudem nicht wortwörtlich verstanden werden. Leibnizens Lehre von der vorherbestimmten Harmonie beziehe sich nicht auf an sich verschiedene Entitäten, sondern auf die zweckmäßige Übereinstimmung von Verstand und Sinnlichkeit und theoretischer und praktischer Vernunft. Kants "Vorarbeiten" zu "ÜE" sind wie die beiden Briefe an Reinhold (der erste fast ganz und vom zweiten ein kleiner Teil)86 knapp zur Hälfte Eberhards Aufsatz "Über die Unterscheidung der Urteile in analytische und synthetische" und damit dem, was Kant in definitiver Gestalt in seiner Streitschrift als Abschnitt zwei behandelt hat, gewidmet. Dabei sind die Notizen der "Vorarbeiten" schon so geordnet wie die Ausfuhrung in der Streitschrift.
Korrektur an Kants Einteilung der Handlung Ähnlich wie Eberhard Kant mit von außen herangetragenen Denkmitteln begreifen und bewerten will, beurteilt Kant Eberhard unmittelbar vom kritizistischen Ansatz aus. Das verraten Kants in "ÜE" verstreute Bemerkungen, Eberhard habe die Kritik falsch verstanden. Er bezieht dies nicht bloß auf die allerdings sehr zahlreichen Fehler 86
Chronologisch gesehen, hat sich Kant zunächst mit dem dritten Stück des ersten Bandes des "Phil. Mag." und besonders dessen vierter Nummer - "Über die Unterscheidung der Urteile in analytische und synthetische" - auseinandergesetzt. Dies dokumentiert sein Brief an Reinhold vom 12. Mai 1789 (AK XI, S. 33-40), worin es auch heißt: "Die Wiederlegung der einzigen 4ten Numer des 3ten Stücks kan schon den ganzen Mann, seiner Einsicht sowohl als Charakter nach, kennbar machen" (ebd., S. 34). Erst der nächste Brief, wohl "zwei Posttage später", vom 19. Mai (AK XI, S. 40-48) belegt das Studium des zweiten und ersten Stücks (über das erste finden sich allerdings schon knappe Angaben im vorigen Brief). Vorwiegend behandelt Kant dabei Eberhards Beitrag "Uber die logische Wahrheit". Später las Kant noch das vierte Stück.
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4. D i e Kontroverse im engeren S i n n
der Rezeption, sondern erkennt gar nicht an, daß jemand von einem anderen philosophischen Standpunkt87 - nicht bloß im Modus des Mißverständnisses und der Verfälschung - gegen ihn argumentiert.88 Ganz deutlich zeigt sich diese Einstellung schon bei Kants Bestimmung der beiden "Akte" der Handlung des ersten Bands des "Phil. Mag.". Kant wirft hier Eberhard vor, in einem "hysteron-proteron" (ÜE 188) den zweiten Schritt vor dem ersten getan zu haben. Dieser Vorwurf trifft jedoch Eberhard in ganzer Schärfe nur nach Maßgabe des kritizistischen Ansatzes. In der Tat hat Eberhard zunächst seinen Denkvoraussetzungen gemäß eine Alternative zur Beantwortung der Kantischen Frage, wie synthetische Urteile a priori möglich seien, zu geben versucht, nämlich den Beweis der objektiven Realität des Prinzips vom zureichenden Grund und damit aller Sätze, die ihm gemäß gebildet werden. Von Eberhard aus betrachtet, ist damit der erste Akt - so philosophisch kläglich er ausgefallen sein mag - bezeichnet und der zweite, die Ermittlung von Begriffen des Nicht-Sinnlichen, grundgelegt. Auch Kants Unterscheidung der Urteile in analytische und synthetische rekonstruiert Eberhard für sich folgerichtig als bloße Nutzanwendung des Satzes vom Grund. Er braucht gar nicht mehr die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori aufzuwerfen, sondern nur zu zeigen, wie sie nach dem Satz vom Grund seinem System gemäß "richtig" zu verstehen seien. Eine Zäsur der "Handlung" wäre also, von Eberhard her gesehen, anders anzubringen, als von Kant vorgenommen, nämlich nach dem Aufsatz "Über die logische Wahrheit" oder "Weitere Anwendung". Dem Umkehrungsvorwurf wäre damit aus Eberhards Sicht der Boden entzogen. Eberhard versucht, den Satz vom Grund "a priori"89 als "transzendental gültig" zu beweisen. Alles, was nach ihm bestimmt wird, ist dann ebenso transzendental gültig oder objektiv real.90 Weit entfernt, einen solchen für schlicht überflüssig, wie Kant suggeriert, zu halten, liegt nach Eberhard darin der "Probierstein der Wahrheit" (ÜE 188). Anschließend verwendet er den Satz zur Rekonstruktion der Kantischen synthetischen Urteile a priori. Nach Kant dient jedoch der Beweis des Satzes vom Grund lediglich dazu, die unbegrenzte Objektivität des kausal verstandenen Begriffi vom "Grund", der "Ursache", und der anderen reinen Verstandesbegriffe zu demonstrieren.91 Diese Beobachtung gibt zwar ein Resultat des Beweises korrekt wieder,
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Es stehen sich damit letztlich zwei Modelle gegenüber: eine Ontologie mit Epistemologie als Korollar und eine Epistemologie mit Ontologie als Korollar. Die zwischen beiden liegende Kluft kann positiv auch als unendliche Annäherung begriffen werden, was bedeuten würde, daß jede der beiden Positionen immer die andere als Widerpart berücksichtigen müßte. Unmittelbar von den eigenen Hauptresultaten her würde keine der beiden das Recht haben, die jeweils andere zu beurteilen. Vgl. etwa ÜE 211; 215; 223, 2. Abs. bis 255. Diesen Ausdruck verwendet Leibniz vor Kant, z. B. in den "Meditationes", etwa S. 425, Z . 8. Kant weist daraufhin, die Unterscheidung a priori/ a posteriori sei Gemeingut der Logik (ÜE 228). Originalität beansprucht damit Kant zunächst für die Bestimmung des Synthetischen und dann für die sich daraus ergebenden Kombinationen. Kant übersetzt Eberhards Ausdruck "transzendentale Gültigkeit" mit "objektive Realität" (ÜE 190).
4.4. Inhaltsstenogramm der Eberhardischen Artikel
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unterschlägt aber den Begründungsversuch Eberhards, die Realität der Begriffe durch die objektive Gültigkeit eines Grundsatzes zu untermauern. Wie Eberhard gegen Kant das Prinzip des zureichenden Grundes herauszustellen sucht, unterstrich Leibniz gegenüber Clarke seine Bedeutung, ohne es freilich auf das Nichtwiderspruchsprinzip zurückzuführen: O r par ce principe seul, savoir, qu'il faut qu'il y ait une raison suffisante, pourquoy les choses sont plustot ainsi qu'autrement, se demonstre la Divinité, et tout le reste de la Métaphysique ou de la Theologie Naturelle, et même en quelque façon les Principes Physiques independans de la Mathématique, c'est à dire les Principes Dynamiques ou de la Force. 92
Schließlich muß noch einmal betont werden, daß Eberhards Kant-Rezeption, um die er ja als einer, der Einwände erheben will, nicht herumkommt, von einer unerweichlichen Ignoranz auch nur gegenüber einer ernsthaften Prüfung des Grundschritts des Kritizismus getragen ist. Dabei steckt Kant gerade dem Dogmatischen Rationalismus den Weg ab, 93 der - als Kritik der reinen Vernunft - propädeutisch von jedem zu gehen ist, der sich an metaphysische Behauptungen heranwagen möchte. Insofern hat Eberhard den Begründungsbedarf fur seine Sätze weit unterschätzt.
4.4. Inhaltsstenogramm der Eberhardischen Artikel (1) Der als Einleitung in die philosophische Auseinandersetzung gedachte Beitrag "Über die Schranken der menschlichen Erkenntnis" (S. 9-29) beginnt mit einer etwas zweideutigen Dankesbezeugung an Kant wegen seines Versuchs, das dem Verstand Erreichbare von dem Unerreichbaren abzugrenzen (S. 9-10). Anhand dieses Abgrenzungskriteriums bestimmt Eberhard in einem historischen Exposé die verschiedenen Gestalten von Philosophie: Er unterscheidet dabei Skeptizismus und Dogmatismus und untergliedert den letzteren in Realismus und Idealismus, wobei der Idealismus die Position, die nur Vorstellungen für real hält - an den Skeptizismus stößt (S. 10-19). Die Philosophie von Leibniz wird dann zur besten Ausbildung des realistischen Dogmatismus deklariert. Seine Bestimmung von Quellen und Umfang der menschlichen Erkenntnis wird in dreizehn Punkten dargestellt (S. 19-23). Im letzten Abschnitt wird Kants Philosophie mit Leibniz und Hume verglichen. Nach Eberhard - der sich mit Leibniz identifiziert - kommt Kant nicht weiter als Hume, der die Erkenntnis in die 91
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Nach Kant soll der "Satz des zureichenden Grundes [...] die Realität des Begriffes vom Grunde [...] aus[..)machen" (ÜE 189). Ebenso verkürzend spricht Kant in der Überschrift zu dem Abschnitt, der sich mit Eberhards Beweis des Satzes vom zureichenden Grund befaßt, vom "Beweis der objektiven Realität des Begriffs vom zureichenden Grunde" (ÜE 193). Am Schluß des Abschnittes heißt es, Eberhard wolle den "Begriff der Kausalität [...] und mutmaßlich mit ih[m] auch die übrigen [Kategorien] von Dingen Überhaupt geltend [.] machen" (ÜE 198). Aus Leibnizens zweitem Brief an Clarke, S. 356. Nur die mathematischen Sätze beruhen auf dem Nichtwiderspruchsprinzip (a.a.O., S. 355). Vgl. ÜE 226; Piol. 366.
94
4. Die Kontroverse im engeren Sinn
denkbar geringsten Grenzen eingeschlossen hat, nämlich die Vorstellung, ohne Aussicht, die Dinge selbst zu erreichen. Kants Vernunftkritik - hier wird die bereits behandelte Hauptthese Eberhards erstmals vorgestellt - bleibt also der Leibnizischen unterlegen (S. 23-29). (2) Das Ziel des zweiten Aufsatzes "Über die logische Wahrheit oder die transzendentale Gültigkeit der menschlichen Erkenntnis" (S. 150-174) liegt im Nachweis der objektiven Gültigkeit, bzw. Realität von Form und Materie der menschlichen Erkenntnis. Unter der Form versteht Eberhard die obersten Grundsätze, die Sätze vom ausgeschlossenen Widerspruch und vom zureichenden Grund, unter der Materie der menschlichen Erkenntnis nicht bloß sinnliche, sondern auch intelligible Gegenstände, wie die Elemente oder einfachen Gründe von Zeit und Raum. Eberhard konzentriert sich zunächst auf den Satz des Grundes und den Satz des Widerspruchs. Kants Lehre vom "transzendentalen Schein"94 soll nach Eberhard die subjektive Notwendigkeit und damit wenigstens die subjektive Gültigkeit des Satzes vom zureichenden Grund belegen (S. 150-152). Im Gefolge dieser Argumentation unterstellt Eberhard Kant, einen Verstand anzunehmen, der im Gegensatz zu den Sinnen einer unberechenbaren Täuschung unterworfen sei. Da schon auf der Ebene der Sinnlichkeit Täuschungen ausgeglichen werden könnten, hält er diese Annahme für unplausibel. Ein systematischer Denkfehler könnte überdies nicht von Wahrheit unterschieden werden (S. 152-155). Die traditionelle Metaphysik hat sich nach Eberhard zurecht für autorisiert gehalten, das Denknotwendige auf die Gegenstände zu übertragen (S. 155-158). Man hielt die Grundsätze des Denkens für transzendental gültig (d. h. für objektiv real) und wandte sie entsprechend an, ohne dies vor der Hand bewiesen zu haben. Auch in der Mathematik seien Wahrheiten gefunden worden, ohne daß deren transzendentale Gültigkeit sogleich bewiesen worden sei (S. 158-159). Eberhard will strenger verfahren und einen Beweis der transzendentalen Gültigkeit der Sätze des Grundes und des Widerspruchs geben (S. 160-167). Er ist so aufgebaut, daß zuerst der Satz des Grundes aus dem Satz des Widerspruchs hergeleitet und dann die transzendentale Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch aufgezeigt wird. Hinter dem Nachweis der transzendentalen Gültigkeit der Materie der menschlichen Erkenntnis verbirgt sich konkret der Versuch, Raum und Zeit einerseits in eine bloß sinnlich-bildliche, andererseits in eine rein intellektuelle Vorstellung aufzuspalten. Der Bereich möglicher Erkenntnis kann dann nicht auf Kantische Art auf den Bereich des in Raum- und Zeitgestalt (als Formen der Anschauung) Gebbaren beschränkt werden, denn die Elemente von Raum und Zeit sind bereits als Verstandeswesen unsinnlicher Stoff der Erkenntnis (S. 167-174). (3) In "Weitere Anwendung der Theorie von der logischen Wahrheit oder der transzendentalen Gültigkeit der menschlichen Erkenntnis" (S. 243-262) behandelt Eberhard 94
KrVA 297 = B 353/354.
4.4. Inhaltsstenogramm der Eberhardischen Artikel
95
nochmals das Resultat des zweiten Beweisgangs des vorigen Aufsatzes, wonach die objektiven Gründe der sinnlichen Vorstellungen von Raum und Zeit intelligible Dinge an sich sind. Auch die Resultate des ersten Beweisgangs werden kurz in Erinnerung gebracht (S. 243-248): Der Satz des zureichenden Grundes ist völlig allgemein. Seine Wahrheit ist nicht bloß subjektiv, sondern auch objektiv. Selbst unsere Vorstellungen müssen ihm, da auch Vorstellungen Objekte sind, gemäß sein.' 5 Hauptgegenstand des jetzigen Aufsatzes ist die Klärung des Weges von der Vorstellung und ihrem "inneren Objekt" zum Ding an sich. Er stellt hier Dinge an sich als die objektiven Letztgründe äußerer Gegenstände vor. So ergeben sich im Anschluß an das innere Objekt die Etappen: als äußerlich gedachtes Objekt - wirkliches äußeres Objekt - Ding an sich als sein Grund. Entsprechend überschreibt Eberhard die drei Abschnitte (S. 248-254, S. 254-259, S. 259-262) des Aufsatzes mit den Thesen: "Einige unserer Vorstellungen haben Gegenstände, die wir uns als äußerlich denken", "Die Gegenstände unserer Empfindungen sind wirklich" und "Die Gegenstände der äußern Empfindungen sind nicht bloß innere Gegenstände, sondern auch äußere, und ihre letzten Gründe sind Dinge an sich". Dabei werden zuerst "Einbildungen" von "Empfindungen" abgegrenzt, und es wird gezeigt, Empfindungen ließen sich mit subjektiven Gründen nicht hinreichend erklären (S. 248-254). Danach werden Kants und Leibnizens Theorien vor allem im Hinblick auf Raum und Zeit und den Gegensatz Ding an sich versus Erscheinung verglichen (S. 257-259). Nach Eberhard kommt allem Subjektiven auch und sogar primär der Status von Objekten zu (S. 254-257). Schließlich werden "mit Gewißheit" (S. 262) neben den äußeren Gegenständen Dinge an sich als deren letzte Gründe angenommen (S. 259-262). Nebenbei wird der "Idealismus" Kants dem Berkeleys gegenübergestellt (S. 260-261). (4) Zu Beginn des vierten Aufsatzes "Über das Gebiet des reinen Verstandes" (S. 263289) wird als Resultat der vorhergegangenen Untersuchungen festgehalten, es gebe nicht nur Dinge an sich, sondern sie könnten auch erkannt werden, wenngleich nicht nach ihren individuellen Bestimmungen, so doch nach ihren allgemeinen. Eberhard wendet den Blick vom Erkannten - dem Ding an sich - zurück zu dem Vermögen, das nach ihm fiir das erfolgreiche Erkennen des Dings an sich verantwortlich ist, dem Verstand. Dabei konzentriert er sich zunächst auf die Darstellung von Kants Theorie des Verstandes (S. 263-265). Er grenzt sie von der dogmatischrationalistischen Theorie des Verstandes ab, bei der es sich um eine Abstraktionstheorie der intellektuellen Erkenntnis handelt (S. 265-274). Dennoch behauptet er keineswegs einen fundamentalen Unterschied oder eine Inkompatibilität zwischen beiden, sondern beansprucht, Kants Theorie des Verstandes als Grenzfäll der von ihm vertretenen zu erklären. Das betrifft insbesondere seine Bestimmung der Kantischen Kategorien als oberste Gattungsbegriffe der Abstraktion. 95
Indirektes Zitat von S. 247.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
Dadurch werden - von Eberhard aus gesehen - zwei Untersuchungsgänge plausibel, die zeigen sollen, daß immanent der Kritizismus bis zur Schwelle der Erkenntnis der Dinge an sich geführt werden kann. Der erste analysiert die Kantische These, der Verstand bearbeite einen ihm gegebenen Stoff (S. 275-279), der zweite hinterfragt Kants Zurückweisung der intellektuellen Anschauung (S. 280-282). Zur Wiederholung und Präzisierung des Gesagten stellt Eberhard sieben Thesen der "Kantischen Kritik der reinen Vernunft" einer "Leibnizische[n] Kritik der reinen Vernunft" gegenüber (S. 284-288). Nach einem vorläufigen Ergebnis von Eberhards Argumententationen in diesem Aufsatz (S. 283/284) wird dann im Gesamtergebnis die Hauptthese Eberhards am ausfuhrlichsten formuliert, schon Leibniz habe eine Vernunftkritik ausgearbeitet, die alles enthalte, was bei Kant wahr sei, darüber hinaus aber noch weiteres durch die Behauptung eines Gebiets von Erkenntnis aus reinem Verstand (S. 288-289). (5) Der Aufsatz "Über den wesentlichen Unterschied der Erkenntnis durch die Sinne und durch den Verstand" (S. 290-306) will die Kantische These widerlegen, die Leibniz-Wolffische Philosophie habe einen fälschen Begriff von Sinnlichkeit und Erscheinung dadurch gegeben, daß der Unterschied zwischen Sinnlichem und Intellektuellem nur logisch, nicht aber transzendental gesehen worden sei.96 Eberhand wendet sich zunächst gegen Kants Vorwurf der Verfälschung des Begriffs von Sinnlichkeit (S. 291-298). Seiner Meinung nach hat Leibniz den Unterschied zwischen sinnlichen und intellektuellen Vorstellungen sowohl logisch (die Form betreffend) als auch transzendental (die Materie, also Ursprung und Inhalt, angehend) bestimmt. 97 Zur transzendentalen Betrachtung gehört nach Eberhard, wie die Schulphilosophie die Erkenntnis (eine solche liegt ihr gemäß in beiden Fällen separat vor) des Verstandes und der Sinnlichkeit nach dem Kriterium ihrer jeweiligen Gegenstände bestimmt hat (S. 291-293). Er unterscheidet drei Klassen von Gegenständen des Verstandes und - als Gegenbegriffe - von Gegenständen der Sinnlichkeit: Der Verstand erkennt die unbildlichen Gegenstände, die allgemeinen Dinge und die notwendigen Wahrheiten, die Sinnlichkeit die bildlichen Gegenstände, die einzelnen Dinge und die zufälligen Wahrheiten. Später stellt Eberhard noch ein anderes Unterscheidungskriterium vor, die Gründe der Erkenntnis (S. 304-305): Während die Gründe der Verstandeserkenntnis bloß objektiv (und damit wahrheitstüchtig) sind, sind die der Sinneserkenntnis auch subjektiv (und daher täuschungsträchtig). Im Rahmen der logischen Betrachtung will er zeigen, daß allgemeine und deutliche Erkenntnis sowie einzelne und undeutliche gleichzusetzen sind (S. 293-295). Er gewinnt im Laufe seiner Ausfuhrungen zwei Definitionen von "Verstand", die nach Eberhard transzendentale: "Vermögen allgemeiner Erkenntnis" und die logische: "Vermögen deutlicher Erkenntnis" (S. 295/296). 96 97
S. 290; vgl. KrV A 43 und A 44. S. 290. Was Eberhard genauer unter der Terminologie formal/transzendental versteht, erklärt er S. 293/296. Eine Zusammenfassung dieser Argumentation findet sich S. 296-297.
4.4. Inhaltsstenogramm der Eberhardischen Artikel
97
Anschließend sucht Eberhard Kants Vorwurf der Verfälschung des Begriffs von Erscheinung zu entkräften (S. 299-306). Nach Einwänden gegen eine unkorrekte Kennzeichnung des Begriffs "Erscheinung" bei Leibniz durch Kant und gegen eine unrichtige Definition des Begriffs "Erscheinung" bei Kant selbst bestimmt Eberhard den Begriff im Sinne der Leibnizischen Philosophie. Sein Status ist dabei bloß sinnlich, während fiir Kant Erscheinung eine Synthesis von Anschauung und Begriff bedeutet. Erstmals zieht Eberhard ausfuhrlicher Texte von Leibniz und anderen Autoren, etwa von Wolff, Baumgarten und der Marquise du Chätelet,'8 zur - allerdings sehr äußerlichen - Belegung und Verstärkung seiner Argumentation heran, vor allem die auf eine Emendation von Descartes ausgerichteten "Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis" (S. 294 ff.) und die sich gegen Locke wendenden "Nouveaux Essais" (S. 292 und 293) von Leibniz. Insgesamt versteht er seinen Aufsatz als Ergänzung eines Beitrags von Maaß." (6) Auch in dem vorletzten von Kant seiner Streitschrift zugrunde gelegten Text Eberhards, "Über die Unterscheidung der Urteile in analytische und synthetische" (S. 307332), geht es letztlich um die Sicherung von Erkenntnisurteilen über Dinge an sich.100 Dem dient zunächst der Angriff auf Kants Originalität (S. 307-312) durch den versuchten Nachweis, daß Kants Distinktion der Urteile schon vorher in der Metaphysik vorgenommen wurde. Wenn die bisherige Metaphysik (wenigstens dem Erweiterungsstatus nach) wahre synthetische Urteile über Dinge an sich formuliert hat, erscheint es unbegründet, warum Kant die Geltung synthetischer Urteile a priori auf Erscheinungen beschränkt (S. 308). In drei Etappen versucht Eberhard eine verbessernde Rekonstruktion der Kantischen Unterscheidung der Urteilsarten (S. 312-318, S. 318-321 und S. 322-325). Dabei wandelt er jedoch, ohne das freilich einzugestehen, die synthetischen Urteile in analytische um, denn als Unterscheidungskriterium setzt er von Hause aus ein begriffliches Verhältnis des Prädikats zum Subjekt an (S. 317/318 und S. 330). Da er zudem die synthetischen Urteile auf den Satz vom Grund als ihr Prinzip zurückfuhrt (S. 316), diesen aber vorher auf den Satz vom Widerspruch reduziert hat, beruhen alle synthetischen Sätze auf dem Nichtwiderspruchsprinzip. Auch bei der über fast den gesamten Text verteilten Berichterstattung über Kants Urteilslehre schaltet er die reine Anschauung konsequent aus. Dies verstärkt den Verdacht, daß Eberhard mit bloß logischen Verfahren und Begriffen objektiv-gegenständliche Erkenntnis erreichen zu können meint. 98
S. 300. Eberhard bezieht sich auf das von Leibniz beeinflußte Werk "Institutions de physique", Paris 1740, der Marquise du Chätelet. Die Marquise hieß mit vollem Namen Gabrielle-Emilie Le Tonnelier de Breteuil (1706-1749) und war mehr als 15 Jahre lang die Geliebte Voltaires. Sie übersetzte und kommentierte Newtons "Principia" (posthum 1756 erschienen). 99 Maaß: "Über die transzendentale Ästhetik"; in: "Phil. Mag.", Bd. I, S. 117-149. S. 290 nimmt Eberhard Bezug auf den Text von Maaß "S. 144 und folgende". 100 Vgl. S. 312 und S. 318.
98
4 . D i e Kontroverse im engeren Sinn
Schließlich fragt Eberhard nach der Wahrheitsfahigkeit der synthetischen Urteile a priori im Kantischen Sinn (S. 327-332) und stellt fest, daß sie dem vom Kant selbst akzeptierten Kriterium (S. 328), wonach Wahrheit die Übereinstimmung eines Satzes mit dem Gegenstand sei, nicht entsprechen könnten, da sie sich nur immer auf (subjektive) Vorstellungen bezögen. Nur Urteile, die nach der Leibnizischen Theorie des Verstandes unter Leitung des Satzes vom zureichenden Grund und vom ausgeschlossenen Widerspruch, gebildet würden, machten Aussagen über die Gegenstände und seien daher wahrheitsfähig (S. 330). Aus diesem Grunde wird zuletzt die Unterscheidung der Urteile in analytische und synthetische fiir überflüssig erklärt (S. 330 und 331). (7) In dem Aufsatz "Über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis" (S. 369-405) schließlich versucht Eberhard über das hinaus, was Kant seiner Ansicht nach unzureichend als subjektive und objektive Momente der Erkenntnis anfuhrt, einen realen Letztgrund sowohl auf Seiten des erkennenden Subjekts als auch auf Seiten des erkannten Objekts aufzuweisen. Mit anderen Worten: Die "Erscheinung" bei Kant soll ontologisch als "phaenomenon bene fundatum" verortet werden. Dieses Unternehmen resultiert in den vorgeblich rein begrifflich zu erkennenden Substanzen Seele, Welt(elemente)101 und - als Ursache der vorigen - Gott. Der erste Teil des Aufsatzes enthält drei von Eberhard so überschriebene Abschnitte: 1. Was ist der Grund der Wirklichkeit der empirischen Erkenntnis? 1 0 2 2. Was ist der Grund der Wirklickheit unserer Vernunfterkenntnis, oder unserer Erkenntnis a priori? 1 0 3 3. Ursprung der Kategorien. 1 0 4
Im zweiten Teil werden die wichtigsten Ergebnisse in einem Vergleich zehn Kantischer und Leibnizischer Thesen nochmals gegenübergestellt (S. 393-405). Der Text belegt besonders deutlich, wie Eberhard Kants Frage nach dem Rechtsgrund in eine Frage nach dem faktischen Woher umdeutet.105 So versucht er, genetisch Kategorien und Formen der Anschauung als Äußerungen der Seelensubstanz, die "Kraft" (S. 383) sei, abzuleiten. Insbesondere Kants Anschauungsformen Raum und Zeit erfahren dabei eine Umdeutung als die "Schranken des Subjekts" (S. 377) und als ihren "Gründen" nach der Seele angeboren (S. 390). Im Text zeigen sich schon deutliche Ermüdungserscheinungen; so manches Motiv aus den vorhergehenden Beiträgen erfahrt nur eine Wiederholung.
101 102 103 104 105
Eberhard spricht S. 387 von "Weltsubstanzen". S. 369-387. S. 387-391. S. 391-392. Besonders deudich S. 387 und S. 392.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik 4.5.1. "Über die Schranken der menschlichen Erkenntnis" Eberhard wertet es als Kants "Hauptverdienst [...] um die Metaphysik",106 daß er versucht hat, die "Schranken des menschlichen Verstandes" (S. 9) genauer zu bestimmen, und zwar nicht etwa die kulturell und psychologisch bedingten "individuellen und zufälligen Grenzen", sondern die "allgemeinen wesentlichen Schranken", die der Verstand prinzipiell nicht "überschreiten kann" (S. 10). Diese Schranken benennt Eberhard auch mit dem Ausdruck "kennbarer allgemeiner Charakter" (S. 10). Er soll nach zwei Seiten fungieren und "bezeichnen", von welchen "Gegenständen" es möglich ist "eine gewisse Erkenntnis zu erhalten" (ebd.) und von welchen nicht. Die "Kantischen Zweifel" bezüglich der Verläßlichkeit der dem Verstand zugänglichen Erkenntnis, bemerkt Eberhard später auf S. 266, "so wenig sie [ihm auch] neu scheinen", veranlassen die Vertreter der Leibniz-Wolffischen Schulphilosophie zu einer "neuen Prüfimg" der Gründe ihrer "Überzeugung" und zu einer Untersuchung der "Quellen", aus denen sie geschöpft sind, "nach aller ihrer Tiefe".107 Eberhard behauptet damit eine durch die Kritik veranlaßte kritische Selbstprüfung der dogmatischen Philosophie, die Kant bei diesem Lager gerade vermißte. Es wird sich im folgenden zeigen, ob eine solche Prüfung im Sinne Kants als eine selbst vorgenommene Rechtfertigung der eigenen Erkenntnisgründe ausfiel oder ob nicht vielmehr das zu Prüfende als Kriterium der Prüfung verwandt wurde, wodurch das Ergebnis schon vorher feststehen mußte. Konkret geht es dabei um das, was sich hinter dem von Eberhard ins Spiel gebrachten "kennbaren allgemeinen Charakter" (S. 10) verbirgt, da wiederum nach Eberhard (S. 11) - sowohl Kant als auch die dogmatische Philosophie ein solches Kriterium - Kant spricht in diesem Zusammenhang vom "Probierstein" der Wahrheit (ÜE 188) - konkurrierend anbieten, das Prinzip des zureichenden Grundes bei Eberhard und den obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile108 bei Kant.
106 Der größeren Übersichtlichkeit halber werden im folgenden die Belegstellen häufig direkt im Haupttext angeben. Bei Kant folgt dabei - wie schon vorher in den Anmerkungen und teilweise auch im Haupttext den gängigen Gewohnheiten gemäß gehandhabt - die Seitenzahl direkt dem Kürzel für die jeweilige Schrift. Der erste Band des "Phil. Mag." hingegen wird ohne Kürzel lediglich mit der Seitenangabe bezeichnet - in diesem Fall steht «S. 9» für «"Phil. Mag.", Bd. I, S. 9». (Andere Bände der Eberhardischen Zeitschriften werden jeweils mit der Kurzbezeichnung «Phil. Mag.» oder «Phil. Archiv» vor der Band- und Seitenangabe zitiert.) 107 Vgl. auch S. 375/376. 108 Vgl. KrV B 197. Der entscheidende Punkt betrifft natürlich die Frage, wie synthetische Urteile apriori - d. h. Erweiterungsurteile der theoretischen Vernunft vor aller Erfährung und nicht bloß durch Erfahrung (a posteriori) - möglich sind.
100
4. Die Kontroverse im engeren Sinn Schranken oder Grenzen?
Daran, wie Eberhard Kants Kritizismus auf den Begriff bringt, fallt ein Zweifaches auf, er spricht von "Verstand" im Gegensatz zum Kantischen Ausdruck "Vernunft" und von "Schranken", während für Kant hier der ganz anders konnotierte Begriff "Grenzen" passender gewesen wäre. Auch für Eberhard ist die menschliche Erkenntniskraft nicht unbeschränkt, nur will er ihr ein weiteres Gebiet sichern, als das Kant erlaubt. Unversehens restringiert er jedoch mit seiner Rede von den "Schranken" des "Verstandes" die menschliche Erkenntniskraft viel stärker als Kant, da er "Verstand" und "Vernunft" gleichsetzt109 und eine Verendlichung der Erkenntniskraft nur durch "Schranken", nicht aber durch "Grenzen" suggeriert. Wenn das Wesentliche als Schranke nur zufallig erkannt werden kann, werden die "wesentlichen Schranken" selbst zu "zufalligen Grenzen". Eberhard verwendet "Verstand" als Oberbegriff ftir alle höheren Vermögen des Geistes. Hierfür finden wir bei Kant den Globalausdruck "Vernunft". 110 Daneben verwendet Kant dasselbe Wort "Vernunft" noch in einem spezielleren Sinn in direkter Abgrenzung von "Verstand".111 Durch Eberhards terminologische Umbesetzung geht gerade dieser für Kant wesentliche Unterschied verloren. Nach Kant hat ein Verstandesbegriff nur dann objektive Bedeutung, wenn er sich auf ein ihm entsprechendes raum-zeitlich Gegebenes der Sinnlichkeit bezieht. Eine Vernunftidee hingigen stellt auf der Grundlage eines eigenen vom Verstand unterschiedenen Vermögens - durch einen Schluß ein Unbedingtes vor, das als solches dann nicht mehr der Raum-ZeitBedingung unterliegen und damit kein Gegenstand objektiver Erkenntnis mehr sein kann. 112 Durch Eberhards Begriffstausch wird die Idee eines Unbedingten wieder verstandesmäßig verendlicht, was nicht nur Folgen für den theoretischen, sondern auch den praktischen Vernunftgebrauch nach sich zieht. Im ersten Fall wird - in der Illu109 Der Kontext der abwechselnd gebrauchten Ausdrücke "Verstand" und "Vernunft" (etwa S. 11, 12 und 14) belegt eindeutig die Sinngleichheit. Oft wird "Erkenntnis" auch mit "Verstand" synonym gesetzt. 110 Unter "Vernunft" im weitesten Sinne versteht Kant "das Vermögen der Erkenntniß a priori, d. i. die nicht empirisch ist" (Preisschrift, S. 261). Die "KU" beginnt mit den Worten: "Man kann das Vermögen der Erkenntniß aus Principien a priori die reine Vernunft und die Untersuchung der Möglichkeit und Gränzen derselben überhaupt die Kritik der reinen Vernunft nennen [...]" (KU III). 111 Unter dem Begriff "Vernunft" im speziellen Sinn versteht Kant ein Vermögen mit verschiedenen theoretisch und praktisch bedeutsamen Verrichtungen, oft ihrerseits "Vermögen" genannt, das Vermögen der Vernunftschlüsse (KrV B 355), das "Vermögen der Prinzipien" (KrV A 405, B 836; KpV 216), das Vermögen der Zwecke (KrV B 375,425,730, 861). 112 Prol. 329 (§§ 41 und 42). Typisch für diese naive Gleichsetzung ist Eberhards parallele - und ohne die Unterscheidung Vernunft/Verstand, bzw. Denken/Erkennen sogar selbstwidersprüchliche - Konstruktion S. 10: "[V]on welchen Gegenständen ist es der menschlichen Vernunft [synonym für "Verstand" gebraucht] möglich, eine gewisse Erkenntniß zu erhalten? von welchen ist es ihr hingegen unmöglich?" Kants Vernunftideen von Gott, Seele und Welt - bzw. deren Referenten - werden hier implizit "Gegenstände" genannt und entwertend wie Gegenstände behandelt. Die drei transzendentalen Hauptideen resultieren aus einem legitimen notwendigen Vernunftschluß (KrV B 397) gemäß dem Grundsatz, "zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird" (KrV B 364; vgl. KpV 84).
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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sion, Objekterkenntnis ermöglicht zu finden - das Tor zu grundlosen Spekulationen über die Natur etwa unserer intelligiblen Seele oder Gottes aufgestoßen, 113 im zweiten Fall unbedingte Kausalität aus Freiheit als Bedingung der Möglichkeit des Sittengesetzes und damit von Moralität einer Handlung ausgeschlossen.114 Obwohl er S. 16 gegenüber Locke "Vernunft", "Verstand" und "Sinne" unterscheidet, vertritt Eberhard das Modell einer tendenziell unitarischen Verfaßtheit des menschlichen Geistes. Nur weil alle Vermögen als Verstand zusammenlaufen, ist das von Eberhard mit Leibniz verfochtene Erkenntnisideal der Analysis überhaupt möglich. Für Kant hingegen muß ein Urteil über reale Sachverhalte (und nicht bloß begriffliche Zusammenhänge) auf synthetischen Ermöglichungsbedingungen beruhen, zu denen der Verstand mit seinen Begriffen allein nicht hinreicht. Im Blick auf die Möglichkeiten von Synthesis ist Kant ganz im Gegensatz zu Eberhard auf die Differenziertheit von Vermögen und deren spezifische Leistungsgrenzen aufmerksam. Zur Erklärung überhaupt der vielfaltigen Urteilsarten - und schon des (theoretischen) Erfährungsurteils alleine - geht es um die Deduktion von Möglichkeiten der Zusammenstimmung ganz unterschiedlicher Funktionen. 115 Neben den niederen Vermögen der Sinnlichkeit (sie erfüllt die konkretisierend-individualisierende Komponente der Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis, die schon aus logischen Gründen der Verstand mit seinen an sich allgemeinen Begriffen nicht leisten könnte) und der Einbildungskraft nimmt er verschiedene höhere Vermögen an, Verstand (und bestimmende Urteilskraft), reflektierende Urteilskraft und Vernunft. Sie beruhen auf Prinzipien a priori. Ein solches gibt es sogar fiir die Sinnlichkeit: Raum und Zeit sind als Formen der Anschauung Bedingungen der Möglichkeit sinnlicher Wahrnehmungen. Verstand und Vernunft begründen durch ihre Gesetzgebung je ein Gebiet, Natur einerseits und, auf den Freiheitsbegriff begründet, Moral und Recht andererseits.116 In Eberhards "Kurzem Abriß der Metaphysik", 117 finden wir zunächst eine Unterscheidung von Verstand und Vernunft, doch nur dergestalt, daß unter Vernunft eine Sonderfunktion des Verstandes verstanden wird: . Der Verstand sofern er die Verbindungen unserer Gedanken und ihrer Gegenstände erkennt, ist die Vernunft. 118 113 Das zeigt ausfuhrlich die Partie "Transzendentale Dialektik" der "KrV". In den "Paralogismen der reinen Vernunft", der "Antinomie der reinen Vernunft" und im Blick auf das "Ideal der reinen Vernunft" wird der Mißbrauch der transzendentalen Ideen von Seele, Welt und Gott vorgeführt. Zugleich jedoch arbeitet Kant im selben Teil der "KrV" den legitimen (und in diesem Sinn nicht-dialektischen) Gebrauch der Ideen heraus, was im Blick auf die theoretische Vernunft weitgehend auf ihre Bedeutung nicht als konstitutive, sondern bloß als regulative Prinzipien der Erfährung hinausläuft. - Vgl. Prol. § 43. 114 KpV 93-99. 115 Vgl. KU LVIII und Kant an Reinhold vom 28.12.1787 (AK X, S. 488). 116 KrV B 868; KU V, XVII-XIX. 117 Bei dem "Abriß" handelt es sich um kaum mehr als eine Baumgarten-Bearbeitung. Deshalb darf er nur mit Zurückhaltung zur Erläuterung von Eberhards eigener Position herangezogen werden. 118 Eberhard: Abriß, § 296, S. 145.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
Später bezeichnet Eberhard die Vernunft klarer als logisches Vermögen, (mittelbar) zu schließen. 119 Damit bleibt sie auf die Ergebnisse des Verstandes angewiesen. Zwar versteht auch Kant unter dem Spezialbegriff "Vernunft" ein Vermögen der mittelbaren oder Vernunftschlüsse. Aus deren drei Formen leitet er jedoch dann als eigenständige Vernunftbegriffe die transzendentalen Ideen des Unbedingten her, die Eberhard nur als endliche Verstandesbegriffe begreifen kann. 120 So belegt also der "Abriß", daß Eberhard wenigstens von einem homogenen "oberen Erkenntnisvermögen" ausgeht. 121 Je ernster man seine Lehre von der Sinnlichkeit als verworrener und damit unselbständiger Vorstellungsart nehmen kann, umso deutlicher wird, daß im Grunde auch das "untere" Erkenntnisvermögen zum "oberen" gehört. 122 Eberhard verkürzt ferner Kant dadurch, daß er im Blick auf die Vernunft von "Schranken" spricht. 123 Kant hingegen stützt sich auf die Metaphorik der "Grenzen": Während das Bewußtsein an eine Schranke bloß geraten und sich damit - epistemologisch gesprochen - nicht Rechenschaft von ihrer Beschaffenheit geben kann, läßt sich nach Kant eine Grenze selbst noch als solche einsichtig machen. Bei einer Schranke kann es sich nur um etwas Faktisches handeln, das als das, was es ist, nur zufallig, je nach dem, wie man von einer Seite aus irgendwie an sie stößt, bestimmt werden kann. "Grenze" ist hingegen ein Rechtsbegriff und damit Leitfäden einer epistemologischen Rechtfertigung über ihren Verlauf. 124 Somit läßt sich durch die Grenze, obwohl sie genauso wenig wie eine Schranke überschritten werden kann, d. h. "nach Prinzipien a priori", 125 ein rechtlich gesichertes Gebiet demarkieren, ein "Land der Wahrheit", eine "Insel"126 oder Kugel ("Sphäre") objektiv gültiger theoretischer Erkenntis nach strengen Gesetzen vermessen:
119 Eberhard: Abriß, § 298, S. 146. 120 KrV B 355 = A 299, B 391 = A 334. Gemäß dem kategorischen, hypothetischen und disjunktiven Vernunftschluß kommt Kant erstens auf ein Unbedingtes "der kategorischen Synthesis in einem Subjekt", zweitens auf ein Unbedingtes "der hypothetischen Synthesis der Glieder einer Reihe" und drittens auf ein Unbedingtes "der disjunktiven Synthesis der Teile in einem System (KrV B 379). 121 "Das obere Erkenntnißvermögen oder der Verstand ist das Vermögen deutlicher Erkenntniß, und es besteht aus der Aufmerksamkeit, dem Nachdenken, dem Ueberdenken, und der Abstraktion zusammengenommen, und es kann sich mit allen unsern untern Erkenntnißvermögen zugleich bey allen Gegenständen wirksam zeigen" (Abriß, § 294, S. 143/144). Der Ausdruck "zusammengenommen" darf wohl nicht als Indikation eines Kollektivbegriffs "oberes Erkenntnisvermögen" verstanden werden, denn es wäre ungereimt, etwas als ein Vermögen logisch zu bezeichnen, das real aus ganz unterschiedlichen Vermögen besteht. 122 Das untere Erkenntnisvermögen definiert Eberhard folgendermaßen: "Das Vermögen undeutlicher, das ist, dunkler und verworrener Erkenntniß, ist das untere oder sinnliche Erkenntnißvermögen. Wenn eine Erkenntniß gar keine Deutlichkeit hat: so wild sie bloß durch dieses Vermögen gewirkt; ist sie aber deutlich und undeutlich zugleich: so wird sie bloß in Absicht ihres undeudichen Theils von demselben gewirkt" (Abriß, § 260, S. 125). Hier wird unitarisch von einen unteren Erkenntnisvermögen gesprochen. Daß dann im folgenden Paragraphen daraus eine Gattung mit verschiedenen Arten (etwa den inneren und äußeren Sinnen und der Einbildungskraft, aber auch dem Witz) wird, ist wohl nur als Oberflächendiffeienz zu verstehen. 123 S. 9 und passim. Der spätere Ausdruck "Grenzlinie" meint dasselbe, da er von keinen Erläuterungen begleitet wird, die über das hinausgehen, was "Schranke" bedeutet (vgl. S. 10, 11).
4 . 5 . Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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Unsere Vernunft ist nicht etwa eine unbestimmbar weit ausgebreitete Ebene, deren Schranken man nur so überhaupt erkennt, sondern m u ß vielmehr mit einer Sphäre verglichen werden, deren Halbmesser sich aus der Krümmung des Bogens a u f ihrer Oberfläche (der Natur synthetischer Sätze a priori) finden, daraus aber auch der Inhalt und die Begrenzung derselben mit Sicherheit angeben läßt. Außer dieser Sphäre (Feld der Erfahrung) ist nichts fiir sie O b j e c t ; j a selbst Fragen über dergleichen vermeindiche Gegenstände betreffen nur subjektive Principien einer durchgängigen Bestimmung der Verhältnisse, welche unter den Verstandesbegriffen innerhalb dieser Sphäre vorkommen können.127
Die Grenzen der objektiven Erkenntnis werden durch die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori bestimmt. Sie ist gleichsam das Bogenmaß der Erfahrung. Konkret begrenzen hier die Formen der Anschauung (Raum und Zeit, bzw. die Zeit alleine) die Reichweite der Begriffe des Verstandes. So ergeben sich als "Besitz synthetischer Erkenntnis a apriori" (KrV B 790) die "Grundsätze des reinen Verstandes", deren gemeinsamer Ausdruck der "oberste Grundsatz aller synthetischen Urteile" ist. 128 Werden durch notwendige Vernunftschlüsse die Begriffe über die Grenze möglicher sinnlicher Anschauung zu Ideen gesteigert, so gelten diese nur als regulative ("subjektive") Prinzipien zum immanenten Erfahrungsgebrauch. Die eben zitierten Worte Kants aus dem Kapitel "Von der Unmöglichkeit einer skeptischen Befriedigung der mit sich selbst veruneinigten reinen Vernunft" der "KrV" richten sich gegen Hume, treffen aber genauso Eberhard. Wie Eberhard hat Hume den Verstand "nur eingeschränkt, ohne ihn zu begrenzen"(KrV B 795). Hume konnte zwar die Ungegründetheit des Dogmatismus offenlegen, hat sich aber selbst nicht - was nur durch systematische Grenzbestimmung zu leisten wäre - über die Legitimität der Position Rechenschaft gegeben, von der aus seine Zensuren gegen den Dogmatismus tatsächlich berechtigt sind. So wurde er seinerseits auf skeptische Art dogmatisch und konnte sich nicht dagegen wehren, selbst bezweifelt zu werden. 12 ' Sein nach Kant aus
124 Zur epistemologischen Unterscheidung "von Befugnissen und Anmaßungen" bedient sich Kant der Redeweise der "Rechtslehrer", wie er B 116 der "KrV" - eist zu Beginn der "transzendentalen Analytik" - am deutlichsten expliziert. Hier unterscheidet er die fiir ihn typische "Frage über das, was Rechtens ist", die Frage "quid juris?", von der, die bloß "die Tatsache angeht", der Frage "quid facti?". (Das Beweisverfehren einer "Befugnis", d. h. eines "Rechtsanspruchs" heißt - wiederum bcgriffsmetaphorisch an der Rechtsgelehrsamkeit orientiert - "Deduktion". - Freilich nimmt damit Kant keine Anleihen bei der Juristerei auf, sondern deutet vielmehr eodem actu an, daß es auch für sie nötig ist, daß ihre juristischen Ansprüche, also Ansprüche auf Geltung juristischer Regeln und Normen, auf einer vorgelagerten philosophisch-epistemologischen Ebene gerechtfertigt weiden müssen.) Daß Eberhard im Gegensatz zu manchen anderslautenden Ankündigungen nur die "quaestio facti" stellt und behandelt, zeigt schon die verkehrte Zuordnung von "wesentlich" und "zufallig" zu "Schranken" und "Grenzen" S. 10 (vgl. das entsprechende Zitat zu Beginn dieses Kapitels). 125 KrV B 787. 126 KrV B 294 (fiir die letzten beiden Zitate). 127 KrV B 790. Vgl. auch KrV B 730-731. 128 KrV B 197. Die "synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes" aus der "transzendentalen Analytik" (KrV B 197-274) beinhalten nicht nur die intellektuelle Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis, sondern auch die der Anschauung. Darauf wird später zurückzukommen sein. 129 KrV B 795-796.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
fehlender Systematik entstandener Skeptizismus130 setzt die "gegründeten Ansprüche des Verstandes", die Sphäre der synthetischen Urteile a priori, mit den "dialektischen Anmaßungen der Vernunft" (KrV B 796) gleich und unterscheidet nicht zwischen Erscheinung und Ding an sich (KpV 92). So muß vor der Vernunftkritik sowohl der Dogmatismus wie der Skeptizismus versagen, wobei allerdings schon die skeptische Polemik den Dogmatismus niederschlägt. Die kritische Grenzbestimmung bei Kant fallt, genau betrachtet, doppelt aus. Zunächst begrenzt, wie oben gesagt, die Sinnlichkeit den Verstand und mittelbar auch die Vernunft, indem dem Verstand ein Gebiet, die Erfahrung, gesichert wird, die Ideen der Vernunft hingegen als konstitutive Bedingungen der Möglichkeit von Erfährung abgewiesen werden. Insofern werden dialektische Anmaßungen der Vernunft verhindert. Daraus könnte der Schluß gezogen werden, alle möglichen Dinge seien nur Gegenstände der Erfahrung. Um dem vorzubauen, zeigt Kant, daß umgekehrt auch der Verstand und die Vernunft die Sinnlichkeit - und zwar problematisch - begrenzen. Dies geschieht durch die Annahme eines "Noumenon in negativer Bedeutung" als "Grenzbegriff". 131 Im Rahmen der "transzendentalen Analytik" der "KrV" - also noch vor der Herleitung der Ideen - geschieht dies in dem als Überriß der gesamten Analytik konzipierten Kapitel "Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena". 132 Hier begrenzt gleichsam der Verstand die Sinnlichkeit von innerhalb des Erfahrungsgebiets. Die andere Seite dieser Grenze fuhrt Kant in einem Kapitel der "Prol." vor, und zwar erst, nachdem er sich mit den Ideen und dem dialektischen Schein, zu dem sie verfuhren, beschäftigt hat. Es heißt "Von der Grenzbestimmung der reinen Vernunft". 133 Hier wird die Sinnlichkeit von außerhalb des Erfahrungsgebiets, von den Ideen134 her, begrenzt (Prol. 353), quasi dem an sich gerade noch legitimen jenseitigen Rand der Grenze: Oben [...] haben wir Schranken der Vernunft in Ansehung aller Erkenntniß bloßer Gedankenwesen angezeigt; jetzt, da uns die transscendentale Ideen dennoch den Fortgang bis zu ihnen nothwendig machen und nur also gleichsam bis zur Berührung des vollen Raumes (der Erfährung) mit dem leeren (wovon wir nichts wissen können, den 130 131 132 133
KrV B 795. KrV B 309-312. KrV B 294-315. In B 295 bezeichnet Kant diesen Text als "summarischen Überschlag" der Analytik. Prol. 350-365 (§§ 57-60). Es handelt sich dabei um den "Beschluß" des dritten Teils der "Prol.", der mit "Wie ist Metaphysik überhaupt möglich?" überschrieben ist. 134 Unter dem negativen Noumenon ist nur der problematisch sich weiter, als korrespondierende Sinnlichkeit verfugbar ist, sich eistreckende Begriff, die unschematisierte Kategorie ganz allgemein, zu verstehen (KrV B 304, B 310). Besondere rein begriffliche Gebilde ergeben sich erst - und zwar für die menschliche Vernunft mit Notwendigkeit - in Gestalt der Ideen. Auch die Ideen sind für die theoretische Vernunft keine Noumena in positiver Bedeutung (KrV B 307), d. h. keine als solche erweislichen Verstandeswesen (traditionell "intelligibilia" genannt). Wegen ihres absoluten Status wäre es überdies unpassend, sie in irgendwie objektlichem Sinn "Dinge" oder "Gegenstände" zu nennen. Dennoch nehmen sie den Platz von dem ein, was Kant zu Beginn (und häufig auch wieder gegen Schluß) der "KrV" "Ding an sich" nennt.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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Noumenis) geführt haben, können wir auch die Grenzen der reinen Vernunft bestimmen; denn in allen Grenzen ist auch etwas Positives [...], dahingegen Schianken bloße Negationen enthalten. 135
Im Gegensatz zu Kant unterscheidet Leibniz nur faktisch die Erkenntnisarten, eine kritische Rechtfertigung ihrer etwaigen Grenzen kann er damit noch nicht leisten, denn da genügt es nicht, daß man unter dem "kritischen Verfahren" bloß die Zergliederung der Gesetze versteht, nach welchen jedes Erkenntnißvermögen, das zu einer besonderen Classe von Begriffen mitwirkt, vermittelst der Gesetze der Form, seine eigenthümlichen Begriffe hervorbringt (S. 23).
Vielleicht in zu großer Abhängigkeit von der Etymologie des griechischen "krinein" - im Sinne von "scheiden"/"unterscheiden" - hat Eberhard "Kritik" verkürzend verstanden und damit Kants philosophische Pointe verfehlt. 136 Ganz in diesem Sinne verwendet Leibniz das einschlägige Vokabular, so daß sich bloß auf den ersten Blick eine unmittelbare Ähnlichkeit zu Kant zeigt: "de discriminibus atque criteriis".137 Den faktischen Status des Begriffs "Schranke" zementiert Eberhard durch das ihm beigesellte Attribut "wesendich", wenn man es als ontologisch versteht. 138 Die Ontologie jedoch kann nach Kant nur eine quaestio facti sein, denn von den Dingen an sich (den Bestimmungen des Seins selbst) könnte nur a posteriori etwas ausgemacht werden, sofern der Mensch über eine dazu hinreichende intellektuelle Anschauung verfugte. Vor aller Begegnung mit den Dingen selbst könnte niemand sich getrauen, über sie etwas auszusagen. Nach Eberhard ist Kant keineswegs der erste gewesen, der eine "Grenzlinie" zwischen dem Erkennbaren und dem Unerkennbaren "gezogen" habe (S. 10). Jede Philosophie, die einige Erkenntnis fiir gewiß hält, versucht, das Gebiet der gewissen Erkenntnis abzustecken. Daraus folgt, daß grenzenlos nur der Skeptizismus ist, denn er hält "keine Erkenntnis fiir gewiß" (S. 11). Nach Eberhard kommt damit dem Skeptizismus die Kennzeichnung zu, nämlich Grenzenlosigkeit (im faktischen Sinn verstanden), die Kant dem Dogmatismus zugeschrieben hat. 139 Uber den Begriff" der Grenzlinie gewinnt Eberhard ein Bestimmungskriterium für Philosophie. Jede Philosophie, die Grenzen zieht, d. h. jede nicht-skeptische, nennt Eberhard "Dogmatismus" (S. 11). Kants Vorwurf der Grenzenlosigkeit, die sich fiir ihn zwangsläufig ergibt, wenn reine Vernunft "ohne vorangehende Kritik ihres eigenen 135 Prol.354. 136 Der faktische Sinn von "krinein" ist mit dem lateinischen "cernere" verwandt; "cribrum" heißt lateinisch "Sieb". Doch schon im Griechischen nimmt das Wort "krinein" die Kant näher liegende Bedeutimg von "urteilen", "richten" an. 137 Leibniz: Meditationes de Cognitione, S. 422: "[...] placet quid mihi de discriminibus atque criteriis Idearum et cognitionum statuendum videatur, explicare paucis." 138 S. 10. Das gleiche gilt fiir die ándete Formel, die Eberhard S. 10 synonym verwendet: "kennbarer allgemeiner Charakter". Nicht minder faktisch klingt Eberhards Aussage S. 9, Kant habe eine "Linie" zwischen dem dem Verstände Erreichbaren und Unerreichbaren gezogen. 139 In ÜE 188 wirft Kant Eberhard vor, "einen unbegrenzten Dogmatism der reinen Vernunft" errichten zu wollen.
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Vermögens" (KrV B XXXV) - wodurch sie auf die Unabdingbarkeit der sinnlichen Erkenntnisbedingung stieße - "direkt synthetisch[e] " Sätze "aus Begriffen" (KrV B 764) aufstellt, lenkt Eberhard per definitionem vom Dogmatismus ab gegen den Skeptizismus, der fiir ihn damit zum marginalen Grenzfäll von Philosophie wird. Zugleich - und darin vor allem liegt die Pointe von Eberhards Bestimmung von jeder ein Gebiet beanspruchender Philosophie als Dogmatismus - erscheint ebenfalls Kants Kritizismus als Spielart des Dogmatismus.140 Dieser an sich harmlosen, da nur nominalen, Bestimmung war sich Kant nicht bewußt, sonst hätte er nicht, wie wir das oben ausgeführt haben, zu Anfang seiner Streitschrift beim Referat von Eberhards Hauptthese ein "dennoch" eingefügt, das "Vernunftkritik" und "Dogmatismus" auseinanderhalten sollte.141 Ferner hätte er Eberhard nicht einfach zu Beginn des zweiten Abschnitts von "ÜE" entgegenhalten können, "keinen deutlichen Begriff von dem, was die Kritik Dogmatismus nennt" (ÜE 226), zu haben, sondern allenfalls, Dogmatismus anders als die Kritik zu bestimmen. Allerdings hat Eberhard später den Begriff "Dogmatismus" in einem sehr viel spezielleren und Kant näher kommenden Sinn verwendet. S. 262 nennt Eberhard denjenigen (also etwa sich) einen "Dogmatiker", "der mit Gewißheit Dinge an sich annimmt". Damit wird aber Kant erneut selbst nominell zum Dogmatiker, da auch er mit Gewißheit Dinge an sich annimmt (Prol. 350/351). Die reale Scheidung von Kritizismus und Dogmatismus zeigt sich erst bei der Frage nach dem Status dieser Dinge an sich, von dem wir bei Kant bereits den Aspekt kennen, daß durch sie - sie werden dabei nur als negative Noumena problematisch gedacht - der Bereich der Erfährung begrenzt wird. An der genannten Stelle der Streitschrift weist Kant beide von Eberhard definierten und fiir seine und Leibnizens Position in Anspruch genommenen Begriffe von "Dogmatismus" zurück.142 Nach dem, was "Dogmatismus" real bedeutet - nämlich "das allgemeine Zutrauen" zu den "Prinzipien" der Metaphysik "ohne vorhergehende Kritik des Vernunftvermögens selbst bloß um ihres Gelingens willen" (ÜE 226) -, muß er "aus aller Transzendentalphilosophie auf immer verwiesen bleiben" (ÜE 228). Gegen den Dogmatismus wie auch gegen seinen Kontrapunkt, den Skeptizismus - das "allgemeine Mißtrauen bloß um des Mißlingens [..] willen" (ÜE 226) -, stellt Kant den "Kritizismus des Verfahrens mit allem, was zur Metaphysik gehört" (ÜE 226). Zu verstehen ist unter diesem, wie Kant sich auch ausdrückt, "Zweifel des Aufschubs" (ebd.) die Maxime eines allgemeinen Mißtrauens gegen alle synthetische Sätze derselben, bevor nicht ein allgemeiner Grund ihrer Möglichkeit in den wesentlichen Bedingungen unserer Erkenntnißvermögen eigesehen worden (ÜE 227). 140 Später wird Eberhard explizit Kants Entgegensetzung vondogmatischer und kritischer Philosophie zurückweisen und mit Blick auf Leibniz behaupten, es könne eine "kritische geben, die dogmatisch [sei]" (S. 265). 141 ÜE 187; vgl. auch ÜE 226. 142 ÜE 226, 2. Abs. bis 228, 1. Abs.; Kant bezieht sich dabei auf S. 289 und 262.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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Damit kommen wir wieder auf die Frage der "Grenzscheidung" 143 zurück. Die Anschauung a priori liefert nur fiir die "Grundsätze der Möglichkeit der Erfahrung" 144, also die synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes, einen Legitimationsgrund a priori. Zudem gibt es a posteriori eine "durchgängige Bestätigung derselben in ihrer Anwendung auf Erfahrung". 145 Der Legitimationsgrund impliziert, daß sie nicht "weiter als bloß fiir Gegenstände der Erfahrung gelten". 146 Schon damit ist ein Dogmatismus, der sie zur Erkenntnis von Übersinnlichem erweiternd gebrauchen will, rechtlich abgewiesen. Im Fall der Ideen oder VernunftbegrifFe läßt sich kein Grund angeben, der eine synthetische Verbindung von ihnen erlaubte. Deshalb lassen sich etwa im Blick auf die kosmologischen Ideen formal korrekte Beweise fiir eine These und ihr kontradiktorisches Gegenteil finden. Die Vernunft gerät dadurch in eine Antinomie, 147 und der Skeptizismus scheint recht zu bekommen. Dieser dehnt seinen Zweifel - der nicht bloß ein "Zweifel des Aufschubs" ist, sondern ein metaphysischer148, und zwar, da er in sein Zweifeln ein "allgemeines Zutrauen" setzt, ein dogmatischer - immer weiter aus, nicht bloß auf alle Denkprodukte aus Vernunftbegriffen, sondern auch auf "alle Erkenntnis a priori" 149 und somit die Grundsätze des Verstandes. Daß sich Eberhard, ohne etwa auf die Gefähr einer Antinomie zu achten, auf solche Beweise a priori beruft, verleiht seiner Position nach Kant nicht den mindesten Halt (ÜE 227 und 228).
Gestalten des Dogmatismus In einem historischen Exposé stellt Eberhard die verschiedenen Gestalten des Dogmatismus vor, die davon abhängen, wie weit die "Schranken" des "Gebiets" gesteckt werden (S. 11,12). Dabei interessieren vor allem zwei Punkte, die er als Argumente gegen Kant einsetzt, seine Einordnung Humes und seine Qualifizierung "der richtigen Ausmessung des unbestrittenen Gebietes eines vernünftigen Dogmatismus". 150 Kant soll danach Humes minimale Zusammenziehung des Gebiets der 143 144 145 146 147 148 149
ÜE227, Z. 36. ÜE227.Z. 27. ÜE 226, Z. 30-31. ÜE 227, Z. 29-30. Kant bezieht sich darauf in ÜE 227; vgl. KrV B 448-595. ÜE 227, Z. 38-39. ÜE 227, Z. 38. Aus dem anfanglich punktuellen skeptischen Zweifel - besondern "non liquet"-Einwürfen (ÜE 227, Z. 13) - wird zuletzt "die allgemeine metaphysische Zweifellehre" (ÜE 227, Z. 39). Aspektuell hat Kant nicht den (schwachen) Skeptizismus, sondern eine "skeptische Methode" (KrV B 451) in die Vernunftkritik integiert, und zwar im Zusammenhang mit der Antithetik der Ideen (KrV B 451-453 und B 535). Sie dient dazu, festzustellen, ob der Gegenstand des Streits von These und Antithese nicht auf einem beiden zugrundeliegenden Mißverständnis beruht und geht damit "auf Gewißheit" (KrV B 451). Den Skeptizismus dagegen bestimmt Kant in KrV B 451 als "Grundsatz einer kunstmäßigen und scientifischen Unwissenheit, welcher die Grundlagen aller Erkenntniß untergräbt, um wo möglich überall keine Zuverlässigkeit und Sicherheit derselben übrig zu lassen".
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
Gewißheit auf die bloßen Vorstellungen, die allein fiir unmittelbar wirklich zu halten seien, nicht widerlegen können, denn sein "Dogmatismus" ziehe aufs neue der Erkenntnis zu enge Grenzen. Bei Leibniz finde sich hingegen ein weiterer - rational gegründeter und in diesem Sinn "vernünftiger" - Dogmatismus, der zugleich geeignet sei, Hume wirksam entgegenzutreten. Eberhard beobachtet, daß der "ältere Dogmatismus" gerade das fiir ungewiß gehalten hat, worauf sich der "neuere" stützt und umgekehrt (S. 12). Diese Feststellung, die bei Eberhard eigentlich Verdacht gegen die Metaphysik erregen und ihn Kants Kritik zugeneigter hätte machen müssen, beschreibt er im Blick auf drei komplementäre Begriffspaare (S. 12, 13): "Sinnenerkenntnis" und "Verstandesideen" ("unsinnliche Ideen"), "Sinnenwelt" und "Verstandesweit" als zwei "Regionen" sowie "Materie der Vernunfterkenntnis" ("Stoff der menschlichen Erkenntnis", S. 15) und "Form der Vernunfterkenntnis" . Galt früher (nach Eberhard bei Piaton wie Aristoteles) die Sinnenerkenntnis als ungewiß und die Sinnenwelt als Schein, fand die mit Bacon und Locke anhebende Richtung Gewißheit nur in der Sinnenerkenntnis. Eberhard wird aber diesen Autoren nicht gerecht, wenn er deren Position dadurch kennzeichnet, sie nehme "Gewißheit" "bloß in der Sinnenwelt" (S. 13) an. Damit unterstellt er nämlich, der Empirismus (nach Eberhard: der empiristische Zweig des Dogmatismus) unterscheide immer noch eine Verstandes- von einer Sinnenwelt. Schon Aristoteles kann nicht mehr problemlos in dieses Schema gezwängt werden. A fortiori hat sich der Empirismus nicht mehr damit begnügt, lediglich andere Akzente in einem übernommenen Denkmuster zu setzen; er hat das Haus selber umgebaut und die ganze Bel-Etage der "Verstandeswelt" abgetragen. An diesem Detail kommt das von Eberhard im großen Stil gegen Kant angewandte Verfahren zum Vorschein, einer anderen philosophischen Position das eigene Raster überzustülpen und sie dann von diesem fälschen Maßstab aus zu analysieren und zu kritisieren. So konstruiert Eberhard auch ein gemeinsames Maß fiir Locke und Leibniz. Beide seien "kritische" Metaphysiker gewesen (S. 15) und hätten sich um eine vollständige "Aufzählung der Quellen unserer Begriffe" (S. 19) bemüht. Locke habe richtig gesehen, daß dies "a priori" nur durch eine Klassifikation nach den "Erkenntnisvermögen der Seele" (S. 16) geschehen könne. Im Gegensatz zu Leibniz sei er jedoch auf der Ebene der Sinne und damit bei den bloßen "Sensations- und Reflexionsideen" (S. 16) stehen geblieben. Verstand und Vernunft habe erst Leibniz angemessen gewürdigt. Tatsächlich jedoch leitet schon Locke das, was Eberhard als Verstandesbegriffe anspricht, aus der Erfährung konsequent ab. Die alte "Verstandeswelt" löst sich damit in subjektive Vorstellungen, die derivativ aus der unmittelbaren inneren oder äußeren Erfahrung stammen, auf, wenigstens bis auf einen realen Rest,
150 S. 12. Mit "unbestritten" meint Eberhard offenbar "unbestreitbar".
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den auch Locke noch voraussetzt, nämlich reale äußere Gegenstände und reale "minds". 151 Vokabeln wie "klassifizieren", "Aufzählung" und "Vermögen" belegen hier erneut, daß Eberhard bei Leibniz wie Locke nur einen quid-fäcti-Standpunkt sucht. Schon damit widerspricht, von Kant aus gesehen, Eberhard seiner These, die eigentliche Kritik der reinen Vernunft sei bereits von Leibniz geleistet worden. Wäre das der Fall gewesen, so hätte Leibniz nach den Bedingungen der Möglichkeit für die verschiedenen (bei ihm zwar letzdich in eins laufenden) Erkenntnisweisen fragen müssen und sich nicht bloß mit einer Inventarisierung von Erkenntnisvermögen begnügen dürfen. Freilich wird dieser Widerspruch auf Eberhardische Art dadurch vermieden, daß er unter "Kritik", wie oben bereits gesagt, nur faktische Aufzählung, Unterscheidung, aber nicht Rechtfertigung versteht. S. 19 spricht Eberhard zwar ausdrücklich von den "Rechtsgründe[n]" von Leibnizens Behauptungen; er meint damit aber nur metaphorisch - und zwar mindestens eine Stufe uneigentlicher als Kants zur Fachterminologie gewordene Redeweise von den aus Rechtsgründen deduzierbaren Geltungsansprüchen, die mit Urteilen erhoben werden - eine Rechtfertigung der Leibnizischen Argumente von außen. Eberhard hält Leibnizens Argumente fiir faktisch stärker, keineswegs will er damit behaupten, Leibniz habe die quaestio iuris zum Kern seiner philosophischen Theoriebildung gemacht. 152 Hätte er dies Leibniz unterstellt und dessen Texte entsprechend interpretiert oder hätte er sich diese Problemstellung wenigstens fiir sich zur Aufgabe gesetzt, so hätte er den entscheidenden Schritt vollzogen, den Kant zur Prüfung metaphysischer Sätze gefordert hat. Selbst ohne dem Namen Kants anzuhängen, hätte er damit den Boden des Kritizismus betreten und wäre in der Lage gewesen, auf der Grundlage eines echten gemeinsamen Maßes mit Kant einen Streit zu fuhren, den um der Sache willen Kant nicht hätte zurückweisen können. Im Laufe der Geschichte der Philosophie habe man sich nach Eberhard erst spät mit der "Materie der Vernunfterkenntnis", also dem, womit es das Erkennen zu tun hat, beschäftigt. 153 Descartes habe sie sehr allgemein als "Ausdehnung" und "Gedanke" unterschieden (S. 13). Er formulierte ein Kriterium ("Kennzeichen"), um "die wahren Begriffe von den falschen" zu "unterscheiden", nämlich die "Begreiflichkeit". Worin nun die Begreiflichkeit bei zusammengesetzten Begriffen bestehe, ließe
151 Vgl. Locke: Essay, book II, chapter I, §§ 3-5, S. 105-106. 152 Ebenfalls lediglich verbalen Charakter hat Eberhards Redeweise von den "Gerechtsame[n]" und dem "Reich" des reinen Verstandes, das unter "so vielen Revolutionen" erhalten geblieben sei (S. 264), oder die bloß pathetische Flage "Mit welchem Recht?" (S. 284). (Wenn "Grenze" ein quid-iuris-Ausdruck ist, dann muß auch "Reich" ein solcher sein, wenn aber "Reich", so nicht minder die neues oder besseres Recht setzende "Revolution"; in diesem Sinn gehört auch Kants Redeweise von der "Revolution" oder "Umschafiung" - wohl abschwächend im Sinn von "Reform" - zum juridischen Wortfeld.) 153 Eberhard weiß nicht recht, mit wem er diese Wendung beginnen lassen soll, halb mit Bacon, S. 12, dann mit Descartes, S. 13, schließlich aber doch eist mit Locke, S. 15, der darüber das Formale der Erkenntnis ganz vergessen habe.
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sich bei Descartes erschließen als "Kompossibilität ihrer Merkmale". 154 Der "einfächste Begriff" von körperlichen Vorstellungen ist dann "Ausdehnung", der von geistigen Vorstellungen "Gedanke". Ausdehnung und Gedanke machen "die allgemeine Materie" der "zusammengesetzten Begriffe von Körpern und ihren Erscheinungen", bzw. "von Geistern, ihren Eigenschaften und Wirkungen" (S. 13) aus. Körperliche Veränderungen sind damit "Modifikationen der Ausdehnung", geistige Veränderungen aber "Modifikationen des Gedankens oder der Perzeptionen" (S. 14). Über die "Gesetze der Form des Denkens" (ebd.), nach denen diese Materie zusammengesetzt werde, gebe Descartes noch keinen Aufschluß. 155 Nach Locke bilden die verschiedenen "Arten der Ideen" den "gesamten Stoff der menschlichen Erkenntnis" (S. 16). Bei der "Klassifikation" der Ideen habe er sich jedoch bloß auf den Bereich der "Sinne" beschränkt und so nur die "Sensations- und Reflexionsideen" der "unmittelbaren äußeren und inneren Erfahrung" (ebd.) aufgefunden. Um die Ideen von Verstand und Vernunft habe er sich nicht gekümmert. Später sei, fahrt Eberhard fort, behauptet worden, es gebe an Ideen überhaupt nur "Sensations- und Reflexionsideen", woraus folge, "daß alles Wirkliche bloß Veränderung" sei (S. 17). Insbesondere würde die Annahme nur denkbarer selbständiger Dinge (intelligibilia) grundlos. Denn nächsten und letzten Schritt zur denkbar engsten Beschränkung von Gewißheit habe dann Hume vollzogen.156 Die "Form der Erkenntnis", also die Verfahren, nach denen der Stoff bearbeitet wird, sieht Eberhard vorbildlich bei Aristoteles "in den Regeln [der] Syllogistik" enthalten: 157 Die Gesetze der Form der Erkenntniß waren in der aristotelischen Philosophie in den Regeln ihrer Syllogistik enthalten. Diese enthielt Regeln für die categorischen und bedingten Vernunftschlüsse; bey den letztern liegt der Satz des zureichenden Grundes, bey den erstem der Satz des Widerspruchs zum Grunde; denn das Gesetz der Schlüsse vom Allgemeinen auf das Besondere ist weiter nichts als ein besonderer Fall, der unter dem allgemeinern Gesetze des Widerspruchs enthalten ist (S. 14).
Hier deutet sich schon das Grundmißverständnis gegenüber Kant an. Es ist doppelt: Die "transzendentale Logik" versteht Eberhard als formale ä la Aristoteles, die formale hält er für hinreichend, reale Erkenntnis zu stiften, eine Aufgabe, die Eberhard vor allem dem Satz vom Grunde aufbürdet. Im Rahmen seiner Einwände gegen Kants Kategorientafel wird Eberhard in diesem Sinn weitere Partien des aristotelischen Organons empfehlen. Schon in diesem Aufsatz sagt er S. 14, es 154 Dem Problem einer präzisen und praktikablen Bestimmung des kartesischen Wahrheitskriteriums geht auch Leibniz in seinen "Meditationes" nach. Wir werden in Kapitel 4.5.5 im Rahmen der Diskussion von Eberhards Aufsatz "Über den wesendichen Unterschied" auf diesen Text zurückkommen. 155 In seinem Aufsatz "Über den Ursprung" kommt Eberhard S. 369-405 auf Descartes zurück. Im Blick auf die Flage, wie körperliche Bewegungen geistige Vorstellungen bewirken können, wird seine Unterlegenheit gegenüber Leibniz aufgezeigt. 156 Darauf wird unten noch eingegangen. 157 Eberhard scheut sich nicht, Descartes mangelnde Kenntnis dieser "Gesetze der Form des Denkens" (S. 14), auch "Gesetze des Begreiflichen" genannt (ebd.), vorzuwerfen.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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würde eine sorgfaltige Zergliederung der Regeln der aristotelischen Syllogistik auf die eisten Gesetze der Form der Erkenntniß hinausgeführt haben.
Eberhards Einteilung der Philosophie ist noch unvollständig: Den "Dogmatismus" untergliedert er in "Idealismus" und - das ist zu erschließen - Realismus (der denkenden Erfassung des realen Wesens der Dinge). Leibniz, Wolff und Eberhard sind innerhalb dieses Realismus anzusiedeln (S. 19). Als "Idealismus" bezeichnet Eberhard diejenigen Gestalten des Dogmatismus, die nur Vorstellungen fiir real halten und von der - fiir Eberhard notwendigen - Bezogenheit von Vorstellungen auf reale Dinge absehen. Er beginnt nach Locke mit Berkeley und Hume. Berkeley hat, wie aus S. 19 zu erschließen ist, mit seinem "esse est percipi" einen "materiellen" Idealismus vertreten, Hume nach S. 17 hingegen noch radikaler einen "allgemeinen Idealismus". Kants Position bezeichnet Eberhard später als "kritischen Idealismus" (S. 256, 261). Eberhards Realismus richtet sich gegen alle drei Formen von Idealismus (sowie a fortiori gegen den Skeptizismus).
David Hume Eberhard wirft Hume einerseits skeptischen Nihilismus vor ("Hume tat den Salto mortal in das öde Reich des unbegrenzten Nichts, und pflanzte das Panier des allgemeinen Idealismus auf', S. 17), andererseits grenzt er ihn vom Skeptizismus noch ab, denn wenn Hume "die menschliche Erkenntnis in den engsten Kreis eingeschränkt [hat], der sich denken läßt" (S. 19), hat er immer noch eine Grenze gezogen und die Schwelle ins "unbegrenzte Nichts" noch nicht überschritten. Hume begnügte sich nach Eberhard nicht bloß damit, den Bereich der Ideen (Vorstellungen) auf die Sensations- und Reflexionsideen einzuschränken, sondern "er schränkte das Reich des Wirklichen auf die bloßen Ideen ein" (S. 17). Da nur hier "unmittelbare Erfahrung" vorliege, nähmen wir nur die Ideen als wirklich wahr (S. 18). Streng genommen kann Eberhard hier unter "Ideen" nur Humes "Eindrücke" ("impressions") der inneren und äußeren Sinne verstehen, die Hume von ihren schwächeren Bildern, den "Ideen" ("ideas") im eigentlichen Sinn, abgrenzt. 158 Hatte Locke nach Eberhard die formalen159 Komponenten des Erkennens nur ausgeblendet, konnte Hume von seinem kongruierenden Erfahrungs- und Wirklichkeitsbegriff her gar keine solchen formalen Erkenntnisleistungen mehr annehmen, wenigstens keine, die nicht bloß subjektiv-zufallig, sondern objektiv gültig gewesen wären (S. 18). Es geht also bei Hume alle "Erkenntnis a priori" (S. 18) verloren und damit alle Erkenntnis der substantiell an sich bestehenden "Gegenstände sowohl der Sinne als des Verstandes" sowie alle "logische Wahrheit der Erkenntnis des 138 Hume: Treatise, book I, part I, section I, S. 1; vgl. auch section II, S. 7-8. 159 Wie oben gesagt, bedeutet "formal" hier "die Form der Vernunfterkenntnis betreffend" (vgl. S. 12, 13).
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
Wirklichen" (ebd.). Mit "logischer Wahrheit" bezeichnet Eberhard die (iir ihn zentrale ontologische Denkfigur, wonach das Denken, der logos, die wirklichen Dinge an sich repräsentiert und deshalb als solches objektive Gültigkeit besitzt. Im logos kommen Begriffsform des Denkens und Wesensform des Dings überein. Die angebliche Schwäche Kants Hume gegenüber läuft auf den folgendermaßen rekonstruierbaren Vorwurf hinaus: Kants Entdeckung, daß die von Hume zur empirischen Assoziation reduzierte Kausalität nicht der Erfährung entspringt, sondern auf einer apriorischen Verbindung aus reinem Verstand und reiner Anschauung beruht, sichert noch nicht den objektiven Status der Kausalität und aller apriorischen Verbindungen. 160 Beide Autoren nehmen ausschließlich Vorstellungen an, deren "Gegenstand" nicht "gegenwärtig und wirklich ist" (S. 18). Wirklich sind bei beiden nur die Vorstellungen - Humes "Impressionen" (ebd.) und Kants "Erscheinungen" (S. 28). Die "Gegenstände sowohl der Sinne als des Verstandes" (S. 18) erreichen beide nicht mehr.161 Während Eberhard nicht müde wird, Hume polemisch als oberflächlich und seicht abzukanzeln, 162 achtet Kant in ihm einen scharfsinnigen Denker, durch den er sich vom "dogmatischen Schlummer" 163 erlöst habe. 164 Kant stimmt mit Eberhard darin überein, daß nach Hume keine Erkenntnis a priori und damit auch keine Metaphysik mehr möglich sind. 1 6 s Da diese Position zugleich der reinen Mathematik und allgemeinen Naturwissenschaft, deren wissenschaftlichen Charakter Kant als evident ansieht, widerspräche, 166 zögert Kant nicht, Humes Empirismus eindeutig als Skepti160 Nach S. 18 ist Kausalität bei Hume "nichts weiter als die Succession der Eindrücke [Eberhard nennt sie "in der gemeinen Sprache" "Empfindungen"] und der Ideen [oder "Einbildungen"], deren öftere Wiederholung uns durch die Gewohnheit den Glauben einer ursachlichen Verbindung unter ihnen aufdringt." - Zu Kants Diskussion von Humes Kausalproblem siehe Prol. 257,260; KrV B 5; KpV 88. 161 S. 18, 28-29. 162 Z.B.S. 17,249,261. 163 Prol. 260. 164 Vor allem vier Textpassagen des kritischen Kant beschäftigen sich mit Hume, der Abschnitt "Von der Unmöglichkeit einer skeptischen Befriedigung der mit sich selbst veruneinigten reinen Vernunft" (KrV B 786-797), der Abschnitt "Von der Befugnis der reinen Vernunft im praktischen Gebrauche zu einer Erweiterung, die ihr im spekulativen fiir sich nicht möglich ist" (KpV 88-100), die "Vorrede" der "Prol." (257-262) und ebenfalls in den "Prol." ein Teil des Abschnitts "Von der Grenzbestimmung der reinen Vernunft" (Prol. 356-360). In der zuletzt genannten Stelle zeigt Kant, daß es durch Analogie möglich ist, einen theistischen und nicht bloß deistischen Gottesbegriff problematisch zu vertreten, dem nicht der Vorwurf des Anthropomorphismus gemacht werden kann. Dabei bezieht sich Kant auf Humes "Dialogues Concerning Natural Religion" von 1779. In den anderen Fällen diskutiert er die Probleme und Implikationen von Humes Kausalitätskritik. Er bezieht sich dabei nicht - wie Eberhard das tut - auf Humes älteren "Treatise on Human Nature" (1739-1740), sondern auf die jüngere "Inquiry Concerning Human Understanding" (1748, deutsch 1755). Im "Treatise" hatte Hume auch die Mathematik konsequent empiristisch gedeutet (ihre Sätze haben keine Notwendigkeit), in der "Enquiry" räumt Hume der Mathematik einen rein logischen Status (ohne Wirklichkeitsbezug) ein und konzidiert ihren Sätzen damit den Modus der Notwendigkeit. Kant wertet das als Inkonsequenz (KpV 90-91; im Gegensatz zu KpV 27). 165 KrV B 20, B 793; Prol. 258. 166 KrV B 128; KpV 91.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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zismus zu bezeichnen. 167 Er erklärt im Gegensatz zu Eberhard auch, warum Humes anfanglich berechtigte - und als Anregung fiir Kant entscheidende - Frage nach der Legitimität der Verbindung von Vorstellungen sich zu seinem Skeptizismus auswuchs. Da Hume diese quaestio iuris168 nur unsystematisch169 vorgenommen und nicht zwischen Dingen an sich und Erscheinungen unterschieden 170 habe, sei sein Erfahrungsbegriff einseitig passivisch171 geblieben. Die Möglichkeit, allgemeine und notwendige Aussagen zu rechtfertigen, entfiel. So verloren einerseits die Erfahrung wie die Gegenstande der Erfahrung ihre Verläßlichkeit und Stabilität, andererseits war eine Kausalität aus Freiheit und damit eine autonome Moralität unmöglich geworden. In beiden Punkten beansprucht Kant, Hume widerlegt zu haben. Nach Kant hat Hume v. a. drei logisch-systematische Fehler begangen: "Aus dem Unvermögen unserer Vernunft", vom Grundsatz der Kausalität einen über alle Erfährung hinausgehenden Gebrauch zu machen, schloß er die Nichtigkeit aller Anmaßungen der Vernunft überhaupt über das Empirische hinauszugehen. 172
Ebenfalls im Zusammenhang mit dem Kausalgesetz schloß er falschlich aus der Zufälligkeit unserer Bestimmung nach dem Gesetze, auf die Zufälligkeit des Gesetzes selbst, und das Herausgehen aus dem Begriffe eines Dinges auf mögliche Erfährung (welches a priori geschieht und die objective Realität desselben ausmacht) verwechselte er mit der Synthesis der Gegenstände wirklicher Erfährung, welche freilich jederzeit empirisch ist; dadurch machte er aber aus einem Princip der Affinität [...] eine Regel der Association [...]. 173
Was, wie es die Empirie lehrt, zufälligerweise als Ursache und Wirkung unter das Kausalgesetz gebracht wird, ist streng von der Bedeutung des Kausalitätsgrundsatzes, d. h. der Forderung einer notwendigen Verbindung von Ursache und Wirkung, zu unterscheiden. Im Kausalgesetz selbst liegt ein legitimer Fall dessen vor, daß Vernunft über das bloß Empirische hinausgeht. Da die Begriffe a priori von Ursache und Wirkung nur durch die Möglichkeit der Erfahrung (Raum und Zeit als Formen der Sinnlichkeit) a priori verbunden werden können, ist der hier gemeinte Satz der Naturkausalität dennoch zugleich auf den Bereich der Erfährung in seiner Gültigkeit beschränkt. 167 Vgl. Prol. 262. 168 KrV B 792 f.; KpV 88; Prol. 257,260. 169 KrV B 20, B 793, B 795; Prol. 260-261. Insbesondere dachte Hume nicht an die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori. Er unterschied nur begriffliche (analytische) und Wahrnehmungsurteile (die Kant zu den synthetischen Urteilen a posteriori zählt), KrV B 19, B 792-793. Auch Eberhard scheitert, wie Kapitel 4.5.6. zeigt, an den synthetischen Urteilen a priori, die er zu analytischen umstempelt. 170 KpV 93. Wären Erscheinungen Dinge an sich, hätte Hume nach Kant recht. Da man von ihnen nur a posteriori etwas wissen könnte, ist nicht einzusehen, wie eine Sache A mit einer anderen B objektivkausal (nach einer allgemeinen und notwendigen Regel) verbunden sein sollte. Nur die subjektive Kausalität (Gewohnheit) einer Assoziation ließe sich als denkökonomisches Mittel ohne Anspruch auf Objektivität rechtfertigen. 171 KrV B 127-128. 172 KrV B 788. 173 KrV B 794.
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4 . Die Kontroverse im engeren Sinn
Eberhard entnimmt der Vorrede der "Prol." richtigerweise, daß Kant "alle die Wunden aus dem Grunde heilen" will, "die der Humische Idealismus der Philosophie geschlagen hat" (S. 26/27), und zwar durch die Grundlegung einer Metaphysik, die "annimmt, die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten" (S. 27). Da Eberhard die sich dahinter verbergende systematisch ausgeführte epistemologische Fragestellung verkennt, muß er Kants "kritischen Idealismus" fiir eine bloße Modifikation des "allgemeinen Idealismus" Humes halten (S. 28, 29). In Verbindung mit anderen Aussagen Eberhards174 ergibt sich daraus an Kant der Vorwurf, teils Skeptiker zu sein, teils subjektiver Idealist im Sinne von Berkeley. Im ersten Fall setzt er das transzendentalphilosophische (und damit nicht direkt von Gegenständen sprechende) Theorem der Unerkennbarkeit der "Dinge an sich" mit der objektiven Unerkennbarkeit der Realität (der in der Wirklichkeit angetroffenen Gegenstände) gleich, im zweiten Fall den wiederum transzendentalphilosophischen Satz von der Idealität von Raum und Zeit mit materialem Idealismus. Gegen Idealismus wie Skeptizismus sieht Eberhard als einziges Gegenmittel die von Leibniz entwikkelte Lehre, daß durch Denken (also rein intellektuelle Objektivitätskriterien) das nicht-sinnliche Wesen der sinnlich erfährbaren Gegenstände und die Realität des Übersinnlichen - was beides in eins läuft - erkannt werden können.
Leibniz und Eberhard Die bei Locke, Berkeley und Hume beobachtbare "willkührlichef.] Verengung des Umfanges der menschlichen Erkenntniß" (S. 19) vermeidet nach Eberhard mustergültig die Philosophie von Leibniz. Er faßt dessen Lehre über "Quellen" und "Umfang" des Wissens in dreizehn Hauptsätzen zusammen (S. 20-22): 1. D a wir nicht nur Sinnen, sondern auch Verstand und Vernunft haben: so haben wir nicht bloß unmittelbare Erfahrungsbegriffe; denn außer den unmittelbaren Erfahrungsbegriffen haben wir auch mittelbare, d. i. solche, die aus den erstem vermittelst eines kurzen Vernunftschlusses herzuleiten sind. Diese Begriffe zu leugnen, ist vergebens. Dergleichen ist der Begriff von Vorstellungskraft. Die Materie der anschauenden Erkenntniß ist Ausdehnung und Vorstellung. 2. Die Form der Erkenntniß kann also auch auf unbildliche Begriffe angewandt werden. 3. Außer den Erfahrungsbegriffen haben wir Verstandesbegriffe, oder abstracte. Die höchsten unter ihnen oder die ontologischen sind übersinnliche. Die abstracten Begriffe können von dem menschlichen Verstände nur vermittelst der Zeichen vorgestellt werden. Ihre Erkenntniß kann also nur symbolisch/ seyn; sollen sie anschauend werden, so müssen sie in concreto vorgestellt werden. 4 . Aus den abstracten Begriffen lassen sich neue Begriffe durch willkührliche Verbindung zusammensetzen. Auch diese können nicht anders zum Theil anschauend werden, als wenn ihre Merkmale in concreto vorgestellt werden.
174 S. 349-350.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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5. Das ist die gesamte Materie, aus der, nach den Gesetzen der Form, die auf dem Satze des Widerspruchs oder des zureichenden Grundes beruhen, das System der menschlichen Erkenntniß muß zusammengesetzt werden. 6. Danach gibt es wahre Begriffe des reinen Verstandes eben so gut, als vermischte und sinnliche Begriffe. 7. Eben so Sätze, die aus reinen Verstandesbegriffen, vermischten und sinnlichen Begriffen bestehen. 8. Diese Begriffe sind nicht leer, sondern sie sind nur nicht in abstracto anschauend. 9. Die äußern Gegenstände dieser Begriffe sind wirklich in concreto oder in dem Einzelnen,/ und ihre Wirklichkeit kann a priori und a posteriori erkannt werden. 10. Auf diese Weise wird die objektive Wahrheit des höchsten Wesens erkannt. 11. Dieses beste Wesen giebt auch den Gegenständen der äußern Sinne ihr Daseyn. 12. Die Qualitäten der Gegenstände der äußern Sinne, also auch die Ausdehnung, werden durch die Sinne anschauuend erkannt. In dieser Erkenntniß wird das Einfache nicht unterschieden; sie können aber durch den reinen Verstand deutlich erkannt werden, jedoch von dem menschlichen Verstände nicht anschauend, sondern nur symbolisch. 13. Die Principien zu den Verstandesbegriffen kommen nicht durch die Erfahrung in die Seele, sind ihr also angebohren.
Eberhard will mit Leibniz zeigen, daß die menschliche Erkenntnis Gewißheit über die "Schranken" des in den "unmittelbaren Erfahrungsbegriffen" sinnlich Gegebenen hinaus erreichen kann. Über die Sinnendinge hinaus werden Verstandesdinge objektiv gültig erkannt. Er unterscheidet dazu "Erfahrungsbegriffe" und "Verstandesbegriffe", "unmittelbare" und "mittelbare" Erfahrungsbegriffe sowie "Materie" und "Form" der Erkenntnis. Da er Kants "Vernunftbegriffe" "nach der alten Sprache" "Verstandesbegriffe" (S. 24) nennt, scheint er den Ausdruck "Vernunft" für rein formallogische Operationen zu reservieren, etwa im Sinne von "Vernunftschluß" (S. 20). Der Vollzug der "Form" der Erkenntnis ist dem Verstand in Gestalt der Anwendung des "Satzes des Widerspruchs" oder des "zureichenden Grundes" vorbehalten. Erst durch diese Verstandeshandlungen könne das "System" der Erkenntnis "zusammengesetzt" werden. Eberhard interpretiert beide Sätze nicht primär formallogisch (wenngleich sie auch für die formale Logik bestimmend sind). Es handle sich bei ihnen um erkenntnisstiftende, an Kant angelehnt transzendental zu nennende Prinzipien: Sie gälten a priori, und sie ermöglichten Erkenntnis. Ganz im Gegensatz zu Kants Verwendung des Ausdrucks "tranzendental", der stets nur ein begrenzt gültiges Prinzip bezeichnet, sollen nach Eberhard beide obersten Grundsätze fiir alle Dinge überhaupt gelten, also universell, ohne Beschränkung auf mögliche Anschauung. Die "Materie" der menschlichen Erkenntnis besteht aus "Erfahrungs- und Verstandesbegriffen". Die "unmittelbaren Erfahrungsbegriffe" entstammen der "anschauenden Erkenntnis". Da die "mittelbaren" Erfahrungsbegriffe aus den unmittelbaren geschlossen werden, sind auch sie in der Anschauung verankert.
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4. D i e Kontroverse im engeren Sinn
Andererseits nennt Eberhard bereits die mittelbaren Erfahrungsbegriffe "unbildlich". Damit würden sie mit den insgesamt "abstrakt" genannten Verstandesbegriffen in eine Gruppe gehören. Unter den Verstandesbegriffen wiederum heißen die "höchsten" "ontologisch" oder "übersinnlich", womit Eberhard insinuiert, die anderen Verstandesbegriffe seien sinnlich wenigstens mitgeprägt. Vor dem Hintergrund des von Eberhard diskutierten Empirismus klingt auch der Ausdruck "abstrakt" danach, als sei ein höherer Begriff aus sinnlichen Vorstellungen abstrahiert worden, womit generell Verstandesbegriffe keinen anderen Status erhielten als den von entleerten Erfahrungsbegriffen. S. 25/26 behauptet Eberhard sogar ausdrücklich, die Verstandesbegriffe seien "von den sinnlichen Begriffen abgezogen". Mit dieser Formulierung zeigt er sich der empiristischen Abstraktionstheorie der Begriffe (etwa bei Locke) verpflichtet. 175 Dabei hätte er seinen eigenen Voraussetzungen nach nur an die von der empiristischen streng zu unterscheidende traditionell-metaphysische Abstraktionstheorie appellieren dürfen. Aus den Sinnenbildern wird hier das logische Wesen der Dinge abstrahiert. Das Resultat ist - im Gegensatz zur nur erkenntnisökonomisch bedeutsamen empiristischen Abstraktionstheorie - ein Mehr an Erkenntnis auf einer höheren Stufe, begrifflich statt sinnlich. An genannter Stelle kann Eberhard nur mit der empiristischen Abstraktionstheorie arbeiten, denn er will hier den Verstandesbegriffen einen Anschauungsbeleg zusprechen. Später jedoch schlägt sein Argument um in die metaphysische Abstraktion, die er dann sogar zu einer platonisierend deduktiven Erkenntnisart übersteigert: So zergliedert sie [=die Vernunft] die Erscheinungen der Körper in den Stoff, wozu sie die Elemente in sich selbst findet; so erhebt sie sich mit diesen Elementen zu dem Begriffe der höchsten Realität, und steigt von diesem zu der Wirklichkeit der äußern Objecte der Sinnen herab. 1 7 6
Die Verstandesbegriffe können nur "symbolisch" ("durch Zeichen"), also nicht anschaulich vorgestellt werden. Dennoch behauptet Eberhard: "[S] ollen sie anschauend werden, so müssen sie in concreto vorgestellt werden" (S. 21). Wie abstrakte, gar übersinnlich-abstrakte Begriffe anschauend werden sollen, verrät Eberhard nicht. Vielleicht meint er, sie könnten an einem konkreten Beispiel dargestellt werden, etwa Substanzialität an einer konkreten empirischen Erscheinung, die als Substanz zu artikulieren wäre. (Beim "Einfachen" wird diese Lösung von Eberhard allerdings explizit ausgeschlossen. Auch Substanzen gelten traditionell als nicht wahrzunehmen. Nur durch ihre sinnlich zugänglichen Akzidenzien können sie erschlossen werden.)
175 In die gleiche Richtung tendieren auch spätere Äußerungen, etwa S. 155: "Man hat immer unter der logischen Wahrheit der Erkenn tniß ihre Uebereinstimmung mit den Gegenstanden derselben verstanden. Dieser Begriff ist ohne Zweifel zunächst von der Wahrheit der Erfahrungserkenntniß abstrahirt." Selbst die Zeit als Verstandesvorstellung - Eberhard nennt sie "abstracte Zeit" - wird als im empiristischen Sinn "abgezogen" verstanden (S. 170). 176 S. 27. Auf die beiden Abstraktionstheorien kommen wir in Kapitel 4.5.4 zurück.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aulsätze und der Kantischen Replik
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In diesem Fall stünde er Kant ziemlich nahe, denn sinnlich Gegebenes wäre dann die unverzichtbare Voraussetzung dafür, daß ein Verstandesbegriff angewandt werden könnte. Zugleich wäre damit jedoch ausgeschlossen, daß sich, was Eberhard fordert, mit Anspruch auf objektive Geltung "aus den abstrakten Begriffen" "neue Begriffe durch willkürliche Verbindung" - also auf sinnlich nicht abgestützte Art - "zusammensetzen" lassen (S. 20). Nur unter der Voraussetzung jener von Eberhard selbst "willkürlich" genannten Rekombinationsmöglichkeit läßt sich - über den Bereich aller möglichen Erfährung hinausgehend - "die objektive Wahrheit des höchsten Wesens" erkennen. Die höchsten Verstandesdinge, darunter die Vernunftbegriffe im Kantischen Sinn, würden also dank der Möglichkeit, abstrakte Begriffe beliebig zu verbinden, erkannt. Damit wiederum erwiese sich die Möglichkeit, Verstandesbegriffe an konkreten Erscheinungen zu veranschaulichen, als rein beliebig. Nur scheinbar hätte sich also Eberhard Kant angenähert, genug, um Unachtsamen glauben zu machen, er böte eine gleichermaßen strenge Alternative zu Kant, ein Mehr an gegründeter Erkenntnis als nach Kant möglich ist. Die meisten dieser Verrenkungen, die im Blick auf die dreizehn Thesen hier nur partiell analysiert werden können, sind durch Eberhards Bemühen zu erklären, auch den Verstandesbegriffen als solchen anschaulichen Charakter zu sichern. Nur so kann er Kants Bedingung erfüllen, wonach Begriffe nur dann nicht "leer" (S. 22) seien, wenn sie sich auf eine ihnen korrespondierende Anschauung bezögen. Um Kant auf seinem eigenen Terrain zu schlagen, mußte ihm Eberhard dort erst einmal begegnen können und deshalb eine wie immer geartete Fundierung des Begriffs in der Anschauung konzidieren. Von seinem eigenen Denken her ist sie schlicht überflüssig: Da, wie Descartes und der konsequente Dogmatische Rationalismus annehmen, wenigstens die zentralen Verstandesbegriffe angeboren sind, braucht gar nicht ausgehend von der Sinnlichkeit aufgewiesen zu werden, daß die menschliche Erkenntnis sich nicht bloß auf Empfindungen stützt. Eher würde dadurch der eigene Ansatz gefährdet. Wenn angeborene Ideen vorausgesetzt werden, dann kann die Sinnlichkeit bestenfalls als Gelegenheitsursache, keinesfalls aber als selbständige Quelle zur Erkenntnis beitragen, denn diese kann keinen doppelten absoluten Ursprung haben: die immer schon als Vernunftwahrheit verfügbare Idee und zusätzlich die unmittelbare Erfährung. Und so bemüht sich Eberhard in einer Gegenbewegung, die Konzession an die von Kant geforderte Anschauung wieder verbal zu revidieren. Genau auf diesen doppelten Ursprung, wo dann die eine Komponente nicht mehr mit der anderen vereinbar ist, läuft trotzdem Eberhards Versuch hinaus, Kant entgegenzukommen. Er muß Angeborenheit und Erfährungsabhängigkeit zusammendenken. Das gelingt ihm nur durch eine rhetorische Relativierung der einen Seite: Nicht die Verstandesbegriffe, sondern, wie er verdunkelnd formuliert, die "Prinzipien zu den Verstandesbegriffen" seien "angeboren" (S. 22). Daraus folgt e contrario, daß die Prinzipien zu den Erfahrungsbegriffen aus der sinnlichen Anschauung kommen.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
Damit vertritt Eberhard in diesem Punkt - Kant, fiir den auch Erfahrungsbegriffe nur durch apriorische Voraussetzungen möglich sind, weit hinter sich lassend - unversehens einen partiellen Empirismus, 177 im Blick auf die Verstandesbegriffe hingegen einen nur verbal versteckten Theorationalismus. 178
Zwei Einwände gegen Kant Nach seinem Leibnizexposi beschäftigt sich Eberhard mit Kants "reinen Vernunftbegriffen", also den Ideen "Gott", "Seele" und "Welt". Er nennt sie "nach der alten Sprache" "reine Verstandesbegriffe" (S. 24). Anhand des Seelen- und Gottesbegriffs will Eberhard zeigen, daß sich ihnen nicht alle Anschauung absprechen lasse.179 Daß er überhaupt Anschauung und Ideen zusammenzubringen versucht, hängt mit Eberhards eingangs besprochenem Verfahren zusammen, Vernunftbegriffe nicht nur terminologisch auf Verstandesbegriffe herabzusetzen. (a) Nach Kant seien erstens die genannten Begriffe deshalb nicht objektiv gültig, weil sie "ganz leer" seien, d. h. nichts Raum-Zeitliches enthielten (S. 24). Eberhard wendet dagegen ein, der Gottesbegriff enthalte zwar nichts Räumliches oder Zeitliches ("Sukzessives"), wohl aber - als Begriff eines "allervollkommensten Geistes" - das Anschauliche von Vorstellung Uberhaupt (S. 24). Aus der Selbsterfahrung - hier verzweigt sich Eberhards Argumentation zum Seelenbegriff - haben wir nämlich die unmittelbare Anschauung der Vorstellung. Wegen dieser Anschaulichkeit könne behauptet werden, daß der Begriff eines endlichen Geistes (Seele) oder eines unendlichen (Gott) nicht leer von aller Anschauung sei, denn der Geistbegriff enthalte notwendig den der Vorstellung. Da wir innerlich erfahren, daß wir vorstellen, ja sogar die Vorstellung als Form des inneren Sinns (im Gegensatz zu Kant, der dafür die Zeit hält) annehmen müssen, dürfen wir sagen, daß die Begriffe Seele und Gott am Merk177 Empiristisch zu deuten ist auch der Satz S. 163 "Die Gründe der Dinge sind in vielen Fällen so versteckt, daß die Erfahrung sie nicht immer entdecken kann.'' Daraus folgt, daß in der Regel die "Gründe der Dinge" sehr wohl der Erfährung ohne Hilfe der Vernunft zugänglich sind. (Ausdrücke wie die "Gründe der Dinge" werden von Eberhard hauptsächlich zur Bezeichnung der Dinge an sich verwendet, so daß zudem folgt, daß die Erfahrung meist die Dinge an sich erfaßt.) Im Blick auf den letzten Teil des folgenden Aufsatzes "Über die logische Wahrheit", wo die Materie der Erkenntnis behandelt wird (S. 167 (F.), stellt sich die Frage, ob dort nicht Eberhard den Stoff als hauptursächlich für Erkenntnis deklariert. 178 Unter "Theorationalismus" - vgl. die Thesen 10,11 und 13 - verstehen wir mit Kaulbach "das Denken demjenigen metaphysischen Modell gemäß, welches den göttlichen Verstand zwischen dem menschlichen Intellekt und den Dingen a priori vermitteln läßt, so daß der Mensch durch seine «eingeborenen Ideen», die ihm Gott eingegeben hat, die «Wesen» ursprünglich zu erkennen vermag, in die Gott bei der Schöpfung sein Wissen investiert hat. Der menschliche Verstand hat sich danach an den Wahrheiten des göttlichen, vollkommenen Verstandes zu orientieren, als dessen unvollkommenes Abbild er begriffen wird" (Kaulbach: Kant, S. 38, Anm. 41). 179 S. 24. Vgl. auch S. 28, wo neben dem Seelen- und Gottesbegriff explizit von kosmologischen Begriffen die Rede ist ("die einfachen Elemente der Körper"; "die objektive Wirklichkeit einer substantiellen beharrlichen Körperwelt").
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aulsätze und der Kantischen Replik
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mal der Vorstellung anschaulich werden und somit das Kantische Kriterium erfüllen, nicht leer und deshalb Gegenstand möglicher Erkenntnis zu sein. Im Gegensatz zu Kant sind damit rationale Psychologie und Theologie - Eberhard spricht erweitert von "rationelle[r] Psychologie, Kosmologie und Theologie" - als Wissenschaften möglich (S. 29). Im Vorgriff auf den folgenden Artikel seien die dort genannten metaphysischen Disziplinen aufgeführt, die Eberhard glaubt, gegen Kant retten zu können. Er teilt sie in "unbestrittene" und "bestrittene" (S. 158) ein. Sie könnten fruchtbar bearbeitet werden und blieben erhalten, "wenn auch ein beträchtliches Stück" des "Reiches" der Metaphysik "müßte verlassen werden" (S. 157). Für durch Kant unbestritten gibt er die Ontologie, Psychologie, Vernunftlehre, Ästhetik und Sittenlehre aus (S. 158), für bestritten bloß die Kosmologie und Theologie. Offenbar hat Eberhard Kant auf eine Weise rezipiert, die es ihm nicht hat auffällen lassen, daß die "Kritik der reinen Vernunft" überhaupt die metaphysica generalis, deren anderer Name "Ontologie" lautet, und folglich ebenso die zur metaphysica specialis gehörenden Diszplinen Kosmologie, Theologie und schließlich auch Psychologie bestritten hat. 180 Wenn Eberhard mit "Vernunftlehre" die formale Logik meint, so hat Kant diese in der Tat nicht bezweifelt, meint er damit die Vernunftkritik selbst, so hatte es sie vor Kant gar nicht gegeben. (Nach Kant ist sie apodiktische Wissenschaft.) Ästhetik und Sittenlehre hat Kant zwar nicht grundsätzlich in Frage gestellt, aber auf neue Art begründet und aufgebaut. Kant geht in seiner Antwortschrift nicht auf alle von Eberhard genannten Wissenschaften ein, sondern beschränkt sich auf den Hinweis, die Ontologie werde von der Kritik bestritten. 181 Doch äußern sich in dieser Frage Kant und Eberhard nicht differenzierter, als es auf den ersten Blick scheint? Kant bezieht sich auf Eberhards Satz von S. 158: "Innerhalb der Grenzen dieses Landes liegen die unbestrittenen fruchtbaren Felder der Ontologie [...]". Eberhard ist ein ontologischer Denker, und man erwartet, mit den "Grenzen dieses Landes" meine er eine für ihn apodiktisch gewisse metaphysische Wissenschaft, so daß seine These klar und deutlich lauten könnte «Ontologie ist eine unbestritten fruchtbare Teildisziplin der Metaphysik.» Doch so leicht macht er es uns nicht. S. 157 gesteht er zu, daß "ein beträchtliches Stück" des "Reiches" der Metaphysik vielleicht tatsächlich verlassen werden muß, fugt aber hinzu, es bleibe in jedem Fall mehr "Land" übrig, als aufzugeben ist. Dennoch kann er nicht definieren, welche Art von Land denn unbedingt nach welchem Prinzip behalten werden kann. Nicht nur, daß er die bäuerliche Metaphorik 180 Wären Begriffe und Grundsätze der metaphysica generalis für alle Dinge überhaupt gültig (d. h. wäre mögliche Anschauung ohne Relevanz auf die Frage der Gültigkeit), so wäre für die theoretische Vernunft eine metaphysica specialis (psychologia, cosmologia, theologia rationales) möglich. 181 ÜE 190 und Anmerkung auf der gleichen Seite. Verkürzend unterstellt hier Kant Eberhard, er habe nur die Ontologie als unbestritten und nur die Kosmologie als bestritten bezeichnet. Auch in den "Vorarbeiten" spricht Kant nur von den "unbestrittene[n] Felder[n] der Ontologie" (AK Bd. XX, S. 368). In ÜE 199 erwähnt Kant kurz die von Eberhard "gepriesenen fruchtbaren Felder der rationalen Psychologie und Theologie".
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4. D i e Kontroverse im engeren Sinn
etwas zu sehr strapaziert, wenn er versichert, auf dem Land der Metaphysik werde "der menschliche Verstand mannigfaltige Blumen und Früchte des Geistes erzeugen", er relativiert die Möglichkeit der Wissenschaft, deren Symbolisierung durch Blumen und Früchte noch toleriert werden mag, im nächsten Halbsatz. Dort heißt es bescheiden, auf dem bewahrten Land könne der menschliche Verstand "wenigstens in der Anbauung desselben seine Kräfte üben" (S. 157/158). Damit wird aber zugestanden, der Wert des Landes liege vielleicht gar nicht mehr in dem Ertrag, bei dem es sich sowieso zu Teilen nur mehr um zweckfreie "Blüten" gehandelt hätte, sondern nur noch in der Übung des Verstandes beim Anbau. Entbildlicht wäre das so zu interpretieren: Das, was an Metaphysik nicht wegzunehmen ist, mag sich nicht als objektive Wissenschaft eignen, als subjektive Gedankenübung bleibt es aber in Kraft und in diesem Sinn "fruchtbar". Auch Kants Äußerung zeigt sich bei näherem Hinsehen differenziert. Er verwirft nicht die Ontologie in Bausch und Bogen, sondern nur, insofern ihre Begriffe und Grundsätze "Ansprüche auf eine Erkenntnis der Dinge überhaupt" - d. h. ohne Überlegung, ob es sich um Gegenstände der Sinne oder des bloßen Verstandes handele erheben. 182 Positiv gewendet heißt das: Die Begriffe und Grundsätze der traditionellen Ontologie sind dann weiterhin zu Recht zu verwenden, wenn sie "auf das sehr verengte Feld der Gegenstände möglicher Erfährung eingeschränkt" werden, und zwar epistemologisch durch den "titulum possessionis" (Besitztitel) der reinen Anschauung legitimiert. 183 Gegen den oben dargestellten Gebrauch des Begriffs "Vorstellung" bei Eberhard ist einzuwenden, daß der Begriff oder die Vorstellung "Vorstellung" zwar für den inneren Sinn anschaulich ist, aber deshalb noch nicht per se anschaulich Gegebenes enthält. Sie hat nicht nur in der Kantischen Terminologie allgemeinsten Charakter: Eine bloße Wahrnehmung ist ebenso Vorstellung wie das Ich-denke der Apperzeption, wie eine Erkenntnis (im strengen Sinn des Wortes) oder wie bloßes Denken gemäß dem formallogisch Möglichen (in dieser Hinsicht ist der Gottesbegriff trivialerweise eine Vorstellung). Damit ein Begriff nicht leer sei, fordert Kant, müsse ein Mannigfaltiges der sinnlichen Anschauung gegeben sein.184 Das ist mit der Vorstellung als solcher jedoch noch nicht der Fall, sonst vermöchte sich schon dadurch das Subjekt sinnlich selbst zu affizieren, daß es vorstellte.185 Der einzige Ausweg fiir Eberhard bestünde darin, unter der Anschaulichkeit der Vorstellung nicht, wie bei Kant einen sinnlichen, sondern
182 Ü E 190 Anm.i Zitat im Original gesperrt. 183 ÜE 190 Anm. 184 Vgl. KrV A 51 = B 75. Aus diesem Grunde lehnt er etwa eine spekulative Psychologie, die sich nur auf die Vorstellung "Ich denke" berufen könnte, ab (KrV B 401). 185 Dazu passen Eberhards Worte von S. 27, die die Überlegenheit der Leibniz-Wolffischen Philosophie im Blick auf ein Merkmal zeigen sollen, das Kant dem Kritizismus beilegt, nämlich, daß sich die Gegenstände nach unserer Erkenntnis richteten. Danach schreibt die Philosophie von Leibniz "mehr als in irgend einer andern der Natur ihre Gesetze vor, ja sie nimmt mehr als eine andere den Stoff der Erkenntniß aus ihrem Innern."
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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einen intellektuellen Charakter zu erwarten. In diesem Fall wäre das formal Anschauliche der Vorstellung zugleich ein anschaulich Gegebenes.186 Wie Eberhard andererseits das genuin Anschauliche in Begriffliches umwandelt, sei hier noch - in Vorwegnahme einer späteren Diskussion - an einem signifikanten Punkt verdeutlicht: S. 25 beansprucht Eberhard, Kants Theorem, Raum und Zeit seien Formen der sinnlichen Anschauung, in die "gewöhnliche^] [traditionell metaphysische] Sprache" zu übersetzen. Tatsächlich verkehrt er dabei jedoch die Bedeutung: Raum und Zeit werden zu den "einfachsten Merkmalen der sinnlichen Begriffe". Da ein Merkmal eines Begriffe etwas Begriffliches ist, hat er das, was Kant dezidiert als nicht-begrifflich qualifiziert,187 gerade verbegrifflicht. Zugleich läßt er durchblicken, Raum und Zeit könnten nur sinnliche Begriffe als gültig bestätigen, nicht aber "außersinnliche", deren Sachhaltigkeit er, wie bereits gesagt, durch das Merkmal der bloßen Vorstellung erweisen will. (b) Nach Kant seien, so Eberhard, zweitens die "reinen Vernunftbegriffe" aus dem Grund nicht objektiv gültig, weil sie "keine Gegenstände gäben" (S. 25). In zwei Hinsichten stellt sich Eberhard gegen diesen Satz. Soll Gegebensein bedeuten, daß den Begriffen eine Wirklichkeit "außer dem Vorstellenden" (ebd.) entspricht, so findet Eberhard es ungereimt, daß den sinnlichen Vorstellungen, bloß weil sie bildlich sind, ein realer Gegenstand zugesprochen wird, den an sich höheren intellektuellen Vorstellungen, bloß weil sie nicht bildlich sind, aber grundsätzlich nicht. Verweist die Rede vom Gegebensein auf den anschaulichen Charakter der Begriffe, so hält Eberhard die Ideen für "mittelbar anschauend" (S. 25/26), und zwar nicht wegen der Anschaulichkeit der Vorstellung als solcher, sondern, da "sie von den sinnlichen Begriffen abgezogen" sind. In der ersten Hinsicht argumentiert Eberhard rationalistisch, in der zweiten de facto empiristisch. All das soll dem Publikum als Beleg fiir die Behauptung dienen, Humes Reduktion der Erkenntnis könne nicht mit Kant - der selber auf die engen Humeschen Grenzen gebannt bleibe und nicht die wirklichen Dinge, nicht einmal das eigene Selbst (S. 28), erreiche, also bloß in Vorstellungen hängen bleibe und Erscheinungen für die Realität ausgebe - widerlegt werden, sondern allein mit Leibniz, der dies dann auch bereits vor Kant geleistet habe (S. 28). So mündet der Aufsatz in die bereits ausfuhrlich besprochene Hauptthese Eberhards, Leibniz bestimme der menschlichen Erkenntnis auf fundiertere Art weitere Grenzen, als dies Kant zulasse (S. 26).
186 Wie so oft deutet Eberhard auch in diesem Fall eine solche Möglichkeit S. 24 nur versteckt an, ohne sie auszuführen. 187 KrV A 24 = B 39 und A 31 = B 47.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn Zum Motto
Eberhard stellt seinen Ausführungen in obigem Aufsatz einen leicht abgewandelten Spruch aus Senecas "Physikalischen Untersuchungen" voran, der auch über den ganzen Band und die ganze Zeitschrift strahlt: Et hoc habet animus argumentum divinitatis suae, quod illum divina delectant: nec ut alienis interest, sed ut suis.188 Erläuternd lassen sich diese Worte so übersetzen: Der menschliche Geist hat dies zum Beweis seiner Gottähnlichkeit, daß ihn die göttlichen Dinge anziehen und erfreuen; und er beschäftigt sich dabei nicht mit ihm Fremdem, sondern ist beim Eigenen. Mit diesem Motto wird der theorationalistische Hintergrund von Eberhards Argumentation gegen Kant bezeichnet. 18 ' Er trägt alle Ausführungen Eberhards, wird aber kaum expliziert. 190 Im ersten Aufsatz scheint er kurz auf, wenn S. 18/19 daraufhingewiesen wird, Humes Begrenzung "der gewissen Erkenntnis des Wirklichen auf die bloßen Impressionen" habe "notwendig viele fur die interessantesten Angelegenheiten ihres Verstandes und Herzens besorgt machen" müssen. Mustergültig findet sich der Theorationalismus in Descartes' Dritter und Vierter Meditation formuliert, wonach die Gotteserkenntnis die einleuchtendste und deutlichste ist, die der Mensch überhaupt haben kann. 191 Im Blick auf die rationale Gotteserkenntnis kann dann alle Erkenntnis von Endlichem und Besonderem als Teilmenge der Prädikate des "allerrealsten Wesens" und des "Alls der Realität" erklärt werden. 192 Wird die spekulative Er188 Seneca: Naturales quaestiones, Buch I, Vorwort, Kap. 12. Wörtlich lautet die Stelle so: "[...] et hoc habet [animus] argumentum divinitatis suae, quod illum divina delectant, nec ut alienis sed ut suis interest: [...]". 189 Der Theorationalismus (vgl. Kaulbach: Kant, S. 38, Anm. 41) umfaßt auch eine praktisch-moralische Dimension, auf die Kaulbach nicht hinweist, die aber im Begriff der göttlichen Vollkommenheit impliziert ist. Zu ihr äußert sich Leibniz etwa in § 9 der "Principes". Durch die Verwertung der göttlichen Vollkommenheit wird für das endliche Wesen die Möglichkeit eigenen moralischen Handelns minimiert, wenn nicht ganz ausgeschlossen, denn der Schöpfer erhält sie (nach § 9 der "Principes") in ihrer Existenz und fuhrt sie in ihrem Handeln: "La Raison, qui a fait exister les choses par lui [-Dieu], les fait encore dépendre de lui en existant et en opérant; elles [=les choses] reçoivent continuellement de lui ce qui les fait avoir quelque perfection; mais ce qui leur reste d'imperfection vient de la limitation essentielle et originale de la créature." Gott ist in diesem Fall Grund fur Vollkommenheit wie Unvollkommenheit des Geschöpfs. 190 S. 22 deutet Eberhard Gottes Doppelrolle als Stifter des Seins der Dinge und logischer Urgrund der Erkenntnis an. Eher versteckt spricht er etwa S. 261 und S. 370 von der "unendlichen Substanz". S. 329 warnt Eberhard vor einem Verlust der spekulativen Gotteserkenntnis durch die Restriktion der synthetischen Urteile a priori auf mögliche Anschauung, die sich im Gegensatz zu Kant bei Leibniz nicht finde. Er denkt dabei offenbar an einen moralischen Schaden. Auch Kant klammert den theologischen Aspekt - fur ihn nur ein Spezialfall - sichtbar aus; in "ÜE" geht er zwar auf Eberhards "einfache Substanzen" ein, nicht aber auf das Problem der "unendlichen Substanz". Vgl. auch S. 261, 263, 273. 191 Descartes: Meditationes de prima philosophia, S. 45-46 und 53. 192 So identifiziert Leibniz in seinen von uns später noch ausfuhrlicher besprochenen "Meditationes de Cognitone, Veritate et Ideis" die durch vollständige Analysis ermittelbaren "einfachen Begriffe" und ersten Möglichkeiten" ("adprimapossibiliaic notiones irresolubiles") als die "absoluten Attribute Gottes selbst"- "ipsa absoluta Attribua DEI" (Leibniz: Meditationes, S. 425). Gott ist somit logisch
4.5. Synoptische Analyse der Eberhard ¡sehen Aufsätze und der Kantischen Replik
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kennbarkeit Gottes geleugnet, kollabiert nach dem Modell des Theorationalismus gleichgültig, wie im einzelnen die Argumentation aufgebaut wird - die Sicherung der theoretischen Erkenntnis von Besonderem, wenigstens sofern sie nicht bloß sinnlich ist, also etwa die der geistigen Seele und ihrer Unsterblichkeit. Wenn auf solche übersinnlichen "Realia" überdies der moralische Diskurs errichtet wird, etwa mit der Vollkommenheit oder dem Willen Gottes als sittlichem Bestimmungsgrund einer Handlung, 193 verliert auch die Moral ihr vorgebliches Fundament. Das Leitwort ist, obwohl von Seneca stammend, nicht stoisch im Zusammenhang des Theorems der Einheit von Physik und Theologie zu interpretieren, sondern platonisierend: Die Gottähnlichkeit des menschlichen Geistes zeige sich daran, daß er sich zu Gott hingezogen fühle. Mit Augustinus erscheint das Göttliche ("divina") nicht als das Andere der Seele, das "Fremde", sondern als das eigenste Sein, das als solches an Gott partizipiert. Die Bestimmungen Gottes, etwa Spiritualität, Einfachheit, Substantialität, Einheit, sind als ontologische Formen auch die Bestimmungen der Seele. Leibniz hat diese Denkweise aufgenommen, etwa in der Vorrede zur "Theoditt zee : Les perfections de Dieu sont celles de nos ames, mais il les possédé sans bornes: il est un Océan, dont nous n'avons receu que des gouttes: il y a en nous quelque puissance, quelque connoissance, quelque bonté, mais elles sont toutes entieres en Dieu. 1 9 4
Daß Kants Unterscheidung des theoretischen und praktischen Gebrauchs der Vernunft, seine Emanzipation der Erkenntnis und Moral von irgendwelchem göttlichen Wirken oder Gebieten sowie sein Nachweis der Unwissenschaftlichkeit von spekulativer Psychologie und Theologie - kurz: seine Verabschiedung vom Theorationalismus, der noch fur Leibniz so bezeichnend war - überhaupt erst das Feld fur eine freie Selbstbestimmung des Menschen im Handeln und damit auch eine freie Bejahung Gottes im religiösen Sinn ermöglicht, nimmt Eberhard nicht als Chance wahr, weder für die Philosophie noch für den religiösen Glauben. 195 Ohne das Bewußtsein einer und wesensontologisch "letzter Grund" und real "erste Ursache" der Dinge ("causas primas atque ultimam rerum rationem"). Nach den "Principes" könnte man Gott nicht bloß als Grund der Welt bezeichnen, sondern geradezu als Hypostasierung des zureichenden Grundes. In § 8 wird hier Gott "Raison suffisante de l'Existence de l'univers" und nochmals "la Raison suffisante" genannt. "Raison" wird hier von Leibniz sowohl logisch als real verstanden. Zwar hält es auch Kant für erlaubt, Gott als Grund der Erscheinungswelt zu denken (KrV B 724), aber im Gegensatz zu Leibniz handelt es sich dabei nicht um ein theoretisches Erkenntnisurteil über das Subjekt "Gott". So bleibt das, was bei Kant problematisch über Gott gleichsam als Gegenbegriff zur Erscheinungswelt ausgesagt wird, gänzlich vom Kausalnexus der Gegenstände ebenso wie von der Ordnung ihres Erkennens getrennt. 193 Vgl. KpV 69. 194 Leibniz: Theodizee, 4. Absatz der Vorrede. In den "Principes" findet sich auch der augustinische Gedanke von der Seele als Bild Gottes (§ 14). 19$ In den "Prol." spricht Kant ausdrücklich von dem "Dienst", den die Kritik "der Theologie leistet", nämlich sie von aller bejahenden oder verneinenden "dogmatischen Spekulation" unabhängig zu machen (Prol. 383). Den eigentlichen Ort einer philosophischen Rede über Gott weist Kant der praktischen Philosophie zu. In der "KpV" ist Gott Gegenstand eines Postulats, das aufgrund des un bezweifelbaren Sittengesetzes als Voraussetzung des mit diesem verbundenen Gedankens einer Realisierung des höchsten Guts (Glückseligkeit proportional zur sittlichen Würdigkeit) notwendig angenommen
4. Die Kontroverse im engeren Sinn
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ontologischen Rückbindung an Gott verliert der Mensch keineswegs seine Würde, im Gegenteil: Erst durch den positiven Beweis seiner Freiheit durch das Bewußtsein des Sittengesetzes ("Handle so, daß die Maxime deines Willens jderzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne") 196 und damit der Ermöglichung von Autonomie als unbedingte praktische Kausalität kann er sich Würde durch moralisches Handeln, Befolgung des Sittengesetzes um des Gesetzes willen, schaffen. Selbst ein Handeln aus dem heteronomen Beweggrund der - etwa von Leibniz in der "Theodizee" gepriesenen - Liebe zu Gott - auch das "delectant" aus dem Motto weist auf diesen fremdbestimmten und sogar (um des Liebeseriebens willen) eigensüchtigen Beweggrund - könnte nur den Status der Legalität, des bloßen Befblgens des Sittengesetzes, erreichen, nicht aber den der Moralität, des Handelns rein aus Achtung für das Gesetz. 1 ' 7 Die von Kant aufgezeigte Begrenztheit des Wissens auf den Bereich möglicher Anschauung behindert, wie das Eberhard - der Fatalität seiner eigenen impliziten Moraltheorie uneingedenk - zu befürchten scheint, keineswegs das moralische Handeln, ja sie ist erst die Bedingung dafür, daß Handlungen allein um der Pflicht willen, unabhängig von irgendwelchen äußeren Bedingungen, ausgefiihrt werden können. Wenn ich alle Folgen der Handlung kenne - und ich kenne sie in ihrem Gesamtresultat, wenn ich eine demonstrative Gewißheit des belohnenden und strafenden Gottes habe 198 - findet sich notwendigerweise mein guter Wille, daß ich etwas allein um des Sittengesetzes willen zu tun begehre, durch Neigungen, die als solche nicht anders als selbstsüchtig sein können, überstimmt. Dadurch würde de facto das autonome Moralprinzip durch eine heteronome Klugheitsregel ersetzt, und statt praktischer Kausalität würde Naturkausalität für mein Handeln gelten. Als endliches Subjekt hätte ich damit keine Möglichkeit mehr, mir den Wert zu erwerben, aus moralischer Gesinnung, nicht bloß nach Legalität (äußerer Konformität mit dem Sittengesetz), gehandelt zu haben. werden muß (KpV 223-237). Unter einem "Postulat" versteht Kant "einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz [.], sofern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt" (KpV 220). Eine Erweiterung der theoretischen Vernunft durch die praktische findet dabei nicht statt. Der für die theoretische Vernunft problematische GottesbegrifF erhält durch das Sittengesetz nur die Bestimmung zum Daß seiner objektiven Realität. Wie diese Realität an sich beschaffen ist, läßt sich damit nicht weiter ermitteln (vgl. KpV 240-241). 196 KpV 54. Dieses Sittengesetz (Kant nennt es hier "Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft", an anderer Stelle "kategorischer Imperativ") ist Erkenntnisgrund der Freiheit, die ihrerseits Seinsgrund des Sittengesetzes ist (KpV 5 Anm.). Nur weil es formal ist, ist es von jeder inhaltlich-gegenständlichen Voraussetzung frei und kann damit unbedingt gebieten. "Praktische Freiheit" definiert Kant als "Unabhängigkeit des Willens von jedem anderen außer allein dem moralischen Gesetze" (KpV 167/ 168).
197 KpV 127 und 129-130. 198 Dieser Gedanke steckt hinter Kants Worten, bei Erweiterung des Erkenntnisvermögens auf das Noumenon Gott, "würden Gott und Ewigkeit mit ihrer furchtbaren Majestät uns unablässig vor Augen liegen" (KpV 265).
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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Damit mag ich wohl - etwa durch Gnade - glückselig werden, kann aber nicht mehr der Glückseligkeit würdig sein. 1 " Auch das philosophische Gottesbild wird durch die Abwehr einer spekulativen Theologie von verendlichenden, vergegenständlichenden und anthropomorphistischen Tendenzen gereinigt, über deren Vorhandensein auch nicht die amphibologisch verwendete Vokabel "Grund" hinwegtäuschen darf. 200 Von Kant aus gesehen, thematisiert die Tradition, der Eberhard zugehört, Gott und Seele weitgehend nach Verstandesbestimmungen, die nur im Bereich der Erfahrung - doch dann unter der Bedingung korrespondierender Anschauung - Sinn machen können. Andererseits verkennt Kant nicht das moralische Anliegen, das im Gegensatz zum skeptizistischen Empirismus mit dem Dogmatismus - auch eines Eberhard - der Absicht nach verbunden ist: D a ß die Welt einen A n f a n g habe, d a ß m e i n denkendes Selbst einfacher u n d daher unverweslicher N a t u r , d a ß dieses zugleich in seinen willkürlichen H a n d l u n g e n frei und über den N a t u r z w a n g erhoben sei, u n d daß endlich die ganze O r d n u n g der Dinge, welche die Welt ausmachen, von einem Urwesen abstamme, von welchem alles seine Einheit und zweckmäßige V e r k n ü p f u n g entlehnt: das sind so viel Grundsteine d e r Moral und Religion. 2 0 1
In dieser sich auf die "Antinomie der reinen Vernunft" beziehenden Stelle der "KrV nennt Kant das mit den Thesen verbundene Anliegen ein "praktisches" im Gegensatz zu einem "spekulativen Interesse".202 Das weist schon darauf hin, daß das moralisch-religiöse Anliegen, das der Dogmatismus falschlich mit dem theoretischen Gebrauch der Vernunft verknüpft, nur im praktischen Gebrauch erfüllt werden 199 Vgl. das Kapitel 'Von der der praktischen Bestimmung des Menschen weislich angemessenen Proportion seiner Erkenntnißvermögen", KpV 263-266. Ein mit "X" unterzeichneter Artikel im "Phil. Archiv" tritt gegen den eben genannten Abschnitt der "KpV" dafür ein, man könne eine Handlung zugleich aus Achtung vor dem Sittengeselz wie unter der Vorstellung Gottes als Gesetzgeber und Richter vollbringen. Das läuft jedoch nach Kant auf einen logischen Widerspruch hinaus, da dieselbe Triebfeder zur Handlung unbedingt (das moralische Gesetz) und bedingt (die unweigerliche angenehme oder unangenehme Folge der Handlung nach Gottes Gerechtigkeit) wäre: "Prüfung eines scheinbaren Kantischen Gedankens von dem moralischen Vortheile unsers eingeschränkten Wissens", Phil. Archiv, Bd. II, SL 2, S. 48-59. 200 So wirkt es geradezu despektierlich, wenn Eberhard etwa S. 325 von einem "unendlichen Ding" spricht. (Daß etwa Leibniz zur Naturerkenntnis eines Gottes bedurfte, geht aus Kants Ausfuhrungen B 293 der "KrV" eindeutig hervor.) Allerdings ist auch bei Kant Gott weitgehend funktionalisiert zu einem "Seligmacher", wie ein nicht minder instrumentalisierender Ausdruck der alten Volksfrömmigkeit lautet (in modernerem Gewand müßte er wohl durch "Befreier" ersetzt werden): Er ist zu denken als den Menschen in einem künftigen Leben die Glückseligkeit zuteilend, und zwar proportional zu ihrer durch Moralität erworbenen Glückswürdigkeit (KpV 225-226). 201 KrV B 494. Diese Worte beziehen sich auf die Thesen der Antinomien. Von den Antithesen, also dem Empirismus, sagt Kant, KrV B 496, es finde sich bei ihm "kein solches praktisches Interesse aus reinen Principien der Vernunft, als Moral und Religion bei sich führen. Vielmehr scheint der bloße Empirism beiden alle Kraft und Einfluß zu benehmen." Letzteres trifft nur zu, wenn der Empirismus von einer (Maxime der) Naturerkenntnis zu einer den Bereich des Phänomenalen verabsolutierenden Metaphysik gesteigert wird, wogegen Kant durch seine Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich vorzubauen sich bemüht (vgl. KpV 91-93). 202 KrV B 494.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
kann. 2 0 3 D i e Annahme der Existenz Gottes kann, schon da sie außer Raum und Zeit gedacht werden muß, nicht durch theoretisch-spekulative Erkenntnis begründet werden, sondern nur auf der Basis eines vernünftigen moralischen Glaubens. 204 Zu ihm fuhrt der kategorische Imperativ, ein unbezweifelbares Faktum der reinen Vernunft. 205 D i e Antwort auf die von der theoretischen Wissensfrage nach dem, was da ist, unabhängige praktische Grundfrage "Was soll ich tun?" lautet als eine der vielen Formeln für das Sittengesetz: "Tue das, wodurch du würdig wirst, glücklich zu sein ",206 Daran schließt sich konsequent die dritte Frage an, was ich hoffen darf, wenn ich tue, was ich soll. Sie zielt auf das schon im Sittengesetz begrifflich enthaltene höchste Gut, d. h. die meiner Glückswürdigkeit korrespondierende Glückseligkeit. Als Bedingung ihrer Möglichkeit aber muß und darf ich - als Postulate 207 der reinen praktischen Vernunft - Gott als höchste Intelligenz und eine unsterbliche Seele annehmen. 2 0 8 Ein Überstieg in die noumenale Welt ist nach Kant also möglich, aber nur über den Freiheitsbegriff oder - was hier als identisch verstanden werden kann - über den kategorischen Imperativ und nur so weit, daß hier die Realität von freiem Willen, unsterblicher Seele, Gott und intelligibler Welt (als relationaler Ordnung dieser "Entitäten") 209 als objektiv gewiß vorausgesetzt werden muß, 2 1 0 ohne damit irgendwelchen erkennenden Aufschluß über deren - fiir das praktische Handeln wie für die Naturerkenntnis irrelevanten - Beschaffenheit zu erhalten. 211
203 Gleichsam a priori kritisiert Kant Eberhards rationale Theologie in der "KrV", B 666-667 und B 704707. 204 KrV B 856-857, B 846-847. Kant nennt diesen sich auf das Sittengesetz gründenden Vernunftglauben "Moraltheologie" (KrV B 660 Anm.). Diese leistet mehr als die spekulative, da nur sie "unausbleiblich auf den Begriff eines einigen, aUervollkommensten und vernünftigen Urwesens fuhrt" (KrV B 842). Unter der Voraussetzung der Moraltheologie und im Blick auf sie ist nach Kant eine gewisse Rehabilitierung der transzendentalen Theologie möglich, nämlich zur genaueren Begriffsbestimmung und insbesondere zur Abwehr von Übertragungen von Vorstellungen aus dem Bereich der Erfehrungserkenntnis (KrV B 668-670 und B 844). 205 KpV 55/56. 206 KrV B 836/837; vgl. auch KrV B 830, 835, 661. 207 Das Wort "postuliert" findet sich bereits KrV B 662. 208 KrV B 839; KpV 219-237 und 260 Anm.: "Es ist Pflicht, das höchste Gut nach unserem größten Vermögen wirklich zu machen; daher muß es doch auch möglich sein; mithin ist es (tir jedes vernünftige Wesen in der Welt auch unvermeidlich, dasjenige vorauszusetzen, was zu dessen objectiver Möglichkeit nothwendig ist. Die Voraussetzung ist so nothwendig als das moralische Gesetz, in Beziehung auf welches sie auch nur gültig ist." 209 Da das höchste (abgeleitete) Gut neben der Moralität (d. h. der Würdigkeit, glücklich zu sein) die Glückseligkeit enthält, Glückseligkeit (im Gegensatz zur Gott vorbehaltenen "Seligkeit") aber sinnliche Befriedigung bedeutet, bedarf auch das höchste Gut einer Sinnenwelt. 210 KpV 175, 177, 188-190, 193, 206-207. 211 KpV 99-100, 242-246.
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4.5.2. "Über die logische Wahrheit oder die transzendentale Gültigkeit der menschlichen Erkenntnis" Kants Begrenzung der theoretischen Erkenntnis auf Gegenstände als Erscheinungen will Eberhard als zu eng - als seiner Meinung nach nur auf subjektive Erscheinungswirklichkeit bezogen - erweitern. Zu diesem Zweck muß er strategisch die Bedeutung des Begriffs aufwerten und die Rolle der Anschauung herunterspielen. Zu seiner Beweisführung bedient sich Eberhard eines kantianisierenden Ausdrucks:212 Es soll gezeigt werden, daß der "menschlichen Erkenntnis" "transzendentale Gültigkeit" zukommt (S. 150). Er zielt damit auf ein Vermögen, die Wahrheit der Gegenstände an sich - der "Sinnendinge" ebenso wie der "Verstandesdinge", die Eberhard positiv als die zwei Gattungen von Gegenständen annimmt - zu erkennen. Kant übersetzt Eberhards "transzendentale Gültigkeit" mit "objektive Realität" (ÜE 190). Konkret sieht er darin einen Versuch, zu zeigen, daß zur Erkenntnis des Intelligiblen bereits nicht-widersprüchliche Begriffe hinreichen, die damit Anspruch auf objektive Realität erheben können. Auch Kant spricht dem menschlichen Verstand zu, transzendental gültige und damit objektiv reale Erkenntnis erreichen zu können, doch nur, sofern dem Begriff eine "korrespondierende Anschauung" (ÜE 191) unterlegt werden kann.213 Bloße Begriffe bieten nach Kant eine zwar notwendige, doch noch nicht hinreichende formale Erkenntnisbedingung. Einem bloß aus widerspruchsfreien Begriffen beruhenden Urteil kann nur der logische Status des Denkmöglichen zugesprochen werden. Reale Objektivität des Urteils und seiner Begriffe ist damit nicht im geringsten gesichert. Nur durch eine den Begriffen unterlegte Anschauung, durch anschaulich Gegebenes als dem Materialen der Erkenntnis, können im theoretischen Gebrauch der Vernunft Begriffe Objektivität beanspruchen.214 Als Ergebnis der von Kant in der "transzendentalen Ästhetik" und "transzendentalen Analytik" der "KrV vorgenommenen Nachforschung der Elemente unserer Erkenntniß a priori und des Grundes ihrer Gültigkeit in Ansehung der Objecte vor aller Erfahrung, mithin der Deduction ihrer objectiven Realität (ÜE 188)
läßt sich festhalten, daß keinem Begriffe seine objective Realität anders gesichert werden könne, als so fern er in einer/ ihm correspondirenden Anschauung (die fiir uns jederzeit sinnlich ist) dar212 Vgl. S. 160. 213 Der Verweis auf die "korrespondierende Anschauung'' durchzieht "ÜE" wie ein roter Faden. Die Formel findet sich aber wortwörtlich oder mit Abwandlungen (auch in "ÜE" gibt es ein Feld von Synonyma) in der "KrV" (etwa B 74, B 151, B 308; vgl. B 73, B 149) und der "KpV" (etwa 242; vgl. 245). 214 Bei mathematischen Urteilen ist das Materiale der Erkenntnis die reine Anschauung (Raum und Zeit) selbst, bei den Urteilen der Naturwissenschaft handelt es sich dabei um die (durch Raum und Zeit apriorisch geeinte) Empfindung.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
gestellt werden kann, mithin über die Grenze der Sinnlichkeit, folglich auch der möglichen Erfahrung hinaus es schlechterdings keine Erkenntniß, d. i. keine Begriffe, von denen man sicher ist, daß sie nicht leer sind, geben könne.215 Eine im Sinne Kants "transzendentale" Nachforschung ist damit auf die Bedingungen möglicher Objektivität von Urteilen und Begriffen fokussiert. Von einer "transzendentalen Logik" ist eine bloß formale Logik (der Begriffe, Urteile und Schlüsse) und auf eine solche läuft nach Kant Eberhards begriffsimmanente Onto-Logik hinaus - streng zu unterscheiden. 216 Sie behandelt nicht nur die Form des Denkens ohne Beachtung irgendeines Inhalts, sondern geht auf denjenigen Inhalt, der a priori verfügbar ist und auf den sich die ursprünglichen Begriffe, die reinen Stammbegriffe unseres Verstandes (oder die "Kategorien"), notwendig beziehen müssen, sollen sie Gebrauch und Bedeutung haben, nämlich die reine Anschauung der Zeit. 217 Durch diesen primären Bezug der Kategorien auf die Zeit als die Form des inneren Sinns 218 ergeben sich apriorische Synthesen der begrifflichen und der ästhetischen Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis, und es entfaltet sich die Architektonik der "synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes". 21 ' Innerhalb des Umfangs dieser Grundsätze liegt der Bereich möglicher Objektivität theoretischer Urteile. Objektivität ist damit nach Kant nur an Gegenständen als Erscheinungen möglich.220 Da Eberhard die transzendentale Bedeutung des Begriffs "Erscheinung" (im Sinn von "Phaenomenon") nicht beachtet, muß dieses Ergebnis fiir ihn geradezu paradox klingen, da fiir ihn "Erscheinungen" nur den privativ-subjektiven Status vorläufiger Realität haben und die Frage nach ihrem Realgrund aufwerfen. U m Kants Erscheinungsbegriff überbieten zu können, muß sich Eberhard vor allem gegen die Eigenständigkeit und Unverzichtbarkeit der Anschauung a priori - bei Kant die zu
215 ÜE 188/189. Obwohl es auf den ersten Blick so scheinen möchte, ist die parallele Stelle ÜE 240 (Z. 26-35) nicht restriktiver als ÜE 188/189: Die Aussage, daß "alle Begriffe über dieses Feld hinaus leer und ohne einen ihnen korrespondierenden Gegenstand sein müssen" (Z. 27-28), gilt nicht absolut im Sinne einer Unmöglichkeit des Gegenstandes, sondern nur in Bezug auf die theoretische Erkenntnis des endlichen Subjekts, das, wie es im nächsten Halbsatz heißt, "niemals wissen kann, ob ihnen überhaupt ein Gegenstand korrespondiere, oder nicht, die also fiir mich völlig leer sind" (Z. 33-35). 216 In diesem Sinn stellt Kant in "ÜE" "Logik" und "Transzendentalphilosophie" gegenüber. Während sich die Letztere mit der "Möglichkeit des Erkenntnisses ihrem Inhalte nach" beschäftigt, beschäftigt sich die Erstere "bloß mit der Form derselben, sofern es ein diskunives Erkenntnis ist" (ÜE 244). 217 KrV B 308. 218 Anschauung des inneren Sinns alleine ohne (möglichen) Einfluß von außen genügt jedoch nicht, um die reale "Möglichkeit der Dinge, zufolge der Kategorien," und damit "die objektive Realität" der Kategorien (KrV B 291) erweisen zu können. Die Kategorie der Substanz etwa verlangt nach der korrespondierenden sinnlichen Vorstellung von etwas Beharrlichem, wozu die (äußere) Anschauung einer Materie im Raum notwendig ist (KrV B 291). Die Anschauung der äußeren Sinne, deren gemeinsame Form der Raum ist, muß jedoch in die Form des inneren Sinns, die Zeit, aufgenommen werden. Insofern ist klar, warum das Mittel (der Einbildungskraft), wodurch die Kategorien überhaupt erst (durch die bestimmende Urteilskraft) auf sinnlich Gegebenes angewandt werden können, ein Schematismus der bloßen Zeitbestimmung ist (KrV B 176-187, insbesondere B 181). 219 KrV B 294. 220 KrVB 166.
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möglicher Objektivität erst hinreichende wie zugleich den Begriff restringierende Bedingung - wenden. "Korrespondierende Anschauung" läßt sich nach Kant dreifach differenzieren, als Anschauung a posteriori in Gestalt der Empfindung (die materiale empirische Anschauung) 221 oder als Anschauung a priori, Raum und Zeit in Gestalt der reinen Anschauung der Mathematik 222 und Raum und Zeit als Formen der Sinnlichkeit zur Ordnung ("Synopsis [...] a priori") 223 der empirischen Daten. 224
Die Kantische Bedeutung von "transzendental" Zur Abgrenzung von Eberhards Denktypus und seiner Verwendung kantianisierenden Vokabulars sei hier kurz auf Kants Verständnis von "transzendental" eingegangen. 225 Transzendental ist eine Untersuchung, die - in Gestalt von Prinzipien - die allgemeinen Bedingungen a priori vorstellt, "unter [denen] allein Dinge Objekte unserer Erkenntnis überhaupt werden können" (KU XXIX). Eine transzendentale Untersuchung geht also auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis. Damit ist nicht jede Erkenntnis a priori (im Gegensatz zu einer empirischen oder Erkenntnis a posteriori) eine transzendentale Erkenntnis, sondern nur die, dadurch wir erkennen, daß und wie gewisse Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe) lediglich a priori angewandt werden, oder wenigstens möglich sind (KrV B 80).
Daraus ergibt sich die Zweiteilung der Elementarlehre der Transzendentalphilosophie (bzw. der "transzendentalen Kritik", die eine Propädeutik dazu sein soll, aber alle ihre Prinzipien enthalten muß) in eine Ästhetik und Logik. Der erste Teil behandelt die Anschauungsbedingung, der zweite die begriffliche Bedingung. Die Bezeichnung "transzendental" hat jedoch bei Kant nicht bloß eine Bedeutung, sondern drei Grundbedeutungen. Sie sind nach dem jeweiligen Kontext streng voneinander zu unterscheiden, aber dennoch - was hier nicht ausgeführt werden kann - systematisch aufeinander beziehbar. 221 222 223 224 225
ÜE 206 und 241. ÜE 191 und 241. KrV A 94. ÜE 240 und 241. Der Zielsetzung dieser Arbeit gemäß kann hier nicht auf die rege und komplizierte - aber insgesamt nur wenig progredierende - Diskussion der Bedeutung von "transzendental'' bei Kant und überhaupt von "transzendentalen Argumenten" (etwa bei Peter F. Strawson und Donald Davidson) eingegangen werden. Zu verweisen ist hier etwa auf folgende neuere Veröffentlichungen: Bieri (Hg.): Ttanscendental Arguments and Science; Aschenberg: Sprachanalyse und Transzendentalphilosophie; Schaper (Hg.): Bedingungen der Möglichkeit; Forum für Philosophie (Hg.): Kants transzendentale Deduktion und die Möglichkeit von Transzendentalphilosophie. (Die genaueren Angaben dazu finden sich in der Literaturübersicht am Schluß.)
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
(a) Zunächst bedeutet "transzendental" das Adjektiv zu "Transzendentalphilosophie". In diesem Sinn verwendet es Kant etwa zur Bezeichnung von Kapiteln ("transzendentale Elementarlehre", "transzendentale Dialektik") und Argumentationen ("transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe"). (b) Die schon eingangs zum Ausdruck gebrachte entscheidende Bedeutung von "transzendental" (wodurch sich auch die Idee zu einer "Transzendentalphilosophie" ergibt) deckt sich mit Kants berühmter Aussage aus B 25 der "KrV": Ich nenne alle Erkenntniß transscendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnißart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt.226 Eine transzendentale Erkenntnis befaßt sich mit dem Grund der Objektivität unserer Vorstellungen, der als solcher nur a priori sein kann, und somit mit dem Grund der (realen) Möglichkeit von (objektiver) Erfahrung. 227 Dies geschieht durch die Rechtfertigung der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori, die auch für die Möglichkeit empirischer Urteile vorausgesetzt werden müssen. (c) Während im Rahmen von (b) die korrespondierende Anschauung als Bedingung der Objektivität begrifflicher Vorstellungen der theoretischen Vernunft ermittelt wird, bezieht sich der dritte Gebrauch von "transzendental" auf Aussagen jenseits des Erfährungsgebiets und bedeutet somit «jenseits oder unabhängig von möglicher Erfahrung». 228 Bei theoretischen Aussagen ist der "transzendentale" Gebrauch der Begriffe generell illegitim und fuhrt zur Dialektik einer Logik des Scheins. Legitim ist er in gewissem Umfang im praktischen Gebrauch der Vernunft. 229 Ebenso sind transzen-
226 Nach Prol. 293 wird klar, wie "sowohl" zu verstehen ist, nämlich als Verstärkung des "nicht", denn es heißt dort: "Das Wort transscendental aber, welches bei mir niemals eine Beziehung unserer Erkenntniß auf Dinge, sondern nur aufs Erkenntnißvermögm bedeutet [...]". Seine erste Formulierung in A 11/12 der "KrV" korrigierte Kant in dem Teil "sondern mit unsern Begriffen a priori von Gegenständen überhaupt beschäftigt", wohl deshalb, weil streng genommen darunter die Anschauung a priori nicht hätte mitinbegriffen sein können. Hinsichdich der Stellung von "überhaupt" hat sich die zweite Version jedoch verschlechtert; es gehört sachlich auch hier eigentlich hinter "Gegenständen". Der Terminus "Begriffe" im beiden Versionen folgenden Satz "Ein System solcher Begriffe würde Tramscendtntal-Philosophic heißen" (KrV A 12 = B 25) wird der reinen Anschauung gerecht, weil die Transzendencalphilosophie begrifflich über sie (als einem transzendentalen Prinzip von Erkenntnis) spricht. 227 Prol. 375; KrV B 401, vgl. B 80-81. Bereits in seinem Brief an Marcus Herz vom 21.2.1772 (AKX, S. 130) dokumentiert Kant die Frage: "[A]uf welchem Grunde beruhet die Beziehung desienigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand?" 228 KrV B 352/353: "[...] von transscendentalem, d. i. über die Erfahrungsgrenze hinausreichendem Gebrauche"; siehe auch B 453. "Transzendental" kann im Rahmen von (c) die Bedeutung "spekulativ" übernehmen (vgl. KrV B 662/663). Die "transzendentalen Ideen" sind "transzendental" im Sinn von «ohne "kongruierende[n] Gegenstand in den Sinnen"» (KrV B 384) und damit im Sinn von (c); sie sind es im Sinn von (b) in B 394 der "KrV" als Bedingungen der Möglichkeit der systematischen Einheit des Verstandesgebrauchs. Nur im Sinn von (c) sind Terme wie "transzendentale Theologie" (KrV B 659) zu verstehen. 229 Der kategorische Imperativ ist ein "direkt synthetischer Satz aus Begriffen" (KrV B 764), also formal ein "Dogma" (ebd.), aber dennoch legitim (KpV 56).
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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dentalphilosophische Aussagen legitim, obwohl auch sie dem Charakter nach "transzendentale" Aussagen im Sinne von (c) sind. 230 Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung bedeutet Eberhards Rede von der transzendentalen Gültigkeit der menschlichen Erkenntnis auch, daß den Begriffen objektive Realität nicht bloß im Sinne von (b) zukommen soll, sondern darüber hinaus unabhängig von möglicher Erfahrung im Sinne von (c). In beiden Fällen soll dies unabhängig vom wissenschaftlichen Aufwand von (a) geschehen. Objektivität soll also ohne oder gegen die Grenzziehung der Transzendentalphilosophie gesichert sein.
Formale Logik, transzendentale Logik, bloße Logik In einem Brief an Kant stellt Beck fest, daß die "allgemeine Logik" von der "transzendentalen Logik" nicht einfach dadurch unterschieden werden sollte, daß die allgemeine Logik "von den Gegenständen abstrahiere", sondern genauer dadurch, daß sie im Gegensatz zur transzendentalen Logik "die objektive Gültigkeit der Vorstellungen bei Seite setze".231 In der "KrV" findet sich zwar wiederholt dieselbe Entgegensetzung von "allgemeiner" - heute würden wir sagen: "formaler" 232 - Logik und "transzendentaler",233 Kant hat jedoch, von den Exegeten wenig beachtet, zu Beginn des zweiten Teils der transzendentalen Elementarlehre in dem Abschnitt "Von der Logik überhaupt" (KrV B 74-79) eine noch differenziertere Unterscheidung aller Formen von Logik vorgenommen. Daraus ergibt sich fiir die transzendentale Logik der Status einer "Logik des besonderen Verstandesgebrauchs" (KrV B 76), und das, was wir heute als formale Logik verstehen, ist nicht die "allgemeine", sondern die "allgemeine reine" 234 Logik. In dem Abschnitt stellt Kant zunächst ganz allgemein die "Ästhetik" als "Wissenschaft der Regeln der Sinnlichkeit überhaupt" der "Logik" als "Wissenschaft der 230 Für die Transzendentalphilosophie selbst kann ja nicht das gemäß (b) ermittelte Kriterium gelten, wonach Aussagen nur gelten, wenn sie aus der Verbindung von Anschauung und Begriff entstammen. Eine spezielle transzendentale oder intellektuelle Anschauung steht der Transzendentalphilosophie (nach Kant) nicht zur Verfügung. So arbeitet sie mit Raum und Zeit nicht als Anschauungen, sondern als "Prinzipien a priori" und damit mit logischen Platzhaltern. Raum und Zeit als Anschauungen mißt sie nur dem Verstand zum Zwecke mathematischer oder allgemein-naturwissenschaftlicher Urteile zu. Erst auf dieser zweiten Ebene stehen sich ästhetische Anschauung und und intellektueller Begriff heterogen gegenüber. Fiir die Transzendentalphilosophie sind beide Erkenntnisquellen nur logisch als "Bedingungen" relevant. 231 Beck an Kant, 24.8.1793; AK XI, S. 443. Durch die Unterscheidung der allgemeinen und transzendentalen Logik werde der "vielbedeutende[.] Unterschied[..] zwischen [D]enken und [E]rkennen" (a.a.O., S. 442) grundgelegt (vgl. KrV B 146-147 und B 166 Anmerkung). Beck meint, nicht nur "sehr berühmte" nicht-kantische Philosophen, auch "viele von den Freunden der Kritik" setzten Denken und Erkennen gleich (a.a.O., S. 443). 232 Allerdings nennt sie auch Kant bereits "formale Logik", da sie "sich bloß mit der Form des Denkens (der diskursiven Erkennmiß) überhaupt beschäftigt" (KrV B 170). 233 Etwa KrV B 102, B 170. 234 Das Zitat lautet KrV B 77 vollständig so: "allgemeine, aber reine Logik".
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4. D i e Kontroverse i m engeren Sinn
Verstandesregeln überhaupt" gegenüber (KrV B 76). Die Logik wird in eine "Logik des allgemeinen" und eine "des besonderen Verstandesgebrauchs" (ebd.) gegliedert. Die allgemeine Logik (auch "Elementarlogik" genannt) wiederum umfaßt die "reine" und die "angewandte" (KrV B 77). Während die angewandte "empirische Prinzipien" enthält, nämlich die "subjektiven empirischen Bedingungen, die uns die Psychologie lehrt" (ebd.), 235 ist die allgemeine reine Logik "von allen empirischen Bedingungen, unter denen unser Verstand ausgeübt wird" (ebd.), frei. Die Letztere sieht als "allgemeine Logik" von allem Inhalt der Erkenntnis und damit von "der Verschiedenheit ihrer Gegenstände" (KrV B 78) ab und beschäftigt sich allein mit der Form des Denkens. Als "reine Logik" enthält sie keine empirischen, etwa psychologische, Prinzipien (KrV B 78). Durch Kants außerhalb dieses Abschnitts geübte einfache Gegenüberstellung von (altbekannter) formaler und (von ihm neu entwickelter) transzendentaler Logik entsteht der Eindruck, als könne die letztere nicht unter die Logik des besonderen Verstandesgebrauchs subsumiert werden, sondern stehe allen hier dargestellten Logikformen gegenüber. Dies trifft jedoch nicht zu, wenn man sich an die neutrale Überschrift "Von der Logik überhaupt" hält. (Auch "Dinge überhaupt" sind nach Kant in dem Sinn nur Dinge, daß noch nicht unterschieden wird, ob sie Phänomene oder Noumene sein sollen.) Die gleiche Neutralität kommt Kants Hinweis auf die "Verstandesregeln überhaupt" zu. Auch wenn sich, wie wir sehen werden, die transzendentallogischen Verstandesregeln notwendig auf Anschauung beziehen, bleiben sie doch Verstandesregeln. Daß sich innerhalb des Schemas formale und transzendentale Logik konträr (aber nicht kontradiktorisch) gegenüberstehen, worauf Kant, wie Beck erkannt hat, hauptsächlich Wert legt, wird durch die übergeordnete Abgrenzungsarchitektonik nicht in Frage gestellt. Die besondere Logik baut auf die allgemeine reine Logik auf. Würde man eine transzendentale Logik der allgemeinen reinen im strengen Sinn außerhalb von "Logik überhaupt" gegenüberstellen, könnte sie gar nicht mehr die Regeln der formalen Logik voraussetzen. Freilich bleibt das Unbehagen, daß die Definition der Logik des besonderen Verstandesgebrauchs, nämlich "die Regeln" zu enthalten, "über eine gewisse Art von Gegenständen richtig zu denken" und damit das "Organon dieser oder jener Wissenschaft" (KrV B 76) zu sein, der transzendentalen Logik nicht gerecht wird. 236 Sie ist zwar nach Kant eine Wissenschaft, aber nicht irgend eine, sondern die apriorische Fundamentaldisziplin für alle reinen und angewandten theoretischen Wissenschaften (und somit die Wissenschaft der Wissenschaften und zugleich ihrer möglichen Gegenstände).237 Sie geht also nicht auf die eine oder
235 Darunter fallen nach Kant nicht nur rein psychologische Bedingungen, wie das "Spiel[.] der Einbildung", die "Macht der Gewohnheit" (KrV B 77) und die "Aufmerksamkeit" (KrV B 79), sondern auch das, was heute der bloßen Psychologie entzogen als "propositional attitudes" geführt wird, z. B. der "Zustand!.] des Zweifels, des Skrupels, der Überzeugung" (KrV B 79). 236 Andererseits soll das vollständig ausgeführte System der Transzendencalphilosophie ein "Organon" werden. Die im Vergleich dazu propädeutische "Kritik" dient lediglich als "Kanon" (KrV 24-26). 237 KrV B 29.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
133
andere besondere Art von Gegenständen, ihr Gegenstand ist die Gegenständlichkeit selbst. Um die Aufgabe zu erfüllen, die Objektivität von Vorstellungen zu rechtfertigen eine doppelte Aufgabe, wie wir sehen werden - muß sie die transzendentale Logik a priori lösen und kann das nur dann, wenn sie im Gegensatz zur formalen über einen Inhalt 238 verfugt, als dessen Strukturalität sie über den Regelbegriff239 letztlich zu verstehen ist. Während die formale Logik nur mit Begriffen überhaupt und der Form des Denkens arbeitet, erklärt die transzendentale Logik den Ursprung des Begriffs in Gestalt der "Stammbegriffe des reinen Verstandes" oder der "Kategorien".240 (In diesem Sinne ist die transzendentale Logik logisch früher als die formale.) Begriffe sind danach zu denken als unierende Synthesefunktioneri141 für das, was - wie die " K r V im Kapitel "Transzendentale Ästhetik" dargestellt hat - unabhängig vom Intellektuellen im Bewußtsein als Mannigfaltiges a priori 242 bereitliegt: Raum und Zeit, die reinen Anschauungen a priori. 243 Die Kategorien sind nur dann nicht leer und ohne Objekt, wenn sie notwendig auf die reine Anschauung bezogen sind, denn was immer gegenständliche Erkenntnis werden kann, muß in dieser Anschauung rezipiert werden. (Und was immer empirischer Begriff"von etwas sein soll, muß diese ursprüngliche Synthesis instanziieren.) Da der Begriff ohne Anschauung als bloßes Denken ausschließlich mit sich selbst zu tun hat und damit nur die allgemeine oder generalisierende Erkenntnisbedingung erfüllen kann, kann ihm erst durch korrespondierende Anschauung objektive Geltung gesichert werden. (Das Wort "korrespondierend" bezieht sich genau auf diese Synthese der Anschauung dem Begriff gemäß.) Umgekehrt ist die Anschauung allein für sich ebenfalls unbestimmt und erfüllt nur die konkretisierende Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis. Sie verlangt nach dem eine Synthesis der Anschauungsmannigfältigkeit vollziehenden Denken, um ihrerseits Objektivität zu erreichen.244 Es gilt also bei der Anschauung und Begriff verbindenden Erkenntnishandlung ein Wechsel238 239 240 241 242 243 244
KrV B 80, B 87, B 91, B 93. KrV A 126, A 105, B 145. KrV B 107, bzw. B 106. KrV (B) §§ 15, 17,26. KrVB 102, B 104. KrVB 168/169. Dem widerspricht nicht, daß nach der "KrV", B 122, die Vorstellungen von Raum und Zeit an sich schon objektiv gültig sind, weil etwas für unser Bewußtsein nur dann Gegenstand sein kann, wenn es in Raum und Zeit erscheint. Diese Aussage sichert nur die prinzipielle Objektivität von raum-zeitlich Gegebenem, d. h. der Anschauung, inhaldich betrachtet. Kants Ausführungen in B 121-122 der "KrV" sind im Licht des stärkeren Wortes von B 75-76 zu lesen, wonach Anschauungen ohne Begriffe blind sind. "Blind" bedeutet nicht etwa "unanschaulich" (was widersprüchlich wäre), sondern, daß man ohne Begriff (ohne Synthese des Verstandes) sich nicht bewußt machen könnte, daß das sinnlich Präsente Anschauung von etwas von mir (dem bloßen Erkenntnissubjekt) Verschiedenem ist und also, wovon es Anschauung ist. Es ist nur im Blick auf das Mannigfaltige der Anschauung als solches statthaft zu sagen, die "Anschauung [bedürfe] der Funktion des Denkens auf keine Weise" (KrV B 123), soll die Anschauung Anschauung eines Gegenstandes sein, müssen Apperzeption und Kategorien hinzutreten.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
Verhältnis: Den Begriffen kommt Objektivität von der Anschauung, der Anschauung vom Begriff.245 Der Verstand umfaßt damit nicht nur formallogische (analytische) Regeln des bloßen richtigen Denkens (des Wahrheitserhalts), sondern ebenso synthetische Regeln der Konstitution von Erfährung und zugleich von den Gegenständen der Erfährung. Im Gegensatz zur transzendentalen Ästhetik stellt die transzendentale Logik die begriffliche Erkenntnisbedingung vor. Kant unterteilt sie allerdings in eine transzendentale Analytik und Dialektik. Die Objektivität von Begriffen wird nur innerhalb der Analytik möglich, denn nur Verstandesbegriffe beziehen sich notwendig auf Anschauung und sind damit "konstitutiv". 246 Die Begriffe der transzendentalen Dialektik, die Ideen, haben in diesem Sinn keine objektive Geltung, 247 denn ihre Eigenart besteht gerade darin, daß ihnen kein korrespondierender Gegenstand gegeben werden kann, da sie - logisch - ein Unbedingtes bedeuten. Auf Erfahrung können sie sich nur sekundär im "regulativen" Sinn der systematischen Vereinheitlichung des konstitutiven Verstandesgebrauchs beziehen. 248 In dem Epitheton "konstitutiv" bei den Regeln der Analytik steckt, daß sie - obzwar Verstandesregeln - nur durch den Anschauungsbezug möglich sind. In der Analytik der transzendentalen Logik verbindet sich also die ästhetische mit der begrifflichen Erkenntnisbedingung, die beide in der "KrV" zunächst getrennt behandelt wurden. 249 Der hier zu diskutierende dritte Part heißt "bloße Logik". In dem genannten Brief setzt Beck dafür die Formel: "mit Begriffen spielen".250 Wenn auf begrifflicher (d. h. diskursiver und in diesem Sinn intellektueller oder logischer) Ebene versucht wird, die formale Logik von einem "negativen Probierstein der Wahrheit" (KrV B 84) zu einem positiven Realitätskriterium umzuwerten und sich nicht mit der logischen Denkmöglichkeit ihrem Wesen entsprechend zu bescheiden (KrV B 302), entstehen Begriffsge-
245 KrV B 103-106, B 125/126, B 314, B 75; KrV (B) § 18; KpV 160. - "ÜE" konzentriert sich ganz auf den auch in der "KrV" dominierenden (vgl. KrV B 122) ersten Aspekt. Zudem vereinfacht Kant (noch stärker als bereits vorher in den "Prol.") in "ÜE" den in der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe der "KrV" entwickelten Theorieapparat und geht insbesondere nicht auf die Rolle der Apperzeption (vgl. KrV (B) § 16) und der Einbildungskraft (vgl. KrV (B) § 24) ein. Die Auslassung darf freilich nicht als Abschaffung verstanden werden. 246 Zur Terminologie "konstitutiv" versus "regulativ" siehe KrV B 537, B 692; B 126. 247 KrV B 170; vgl. B 362-366. 248 Im eigentlichen Sinn dialektisch (KrV B 88) ist nur der Mißbrauch der Ideen (KrV B 88, B 383, B 397-398). Zu den Ideen selbst siehe KrV B 378-379 (vgl. auch B 362-366), zu ihrem - mittelbar objektiven - Gebrauch KrV B B 537-538, B 685/686 und B 699. 249 Die Rechtmäßigkeit der Verbindung wird in der "transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" bewiesen (KrV B 129-169; = KrV (B) §§ 15-27). Ihr geht in der "Analytik" die "Entdekkung" der Kategorien anhand eines logisch-analytischen "Leitfaden[s]" (KrV B 91-116) voran. Die "Tafel der Kategorien" findet sich KrV B 106. 250 Beck an Kant, 24.8.1793; AK XI, S. 442. Dem stellt er ebd. als transzendentale Formel (im Sinne einer Aufgabenstellung) entgegen: "Begriffe haben objective Gültigkeit".
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze u n d der Kantischen Replik
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bilde, die gegenständliche Wahrheit vortäuschen. 251 Es handelt sich dabei nach Kant um "bloße Logik", weil nur ein formales und kein materiales Wahrheitskriterium angewandt wird, keineswegs aber, wie die Formulierung mißverstanden werden könnte, um Sätze der formalen Logik. Solche Sätze hält Kant fiir "Dialektik" im Sinne einer "Logik des Scheins" (KrV B 170) und hat sie - erinnert sei etwa nur an die "Paralogismen" (KrV B 399) einer rationalen Seelenlehre - in der "KrV" wie nochmals in den "Prol." vorgeführt. Ganz in diesem Sinn sieht er Eberhard dogmatisch (d. h. mit Begriffskombinationen) vernünfteln (ÜE 227). Selbst Fichte wird Kant vorwerfen, mit seiner Wissenschaftslehre "bloße Logik" zu betreiben. 252
Ontologisches Denken Daß sich Eberhard des Ausdrucks "transzendentale Gültigkeit", der vom Terminus her nach einer epistemologischen Begrenzung verlangt, bedient - wohl um zunächst eine gemeinsame Basis mit Kant vorzuspiegeln - läuft seiner Denkweise eigentlich entgegen. Deshalb setzt er ihn mit einem Term gleich, der ihm wesentlich besser gerecht wird: "logische Wahrheit" (S. 151). In ihm ist - als Grundfigur des ontologischen Denkens schlechthin - die Einheit einer Doppelung zu sehen: Das Denken kann als Denken nicht anders verstanden werden, als daß es grundsätzlich in der Lage ist, das Sein (die Dinge an sich) in seiner Wahrheit zu erfassen. Der "logos" umgreift beides: Er ist die begriffliche Form des Dings im Denken wie die Wesensform seiner Existenz. 253 Die Frage nach der Objektivität unserer Erkenntnisansprüche wird damit nicht etwa bloß versäumt, sondern prinzipiell als gelöst betrachtet. 254 Während wir bei Kant ein heterogenes Objektivitätskriterium fiir Begriffe, bzw. Urteile haben (die Verbindung von Anschauung und Begriff), haben wir im Rahmen des hier skizzierten ontologischen Denkmusters ein homogenes intellektuelles Kriterium mit der Möglichkeit von drei miteinander kombinierbaren Ausprägungen: Widerspruchsfreiheit, Abstraktion der begrifflichen Form und intellektuelle Anschauung. 255 Der Begriff 251 KrV B 84-86; insbesondere B 85: "Weil aber die bloße Form des Erkenntnisses, so sehr sie auch mit logischen Gesetzen Ubereinstimmen mag, noch lange nicht hinreicht, materielle (objecave) Wahrheit dem Erkenntnisse darum auszumachen, so kann sich niemand bloß mit der Logik wagen, Uber Gegenstände zu urtheilen und irgend etwas zu behaupten, ohne von ihnen vorher gegründete Erkundigung außer der Logik eingezogen zu haben [...]." 252 Kants Erklärung gegen Fichte, AK XII, S. 396: "Denn reine Wissenschaftslehre ist nichts mehr oder weniger als bloße Logik, welche mit ihren Principien sich nicht zum Materialen des Erkenntnisses versteigt, sondern vom Inhalte derselben als reine Logik abscrahirt, aus welcher ein reales Object herauszuklauben vergebliche und daher auch nie versuchte Arbeit ist [...]." 253 S. 160-161 und S. 154-155. Vgl. Aristoteles: De anima 1,1, 403 b: "Ho men gar logos eidos tou pragmatos [...]". 254 Kant sieht darin den Versuch, "einen unbegrenzten Dogmatismus der reinen Vernunft" (ÜE 188, Z. 31) als "das gerade Widerspiel" (ÜE 187, Z. 14) seiner Vernunftkritik einzuführen. 255 Kant beschrankt sich in seiner Antwort auf das für ihn (im engeren Sinn) logische Kriterium der Widerspruchsfreiheit. Die Möglichkeit der intellektuellen Anschauung hat er generell fiir die menschliche Vernunft ausgeschlossen (ÜE 240). Die metaphysische Abstraktionstheorie beachtet er überhaupt nicht.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
"logische Wahrheit" bezeichnet also nur abgeleitet die Wahrheit von Aussagen (S. 155, 156) oder die Wahrheit der formalen Logik. 256 Daß, worauf Eberhard hinweist, die "bisherige [dogmatische] Metaphysik" im Einvernehmen mit dem "bloßen gesunden Verstand" "die logische Wahrheit ihrer Vernunfterkenntnis voraussetzen zu können geglaubt" hat, 257 liegt in der Typik des ontologischen Denkens selbst begründet. Um zu besonderen Einsichten zu finden, bedient es sich oberster Grundsätze. Hinter dem Schild von Leibniz nimmt Eberhard zu diesem Zweck zwei solcher Grundsätze an, den "des [ausgeschlossenen] Widerspruchs" und den "des zureichenden Grundes" (S. 150). Er will die "transzendentale Gültigkeit" der Grundsätze nicht nur voraussetzen, worauf sich Leibniz beschränkt habe (S. 150/151), sondern sie auch beweisen - und beachtet dabei nicht, daß sie als Beweismittel zur Demonstration selbst eingesetzt werden müssen. Da sie - wenigstens von den Dogmatikem auch ohne ausdrücklichen Beweis258 als transzendental gültig angesehen werden, haben "alle Wahrheiten, die darauf aufgebaut sind", 259 ebenfalls transzendentale Gültigkeit. Eine erste Pointe liegt darin, daß Eberhard, indem er "Wahrheiten" statt "Urteile" sagt, bereits transzendentale Gültigkeit von anderwärts voraussetzt und sich somit einer petitio principii schuldig macht. Wahrheiten sind schon transzendental gültig und brauchen das nicht erst dadurch erweisen, daß sie ("nach den Regeln der Syllogistik")260 den Grundsätzen genügen. Vielleicht liegt hinter der Verwendung des Ausdrucks "Wahrheit" aber keine dialektische Finte: Die Grundsätze können entweder erkenntniserläuternden oder stiftenden Charakter haben. Trifft das erstere zu, so benötigen die in diesem Fall formalen Grundsätze tatsächlich "Wahrheiten", die sie dann lediglich entfalten. Mit der Beschränkung auf das Formale wäre das Erkenntnisproblem jedoch nicht gelöst, sondern zum Stoff der Erkenntnis verschoben. Werden die Grundsätze material als erkenntniskonstitutive Funktionen ausgelegt (so problematisch das beim Satz vom Widerspruch aus formallogischen Gründen sein dürfte), so ist es ungereimt, wenn Eberhard sie auf schon gebildete "Wahrheiten" sich beziehen läßt. 261 Bevor Eberhard zum Beweis der objektiven Gültigkeit der Sätze vom Widerspruch und vom Grund schreitet, interpretiert er Kants Darlegungen über den "transzendentalen Schein" aus der Einleitung zur transzendentalen Dialektik der "KrV" 262 als des-
256 Die "logische Wahrheit" im engeren Sinn als Wahrheit von Urteilen gehört zum Grundmuster der «"logischen Wahrheit" (im weiteren Sinn) des Denkens», ebenso wie die sog. "metaphysische Wahrheit", auf die unten eingegangen wird. Eberhard versteht unter Letzterer absolut denknotwendige Urteile. 257 S. 150; vgl. auch S. 158. 258 S. 160, 161-162. 259 S. 151; von "Wahrheiten" spricht Eberhard auch S. 160. 260 S. 151. 261 Insofern durch sie materiale Erkenntnis konstituiert werden soll, liegt, wie wir sehen werden, für Kant darin das proton pseudos. 262 Eberhard bezieht sich auf KrV A 297 (die Stelle ist identisch mit B 353/354).
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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sen "Geständnis", daß der Satz vom Grund "wenigstens eine allgemeine subjektive Notwendigkeit" habe (S. 151). Außerhalb der "Schranken möglicher Erfahrung" (KrV B 352) treten unvermeidlicherweise subjektive Grundsätze auf, die den Anschein erwecken, objektive Grundsätze, und zwar zur "Bestimmung der Dinge an sich selbst" (KrV B 354) zu sein. 263 Von diesem sog. "transzendentalen Schein" (KrV B 349, B 352) kann die Kritik (ähnlich wie beim Sinnenschein) zwar "verhüten, daß er [.] betrüge", nicht aber kann sie "bewerkstelligen", daß er (wie der logische Schein) "verschwinde" (KrV B 354). Insofern kommt den "Grundregeln und Maximen" des Gebrauchs der Vernunft (KrV B 353), die diesen transzendentalen Schein transportieren, sogar "subjektive Notwendigkeit" (ebd.) zu. Durch den transzendentalen Schein entstehen Sätze wie "Die Welt muß der Zeit nach einen Anfang haben" (KrV B 353). Wie dieses Beispiel zeigt, erklärt er sich letztlich durch einen "Einfluß der Sinnlichkeit" auf Verstand und Vernunft: 264 Die auf ein Ding an sich gehende Idee "Welt" wird mit der ihrem Charakter nach sinnlichen Bestimmung "Anfang in der Zeit" verknüpft, also einem Prädikat, das nur für Gegenstände als Erscheinungen Sinn machen kann. 265 Eberhard leitet aus Kants Ausfuhrungen aus A 297 der " K r V eine Rechtsposition ab, wonach nach Kants eigenem Zeugnis wenigstens subjektiv der Satz vom Grund als ein solches Prinzip notwendig und ohne Einschränkung gültig sei. Er hält also eine "Übertragung" 266 einer auf subjektiven Gründen beruhenden "Verknüpfung unserer Begriffe" (S. 151) auf die Gegenstände für statthaft (S. 154). Seinem ontologischen Denken gemäß kann es sich bei diesen Gründen gar nicht um im privativen Sinn subjektive handeln, da ihnen Denknotwendigkeit zukommt und Denken - wenigstens sofern es sich im Modus der Notwendigkeit vollzieht - beim Seinsverhalt ist. Die Struktur des Denkens kongruiert mit der Struktur der Wirklichkeit. Deshalb versucht er, Kants Hinweis auf die darin liegende "Illusion" (KrV A 297) mit zwei Argumenten zu entkräften. Illusionen im strengen Sinn - so Eberhard im ersten Argument - werden traditionell nur bei der sinnlichen Erkenntnis konstatiert (S. 152). Als mögliche Irrtumsquelle werden sie aber schon auf der Ebene der Sinnlichkeit korrigiert (entweder durch eine verbesserte Wahrnehmung des zunächst getäuschten Sinnes oder durch die Unterstützung anderer Sinne) 267 oder spätestens durch die Intervention der höheren Erkenntnisvermögen Verstand und Vernunft (S. 152). So hält es Eberhard fiir ausgemacht,
263 KrV B 353; vgl. B 88. 264 KrV B 350. 265 Das Beispiel zeigt auch, daß nicht die Idee der Welt (Gleiches gilt fiir die Idee der Seele und die Idee Gottes) illusionär ist, sondern nur ein "vernünftelnder" Schluß über diese Ideen (KrV B 397, B 697, B 730). 266 S. 154: "Übertragung der reinen Vernunfterkenntnis auf die Gegenstände". 267 S. 153.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
daß aller I r r t h u m , - u n d mithin alle T ä u s c h u n g , seinen G r u n d in den Schranken, alle ' W a h r h e i t hingegen ihren G r u n d in der Kraft des denkenden Wesens habe; [...]. 2 6 8
Daß sich bereits die Sinne selbst von Täuschung befreien können, deutet a fortiori darauf hin, daß sich der Verstand auch selbst über alle Täuschungen hinweghelfen kann, und zwar i n d e m er in der Zergliederung seiner Begriffe fortgeht,/ seine ersten Grundsätze fester m a c h t , u n d in diesen ihr Band mit den Gegenständen zu bemerken sucht. 2 6 5
Als Konsequenz daraus ergibt sich, daß nach Eberhard zwar vernünftelnde Schlüsse auftreten können, sie aber prinzipiell vom Verstand in richtige Schlüsse überfuhrt werden und damit - im Gegensatz zu Kants Ansicht - zum Verschwinden gebracht werden können. Daß die Vernunft etwa unvermeidlich bei den kosmologischen Ideen in eine "Antinomie" (KrV B 448) geriete, hält Eberhard damit für unmöglich. Die dem entgegengesetzte Annahme einer natürlichen Dialektik der Vernunft versucht Eberhard noch mit einem zweiten Argument zu widerlegen: Mag die "Übertragung der reinen Vernunfterkenntnis auf die Gegenstände" (S. 154) als Illusion qualifiziert werden, wenn sie, wie Kant sagt, "unvermeidlich[.]" (S. 152; KrV A 298) und "durchgängig" (S. 154) ist, so ist sie "unleugbarste Wahrheit", denn Wahrheit ist nichts anderes als "die Übereinstimmung mit den notwendigsten Gesetzen des Verstandes und der Vernunft" (S. 154). Die "logische Wahrheit der Erkenntnis" (von uns oben als "logische Wahrheit" im engeren Sinn bezeichnet) ist "ihre Übereinstimmung mit den Gegenständen derselben" (S. 155). Bei denjenigen "Vernunftwahrheiten" (S. 155/156), die durch Erfährung weder bestätigt noch widerlegt werden können, folgt die logische Wahrheit "aus ihrer metaphysischen" (S. 156). Vernunftwahrheiten im strengen Sinn sind nach Eberhard solche Sätze, die bloß auf reinen intellektuellen Bestimmungen, sofern ihnen und ihrer Verbindung absolute Denknotwendigkeit zukommt, beruhen. 270 Insofern ihnen diese Notwendigkeit zukommt, sie also nach Leibniz in jeder möglichen Welt gelten, stellen sie "metaphysische" Wahrheiten dar: [S]o bald die vorstellende Kraft sich nach ihren nothwendigen Gesetzen etwas als möglich oder a u ß e r sich wirklich denkt: so m u ß es möglich u n d außer ihr wirklich seyn; u n d es k a n n nicht anders möglich und wirklich seyn, als die vorstellende Kraft durch eben dieselben Gesetze genöthigt wird, es sich zu denken. 2 7 1
Eberhard bezeugt nochmals in aller Deutlichkeit sein ontologisches Denkvertrauen: Die notwendigen (und damit subjektiv unhintergehbaren) Gesetze des Vorstellens repräsentieren objektive Realität, weil diese nicht anders sein kann, als sie notwendig zu denken ist. Außer der Vorstellung ist das als wirklich anzunehmen, was 268 S. 153. 269 S. 153/154. 270 S. 156. Zu Leibnizens Unterscheidung absolute versus hypothetische Notwendigkeit vgl. "Discours", § 13. Das Gegenteil einer absoluten oder metaphysischen Wahrheit schließt einen Widerspruch ein. 271 S. 156.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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sich nach den notwendigen Gesetzen der Vorstellung - dazu gehört herausgehoben der Satz des zureichenden Grundes - als widerspruchsfrei und somit möglich erweist. Vor diesem Hintergrund ist es erlaubt, von der ausschließenden Disjunktion "möglich oder außer sich wirklich" zu der als Implikation wirkenden Konjunktion "möglich und [daher] außer ihr wirklich" überzugehen.
Form und Materie S. 160 unterscheidet Eberhard die "transzendentale Gültigkeit" der "Form unserer Erkenntnis" und die "Realität" der "Materie der reinen Vernunfterkenntnis". Danach machen erst Form und Materie zusammen die menschliche Erkenntnis aus. Diese Verbindung ersetzt offenbar die Kantische von Anschauung und Begriff. Eberhard wendet sich zuerst der Form zu. Die Besonderheit liegt darin, daß Eberhard nicht bloß wie in der gewöhnlichen ontologischen Tradition voraussetzen, sondern streng 272 beweisen will, daß die Form nicht bloß subjektiv von der Erkenntnis, sondern als solche zugleich objektiv von den Gegenständen gilt (S. 160). Unter der Form "unserer Erkenntnis" (ebd.) versteht er in einem ersten Schritt "die Verbindung der Wahrheiten nach dem Satze des Widerspruchs und des zureichenden Grundes". 273 Die beiden hier genannten Gesetze sind danach zunächst einmal die "Grundgesetze^] der Vernunft"; was ihnen gemäß ist, das ist im Sinne einer subjektiven Gewißheit wahr (S. 160). Da eine subjektive Gewißheit, sprachlogisch gesehen, noch keine objektive Wahrheit bedeutet, muß sich daran ein zweiter Schritt anschließen, der die "transzendentale Gültigkeit" der zunächst nur subjektiven Form zeigt. So stellt Eberhard die Frage, ob die nach der subjektiven Form "gedachten Gegenstände" entsprechend objektiv wahr seien (S. 160), ob also die realen Gegenstände (die Dinge an sich letztlich) diesen Gesetzen gemäß erkannt werden können. 274 Es geht hier also um die Rechtmäßigkeit einer Übertragung von der Subjekt- auf die Objektseite. Die "bisherige Metaphysik" (S. 160) habe sie noch ohne Beweis als legitim angenommen, und auch Kant fordere "von einer echten Metaphysik [...], daß sich die Gegenstände nach der Erkenntnis richten". 275 Kant beginnt seine Stellungnahme zu Eberhards Beweis des Satzes vom Grund mit der Beobachtung, daß Eberhard den Grundsätzen erst formalen, 276 dann aber materia272 273 274 275
S. 162; ÜE 196. S. 160 unter Verweis auf S. 14. S. 161: "[H]aben die Grundgesetze der menschlichen Erkennmiß transszendentale Gültigkeit?" S. 161. Während - vereinfacht gesagt - Kant die subjektive Form auf die Phänomene (Gegenstände als Erscheinungen) überträgt, überträgt Eberhard die subjektive Form auf die Dinge an sich. Insofern Eberhard als Ontologe argumentiert, paßt das Bild der Übertragung gar nicht recht. Es geht vielmehr um die bewußtseinsmäßige Entfaltung einer ursprünglichen Übereinkunft oder Identität der Form des Denkens und der Form des Seienden, ohne welche das Denken selbstwidersprüchlich wäre. 276 Die Stellen finden sich dazu S. 14, S. 160 und sogar noch einmal nach Abschluß des Beweises S. 167.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
len Charakter zuschreibt. Wenn nämlich Eberhard S. 160 fragt, ob der Satz vom zureichenden Grund transzendentale Gültigkeit habe, d. h. ein "transzendentales Prinzip" (ÜE 193) sei, so könne er damit kein logisches oder formales, sondern müsse ein "materielle[s] Prinzip der Erkenntnis" (ebd.) meinen.277 Ein transzendentales Prinzip muß nämlich, wie wir oben gezeigt haben, "über die Objekte und ihre Möglichkeit etwas a priori bestimmen", während logische Prinzipien "von allem, was die Möglichkeit des Objekts betrifft, gänzlich abstrahieren" (ÜE 194). Genau mit dieser Ambiguität arbeitet nach Kant Eberhard bewußt bei seinem ganzen Beweis.278 Sie erklärt sich fiir ihn systematisch dadurch, daß Eberhard nicht zwischen formaler und transzendentaler Logik unterscheidet.27' Von seiner Warte aus muß sich jedoch Eberhard bei diesem Verfahren ontologisch rückversichert fühlen. Durch den Beweis der transzendentalen Gültigkeit der Sätze vom Grund und vom Widerspruch glaubt sich Eberhard nicht nur Kant und der bisherigen Metaphysik überlegen, er will damit auch die Methodenstrenge der Mathematik überbieten, da diese darauf verzichte, ihre Axiome zu beweisen (S. 162). Darauf antwortet Kant, daß die Mathematik - im Gegensatz zu Eberhards Ansicht - sämtliche Sätze beweist und beweisen muß, sofern sie "mathematisch erweislich" (ÜE 196) sind. Im Falle der von Eberhard angesprochenen Euklidischen Axiome handelt es sich aber nur um analytische (KrV B 16) Sätze, z. B. "Das Ganze ist größer als sein Teil". Da ursprünglich mathematische Sätze nur synthetisch als Konstruktionen in der reinen Anschauung gebildet werden können, sind die Axiome eines mathematischen Beweises gar nicht fähig. Das bedeutet allerdings nicht, daß sie in der Mathematik unbewiesen und auf gut Glück (nach einer "licentia geometrica")280 verwendet werden, denn sie sind außerhalb der Mathematik "philosophisch", d. h. "aus Begriffen" (ÜE 196) bewiesen worden und können mathematisch adäquat in der reinen Anschauung dargestellt werden (KrV B 17). Schon vorher ist, wie Kant in "ÜE" darlegt, Eberhard der Einsatz eines zweiten mathematischen Beispiels mißlungen. Daß das Verfahren, etwas - Eberhard geht es dabei um die die Sätze vom Grund und vom Widerspruch - ohne vorherigen Beweis als wahr vorauszusetzen, legitim sei, hat Eberhard am Beispiel der Mathematik, insbe277 Kant zitiert aus Eberhards Frage von S. 160, "ob nach Herrn Kants Sprache diese Gesetze [die Sätze des Grundes und des Widerspruchs] eine transscendentale Gültigkeit haben" in ÜE 193 gesperrt und leicht verändert ("auch" wird eingefügt, und das Verb wird in den Singular gesetzt, da sich Kant nur auf den Satz vom zureichenden Grund bezieht) die Worte "ob er auch transscendentale G<igkeit habe". Erldarend fugt er hinzu: "[ob er] überhaupt ein transscendentales Princip sei". Eberhard hatte sich eines kantianisierenden Ausdrucks bedient, den Kant jetzt durch die Erklärung gleichsam wieder ins Original zurückübersetzt. 278 ÜE 194. Wie wir sehen werden, verwendet Eberhard die pauschale Formel "Alles hat einen Grund" (ÜE 194). Kant hingegen unterscheidet den logischen Satz "Ein jeder Satz muß einen Grund hoben" (ÜE 193) vom materialen oder transzendentalen "Ein jedes Ding muß seinen Grund haben (ÜE 193/ 194). 279 ÜE 214, Z. 6-10. 280 ÜE 196.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
141
sondere der Entwicklung der Theorie der Kegelschnitte, plausibel machen wollen. 2 8 1 S. 1 5 8 unterstellt er den Mathematikern, sie hätten die Zeichnung ganzer Wissenschaften vollendet, ohne von der Realität des Gegenstandes derselben mit einem Worte Erwähnung zu thun. Analog könne man in der Metaphysik reine Vernunftgegenstände - etwa M o n a d e n - annehmen u n d m i t solchen Begriffen arbeiten (und etwa ihre Eigenschaften beweisen), ohne zunächst deren eigene Wirklichkeit bewiesen zu haben. 2 8 2 Kant zeigt, daß Eberhard das Verfahren der "Geometer" ( Ü E 191) fälsch verstanden hat. In der Textstelle, auf die sich Eberhard beruft, 2 8 3 geht es nicht u m die Entdekkung
einer
geometrischen
Wahrheit,
sondern
um
die
empirisch-mechanische
Konstruktion einer solchen (konkret v o n Kegelschnitten). Bei der Entwicklung einer mathematischen Theorie handelt es sich zwar, wie bereits wiederholt betont, nach Kant 2 8 4 auch u m eine Konstruktion "durch die bloße Einbildungskraft einem Begriffe a priori gemäß" ( Ü E 1 9 2 A n m . ) , diese vollzieht sich aber a priori in der reinen Anschauung u n d ist somit allein i m eigentlichen Sinn "Konstruktion". 2 8 5 Sie - Kant nennt sie auch "schematische" (ebd.) - ist und bleibt "rein", selbst w e n n der Mathematiker sich hilfsweise zur sinnlichen Veranschaulichung der davon sachlich unabhängig vollzogenen Konstruktion a priori materieller Mittel bedient, etwa mit einem Stock ziemlich schiefe Figuren in den Sand malt. V o n der reinen Konstruktion ist nicht nur diese psychologische Verbildlichung d e m Wesen nach streng zu trennen, sondern auch die Perfektionierung der äußeren Darstellung, d. h. die "technische" Konstruktion, die Kant wiederum in die "geometrische durch Zirkel und Lineal" u n d
281 S. 158-159. 282 S. 159. Eberhards Worte "Man lasse den Beweis von der Wirklichkeit [...] vor der Hand noch ausgesetzt sein" (S. 159) deuten darauf hin, er sei zu diesem Zeitpunkt schon möglich. Später auf derselben Seite drückt sich Eberhard so aus, als sei er gar nicht möglich gewesen und könne vielleicht nie geführt werden: "[W]er weiß, ob wir nicht endlich noch die Oberzeugung von der Wirklichkeit ihrer Subjecte [d. h. der metaphysischen Theoreme, etwa der Monaden] auf dem letzten Blatte [des Buchs der Vernunft] finden?" 283 S. 159 zitiert Eberhard (wie z. T. in ÜE 192 übernommen) in einer Anmerkung eine Stelle aus sectio XXII der "Admonitio" eines Herausgebers der "Conica" des Apollonios von Perge. Als den Herausgeber und Verfasser der "Admonitio" nennt Eberhard fälschlich Johann Alphons Borelli. Der Text stammt, wie sich Eberhard später berichtigt, vielmehr von Claudius Richardus als Herausgeber der ersten vier Bücher der "Conica" (1655), während Borelli 1661 die restlichen Bücher V bis VII der "Conica" herausgab. - Nach Kant hätte schon eine genaue Lektüre der Textstelle das Mißverständnis von mathematischem Beweis und technischer Konstruktion, das hier seitens Eberhards im Spiel ist, vermeiden können (ÜE 192). 284 Vgl. KrV B 741-742; ÜE 191/192 und ebd. Anmerkung. 285 ÜE 192 Anmerkung. In seinem Brief an Reinhold vom 19.5.1789 führt Kant dazu aus: "Eben darinn ist die Mathematik das große Muster für allen synthetischen VemunftGebrauch, daß sie es an Anschauungen nie fehlen läßt, an welchen sie ihren Begriffen obiective Realität giebt, welcher Foderung [sie!] wir im philosophischen und zwar theoretischen Erkenntnis nicht immer Gnüge thun können, aber alsdenn uns auch bescheiden müssen, daß unsere Begriffe auf den Rang von Erkenntnissen (der Obiecte) keinen Anspruch machen können, sondern, als Ideen, blos regulative Principien des Gebrauchs der Vernunft in Ansehung der Gegenstände, die in der Anschauung gegeben, aber nie, ihren Bedingungen nach, vollständig erkannt werden können, enthalten weiden." (AK XI, S. 43).
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
die "mechanische, wozu andere Werkzeuge nötig sind" (ebd.) unterscheidet. Zur Mathematik als Wissenschaft gehört nur die schematische Konstruktion, die technische (oder "empirische", da nur durch Instrumente ausübbare) betrifft lediglich "den Künstler" (ÜE 191). Der Allgemeinheits- und Notwendigkeitscharakter der mathematischen Urteile ist damit nicht durch begriffliche Relationalität bedingt, sondern durch die Apriorität der Anschauung. Durch schematische Konstruktion bekommen mathematische Urteile korrespondierende Anschauung und damit objektive Geltung (ÜE 191). Dabei ist bei geometrischen Objekten die Konstruktion in deren Definition festgeschrieben.286 Im Blick auf Eberhard bedeutet das, daß die Mathematik nicht bloß mit Begriffen ohne Rücksicht auf die Realität ihres Gegenstandes arbeiten und deshalb nicht auf den sofortigen Beweis aller ihrer Schritte verzichten kann. Eberhard verwechselt entweder den mathematischen Beweis mit der empirischen Konstruktion oder müßte behaupten, mathematische Theoreme könnten durch die technische Konstruktion bewiesen werden (ÜE 192).
Beweis des Satzes vom Grund Von S. 163 bis S. 167 beschäftigt sich Eberhard mit dem, was man wegen seiner Bedeutsamkeit für sein dogmatisches System "Eberhards transzendentale Deduktion" 287 in Anlehnung an Kants "transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe", dem Kernstück der " K r V , nennen könnte, nämlich dem Beweis des Satzes vom zureichenden Grund, von dem betont wird, er gälte "in allen physischen und moralischen Wissenschaften" (S. 162/163). Eberhard geht so vor, daß er zunächst die "allgemeine Wahrheit [= "transzendentale Gültigkeit"] des Satzes des zureichenden Grundes" dadurch zu beweisen sucht, daß er ihn auf den "Satz des Widerspruchs" zurückfuhrt (S. 163), dessen "transzendentale Gültigkeit" (S. 161) er im Anschluß daran demonstriert. Der Satz vom Grund könne nur "a priori" und nicht "durch Induktion" (S. 163) bewiesen werden. Erfahrung reiche dazu nicht hin, denn wegen ihrer Unzuverlässigkeit und Vorläufigkeit 286 Kant an Reinhold, 19.5.1789: "Hätte er [Eberhard] aber nur den mindesten Begrif von der Sache von der Borelli spricht, so würde er finden: daß die Definition die Apollonius z. B. von der Parabel giebt schon selbst die Darstellung eines Begrifs in der Anschauung [...] war und daß die obiective Realität des Begrifs, so hier, wie allerwerts in der Geometrie, die Definition zugleich construction des Begriffes sey." (AK XI, S. 42/43). Der entscheidende Satz aus dem Text über die "Cornea", auf den sich Eberhard bezog, lautet nach Kants Zitat (mit Hervorhebung von "definitum") in ÜE 192: "Subjectum enim definitum assumi potest, ut affectiones variae de eo demonstrentur, licet praemissa non sit ars subjectum ipsum efformandum delineandi." 287 Kant selbst legt diese lediglich analogische Benennung nahe, da er es als das strategische Ziel von Eberhards Beweis des Satzes vom Grund ansah, "die Kategorie der Kausalität und muthmaßlich mit ihr auch die Übrigen von Dingen überhaupt geltend zu machen, ohne seine Gültigkeit und Gebrauch zum Erkenntniß der Dinge auf Gegenstände der Erfahrung einzuschränken" (ÜE 198). Der Begriff "Deduktion" bekommt dann freilich eine völlig andere Bedeutung als bei Kant.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
143
sprächen genauso viele Erfahrungstatsachen für wie gegen ihn. Da Eberhard keine Anschauung a priori zuläßt, ist ein Beweis a priori - ganz im Gegensatz zu Kants Beweis der "Analogien der Erfahrung" 288 - nur durch Herleitung aus einem noch höheren Grundsatz möglich. So greift er auf das Nichtwiderspruchsprinzip als dem höchsten "Axiom" (S. 163) zurück und stört sich nicht daran, daß die objektive Realität des Begriffs oder Satzes vom Grund durch den logisch-analytischen Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch dargelegt werden soll. Die einzelnen Schritte des Gesamtbeweises oder der beiden Teilbeweise sind nicht immer deudich auszumachen. In "ÜE" prüft Kant Eberhards "Beweis der objektiven Realität des Begriffs vom zureichenden Grunde" (ÜE 193) und identifiziert als Eberhards "Demonstration" (ÜE 196) nur den ersten Abschnitt des ersten Teilbeweises (S. 163/164). Nach Eberhard kann aber der Satz vom Grund erst dann als vollständig bewiesen gelten, wenn auch der Satz vom Widerspruch, auf den er im ersten Teilbeweis zurückgeführt wird, bewiesen ist. Diesen zweiten Teilbeweis beachtet Kant nicht, "da [.] niemand die transzendentale Gültigkeit des Satzes des Widerspruchs [beistreitet" (ÜE 193). In Kants Zitat lautet besagter Abschnitt so: Alles hat entweder einen Grund, oder nicht alles hat einen Grund. Im letztern Falle könnte also etwas möglich und denkbar sein, dessen Grund nichts wäre. - Wenn aber von zwei entgegengesetzten Dingen Eines ohne zureichenden Grund sein könnte: so könnte auch das Andere von den beiden Entgegengesetzten ohne zureichenden Grund sein. Wenn z. B. eine Portion Luft sich gegen Osten bewegen und also der Wind gegen Osten wehen könnte, ohne daß im Osten die Luft wärmer und verdünnter wäre, so würde diese/ Portion Luft sich eben so gut gegen Westen bewegen können, als gegen Osten; dieselbe Luft würde sich also zugleich nach zwei entgegengesetzten Richtungen bewegen können, nach Osten und Westen zu, und also gegen Osten und nicht gegen Osten, d. i. es könnte etwas zugleich sein und nicht sein, welches widersprechend und unmöglich ist.289 Dem folgt - vor Kants Kritik an Eberhards Beweis sei das noch behandelt - S. 164/ 165 unmittelbar ein Absatz, der zur Thematik des Satzes vom Grund gehört, funktional aber nicht klar ist. Handelt es sich um eine Erläuterung dessen, was der Satz vom Grund bedeutet? Um einen dritten Beweis290 des Satzes vom Grund? U m eine Überleitung zur Erörterung des Satzes vom Widerspruch?
288 K r V B 218-265. 289 ÜE 196. Kant zitiert den Absatz S. 163/164. Dabei verändert er Wortlaut und Zeichensetzung unwesentlich (im zweiten Satz "letzteren" statt "letzten"; im vierten setzt Kant nach "wäre" ein Komma statt eines Doppelpunktes und "diese" statt "dieselbe"). Bedeutsam ist jedoch, daß er (wie im Haupttext ersichtlich) einen Gedankenstrich und Sperrdruck hinzufügt, worauf wir unten zurückkommen werden. Offenbar als Kurzformel für den Beweis findet sich bei Eberhard S. 165 der Satz: "Wenn der Satz des zureichenden Grundes nicht allgemeine Wahrheit hätte; so könnte Ein Subject zugleich zwey widersprechende Prädicate haben." 290 Wie unten erläutert werden wird, erkennt Kant in Eberhards Beweis des Satzes vom Grund zwei verschiedene Beweise.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
Zuerst wird in diesem Abschnitt gesagt, der Satz vom Grund leiste eine "notwendige" oder "zufällige" "Bestimmung des [Satz-]Subjekts" (S. 164). Er begründet danach die Setzung des Prädikats im Verhältnis zum Subjekt im Satz. Ein Satz ist wahr, wenn sich ein Grund fiir die Zuschreibung eines Prädikats zum Subjekt angeben läßt. Ohne erneute Nachforschung nach dem Grund muß dann ein diesem Satz widersprechender zweiter Satz fälsch sein. Die Bestimmung des Subjekts hat den Charakter des Notwendigen, wenn der Begriff des Prädikats bereits als im Begriff des Subjekts enthalten erkannt wird, den des Zufälligen, wenn das Prädikat faktisch durch etwas außerhalb des Subjekts bestimmt wird. Zweitens weist Eberhard darauf hin, daß man sich jede Bestimmung gemäß dem Satz vom Grund vorstellen müsse, und "vorstellen" bedeute immer "etwas vorstellen". Das ist im ontologischen Sinn gemeint. «Eine Vorstellung hat einen Grund» und «Eine Vorstellung ist Vorstellung von einem realen Etwas» sind danach identische Sätze. So kann das Nichts nicht vorgestellt werden (S. 164). Der Absatz endet schließlich mit den Worten: Wenn also von irgend einem Subjecte zwey widersprechende Prädicate möglich sind: so muß Etwas seyn, warum ihm das Eine und nicht das Andere zukömmt. 291
Beweist hier Eberhard - petitione principii - den Satz vom Grund aus dem Grund heraus, daß er zur Konstitution eins Erkenntnisurteils unverzichtbar ist? Dann wäre damit behauptet, der Satz vom Widerspruch reiche - gemäß dem Satz vom Grund dazu nicht hin, obwohl andererseits Eberhards ausfuhrlicher Beweis ja auf die Demonstration des Satzes vom Grund durch seine Rückführung auf den Satz vom Widerspruch hinausläuft. Beide Sätze erscheinen wenigstens jetzt für einen Augenblick gleichgeordnet. Oder wird mit dieser Formulierung der Satz vom Grund gar über den Satz vom Widerspruch gestellt? Der Satz vom Widerspruch bildet nur die notwendige Bedingung fiir Erkenntnis, die hinreichende - und damit wichtigere kann erst (nach dem Satz vom Grund) durch den Satz vom Grund erfüllt werden. Im Fall der "zwei Sätze, die einander widersprechen" (S. 164), bzw. des Subjekts mit den "zwei [sich] widersprechende[n] Prädikate[n]" (S. 165), wird der Satz vom Grund entgegen Eberhards Ansicht 2 ' 2 jedoch gar nicht in ein Ableitungsverhältnis aus 291 S. 165. Damit wird eine Formulierung vom Anfang des Absatzes variiert: "Zwey Sätze, die einander widersprechen, kann ich nicht zugleich fiir wahr halten: welchen von beyden werde ich aber nun für wahr halten können? - Denjenigen, dessen Prädicat bereits als eine Bestimmung in dem Begriffe des Subjects enthalten ist, oder durch etwas außer demselben bestimmt wird" (S. 164). 292 Eberhard sagt S. 165 von der oben zitierten Formulierung: "Dieser Beweis ist also auf den Satz des Widerspruches zurückgeführt." Damit der Beweis des Satzes vom Grund durch Rückführung auf den Satz vom Widerspruch sichtbar wird, benötigt Eberhard das Adverb "zugleich": Zwei einander widersprechende Sätze maßte man ohne den Satz vom Grund zugleich fiir wahr halten oder entsprechend zwei einander widersprechende Prädikate zugleich dem Subjekt zuschreiben, dann entstünde, so Eberhard, unmittelbar ein Widerspruch. Tatsächlich tritt das jedoch nicht ein, bliebe allein der Satz vom Grund und nicht zusätzlich noch der Satz vom Widerspruch unberücksichtigt. Man würde nur über zwei gleich gute Alternativen verfugen. Es ergäbe sich also allenfalls eine Unentscheidbarkeit, aber kein Widerspruch.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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dem Satz vom Widerspruch gebracht, denn jeder der (gebildeten, bzw. zu bilden möglichen) Sätze ist in sich widerspruchsfrei. Die Sätze «Viren sind Lebewesen (organische Gebilde)» und «Viren sind Kristalle (anorganische Gebilde)» sind in sich widerspruchsfrei, selbst wenn das Prädikat des einen Satzes dem des anderen widerspricht. Nach dem Satz vom Widerspruch sind beide Sätze gleich gut bestimmt. Formal ist also - alternativ - die eine Möglichkeit genauso gut wie die andere. Es bedarf nun eines materialen Entscheidungsprinzips, um - nach einem realen Grund - den einen der beiden formal gleichberechtigten Sätze zur Wahrheit zu bestimmen. Der Satz vom Grund darf also nicht formalen Charakter haben, den er nur besitzen könnte, wäre er auf den Satz vom Widerspruch rückfiihrbar. Nur durch die Angabe eines Realgrundes kann aus einer logisch möglichen Aussage eine Behauptung mit Anspruch auf objektive Geltung werden. Doch - wie unser hier zur Eberhard-Kritik vorgetragenes Beispiel zeigt - kann auch der (real verstandene) Satz vom Grund zur Bestimmung der Wahrheit eines Satzes nicht ausreichen. Gleich gute materiale Gründe lassen sich dafür finden, Viren als organische wie als anorganische Wesen zu qualifizieren. Das zeigt, daß der Satz vom Grund keinen absoluten Sachbezug (zur Bestimmung der Dinge an sich) fiir sich in Anspruch nehmen, sondern nur auf relative Erfahrungstatbestände angewandt werden kann. Eberhard steht in der Leibnizianischen Tradition, wonach jeder Satz analytisch ist. Streng genommen, könnte er dann gar nicht sagen, zwei Sätze, deren Prädikate einander widersprächen, seien ftir sich logisch möglich und verlangten deshalb nach einem hinzutretenden Grund zur Entscheidung, welcher Satz nun wahr sei. Dies gälte nur, wenn der Grund prinzipiell nicht vom Prädikat eingeschlossen sein kann, also nur in allen nicht-analytischen Sätzen. Einer der beiden fiir sich möglichen Sätze muß damit nach Leibniz falsch sein. Eberhard ist auch insofern inkonsequent, als er nichtnotwendige Gründe zur Bestimmung des Prädikats annimmt, also Gründe, die logisch verschieden vom Subjekt sind (vgl. S. 164). Nach Leibniz hätte Eberhard allenfalls zwischen Sätzen, bzw. Gründen unterscheiden dürfen, die vollständig analytisch auflösbar sind (was in vollem Umfang nur dem göttlichen Verstand zu leisten möglich ist) und Sätzen, wo sich ein endlicher Verstand mit der Feststellung (und allenfalls beschränkter Analyse) von Gründen begnügen muß. Kant bringt an dem von ihm vollständig zitierten ersten Teilbeweis Eberhards einige Markierungen an: Hinter den zweiten Satz fugt er einen Gedankenstrich ein, denn er meint, hier beginne eine von der ersten unabhängige zweite Beweisführung (ÜE 197). Ferner sperrt er die von Eberhard abwechselnd verwendeten Adverbien "eben so gut" und "zugleich". Gegen Eberhards Beweis erhebt Kant vier Einwände. Dabei handelt es sich um den Nachweis von drei formalen Beweisfehlern (eine zweideutige Formulierung, fehlende Einheit lind ein Schlußfehler) und um die Aufdekkung eines inhaltlichen Fehlers. Im Blick auf den ersten Kritikpunkt Kants interessiert die Frage, wovon Eberhards Satz, alles habe einen Grund, spricht. Wie Kant bemerkt, wird damit "der zu bewei-
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4. D i e Kontroverse im engeren Sinn
sende Satz zweideutig" (ÜE 196), d. h., es liegt eine Amphibolie vor: Er kann als "logischer" ("formaler") oder "transzendentaler" ("materialer") Grundsatz interpretiert werden (ÜE 193-194). "Alles" bedeutet dann "ein jedes Urteil' oder "ein jedes Ding" (ÜE 197). Da nach Kant logische von realen Sachverhalten streng zu scheiden sind, darf Eberhards Satz nur entweder das eine oder das andere bedeuten. Von seinem ontologischen Denken her glaubt Eberhard aber wohl, das Oder im einschließenden Sinn eines Sowohl-als-Auch verstehen zu können293 und achtet dabei nicht auf die beweistheoretischen Probleme, die er sich damit schafft. Im ersten Fall, den eindeutig Eberhard «Ein jeder Satz hat seinen Grund» (ÜE 197) formulieren müßte, wird eine allgemeine Wahrheit und nach Kant tatsächlich eine direkte Folgerung "aus dem Satze des Widerspruchs" (ebd.) behauptet. Das soll kurz untersucht werden: Wäre es widersprüchlich, zu behaupten «Ich bilde einen Satz, ohne daß dies auf einem Grund beruhte»? Wird "Satz" als (mögliche grammatisch korrekte) "Aussage" verstanden, so bedarf er eines hinreichenden Grundes wenigstens insofern, als er ohne Beachtung der Satzregeln (die allerdings sehr offen sind, kann doch etwa auch ein einzeln ausgerufenes Wort - "Platte!" - als Satz gelten) nicht gebildet werden kann. Die Verneinung des Satzes «Ein jeder Satz hat seinen Grund» verstieße dann deshalb gegen den Satz vom Widerspruch, weil damit implizit gesagt würde «Es ist möglich, einen Satz zu bilden, ohne einen Satz zu formen». Wird "Satz" als (behauptendes) "Urteil" verstanden, also im Sinne von «Ich urteile, ohne mich dazu auf einen Grund zu stützen», ergäbe sich nicht zwangsläufig ein Widerspruch auf grammatischer, wohl aber einer auf urteilstheoretischer Ebene, denn eine Aussage kann nur dann zu einem Urteil werden, wenn es einen mehr als nur grammatikalischen Grund fiir die Zuschreibung eines Prädikats zum Subjekt gibt. Es bedarf dazu eines Erkenntnisgrundes, der wiederum entweder rein logisch sein kann (wie im Fall der analytischen Urteile)294 oder aber synthetisch sein muß (wie im Fall der synthetischen Urteile).295 Daß ein jedes Urteil seinen Erkenntnisgrund hat, ist ein analytischer Satz; der Erkenntnisgrund selbst aber kann synthetisch sein. Synthetisch ist er immer dann, wenn es um die Erkenntnis einer realen Sache geht.296 Im zweiten Fall - «Ein jedes Ding hat seinen Grund» - nimmt Eberhards Satz auf etwas Reales Bezug. Ihm kommt dann nach Kant synthetischer Charakter zu, und er kann somit nicht mehr auf den analytischen Satz vom Widerspruch zurückgeführt 293 Vgl. AK XX, S. 368 (aus Kants "Vorarbeiten"). 294 In diesem Fall hat der Satz, wie Kant in ÜE 198 bemerkt, den logischen Grund seiner Wahrheit in sich: Das Prädikat ist im Subjekt enthalten. 295 Kant geht nicht auf die grammatische Bedingung ein. Er identifiziert "Satz" mit "Behauptung", "Assertion" (ÜE 193/194 Anmerkung). Dann aber ist die von Kant stellenweise vorgenommene Gleichsetzung von logischem Grund und Erkenntnisgrund (AK XX, S. 360; AK XI, S. 35) unhaltbar, denn nicht alle Erkenntnisgrttnde sind im engeren Sinn logisch (formallogischen Charakters). Nach Kants Bestimmung von "transzendental" - vgl. oben unter (b) - ist der Realgrund als vom synthetischen Erkenntnisgrund abhängig zu denken. Schon deshalb darf der synthetische Charakter des hier relevanten Erkenntnisgrundes nicht durch eine unvorsichtige Terminologie gefährdet werden. 296 AK XI, S. 37, Z. 11-12, und S. 44.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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werden. Diese Formel drückt nach Kant den Kausalitätsgrundsatz aus, den er in der "KrV" die "zweite Analogie der Erfährung" nannte. Sie lautet:"Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetze der Kausalität: Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung" (KrV B 232). In der ersten Ausgabe der "KrV" verwendete Kant dafür die Formel: "Grundsatz der Erzeugung: Alles, was geschieht (anhebt zu sein) setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt"/ 297 D i e "Beweisart" (ÜE 197) des Kausalitätsgrundsatzes298 stellt darauf ab, daß Anschauungen a priori (die dann a posteriori instanziiert werden können) nach einer bestimmten begrifflichen Regel - im Falle der Kausalität der strengen Folge einer Nacheinanderreihung - geordnet werden können. 2 9 9 Ihre Gemeinsamkeit mit der Eberhards beschränkt sich dabei auf den A-priori-Charakter. Da die objektive Gültigkeit der (zunächst) bloßen Begriffe von Ursache und Wirkung nur durch Rückgriff auf ein "Drittes" 300 (KrV B 263), die Anschauung a priori als "Möglichkeit der Erfahrung" (KrV B 264), wodurch beide Begriffe überhaupt erst nach Notwendigkeit verbunden werden können, bewiesen werden kann, gilt dieser Satz nur für Phänomene, d. h. Gegenstände als Erscheinungen, nicht aber, was Eberhard zu demonstrieren beansprucht, für Dinge überhaupt ohne Legitimitätsbegrenzung. 301
297 KrV A 189. Den Doppelpunkt haben wir in beiden Fällen eingefügt (ebenso im folgenden). Alle drei Analogien der Erfahrung genügen dem Satz "Erfahrung ist nur durch die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung der Wahrnehmungen möglich" (KrV B 218; vgl. dazu B 262). Die erste Analogie lautet "Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz: Bei allem Wechsel der Erscheinungen beharrt die Substanz, und das Quantum derselben wird in der Natur weder vermehrt noch verminderf (KrV B 224) und schließlich die dritte "Grundsatz des Zugleichseins, nach dem Gesetze der Wechselwirkung, oder Gemeinschaft: Alle Substanzen, sofern sie im Räume als zugleich wahrgenommen werden können, sind in durchgängiger Wechselwirkung' (KrV B 256). 298 Kant nennt ihn in der "KrV", B 247, "Satz der Kausalverknüpfung unter den Erscheinungen" und "Grundsatz des Kausalverhältnisses in der Folge der Erscheinungen". Da der Grundsatz nicht bloß intellektuell ist, darf er nach Kants Terminologie nicht im eigendichen Sinn "Prinzip" heißen. 299 Zur Beweisart äußert sich Kant explizit in B 246 (im Kontext der zweiten Analogie) und B 263-264 (im Rahmen von Bemerkungen zu allen drei Analogien) der "KrV", später noch einmal in der "Methodenlehre" bei der Behandlung der Beweisdisziplin (KrV B 811). Es ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, genau die Beweisführung zu rekonstruieren. Sie beginnt nicht erst im Grundsatzkapitel, sondern bereits mit der "transzendentalen Deduktion der reinen VerstandesbegrifFe". Innerhalb des für die Kausalität relevanten Grundsatzkapitels - es handelt sich um die "zweite Analogie der Erfahrung" (KrV B 232-256) - finden sich auch mehrere Beweisführungen. In der zweiten Ausgabe der "KrV" scheint Kant den eigendichen Beweis in neuer Form dem Kapitel vorangestellt (KrV B 233-234) und damit die Ausfuhrungen der ersten Ausgabe zu einer bloßen Erläuterung herabgestuft zu haben (KrV A 189-210). Innerhalb dieser "Erläuterung" findet sich aber noch einmal ein Beweis des Satzes vom Grund als Kausalgrundsatz (KrV B 246-247 = A 200-202). 300 Die "synthetische Einheit der Apperzeption" ist die "wesentliche Form" des "Dritten" (KrV B 264). Reine Anschauung (hier als Materie a priori verstanden) und transzendentales Ich (als Einheit begrifflicher Synthesis) saften zusammen die Einheit der Erfährung. 301 ÜE 213 Anmerkung. Den nicht bloß dogmatisch-begrifflichen Charakter des Kantischen Kausalgrundsatzes zeigt noch einmal deutlich der Schlußsatz der Darlegungen zur zweiten Analogie (KrV B 256): "So ist demnach, eben so wie die Zeit die sinnliche Bedingung a priori von der Möglichkeit eines continuirlichen Fortganges des Existirenden zu dem folgenden enthält, der Verstand vermittelst der Einheit der Apperception die Bedingung a priori der Möglichkeit einer continuirlichen Bestimmung aller Stellen für die Erscheinungen in dieser Zeit durch die Reihe von Ursachen und Wirkungen, deren
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
Im Überblick kann man die von Kant unterschiedenen Bedeutungen des Satzes vom Grund wie folgt darstellen: Dem Erkenntnisgrund steht zunächst ein Realgrund gegenüber. Der Realgrund teilt sich in einen intuitiven der Objekte der reinen Anschauung (er geht auf Konstruktionen von Begriffen) und einen materialen der Objekte der Erfahrung aufgrund einer Verknüpfung der Wahrnehmungen nach einer Regel {Kausalgrundsatz als nur eine von drei Analogien der Erfährung). Der Erkenntnisgrund teilt sich in einen logischen und einen synthetischen. Der logische umfaßt die formale Logik (formallogischer Satz vom Grund) und das bloße Denken, also die intellektuelle Bedingung der Erkenntnis, die isoliert für sich zu ihrem Probierstein nur die formale Logik hat. Der synthetische Erkenntnisgrund ist implizit schon im Realgrund enthalten, da dieser von jenem abhängig ist: Eine Konstruktion ist nur möglich als Darstellung eines intellektuellen Begriffs in der reinen Anschauung, eine Kausalbestimmung nur durch die Ordnung von in Wahrnehmungen empirisch Gegebenem nach raum-zeitlichen und intellektuellen Bedingungen. Die Ubersicht stützt sich auf zwei Kantische Skizzen. Die erste stammt aus dem Brief an Reinhold vom 12. Mai 1789.302 Hier unterscheidet Kant den logischen Grund vom realen und unterteilt letzteren in den formalen Grund der reinen Anschauung der Objekte (dabei nennt er das Beispiel des Verhältnisses von Winkel und Seiten des Dreiecks) und den materialen Grund der Existenz der Dinge. Als "Volte" der "Taschenspieler der Metaphysik"303 bezeichnet er den Übergang vom logischen Grundsatz zum materialen Kausalsatz. Die zweite Version findet sich in den "Vorarbeiten".304 Hier wird die mathematische Konstruktion nicht dem Realgrund, sondern dem logischen zugeordnet, der generell mit "Erkenntnisgrund"305 gleichgesetzt wird (während er in obigem Fall offensichtlich nur das formallogische Prinzip bezeichnet). Der logische Grund ist entweder der "diskursive" der "Identität" von Begriffen oder der "intuitive" der "Konstruktion" von Begriffen. In beiden Fällen gehören Grund und Folge zu einer Gesamtvorstellung und sind deshalb nicht voneinander zu trennen: Die Winkelsumme von 180° kann als Grund fiir die (reine) Konstruktion eines Dreiecks betrachtet werden, oder umgekehrt kann die Figur dreier sich in der Ebene schneidender Linien der Grund fiir die Winkelsumme von 180° sein. Eine (freilich nicht bloß mechanische!) Umkehrbarkeit von Grund und Folge (im weitesten Sinne verstanden) gilt auch fiir logische Relationen. Nur bei Gegenständen der Erfährung - die dann im
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die erstere der letzteren ihr Dasein unausbleiblich nach sich ziehen und dadurch die empirische Erkenntniß der Zeitverhältnisse fiir jede Zeit (allgemein), mithin objectiv gültig machen." AK XI, S. 35-36. AK XI, S. 36. AKXX, S. 360/361. AK XX S. 371.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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vollen Sinn des Wortes erst "reale" Objekte sind - sind Grund und Folge (als Ursache und Wirkung) getrennt und unumkehrbar. 306 Anhand des Leitfadens der Kategorientafel, für die Kant Vollständigkeit beansprucht (KrV B 89), vermag er gegen Eberhard und die Dogmatiker auf logischer wie realer Ebene den Vorwurf der Unvollständigkeit ihres Systems zu erheben. Auf der realen Ebene hat man nur das Kausalprinzip explizit behandelt, die beiden anderen nach ihm noch hinzutretenden Grundsätze, die "erste" und "dritte Analogie der Erfahrung" (KrV B 224 bzw. B 256) jedoch nicht thematisiert, wiewohl "stillschweigend" verwendet (KrV B 265). Erst durch alle drei Analogien wird in Gestalt allgemeiner und notwendiger Naturgesetze verläßlich geordnete Erfährung möglich, und zugleich werden dadurch die Gegenstände der Erfährung möglich. 307 Zur logischen Ebene finden sich Ergänzungshinweise im Brief an Reinhold vom 19. Mai. Danach gibt es nicht, wie Eberhard behauptet, zwei, sondern drei logische Erkenntnisprinzipien. Sie stellt Kant nach dem Relations- und Modalitätstitel seiner logischen Urteilstafel (KrV B 95) dar: 1) den Satz des Wiederspruchs, von categorischen 2) den Satz des (logischen) Grundes von hypothetischen 3) den Satz der Eintheilung (der Ausschließung des Mittleren zwischen zwey einander contradictorisch entgegengesetzten) als den Grundsatz disjunctiver Urtheile. Nach dem eisten Grundsatze müssen alle Urtheile erstlich, als problematisch (als bloße Urtheile) ihrer Möglichkeit nach, mit dem Satzes des Wiederspruchs, zweytens, als assertorisch (als Sätze), ihrer logischen Wirklichkeit d. i. Warheit nach, mit dem Satze des z[ureichenden] Grundes, drittens, als apodictische (als gewisse Erkenntnis) mit dem princfipium] exclusi medii inter duo contradic[toria] in Ubereinstimmung stehen; weil das apodictische Fürwahrhalten nut durch die Verneinung des Gegentheils, also durch die Eintheilung der Vorstellung eines Prädicats, in zwey contradictorisch entgegengesetzte und Ausschließung des einen derselben gedacht wird.308 Dazu finden sich parallele Stellen in Kants "Logik". 309 Dort nennt er - de jure vor der Frage, ob ein Urteil mit dem Objekt "zusammenstimme" - als das allgemeine und formale Kriterium der Wahrheit die beiden von Eberhard fävorisierten Sätze. Durch den Satz vom Widerspruch werde "logische Möglichkeit", durch den vom Grund "logische Wirklichkeit" eines Urteils bestimmt. 310 Architektonisch korrespondieren die logischen Prinzipien des Widerspruchs, des Grundes und des ausgeschlossenen Dritten mit den transzendentalen Grundsätzen der Beharrlichkeit der Substanz, der
306 ÜE 198, Z. 9-11; 231, Z. 1. 307 KrV B 263: "Zusammen sagen sie [die Analogien] also: alle Erscheinungen liegen in einer Natur, und müssen darin liegen, weil ohne diese Einheit a priori keine Einheit der Erfahrung, mithin auch keine Bestimmung der Gegenstände derselben möglich wäre." (Sperrung von Hartenstein.) 308 AK XI, S. 45. 309 Wir können uns im Rahmen der Arbeit nur auf die von Jäsche edierte "Logik", die in den neunten Band der Akademieausgabe von Kants Schriften eingegangen ist, beziehen: AK IX, S. 52/53. Hier nennt Kant das eiste Prinzip noch korrekter "Satz des Widerspruchs und der Identität" (IX, S. 52). 310 AK IX, S. 51. (Die Begriffe "logische Möglichkeit" und "logische Wirklichkeit" sind im Original gesperrt gedruckt.)
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
Kausalität und der Wechselwirkung sowie des empirisch Möglichen, Wirklichen und Notwendigen (KrV B 200). Mit dem materialen Satz «Ein jedes Ding hat seinen Grund» würde Eberhard, wie Kant als vierten Punkt einwendet (ÜE 198), etwas offenbar Falsches behaupten, denn dieser Satz gälte unbeschränkt und schlösse damit die Möglichkeit von etwas Unbedingtem aus. 311 Damit wäre gerade der Gottesbegriff - an dem Eberhard so viel liegt unmöglich gemacht, denn die zwar gewöhnlich fiir "Gott" verwendete Formel "causa sui" ist an sich widersprüchlich und kann deshalb nicht zum Beleg dafür dienen, daß auch der Gottesbegriff dem Satz vom Grund unterliegt. Die Widersprüchlichkeit liegt nach Kant darin, daß eine Ursache (d. h. ein Realgrund) nur als von der Wirkung getrennt gedacht werden kann. 312 Kants zweiter Einwand zeigt, daß Eberhard nicht einen homogen in sich geschlossenen Beweis entwickelt hat, sondern zwei verschiedene Beweisverfahren nacheinander vorführt. Bis zu dem Gedankenstrich reicht in obigem Zitat der fiir sich vollständige erste Beweis, nach Kant eine Wiederholung des "bekannte[n] Baumgartenschein] Beweisfes], auf den sich jetzt wohl niemand mehr berufen wird". 313 Danach ist der Satz, "daß etwas ohne Grund sei", "unmittelbar aus dem Satze des Widerspruchs gefolgert". 314 Der nach dem Gedankenstrich folgende zweite Beweis bedarf noch eines weiteren Schritts, um den Nachweis eines Widerspruchs "herauszu-
311 ÜE 198 und 213 Anm. 312 ÜE 198. Schon in der "Nova dilucidaoo", propositio VI, lehnte Kant die causa-sui-Formel als selbstwiderspriichlich ab (AK I, S. 394-395). Darin lag und liegt auch eine Kritik an Spinoza. (Schopenhauer fuhrt den Gedanken in §§ 8 und 20 seiner Arbeit "Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde" weiter.) Explizit gegen Spinoza ist im Zusammenhang mit Eberhards Gleichsetzung von Substanz und Kraft in "ÜE" die Anmerkung von Seite 224 gerichtet, auf die im späteren Kontext noch zurückzukommen sein wird. 313 ÜE 197. Kant bezieht sich dabei auf § 20 der "Metaphysica" von Alexander Gottlieb Baumgarten (Halle 11739, 71779). Vgl. dazu insbesondere §§ 29-42, 144-145 und 381 der Deutschen Metaphysik und §§ 4-6 (Vorbericht) der Deutschen Logik von Christian Wolff. In Eberhards "Abriß", § 16, finden sich nur modifiziert erneut die beiden als einheitlich dargebotenen Beweise aus dem "Phil. Mag.". Eberhard bemerkt im "Abriß", S. 12, Leibniz habe zwar keinen expliziten Beweis des Satzes vom Grund gefuhrt, ihn aber "augenscheinlich unmittelbar auf den Satz des Widerspruches gegründet". Er beruft sich dabei auf § 320 (aus dem dritten Teil) der "Theodizee". Die universelle Geltung eines homogenen Satzes vom Grund lehnt Kant (z. T. gestützt auf Crusius) bereits in der vorkritischen Schrift "Nova diluciatio" von 1755 ab: Er unterscheidet dort im zweiten Abschnitt einen fiir alles Wahre geltenden Erkenntnisgrund, der im strengen Sinn logisch ist, da damals Kant die Auflassung teilt, alle Urteile seien analytisch (propositio V; AK I, S. 393-394), und einen für alles kontingente Daseiende gültigen Realgrund (propositio VIII; AK I, S. 396-398). 314 ÜE 197, Z. 16 und Z. 4-5. Eberhard geht bei seinem ersten Beweis von einer vollständigen Disjunktion, der Behauptung einer Allaussage und ihrer Verneinung, aus: Entweder gilt «Alles hat einen Grund» oder «Nicht alles hat einen Grund». Der zweite Satz ist logisch äquivalent mit «Einiges hat keinen Grund» und «Einiges hat nichts zum Grund». Dann folgt der eigentliche Beweisschritt: Das zweite Glied der Disjunktion wird ausgeschlossen. Wenn «nicht alles einen Grund hat», also «einiges zum Grund nichts hat», dann wäre, so Eberhard S. 163, "etwas möglich und denkbar, dessen Grund nichts wäre". Dieser Satz würde sich widersprechen, womit die Annahme, aus der er folgt, das zweite Glied der Disjunktion, als fälsch und damit seine Verneinung, das eiste Glied, als wahr erwiesen wäre.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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künsteln", und zwar den Satz, "daß nämlich alsdann auch das Gegentheil dieses Dinges ohne Grund sein würde" (ÜE 197). Gemäß dem dritten Einwand (ÜE 197) kann Eberhard aus den Prämissen des zweiten Beweises nicht den Satz mit der adverbialen Bestimmung "zugleich" schließen. Damit aber ergibt sich der Widerspruch nicht, ohne den der Beweis sein Ziel verfehlen muß. Ein Entweder-Oder in der Prämisse biegt Eberhard in der Konklusion zum Sowohl-als-Auch, da sich nur unter dieser Bedingung Widersprüchlichkeit einstellt: Aus dem Satz, von zwei entgegengesetzten Dingen könne statt des einen mit ebenso guten Gründen das andere sein, folgt für Eberhard, etwas könne zugleich sein und nicht sein, bzw. beide gegensätzlichen Dinge könnten zugleich sein. Die ausschließende Disjunktion in der Prämisse kaschiert er durch den nach ihrem Gegenteil, der Konjunktion, klingenden Ausdruck "eben so gut", um die im Schlußsatz zur Erkünstelung des Widerspruchs benötigte logische Konjunktion durch das scheinbar synonyme Adverb "zugleich" bezeichnen zu können. Soll der Schluß formal gültig sein, müßten "eben so gut" und "zugleich" sinngleich sein. Da das sprachlogisch nicht der Fall ist (Kant verdeudicht den alternativen Charakter von "eben so gut", indem er zwei Worte einfügt: "statt dessen eben so gut"),315 versucht Eberhard, die Differenz durch rhetorische Suggestion zu überspielen. Kant verwirft also, so läßt sich als Ergebnis festhalten, nicht pauschal den Satz vom zureichenden Grund, sondern weist - ähnlich wie später Schopenhauer316 - daraufhin, daß unter dieser Formel Verschiedenes zu verstehen ist. Aus diesem Grunde ist ein gemeinsamer Beweis für alle Fälle unmöglich. Da Eberhard - nicht als einziger - das versucht, macht er sich einer groben "fallacia[.] ignorationis Elenchi"317 schuldig. Der logische Satz vom Grund kann rein analytisch-begrifflich durch Rückführung auf das ebenfalls nur analytisch-logische Nichtwiderspruchsprinzip bewiesen werden. In realer Bedeutung - Kant unterscheidet hier das Konstruktions- und Kausalitätsprinzip - kann der Satz vom Grund nur durch korrespondierende Anschauung bewiesen werden und ist damit nur für raum-zeitliche Wesen gültig, fiir mathematische Objekte bzw. für Erfahrungssachver halte. Max Wundt zeigt (neuerdings weisen Bemerkungen von N. Rescher in die gleiche Richtung),318 daß Kant den Satz vom Grund - besser wäre zu formulieren: andere Ausprägungen des Satzes vom Grund - über die von ihm ausdrücklich zugestandenen
315 ÜE 197. 316 Schopenhauer: Wurzel; passim, insbesondere § 52. Schopenhauer nennt das Konstruktionsprinzip "prindpium talionis sufficientis essendi" (a.a.O. § 35), das Kausalitätsprinzip "prindpium talionis sufficientis fiendi" (a.a.O. § 20). 317 AK XI, S. 44. Kant unterstellt Eberhard aber auch, die Verwechslung von logischem und realem Satz vom Grund bewußt - durch Verwendung der verdunkelnden Vokabel "alles" - vorgenommen zu haben, um dem logischen Beweis einen realen unterzuschieben (vgl. AK XI, S. 35-36, S. 45; AK XX, S. 355). 318 N. Rescher: Noumenal Causality. In: Beck (Hg.): Kant's Theory of Knowledge; S. 183 Anm.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
Fälle verwendet (wobei Wundt den mathematischen unbeachtet läßt):
Konstruktionsgrundsatz
Oberall, wo Bedingtes auf seine Bedingungen zurückgeführt und wieder aus seinen Bedingungen hergeleitet wird, Uberall mit einem Worte, wo ein Begründungszusammenhang hergestellt wird, handelt es sich um eine Verknüpfung nach dem Satze vom Grunde. 3 1 '
Damit meint Wundt nicht einfach das formallogische oder beweistheoretische Prinzip des Grundes und auch nicht das Kausalprinzip, sondern das transzendentale der Methode der Vernunftkritik selber. Für Wundt sind damit letztlich die verschiedenen Handlungen der bestimmenden und reflektierenden Urteilskraft - von der reflektierenden her sieht er überhaupt das ganze Unternehmen der Vernunftkritik gesteuert - gleichbedeutend mit den Kantischen Verwendungsarten des Satzes vom Grund. 320 Neben den vier Einwänden beurteilt Kant Eberhards Strategie bezüglich des Beweises des Satzes vom Grund. Danach will Eberhard den Begriff der Kausalität und mit ihm alle Kategorien - unterscheiden sich die anderen Kategorien doch nicht im Status vom dem Begriffspaar Ursache und Wirkung (ÜE 198) - als "fiir alle Dinge überhaupt geltend machen" (ÜE 194), also Kants Einschränkung der objektiven Realität der Kategorien "auf Gegenstände der Sinne" aufheben.321 Da der Satz vom Widerspruch allgemein akzeptiert wird und "von allem überhaupt gilt, was wir nur denken mögen" (d. h. "vom Denken überhaupt ohne Rücksicht auf ein Objekt"),322 mußte es Eberhard am vorteilhaftesten erscheinen, daran den Beweis der unbeschränkten objektiven Gültigkeit der reinen Verstandesbegriffe zu knüpfen. 323 Die Verwendung des Ausdrucks "Grund" sollte den Sprung vom Logischen zum Realen verbergen. So beweist Eberhard ein logisches Abhängigkeitsverhältnis und macht dabei den Leser glauben, er hätte zugleich das materiale Kausalprinzip in einer unbegrenzten Gültigkeit aufgezeigt (ÜE 194/195). Da der reale Aspekt des Beweises scheitert, kann Kant als Resultat festhalten: Die Behauptung der Kritik steht immer fest: daß keine Kategorie die mindeste Erkenntniß enthalte, oder hervorbringen könne, wenn ihr nicht eine correspondirende Anschauung, die fiir uns Menschen immer sinnlich ist, gegeben werden kann, mithin mit ihrem Gebrauch in Absicht auf theoretische Erkenntniß der Dinge niemals über die Grenze aller möglichen Erfahrung hinaus reichen könne (ÜE 198).
319 320 321 322 323
Wundt: Kant; S. 422. Wundt: Kant; S. 502-503, 420-422 und 426. Das bestätigt Eberhard in seiner Sprache nochmals als Resultat des Beweises auf S. 166/167. ÜE 195. Ähnlich wird Eberhard später den Begriff des Einfachen (siehe "ÜE", Teil B des ersten Abschnitts) aus dem Nichtwiderspruchsprinzip ableiten. Nach Kant behandelt Eberhard explizit nur solche Begriffe, die er ihrer realen Bedeutung nach scheinbar aus dem Nichtwiderspruchsprinzip ziehen kann (AK XX, S. 361 und 369).
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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Nach Kant verfehlt Eberhard nicht nur sein Beweisziel, durch die Reduktion des Satzes vom Grund auf den Satz vom Widerspruch hat er sich selbst widersprochen, denn vorher "hatte er die ganze Metaphysik [noch] an zwei Türangeln gehangen: den Satz des Widerspruchs und den des zureichenden Grundes". 324
Das Nichtwiderspruchsprinzip Nach den beiden Absätzen, die sich in Eberhards "Philosophischem Magazin" mit der Rückführung des Satzes vom zureichenden Grund auf den Satz des Widerspruchs beschäftigen (S. 163-165) folgt der zweite Teilbeweis, der die Unhintergehbarkeit des Satzes vom Widerspruch zeigt (S. 165-166). Dem schließt sich ein Absatz (S. 166/ 167) an, der noch einmal den Übertragungsgedanken vom Subjekt auf das Objekt unterstreicht. Dem "Grundsatz des Widerspruchs" (S. 166) kommt zunächst "eine subjektive Gewißheit" (S. 165) zu, denn subjektiv ist er "eine erste Wahrheit [...], woran die Kette aller übrigen befestigt ist" (S. 165). Das bedeutet, ich habe das Bewußtsein, daß ich etwas Widersprechendes nicht denken kann, denn "eine Operation meiner vorstellenden Kraft [würde] die andere zerstör[en]" (S. 165/166). Eberhard faßt das in die Worte: Was also Etwas, was also denkbar seyn soll, darf nichts widersprechendes enthalten, es darf nicht zugleich A und nicht A seyn. 3 2 5
Aus der damit benannten Struktur des Widerspruchs leitet er dann ab, daß auch Gegenständliches nicht zugleich sein und nicht sein kann. Beim Widerspruch der Vorstellungen kommt es nämlich allein darauf an, daß "ein völlig unbestimmtes A [...] durch das ebenso unbestimmte Nicht-A zerstört und aufgehoben wird" (S. 166). Daß A und Nicht-A "Gedanken" sind, erhält dann nur den Gharakter des Zufalligen. Ebenso könnten dafür Gegenstände stehen. Somit kann Eberhard das Resultat des zweiten Teil- und damit des Gesamtbeweises vorstellen: Der G r u n d s a t z des Widerspruchs ist also ein objectiver Grundsatz, u n d , der Satz des Grundes, w e n n er von ihm seine Gewißheit erhält, m u ß es auch seyn. 3 2 6
Aus der universellen Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch entspringt nach Eberhard dann die Quelle der unvermeidlichen Nothwendigkeit, den subjectiven Gesetzen der V e r n u n f t eine objective Kraft zu geben, die H e r r Kant eine Illusion n e n n t , welche gar nicht zu vermeiden ist [...], u n d die Nothwendigkeit, [ihnen] eine objective Kraft zu geben, ist keine Illusion. 3 2 7
Der transzendentale Schein ist damit more Eberhardiano in eine Quelle der Wahrheit zur Erkenntnis von Übersinnlichem überfiihrt.
324 325 326 327
ÜE 195. Kant bezieht sich dabei auf S. 14. S. 166. S. 166. S. 166 und 167.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
Die Materie der Erkenntnis In einem zweiten Beweisgang beschäftigt sich Eberhard mit der "Materie" der Erkenntnis und will zeigen, Kant habe sie in "zu enge Grenzen" (S. 167) eingeschlossen. 328 Seine Analyse dessen, was Kant unter der Materie der Erkenntnis verstehen soll, verdichtet sich schon am Anfang zu einem auffälligen Mißverständnis. Dabei hätte ihn der Widerspruch, zu dem ihn seine Formulierung nötigte, gegen sich selbst mißtrauisch machen müssen: Kant lasse keinen "StofF' der Erkenntnis zu als die "Form[en]" der Anschauung, Raum und Zeit. (Auf diese Art drückt Eberhard Kants Begrenzung theoretischer Erkenntnis auf den Bereich möglicher Anschauung aus.) Schon begrifflich ist ausgeschlossen, daß eine "Form" zugleich "Stoff" ist, und schon aus rein logischen Gründen kann ein "StofF' nur das sein, das "geformt" werden muß. Nach Kant ist der StofF zur Erkenntnis existierender Dinge die Empfindung der äußeren Sinne, bzw. des inneren Sinns; Raum und Zeit aber sind die Formen der äußeren, bzw. inneren Anschauung, nach der die Empfindungen aufgenommen werden. Hinter der Umwandlung von Form in StofF, die der Verkehrung der formalen Bedeutung des Wortes "Grund" in eine materiale entspricht, steht wohl strategisch die Befürchtung, eine Form der Erkenntnis ließe sich schwerer (oder gar nicht) relativieren als im Vergleich dazu ein StofF. Einen bestimmten Stoff kann man aus der Erkenntnis auszuscheiden oder aufzulösen vorgeben, eine Form jedoch drängt sich als solche universell auf - auf dieser Voraussetzung beruhte gerade Eberhards Beweis der Grundsätze -, oder sie ist wenigstens unaufhebbar, soll nicht alles Geformte zugleich mit verschwinden. Von einer raum-zeitlichen Materie der Erkenntnis kann behauptet werden, damit werde nur ein Gegenstand vordergründig-sinnlich vorgestellt, und Aufgabe des Verstandes sei es, durch diesen Schleier hindurch zum Wahren - nur begrifflich erfaßbaren - Wesen hindurchzudringen. Dieser Schritt ist ausgeschlossen, wenn Raum und Zeit Formen der Erkenntnis sein sollen. Ohne sie ist Erkenntnis dann nicht denkbar, und zugleich bleibt Erkenntnis auf Gegenstände möglicher raum-zeidicher Empfindung beschränkt. Der ontologische Durchstoß zum Wesen der Dinge selbst ist damit versagt. Deutlich verrät die Formulierung der vier Thesen, um die es Eberhard hier zu tun ist, eine Verschiebung der Akzente der Kantischen Philosophie, um von "Form" zu "StofF' zu gelangen: 1) [D]ie Formen der Erkenntniß des Herrn Kant, seyen nur Formen der Sinnenerkenncniß, keineswegs aber der Verstandeserkenntniß; 2) sie seyen also nur die einfächsten Begriffe dieser Sinnenerkenntniß; 3) die einfachsten Begriffe der Verstandeserkenntniß seyen unbildlich und übersinnlich;
328 S. 167; vgl. auch S. 172.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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4) diese Verstandeserkenntniß sey in abstracto bloß symbolisch, und nur in concreto anschauend, und das einfächste anschauende Merkmal derselben sey Vorstellung. 32 '
Raum und Zeit ("die Formen der Erkenntnis") gelten danach nur fiir einen Teilbereich der Erkenntnis, die "Sinnenerkenntnis". Spricht Eberhard im ersten Punkt noch verbal von "Formen", hat er im zweiten die Formen in Stoff verwandelt, wenn er von ihnen als "Begriffen" (nur der Sinnenerkenntnis) redet.330 Von Raum und Zeit als den einfachsten Begriffen - nicht etwa nur Vorstellungen - der Sinnenerkenntnis unterscheidet Eberhard im dritten Punkt "einfächste Begriffe der Verstandeserkenntnis". Obwohl diese "unbildlich und übersinnlich" sind, können sie nach Punkt vier "in concreto anschauend" werden. Wurden vorher Raum und Zeit als Begriffe artikuliert, ist jetzt schon die "Vorstellung" als solche "anschauend". Durch diesen Trick versucht Eberhard, wie wir bereits oben gesehen haben, einer bloß intellektuellen Vorstellung Anschaulichkeit und damit den von Kant geforderten Kredit der Sachhaltigkeit zu sichern. Es wird später noch auszuführen sein, inwiefern auf Kant nicht Eberhards Distinktion in Verstandes- und Sinnenerkenntnis paßt. Für Kant ist alle theoretische Erkenntnis phänomenal, darf aber nicht bloß mit Sinnenerkenntnis gleichgesetzt werden. Raum und Zeit sind nach Eberhard zunächst einmal "Bilder" (S. 168). Bilder können in der Tat nicht, will man sie nicht mit Rahmen oder Schemata (zu Bildern) verwechseln, als Formen bezeichnet werden. Insofern stimmt Eberhards Erklärung von Raum und Zeit als Stoff der Erkenntnis mit ihrer Bezeichnung als Bilder überein. Mit der Bestimmung von Raum und Zeit als Bilder weicht er aber ein zweites Mal von Kant ab. Beide Konzeptionen, Raum und Zeit als Bilder oder Formen der Anschauung, schließen einander aus. Raum und Zeit sind als Formen der Anschauung für Kant Bedingungen der Möglichkeit von Bildern und können daher nicht selbst schon Bilder sein. Während Formen allgemein und unableitbar (und in diesem Sinn unhintergehbar) sind, sind Bilder konkrete (immer nur einzelne) Darstellungen von etwas, d. h. zu Bildern muß es einen Grund geben, der letztlich unbildlich und übersinnlich ist - ganz wie das Eberhard benötigt. Auf ihren Grund hin kann dann der Verstand die Bilder analysieren und dabei ihren sinnlichen Status transzendieren. Eberhard unterscheidet zwischen konkreter und abstrakter Zeit sowie analog zwischen konkretem und abstraktem Raum. 331 Damit liefert er jedoch weniger eine Erklärung der Phänomene von Zeit und Raum als eine Art von ontologischer Verdoppelung von Raum und Zeit; nach der konkreten Zeit und dem konkreten Raum besitzen nochmals die abstrakte Zeit und der abstrakte Raum "objektive Gründe" (S. 170). Mit den Ausdrücken "abstrakte Zeit" und "abstrakter Raum" meint Eberhard die begriffli-
329 S. 168. Die Absätze wurden von uns eingefügt. 330 Das wiederholt Eberhard auch S. 257/258. 331 S. 168, 170. 172. Die Dualität des Raums wird in dem hier behandelten Aufsatz jedoch nicht ausgeführt. Das geschieht erst - streng parallel zur Zeit - S. 395 (4. Leibniz-These), S. 398/399 (6. LeibnizThese) und S. 400-402 (8. Leibniz-These).
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4 . D i e Kontroverse im engeren Sinn
che aufbereitete "allgemeine" oder "unbestimmte" Vorstellung von Raum oder Zeit im Gegensatz zu unmittelbar raum-zeitlichen Perzeptionen (S. 395/396). Dagegen wendet Kant ein, daß in diesem Fall Eberhard nur von Raum oder Zeit "in abstracto" sprechen dürfte, denn die Redeweise vom abstrakten Raum, bzw. von der abstrakten Zeit impliziert, daß man sich Raum und Zeit im allgemeinen nur als Abstraktionen von Empfindungen denken könne. 332 Dahinter verbirgt sich - von Kant in "ÜE" nicht ausgeführt - der Gedanke, daß Eberhard Raum und Zeit ganz anders thematisiert als Kant, und zwar unter einem ontologischen und nicht epistemologischen Aspekt. Während Eberhard danach fragt, was Raum und Zeit an sich seien, interessiert Kant ihre Rolle als Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis. Aus dem Gegensatz von Ontologie und Epistemologie bekommt der oben diskutierte Unterschied zwischen Form und Stoff" den entscheidenden Charakter: Eberhard versteht Raum und Zeit bei Kant als stoffliche Fakta, während sie Kant als transzendentale Formalbedingungen fiir Erkenntnisurteile behandelt.
Die Zeit Unter der "konkretefn] Zeit" versteht Eberhard die empfundene Zeit, die als solche "nichts anderes als die Sukzession unserer Vorstellungen" (S. 169) ist. Sie ist "etwas Zusammengesetztes" und besteht demnach aus "einfachen Elementen", den "Vorstellungen", als ihren Gründen. Einzeln können die einfachen Elemente aber nicht empfunden werden, nur insgesamt in Verbindung mit vorhergehenden und nachfolgenden Vorstellungen, dem "Fluß der Veränderungen", der "stetig" (S. 169) ist. Die Stetigkeit der (konkreten) Zeit liegt nach Eberhard im Verknüpftsein der Vorstellungen, im Vorstellungs"film", wenn man "Film" als Aneinanderreihung von Bildern versteht. Würde die Vorstellungsfolge durch das Ausbleiben der nächsten Vorstellung unterbrochen, stände die Zeit still. Diese Auffassung von der Zeit und ihrer Stetigkeit gewinnt dadurch nur einige Plausiblität, daß man mit Leibniz ein Kontinuum unbewußter Vorstellungen annimmt. 333 In diesem Sinn könnten der Vorstellungsstrom und damit die Kontinuität der Zeit gar nicht unterbrochen werden, nur das Bewußtsein der Vorstellungen könnte schwinden. Das "unbildliche Einfache", den "kleinsten Teil" der Zeit - beides Formulierungen für die Gründe der Zeit als Bild - erkennt "außerhalb der Sphäre der Sinnlichkeit" (S. 169) nur der Verstand. Dabei handelt es sich um "etwas Objektives" (ebd.) im Gegensatz zur nur subjektiv sinnlich wahrgenommenen konkreten Zeit. Der Verstand hat damit also nach Eberhard zwar keine bildlichen, aber trotzdem wesenhafte (nicht 332 ÜE 199 Anm. In Kapitel 4.5.4. werden wir auf diese Anmerkung bei der Diskussion der Abstraktionstheorien zurückkommen. Eberhards Raum-Zeit-Vorstellungen werden in den Kapiteln 4.5.5. und 4.5.7. weiterführend diskutiert. 333 Leibniz: Monadologie, $ 21.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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"begriffleere") Gegenstände (S. 171). Schließlich findet er als "objektive Gründe" der abstrakten Zeit, die "anteilbaren Augenblicke" (S. 170).334 Es ergeben sich somit zwei Instanzen des Einfachen: Als Grund der konkreten Zeit die "unteilbare[.] Elementarvorstellung[..]" (S. 169), als Grund der abstrakten Zeit der Augenblick. Elementarvorstellung und Augenblick gehören nach Eberhard nicht mehr der Sinnlichkeit, sondern dem Verstand zu. Dennoch sollen beide "anschauend" sein, die Vorstellung als Vorstellung, der Augenblick "mittelbar in dem Konkreten, von dem die abstakte Zeit abgezogen ist" (S. 170/171). Eberhard beansprucht damit, Kants Auffassung zurückgewiesen zu haben, daß die Zeit als solche eine "leere Vorstellung" ohne Hinweis auf einen "Gegenstand" (S. 170) ist.335
Der Raum Den "konkreten Raum" definiert Eberhard als "mit dem Zusammengesetzten zugleich da". 336 Unter dem "Zusammengesetzten" versteht er den "Körper", "ein Aggregat einfacher Substanzen" (S. 172). Raumwahrnehmung findet damit immer bei sinnlicher Wahrnehmung von Körpern statt. Eberhard spricht von einem "[Z]ugleich".337 Danach kann es im strengen Sinn keine Körper im Raum geben. Wesen des Raums und Umfang der Körper kongruieren. Wieder entsteht dadurch ein Kontinuitätsproblem: Beim Übergang von einem Körper zum anderen öffnet sich gleichsam ein Bruch im Raum, bzw. stoßen zwei differente Räume aufeinander. Die Elemente (objektiven Gründe) des Raums müssen analog wie bei der Zeit unbildliche, aber trotzdem reale "Verstandeswesen" (S. 171) sein, und zwar in zweierlei Hinsicht. Da die Raumvorstellung von der Vorstellung eines Körpers als einem "Inbegriff von Erscheinungen" (S. 172) abhängig ist, muß erstens der Letztgrund der Körpererscheinung zugleich der objektive Grund des Raumes sein, nämlich die "einfachen Substanzen" (S. 173). Beide sind identisch als "die letzten Gründe des Ausgedehnten" (S. 173). Räumlichkeit stellt also Eberhard damit als Akzidens der einfachen
334 Wegen ihres "abstrakten" Charakters dürften nach Eberhard der abstrakte Raum und die abstrakte Zeit schon selbst auf halbem Wege reine Verstandesbegriffe sein. 335 Aus dem Gesagten ist zu entnehmen, daß nach Eberhard die konkrete Zeit eigentlich zwei Gründe hat, die objektiven - im eigentlichen Sinn so zu nennenden - Gründe des Einfachen (als Verstandeswesen wird das Einfache vom Verstand ohne Beihilfe der Sinnlichkeit, die hierzu gar nicht dienlich sein könnte, erkannt) und die subjektiven Gründe der Empfindung. Die Letzteren - Eberhard nennt sie die "Schranken des endlichen Geistes" (S. 170) - sind für die Sukzessivität der Vorstellungen verantwortlich. Sinnlichkeit und Verlaufscharakter der Zeit hängen also zusammen. 336 Freilich ist das Nacheinander oder Nebeneinander als Bestimmung von Raum und Zeit, wie sie sich etwa bei Baumgarten findet ("Metaphysica", §§ 238-240), bloße Tautologie. "Successio" und "simultaneitas" setzen schon die Zeit und den Raum als Bedingung voraus. Vgl. auch Eberhard: Abriß; § 101.
337 S. 172 und S. 171.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
Substanz dar. Das fuhrt ihn zweitens zur Frage, als was das "Substratum der Akzidenzen" (S. 173) zu bestimmen sei. Da die Sinne nur Veränderungen und somit ausschließlich Akzidenzien erkennen könnten, vermöge nur der Verstand die Antwort geben, nämlich: die "Kraft". 338 Zeit und Raum werden also von Eberhard einerseits zu bloß bildlich-sinnlichen Vorstellungen auf die Ebene der Empfindung herabgestuft. Als solche können sie keine erkenntniskonstitutive Funktion mehr übernehmen, also keine das Gebiet der Erkenntnis zugleich eröffnenden wie begrenzenden Formen der Anschauung 339 mehr sein. Andererseits sind die einfachen Gründe der Bilder von Raum und Zeit rein intellektuelle Vorstellungen und bestätigen als solche die selbstgenügsame Kraft des Verstandes: Er erweist durch Analyse das nicht-sinnliche Einfache in den sinnlichen Vorstellungen von Raum und Zeit und ermittelt somit reale intelligible Gegenstände (Elementarvorstellung, Moment, einfache Substanz) - fluider Erkenntnisstoff klar jenseits der Kantischen Grenzen.
Kant über Eberhards Beweis der objektiven Realität des Einfachen Die von Eberhard vertretene universelle Geltung des Realgrundes schließt die nach Kant legitimen Fälle ein, wo bei korrespondierender sinnlicher Anschauung Vorstellungen von Gegenständen als Ursache und Wirkung verknüpft werden können. Wenn sich jedoch Eberhard bemüht, die objektiv-reale Geltung des Begriffe vom Einfachen zu zeigen, ist selbst eine Teillegitimität ausgeschlossen, denn nach Kant kann ein "einfache[s] Wesen[.]"in keinem Fall ("gar nicht") "Gegenstand der Sinne sein" (ÜE 199). Parallel zu seiner Behandlungsart des Eberhardischen Satzes vom Grund 340 fuhrt Kant eine zentrale Stelle aus dem "Phil. Mag." an, die er für den "Beweis der objektiven Realität des Begriffs vom Einfachen an Erfahrungsgegenständen" (ÜE 198) hält. 341 Bevor er den Beweis prüft (ÜE 202-206), weist er auf Eberhards Strategie, 338 Der entsprechende Antwortsatz lautet S. 173: "Das Fortdauernde, wovon die Accidenzen Bestimmungen sind, die Kraft, welche ihren Grund enthält." Dahinter verbirgt sich wenig mehr als eine Tautologie. Da das "Fortdauernde" nicht zeidich verstanden werden kann, ist es nichts als eine Übersetzung von "Substratum". Der neue Gedanke liegt dann nur in dem Begriff "Kraft", wodurch "Substanz" mit "Kraft" gleichgesetzt wird. (In anderem Kontext wendet sich Kant gegen eine solche Gleichsetzung: ÜE 224 Anmerkung). 339 Ü E 2 0 3 . Z . 2-9. 340 Nach Teil A des ersten Abschnitts von "ÜE" geht es jetzt um Teil B. An einigen Stellen von Teil C kommt Kant auf die Argumentation von Teil B zurück (ÜE 213 und 217-218). 341 ÜE 199-200. Kant zitiert erst aus den Ausführungen über die konkrete Zeit (S. 169 und 169/170), anschließend über den konkreten Raum (S. 171). Die in "ÜE" angebrachten Gedankenstriche zeigen Textauslassungen an. Da die Ausfuhrungen Eberhards bereits auf den vorhergenden Seiten dieser Arbeit besprochen worden sind, verzichten wir auf eine Wiedergabe des Beweises im Wortlaut und stellen nur die Abweichungen in "ÜE" gegenüber dem Eberhardischen Original fest (orthographische werden nicht berücksichtigt): Alle in "ÜE" angebrachten Sperrungen stammen (bis auf das Wort "stetiger") von Kant. In runden Klammern kommentiert Kant innerhalb des Zitats einige Stellen. In ÜE
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wonach er wiederum einen Begriff mehrdeutig gebraucht, diesmal den des "Nichtsinnlichen" ( Ü E 201). Mit dem Begriff "nicht-sinnlich" belegt Eberhard sowohl das nicht mehr mit Bewußtsein Empfindbare wie das Unbildliche und das (in absoluter Bedeutung) Unsinnliche (oder Übersinnliche). 342 Eberhard zielt darauf ab, "die objektive Realität des Begriffs von einfachen Wesen, als reiner Verstandeswesen" an den "Elementen " (ÜE 201) sinnlicher Vorstellungen zu beweisen. Der gewöhnliche Beweis des Einfachen, der aus bloß begrifflichen Gründen zeigt, "daß die Urgründe des Zusammengesetzten notwendig im Einfachen" (ÜE 201) zu denken sind, konnte Eberhard nicht genügen, denn damit wäre nach dem von Kant geforderten Standard nicht die objektive Realität des Einfachen bewiesen. Kant selbst akzeptiert den rationalen Beweis, 343 legt aber dann konsequent den Finger darauf, daß es sich bei diesem "Eigentlich-Einfache[n]" um eine bloße "Idee"344 handelt, die mit "Gegenständen der Sinne" (ebd.) nichts zu schaffen haben kann. Eberhard beachtet nicht, daß sein Beweis des Einfachen ihn mitten in die Problematik der Zweiten Antinomie der "KrV" fuhrt. Auch Kant spricht diesen Punkt in seiner Replik nicht an. 345 Dadurch, daß Eberhard im jetzigen Beweis die objektive Realität an die Sinnlichkeit anbindet, nähert er sich, wie Kant feststellt, seiner Position. 346 Das muß er tun, um mit Kant einen gemeinsamen Ausgangspunkt zu teilen. Der Grund ist jedoch nicht nur pragmatisch: Gelänge Eberhards Beweis (bzw. fände er bei den Lesern Glau-
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200, Z. 3, steht ein Komma statt eines Semikolons. In ÜE 200, Z. 6, fehlt vor "Elemente" das Wort "einfachen", und statt eines Semikolons ist ein Komma gesetzt. In ÜE, Z. 10, ist ein Komma eingefügt. In ÜE 200, Z. 23, fehlt nach "Zeit" ein Komma. Mit "die [Eberhard: Die] ersten", ÜE 200, Z. 25, beginnt bei Eberhard ein neuer Satz. In ÜE 200, Z. 27, fehlt nach "Zeit" ein Komma. In ÜE 200, Z. 29, steht ein Semikolon statt eines Kommas, ebenso in Z. 30. ÜE 201 in Verbindung mit ÜE 205. Mit dieser "seltsamen Doppelsprache" (ÜE 206) verstößt Eberhard nach Kant nicht etwa nur gegen die Sprache der "KrV", sondern gegen den allgemeinen philosophischen Sprachgebrauch (ÜE 201). ÜE 202, Z. 35 - 203, Z. 1; ÜE 203, Z. 28-30; ÜE 204, Z. 5-8; ÜE 205, Z. 27-30; ÜE 205, Z. 35 206, Z. 13. ÜE 202; siehe auch ÜE 201: "[...] daß dieses zwar von unseren Ideen, wenn wir uns Dinge an sich selbst denken wollen, von denen wir aber nicht die mindeste Kenn miß bekommen können, [...] gelte [...]". Kant sagt also, daß das analytische Verhältnis Komplexes/Einfaches nur als Denkbestimmung gilt (vgl. KrV B 330 aus dem "Amphibolie"-Kapitel) und steigert, wie das Zitat zeigt, diese bloße Strukturaussage zu einer (freilich auch im problematischen Denken verharrenden) Bestimmung (Idee des Einfachen) von Dingen an sich (vgl. auch ÜE 202, 1. Abs.; ÜE 201, Z. 12-13). Die Zweite Antinomie findet sich in B 462-471 der "KrV". Eberhard vertritt danach die Thesls. Da die Thesis formal genauso gut beweisbar ist wie die Anüthesis und es sich in beiden Fällen inhaltlich um die Verbindung von Gleichartigem handelt (KrV B 558), müssen - so Kants Position - beide Thesen falsch sein. Das in der Anschauung gegebene Ganze ist zwar ins Unendliche teilbar (und die Zerteilung ist der Forschung als Aufgabe aufgegeben), doch folgt daraus nicht, es setze sich aus unendlich vielen Teilen zusammen (geschweige denn, daß sie als aktual unendliche Teile gegeben wären) (KrV B 551-555). Von diesem Raisonnement unabhängig gilt, wie oben dargestellt, die bloße Denkbarkeit des Einlachen und im strengen Sinn Elementaren als Idee. ÜE 204, 1. Abs. und ÜE 206,3. Abs.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
ben), so wäre (schiene) Kants Begrenzung der Erkenntnis auf Erscheinungen gesprengt. Nach Kant beruht Eberhards Beweis auf zwei fälschen Sätzen (ÜE 202): (a) «Konkrete Zeit und konkreter Raum bestehen aus einfachen Elementen.» (b) «Die einfachen Elemente sinnlicher Vorstellungen sind Verstandeswesen (intelligibilia).» Satz (a) wird von der Mathematik als falsch überfiihrt, denn die Lehre vom Kontinuum (ÜE 206) verbietet die Annahme einfacher Elemente von Raum und Zeit. Kant verweist dazu auf John Keills Beweis, daß eine gerade Linie von unendlich vielen anderen durchschnitten werden kann. 547 Daß die Unmöglichkeit einfacher Teile gleichermaßen für die Zeit gilt, läßt sich zeigen, wenn man Keills Beweis "die Bewegung eins Punkts in einer Linie zum Grunde legt" (ÜE 202). Die Mathematik nur fiir den abstrakten Raum und die abstrakte Zeit gelten zu lassen, kann für Eberhard kein Ausweg sein, denn er würde damit die Anwendung von Mathematik auf physikalische Sachverhalte für wenigstens z. T. unmöglich ansehen müssen. So kann nach Kant nicht nur jeder Raum- oder Zeitteil ins Unendliche wieder geteilt werden, auch alle Dinge in Raum und Zeit unterliegen dieser grundsätzlichen Teilbarkeit, denn bei ihnen handelt es sich nicht um selbständig fiir sich zu denkende Sachen an sich, sondern um Phänomene, die denselben Teilbarkeitsbestimmungen unterliegen wie Raum und Zeit fiir sich alleine, denn Raum und Zeit sind als Formen der Anschauung Bedingungen der Möglichkeit dieser Gegenstände. 348 Satz (b) schließt nach Kant einen Widerspruch ein; er behauptet, als ganze sei eine Vorstellung sinnlich, ihre Teile jedoch seien unsinnlich (ÜE 203). Tatsächlich sind derartige Teile (wie etwa nach Newton die Farbkorpuskeln) nur nicht bewußt als solche empfindbar (ÜE 205). Daß der Verstand ihre Existenz annimmt, macht sie noch nicht zu unsinnlichen Verstandeswesen. Prinzipiell bleiben sie empfindbar und deshalb sinnlich. Auch das Merkmal des Unbildlichen macht eine Vorstellung noch nicht Ubersinnlich. Bildlich kann nur eine komplexe sinnliche Vorstellung sein, deren quasi einfache Teilvorstellungen dann zwar nicht mehr bildlich, aber damit noch lange nicht unsinnlich sind (ÜE 205). So stehen schließlich hinter Eberhards gescheitertem Beweis je nach Blickrichtung zwei gegenläufige Sophismen: Einerseits läßt sich behaupten, Eberhard "vernünftelt" "jene einfachen Wesen in die Anschauung [.] hinein" (ÜE 217 und 202), andererseits, er bereitet sinnliche Bestimmungen so auf, daß sie den Anschein von Verstandeswesen bekommen (ÜE 213/214). Im ersten Fall wird das Noumenale zum Kryptophänomenalen, im zweiten Fall das Phänomenale zum Noumenalen.
347 ÜE 202. Kant bezieht sich auf: John Keill "Introductio ad veram physicam, seu lectiones physicac", London 21705, lectio III. 348 ÜE 206,203; vgl. KrV B 553-554 und B 518-525.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhard ¡sehen Aufsätze und der Kantischen Replik
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4.5.3. "Weitere Anwendung der Theorie von der logischen Wahrheit oder der transzendentalen Gültigkeit der menschlichen Erkenntnis" Der Aufsatz fuhrt - nach Eberhards assoziativer Manier 34 ' - die Ausführungen des vorigen fort und ergänzt sie. Er gibt dabei weiter Aufschluß über Eberhards ontologisches Denken. 3 ' 0 In diesem Sinn werden drei Beweisziele genannt: (a) "Einige unserer Vorstellungen haben Gegenstände, die wir uns als äußerlich denken" (S. 248). (b) "Die Gegenstände unserer Empfingungen sind wirklich" (S. 254). (c) "Die Gegenstände der äußern Empfindungen sind nicht bloß innere Gegenstände, sondern auch äußere, und ihre letzten Gründe sind Dinge an sich" (S. 259). Existenz und Erkennbarkeit der Dinge an sich werden hier schrittweise erschlossen. Dabei entsteht der Eindruck, unter Dingen an sich verstehe Eberhard nur die "Gegenstände, die außer uns" sind (S. 248). Die Erkennbarkeit des Selbst, gleichsam des Ich an sich, erscheint ihm selbst offenbar als unproblematisch (S. 257) und wohl sogar als von Kant nicht in Frage gestellt (S. 158). Vielleicht blendet er die Analyse der nur zeitlich vorstellbaren Gegenstände auch deshalb aus, um jedwedem Idealismusvorwurf zu entgehen. 351
Das innere Objekt Gemäß dem Satz vom Grund will Eberhard von den "inneren Objekte[n] der Vorstellungen" (S. 244) zu den Dingen an sich vorstoßen. Unter dem Ausdruck "innere Objekte der Vorstellungen", den Eberhard nicht erläutert, ist nach dem Kontext folgendes zu verstehen: Jede Vorstellung hat ein Objekt, und zwar als Vorstellung zunächst einmal ein "inneres Objekt" innerhalb des Bewußtseins, das noch vom realen äußeren Objekt (vom Gegenstand außerhalb des Bewußtseins) verschieden ist. Objekte sind zunächst einmal Vorstellungen. Bevor man sagen kann, Vorstellungen bezögen sich auf wirkliche äußere Gegenstände, muß man konzidieren, Vorstellungen hätten wenigstens gedachte (vorgestellte, "innere") Objekte. 352 349 Vgl. S. 255; ÜE 188. 350 Vgl. den Lehrsatz S. 245: "[D]ie allgemeinsten Gründe der Erkenn miß, der Satz des Widerspruches und des zureichenden Grundes, sind mit den allgemeinsten Gründen der Dinge, die erkannt werden, einerley." 351 Auch Berkeleys "unendliche Substanz" stellt Eberhard in diesem Sinn als ein äußeres Ding an sich vor (S. 260). Ebenso sind Subjekte nach Eberhard nur gleichsam nach innen gewendete äußere Objekte. 352 Angemerkt sei, daß der Ausdruck "innere Objekte der Vorstellungen" noch auf zweifache Art anders, wenngleich weniger gut aus dem Kontext gestützt, interpretiert werden kann: Erstens könnte Eberhard die "Vorstellungen" selbst als Gegenstände bezeichnen wollen und sie deshalb "innere Objekte" nennen. Die Formulierung von S. 247 deutet darauf hin: "[...] unsere Vorstellungen [...], sofern sie Objekte sind". Zweitens könnte Eberhard meinen, einige Vorstellungen bezögen sidi auf vom innerenSinn Perzipiertes und diese Gehalte als "innere Objekte der Vorstellung" ansprechen. In diese Rieh-
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
Die Möglichkeit der Vorstellung eines inneren Objekts genügt nach Eberhard nicht, ihm äußere Realität zuzuschreiben (S. 244). Dazu bedarf es der Versicherung des Satzes vom Grund. 3 5 3 Ganz in diese Richtung interpretiert er die Kant unterlegte Aussage "[D]er menschliche Verstand schafft sich erst die Natur, indem er seine Begriffe und Regeln auf die Gegenstände anwendet" (S. 244): [D]ie allgemeinsten Gründe der Erkenntniß, der Satz des Widerspruches und des zureichenden Grundes, sind mit den allgemeinsten Gründen der Dinge, die erkannt werden, einerley. Die menschliche Seele erkennt diese Gründe in sich selbst durch ihren Verstand, und ihre Vernunft erkennt nach denselben alles wahre Erkennbare. Der Satz des Grundes hat abo objektive Gültigkeit (S. 245).
Danach werden die beiden Sätze zuerst introspektiv als gewisse Faktizitäten (vom Verstand) erkannt und dann (von der Vernunft) als Grundsätze logisch auf die Dinge übertragen, die dadurch zum "wahre[n] Erkennbare[n]" werden. Den Unterschied zwischen faktischer Erkenntnisleistung und prinzipieller Geltung in der Übertragung auf äußere Gegenstände markiert Eberhard durch die Verwendung der Begriffe "Verstand" für ein Erkenntnisvermögen und eine konkrete Erkenntnisleistung und "Vernunft" für im formalen wie materialen Sinn logische Operationen. Gemäß der Ansicht, alle Urteile seien analytisch, kann, wie das in dem zitierten Absatz geschieht, der Satz vom Widerspruch als Grund der Erkenntnis bezeichnet werden. Mit seiner Interpretation unterstellt Eberhard Kant die ihm fremde ontologische Position, daß die menschliche Vernunft objektiv die Bestimmungen der Dinge an sich zu repräsentieren in der Lage sei. Kant geht es vielmehr darum, einen Natur- und zugleich Erfahrungsbegriff zu rechtfertigen, der ohne diese für ihn epistemologisch unhaltbare Annahme auskommt. In diesem rein epistemologischen Sinn will Kant seine Aussagen bezüglich der "Gesetzgebung für die Natur" (KrV A 126) verstanden wissen: So übertrieben, so widersinnisch es also auch lautet, zu sagen: der Verstand ist selbst der Quell der Gesetze der Natur und mithin der formalen Einheit der Natur, so richtig und dem Gegenstande, nämlich der Erfahrung, angemessen ist gleichwohl eine solche Behauptung. Zwar können empirische Gesetze als solche ihren Ursprung keinesweges vom reinen Verstände herleiten, so wenig als die unermeßliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen aus der reinen Form der sinnlichen Anschauung hinlänglich begriffen werden kann. Aber alle empirische Gesetze sind nur besondere Bestimmungen der reinen Gesetze des Verstandes, unter welchen und nach deren Norm jene allererst möglich sind, und die Erscheinungen eine gesetzliche Form annehmen, so wie auch alle Erscheinungen unerachtet der Verschiedenheit ihrer empirischen Form dennoch jederzeit den Bedingungen der reinen Form der Sinnlichkeit gemäß sein müssen.
tung weist eine These Eberhards, wonach "äußere" Objekte "Gegenstände der äußeren Empfindung" sind, "innere Gegenstände" hingegen Gegenstände der inneren Empfindung, also Gegenstände der Empfindung durch den inneren Sinn (S. 239). 353 S. 244: "[A]lles Mögliche muß einen zureichenden Grund haben."
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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Der reine Verstand ist also in den Kategorien das Gesetz der synthetischen Einheit aller Erscheinungen und macht dadurch Erfahrung ihrer Form nach allererst und ursprünglich möglich. 354
In dieser Passage vom Ende der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe der "Kritik der reinen Vernunft" spricht Kant keineswegs von einer Gesetzgebung des Verstandes, wie Eberhard unterstellt, gegenüber der Natur als der Gesamtheit der Dinge an sich, ebensowenig von einer Identität von Denk- und Seinsgesetzen. Er handelt vielmehr von einer Gesetzgebung des Bereichs möglicher Erfahrung. Diese Gesetzgebung nach allgemeinen Regeln 355 ist überdies formal und kann sich nur deshalb vollziehen, weil ein Mannigfaltiges als sinnlich Gegebenes vorliegt, das einer verknüpfenden Ordnung nach Regeln bedarf, soll es als Gegenstand erkannt werden können. So unterscheidet Kant zwischen "natura formaliter spectata" und "natura materialiter spectata". 356 Wenn die formale Struktur der Natur als Bedingung der Möglichkeit der Erfährung und ihrer Gegenstände a priori erkannt werden kann, dann ist eine Repräsentation von Dingen an sich auf sinnlicher wie begrifflicher Ebene unwiederbringlich ausgeschlossen.
Nachtrag zum Beweis des Satzes vom Grund Obwohl Eberhard die objektive Gültigkeit des Satzes vom Grund für bewiesen hält, versucht er, sie mit zwei weiteren Raisonnements zu stützen. Im ersten verleiht er durch einen bloßen Perspektivenwechsel von innen nach außen den "Vorstellungen des denkenden Subjekts" (S. 245) objektiven Charakter: [...] weil in diesem Subjekte, als Objekt betrachtet, keine Bestimmung ohne Etwas seyn kann, das sie, mit Ausschließung der entgegengesetzten, bestimmt (S. 245).
Im zweiten schließt er von einem psychologischen Sachverhalt auf einen transzendentalen: Bei der Bildung eines Urteils fühle sich das erkennende Subjekt so lange unsicher, bis es den objektiv zureichenden Grund fiir die Zuschreibung des Prädikats zum Satzsubjekt gefunden habe (S. 245/246). Aus der Überwindung der Hemmung kann aber nicht - so ist einzuwenden - auf das Gelingen einer objektiven Repräsentationsleistung geschlossen werden. Allenfalls die Unverzichtbarkeit eines subjektiven Grundes, der als solcher aber im Blick auf den Gegenstand zufallig wäre, könnte auf diese Art plausibel gemacht werden, denn die Hemmung verschwindet selbst dann, wenn der Urteilende subjektiv der festen (aber damit noch lange nicht notwendig objektiv gültigen) Überzeugung ist, den zureichenden Grund gefunden zu haben. Von diesem psychologischen Beweis gibt Eberhard eine ästhetische Version: Ein Gegenstand, dessen Eigenschaften nicht nach dem Satz vom Grund bestimmt sind, "mißfällt" (S. 246). 354 KrVA 127-128. 355 KrVA 126. 356 KrVB 163-165.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
Weg zum Ding an sich Der Gedankengang, von der Vorstellung (und dem inneren Objekt) zum Ding an sich vorzudringen, kann nun fortgeführt werden. Eberhards erste Etappe (a) lautet, von ihm als These formuliert, so: "Einige unserer Vorstellungen haben Gegenstände, die wir uns als äußerlich denken" (S. 248). Es geht hier noch nicht um die Gegenstände außerhalb unserer Vorstellung, nur erst um die Gegenstände, die man sich bewußtseinsimmanent als äußerlich denkt. Von einigen unserer Vorstellungen - nämlich den "äußeren Empfindungen" - denken wir uns "deren Gegenstände" und setzen "deren Ursachen" "außer uns" (S. 248). Eberhard fragt danach, wodurch eine Vorstellung als Empfindung erkennbar wird. Humes Kriterium, wonach Empfindungen ("impressions") stärker seien als Einbildungen ("ideas"), genügt ihm nicht:357 Eine jede wirkliche Vorstellung muß einen unmittelbaren zureichenden G r u n d haben, warum sie eben jetzt, warum sie nicht früher und nicht später, unter diesen u n d keinen anderen Umständen wirklich ist (S. 250).
Dieser Grund kann bei Einbildungen ein "bloßer innerer Grund" sein und bloß in den Assoziationsgesetzen "des denkenden Subjekts" (S. 250) liegen. Ist der hinreichende Grund der Vorstellung nicht als ein solcher subjektiv auszumachen, so muß er nach Eberhard ein objektiver sein, d. h. "in einem äußern vom dem denkenden Subjekte verschiedenen Gegenstande" (ebd.) zu finden sein. Ein objektiver Grund kann also nach Eberhard negativ dadurch aufgewiesen werden, daß ein bloß subjektiver als nicht hinreichend erkannt wird. Damit wird der Weg frei, daß vom bloßen Bewußtsein auf außerhalb des Bewußtseins bestehende Gründe geschlossen wird (S. 253). Eberhard erläutert das an einem Beispiel aus der Musik: Die Obertöne ("toni secundarii") wirken so schwach, daß sie deshalb nach Hume leicht als Produkte der Einbildungskraft betrachtet werden können. Tatsächlich sind sie jedoch als wirkliche Empfindungen und als von einem äußeren Gegenstand bewirkt nachzuweisen, weil sie nicht den subjektiven Gesetzmäßigkeiten der Einbildungskraft (der Assoziation von Tönen zum Grundton der Saite) folgen. Wäre das nämlich der Fall, so müßte man mehr zum Grundton assoziierte Obertöne "hören", als man tatsächlich wahrnimmt. Diese Abweichung läßt sich nur dadurch erklären, daß das Wahrgenommene gar nicht bloß subjektiv, sondern objektiv bestimmt ist (S. 251-253). Neben dem indirekten Aufweis eines objektiven Grundes zu einer Vorstellung (wodurch sie zur Empfindung wird) kann laut Eberhard zusätzlich oder alternativ die Möglichkeit eines direkten Nachweises auftreten. In dem musikalischen Beispiel bestünde er in der Demonstration des physikalischen Sachverhalts, daß einige Teil-
357 S. 249; Hume: Treatise, S. 1. Hume versteht unter den "impressions" freilich auch innere Empfindungen. - Auf die petitio principii, daß Eberhard unter Empfindungen von Hause aus nur äußere versteht, kann hier nicht weiter eingegangen werden.
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Schwingungen durch die Schwingung der ganzen Saite zerstört werden, andere hingegen nicht, die als Obertöne dann wirklich vernommen werden (S. 253). Einbildungen und Empfindungen, die beiden Arten (und durch ihre Verknüpfung: die beiden Reihen) unserer Vorstellungen, lassen sich also nach Eberhard folgendermaßen definieren: Einbildungen sind Vorstellungen, die (je nach Beweismöglichkeit) auf nur subjektiven oder nicht-objektiven Gründen beruhen, Empfindungen hingegen Vorstellungen, die (je nach Beweismöglichkeit) auf objektiven oder nicht bloß subjektiven Gründen beruhen. 358 Eberhards These (b) zur zweiten Etappe lautet S. 254: "Die Gegenstände unserer Empfindungen sind [außerhalb des Bewußtseins] wirklich." Schon vorher hat Eberhard durch einen einfachen Perspektivenwechsel das Subjektive zum Objektiven gewendet. Diese Gedanken fuhrt er hier zunächst weiter aus. Danach schwenkt er zu einer vergleichenden Erörterung von Raum und Zeit bei Kant und Leibniz. Eine sachliche Verbindung mag darin bestehen, daß das laut Kant definitiv nur Subjektive (Raum und Zeit als Formen der Anschauung) und nach Leibniz zunächst nur Sinnliche (Raum und Zeit als bildliche Vorstellungen) sich als objektive Verstandeswesen erweisen sollen."? Als Begründung der These 360 beweist Eberhard wieder einmal die transzendentale Gültigkeit des Satzes vom zureichenden Grund: Ich selbst bin ein Objekt, meine Vorstellungen sind Objekte; [...] ich unterscheide meine Vorstellungen von mir, dem betrachtenden Subjekte. [...] Die ersten Grundsätze der Vernunft müssen also eben darum auch eine objektive Nothwendigkeit haben, weil man ihnen eine subjektive nicht absprechen kann; ja sie haben nur darum eine subjektive, weil sie eine objektive haben.361 Das Subjektive wird damit als sekundäre Sonderform des Objektiven behandelt. Ein Objekt kann nach Eberhard von außen bettachtet werden oder - in einigen Spezialfällen - sich, nachdem es als Objekt zur Existenz gekommen ist, von innen erkennen. Erkennt es sich von innen, ist es als Subjekt-Objekt in keiner Weise als Gegenstand gegenüber einem Nur-Objekt privilegiert. Nur die Blickrichtung hat sich geändert. Das zeigt symptomatisch, daß Eberhard die Einsicht in die Spezifizität des Kantischen "transzendentalen Subjekts" als epistemologisches Konstrukt zur Rechtfer358 S. 254. In der Formulierung unterläuft Eberhard der Lapsus, daß er nur Empfindungen nach dem Satz vom Grund bestimmt sein läßt. Aus dem vorher Gesagten läßt sich aber erschließen, er habe nur sagen wollen, ausschließlich für Empfindungen beständen "wahre Gegenstände" als objektive Gründe außer der Vorstellung. Auch Einbildungen unterliegen nach Eberhaid dem Salz vom Grund. Ihre Gründe (die Assoziationsregeln der Einbildungskraft) sind aber nur subjektiv. 359 Im zweiten Fall ist das Subjektive (faktisch) privativ als Mangel und Schein verstanden, im ersten Fall (transzendental) positiv als Bedingung ftir die Konstitution objektiver Erkenntnis. 360 Die These wird in dem dafür vorgesehenen Abschnitt von S. 257-259 nur sehr indirekt begründet (der einzige gezielte Ansatz S. 257 witd nur angerissen). Aus den einzelnen im Haupttext dargestellten Ausfuhrungen insgesamt ist im Blick auf die These zu entnehmen, daß ein objektiver Grund nicht anders als ein wirklicher Gegenstand zu denken ist. Auf ihn beziehen sich unsere Vorstellungen als Empfindungen und nicht bloß Einbildungen. 361 S. 254/255.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
tigung der Möglichkeit objektiver Erkenntnis versperrt ist. Das epistemologische Theoriepotential des Satzes "[I]ch unterscheide meine Vorstellungen von mir [...]" bleibt, wie der Kontext lehrt, unbeachtet. S. 256 insistiert Eberhard nochmals darauf, schon als Vorstellungen seien Vorstellungen Objekte. Nur wegen ihrer Objekthaftigkeit seien sie einer beständigen allgemeinen Ordnung und Gesetzmäßigkeit unterworfen. Eberhard unterscheidet an einer Erkenntnis das "Subjektivwahre" und "Objektivwahre". Das erstere widerstrebe der Ordnung und sei "veränderlich, zufallig, mannigfaltig"; das letztere hingegen repräsentiere die Ordnung und sei "unveränderlich, notwendig, allgemein" (S. 256). Daraus konstruiert Eberhard den Satz "Entweder es gibt keine allgemeinen Gesetze der Vorstellungen oder sie sind objektiv gültig". Kants "kritischem Idealismus" wird vorgeworfen, keine solchen allgemeinen Gesetze der Vorstellungen anzuerkennen. Er werde dadurch als Relativismus beliebig und zerstöre sich selbst (S. 256). Wieder verwechselt hier Eberhard sein Bild vom Kritizismus mit diesem selbst. Kant geht es ja auch um den Nachweis objektiv gültiger Gesetze der Erkenntnisanspruch erhebenden Vorstellungen, nur beschränkt er sich streng auf den epistemologischen Standpunkt des Bewußtseins. Objektive Gültigkeit kann danach nie vom Ding her, gleichgültig, ob es sich dabei um den empirischen Gegenstand (den Kant selbstverständlich annimmt) oder das Ding an sich handelt, begriffen werden, sondern nur von den notwendigen Bedingungen a priori für mögliche Erfahrung. Die Antwort auf die Frage, mit welcher Art von Gegenstand man es zu tun habe, ist davon abhängig. S. 257/258 faßt Eberhard in jeweils vier Sätzen "die Theorie der bisherigen Metaphysik " zusammen und stellt sie "Herrn Kants Theorie "vergleichend gegenüber. Der erste dieser Vergleichspunkte beginnt auf der Ebene der sinnlichen Anschauung; der letzte endet beim Ding an sich.362 Kants Theorie wird folgendermaßen auf den Begriff gebracht: 1) Raum und Zeit sind die Formen der sinnlichen Anschauung aller unserer Erkenntniß; wir haben das übersetzt: sie sind die einfachsten Begriffe derselben, die Elemente, woraus sie zusammengesetzt ist; 2) sie sind in irgend etwas erkennbares völlig unauflöslich;/ 3) diese Formen der sinnlichen Anschauung, oder, diese einfachen Begriffe, haben bloß subjektive Gründe; 4) sie sind also bloße Erscheinungen, ohne irgend etwas, das nicht Erscheinung, oder, wie es Hr. Kant nennt, ein D i n g an sich, d. i. ein wahres Ding, ein ontos o n ist, von dem wir irgend etwas erkennen.
Das konfrontiert Eberhard mit der Leibnizischen Theorie: 1) Raum und Zeit sind nur Formen, d. i. die einfachsten Begriffe der Sinnenerkenntniß;
362 Somit handelt es sich um die Kurzfassung eines Teils des Argumentationsgangs des dritten Aufsatzes (dritte und vierte These) einschließlich des letzten Teils des zweiten Aufsatzes (erste und zweite These).
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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2) sie sind nur für die Sinnen, nicht aber fiir den Verstand und die Vernunft, unauflöslich; 3) sie haben außer den subjektiven auch objektive Gründe; 4) und diese objektiven Gründe sind keine Erscheinungen, sondern wahre erkennbare Dinge.
Bezüglich Punkt eins deutet Eberhard den nicht-diskursiven Charakter von Raum und Zeit bei Kant in Begriffe um. Aufgrund dieser Verschiebung ergibt sich fiir Eberhard folgende Differenz zu Leibniz: Nach Kant sind Raum und Zeit die einfächsten Begriffe aller theoretischen Erkenntnis, nach Leibniz nur der Sinnenerkenntnis. Die Umdeutung der Anschauung als Begriff nimmt als Folge Kant die synthetischen Urteile, die nur durch Anschauung und a priori nur durch die Zeit als reine Anschauung möglich sind. Punkt zwei bestätigt jeweils Punkt eins: Wenn Raum und Zeit begrifflich sind, dann können sie aufgelöst, d. h. in andere, nämlich (relationale) Verstandesbegriffe, überfuhrt werden, während eine Anschauungsform oder auch konkrete räumliche oder zeitliche Anschauung nicht in eine Verstandesvorstellung gewandelt werden kann. Durch den verschleiernden und von Kant aus gesehen fälschen Ausdruck, Raum und Zeit seien in nichts "Erkennbares" auflösbar, vermeidet Eberhard einen Widerspruch zu seiner Charakterisierung von Raum und Zeit als "einfächste Begriffe", denn eigentlich hätte er bei Punkt zwei (des Satzes zu Kant) statt "Erkennbares" das Wort "Begriffliches" verwenden müssen. Unter Punkt drei wäre der Kantische Satz korrekt formuliert, wenn man die von Eberhard zur Bestätigung der beiden vorherigen Punkte suggestiv eingefügte Apposition "diese einfachen Begriffe" wegläßt. Nach Leibniz gibt es fiir Raum und Zeit "auch objektive Gründe". Bei Punkt vier schließlich werden die objektiven Gründe benannt: Es handelt sich dabei nicht erneut um Erscheinungen, sondern um "wahre erkennbare Dinge", Dinge an sich. Damit wäre übergeleitet zum dritten Beweisziel (c) dieses Aufsatzes: "Die Gegenstände der äußern Empfindungen sind nicht bloß innere Gegenstände, sondern auch äußere, und ihre letzten Gründe sind Dinge an sich " (S. 259). Die These drückt die verschiedenen Ebenen der Gegenständlichkeit aus: innere Gegenstände, äußere Gegenstände und schließlich Dinge an sich. Eine äußere Empfindung hat zunächst ein inneres Objekt der Vorstellung (hier "innerer Gegenstand" genannt). Nach dem Satz vom Grund wird - etwa, weil innere (d. h. nur subjektive) Gründe fiir die Vorstellung des Objekts nicht hinreichen - vom inneren Objekt auf einen wirklichen "äußeren Gegenstand" jenseits der Vorstellung geschlossen. Eberhard bleibt dabei aber nun nicht stehen: Der äußere Gegenstand hat einen der Erkenntnis zugänglichen letzten Grund, das Ding an sich. Alle drei Instanzen stehen durch den Satz vom Grund, der (was Eberhard vertuscht) nicht immer im gleichen Sinn zu verstehen ist, miteinander in Beziehung: Das äußere Objekt bewirkt kausal die Empfindung, wodurch - unter Mitwirkung kausaler subjektiver Gründe das innere Objekt entsteht. Aus ihm kann logisch qua Erkenntnisgrund der äußere Gegenstand als solcher erkannt werden, dessen letzte Gründe kausal wie logisch zum Ding an sich fuhren.
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4 . D i e Kontroverse im engeren Sinn
Die zwei Instanzen vor den Dingen an sich schieben letztere sehr weit weg von aller Erkenntnisunmittelbarkeit. Diese Tendenz zur Sublimierung der Dinge an sich, wohl um dem Publikum ein gemeinsames Maß mit Kant vorzuspiegeln, wird dadurch verstärkt, daß Eberhard nicht frank von "Dingen an sich" spricht, sondern von den letzten Gründen, die diese Dinge an sich sein sollen. Dazu paßt es, daß Eberhard die Dinge an sich nicht mit dem Seienden (ta onta) gleichsetzt, sondern weniger konkret mit dem emphatischen "ontos onta", dem "wahrhaft Seienden", und damit mehr oder minder der platonischen Idee hinter den seienden Dingen. 3 6 3 Je nach den taktischen Erfordernissen kann er dann an ihnen die prinzipielle Erkennbarkeit oder ihre nur marginale Bedeutung in der Erkenntnis hervorkehren. Nochmals erklärt Eberhard, warum Empfindungen nicht bloß als von inneren, sondern als von äußeren Gegenständen verursacht gedacht werden müssen. Die inneren Gründe reichen zur Bestimmung dieser Vorstellungen nicht hin. Das ist nach Eberhard offensichtlich, wenn man dem Ich 3 6 4 alle eigene Kraft abspricht. Eine Vorstellung kann sich dann nur durch den Einfluß von etwas außerhalb der Seele bilden. Aber selbst wenn man sich die Seele als mit eigener wirkender Kraft ausgestattet denkt, muß es eine hinzukommende nicht-subjektive Ursache geben, die diese innere Kraft im konkreten Fall richtig lenkt. 365 Diese hinzutretende nicht-subjektive Ursache ist entweder "ein räumliches und sukzessives Ding außer [der Vorstellung]" oder ein "nicht-räumliches, nicht-sukzessives Ding", also im zweiten Fall die "unendliche Substanz" oder Gott (S. 260). Bei den raumzeitlichen Dingen außerhalb unserer Empfindung handelt es sich nach Eberhard noch nicht um Dinge an sich. Ein Ding an sich tritt erst - quasi ein Stufe später - im Fall der Verursachung der Vorstellung durch Gott auf (S. 260). Eine raumzeitlichgegenständliche Zwischeninstanz wäre in diesem Fall überflüssig. Eberhard weist darauf hin, daß es sich bei dieser Position um den Idealismus Berkeleys handelt. 366 (Man könnte aber auch den Berkeleys Position nicht unverwandten Okkasionalismus von Geulincx und Malebranche so charakterisieren.) Z u erschließen ist, daß Eberhard die zweite Komponente der Distinktion verwirft und sich als Realist mit der ersteren Möglichkeit der Annahme äußerer zunächst sinnlich wahrnehmbarer und dann dem Denken darstellbarer Gegenstände identifiziert. 367 Dabei bedarf er des Dings an sich nicht unmittelbar als Pendant zur Empfindung, sondern nur als des intelligiblen Letztgrundes zur intellektuellen Erkenntnis des äußeren Gegenstandes. 368 363 S. 248, 258, 261. Ahnlich werden die «Dinge an sich» nicht mit den «Gegenständen» bei Leibniz, Wolff und Baumgarten gleichgesetzt, sondern mit den "wahren Dingen" (S. 248). 364 S. 260 setzt Eberhard "Ich" und "Seele" gleich. 365 S. 260: "[...] so muß eine Ursach da seyn, die sie zu der Einen von den unendlich vielen möglichen Vorstellungen bestimmt." 366 Vgl. sein Werk "A Treatise conceming the Principles of Human Knowledge" von 1710. 367 Grundsätzlich sieht sich aber auch Eberhard in der Lage, von den sinnlichen Einzeldingen zur "notwendigen Substanz" (S. 261), d. h. zu Gott, der einfachen unendlichen Substanz (S. 263), zu gelangen. 368 Vgl. S. 261.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Auisätze und der Kantischen Replik
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Kants Position wird als ein Drittes, das sich von beiden Gliedern der Distinktion unterscheidet, ins Spiel gebracht. Nach Eberhard läuft sie auf das Erklärungsmuster hinaus: «Ich habe meine Vorstellungen, weil ich sie habe» (S. 260). Mit dieser Tautologie bleibe Kant den objektiv zureichenden Grund für die Vorstellungen schuldig. Mit Weishaupt sieht Eberhard deshalb darin die These "von der bloßen Subjektivität unserer Erkenntnis" (S. 260). 3 6 9 Von diesem Ansatz her könne Kant überdies Berkeleys Idealismus nicht widerlegen, denn da dieser auf die unendliche Substanz zentriert sei, könne ihn Kants Argumentation, die auf subjektive Gründe beschränkt sei, gar nicht treffen. 370 Tatsächlich beweist Kant in der "KrV" eigens die Existenz äußerer Gegenstände im Raum - als Bedingung der empirischen "Bestimmung meines [beharrlichen] Daseins in der Zeit" (KrV B 275). Daher kommt Kant nicht eine dritte Position jenseits der Dichtomie reale äußere Gegenstände versus Gott als objektiver Grund der Empfindungen zu. Kant selbst nimmt auf empirischer Ebene, also beim faktischen Erkenntnisvorgang, ähnlich wie Eberhard äußere Gegenstände als Ursache der Empfindungen an, nur erklärt er sie auf transzendentaler Ebene zu Phänomenen. Wie wir festgestellt haben, bleibt Eberhards Realismus nicht bei den realen äußeren Gegenständen stehen, sondern schreitet "real-dogmatisch"371 bis zu ihren zu erkennenden Realgründen: So bald wir genöthigt sind, äußere Gegenstände unserer E m p f i n d u n g e n , die räumliche u n d successive Dinge sind, a n z u n e h m e n , so müssen wir auch die Wirklichkeit von D i n gen an sich erkennen; denn die letzten objektiven G r ü n d e der concreten Zeit sind Vorstellungen, und die letzten objektiven G r ü n d e des concreten und wirklichen Raumes sind einfache u n r ä u m l i c h e Substanzen, D i n g e an sich, wahre Dinge, keine Erscheinun-
369 Eberhard beruft sich auf: Adam Weishaupt: Über die Gründe der Gewißheit der menschlichen Erkenntnis. Zur Prüfung der Kantischen Kritik der reinen Vernunft. Nürnberg 1788. Eberhard rezensierte das Werk im "Phil. Mag.", Bd. I, Stück 3, S. 347-355. 370 S. 261. Berkeleys Idealismus wird von Eberhard als "zusammenhängender" (ebd.) als der von Kant und Hume qualifiziert. - Nach Eberhard hat Kant die "Widerlegung des Berkeleyischen Idealismus" (S. 261) erst in der zweiten Auflage der "KrV" versucht (Eberhard verweist nur auf B 275; die "Widerlegung des Idealismus" umfaßt jedoch B 274-279). Tatsächlich findet sie sich schon in Kants Ausfuhrungen zum vierten Paralogismus der ersten Ausgabe, A 367-380. Darin finden sich auch die berühmten Worte, die auch gegen Eberhard gelten: "Also ist der transzendentale Idealist ein empirischer Realist und gesteht der Materie, als Erscheinung, eine Wirklichkeit zu, die nicht geschlossen werden darf, sondern unmittelbar wahrgenommen wird. Dagegen kommt der transzendentale Realismus [also Eberhards Position] notwendig in Verlegenheit, und sieht sich genötigt, dem empirischen Idealismus [also Hume!] Platz einzuräumen, weil er die Gegenstände äußerer Sinne für etwas von den Sinnen selbst Unterschiedenes und bloße Erscheinungen für selbständige Wesen ansieht, die sich außer uns befinden; [...]" (KrVA371). 371 Vgl. Eberhard: Abriß, S. 2, § 3 Anmerkung. Hier stellt Eberhard seine Position der Kants knapp gegenüber: "Die Philosophie, welche die ersten Gründe der menschlichen Erkenntniß für unsinnlichc Begriffe hält, die auch außer den Vorstellungen Realität haben, ist die real-dogmatischc, oder der Realismus; diejenige hingegen, welche diese ersten Gründe bloß für ursprüngliche Formen der Seele hält, die kritische, oder der kritische Idealismus."
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
gen, ontos onta, und so fern sie außer der Sphäre der Sinne liegen, und/ nur von dem Verstände können vorgestellt werden, Noumena.372 Eberhard koppelt seinen Nachweis der Erkenntnis der Wirklichkeit von Dingen an sich an die Analyse der äußeren Gegenstände in Raum und Zeit. Aus der objektiven Letztbegründung des Raums und der Zeit erschließt er als Dinge an sich, "einfache unräumliche [soll wohl heißen: unsinnliche] Substanzen" und Elementarvorstellungen. Das bedeutet zunächst, "daß Raum und Zeit zugleich subjektive und objektive Gründe haben" und daß "ihre letzten objektiven Gründe Dinge an sich sind" (S. 262). Damit ist aber nicht gemeint, Dinge an sich seien ausschließlich die objektiven Gründe von Raum und Zeit. Der Status des Letztgrundseins läßt sich vielmehr verallgemeinern: Was als objektiver Letztgrund des Gehalts einer räumlichen oder zeitlichen Vorstellung (d. h. eines inneren Objekts) notwendig zu denken ist, 373 das ist positiv als ontos on erwiesen, als Ding an sich.
Macht Kant Eberhard Zugeständnisse? Kant verteidigt in "ÜE" 374 nicht die aus der "KrV" vertraute schwächere These, Raum und Zeit besäßen bloß subjektive Gründe als Formen der Anschauung, ein Standpunkt, der ihm auch von Eberhard S. 258 zugeschrieben wird, sondern tritt mit Nachdruck Eberhards Aussage bei, Raum und Zeit hätten sowohl subjektive wie objektive Gründe. Dies sei auch die Aussage der "Kritik".375 Konkret stimmt Kant den folgenden zwei brisanten Sätzen zu: (a) «Die letzten objektiven Gründe von Raum und Zeit sind Dinge an sich (und damit keine Erscheinungen).» 376
372 S. 261/262. Der Begriff "Noumena" teilt in dieser Textstclle (S. 262) die Dinge an sich nicht, wie es scheinen möchte, in zwei Klassen ein, in "ontos onta", die nur gedacht und andere, die auch sinnlich angeschaut werden können, sondern sagt, Dinge an sich liegen als "wahre Dinge" überhaupt "außerhalb der Sphäre der Sinne" und können deswegen nur "von dem Verstände vorgestellt werden". Deshalb laßt sich der Terminus "Dinge an sich" synonym setzen mit "Noumena". (Um sich klarer auszudrücken, hätte Eberhard statt der schillernden Konjunktion "sofern sie" ein "weil" verwenden sollen.) - Eberhard verwendet damit den Ausdruck "Noumena" (vgl. auch S. 268 und S. 279) in positiver Bedeutung (im Sinne wirklich existierender Verstandeswesen oder intelligibilia). Kant hingegen läßt ihn nur in negativer Bedeutung zu, um zu sagen, daß mit den Mitteln der Erfahrungserkenntnis die Möglichkeit von Dingen an sich nicht auszuschließen ist (KrV B 342-343). 373 Eberhard nennt das "mit Gewißheit Dinge an sich [annehmen]" (S. 262). 374 ÜE 207 bis 208, 1. Abs. Es handelt sich dabei um den Beginn von Punkt C des ersten Abschnitts. In der Folge (ÜE 208, 2. Abs. bis 210, 2. Abs.) wird dann ausgeführt, daß das Einfache nicht in der Sinnenvorstellung sein kann. 375 ÜE 207; Kant bezieht sich dabei auf S. 262 und S. 258, Nummer 3 und 4, des "Phil. Mag.". In starken Worten schließt sich Kant, ÜE 207, zweimal der These an: "Nun wird ein jeder Leser der Kritik gestehen, daß dieses gerade meine eigene Behauptungen sind, Herr Eberhard also [...] nichts wider die Kritik behauptet habe." Weiter unten heißt es: "[...] welches alles die Kritik buchstäblich und wiederholentlich gleichfalls behauptet." 376 S. 262, S. 258/ÜE 207; Kant sperrt allerdings die Worte "letzten objectiven Gründe".
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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(ß) «Die letzten objektiven Gründe von Raum und Zeit sind erkennbar.»377 Behauptung (a) erläutert Kant dahingehend, daß zwar "die Dinge an sich" die Funktion letzter objektiver Gründe erfüllen, sie als solche aber nicht "im Räume und der Zeit" zu suchen sind. 378 Es handelt sich bei diesen objektiven Gründen um Noumena, um bloße Gedankendinge als dem "außer- oder übersinnlichen Substrat" von Raum und Zeit. Diese Position findet sich etwas versteckt bereits in der "KrV". Kant spricht dort allerdings nicht direkt von den objektiven Gründen von Raum und Zeit, sondern von den - im Zusammenhang nicht anders als objektiv zu deutenden - "intelligiblen ersten Gründe[en]" "aller Erscheinungen" (KrV B 700). Da wir sie "gar nicht kennen" (ebd.), können sie in keinster Weise zur Naturerklärung dienen. Raum und Zeit sind dabei im Begriff der Erscheinung mitinbegriffen. 379 Gegen Eberhard wendet Kant in "ÜE" ein, jener weise genau diese sich nicht als Erkenntnis qualifizierende Bestimmung der objektiven Gründe von Raum und Zeit als bloße Gedankendinge zurück und wolle die Dinge an sich als einfache Teile der Erscheinungen zu einem Gegenstand der Erkenntnis machen (ÜE 208). Wenn nach Kant die Erscheinung sinnlich ist, so muß der dazu denkbare objektive Grund der Erscheinung - Kant spricht in diesem Zusammenhang von einem "negative[n]" Denkschritt (ÜE 209 Anm.) - nicht-sinnlich sein, also ein Ding an sich im Sinn eines Noumenon. 380 Im Blick auf Raum und Zeit und deren objektive Gründe kann man das Noumenon (im problematischen Denken) wohl noch näher bestimmen als die Seele.381 Satz (a) impliziert auch die Annahme eines subjektiven Grundes fiir Raum und Zeit. Das kann empirisch gedeutet werden als die Verwendung der Raum- und Zeitvorstellung beim faktischen Erkenntnisvollzug. Konstitutiv fiir Kants "Idealis377 S. 258/ÜE207. 378 ÜE 207; vgl. auch KrV B 520, 522, 563. 379 Ebenso ist nach KrV B 565 zu denken, daß die "Erscheinungen" "selbst noch Gründe haben, die nicht Erscheinungen sind". Die "nichtsinnliche Ursache" der raum-zeitlichen Vorstellungen (Kant verwendet hier unachtsam "Ursache" für "Grund"!) "ist uns gänzlich unbekannt", denn dieser nur denkbare Grund kann, da er nicht in Raum und Zeit vorgestellt werden kann, "nicht als Objekt an[ge]schau[t]" werden (KrV B 522). Vgl. auch KrV A 379/380 und B 344; Prol. 354 und 361 unten; KpV 9. 380 Ähnliches gilt auch für das Verhältnis Zusammengesetzt/Einfach: Der Grund der zusammengesetzten Erscheinung kann nur einfach sein. In beiden Fällen handelt es sich um das Verhältnis des gegebenen Bedingten zum bloß gedachten Unbedingten. Damit werden aber keine Aussagen über die Beschaffenheit des Unbedingten an sich gemacht (ÜE 209 Anmerkung). 381 KrV B 422: "Eben so kann das Subject, in welchem die Vorstellung der Zeit ursprünglich ihren Grund hat, sein eigen Dasein in der Zeit dadurch nicht bestimmen, und wenn das letztere nicht sein kann, so kann auch das ersterc als Bestimmung seiner selbst (als denkenden Wesens überhaupt) durch Kategorien nicht stattfinden." Das Wort "Subjekt" bezeichnet hier keineswegs das epistemologische Konstrukt des transzendentalen Subjekts, sondern die problematisch denkbare Seele (als ein Ding an sich). Während der objektive Grund der Zeit problematisch in einem Ding an sich zu denken ist, ist der subjektive Grund der Zeit die Form der Anschauung (des empirischen und transzendentalen Subjekts). Als Letztgrund von allem ist Gott zu denken (KrV B 724).
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
m u s " 3 8 2 ist aber erst die wichtigere transzendentale D e u t u n g v o n R a u m u n d Zeit als den B e d i n g u n g e n der M ö g l i c h k e i t der Rezeption der Mannigfaltigkeit v o n Sinnesdaten. D a s Epitheton "subjektiv" bezieht sich d a n n auf das epistemologische Konstrukt der
transzendentalen
Subjektivität. 3 8 3 W i e
allen
transzendentalen
Bedingungen
k o m m t den Formen der A n s c h a u u n g der Status v o n Erkenntnissen i m strengen S i n n zu, nicht nur der v o n problematischen D e n k b e s t i m m u n g e n . A u c h auf dieser Ebene nach einer Verbindung des Begriffs mit korrespondierender A n s c h a u u n g zu suchen, wäre absurd. 3 8 4 D i e B e h a u p t u n g (ß) wird also durch Kants Erläuterungen zur B e h a u p t u n g ( a ) bereits entkräftet. Etwas später legt Kant klar, daß das nur denkbare D i n g an sich m i t allen i h m eventuell durch das D e n k e n als d e n k n o t w e n d i g zugesprochenen Attributen, etwa der Einfachheit, "für u n s [.] gänzlich unerkennbar bleibt" ( Ü E 2 0 9 ) . B e h a u p t u n g (ß) resultiert also w o h l nur aus einer sprachlichen Unachtsamkeit Kants. Er wollte Eberhards Aussage z u s t i m m e n , die objektiven G r ü n d e v o n R a u m u n d Z e i t seien D i n g e an sich. D a Eberhard für "Dinge an sich" den Term "wahre, erkennbare Dinge" verwandte, lastete sich Kant m i t der fremden Formulierung unversehens e i n e für i h n unakzeptable T h e s e auf. N a c h Kant gibt Eberhard die objektiven G r ü n d e v o n R a u m u n d Zeit, die als D i n g e an sich keine Erscheinungen sein dürfen, fiir einfache Teile der Erscheinungen aus ( Ü E 2 0 7 / 2 0 8 ) . M i t d e m doppeldeutigen W o r t "Gründe" verdecke er den d a m i t 382 Siehe die auf Kant selbst zu beziehende Anmerkung in KpV 27/28. 383 Unter der "transzendentalen Subjektivität" (bzw. dem "transzendentalen Subjekt") verstehen wir den Inbegriff aller epistemologischen Bedingungen auf Seiten der erkennenden, bzw. der Anspruch auf Geltung von (Erkenntnis-)Urteilen Erhebenden Instanz, also die systemische Struktur von - verkürzt gesagt - Apperzeption (und Spontaneität), Formen der Anschauung, Rezeptivität, Kategorien und Kompetenz der formalen Logik (insbesondere der Logik des Urteils). (Nur unter diesen Voraussetzungen ist der Gebrauch einer empirischen Sprache erst möglich, die es dann wiederum erlaubt, den transzendentalen Funktionszusammenhang zu erschließen, darzustellen und unter ihn die Mannigfaltigkeit der Erfahrung zu bringen.) Korrelativ bezogen ist das transzendentale Subjekt auf das empfindungsmäßig Gegebene. Das Objekt ist seiner Möglichkeit nach vom transzendentalen Subjekt abhangig, seiner Wirklichkeit nach zusätzlich abhängig vom tatsächlich Gegebenen. Das Konzept einer transzendentalen Subjektivität unterscheidet sich von einem objektabhängig-ontologischen Denken wie von einem Denken, das sich von der (selbstreflexiven) Bestimmung einer denkenden Substanz her versteht. Es steht gegen beide damit bezeichneten Faktizitätsfronten. Der Zweck der transzendentalen Subjektivität liegt nicht, wie es der Name nahelegen könnte, im transzendentalen Subjekt selbst und seiner Erkenntnis - das noumenale könnte auf diesem Wege ohnehin nicht eruiert werden (KrV A 350, B 16$) -, sondern im Objekt (insofern ein Objekt nicht als Vorhandenes, sondern als zu konstituierend gedacht werden muß) oder - anders gesagt - in der Sackhaltigkeit unseres Urteilens. Die Bezeichnung "transzendentales Subjekt" darf in diesem Sinn freilich nicht mit dem verwechselt werden, was Kant etwa in B 520 der "KrV" darunter versteht, nämlich "das eigendiche Selbst, so wie es an sich existiert". 384 Kant hat den methodischen Aspekt der Transzendentalphilosophie kaum beleuchtet. Über die Unbedürftigkeit der Erkenntnis - der transzendentalen Erkenntnis im Sinn einer Verbindung von Punkt (c) mit (b) unserer Bestimmung von "transzendental" - gegenüber der Anschauung siehe KrV A 402: "Nun ist zwar sehr einleuchtend, daß ich dasjenige, was ich voraussetzen muß, um überhaupt ein Object zu erkennen, nicht selbst als Object [d. h. als Synthesis von Anschauung und Begriff] erkennen könne, [...]."
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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aufgerissenen Widerspruch. Mit "Gründe" - da, logisch gesehen, "Teile doch auch Gründe der Möglichkeit eines Zusammengesetzten" seien (ÜE 208) - bezeichne Eberhard reale "Teile" von Erscheinungen und behaupte trotzdem, diese Gründe seien nicht-sinnlich. Damit solle dem Leser vorgegaukelt werden, ein Vermögen der Erkenntniß des Obelsinnlichen durch den Verstand selbst an den Gegenständen der Sinne bewiesen zu finden.385
Kant stimmt also dem Wortlaut von (a) zu, inhaltlich jedoch versteht er etwas fundamental anderes als Eberhard, keine Realgründe als erkennbare wirkliche Verstandeswesen, sondern nur ein denknotwendiges Oppositum zu Raum und Zeit, bzw. Erscheinung (und in diesem Sinn ein bloßes Gedankending). Unter der Bedingung der Analytizität der Urteile muß Eberhard die letzten objektiven Gründe von Raum und Zeit und die bildliche Raum-Zeit-Erscheinung zusammenbringen. Dadurch kann Eberhard gar nicht wie Kant eine strenge Unterscheidung zwischen Phänomen und Noumen machen. Da er aus immanenten theoretischen Gründen zu dieser Position gezwungen wird, erscheint es nicht ganz gerecht, wenn Kant ihn hier der wirklichen Täuschung beschuldigt,386 ohne auf seinen theoretischen Hintergrund einzugehen. Von Kant aus gesehen, können letzte Gründe keine Teile der Erscheinungen sein, von Eberhard aus betrachtet, müssen sie es, denn Grund und Begründetes müssen letzdich koinzidieren, soll das Theorem von der Analytizität der Urteile respektiert bleiben. Während Eberhard die letzten Gründe in den Erscheinungen suchen muß, kann sie Kant nur zu den Erscheinungen hinzudenken (ÜE 209). Somit ist es fiir Kant ausgeschlossen, die letzten Gründe in irgend einer Form als Kausalrelation zu den Raum-Zeit-Erscheinungen zu interpretieren.387 Nach Kant kann der Status des Einfachen'^ keiner empirischen Vorstellung auch wenn es sich um eine faktisch nicht-empfindbare ("d. i. [eine] in der Anschauung [nicht mehr] mit Bewußtsein wahrgenommen[e]")38' handelt - zukommen. Alle empirische Erscheinung ist komplex, ohne daß das logisch dazugehörige Einfache in einer empirischen Vorstellung real aufgewiesen werden könnte. Das bedeutet, daß die Unterscheidung "Erscheinung'VDing an sich selbst" (ÜE 208) keine graduelle ist.
385 ÜE 208. 386 ÜE 207: "Wir haben es mit einem künstlichen Manne zu thun, der etwas nicht sieht, weil er es nicht sehen lassen will." 387 Nach Kant ist weder eine Kausalbeziehung zwischen dem Ding an sich und der Erscheinung denkbar noch eine Erklärung der Aflfektion des Subjekts mit dem Mannigfaltigen der Anschauung kausal durch das Ding an sich. Auf der Ebene der Transzendentalphilosophie kann auch das als für die Möglichkeit von Erkenntnis notwendig vorauszusetzende Gegebene nicht als Ursache für die Erkenntnis bezeichnet werden. "Ursache" ist eine Kategorie, die wie alle Kategorien das Gegebene bereits voraussetzt, um überhaupt (zum Zweck der Erkenntnis) Bedeutung und Gebrauch zu finden (KrV B 105-106, 146150,178,342,344). 388 Kant ergänzt unter Punkt C (ÜE 208-210) seine Ausführungen über das Einfache aus Punkt B. Vgl. dazu Kapitel 4.5.2. 389 ÜE 208; vgl. auch ÜE 209, 210.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
Wirkliches Erkennen und problematisches Denken sind prinzipiell geschieden.390 Das Einfache findet erst statt, wenn sich die Vernunft "ein Zusammengesetztes aus Substanzen" (ÜE 209) als Ding an sich denkt, denn dieser (von der "besondere[n] Beschaffenheit unserer Sinne" abstrahierende) Gedanke impliziert, daß es sich die Vernunft als "schlechterdings aus einfachen Substanzen bestehend denken müsse" (ÜE 209).
4.5.4. "Über das Gebiet des reinen Verstandes" Durch die Beweisgänge dieses Aufsatzes soll das Gebiet des Verstandes, das der kritische Idealismus in zu enge Grenzen gesetzt habe, ausgedehnt werden. 3 ' 1 Deshalb formuliert Eberhard auch am Ende dieses Textes am ausfuhrlichsten seine Hauptthese, die eigentliche Kritik der reinen Vernunft finde sich schon bei Leibniz und enthalte "alles Wahre der Kantischen", "aber außerdem noch mehr" (S. 289). Beim Nachweis der Ausweitbarkeit des Gebietes des Verstandes über den Bereich möglicher sinnlicher Anschauung hinaus stützt sich Eberhard auf die Abstraktion. Aus Kants Sicht fuhrt jedoch dieser Weg im Kreis. Begreift man den Verstand primär als das Vermögen der Abstraktion, schmiedet man ihn endgültig an die Sinnlichkeit, von der man ihn doch emanzipieren wollte. Nach Eberhard hebt die Abstraktion aus auf das Individuelle gehenden sinnlichen Vorstellungen die allgemeinen Wesensbestimmungen des (nur oberflächlich sinnlichen) Dings heraus, nach Kant kann sie, da sie von sinnlicher Anschauung ausgeht, nur sinnliche Vorstellungen in inhaltlich reduzierterer Gestalt hervorbringen. Abstrakte Vorstellungen mögen unsinnlich wirken, wenn sie aus der Sinnlichkeit stammen, können sie nicht, wie Eberhard behauptet, Anspruch auf einen rein intellektuellen Status erheben. Die unterschiedliche Einschätzung der Abstraktion hängt an einer unterschiedlichen Theorie des Verstandes bei Kant und Eberhard. Die beiden Paradigmen der ontologischen Metaphysik und der Transzendentalphilosophie stehen sich hier enggefiihrt gegenüber. Nach Eberhard ist der Verstand das Vermögen der (metaphysischen) Abstraktion (als Wesenserkenntnis), nach Kant das Vermögen der Synthesis möglicher Anschauung nach einem System von reinen StammbegrifFen (Kategorien).392 Abstraktion ist deshalb für Eberhard etwas Primäres, Konstitution von Erkenntnis und zwar von Verstandeserkenntnis, die objektiv Verstandeswesen repräsentiert -, fiir Kant etwas Sekundäres, nur ein Fall der logischen Aufbereitung von bereits aus reiner Kategorie und Anschauungsmaterial synthetisierten Erkenntnissen. Auch wenn den 390 In ÜE 208 stellt Kant "dem Grade unseres Wahrnehmungsvermögens'' den "Unterschied in den Sachen" - nämlich, ob es sich um ein Phänomen oder Noumen handelt - gegenüber, bzw. die "Erkenntnis der Dinge als Erscheinungen" und den "Begrifft.] von ihnen, was sie als Dinge an sich selbst sind". 391 S. 289 und S. 263. 392 KrV B 135, 145, 244 und A 126.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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bei Kant abstrakten Vorstellungen die Anschauungsunmittelbarkeit fehlt, sind sie trotz ihres konstruktivistischen und auf den ersten Blick ausschließlich begrifflichen Charakters jederzeit mittelbar durch sinnliche Data zu veranschaulichen und in diesem Sinne hinreichend legitimiert.393 Wegen ihrer sekundären Funktion im Zusammenhang mit bloßer Erkenntnisökonomie thematisiert Kant die Abstraktion nicht auf transzendentalphilosophischer Ebene. Für Eberhard hingegen ist Kants Theorie des Verstandes ein Rudiment der abstraktionstheoretischen Auflassung von Verstand, und die Kantischen Kategorien sind ein Restbestand an - im Sinne Eberhards - abstraktiv gewonnenen Verstandesbegrififen. Eine Verkomplizierung liegt darin, daß Eberhard seine metaphysische Abstraktionstheorie mancherorts so verbalisiert, als läge die - begrifflich streng von ihr zu unterscheidende - empiristische Abstraktionstheorie vor, ja man kann durchaus behaupten, er schwanke - je nach taktischer Erfordernis, ob die Gegenwart des Sinnlichen seiner Argumentation jeweils nützt oder nicht - zwischen beiden Theorien. Kant behandelt Eberhards Aussagen zur Abstraktion pauschal so, als verträte Eberhard die empiristische Theorie. 394 Während die metaphysische Abstraktionstheorie mit Kants Ansatz völlig unvereinbar ist, kann Kant die empiristische Abstraktionstheorie modifiziert integrieren.395 Welchen Status Kant der Abstraktion innerhalb seiner Philosophie zumißt, zeigen schon die Worte "diese [die empirischen Vorstellungen] zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder zu trennen" (KrV B 1). Hier spricht Kant von logisch-formalen Verfahren der Begriffsbildung unter der Voraussetzung von bereits konstituierten empirischen Vorstellungen. Die drei Verben verweisen auf die drei Handlungen ("actus") der "Abstraktion" ("zu trennen"), "Komparation" ("zu vergleichen") und Reflexion ("zu verknüpfen") aus Kants "Logik".396 Die Abstraktion ist dabei nicht bloß von der Erfahrung (und damit der transzendentalen Ebene der Bedingungen der Möglichkeit der Erfährung und ihrer Gegenstände) abhängig, sondern gegenüber Komparation und Reflexion "nur die negative Bedingung" 397 zur Gewinnung von empirischen Allgemeinbegriffen (komparativ-allgemeinen Begriffen).398 Auf tran-
393 Man verdeutliche sich das an dem auf diese Art abstrakt zu nennenden Begriff der Farbe. Während dem Begriff "Farbe" keine unmittelbare Anschauung entspricht, korrespondiert den Begriffen, aus denen der Begriff "Farbe" als deren gemeinsames Merkmal abgezogen ist, etwa "Grün" und "Rot", eine "grüne", bzw. "rote" Anschauung. 394 In der "Amphibolie der Reflexionsbegriffe" macht Kant bei der Behandlung von Locke (KrV B 327: "als empirische, oder abgesonderte Reflexionsbegriffe") und Leibniz (KrV B 326: "den abgesonderten formalen Begriffen seines Denkens") jeweils ein Abstraktionsmoment deudich, das den unterschiedlichen Status der empiristischen bei Locke und metaphysischen Abstraküonstheorie bei Leibniz andeutet ("empirische" bzw. "formalen"). Auch hinter den Ausdrücken, Leibniz "intellektuierte" die Erscheinungen und Locke "sensifizierte" die Verstandesbegriffe (KrV B 327) steht die je spezifische Abstraktionstheorie. Bei Kant gibt es also ein - wenngleich nicht näher artikuliertes - Bewußtsein der Verschiedenheit der beiden Formen von Abstraktion. 395 Darauf weist der erste Absatz der Einleitung der zweiten Ausgabe der "KrV" hin (B 1). 396 AK IX, S. 94 (§ 6). 397 AK IX, S. 95 (§ 6). 398 Vgl. GMS 391, Z. 6-8, und ÜE 216, Z. 3-11.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
szendentaler Ebene selbst spielt bei Kant die Abstraktion keine Rolle. So wehrt er sich gegen die Erklärung von Raum und Zeit als Abstraktionen 399 und des Ursprungs der Kategorien durch Abstraktion. 400 Eberhard stellt nicht bloß die beiden Theorien des Verstandes gegenüber, sondern beansprucht, von seinem Boden aus die Kantische Theorie erklären zu können und in diesem Sinn Stellen auszuweisen, wo die Eberhards Meinung nach engere Kantische Theorie in die weitere (von Leibniz/Eberhard) überfuhrt werden kann. Insbesondere will Eberhard aufzeigen, daß auch die Kantische Theorie immanent wenigstens an die Schwelle zur Erkenntnis der Dinge an sich fuhren muß. 401 Dies wird in zwei Untersuchungsgängen unternommen. Zuerst geht Eberhard der Frage nach, was es heiße, der Sinnlichkeit werde ein Stoff gegeben, den der Verstand bearbeiten solle.402 Anschließend wird Kants Ablehnung der intellektuellen Anschauung behandelt. Doch zunächst ist festzuhalten, was Eberhard zu Beginn des Aufsatzes als seine Argumentationsvoraussetzung mitbringt, nämlich als Resultat der "bisherigen Untersuchungen" (S. 263) das, was sich folgendermaßen als These formulieren läßt: «Von den Erscheinungen verschiedene Dinge an sich existieren.»403 Die These impliziert neben dem wirklichen Dasein der Dinge an sich ihre Erkennbarkeit. Sie werden jedoch nicht individuell durch die Sinne, sondern lediglich nach ihren allgemeinen Bestimmungen durch den reinen Verstand erkannt, 404 wobei allerdings dieser Erkenntnis nicht weniger Realität zukommt, als würde ein sinnlicher Gegenstand in seiner Individualität sinnlich erkannt. 405 Notwendig 406 sind die Dinge an sich zunächst insofern, als ohne sie Erscheinung nicht möglich wäre, da jede Erscheinung gegründet sein muß (S. 265); zweitens gibt es wenigstens ein Ding an sich, das aus sich selbst heraus notwendig existieren muß, das also nicht nicht sein kann, nämlich Gott. 407 Genauer handelt es sich bei den Dingen an sich um "einfache 399 KrV B 38 und B 46; ebenso ÜE 199/200 Anm. 400 KrV B 123; dasselbe schon vor Abschluß der "KrV" in Kants Brief an Hera vom 21.2.1772; AK X, S. 130, Z. 28-33. 401 S. 275: "Einige Anmerkungen über dieses Verhältnis des Verstandes zu der Sinnenerkenntniß fuhren uns vielleicht zu dem Punkte, wo sich der kritische Idealismus in den Dogmatismus herüber fuhren läßt, d. i. zu dem Punkte, wo wir sehen, wie der reine Verstand aus der Sinnenerkennmiß diejenigen Vorstellungen erhält, mit denen er etwas von den Dingen an sich erkennt." Der Gedanke der Überführung wurde S. 265 dadurch vorbereitet, daß es nach Eberhard eine kritische Philosophie geben könne, die dogmatisch sei. Eberhard tritt damit Kants Ansicht der Entgegensetzung von Dogmatismus und Kritizismus entgegen (ebd.) und postuliert gleichsam die Aufhebung des Kritizismus im Dogmatismus (von Leibniz), ohne daß damit dem Kritizismus ein Unrecht geschähe. Seine eigene Position bezeichnet Eberhard hier als "kritischen Dogmatismus" (S. 276). 402 Indirektes Zitat S. 275. Der erste Untersuchungsgang reicht von S. 275-279, der zweite beginnt S. 280 und reicht bis S. 282. 403 Vgl. S. 263. 404 S. 263,269,270,283/284. 405 S. 272. Da die realen Einzeldinge die allgemeinen Bestimmungen enthalten, müssen jene Bestimmungen real bleiben, wenn man sie vom sinnlich gegebenen Einzelding abgezogen betrachtet. 406 S. 269. 407 Vgl. Leibniz: Monadologie; § 38.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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Substanzen", die Eberhard in die "endlichen" (nämlich, wie zu erschließen ist, die Seelen und die Monaden) und die "unendliche" (Gott) spezifiziert.408 Unter "Monaden" versteht Eberhard abweichend von Leibniz nur "die einfachen Elemente der Körper" (S. 268). Leibniz hingegen erklärt auch Gott und die Seelen über den Begriff der Monade. 40 ' Alle drei Typen von Dingen an sich liefern nach Eberhard einen "objektiven" Grund (S. 265). Bevor die beiden Untersuchungsgänge verfolgt werden können, ist zu klären, wie Eberhard Kants Theorie des Verstandes darstellt410 und von seiner eigenen 411 absetzt. In der Explikation verschärft Eberhard Kants Theorie, da er nicht zwischen Denken und Erkennen und der dabei jeweils andersartigen Rolle der Kategorien unterscheidet. Bei der Darlegung seiner Theorie des Verstandes grenzt Eberhard erst jetzt etwas genauer "Verstand" von "Vernunft" ab.
Kants Theorie des Verstandes (nach Eberhard) Während nach herkömmlichem Verständnis dem Verstand die Erkenntnis eines "Reichs" (S. 264) von Verstandeswesen mittels einer unbestimmten Anzahl abstraktiv gewonnener Verstandesbegriffe offensteht, schränkt Kant erstens den Verstand auf die Erkenntnis einer zahlenmäßig geringen Gruppe von reinen Verstandesbegriffen, die Kategorien, ein. 412 Dadurch wird gleichsam dem Verstand ein "Boden" (S. 264) bereitet. Bei den Kategorien handelt es sich um die höchsten abstrakten Begriffe;413 sie stammen damit nicht ursprünglich aus dem Verstand, sondern sind das Ergebnis der Abstraktionstätigkeit des Verstandes. Somit erweist sich Kants Theorie des Verstandes (wiederum nach Eberhard) als Teiltheorie seiner eigenen dogmatischen Abstraktionstheorie des Verstandes. Kants Kategorien werden von Eberhard als "ontologische Begriffe"414 nicht bloß nominell bezeichnet, was von Kant aus gesehen noch akzeptabel wäre, denn es widerstritte seinem Programm einer Reduzierung von Ontologie 408 409 410 411 412
S. 263 und S. 268. Leibniz: Monadologie; § 47. Hauptsächlich S. 263-265, aber etwa auch S. 274. Hauptsächlich S. 265-274, aber etwa auch S. 276-278. Das Gebiet des Verstandes umschließt nur mehr "die wenigen allgemeinen Begriffe, denen er ausschließungsweise den ehemals mehr umfassenden Namen der Kategorien zugeeignet hat" (S. 264). 413 S. 271/272; S. 276 sagt Eberhard: "Wir können keine allgemeinen Begriffe haben, die wir nicht von den Dingen, die wir durch die Sinnen wahrgenommen, oder von denen, deren wir uns in unserer eigenen Seele bewußt sind, abgezogen haben." Danach entstehen alk allgemeinen Begriffe durch Abstraktion (die zudem empiristisch gefärbt ist). Die spezielle Stellung der Kategorien erläutert Eberhard S. 277: "Der Verstand steigt nämlich, vermittelst der Abstraktion, zu immer höhern und allgemeinern dingen, bis zu den höchsten und allgemeinsten hinauf, die in den ontologischen Begriffen oder den Kategorien vorgestellt werden. Alle diese Gattungen und Arten der Dinge unterscheidet der Verstand durch ihre wesentlichen Stücke und ihre eigentümlichen Attribute." Vgl. auch S. 282/283. 414 S. 277. Die Kategorien sind die "höchsten" oder "ontologischen" Begriffe der Abstraktion.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
und ontologischen Begriffen zu Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung nicht, sondern vielmehr der Sache nach gemeint. Zwischen Ontotogie und Transzendentalphilosophie soll offensichtlich ein Übergang415 geschaffen werden, den die Ontologie dominiert. Zweitens können die Kategorien nur auf "Erscheinungen" 416 angewandt werden. Die Verstandesbegriffe sind "bloße Kategorien, die ohne Anschauung gar keine Vorstellungen geben". 417 Vom eng bemessenen Boden ist in diesem Sinn also nur eine eingeschränkte "Nutzung" (S. 264) möglich. Weder erkennt der Verstand "das Geringste" (S. 263) - also "nichts von der Wirklichkeit" und "nichts von den Eigenschaften" (ebd.) - der Dinge an sich, noch spielen die Dinge an sich in irgendeiner Form - etwa als reale "objektive Gründe" (S. 265) des Erkannten - eine Rolle bei der Konstitution von Erkenntnis, bzw., wie es nach Kant korrekter heißen müßte, bei der Erklärung der Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis. 418 Die bloße Subjektivität der Erkenntnis wird damit auf zweifache Art besiegelt: Das als Erscheinung sinnliche Gegebene gilt nur subjektiv, ist also "ohne objektive Gründe" (S. 265). Die Kategorien repräsentieren ebenso wenig objektive Gründe, denn ihr "Geschäft" (ebd.) liegt lediglich darin, die "Materie" der Erscheinungen "zu verbinden": 419 Die Erscheinungen der Körperweit sind also bloße [kategorial geordnete] subjektive Modifikationen der Sinnlichkeit, die keinen objektiven Grund haben, gar nichts von dem Objekte vorstellen; [...] [S]o sehen wir uns in ein Zauberland versetzt, nachdem wir aus dem Reiche des Verstandes vertrieben sind; wir leben unter bloßen Traumbildern, und sind nicht sicher, ob wir uns selbst für etwas Besseres halten dürfen. [...] Es würde nichts wirklich seyn, als meine Vorstellungen. (S. 2 6 3 , 2 6 4 und 265).
Hinter diesen Worten ("Zauberland", "Traumbilder" u. dgl.) steckt der Generalvorwurf an Kant, bestenfalls einen subjektiven Idealismus ä la Berkeley zu vertreten. 420 Dazu ist zunächst zu bemerken, daß Eberhard Kants Position in radikalisierter Form darstellt. Die Kategorien dienen ausschließlich dazu, Anschauungen (Eberhard spricht in diesem Fall von "Erscheinungen" im Sinne von "Anschauungen") synthetisch zu verbinden. 421 Nach Kant kann erst durch eine solche Vereinigung des indivi-
415 Vgl. S. 275. 416 S. 265; vgl. auch S. 268/269. 417 S. 263. A u f S . 282/283 zitiert Eberhard eine Stelle aus der "KrV" (A 253): "Die allgemeinen Begriffe der Ontologie oder die Kategorien sind, nach dem kritischen Idealismus, «bloße Funktionen des Denkens, wodurch mir kein Gegenstand gegeben, sondern nur das, was in der Anschauung gegeben werden mag, gedacht wird.»" 418 Vgl. S. 284-288, Kant-Thesen 1-7. 419 Ebd., vgl. auch S. 264. 420 S. 17 hatte Eberhard Berkeleys Position "materiellen Idealismus" genannt. 421 S. 265. Das präzisierende Wort "synthetisch" findet sich allerdings bei Eberhard nicht - Gewöhnlich gebraucht Kant "Erscheinung" im Sinn von "Phaenomenon" als Synthesis von Anschauung und Begriff (vgl. KrV A 249). Gelegentlich verwendet Kant "Erscheinung" nur ftir das gegebene Mannigfaltige der Anschauung (z. B. KrV B 122 = A 90).
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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duellen (Anschauung) und allgemeinen (Begriff, letztlich reiner Verstandesbegriff) Moments "Erkenntnis" möglich werden. 422 Eberhard verwendet fiir "Erkenntnis" den weiteren Ausdruck "Vorstellung".423 Für Kant hingegen ist ein bloßer (widerspruchsfreier) Gedanke ebenfalls eine "Vorstellung",424 und Kategorien, obwohl ihnen nach Kant objektive Bedeutung nur bei korrespondierender Anschauung zukommt, 425 dienen zugleich als bloße Funktionen des Denkens. 426 Dieses Denken verharrt nach Kant freilich im Problematischen. Behauptungen über reale Sachverhalte (Assertionen) sind ohne Anschauung nicht möglich. 427 Indem Eberhard "Vorstellung" mit "Erkenntnis" gleichsetzt, unterschlägt er bei Kant die hier genannte Ebene des bloßen Denkens. Von Kant aus gesehen, restringiert tatsächlich die Sinnlichkeit den Gebrauch der Kategorien, wenn es um die objektiv-reale Erkenntnis eines Gegenstandes geht; andererseits beschränkt das gemäß den Kategorien Denkbare, die Noumena, den Horizont der Sinnlichkeit und das Gebiet der objektiv-realen Erkenntnis. Während Eberhard den ersten Aspekt darstellt, muß er den zweiten ausblenden, weil er nicht zwischen Denken und Erkennen unterscheidet, die sich beide auf die Kategorien, jedoch zu verschiedenen Zwecken, stützen. Insofern gehört bei Kant nicht nur der erste, sondern ebenso der zweite Aspekt unverzichtbar zur Rolle der Kategorien. 428
422 Das sieht Eberhard S. 274 sehr genau: "[D]ie Thätigkeit des Gemiiths kann nur den Stoff zu einer Vorstellung bearbeiten, aber nicht selbst aus Nichts verschaffen, es muß also zu dem Vorstellungsvermögen noch ein anderes Vermögen gehören, ein Vermögen afficirt zu werden, eine Empfänglichkeit, eine Receptivität des GemQths, welcher der Stoff, den die Thätigkeit bearbeiten soll, erst gegeben werden muß; dann, erst dann wird aus diesem Stoffe eine Vorstellung; die Receptivität, der der Stoff gegeben wird, ist die Sinnlichkeit, die Thätigkeit, die ihn bearbeitet, ist der Verstand." Wie wir sehen werden, wird Eberhard die Gegebenheit des Stoffs dazu benutzen wollen, dahinter die Aktivität eines Dings an sich zu erweisen. 423 Z. B. S. 274 und S. 263: "Die Begriffe [des Verstandes] sind bloße Kategorien, die ohne Anschauung gar keine Vorstellungen geben.1' Von seinem ontologischen Denken nötigt sich die Gleichung von Vorstellung und Erkenntnis geradezu auf: Eine Vorstellung, die etwas gegründet und widerspruchsfrei vorstellte, aber keine Erkenntnis wäre, erschiene Eberhard absurd, denn wie sollte Erkenntnis anders bestimmt werden als als Erfüllungen beider Bedingungen. Nach Kant reichen die Bedingungen der Widerspruchsfreiheit und logischen Gegründetheit nicht aus, um einen Anspruch auf objektive Erkenntnis rechtfertigen zu können (außer, man will nur eine bereits bestehende Wahrheit erläutern), da sie bloß analytisch-logischen Status besitzen. Für Eberhard wiederum wäre der analytische Status dieser Bedingungen kein Gegenargument, das ihnen Genügende als Erkenntnis anzusehen, da ja alle Erkenntnisurteile nach ihm nur analytisch sind. Ohne Analytizität, die sich überdies nur auf begrifflicher Ebene abspielen könne, gäbe es nach ihm keine Allgemeinheit und Notwendigkeit. 424 Vgl. KrVB 376-377 = A 319-320. 425 KrV B 150, B 370; GMS 452; ÜE 244, Z. 37 bis 245, Z. 7. 426 KrV B 166 Anm.: Während hier dem Denken ein "unbegrenztes Feld" (vgl. auch KU XVI und XIX) eingeräumt wird, drückt sich Kant an anderen Stellen vorsichtiger aus, was die Rolle der Kategorien unabhängig von der Anschauung betrifft. Die reinen Kategorien scheinen oftmals als lediglich "logisch möglich" (Nachträge CXXXVIII zur KrV A 253) zur Stiftung von bloßer "Einheit der Vorstellungen" (KrV B 186, auch B 343). Somit deutet sich eine Unterscheidung zwischen Denkmöglichkeit (problematischen Begriffen, B 310) und formaler logischer Möglichkeit (eventuell mit "Funktionen des Verstandes zu Begriffen", B 187, gleichzusetzen) an. 427 Vgl. " K r V B 310 = A 255. 428 KrV B 310-311 = A 254-256 und B 185-187 = A 146-147.
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4 . Die Kontroverse im engeren Sinn
Nur auf der Basis der Gleichsetzung von Erkennen und Denken kann Eberhard behaupten, Kant akzeptiere keine letzten objektiven Gründe der Erscheinung. In "ÜE" weist Kant vehement - schon zur Vermeidung eines unendlichen Regresses in der Begründung von Erkenntnis muß er das tun - erkennbare, d. h. gegenständlichendliche letzte Gründe zurück, nimmt jedoch, wie wir gezeigt haben, sehr wohl auf der Ebene des bloß Denkbaren (sogar im Modus der Notwendigkeit als logischen Gegenbegriff zum Begriff der "Erscheinung") einen noumenalen objektiven Letztgrund an. Wird das Ding an sich in diesem Sinn als gedachter objektiver Letztgrund aufgefaßt, folgt schon daraus, daß damit kein Erkenntnisurteil über seine Existenz, die ja nur wieder bedingt in Raum und Zeit gesucht werden könnte, gefallt werden kann. Im Gegensatz dazu will Eberhard die nur gedachte Absolutheit des Grundes umbiegen zu einem Ding an sich als erkennbarem Gegenstand. Der letzte objektive Grund, den Eberhard in früheren Ausfuhrungen gewonnen zu haben glaubte, wird auf diese Weise wieder relativiert.
Die rationaldogmatische Theorie des Verstandes (nach Eberhard) Eberhard beansprucht keineswegs, eine eigene Theorie des Verstandes vorzulegen, sondern schließt sich nur einer communis opinio von Plato bis Baumgarten über Aristoteles und Wolff, "insonderheit aber Leibniz" (S. 265) an. Der Verstand ("nous", "intellectus") wird abgegrenzt von den Sinnen, bzw. der Einbildungskraft42' und von der Vernunft ("logos"). Alle drei ergeben jeweils für sich Erkenntnis: Sinnen-, Verstandes- und Vernunfterkenntnis.430 Die Verstandeserkenntnis geht auf das Allgemeine, die Sinnenerkenntnis auf das Individuelle des Gegenstandes. Sinnlich vorgestellt wird ein Gegenstand durch die Sinne, wenn er gegenwärtig, durch die Einbildungskraft, wenn er abwesend ist: D e n Unterschied der Erkenntnißarten dieser beiden Vermögen bestimmte man so, daß man die Sinnenerkenntniß a u f die Vorstellungen des Einzelnen, es sey durch die Sinnen, wenn wir uns das Vorgestellte als gegenwärtig, oder durch die Einbildungskraft, wenn wir es uns als abwesend vorstellten; die Verstandeserkenntniß hingegen auf die Vorstellungen des Allgemeinen einschränkte. Aus diesem Unterschiede leitete man einen andern her, den nämlich: daß die/ Sinnenerkenntniß aus bildlichen, die Verstandeserkenntniß hingegen aus unbildlichen Vorstellungen bestehe (S. 2 6 6 / 2 6 7 ) .
Da das Individuelle bildlich, das Allgemeine hingegen unbildlich vorgestellt wird, kann Eberhard den Verstand als "Vermögen unbildlicher Vorstellungen" (S. 267) definieren. Die unbildlich-unsinnlichen, d. h. allgemeinen Bestimmungen des Ver-
429 S. 266. Sinne und Einbildungskraft belegt Eberhard gemeinsam mit "aisthesis" oder synonym "sensus" (ebd.). 430 S. 2 6 6 , 2 6 7 , 2 7 3 , 2 7 8 .
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Standes am Gegenstand werden so strikt von den individuellen, bildlich-sinnlichen unterschieden und auf zwei Erkenntnissphären verteilt. 43 ' Der Kantische Gedanke einer Synthesis von (iir sich unsinnlichem und allgemeinem Verstandesbegriff und sinnlich-konkreter Anschauung ist damit bereits zurückgewiesen. Ist sinnliche Anschauung versagt, bleibt nach Eberhard die Möglichkeit realer Verstandeserkenntnis, wenngleich nicht des Individuellen, so doch des Allgemeinen.432 Vor dem Hintergrund dieser Theorie wirkt Kants Position übertrieben streng: Ohne Anschauung ist nach ihm alle Erkenntnis "leer" (S. 269), während nach Eberhard nur das fiir den Wert der Erkenntnis eher vernachlässigbare Individuelle fehlt. Viele Bestimmungen des "Dings" können ja gar nicht durch die Anschauung erkannt werden, sondern nur "durch den Verstand und die Vernunft" (S. 271). Da, wie Eberhard sagt, die Dinge an sich keine Erscheinungen sind, ist es lediglich ausgeschlossen, ihnen bildliche Prädikate der sinnlichen Erkenntnis zuzuschreiben, nicht aber unbildliche der Verstandeserkenntnis.433 Nur die Erkenntnis des Individuellen, nicht aber die des Allgemeinen ist versagt. Dies will Eberhard S. 270 an einer Rekonstruktion eines Kantischen Schlusses veranschaulichen: Alle Vorstellungen, die keine Erscheinungen sind, sind leer von Formen der sinnlichen Anschauung. Alle Vorstellungen von Dingen an sich sind Vorstellungen, die keine Erscheinungen sind. Also sind sie schlechterdings leer.
Nach Kant ist diese Rekonstruktion unvollständig (ÜE 214). Deshalb hat Eberhard zunächst recht, wenn er als Konklusion anstatt der angeführten den Satz [A]lso sind diese Vorstellungen leer von den Formen der sinnlichen Anschauung [...].
aufstellt (S. 270). Aus den von Eberhard unterschlagenen zwei Episyllogismen ergibt sich nach Kant aber tatsächlich als Resultat die zuerst berichtete Konklusion, die
431 Unter dem Bildlichen versteht Eberhard "die Vorstellung des Zusammengesetzten" (S. 267). Jedes Einzelding enthält "unendlich viel Mannigfaltiges", "Bestimmungen in einander oder außer einander, und successive oder neben einander seyende" (ebd.). 432 Vgl. die Beschreibung aus der Perspektive des Einzeldings S. 271: "Wenn wir also alle Bestimmungen des Einzelnen klassificiren wollen: so gehören sie entweder zu seiner Individualität, oder zu dem Wesen und den Attributen der Art und aller der Gattungen, unter denen es enthalten ist, bis zu der höchsten dieser Gattungen. Die Bestimmungen, die zu der Individualität des Dinges gehören, können wir nur durch Empfindung erkennen; allein sehr vieles, das uns auf diesem Wege von demselben nicht bekannt werden kann, läßt sich durch den Verstand und die Vernunft erkennen. Diese Veistandeserkenntniß kann nun zwar ohne alles Bildliche seyn, wir können aber gleichwol gewiß seyn, daß sie etwas sehr reelles enthält, daß sie folglich nicht ganz leer ist." - Im ersten Ball ist derselbe einzelne Gegenstand "Phänomenon", im zweiten Fall "Noumenon" (vgl. S. 285, 4. Leibniz-These). 433 S. 268-270.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
Eberhard vorschnell für nicht fundiert erachtet. 4 3 4 Der erste geht davon aus, daß der Mensch nur Uber sinnliche Anschauung verfugt u n d lautet o h n e Kants in Klammern angefugte Erläuterungen ( Ü E 2 1 4 ) : Vorstellungen, die von den Formen sinnlicher Anschauung leer sind, sind leer von aller Anschauung [...]. N u n sind die Vorstellungen von Dingen an sich leer von [den Formen sinnlicher Anschauung], Also sind sie leer von aller Anschauung. D e r zweite Episyllogismus fuhrt den Gedanken dann zu Ende ( Ü E 2 1 4 ) . D a d e n Vorstellungen die korrespondierende Anschauung fehlt, können sie auf Erkenntnis keinerlei Anspruch erheben: Vorstellungen, die von aller Anschauung leer sind [...], sind schlechterdings leer [...]. N u n sind Vorstellungen von Dingen, die keine Erscheinungen sind, von aller Anschauung leer. Also sind sie [...] schlechterdings leer. A u c h gegen die Ausdrucksweise hat Kant einiges einzuwenden. W i e der zweite Episyllogismus zeigt, will Kant d e n Satz "Alle Vorstellungen v o n D i n g e n an sich sind Vorstellungen, die keine Erscheinungen sind" umgeändert wissen in "Alle Vorstellungen von D i n g e n an sich sind Vorstellungen von Dingen,
die keine Erscheinungen
sind". 4 3 5 Offensichtlich hält Kant die Phrase "Vorstellungen, die keine Erscheinungen sind" für absurd, denn als solche sind Vorstellungen immer phänomenal (synonym mit "subjektiv" und "ideal") u n d in diesem Sinn Erscheinungen. Kant verwundert sich über Eberhards ihm unterschobenen Ausdruck "leer v o n Formen der sinnlichen Anschauung". Kantisch wäre es gewesen, z u sagen "ohne kor-
434 Eberhard spricht davon, Kants Schluß enthalte "vier Hauptbegrifife" (S. 270). Darin liegt der Vorwurf der quaternio terminorum, nämlich einen Begriff, hier den des Prädikats, in zweifacher Bedeutung gebraucht zu haben, wodurch sich der Schlußfehler der Amphibolie ergibt. Den Tadel der Vervierfachung der Begriffe retorquiert Kant gegen Eberhard in ÜE 196 in Bezug auf dessen Beweis des Satzes vom zureichenden Grund. 435 ÜE 214 (Hervorhebung von Kant). Nebenbei sei darauf verwiesen, daß Gerold Prauss diese Stelle aus "ÜE" als Gegenbeleg gegen seine These berücksichtigt, bei Kant gebe es (neben den "Dingen, - als Erscheinungen betrachtet") keine "Dinge an sich" (im Sinn von hypostarierten "Dingen-an-sich"), sondern nur die empirischen Dinge "als Dinge an sich selbst betrachtet". Prauss versucht deshalb, Kants Formulierung schlicht als Lapsus abzuwerten (Prauss: Kant und das Problem der Dinge an sich; S. 41/ 42 Anm. 18). Sollte aber ausgerechnet hier Kant - "verführt durch [..] Eberhard" (a.a.O., S. 42) leichtsinnig gewesen sein, wo es ihm doch gerade darum ging, eine unpräzise Redeweise Eberhards zu verbessern? Auch ÜE 221, Z. 2-3, spricht Kant von (freilich nur problematisch zu denkenden) "Dingen an sich" in der von Prauss generell als "transzendent-metaphysischer Unsinn" (a.a.O., S. 43) abgelehnten hypostasierten Form und scheut sich nicht, den Aspekt "objektive Realität" mit ihnen in Verbindung zu bringen. In diesem Sinn noch deutlicher ist der zweite Absatz von ÜE 215. Prauss behandelt auch diese Stelle strategisch gleich und scheidet sie nur wieder als "[e]ine der extremsten dieser [bei Kant im Zusammenhang mit Dingen an sich vorkommenden] Entgleisungen" aus (a.a.O., S. 203, Anm. 22).
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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respondierende Anschauung". 436 Hierin liegt, so könnte man Kant ergänzen, ein Sophisma verborgen: Eine Vorstellung, kann Eberhard argumentieren, die nur von den Formen der Anschauung leer ist, kann trotzdem über den Bedeutungsgehalt der Anschauung verfugen, nur auf andere - "nicht sinnlich[e]" (S. 280) - Art, denn sie ist ja nicht leer vom Stoff (oder informativem Gehalt) der Anschauung. Bei seiner Rede von den vom Verstand unabhängig von der Sinnlichkeit erkennbaren allgemeinen Bestimmungen springt Eberhard zwischen zwei Dimensionen. 437 Einmal geht es um "äußere Gegenstände" (hauptsächlich Gegenstände der Erfährung). Sinnlich gegeben, haben sie sinnlich erkennbare Merkmale und darüber hinaus allgemeine Merkmale, die nur intellektuell (in der Abstraktion) erfaßt werden können. Zum anderen geht es um die "letzten Gründe" 438 dieser äußeren Gegenstände, die einfachen Dinge an sich. Da sie als einfache Dinge nicht sinnlich angeschaut werden können, kann keine Erkenntnis ihres Individuellen zustande kommen, wohl aber eine Verstandeserkenntnis des an ihnen Allgemeinen.439 Dabei stellt sich nun die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Gegenständen und Dingen an sich und damit nach dem Status der Dinge an sich. Wenn das Ding an sich einfacher objektiver Letztgrund ist, so hat der Gegenstand (und damit die Erkenntnis des Gegenstandes) nur marginal mit dem Ding an sich zu tun. Es wäre damit im Diskurs der theoretischen Philosophie vernachlässigbar. Wenn die allgemeinen Bestimmungen des Gegenstandes jedoch zugleich die des Dings an sich repräsentieren, wird das Ding an sich näher an die Erkenntnis herangerückt und gleichsam vergegenständlicht. Den Status als absoluten Grund verliert es damit, ja es fällt gleichsam mit den intellektuellen Bestimmungen der äußeren Gegenstände zusammen oder aber erscheint als deren bloße Verdoppelung. Letztlich wird damit das Ding an sich überflüssig. Es hieße schon das Nichtwiderspruchsprinzip überfordern, sollte das Ding an sich beide Funktionen - als Grund und Begründetes - zugleich erfüllen, oder sollten auch nur dieselben allgemeinen Bestimmungen dem (zusammengesetzten) äußeren Gegenstand und dem (einfachen) Ding an sich zugesprochen werden. Ein weiteres Problem entsteht daraus, daß Eberhard unter den allgemeinen - oder sagen wir besser: den unbildlichen - Bestimmungen zweierlei zusammenbringt, die Allgemeinbegriffe (hier das "Unbildlich-Allgemeine" genannt) und die einfachen Dinge (das "Unbildlich-Einfache"). Beide Arten erfaßt der Verstand als das Vermögen der unbildlichen Erkenntnis. Er bildet also neben den Allgemeinbegriffen allgemeiner Bestimmungen (offensichtlich der Gegenstände wie der Dinge an sich) Individualbe436 Vgl. ÜE 214, Z. 30-31. Für "leer" in Eberhards erster Konklusion hätte es besser geheißen: "ohne Erkenntnis des Objekts" (ÜE 214, Z. 31-32). Da nach Kant alle dem Menschen verfügbare Anschauung sinnlich ist, ist es erlaubt, von «leer von den Formen sinnlicher Anschauung» auf "leer von aller Anschauung" zu schließen. 437 Vgl. S. 271, 288. 438 S. 284, 1. Leibniz-These: "Eine Erscheinung muß einen letzten Grund haben, der nicht Erscheinung ist." 439 S. 285, 2. und 3. Leibniz-These, S. 288, 7. Leibniz-These.
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griffe von den einfachen Dingen Gott, Seele, Monade (S. 268). 440 Nur jenes Unbildlich-Einfache und nicht das Unbildlich-Allgemeine darf dem Wesen nach als Ding an sich bezeichnet werden. 441 Trotzdem sind beide reine Verstandeserkenntnisse (S. 268). In welchem Verhältnis nun stehen sich beim Ding an sich das Unbildlich-Einfache und das Unbildlich-Allgemeine gegenüber? Zu ermitteln ist, daß es Eberhard nach dem Modell Wesen/Attribute begreift (S. 272): Den Wesen der Dinge an sich kommen unbildlich-allgemeine Eigenschaften zu. 442 Daß einfache Dinge Eigenschaften haben, braucht nach dem Zeugnis der Tradition nicht als Widerspruch angesehen zu werden. 443 Typisch fiir Eberhards ontologisches Denken ist, daß er Bestimmungen des Denkens zugleich zu Bestimmungen des Dings erklärt und umgekehrt. 444 So nimmt Eberhard unproblematisch "Noumena" als "Verstandeswesen" (S. 268) an, also Gott, Seelen und Monaden als wirkliche Dinge, die allein durch den Verstand erkannt werden können. Von Kant aus gesehen, kann es nur als berechtigt erscheinen, "Noumena" oder "Intelligibilia" als "Gedankendinge" zu betrachten, also als allenfalls mögliche Gegenstände, als etwas, das logisch-systematische Gründe zu denken nahelegen, ohne daß damit ein Anspruch auf Erkenntnis von etwas Bestehendem oder auch nur auf Erkenntnis des Grundes von Bestehendem erhoben wird. Den Unterschied in der Verwendung des Ausdrucks "Noumenon" zwischen Kant und ihm selbst nimmt Eberhard wahr: "Es muß der Erscheinung etwas entsprechen, das nicht Erscheinung ist". 445 Von diesem um der Entsprechung willen erforderlichen Etwas hat man "gar keinen Begriff". 446 Kants Kategorien dienen dazu, das in der Anschauung Gegebene zu verbinden. 447 Ebenso fehlt die intellektuelle Anschauung. 448 Deshalb kann es sich bei diesem Etwas nicht um ein "Noumenon", weder um reine Verstandeserkenntnis noch korrelativ um ein positiv erkennbares reales Verstandeswesen handeln, sondern lediglich um "ein transzendentales Objekt, ein Etwas = x". 449 Nach Leibniz/Eberhard hingegen soll sich besagtes Etwas als ein realer "letz440 Damit wird nicht gesagt, der Verstand erkenne die nicht-sinnlichen einfachen Dinge in ihrer Individualität. 441 S. 268 in Verbindung mit S. 263. 442 S. 285/286, 4. Leibniz-These. 443 Leibniz: Principes; § 2. 444 Die Wendung "Das Unbildliche, das beiden Arten der Begriffe und ihren Gegenständen gemein ist [...]", S. 267, zeigt das besonders deudich. Vgl. auch S. 278 und 279. 445 S. 284, 1. Kant-These. 446 S. 285, 2. und 3. Kant-These. Kant ist nur richtig verstanden, wenn, was aus dem Kontext zu verantworten ist, "Begriff" hier im Sinne von "Erkenntnis" zu nehmen ist. 447 S. 283. 448 S. 286/287, 5. und 6. Kant-These. 449 S. 285, 4. Kant-These und S. 288, 7. Kant-These. Eberhard bezieht sich mit diesem Ausdruck wohl auf KrV A 250 (2. Absatz). Hier gebraucht Kant jedoch den Begriff "transzendentales Objekt" nicht als Gegenbegriff zu "Erscheinung", sondern als "Correlatum der Einheit der Apperzeption zur Einheit des Mannigfaltigen in der sinnlichen Anschauung". Als Gegenbegriff zu "Erscheinung" findet sich der Begriff jedoch etwa in KrV A 379/380, B 63, B 333 und B 522. Der "Idee" korrespondiert er in KrV B 593/594.
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ter Grund" 450 und im positiven Sinn als ein "Noumenon" erweisen, da sich von ihm begrifflich allgemeine Eigenschaften abstraktiv erkennen lassen und da ihm, wie unten erläutert werden wird, eine intellektuelle Anschauung entspricht.451 Die Abstraktionsleistung des Verstandes (nach Eberhard) ist eigentlich doppelt zu verstehen. (Obwohl Eberhard den zweiten Aspekt nicht thematisiert, fordert die Einheitlichkeit der Theorie diese Integration.) Erstens hebt der Verstand aus dem sinnlich Gegebenen die allgemeinen Bestimmungen heraus (das Unbildlich-Allgemeine); zweitens eruiert er die einfachen Gründe der Gegenstände als die Dinge an sich im strengen Sinn des Wortes. Obwohl mit dem Herausheben der allgemeinen Bestimmungen bei Gelegenheit des sinnlich Vorgestellten von Eberhards Denkhintergrund her nur die metaphysische Abstraktionstheorie gemeint sein kann, bedient er sich zuweilen eines Vokabulars, als hinge er der empiristischen Abstraktionstheorie an.452 Geht es um Erkenntnis aus sinnlich Gegebenem, haben wir als Erkenntnisquelle allein die Erfahrung. Die Abstraktion kann dann nur der formalen erkenntnisökonomischen Aufbereitung (unter notwendiger Verarmung des Gehalts) des multiplen sinnlich Gegebenen dienen. Findet hingegen nach dem traditionell-metaphysischen Modell Abstraktion bei sinnlich Gegebenem statt, haben wir zwei Quellen der Erkenntnis,453 einmal die Erfährungsgegebenheit, zum anderen den abstrahierenden Verstand, dessen Operationen aus eigenem Recht im Blick auf das sinnliche Material, aber nicht aus ihm erwachsen. Im ersten Fall ist Abstraktion ein Absehen von einem Teil des Sinnlich-Konkreten zu Gunsten von komparativ allgemeinen Bestimmungen, im zweiten ein Übersteigen des Sinnlichen zu einem prinzipiell von ihm unabhängigen intelligiblen (und trotzdem realen) Allgemeinen oder substanziell Einfachen.454 450 S.284, 1. Leibniz-These. 451 S. 285-288,2.-7. Leibniz-These. 452 Z. B. S. 276: "Wir können keine allgemeinen Begriffe haben, die wir nicht von den Dingen, die wir durch die Sinnen wahrgenommen, oder von denen, deren wir uns in unserer eigenen Seele bewußt sind, abgezogen haben."; S. 271: "Oer endliche Verstand erhält seine allgemeine Erkenntniß durch Absonderung desjenigen, was mehrern einzelnen Dingen [...] gemein ist." 453 Im Gefolge entsteht freilich die Tendenz der Reduktion der zwei Quellen auf nur wieder eine, und zwar den Verstand (antagonistisch zur Sinnlichkeit bei der empiristischen Abstrakdonstheorie). Ganz in diesem Sinn nennt Kant Leibniz einen Intellektualphilosophen. 454 Thomas von Aquin belegte das Letztere mit der Formel "intdligibile in sensibili". Er ist der wichtigste Theoretiker der metaphysischen Abstraktion, gerade weil er dem Sinnenbild ("phantasma") auch eine zur Vermittlung des intelligiblen (d. h. eines strengen und nicht bloß komparativen) Allgemeinen eine unveizichtbare Rolle zugesteht (vgl. dessen Summa Theologiae I, q. 85 a. 1; ebenso: S. Th. I q. 84, a. 6 und a. 7). Von der relativ lebendigen Tradierung der mittelalterlich-scholastischen Abstraktionslehre(n) metaphysischer Prägung zeugt das "Lexicon philosophicum" von Goclenius, 1. Aufl. 1616. Dem Vokabular nach z. T. der metaphysischen Abstraktionslehre verhaftet ist die empiristische Ats John Locke. Sie findet sich an folgenden Stellen seines "Essay concerning Human Undeistanding": Buch II, Kap. XI, §§ 9-11; Kap. XII, § 1; Kap. XXXII, §§ 6-8; Buch III, Kap. VIII, § 1; Buch IV, Kap. IX, § 1. Die "Nouveaux Essais" von Leibniz antworten dem meist spiegelbildlich. So finden sich Leibnizens Angaben zur Abstraktion insbesondere: Buch II, Kap. XI, § 10; Kap. XII, § 6; Buch III, Kap. III, §§ 11-12 und Kap. VIII, § 1. Allerdings ist zu spüren, daß keiner der beiden Autoren, weder Locke gegenüber der früheren metaphysischen Abstraktionstheorie noch Leibniz, der die intelligible
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Als Vermögen der unbildlichen Vorstellungen ist der Verstand das Vermögen der abstraktiven Erkenntnis. Kants Kategorien werden, wie bereits gesagt, als die höchsten Begriffe dieser Abstraktion erklärt,455 und durch die allgemeinen Begriffe der Abstraktion wird das Ding an sich seinem Wesen und seinen Eigenschaften nach erkennbar. 456 Unter den allgemeinen Begriffen, bzw. den allgemeinen Bestimmungen der Abstraktion, versteht Eberhard mit der auf Aristoteles zurückgehenden Tradition höherere und niederere "Gattungen" und "Arten" und deren "Wesen" und "Eigenschaften" ("Attribute"), 457 offensichtlich nicht nur diese Begriffe allein, denn sonst besäße Eberhard ja noch weniger VerstandesbegrifFe als Kant, sondern auch jeweils deren (offene Zahl von) Instanziierungen. Zu erschließen ist, daß die Zuordnung der Begriffe wesentlich vom Prinzip der Analysis getragen ist.458 Eigenschaften sind in Wesen, Wesen in Arten und Arten in Gattungen enthalten. Die spezielleren Kategorien bei Kant, die ja Eberhard ebenfalls miterklären muß, etwa Ursache und Wirkung oder Wechselwirkung, sind als mögliche Modifikationen im generellen Begriffspaar Wesen/Eigenschaften enthalten zu denken. S. 278 fuhrt Eberhard aus, die allerallgemeinsten und einfachsten Abstraktionsbegriffe seien die "des Möglichen und Gegründeten". Sie kämen allen Dingen als Dingen zu, den äußeren Gegenständen wie den Dingen an sich. Dies korrespondiere der "transzendentalen Gültigkeit" der Sätze vom Widerspruch und vom Grund. Der Verstand steige also zu den "ersten Gründe[n] aller Erkenntnis" auf, die zugleich die ersten Gründe "alles Erkennbaren überhaupt" seien (S. 278). Zur Abstraktion gehört ferner, daß die Begriffe nicht bloß nach den beiden oben angegebenen und an sich verwandten Funktionen abgesondert, sondern in weiteren Schritten auf abstraktem Niveau rekombiniert werden können (S. 277). Insofern dabei logische Operationen verlangt sind, scheint hier v. a. die Vernunft beteiligt (S. 278). Bezüglich der Abgrenzung des Verstandes von der Vernunft, die beide das obere Erkenntnisvermögen im Gegensatz zu Sinnlichkeit und Einbildungskraft ausmachen (S. 278), ist der Verstand, eigentlich nur der "endliche Verstand" (S. 271) im Gegen-
Substanz und das Allgemeine im strengen Sinn gegenüber Locke verteidigt, die jeweils fundamental andere Auffassung von Abstraktion direkt und etwas ausfuhrlicher thematisiert; sie setzen den jeweils anderen Charakter eher nur einfach voraus. - In Humes "Treatise of Human Nature" finden sich Darlegungen zur (gegenüber Locke nochmals verschärften) empirischen Abstraktion an folgenden Stellen: Buch I, Teil I, Abschnitt VII (S. 17-25) und Teil II, Abschnitt III (S. 34-35). 455 Kants Rede, der Verstand "bearbeite" den ihm gegebenen Stoff (S. 279), heißt nach Eberhard, der damit bereits seine eigene Position beschreibt (S. 276), er vollziehe Abstraktionsleistungen angesichts des Stoffs (nicht einfach nur, er abstrahiere von ihm, denn damit glitte Eberhard in den Empirismus). 456 Nach S. 295 ist deutliche Erkenntnis nur von allgemeinen, d. h. abstrahierten, Begriffen möglich. S. 170 findet sich schon die Formel "ihr Begriff vollständig abgezogen und also wahr". 457 S. 270-271. Daraus sind die "Definitionen" als Wesensbestimmungen ableitbar (vgl. S. 285/286, 4. und 3. Leibniz-These). Vgl. auch S. 276/277. 458 Vgl. S. 271, S. 277/278 und S. 288.
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satz zum rein intellektuell anschauenden Verstand Gottes, das Vermögen der Abstraktion, im engeren Sinn sogar lediglich das der absondernden Komponente der Abstraktion. 459 Er - und keineswegs die Vernunft - ist dabei die "Erkenntnis der Prinzipien (gnosis ton archon)", 460 wobei es sich sowohl um "die ersten Grundsätze" des Denkens als auch um "die Wesen der Dinge" handelt (S. 279). Auch in diesem Beitrag trennt Eberhard nicht immer säuberlich zwischen Verstand und Vernunft. 461 Vernunft ist wie bei Kant ein Vermögen der Schlüsse, aber im Gegensatz zu ihm kein Vermögen der Prinzipien.462 Im Gegensatz zu Kant werden aber dabei nicht die drei Ideen des Unbedingten erschlossen. Gott, Seele, Welt bleiben, wie von uns früher dargestellt, bloße Verstandesgegenstände. Als logisches Vermögen spielt die Vernunft im Rahmen der Abstraktion eine besondere Rolle bei der Zusammensetzung der abstrakten Begriffe. Dabei richtet sie sich nach den Grundsätzen des Verstandes und hängt somit von ihnen ab. 463 Daß bei Eberhard die Vernunft in einem instrumentalen Verhältnis zum Verstand steht, zeigt ferner die Tatsache, daß die Produkte dieser begrifflichen Zusammensetzungen "Gegenstände der Verstandeserkenntnis" (S. 279) genannt werden. Besonders typisch für Eberhard ist, wie er zur Frage der Existenz der Allgemeinbegriffe (von ihm S. 270 "allgemeine Dinge" genannt) Stellung nimmt. Er verbindet verbal zwei Positionen, die einander unmittelbar logisch ausschließen, um sich in jeder Richtung eine Ausweichmöglichkeit offen zu lassen: [Sie] sind nun allerdings, abgesondert von dem Einzelnen, nicht wirklich; allein sie sind es doch, die höhern Gattungen/ und Arten mittelbar, die niedrigsten Arten unmittelbar, in den unter ihnen enthaltenen einzelen Dingen. 4 6 4
Kant über Abstraktion In seiner Antwortschrift rügt Kant zunächst Eberhards Sprachgebrauch im Blick auf dessen Rede vom "abstrakten" und "konkreten" Raum und der "abstrakten" und "konkreten" Zeit:
459 S. 271 und S. 278. 460 S. 278. 461 S. 272 z. B. werden beide Ausdrücke synonym verwendet: An dieser Stelle werden der "Vernunft" die Grundsätze zugesprochen, die nach S. 278, wo die Ausfuhrungen genauer ausfällen, dem "Verstand" zugeeignet werden. 462 S. 20 und S. 279. Eberhard unterscheidet nicht wie Kant zwischen Grundsätzen des Verstandes und Prinzipien der Vernunft. Seine "Grundsätze" werden zugleich als "oberste Grundsätze" (vgl. S. 279) verstanden und vereinigen in diesem Sinn die von Kant auf zwei Instanzen verteilten Grundsätze und Prinzipien. 463 S. 278, S. 279. 464 S. 270/271. Vor der Redeweise "allgemeine Dinge" warnt Kant in ÜE 217 Anm.: "ein ganz verwerflicher scholastischer Ausdruck, der den Streit der Nominalisten und Realisten wieder erwecken kann". Nach ÜE 218 sollte statt dessen gesagt werden: "allgemeine Prädikate der Dinge".
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn Man abstrahirt nicht einen Begriffes gemeinsames Merkmal, sondern man abstrahirt in dem Gebrauche eines Begriffs von der Verschiedenheit desjenigen, was unter ihm enthalten ist.465
Diese Worte (wie auch die nachfolgenden beiden Kritikpunkte) gelten nur vor dem Hintergrund der empiristischen Abstraktionstheorie, die Kant, wie oben erläutert, allein akzeptiert. Die metaphysische hingegen sieht sich zu dem gerade in der Lage, was Kant schon als falschen Sprachgebrauch ablehnt, nämlich bei Gelegenheit eines Sinnenbildes einen intellektuellen Begriff herauszuheben. In einem zweiten Schritt moniert Kant inhaldich an Eberhards Abstraktion, er versuche damit real "zu einer anderen Gattung Wesen, als überhaupt den Sinnen, selbst den vollkommensten, gegeben werden könne" (ÜE 216), hinaufzusteigen, obwohl er tatsächlich nur Erfahrungsmaterial logisch aufbereite. Das Höchste, was durch Abstraktion erreichbar sei, sei nichts als "das Intellektuelle, was wir selbst nach der NaturbeschafFenheit unseres Verstandes vorher a priori hineingelegt haben, nämlich die Kategorie" (ÜE 216). Im Zusammenhang mit dem Einsatz der Abstraktion in Eberhards Philosophie ist zudem Kants Einwand zu sehen, es würden logische Funktionen für transzendentale ausgegeben (ÜE 214). Wie sich schon an Eberhards Definition des Verstandes als "Vermögen deutlicher Erkenntnis"466 zeigt, bleibt dabei aber ein Defizit. Sie ist der Kantischen ("Verstand als Vermögen der Erkenntnis durch Begriffe") nicht nur dadurch unterlegen, daß sie nicht berücksichtigt, daß es auch "eine Deutlichkeit in der Anschauung [...], welche ästhetisch genannt werden kann", gibt, sondern auch, weil nur durch letztere der Verstand "als transzendentales Vermögen ursprünglich aus ihm allein entspringender Begriffe (der Kategorien) bezeichnet" werden kann.467 Abstraktion setzt nach Kant solche Kategorien voraus und kann sie nicht etwa erst gewinnen.
Nachweis der Erkenntnis der Dinge an sich In zwei Argumentationsgängen will Eberhard durch immanente Analyse von Kants Gedanken zeigen, daß dessen Theorie letzdich doch zur Erkenntnis des Dings an sich fuhren muß und daß dieses eine einsehbare Rolle bei der Erkenntnis spielt.468 Eberhard geht damit von der These der Unerkennbarkeit des Dings an sich und seiner
465 466 467 468
ÜE 199 Anm. Ausfuhrlicher findet sich dieselbe Kritik in Kants "Logik", AK IX, S. 95. ÜE 217 Anm. Kant bezieht sich hier auf Eberhards S. 295 aus dem folgenden Aufntz. Alle Zitate aus ÜE 217 Anm. S. 288/289 stellt das Ergebnis vor Augen: "[W]enn es endlich, wie Hr. Kant selbst zugiebt, ein Etwas geben muß, das keine Erscheinung ist, auf das aber die Erscheinungen fuhren; so muß der Verstand von Gegenständen etwas erkennen, die keine Erscheinungen sind, und bey denen keine sinnliche Anschauung zum Grunde liege diese Gegenstände müssen Noumena seyn."
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Irrelevanz fiir die Erkenntnis aus, ja streift sogar die noch stärkere der Inexistenz der Dinge an sich.469 Sein Ziel besteht, um es noch konkreter zu fassen, darin, Kants Erkenntnisansprüche abweisende auf problematischer Ebene sich bewegende Formulierungen in Behauptungen positiver Art zu überfuhren: Aus dem kleingeschriebenen "etwas", das, wie Eberhard sagt, nach Kant der Erscheinung entspricht (S. 284), soll ein bestimmtes Etwas (S. 285, S. 282), aus dem "transzendentalen Objekt" (S. 288) sollen objektiv reale "wahre transzendentale Gegenstände" (S. 282) und - so ist zu ergänzen - aus dem negativen Noumenon soll ein positives (KrV B 307), aus dem Gedankending (KrV B 594) ein Verstandeswesen470 und damit aus dem Grund ein Begründetes werden. Die erste Überlegung geht dem Inhalt einer Kantischen These nach, die Eberhard wohl im Blick auf den ersten Satz der ersten Einleitung zur "KrV" so formuliert hat: "[D]er Sinnlichkeit wird der Stoff gegeben, den der Verstand bearbeiten soll."471 Eberhard konzentriert sich zuerst auf den Punkt von der Gegebenheit des Stoffs (gemeint ist damit die Empfindung). 472 Die Rede, ein Stoff werde gegeben, erfordert eine Instanz, der er gegeben wird, und eine, die ihn gibt. Letztere ist als "Ursache" (S. 275) zu verstehen. Die empfangende Instanz ist die Sinnlichkeit, aber, so fragt Eberhard weiter, durch wen oder was wird kausal der Stoff gegeben? Da die Sinnlichkeit selbst wegen ihres rezeptiven Charakters ausfallt, bleibt nur die "Wahl" zwischen "äußeren Gegenständen" oder der "Schöpferkraft" (S. 275). In beiden Fällen gelange man zu "Dinge[n] an sich" (S. 276), bei der göttlichen Einwirkung unmittelbar, bei den äußeren Gegenständen im Blick auf deren Gründe, wie Eberhards vorherige Abhandlung darlegte. In diesem Zusammenhang scheint Kant Eberhard in einem zweiten Punkt entgegenzukommen (ÜE 215), nämlich durch die Zustimmung zur These «Dinge an sich geben den Stoff der Empfindungen», doch indem er seine zustimmende Geste hinter Zitaten von Eberhards S. 275 und S. 276 verbirgt, tritt er nur einer wesentlich schwächeren These bei, die lautet: «Bei der Frage, was der Sinnlichkeit ihren Stoff (also die Empfindung) gibt, kommen wir letzdich auf Dinge an sich». 469 S. 269, S. 288 unten; S. 264 sagt zwar Eberhard, nach Kant gebe es keine wahren Dinge an sich, doch wird in der Folge nachzuweisen versucht, Kant müsse die Existenz wahrer Dinge an sich voraussetzen und tue dies auch. - Kant selbst hat allerdings nirgends behauptet, es könne keine Dinge an sich geben, doch folgt aus dem Theorem der Beschränkung objektiv theoretischer Erkenntnis auf Gegenstände als Erscheinungen, daß auch die Kategorie des Daseins (ebenso wie die der Ursache und Oberhaupt aller Kategorien und Formen der Anschauung) nicht erkenntnisrelevant auf Dinge an sich (selbst betrachtet) bezogen werden können. 470 Obzwar auch Kant den Ausdruck "Verstandeswesen" gleichbedeutend mit "Gedankending" verwendet, soll im Rahmen dieser Arbeit der Ausdruck "Gedankending" als für Kant repräsentativ (im Sinn einer Denkmöglichkeit von etwas bloß aufgrund von Begriffen) verwendet werden und von dem der Eberhard-Seite zugesprochenen Ausdruck "Verstandeswesen" (als einen wirklichen Gegenstand bezeichnend, der durch den reinen Verstand erkannt wird) abgegrenzt werden. 471 S. 275, KrV A 1; vgl. auch KrV B 145. 472 S. 275-276.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
Das läuft auf die Wiederholung des Theorems hinaus, Dinge an sich seien problematisch als die objektiven Letztgründe der Erscheinungen zu denken, auch wenn ein Satz Kants, der das erläutern soll, so klingt, als behaupte er ganz wie Eberhard die Kausalität der Dinge an sich als Spender der Empfindungen: Die Gegenstände als Dinge an sich geben den Stoff zu empirischen Anschauungen [...], aber sie sind nicht der Stoff derselben. 473
D e r adversative Teilsatz erst zeigt, daß Kant "geben" im bloß logischen Sinn von " G r u n d sein" auffaßt u n d das W o r t deshalb verwendet, u m es vom nur real zu verstehenden Ausdruck "sind" abzusetzen. Die im Zitat ausgelassene Parenthese klärt die Lage vollends u n d überfuhrt die scheinbare Kausalbehauptung in die ausdrückliche Benennung eines logischen Grundes: "[S]ie [die Dinge an sich] enthalten den G r u n d , das Vorstellungsvermögen seiner Sinnlichkeit gemäß zu bestimmen". D a das Nomen " G r u n d " logische Bedeutung hat, k o m m t auch der davon abhängigen Infinitivphrase keine andere zu. D a ß Kant in B 344 der "KrV" den "Gegenstand an sich selbst" als "die Ursache der Erscheinung" qualifiziert, widerspricht dem nicht, denn "Ursache" bedeutet hier wie etwa aus Kants Beifügung "mithin selbst nicht Erscheinung" erschlossen werden kann - nichts anderes als "Grund". 4 7 4 Noch eine spätere Stelle in der Streitschrift 4 7 5 scheint die These von der kausalen Affektion durch die Dinge an sich zu stützen. Kant führt hier aus, unter Sinnlichkeit sei die Art zu verstehen, "wie wir von einem an sich selbst uns ganz unbekannten O b j e k t affiziert werden". An diesem Punkt, w o es Kant um den Hinweis auf das sinnlich Gegebene geht, das sich von intellektueller Anschauung fundamental unterscheide, läßt sich die Prauss'sche Erklärung des Problems der Dinge an sich im Kontext einer Theorie der Erfahrung legitim aufrufen. Danach ist hier unter "Objekt" das empirische Ding zu verstehen, das "an sich selbst" betrachtet "uns ganz unbekannt" ist. 476 Vor der Rezeption und kategorialen Einigung des Gegebenen kann gar nicht erkannt werden, wovon wir affiziert werden (Eindrücke empfangen). An Kants Satz ist also v. a. die Information wichtig, d a ß wir logisch früher das Gegebene annehmen müssen als das empirische Objekt, das, sobald es als ein solches erkannt ist, auch als Ursache der Affektion betrachtet werden m u ß . Als zweiten Punkt untersucht Eberhard den in der These genannten Begriff des "Bearbeitens". 4 7 7 Das Bearbeiten des sinnlich Gegebenen bei Kant geschieht aus Eberhards Sicht auf zweifache Weise: Aus dem Gegebenen werden Allgemeinbegriffe abstrahiert u n d rekombiniert. Kants Theorie des Verstandes wird somit als Grenzfall
4 7 3 Oll 215 (aus d e m zweiten Abs. dieser Seite). Offenbar diese Stelle perhorresxiert Prauss in "Kant und das Problem der Dinge an sich", S. 203, Anm. 22. 474 llbenso z. B. KrV B 522. 475 ÜK 219, Z . 20-22. 476 Prauss: Dinge an sich; S. 23, 36-39, insbesondere S. 197 und 200. 477 S. 276-280.
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seiner eigenen aufgefaßt. 478 Als Resultat des abstrahierenden Bearbeitens sollen allgemeine Bestimmungen übrigbleiben, die nicht minder real seien als die Sinneserkenntnis. Mit diesen glaubt er zugleich, die Ebene der Bestimmungen und Wesenhaftigkeit der Dinge an sich erreicht zu haben. Gemäß seinem ontologischem Denken sollen so zugleich die gefundenen reinen Verstandesbegriffe objektive Verstandeswesen repräsentieren. 47 ' Kants Aussage, die Kategorien (die doch nach Eberhard von den Dingen abgezogen sein sollen) seien keine Bestimmungen der Dinge an sich, wirkt in diesem Licht unplausibler als Eberhards "kritischer Dogmatismus" (S. 276). Umgekehrt ist der Gedankengang leicht dadurch zu entkräften, daß man die von Eberhard völlig unterschlagene Begründung für den Status von Kants Kategorien anfuhrt und zeigt, daß danach die Kategorien gerade nicht als Abstraktionsbegriffe (weder im metaphysischen noch im empirischen Sinn) verstanden werden dürfen. Sie werden nämlich a priori am Leitfaden der logischen Formen des Urteils aufgefunden. 480 Die zweite Überlegung hinterfragt Kants Ablehnung der intellektuellen Anschauung (ÜE 216). Eberhard knüpft dabei an ein Kant-Zitat 481 an, wo Kant sagt, es sei zwar bewiesen, daß fiir das menschliche Gemüt nur die sinnliche Anschauung möglich sei, doch damit sei nicht ausgeschlossen (wenngleich auch nicht bewiesen), daß prinzipiell noch eine andere Anschauung als die sinnliche möglich sei. Dem stellt nun Eberhard - leider ohne nähere Angaben - entgegen, Leibniz habe den Beweis erbracht, daß eine nicht-sinnliche Anschauung möglich sei.482 Das läuft jedoch nur auf die Wiederholung der Behauptung hinaus, die Vorstellung sei als Vorstellung eine nichtsinnliche Anschauung. 483 Gemäß den vorherigen Ausführungen brauchen die durch Abstraktion gewonnenen Begriffe zwar keine Anschauung, um real zu sein, wäre aber eine intellektuelle Anschauung möglich, 484 so käme den reinen Verstandesbegriffen,
478 Auch Fichte wirft - was hier nur kurz angemerkt werden kann - Kant im "Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre" vor, die Kategorien nicht aus den "Grundgesetzen der Intelligenz" abgeleitet, sondern durch "Abstraktion" von Erfahrungsgegenständen gewonnen zu haben (a.a.O., S. 201). 479 Vgl. v. a. S. 278-280. 480 KrV B 92-116 und B 378, wo es heißt: "Die Form der Urtheile (in einen Begriff ["Begriff" hier im Sinn von "einheitlicher Vorstellung" verstanden] von der Synthesis der Anschauungen verwandelt) brachte Kategorien hervor, welche allen Verstandesgebrauch in der Erfahrung leiten." Das Verfahren anhand einer logischen Linienführung darf freilich nicht so begriffen werden, als leite Kant, wie etwa Fichte an einer Stelle meint, die Kategorien "aus der Logik" ab (Fichte: Versuch; S. 201). 481 KrV A 252/253: "Wir haben [...] bleibe." 482 S. 281. Zwischen Locke und Leibniz ist die Annahme intuitiver Erkenntnis (und in diesem Sinn intellektueller Anschauung) unstrittig (vgl. "Nouveaux Essais", Buch IV, Kap. II, §§ 1-13, insbesondere § 1, Kap. IX, §§ 2-3 und die dem korrespondierenden Passagen des "Essay"). Nach Leibniz erkennt die Intuition die " ursprünglichen Wahrheiten", die (wie die "abgeleiteten") entweder "Vernunftwahrheiten" oder "Tatsachenwahrheiten" (z. B. das Selbstbewußtsein) sind (a.a.O., § 1). 483 S. 286/287, 5. Leibniz-These. Zurückgegriffen wird v. a. auf S. 170/171 ("Über die logische Wahrheit"); Eberhard selbst verweist S. 281 v. a. auf S. 168-174. 484 S. 280. Eberhard drückt sich hier auf fur ihn typische insinuierende Weise aus: "Wenn es aber Anschauungen gäbe, die nicht sinnlich sind [...]".
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
bzw. den nur auf ihnen beruhenden Urteilen, objektive Realität in der Erkenntnis der Dinge an sich zu. In seiner (hier besonders sprunghaften und elliptischen) Argumentation greift Eberhard auf seine früheren Ausfuhrungen über Raum und Zeit zurück. "Vorstellung" wurde dort als "das erste Element der konkreten Zeit" und "einfache Substanz" als "das erste Element des konkreten Raums" bestimmt (S. 281). Als erste Elemente können Vorstellung und einfache Substanz aber keine Erscheinung mehr, sondern müssen Wesensbestimmungen der Dinge an sich sein. Bei der Angabe des Beweisgrundes fiir diesen Schluß - Vermeidung eines unendlichen Regresses - bringt Eberhard "einfache Substanz" mit "Vorstellung" und "vorstellendem Subjekt" in Einheit, so daß sich die "Dinge an sich" - wohl im Geist der Leibnizischen Monaden lehre 485 - als "vorstellende Kräfte" entpuppen: [D]enn sonst würden sie nicht die schlechterdings ersten Elemente sein; sonst würde, wenn die Vorstellung selbst und das vorstellende Subjekt noch Erscheinung wäre, wieder von neuem Vorstellung und vorstellendes Subjekt, und so ins unendliche, müssen angenommen werden. Also sind die wahren Dinge, die Dinge an sich, die Dinge, die keine Erscheinungen sind, vorstellende Kräfte, einfache Substanzen, deren Accidenzen Vorstellungen sind. 486
Dinge an sich sind in diesem Sinn Gegenstände einer sich auf nicht-sinnliche Anschauung stützenden Erkenntnis, wodurch das negative Noumenenon zu einem positiven wird, 487 ja noch stärker, das Erkennen wird zu einem Attribut der Dinge an sich. 488 Mit der Aussage, das vorstellende Subjekt sei keine Erscheinung, hofft wohl Eberhard die rationale Psychologie, die (angebliche) wissenschaftliche Erkenntnis des Wesens und der Attribute des wirklichen erkennenden Subjekts (mit anderen Worten: der Seele) zu retten. An die rationale Psychologie sind bei Leibniz über den Begriff der Monade die rationale Kosmologie (Monaden als die einfachsten Elemente der Körper) und Theologie (Gott als Zentralmonade) gekoppelt. Eberhards Bestimmung der Dinge an sich als vorstellende Kräfte weist auf diese Verbindung hin. Bei der Analyse von Eberhards zweitem Aufsatz haben wir bemerkt, Eberhard halte die Vorstellung als Vorstellung fiir anschaulich; dem ist jetzt hinzuzufügen, er halte sie für eine intellektuelle Anschauung, und intellektuelle Anschauung sei eine Bestimmung der Dinge an sich. Der Drang zur Erkünstelung der intellektuellen Anschauung zeigt sich übrigens auch in der Klassifizierung der Begriffe in sinnliche und nicht-sinnliche, wie Eberhard sie in seinem "Abriß der Metaphysik" vornimmt: "Alle Begriffe, die wir nicht unmittelbar durch die äußeren Sinne erhalten, sind
485 486 487 488
Leibniz; Monadologie; §§ 19, 56. S. 281. Vgl. S. 288 unten. Vgl. S. 289.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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unsinnliche."489 Per definitionem sind damit die Begriffe der Anschauung des inneren Sinns nicht-sinnliche. Eberhard nennt sie "außersinnliche".490 Die Kraft der begrifflichen Abstraktion und die Rückversicherung einer nichtsinnlichen Anschauung sollen also in Leibnizens Philosophie positiv leisten, was nach dem kritischen Idealismus versagt ist - ohne Grund, wie Eberhard meint.491 Er verkennt dabei den Ursprung des Kantischen Grenzbegriffs vom Ding an sich, die Frage, wie synthetische Urteile a priori möglich seien. Können wir, wie Kant zeigen wollte, unabhängig von und vor aller Erfahrung etwas (wenngleich nur zum Gebrauch (ur Erfahrung) wissen, schließt das die naive Hypothese aus, unser Erkennen würde sich nach den Dingen richten und damit letztlich das An-sich der Dinge isomorph oder perspektivisch abbilden, soll es überhaupt als wahrheitsfähig erachtet werden. Leibniz begreift das Erkennen noch als ein Faktum der Ontologie und stellt nicht umgekehrt die Ontologie vor das Gericht der Bedingungen der Möglichkeit einer Erkenntnis von Sein. Schon deshalb muß Eberhards These am Ende dieses Aufsatzes zurückgewiesen werden, Leibniz habe bereits eine "Vernunftkritik" (S. 289) erarbeitet und dabei dem reinen Verstand ein eigenes, bzw. ein größeres Gebiet als bei Kant sichern können.492 Da Kant objektive Erkenntnis aus reinem Verstand ablehnt, kann es für den Verstand kein nur von ihm allein beherrschtes Gebiet der Erkenntnis geben. In diesem Sinn steht Eberhards Behauptung den Aussagen Kants kontradiktorisch entgegen. Daß Kant die Legitimität des reinen Verstandesgebrauchs im bloßen Denken anerkennt, übersieht Eberhard. Hätte er diese Dimension berücksichtigt, hätte sich auf dieser problematischen Ebene vielleicht eine Verständigung - nicht auf dem Boden eines Gebiets, sondern nur innerhalb eines problematischen Horizonts des reinen Verstandes - erzielen lassen, und wäre es auch nur als Konsens über die Grenzscheidung zwischen beiden Positionen gewesen.
Kant über intellektuelle Anschauung Als Bedingung der Möglichkeit eines von Eberhard angestrebten "realen Hinaufsteigen^]" (ÜE 216) genügt, wie wir sahen, nach Kant die Abstraktion nicht. Es müßte vielmehr eine Anschauung verfugbar sein, die "intellektuell" (ebd.) zu nennen wäre, nicht etwa, weil Kant irgendwie mit so etwas als einer realen Möglichkeit rechnet, sondern "weil, was zum Erkenntnis gehört und nicht sinnlich ist, keinen
489 Eberhard: Abriß, S. 2, § 3. 490 A.a.O. - "Übersinnlich" sind die Begriffe, die durch Abstraktion von den sinnlichen und außersinnlichen erhalten werden. 491 Vgl. S. 289. 492 S. 289, S. 263/264.
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4 . D i e Kontroverse im engeren S i n n
anderen Namen und Bedeutung haben kann". 4 ' 3 Die Präsenz einer solchen Anschauung wiederum würde die Kategorien wegen ihrer nicht bloß logisch-aufbereitenden Bedeutung überflüssig machen (ÜE 216). Damit wäre zugleich Kants Kritik an Eberhards Annahme einer intellektuellen Anschauung bezeichnet, nämlich sie lasse sich nicht real erweisen und führe, wenn man sie auch nur hypothetisch annähme, die Kategorien (die Kant als Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung fiir bewiesen hält) ad absurdum. Doch im Blick auf den hier behandelten Aufsatz muß sich Kant mit einem formalen Einwand zunächst begnügen. Danach gebraucht Eberhard erneut einen aus taktischen Gründen unklaren Ausdruck - den einer "nicht sinnlichen" Anschauung. 494 Obwohl Kant selbst vorher eine nicht-sinnliche Anschauung negativ als intellektuelle Anschauung bestimmt hat (da es an Erkenntniskräften nur Sinnlichkeit und Verstand gibt, die erste aber wegfallt, ist keine Alternative möglich), eruiert er jetzt (auch im Gegensatz zu unserer bei der Rekonstruktion von Eberhards Ausfuhrungen vorgenommenen Identifizierung von nicht-sinnlicher mit intellektueller Anschauung), 4 ' 5 daß sich hinter Eberhards Ausdruck "nicht sinnlich" nicht die intellektuelle Anschauung, sondern die Deutlichkeit der Vorstellung verberge. Sinnlich ist dann eine Vorstellung, wenn und solange sie ihren Gegenstand - Kant bezieht sich in ÜE 216 auf die "einfachen Teile" von Raum und Zeit - verworren vorstellt. In beiden Fällen handelt es sich nach Kant tatsächlich um "ästhetisch[e]nDeutlichkeit, bzw. Undeudichkeit, doch könne Eberhard versuchen, anhand der nach ihm den Verstand kennzeichnenden differentia specifica "deutlich" (ausdrücklich definiert ihn Eberhard S. 295 als "Vermögen deutlicher Erkenntnis") in den Bereich des Intellektuellen überzuspingen. 4 ' 6 Aus Eberhards Ausführungen S. 280 bis S. 281 ergibt sich eindeutig, daß er unter dem freilich für sich vagen Ausdruck "nicht sinnliche Anschauung" die - für Leibniz wie Locke unkontroverse - intellektuelle meint. Er geht jedoch S. 282 von der intellektuellen Anschauung zu einer anderen intellektuellen Instanz, dem "allgemeinen]" Begriff über, vielleicht, um damit äußerlich die "Forderung der Kritik" (ÜE 216) zu erfüllen, dem Begriff "eine korrespondierende (nur nicht [wie nach Kant geboten, eine] sinnliche) Anschauung" (ebd.) beizugesellen.
493 Ü E 216. An dieser Formulierung wird sichtbar, daß Kant lediglich durch negative Bestimmungen den Begriff der intellektuellen Anschauung denkt. 494 Ü E 218 und 216 mit Bezug auf S. 280. 495 In ÜE 219, Z. 10-12, setzt allerdings auch Kant dann "nicht sinnlich" mit "intellektuell" gleich, um Eberhard einen "offenbaren] Widerspruch" (Z. 12-13) vorwerfen zu können. 496 Ü E 216, 217 und 217 Anm. - Auf die Problematik der intellektuellen Anschauung wird im nächsten Kapitel zurückgekommen.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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4.5.5. "Über den wesentlichen Unterschied der Erkenntnis durch die Sinne und durch den Verstand" In Abgrenzung von Kant will Eberhard "den wesentlichen Charakter" (S. 290) der Sinnes- und Verstandeserkenntnis, die, jede für sich genommen, eine eigene "Erkenntnisart" (ebd.) seien, darlegen. Zu diesem Zweck nimmt er wie häufig von einer von ihm aufbereiteten Kantischen These seinen Ausgang: Kant werfe der Leibniz-Wolffischen Philosophie vor, "den Begriff von Sinnlichkeit und Erscheinung verfälscht" zu haben, indem sie "den Unterschied der Sinnlichkeit von dem Intellektuellen bloß als logisch betrachte", indes "er offenbar transzendental sei, und nicht bloß die Form der Deutlichkeit oder Undeudichkeit, sondern den Ursprung und Inhalt" der sinnlichen und intellektuellen Vorstellungen angehe. 497 Bevor gezeigt werden soll, wie Eberhard gegen Kants zweifachen Vorwurf, Leibniz habe den Begriff von Sinnlichkeit und den von Erscheinung verfälscht, gegensteuert, muß der Sinn der Kantischen Worte aus obiger These erläutert werden. 498
Kants Leibniz-Kritik Die beiden von Eberhard herangezogen Stellen aus dem Abschnitt "Allgemeine Anmerkungen zur transzendentalen Ästhetik" der "Kritik der einen Vernunft" lauten: Daß daher unsere ganze Sinnlichkeit nichts als die verworrene Vorstellung der Dinge sei, welche lediglich das enthält, was ihnen an sich selbst zukommt, aber nur unter einer Zusammenhäufting von Merkmalen und Theilvorstellungen, die wir nicht mit Bewußtsein auseinander setzen, ist eine Verfälschung des Begriffs von Sinnlichkeit und von Erscheinung, welche die ganze Lehre derselben unnütz und leer macht. Der Unterschied einer undeutlichen von der deutlichen Vorstellung ist blos logisch, und betrifft nicht den Inhalt. 499 Die Leibniz-Wolffische Philosophie hat daher allen Untersuchungen über die Natur und den Ursprung unserer Erkenntnisse einen ganz unrechten Gesichtspunkt angewiesen, indem sie den Unterschied der Sinnlichkeit vom Intellectuellen blos als logisch betrachtete, da er offenbar transscendental ist, und nicht blos die Form der Deutlichkeit oder Undeudichkeit, sondern den Ursprung und den Inhalt derselben betrifft, so daß 497 S. 290. Eberhard montiert dabei Fassagen aus den "Allgemeinen Anmerkungen zur transzendentalen Ästhetik" der "KrV", A 44 und A 43, teilweise modifiziert zusammen, obgleich er in einer Fußnote nur auf die Seite 44 der eisten Ausgabe der "KrV" verweist. Die These wird von Eberhard mehrmals wiederholt, etwa S. 298 und S. 300. Maaß behandelt dieselbe These in seinem Aufsatz "Über die transzendentale Ästhetik", S. 144-148 des ersten Bandes des "Phil. Mag.". Er formuliert sie in ähnlicher Weise wie Eberhard, aber noch enger am Kanttext (A 43 und A 44) orientiert S. 144/145. (Eberhard begreift laut S. 291 seinen Aufsatz als Erläuterung des eben genannten Textes von Maaß.) 498 Kants Vorworf, ÜE 187, Eberhard gebe auf S. 298 die Worte der "Kritik" entstellt wieder, trifft nicht zu. Überdies hätte sich Kant auch und vor allem monierend auf Eberhards S. 290 beziehen müssen, was aber nicht geschah. 499 KrV A 43
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn wir durch die erstere die Beschaffenheit der Dinge an sich selbst nicht blos undeutlich, sondern gar nicht erkennen, und so bald wir unsre subjective Beschaffenheit wegnehmen, das vorgestellte Objekt mit den Eigenschaften, die ihm die sinnliche Anschauung beilegte, überall nirgend anzutreffen ist, noch angetroffen werden kann, indem eben diese subjective Beschaffenheit die Form desselben als Erscheinung bestimmt. 500
In diesen Passagen sind von Kant vor allem drei Differenzen markiert, die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich, von Sinnlichkeit und Begriff und die zwischen Logisch und Transzendental. Nach Leibniz und der Schulphilosophie seien alle drei Differenzen verdeckt, bzw. falsch bestimmt worden. Zuerst setzt sich Kant bei der objektiven Referenz der Vorstellungen - gleichgültig ob sie sinnlich oder intellektuell (begrifflich) sind - von Leibniz ab. Nach Leibniz beziehen sich beide von Kant unterschiedene Typen von Vorstellungen auf Dinge an sich, im ersten Fall Bissen sie sie "verworren", im zweiten distinkt. Daraus folgt, daß Leibniz den Begriff der "Erscheinung" fiir die verworrenen sinnlichen Vorstellungen der Dinge an sich reserviert. Der Erscheinung kommt in diesem Sinn ein Scheincharakter zu, den die deutlichen Vorstellungen (bei Leibniz die symbolisch-begrifflichen und die intuitiven)501 zur eigentlichen Wahrheit hin durchbrechen. Diese privative Bestimmung des Begriffs Erscheinung zögert Kant nicht "Verfälschung" zu nennen ("Verfälschung des Begriffs [...] von Erscheinung"). Weder die Sinnlichkeit noch der Verstand können nach Kant die mindeste Erkenntnis der Dinge an sich erreichen, da beide nur wegen ihres (auf der Grundlegungsebene) apriorischen Charakters zur "subjektive[n] Beschaffenheit" des erkennenden Subjekts gehören. Sie sind als begriffliche oder anschauliche "Form[en]" (ein Begriff, der hier nicht logisch, sondern transzendental gemeint ist) Bedingungen, unter denen nur für das Subjekt Gegenstände der Erkenntnis ("das vorgestellte Objekt") möglich sind. Gemäß diesen epistemologischen Überlegungen wird klar, daß sich überhaupt objektive Erkenntnis nirgends anders als auf der Ebene der Erscheinung - besser: der Phainomena, der Gegenstände als Erscheinungen - abspielt. "Erscheinung" ist also ein transzendentalphilosophisch-epistemologischer Begriff, keineswegs ein erkenntnispsychologisch-empirischer oder ontologischer. So ist er außerhalb des transzendentalen Diskurses harmlos und faktisch mit dem gleichbedeutend, was im Alltag und innerhalb der Einzelwissenschaften gewöhnlich "Realität" genannt wird. Keineswegs darf er, wie das Leibnizens Rede von Erscheinung nahelegt, als Basistheorem eines subjektiven Idealismus verstanden werden, als gäbe es keine realen (äußeren) Gegenstände. Der Kantische Begriff der Erscheinung enthält also nichts von den der Erscheinung von Leibniz zugesprochenen Eigenschaften des Undeutlichen, Scheinbaren und Vorläufigen.
500 KrV A 44. 501 Die Ausdrücke werden unten näher erklärt
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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Kant hält der Leibniz-Wolffischen Philosophie zweitens vor, den Unterschied einer Vorstellung der Sinnlichkeit von einer des Verstandes fälsch bestimmt zu haben ("Verfälschung des Begrifft von Sinnlichkeit" lautet hier sein Verdikt.) Danach handle es sich bei einer (sinnlichen) Anschauung um eine undeutliche Vorstellung, in der eine Vielzahl von "Merkmalen und Teilvorstellungen" zusammengehäuft (konfus) enthalten sei, mit anderen Worten um eine noch nicht ausreichend analysierte ("mit Bewußtsein auseinandergesetzte]") Vorstellung. Dahinter steckt bei Leibniz das Ideal, daß komplexe undeutliche (d. h. verworrene oder konfuse) Vorstellungen durch Distinktion ihrer "Merkmale[.] und Teilvorstellungen" in deutliche (= distinkte) und letztlich in einfache Vorstellungen aufgelöst werden können. Vollständige Deutlichkeit erreicht die Erkenntnis nach Leibniz erst auf der Ebene der einfachen Vorstellungen, die "intuitiv" im Sinne der intellektuellen Anschauung jenseits der symbolischbegrifflichen Ebene erkannt werden. Undeutliche sinnliche Vorstellungen, so ist Kants Leibniz-Interpretation zu präzisieren, gehen im Laufe der Analysis Uber in deudiche symbolisch-begriffliche und schließlich in intuitive Vorstellungen. 502 Das Kriterium, die Vorstellungen nach Graden der Deutlichkeit einzuordnen und - so interpretiert Kant zusätzlich Leibniz - dabei die sinnlichen Vorstellungen als undeutliche von den deutlichen intellektuellen, abzugrenzen, qualifiziert Kant als "bloß logisch", d. h. als nur "die Form" betreffend. "Bloß logisch" (also analytisch-entfältend) ist auch die Bearbeitung, durch die dieselbe Vorstellung von einer sinnlichen zu einer intellektuellen geläutert werden soll, was bedeutet, daß zunächst die Dinge an sich nur "verworren" repräsentiert, dann aber distinkt erkannt werden sollen. Die oben zitierten Kant-Stellen wie unsere daran anschließende Erläuterung lassen sich durch eine Passage aus einem späteren Abschnitt der "Kritik der reinen Vernunft", überschrieben mit "Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe", ergänzen: Die Bedingungen der sinnlichen Anschauung, die ihre eigene Unterschiede bei sich fuhren, sah er [Leibniz] nicht für ursprünglich an; denn die Sinnlichkeit war ihm nur eine verworrene Vorstellungsart und kein besonderer Quell der Vorstellungen; Erscheinung war ihm die Vorstellung des Dinges an sich selbst, obgleich von der Erkenntniß durch den Verstand der logischen Form nach unterschieden, da nämlich jene bei ihrem gewöhnlichen Mangel der Zergliederung eine gewisse Vermischung von Nebenvorstellungen in den Begriff des Dinges zieht, die der Verstand davon abzusondern weiß. Mit einem Worte: Leibniz intellectuirte die Erscheinungen, so wie Locke die Verstandesbegriffe nach seinem System der Noogonie [...] insgesammt sensificirt, d. i. für nichts als empirische, aber abgesonderte ReflexionsbegrifFe ausgegeben hatte. Anstatt im VerStande und der Sinnlichkeit zwei ganz verschiedene Quellen von Vorstellungen zu suchen, die aber nur in Verknüpfung objectiv gültig von Dingen urtheilen könnten, hielt sich ein jeder dieser großen Männer nur an eine von beiden, die sich ihrer Mei-
502 Nähere Belege zu Leibniz feigen in der Besprechung seiner Abhandlung "Meditation«"
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4. D i e Kontroverse im engeren S i n n
n u n g n a c h u n m i t t e l b a r a u f D i n g e an sich selbst bezöge, indessen d a ß die a n d e r e nichts t h a t , als die Vorstellungen der ersteren zu verwirren o d e r zu o r d n e n . 5 0 3
Leibniz wie Locke lassen danach nur eine Quelle der Erkenntnis gelten. Während es - isoliert betrachtet - noch plausibel erscheinen mag, daß Locke aus einer Vielheit von einzelnem sinnlich Gegebenen (fiir Locke hat die Sinnlichkeit in Kants Interpretation mit dem An-sich der Dinge zu tun) (komparativ-)allgemeine Begriffe ableitet, zeigt sich die Sinnlichkeit bei Leibniz und damit seine Lehre von Erscheinung, wie das Kant oben klar ausgesprochen hat, "unnütz und leer" ("KrV" A 43). Zur Begründung bietet Kant, genau betrachtet, zwei unterschiedlich starke Versionen an: Nach der schwächeren repräsentiert die Sinnlichkeit die Dinge an sich, doch verworren, und bedarf daher der Aufklärung durch den zergliedernden Verstand. Der Erkenntnisbeitrag der Sinnlichkeit wird also durch den Verstand erschlossen und überboten.504 Nach der radikaleren Version repräsentiert die Sinnlichkeit nichts, sondern verwirrt bloß die allein auf das Ding an sich referierenden intellektuellen Vorstellungen. Eine solche, gleichsam "diabolisch" verstandene Sinnlichkeit kann a fortiori nicht als positive Quelle für Erkenntnis gewertet werden.505 Der transzendentale Gesichtspunkt - um Kants dritten Einwand aus den von Eberhard zitierten Stellen näher zu erläutern - betrifft den "Ursprung" und davon abhängig den "Inhalt" der diversen Vorstellungen. Transzendentalphilosophie oder Vernunftkritik ist somit die systematische Untersuchung über "Natur" und "Ursprung" der als solche erweislichen oder vorgeblichen Erkenntnisse. Sie wäre falsch beraten, wenn sie auf das Theorem von Leibniz zurückgriffe, sinnliche und intellektuelle Vorstellungen unterschieden sich graduell voneinander, könnten also logisch als Unterarten des Gattungsbegriffs "Vorstellung" differenziert und so adäquat bestimmt oder erkannt werden, ohne daß dabei die Frage nach ihrem Ursprung und dem davon abhängigen Inhalt zu stellen wäre, durch die sich, transzendental gesehen, erst die "Natur" der jeweiligen Vorstellung oder, falls als solche rechtfertigbar, der Erkenntnis ergibt. Eine logische Einteilung verdunkelt also mehr von der Erkenntnis über mögliche Erkenntnisse, als daß sie sie zu erhellen vermöchte. Sie ist letztlich willkürlich, da nur ein äußerliches Klassifikationsschema; den Ursprung berücksichtigt sie nicht und kann ihn als solche auch gar nicht berücksichtigen. Während Leibniz nach einem formalen Vollkommenheitsgesichtspunkt die Vorstellungen unterteilt, unterscheidet Kant unter dem transzendentalen Gesichtspunkt das Allgemeine und Besondere von Erkenntnis (oder - in einer anderen Terminologie - Form und Stoff). Jedes Erkenntnisurteil hat nach Kant zwei voneinander unabhängige Bedingungen zu erfüllen, die individualisierende und die generalisie503 KrV B 326-327 = A 270-271. Auch Raum und Zeit hält Leibniz nach Kant für verworrene Begriffe (KrV B 331-332 = A 275-276). 504 Die oben zitierten Stellen A 4 3 und A 44 aus der "KrV" erlauben die Formulierung dieser moderateren Version. 505 ÜE 220. Die zitierte Stelle B 327 der "KrV" (v. a. der letzte Satz des Zitats) plädiert fiir die härtere Version. Auch A 43 und A 44 können in diesem Sinn ausgelegt werden.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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rende, denn jede Erkenntnis geht auf etwas Konkretes und schreibt diesem (dem Etwas, das da ist) eine allgemeine Bestimmung zu (das, als was dieses Etwas zu bezeichnen ist). Die individualisierende Bedingung kann nur durch die Anschauung, die generalisierende nur durch den Begriff erfüllt werden. Eine begriffliche Vorstellung gehört in diesem Sinn immer zu einer sinnlichen, da nur das Allgemeine, also Form ohne Stoff, oder nur das Besondere, Stoff ohne Form, keine bestimmte Erkenntnis (d. h. keine Vorstellung mit Anspruch auf objektive Erkenntnis von etwas) ausmachen kann. Die Form kann erst aktuiert werden, wenn ihr Sinnliches gegeben wird. 506 Es kommt also auf eine "Verknüpfung" der beiden Bedingungen an. Das Sinnliche wiederum ist nach Kants "Transzendentaler Ästhetik" prinzipiell deshalb nicht auf ein etwaiges Ding an sich beziehbar, weil es apriorischen Formen der Anschauung, Raum und Zeit, unterliegt. Unter dieser Voraussetzung kann das raum-zeitlich Gegebene nicht mehr als (sinnlich-verworrene) Repräsentation des Dings an sich gedacht werden. Zur Erklärung objektiv gültiger Erkenntnis ist somit nach den für sich unabhängigen positiven Quellen, dem Verstand für die begriffliche und dem Vermögen, affiziert zu werden, 507 für die sinnliche Komponente, zu fragen, eine formale Unterscheidung der Vorstellungen würde hier nicht weiterhelfen und schon gar nicht, wenn das Vollkommenheitskriterium mit Bezug auf das An-sich (d. h. der postulierten Adäquatheit seiner Repräsentation) definiert ist. Kant gelangt also zu einer Neukonzeption des Verhältnisses von Sinnlichkeit und Verstand: Von der (von Kant Leibniz zugeschriebenen) Binnendifferenzierung letztlich eines Erkenntnisvermögens zur "Verknüpfung" und daher Zuordnung verschiedener Vermögen (bzw. ihrer spezifischen Leistung).
Kants Thesen Sieht man von dem für Kant ohnehin tragenden Anliegen der epistemologischtranszendentalen Fragestellung ab, so lassen sich Kants Einwände gegen Leibniz (und darin inbegriffen die Schulphilosophie) zu zwei (bzw. drei) Thesen kondensieren: (a) Leibniz führt einen logischen Diskurs über die Verschiedenheit von Vorstellungen; dabei teilt er sie nach dem Kriterium der Undeutlichkeit oder Deutlichkeit (d. h. den Graden der Deutlichkeit, bzw. Verworrenheit) ein. (ba) Leibniz begreift sinnliche Vorstellungen als verworrene (oder undeutliche) Vorstellungen der Dinge an sich (Komplexionsmodell der Sinnlichkeit), bzw. (bb) Leibniz begreift sinnliche Vorstellungen als verwirrte intellektuelle Vorstellungen ("diabolos"-Modell der Sinnlichkeit).
506 ÜE 222. 507 ÜE 218, Z. 27-28: "als ein besonderes Vermögen der Receptivität".
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4. Die Kontroverse i m engeren Sinn
Zur Erläuterung sei angefugt, daß nach (ba) grundsätzlich zwei Möglichkeiten bestehen, wie sich eine sinnliche Vorstellung auf Dinge an sich beziehen kann, entweder sie repräsentiert sie direkt (auf verworrene Weise), oder sie ist eine Vorstellung zweiter Ordnung, nämlich das sinnliche "Bild" einer komplexen intuitiven (d. h. intellektuell-anschaulichen) Vorstellung, der ursprünglich der Zugang zu den Dingen an sich offensteht. 508 Entsprechend läßt sich der Ausdruck "intellektuelle Vorstellungen" in These (bb) in "begriffliche" und "intuitive" Vorstellungen differenzieren. Aus dem Prinzip, daß die Sinnlichkeit nur ein Mangel an begrifflicher Deutlichkeit ist, folgt freilich nicht der Schluß, alle undeutlichen Vorstellungen seien sinnlich. Ohne seiner These zu schaden, kann also Kant Leibniz die Möglichkeit undeutlicher begrifflicher Vorstellungen zugestehen und muß nicht so weit gehen, zu behaupten, die undeutliche Vorstellung des "Begriffes] von Recht" etwa sei nach Leibniz ein sinnlicher Begriff.509
Leibnizens Diärese der Vorstellungen Bevor Eberhards Antwort auf Kants Leibnizinterpretation diskutiert wird, soll - auf Vorschlag Eberhards - ein für diese Problematik zentraler Leibniz-Text behandelt werden, die "Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis". Dadurch wird es möglich, Kants Thesen unabhängig von Eberhard zu bewerten, und es läßt sich besser prüfen, inwiefern Eberhard Leibniz richtig auslegt. In den "Meditationes" widmet sich Leibniz der Unterscheidung der Vorstellungen 510 unverkennbar in der Art einer quaestio facti. 511 Er differenziert zwar, wie seine Beispiele zeigen werden, zwischen sinnlichen und intellektuellen Vorstellungen, behandelt aber beide gemäß seinem logischen Raster - bis auf eine signifikante Ausnahme - gleich. Die Frage nach dem Ursprung der Vorstellungen überspielt die Prämisse der Bezogenheit aller Vorstellungen auf das An-sich.
508 Für die kompliziertere Version spricht, wie wir sehen werden, ÜE 218-221. 509 KrV A 43. Mit diesem - sicherlich unpassenden, da aus der praktischen Philosophie gezogenen - Beispiel will Kant die Unplausibilität von Leibnizens Bestimmung von Sinnlichkeit zeigen. 510 In den "Meditationes" verwendet Leibniz "cognitio" synonym mit "norio", zu deutsch "Vorstellung" oder - im Sinne einer bloßen Wiedererkennbarkeit von etwas nach Merkmalen ("notae") - "Erkenntnis". Den Substantiven entsprechen bei Leibniz die Verben "cognoscere" oder "agnosceie", zu übersetzen mit "wiedererkennen" im Sinn von "identifizieren", d. h. es geht darum, eine Sache von einer anderen ihr ähnlichen zu unterscheiden (vgl. "Meditationes", S. 422: "ab aliquo vicino discernere"). Von dem allgemeineren "cognitio" abzusetzen ist der speziellere Ausdruck "idea". Er bezeichnet die Vorstellung einer hinreichend umfänglichen Anzahl von Merkmalen, die über die Identifizierung hinaus einer realen Sache zuzuschreiben sind. 511 Eberhard nimmt diese quaestio facti zu Beginn seines Aufsatzes in der These auf, wenn er sein Anliegen als Bestimmung des "wesentlichen Charakter[s]" der Sinnes- und Verstandeserkennmis bezeichnet (S. 290).
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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Während für Descartes jede «perceptio clara et distincta»512 - und in diesem Sinn jede klare und deutliche "idea" 513 - gewiß und um dieser Gewißheit willen wahr ist 514 (womit implizit sogar die Ursprungsfrage gestellt und letztlich als Denken des Subjekts beantwortet ist), ist für Leibniz eine Erkenntnis (cognitio) entweder dunkel (obscura) oder klar (clara), eine klare Erkenntnis entweder verworren (confiisa) oder deutlich (distincta) und eine deudiche Erkenntnis schließlich sowohl entweder inadäquat (inadaequata) oder adäquat (adaequata) als auch entweder symbolisch (symbolica) oder intuitiv (intuitiva). 515 Um den letzten Schritt nochmals zu erläutern, so kann es grundsätzlich nach den Regeln der Kombinatorik vier Arten von deutlichen Vorstellungen geben: symbolisch adäquate (= adäquat symbolische), intuitiv adäquate (= adäquat intuitive), symbolisch inadäquate (= inadäquat symbolische) und intuitiv inadäquate (= inadäquat intuitive). In der Abhandlung diskutiert Leibniz nicht alle Möglichkeiten. Zu erschließen ist, daß intuitiv inadäquate Vorstellungen nach der Definition von intuitiver Erkenntnis unmöglich und begrifflich inadäquate Vorstellungen fälsche Ideen sind. Im Zuge der Diärese ordnet Leibniz die Vorstellungen auch nach dem formal-ontologischen Gesichtpunkt des Grades der Vollkommenheit. Danach steht an der Spitze die intuitiv adäquate Erkenntnis (durch idealiter vollständige Analyse). Bei seiner Leibniz-Kritik greift sich Kant offensichtlich nicht nur eine isolierte Distinktion heraus, die Unterscheidung klarer Vorstellungen in deutliche (distinctae) und verworrene (confusae), sondern nimmt diese Unterscheidung undeutlich/deutlich generell als Symptom fiir die logisch-formale Methodik der Aufgliederung von Vorstellungen. Leibniz wird damit nicht an nur einer speziellen Verzweigung seiner Diärese kritisiert, sondern grundsätzlich an seinem Verfahren angegriffen.
512 Descartes: Dritte Meditation, S. 35, Z. 9-10. Die Worte lauten dort eigentlich: "clara quaedam et distincta perceptio". 513 Descartes: Dritte Meditation, S. 37/38, 40,44 und insbesondere 48. 514 Bei Descartes heißt es: " [I] llud omne esse verum, quod valde clare et distinete pereipio" ("Dritte Meditation", S. 35; vgl. auch seinen "Disoours de la mlthode", Teil IV, S. 33). In den "Meditationes", S. 425, weist Leibniz ausdrücklich den Satz zurück "quiequid clare et distinete de re aliqua perüpio, id est verum seu de ea enuntiabile". Damit kennzeichnet Leibniz das ins Subjekt der Erkenntnis verlagerte Wahrheitskriterium der Gewißheit als unzureichend, denn es fehlten die näheren Merkmale des Klaren und Deutlichen. Leibniz bemüht sich, diese in der Abhandlung anzugeben, verläßt damit aber den subjektzentrierten Ansatz von Descartes. (Durch die Unterscheidung "cognitio"/"idca" wird zugleich Descartes' Begriff "idea" als zu weit kritisiert.) 515 Leibniz: Meditationes, S. 422: "Est ergo cognirio vel obscura vel clara, et clara rurcus vel confiisa vel distincta, et distincta vel inadaequata vel adaequata, item vel symbolica vel intuitiva: et quidem si simul adaequata et intuitiva est, perfeedssima est." - Wundt erinnert daian, daß Leibnizens "Meditationes" entscheidend das philosophische Verfahren Christian Wolfis geprägt haben, das den Übergang von der klaren zur adäquat-deutlichen Erkenntnis betreffe (Wundt: Kant, S. 31-32). Wolff bekenne das selbst in der Vorrede zu seiner Deutschen Logik. Nach Wundt handelt es sich dabei darum, durch Schlüsse "die Tatsachenwahrheiten zu Vernunftwahrheiten zu erheben" (Wunde Kant, S. 32 und S. 45). Die Vernunftwahrheiten müßten sich dann aber wiederum an der Erfahrung bewähren. "So ist Ausgang und Ziel aller Erkenntnis die Erfahrung. Dazwischen liegt der Weg der Vernunft [...]" (ebd. S. 43).
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4 . D i e Kontroverse im engeren Sinn
Wenn die oben formulierte Kantische These (a) stimmt, dann steht zu vermuten, daß Leibniz Vorstellungen, die aus Kants Sicht aus verschiedenen Quellen geflossen sind, unter ein und denselben Titel bringt. Den Gegenstand einer Vorstellung nicht wiederzuerkennen oder wiederzuerkennen (recognoscere, agnoscere) ist nach Leibniz das allgemeine Merkmal einer dunklen, bzw. einer klaren Vorstellung. Als dunkle Vorstellung bezeichnet Leibniz die vage Erinnerung an einen sinnlichen Gegenstand, z. B. eine Blume. Sie kann als sinnliche Vorstellung gewertet werden. Dunkel ist aber nach Leibniz ebenso ein nicht erklärter philosophischer Begriff, etwa die Vorstellung "Entelechie", und nicht minder das Urteil (propositio), in den ein solcher dunkler Begriff eingeht. 516 Es wäre also fälsch, das Merkmal der Dunkelheit nur sinnlichen Vorstellungen vorzubehalten; ebenso verhält es sich mit dem Merkmal der Verworrenheit. Bei einer verworrenen Vorstellung können die Merkmale nicht einzeln aufgezählt werden, 517 obwohl, so der Ontologe Leibniz, die vorgestellte Sache alle diese komplex vorgestellten Merkmale besitzt ("licet res illa tales notas atque requisita revera habeat"). 518 Als Beispiele fuhrt Leibniz wiederum zwei als verschieden zu interpretierende Vorstellungsarten an, einmal Vorstellungen vom Typ "colores, odores, sapores, aliaque peculiaria sensuum objecta", zum anderen ästhetische Urteile über die Richtigkeit oder Falschheit von künstlerischen Darstellungen. Im ersten Fall haben wir genuin sinnliche Eindrücke (nach Leibniz wie Kant), im zweiten Fall bei Leibniz ein undeutlich begriffliches Urteil (etwa über geometrische Proportionalbeziehungen), bzw. bei Kant letztlich ein nicht auf einem Begriff beruhendes reines ästhetisches Geschmacksurteil. 519 Bei einer deutlichen Vorstellung können hinreichend viele Merkmale aufgezählt werden, um eine Sache von allen anderen ähnlichen Dingen unterscheiden zu können. 5 2 0 Darunter fällen einmal alle die diversen zusammengesetzten Vorstellungen, von denen wir eine Nominaldefinition haben. Unter einer solchen versteht Leibniz eine "enumeratio notarum sufficientium" und nennt als Beispiele Vorstellungen, die mehreren Sinnen gemeinsam seien, wie Zahl, Größe, Gestalt, sowie Vorstellungen vie-
516 Leibniz: Meditationes, S. 422. 517 Kants Worte zur Beschreibung verworrener Vorstellungen lauten gemäß obigen Zitaten: "unter einer Zusammenhäufung von Merkmalen und Teilvorstellungen" (A 43), bzw. "eine gewisse Vermischung von Nebenvorstellungen" (B 327). 518 Leibniz: Meditationes, S. 422. Auf höherer Ebene müssen diese Merkmale prinzipiell (weiter) aufgelöst werden können. Insbesondere mit Blick auf sinnliche Qualitäten (etwa "rubrum") sagt Leibniz ebd. S. 422/423: "[L]ioet certum sit, notiones harum qualitatum compositas esse et resolvi posse, quippe cum causas suas habeant." Mit "causas suas" sind hier die Dinge an sich gemeint. 519 Leibniz: Meditationes, S. 422; Kant: KU B 3-73, insbesondere §§ 1, 6, 1 1 , 1 2 , 19 und 20. 520 Leibniz: Meditationes, S. 423.
4 . 5 . Synoptische Analyse der Eberhardischen A u f t a u e u n d der Kantischen Replik
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ler seelischer Zustände, etwa Hoffnung und Furcht. 521 Nicht definieren läßt sich nach Leibniz die andere Gruppe von distinkten Vorstellungen, nämlich die einfachen, die jeweils ein einzelnes Merkmal zum Gegenstand haben ("primitiva [cognitio] sive nota sui ipsius") und die durch sich selbst erkannt werden ("non nisi per se intelligitur"). 522 Bei den zusammengesetzten deutlichen Vorstellungen stellt sich die Frage nach ihrer Adäquatheit. Eine deutliche Vorstellung ist adäquat, wenn alle ihre Teilvorstellungen ihrerseits deutlich erkannt werden können, mit anderen Worten, wenn sich die Analysis der Gesamtvorstellung bis zu den einfachen Bestandteilen durchfuhren läßt. 523 Inadäquat ist eine deutliche Vorstellung hingegen, wenn sie Teile enthält, die nur verworren erkannt werden können. 524 Der adäquaten Erkenntnis rückt nach Leibniz die Erkenntnis der Zahlen sehr nahe. 525 Im Falle der Zahlen haben wir dann zugleich eine symbolische Erkenntnis ("qualem cogitationem caecam vel etiam symbolicam appellare soleo"),526 also gemäß obiger Bestimmung symbolisch adäquate Erkenntnis: Wir sehen das Wesen der (komplexen) Sache, etwa einer (höheren) Zahl, nicht in einem einzigen Akt intuitiv ein, d. h. wir schauen es nicht geistig (intellektuell) an, sondern bedienen uns der Zeichen. 527 Blinde und intuitive Erkenntnis sind hier offensichtlich Gegenbegriffe. Eine symbolische Erkenntnis enthält alle Merkmale der erkannten Sache. Die Analyse kann sie nacheinander (diskursiv) aufschlüsseln, sie können aber nicht alle zugleich gedacht werden. 528 Solches ist nach Leibniz der intuitiven Erkenntnis vorbehalten. Diese umfaßt die einfachen deutlichen Vorstellungen (wegen ihrer Einfachheit können sie überhaupt nur intuitiv erkannt werden) sowie zusammengesetzte Vorstellungen (die damit also grundsätzlich entweder symbolisch oder intuitiv erkannt werden können). 529 Da die intuitive Erkenntnis auf dieser Ebene der Diärese mindestens die Leistungsfähigkeit der blinden erreichen muß, kann sie nicht, was die Übersetzung von "intuitiv" mit "anschaulich" vielleicht suggeriert, mit bloß sinnlicher Erkenntnis verwechselt werden. Überdies ist nach Leibniz sinnliche Anschauung, gerade auch scheinbar homogene 521 Leibniz: Meditationes, S. 423. Vgl. ebd.: "[T]ales habere solemus circa notiones pluribus sensibus communes, ut numeri, magnitudinis, figurae, item circa multos affeccus animi, ut spem, mctum [...]". Von Kant aus gesehen, mögen die Begriffe von Zahl, Größe usw. mehreren Sinnen gemein sein, sie entstehen aber keinesfalls durch Synopsis der Sinne. Auch bei Leibniz kommt diesen Dingen - etwa der Zahl - per se kein sinnlicher Charakter zu. 522 Leibniz: Meditationes, S. 423. 523 Leibniz: Meditationes, S. 423: "Cum vero id omne quod notitiam distinctam ingreditur, rursus distincte cognitum est, seu cum analysis ad finem usque producta habetur, cognitio est adaequata, cujus exemplum perfectum nescio an homines darc possint". 524 Leibniz: Meditationes, S. 423: "[C]lare quidem, sed tarnen confuse cognitae sunt [•••]". 525 Ebd.: "[V]alde tarnen ad eam accedit notitia numerorum". 526 Ebd. - Leibniz weist daraufhin, daß man sich der symbolischen Erkenntnis nicht nur in Algebra und Arithmetik bedient, sondern "imo fere ubique", "fest überall" (ebd.). 527 Leibniz: Meditationes, S. 423: "Plerumque autem, praesertim in Analysi longiore, non totam simul naturam rei intuemur [!], sed rerum loco signis utimur [...]". 528 Leibniz: Medicationes, S. 423: "[N]on possumus omnes ingredientes eam notiones simul cogitare". 529 Leibniz: Meditationes, S. 423.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
Farbwahrnehmung, ihrem Charakter nach multipel und komplex und alles andere als einfach. Leibniz meint vielmehr mit intuitiver Erkenntnis die unmittelbare geistige Erfassung oder "Wesensschau". Der Mensch erreicht die intuitive Erkenntnis (auf methodischem Wege) unproblematisch bei einfachen deudichen Vorstellungen, da dort alle zugleich zu denkenden Merkmale sich auf jeweils eines beschränken. Die zuammengesetzten deudichen Vorstellungen kann der Mensch gewöhnlich nur symbolisch denken. 530 Leibniz unterscheidet damit auf der Ebene des Deudichen erneut verschiedene Vorstellungsarten, die symbolische und die intuitive. Im Gegensatz zu den bisherigen Distinktionen grenzt Leibniz jedoch jetzt die sinnlichen Vorstellungen aus dem Bereich des konsequent Deutlichen, d. h. der adäquaten distinkten Vorstellungen, aus. Die Sinnlichkeit erreicht nur noch als verworrene Teilvorstellung die Ebene des Inadäquat-Deutlichen. 531 Insofern belegt Leibniz die sinnlichen Vorstellungen insgesamt mit dem Mal des Verworrenen oder Undeutlichen. Aus den vorhergehenden Etappen wurde das nicht ersichtlich, denn das Dunkle und Verworrene umfaßte hier ebenfalls begriffliche Vorstellungen. Merkwürdig zugleich ist, daß letztlich derselbe Vorstellungsgehalt, kausal entstanden durch eine Perzeption des An-sich, 532 im Zustand der Verworrenheit sinnlich ist und im Zuge einer Zergliederung dann entwirrt und entsinnlicht wird, so daß sich eine sinnliche Vorstellung zu einer adäquat symbolischen verwandelt und, nachdem auch diese in ihre Teile - in einfache - zerlegt ist, sich schließlich als intuitiv entpuppt. Als Resultat der Untersuchung der "Meditationes" ergibt sich, wie bereits angedeutet wurde, die Bestätigung der Kantischen These (a), aber auch These (ba) ist in dieser abgemilderten Form vertretbar. Einige Kautelen zur Abgrenzung von der härteren Version (bb) sind hier jedoch noch anzubringen. Alle deutlichen Vorstellungen sind nach Leibniz nicht-sinnlich, damit aber nicht einfach alle ausschließlich symbolisch (begrifflich), sondern entweder symbolisch oder intuitiv. Sobald man eine einfache Vorstellung hat, muß es sich um intuitive Erkenntnis handeln. Es wäre also fälsch, (mit Kant) zu sagen, alle deudichen Vorstellungen bei Leibniz seien begriffliche Vorstellungen. Umgekehrt wäre es ebenso unrichtig, Leibniz zu unterstellen, alle undeutlichen Vorstellungen seien sinnlich. Kant, der die Möglichkeit intellektueller Anschauung fiir den Menschen zurückweist, geht in der " K r V in diesem Zusammenhang nicht explizit auf Leibnizens Behauptung einer solchen Erkenntnis ein. (Auch Eberhard beschäftigt sich nicht, wenigstens nicht explizit, mit
530 Leibniz: Meditationes, S. 423. 531 Leibniz nennt auf dieser Ebene noch einmal eine Teilvorstellung vom Typus "Farbe" ("color"), a.a.O., S. 423. 532 Leibniz: Monadologie, §§ 14, 15 und 19; Principes, § 2. Die zwei komplementären Grundkräfte der Monade und so auch der menschlichen Seele sind die passive Perzeption (z. T. mit Apperzeption, Bewußtsein der Perzeption) und die aktive Appetition. Die Appetition wiederum ist ein Streben nach Perzeption.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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Leibnizens Unterscheidung deutlicher Vorstellungen in symbolische und intuitive.) 533 Nach ihm kann man das Einfache (als Begriff) nur denken, nicht aber gegenständlich erkennen. 534 Leibnizens Prinzip ist der Gedanke der Analysis von Dunklem oder Verworrenem (der Theorie nach grundsätzlich bis zum Einfachen, faktisch jedoch nur, soweit menschenmöglich). Bei Leibniz wäre es nicht zu belegen, wenn man, was wenigstens partiell als Kants Urteil darüber verstanden werden kann, 535 daraus umgekehrt die Verwirrung intellektueller Vorstellungen durch die Sinnlichkeit machen würde. Die Undeutlichkeit ist als Verworrenheit nicht Mangel, sondern Fülle von Teilvorstellungen. Dies bezeugen auch andere Leibniz-Texte, etwa eine Stelle aus den "Principes de la Nature et de la Grâce, fondés en raison": Mais comme chaque perception distincte de l'Ame comprend une infinité de perceptions confuses, qui enveloppent tout l'univers, l'Ame même ne connoit les choses dont elle a perception, qu'autant qu'elle en a des perceptions distinctes et revelées; et elle a de la perfection, à mesure de ses perceptions distinctes. Chaque Ame connoit l'infini, connoit tout, mais confusement; comme en me promenant sur le rivage de la mer, et entendant le grand bruit qu'elle fait, j'entends les bruits particuliers de chaque vague, dont le bruit total est composé, mais sans les discerner; nos perceptions confuses sont le résultat des impressions que tout l'univers fait sur nous. Il en est de même de chaque Monade. Dieu seul a une connoissance distincte de tout, car il en est la source. 5 3 6
Damit der Verstand und das symbolisch-begriffliche Vermögen tätig werden können, bedarf es nach Leibniz bei bestimmten Gegenstandsbereichen (bzw. einer Gruppe kontingenter Wahrheiten) durchaus der Sinneseindrücke.537 Durch die Analysis als Tätigkeit des Verstandes wandelt sich dann nur die Form der Vorstellung vom Mannigfaltigen in eine intuitive oder diskursive Unterscheidung der Teile des Ganzen. Dieser Wandlungs-, Aufklärungs- oder Analysisgedanke hängt bei Leibniz mit der Bezogenheit aller Vorstellungen (der sinnlichen, symbolischen und intuitiven) auf das An-sich (d. h. gemäß obigem Zitat das "ganze Universum", das "Unendliche" und in diesem Sinn das Absolute) zusammen. Bestünde hier der Erkenntnisvertiefungsprozeß in etwas anderem als der fur sich neutralen Zergliederung, so ginge die Ausrichtung des Vorstellungsgehalts auf das Absolute verloren, weil sich hier zwischen Vorstellungsunmittelbarkeit und Bewußtseinserhellung des Vorgestellten, etwas Drittes spontane begriffliche Schemata oder was immer - einschöbe und damit die Wahrheit verfälschte. Wenn nach Kant bei Leibniz die Sinnlichkeit nicht positiv als Quelle fiir 533 534 535 536
Vgl. S. 293-297. Vgl. ÜE 208-209. KrV B 332. Leibniz: Principe«, $ 13. Vielleicht haben aber gerade Leibnizens Worte zu Beginn des Zitats, jede deutliche Perzeption umfasse unendlich viele verworrene Perzeptionen, die Kant zuschreibbare Deutung veranlaßt, sinnliche Vorstellungen seien verworrene intellektuelle Vorstellungen. - Das Verb "discemer" ist hier von Leibniz im Sinn von "cognoscere, agnosccre" gebraucht. Er unterscheidet aber offensichtlich nicht zwischen adäquat-deutlichen und inadäquat-deutlichen Vorstellungen, sonst könnte er nicht sagen, alle deutlichen enthielten verworrene Perzeptionen. 537 Leibniz: De Libertäre, S. 182.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
Erkenntnis zu werten ist, ist diese Aussage tranzendental zu verstehen. Soll damit überhaupt die Überflüssigkeit der Sinnlichkeit im faktischen Erkenntnisprozeß bezeichnet sein, so wäre hier Leibniz sicherlich unrecht getan. Bevor wir Leibnizens "Meditationes" verlassen, sei noch auf einige Pointen darin (die zugleich immanente Probleme sind) verwiesen: Erst auf der Ebene des Deudichen - die Subdistinktion adäquat/inadäquat zeigt das schon sprachlich an - stellt sich im eigentlichen Sinn die Wahrheitsfrage (ebenso wie die Frage nach der Adäquatheit der Zeichen). Dunkle und verworrene Vorstellungen sind als solche weder wahr noch falsch, nur existent oder inexistent. Begriffliche Vorstellungen haben unterhalb des Deutlichen noch nicht ihre Beurteilbarkeit erlangt, so daß geklärt werden könnte, ob ihnen gemäß ihren Merkmalen Realität zukommt oder nicht. Vorher besitzen alle Vorstellungen nur den Charakter des bloß Identifizierbaren ("cognitio" heißt in diesem Sinne gerade nicht "Erkenntnis"). Es geht nur um die Vorstellungen als Vorstellungen, also um die Faktizität ihres Vorkommens und um ihre gegenseitige Abgrenzung, nicht um den in ihr enthaltenen Erkenntnisanspruch. Dieser bedarf einer ausreichenden Deutlichkeit (beginnend mit der Ebene des Inadäquat-Deutlichen), damit er überhaupt gestellt und damit über ihn entschieden werden kann. Soll eine Vorstellung eine reale Sache repräsentieren - und sie kann das nur bei ausreichender Deutlichkeit -, heißt sie "Idee" (idea). Eine Idee ist dann fälsch, wenn sie einander widersprechende Teilvorstellungen enthält. So ist etwa die Vorstellung "die schnellste Bewegung" dem ersten Blick nach eine wahre Idee. Sie ist klar und deutlich, sie ist bewußt (und erfüllt damit Descartes' Kriterien, womit allerdings nach Leibniz Wahrheit von Einbildung nicht unterschieden werden kann), 538 doch ihre Deutlichkeit ist - wie sich in einem zweiten Schritt zeigt - inadäquat. Das besagt zunächst nur, daß sie verworrene Momente enthält. In einem dritten Schritt werden auch diese noch aufgelöst, und es stellt sich heraus, daß die Vorstellung "schnellste Bewegung" in sich widersprüchlich ist.539 Aus diesem Grunde kann sie keine Realität repräsentieren. Es handelt sich also um eine fälsche Idee. Eine Idee ist wahr, wenn das, was sie vorstellt, real möglich, weil widerspruchsfrei ist.540 Der Schritt von der Widerspruchsfreiheit einer Vorstellung zur Annahme der Realität der entsprechend vorgestellten Sache demonstriert wiederum Leibnizens ontologisches Denken. 541 538 Leibniz: Meditationes, S. 425. 539 Leibniz: Meditationes, S. 424. 540 Leibniz: Meditationes, S. 425: "Patet etiam, quae tandem sit Idea vera, quae falsa, vera scilicet cum notio est possibilis, falsa cum contradicaonem involvit." Prinzipiell fuhrt die Analysis zu den ersten Möglichkeiten ("ad primapossibilia ac notiones irresolubiles"), die Leibniz mit nichts anderem als den "absoluten Attributen Gottes" gleichsetzt: "sive [...] ipsa absoluta Attributa DEI, nempe causas primas atque ultimam rerum rationem" (ebd.). 541 Freilich könnte man - vor allem von einem modernen nicht-ontologischen Standpunkt aus - einwenden, Leibniz habe in diesem Text nicht durch ein formales Kriterium (einfache Widerspruchsfreiheit, bzw. Kompossibilität) einem Begriff (sein Ausdruck "Idee" fungiert dafür als Variable) objektive Realität sichern wollen, sondern als Vorbedingung für die ontologische Frage nach der Realität zunächst nur
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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D a ß d e m f a k t i s c h e n E r k e n n t n i s p r o z e ß d a m i t eine g e w a l t i g e A u f g a b e z u g e w i e s e n w i r d , versteht sich v o n selbst. D a s d e r F o r m u l i e r u n g als Prinzip n a c h e i n f a c h e ( u n d d a b e i leicht als b l o ß l o g i s c h z u m i ß v e r s t e h e n d e ) K r i t e r i u m der W i d e r s p r u c h s f r e i h e i t k a n n sich b e i m wirklichen E r k e n n e n als u n p r a k t i k a b e l erweisen. E s e n t h ä l t z u d e m , was d e r T e x t d e r " M e d i t a t i o n e s " n i c h t a u s f u h r t , eine d o p p e l t e D i m e n s i o n : E i n m a l ist d a m i t d i e i n t e r n e N i c h t w i d e r s p r i i c h l i c h k e i t v o n etwas Isoliertem g e m e i n t , z u m a n d e ren - u n d a u f diese (eigentlich erst g a n z h e i t l i c h - a b s o l u t e ) D i m e n s i o n k o m m t es d e m O n t o l o g e n L e i b n i z vor a l l e m a n - d i e K o m p o s s i b i l i t ä t eines E i n z e l n e n m i t einer m ö g l i c h e n W e l t o d e r m i t allen m ö g l i c h e n W e l t e n . 5 4 2 D i e erforderliche umfassende Erkenntnis kann entweder intuitiv oder symbolisch sein. D i e erste M ö g l i c h k e i t w e i s t L e i b n i z f ü r d e n M e n s c h e n z u r ü c k , d e n n s i e w ü r d e b e d i n g e n , d a ß er e i n e s i m u l t a n e i n t u i t i v e E r k e n n t n i s v o n h ö c h s t V i e l f ä l t i g e m e r r e i c h t . 5 4 3 D i e ü b r i g b l e i b e n d e s y m b o l i s c h e E r k e n n t n i s e r f o r d e r t ihrerseits e i n s o g e w a l t i g e s K a l k ü l , d a ß es s c h w e r e i n s e h b a r ist, w i e es p r a k t i s c h m ö g l i c h s e i n s o l l , in relativ w e n i g e n S c h r i t t e n k o n k r e t e i n e n N a c h w e i s ü b e r d i e N i c h t w i d e r s p r ü c h lichkeit u n d d a m i t Realität einer Vorstellung z u fuhren, die das G a n z e signifikant berücksichtigt. echte von vorgeblichen (wahre von falschen) Ideen auf bloß logischer Ebene unterscheiden und damit nicht von realen, sondern nur von möglichen Objekten sprechen wollen. In der Tat entspricht es - wie etwa die Marquise von Chätelet zu Beginn ihrer "Institutions de physique" darlegt - Leibnizischem Denken, daß nach dem einfachen Satz vom Widerspruch nur das (logisch) Mögliche bestimmt werden kann und daß es, um zu Wirklichem zu gelangen, noch des Prinzips des zureichenden Grundes bedarf. Nun redet wirklich Leibniz in den "Meditationes'' von Kausaldefinitionen, d. h. Definitionen, in denen implizit eine (reale) Bestimmung nach dem Satz vom Grund steckt, und will mit ihrer Hilfe gerade die wahren Ideen von vorgeblichen abscheiden (a.a.O., S. 425). Schon das gen>, um die Redeweise von der "Möglichkeit" der wahren Ideen als "Realmöglichkeiten" wenigstens im Sinne von urspünglichen Positivitäten zu verstehen. Zudem setzt er diese Möglichkeiten gleich mit den Attributen Gottes. Da Gott nicht bloß Möglichkeit ist, sondern Realität, und zwar nach der für Leibniz verpflichtenden Tradition die höchste überhaupt, wäre es ungereimt, seine Attribute nur als logisch möglich zu verstehen. Daß er Ideen nicht geradezu als Realitäten bezeichnet, könnte - schließt man einmal den Fall der Selbstverständlichkeit aus - auch seinen Grund darin haben, daß ein Wesen nicht bloß dann real ist, wenn es tatsächlich (d. h. empirisch-faktisch) vorhanden ist, sondern wenn es sich da im Kontext und für sich als nicht-widersprüchlich erkannt - als realisierbar erweist. Ihm kommt somit virtuelle Realität zu, die mehr (und keineswegs weniger) ist als "wirkliche" Realität. So könnte man sagen, daß die Idee "Unterseeboot" von Leonardo da Vinci oder schon vorher von einem antiken Griechen - trotz der prima-facie-Unplausibilität oder gar Widersprüchlichkeit einer solchen Vorstellung - als Realmöglichkeit endgültig erwiesen worden ist. In ihrem Realitätsgehalt ist diese mögliche Idee auch einem mit heutiger Spitzentechnologie tatsächlich gebauten Unterseebot weiterhin überlegen (was schon die Tatsache zeigt, daß man die empirische Konstruktion gemäß einem solchen Idealtyp ständig verbessert - ebenso wie die empirische Deskription dieser Idee). - Leibnizens Bestimmung aus den "Nouveaux Essais" (Buch II, Kap. XXXII, $ 1), eine Idee sei wahr, wenn ihr Gegenstand möglich sei, geht ganz in diese Richtung, nach der die reale Möglichkeit der empirischen Wirklichkeit an Realitätsgehalt überlegen ist. Vgl. auch "Nouveaux Essais", Buch III, Kap. III, $ 19. 542 So heißt es im Fragment "Phil., VIII, 71" vom 2.12.1676 (also noch vor Abfassung der "Meditationes" 1684), Couturat: Opuscules, S. 530: "Principium autem meum est, quiequid existere potest, et aliis compatibile est, id existere. quia ratio existendi prae omnibus possibilibus non alia ratione limitari debet, quam quod non omnia compatibilia." Die zwei Bedingungsstufen des Nichtwiderspruchsprinzips werden hier klar artikuliert. 543 Leibniz: Meditationes, S. 423.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
Symbolische Erkenntnis ist Erkenntnis durch Zeichen. Wortzeichen werden aber schon früher als erst auf der Ebene des Deutlichen erforderlich, z. B. fiir den dunklen Begriff "Entelechie". Daß das Symbolische erst später expliziert wird, deutet darauf hin, daß es Leibniz dort nicht einfach nur um die Faktizität von Zeichen, sondern vielmehr um die Adäquatheit von Zeichen zur Bezeichnung der Sache zu tun ist. Diesen Gesichtspunkt entfaltet er jedoch in den "Meditationes" nicht mehr.544
Der Unterschied von Sinnlichkeit und Verstand Aus der zu Beginn angeführten Kant-These leitet Eberhard fiir sich zwei Beweisziele ab. Zunächst soll Kants Vorwurf der Verfälschung des Begrifft von Sinnlichkeit bei Leibniz widerlegt werden, anschließend derselbe Einwand bezüglich des Begriffs von Erscheinung. Im Zusammenhang mit seinem ersten Beweisziel stellt Eberhard der Kantischen eine eigene These gegenüber. Danach sei der Unterschied zwischen Sinnlichkeit und Verstand "zugleich logisch und transzendental" (S. 291), also einerseits logisch und andererseits transzendental. Die Frage nach "der Form oder dem formellen Unterschied" einer "Erkenntnis",545 also die Frage, ob eine Erkenntnis deutlich oder undeutlich ist, bezeichnet Eberhard als "logisch" (S. 295). Als "transzendental" qualifiziert er die Frage nach der "Materie" oder dem "materiellen Unterschied" der Erkenntnis, d. h. die Differenzierung in "allgemeine" (S. 295) und einzelne Erkenntnis. Bei der Rekonstruktion dessen, wie die Leibniz-Wolffische Philosophie den transzendentalen Unterschied des Verstandes und der Sinnlichkeit546 bestimmt habe, unterscheidet Eberhard zwei Kriterien, zuerst die fiir Verstandes- bzw. Sinneserkenntnis spezifischen "Gegenstände" (S. 291), dann die spezifischen "Gründe" (S. 304) der Vorstellungen von Sinnlichkeit und Verstand. Als "Gegenstände des Verstandes" macht Eberhard zunächst die "unbildlichen" Gegenstände, d. h. die "Verstandesideen" (bislang von ihm und in seinem Gefolge von uns "Verstandeswesen" genannt) aus, als "Gegenstände der Sinnlichkeit" identifiziert er die "bildlichen Gegenstände", die er auch schlicht "Bilder" nennt. 547 Zweitens gehören dem Verstand "die allgemeinen Dinge" und der Sinnlichkeit "die 544 545 546 547
Dieses Problem behandelt Leibniz etwa in seinem "Dialogus" vom August 1677. S. 296 und S. 297. Vgl. S. 292. S. 291. Eberhard verweist dabei u. a. auf die Unterscheidung "idée"/"image" in Leibnizens "Nouveaux Essais" (S. 292): Weil wir die Definition der "Ewigkeit" haben, so Leibniz dort (Buch II, Kap. 29, § 15 bzw. S. 244), verfügen wir über eine "idée complété ou juste" (Eberhard zitiert: "idée complette et juste"), hingegen Ober keinerlei Bild der Ewigkeit. Hier scheint es eine prinzipielle Unüberbrückbarkeit von Bild und Idee zu geben. Anders verhält es sich mit dem ebenfalls von Eberhard angeführten Beispiel des "Tausendecks" ("Nouveaux Essais", § 13 bzw. S. 243). Hier wird nur (aktisch für die gegenwärtige Ausstattung des Menschen zurückgewiesen, daß man sich ein Tausendeck bildlich vorstellen kann. Grundsätzlich scheint das jedoch möglich: "[I]l faudrait qu'on eût les sens et l'imagination plus exquis et plus exercés pour le distinguer par là d'un polygone, qui eût un costé de moins."
4.5. Synoptische Analyse der Eberhard ¡sehen Aufsätze u n d der Kantischen Replik
209
einzelnen" Gegenstände zu (S. 292). Als dritte Gruppe der Gegenstände fiihrt Eberhard fur den Verstand "die notwendigen Wahrheiten" und fur die Sinnlichkeit die "zufalligen" Wahrheiten an. 548 Später weist Eberhard auf den - letztlich wieder auf die dritte Distinktion hinauslaufenden - Unterschied hin, der darin liegt, daß die "Gründe der Verstandeserkenntnis" "bloß objektiv" sind, die der Sinnenerkenntnis hingegen "auch subjektiv" (S. 304) und insofern der Verstandeserkenntnis unterlegen: [D]ie erstere enthält, sofern sie Verstandeserkenntniß ist, Wahrheit, die andere enthält,/ sofern sie Sinnenerkenntniß ist, Schein; die Ähnlichkeit der ersteren mit d e m Gegenstande ist eine offenbare; die Ähnlichkeit der letztern mit dem Gegenstande ist eine verborgene, u n d eine desto verborgenere, je m e h r subjektive G r ü n d e die Vorstellung des Objektes abändern. Die Wahrheiten der Verstandeserkenntniß sind nothwendige und ewige, der Sinnenerkenntniß zufallige und Zeitwahrheiten, auch d a r u m zufallige, weil sie oft von der zufälligen Beschaffenheit des Subjektes abhängen. D a endlich aller Schein in den Schranken der Vorstellungskraft gegründet ist; so sieht m a n n u n , daß n u r das wahr seyn könne, was nicht in d e m Unvermögen der Vorstellungskraft gegründet ist; d a ß aber auch alles, was nicht darin gegründet ist, was also in d e m Gegenstande gegründet seyn m u ß , wahr seyn müsse. 5 4 '
Diese Stelle belegt erneut mustergültig Eberhards ontologisches Denken. Die Norm fiir die Vorstellungen ist generell das An-sich (hier der "Gegenstand"). Die Vorstellungen sind desto wahrer, je offenbarer ähnlich sie ihm sind. Ganz unkritisch nimmt Eberhard an, daß die Verstandeserkenntnis eine "offenbare Ähnlichkeit" mit dem Gegenstand (dem Verstandeswesen) hat, und zwar nicht etwa, weil dem Verstandeswesen seine Bestimmungen vom Verstand begrifflich zugelegt würden, sondern, weil der Verstand fähig sei, dessen Bestimmungen objektiv zu erkennen. Zugleich zeichnet sich ab, wie ontologisches Denken die Rolle des Subjekts und des Subjektiven dabei nur bewerten kann, nämlich privativ als Interferenz von "Schein". Dieser Schein zeigt nicht die Wahrheit, sondern verbirgt sie. Um nicht Erkenntnis insgesamt zu diskreditieren, bleibt das Subjektive auf die niederen Erkenntnisvermögen (Sinne und Einbildungskraft) beschränkt. Verstandeserkenntnis wird vor diesem Hintergrund nicht mehr wesentlich dem Subjekt zugesprochen. "Ihre Gründe sind bloß objektiv", sagt Eberhard ausdrücklich (S. 304). Leibniz läßt die notwendigen Wahrheiten durch Gottes Verstand und die zufalligen durch Gottes Willen festgelegt sein. 550 Bei den notwendigen Wahrheiten handelt es sich um (unmittelbar oder mittelbar) identische Urteile, bei den zufalligen nur um gewöhnliche analytische Urteile, die nicht auf identische (wo das Prädikat in anderer Form genau dasselbe aussagt wie das Subjekt) zurückgeführt werden können. 551 Daraus folgt, daß die ersten nach dem Satz des Widerspruchs, die zweiten jedoch nach 548 S. 293. Eberhard beruft sich ganz äußerlich auf Buch II, Kap. 21 ("De la puissance et de la liberté"), § 5, der "Nouveaux Essais". 549 S. 304/305. 550 Leibniz: Theodizee, S 2. Wundt: Kant, S. 17, 27. 551 Leibniz: De Liberate, S. 181.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
dem vom zureichenden Grund erkannt werden können. Die von Eberhard vertretene Ableitung des Satzes vom Grund aus dem Satz vom Widerspruch ist damit ausgeschlossen, denn sie würde bedingen, daß sich alle Urteile als identische erweisen ließen. Ebenfalls im Gegensatz zu Eberhard werden die zufalligen Wahrheiten nach Leibniz nicht ausschließlich von der Sinnlichkeit erkannt (und sind damit nicht bloß "Gegenstände der Sinnlichkeit"), sondern können auch a priori - eben durch den Satz vom zureichenden Grund - erfaßt werden.552 Bei der "logischen" Bestimmung des Unterschieds zwischen Sinnlichkeit und Verstand beruft sich Eberhard vorzugsweise auf Leibnizens "Meditationes" (S. 295). Er bestätigt somit Kants These (a), da er diese Abhandlung als Zeugnis eines bloß logischen Verfahrens betrachtet. Dabei retuschiert er jedoch Leibnizens Distinktionen: Den Satz «Alle unbildlichen und allgemeinen Ideen sind dem menschlichen Verstände nur durch deutliche Erkenntnis möglich» (S. 293) kann Leibniz nur akzeptieren, wenn der Ausdruck "Ideen" nicht, wie von Eberhard gemeint, einfach "Vorstellungen", sondern im strengen Sinn "adäquat deutliche Vorstellungen" bedeutet, denn er läßt auch dunkle begriffliche Vorstellungen (also dunkle Vorstellungen von Allgemeinem) zu. In diesem Falle würde Eberhard dann eine bloße Tautologie aussagen. Alle "bildlichen und alle[.] Ideen des Einzelnen" seien nach Leibniz, so Eberhard, "dem menschlichen Verstände nur durch undeutliche Erkenntnis möglich" (S. 293). Eberhard bestimmt hier nicht die sinnlichen Vorstellungen nach ihrer eigenen Beschaffenheit oder im Verhältnis zum Gegenstand, sondern im Blick auf den Verstand. Der Verstand aber hat, wie aus Eberhards eigenen Worten zu erschließen ist,553 von sinnlichen Vorstellungen nicht bloß undeutliche, sondern gar keine Erkenntnis. Man kann diese Worte aber auch im Sinn der Kantischen These (bb) auslegen, wonach sinnliche Vorstellungen verworrene intellektuelle Vorstellungen sind. In diesem Fall würde Eberhard Kants Leibniz-Kritik in der härteren Fassung fundieren helfen. Aus der logischen Bestimmung der Vorstellungen leitet Eberhard eine Definition des Verstandes her: «Der Verstand ist das Vermögen deutlicher Erkenntnis.» Dieser setzt er mit einer zweiten gleich, die sich fiir ihn aus der transzendentalen Bestimmung ergibt: «Der Verstand ist das Vermögen allgemeiner Erkenntnis.»554 Aus der doppelten Definition - Eberhard setzt die logische mit der transzendentalen gleich - folgt für Eberhard, daß "fiir den endlichen Verstand" "alle deutliche Erkenntnis allgemeine und alle allgemeine in abstracto deutlich sein muß" (S. 296). Auch in diesen Kontext paßt jedoch nicht, daß es nach Leibniz dunkle Begriffe und Urteile geben kann. Kant seinerseits weist darauf hin, daß es auch sinnliche Deudichkeit geben könne.555 Leibniz hätte dagegen jedoch einwenden können, er habe das, was Kant mit sinnlicher Deutlichkeit meine, unter den Punkt "Klarheit" subsumiert. Warum die Leibniz-Wolffische 552 553 554 555
Leibniz: De Liberiate, S. 182. S. 294. Beide Definitionen lassen sich aus S. 295 gewinnen. ÜE 217 Anm.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
211
Philosophie den Verstand vorzugsweise556 logisch als Vermögen deutlicher Erkenntnis definiert hat, erklärt Eberhard damit, daß sich diese Definition auf den unendlichen Verstand anwenden lasse. Dieser erkenne nicht nur die allgemeinen Dinge, sondern ebenso die einzelnen "im höchsten Grade deutlich" (S. 296). Kants Bestimmung des Transzendentalen (in der Kant-These zu Beginn dieser Untersuchung) über die Begriffe "Ursprung" und "Inhalt" wird durch Eberhards Rekurs auf die Terminologie von "Materie" eher verdeckt als sinnerhaltend wiedergegeben. Durch den Hinweis auf den Stoff einer Vorstellung ist die Ursprungsfrage nicht beantwortet, sondern stellt sich aufs neue. So verwundert es nicht, daß bei Eberhard aus der Kantischen Verknüpfung von Anschauung und Begriff eine wechselweise Bestimmung der Materie durch die Form und der Form durch die Materie wird (S. 297). Erst in der Zusammenfassung der Argumentation gegen Kants ersten Vorwurf 557 bedient sich Eberhard äußerlich der Rede vom Ursprung: Die sinnlichen Vorstellungen entsprängen der Empfindung, die des Verstandes der Abstraktion (S. 297). Ursprung und epistemologische Rolle von Raum und Zeit im Kontext der Empfindung behandelt Eberhard in seiner Kritik nicht, außer, man versteht sein Schweigen als argumentum e silentio dafür, daß Raum und Zeit empirisch-sinnliche Vorstellungen seien und ihnen als Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis keinerlei Funktion zuzubilligen sei. Das Entspringen der Verstandesvorstellungen klingt, wenigstens in der knappen Art, wie sich Eberhard S. 297 ausdrückt, sehr nach dem empiristischen Abstraktionsmodell. Danach hätten sinnliche und intellektuelle Vorstellungen ein und dieselbe Quelle, nämlich Empfindung, und Eberhard würde paradoxerweise das Leibnizische Modell in das Locke'sche verkehren. 558 Sehr auffällig verwendet Eberhard in obiger Unterscheidung stets komplementäre Begriffe. Die angeblich transzendentale Bestimmung läuft damit ihrerseits nach einem logischen Schema ab. Wie Leibniz legt Eberhard nur eine logisch gegliederte quaestio facti vor. Durch sein Verfahren vernichtet somit Eberhard selbst den entscheidenden Punkt seines ersten Beweisziels, nämlich die Demonstration dessen, daß Leibniz die Vorstellungen des Verstandes und der Sinnlichkeit transzendental bestimmt habe.
Eberhards Theorie der Erscheinung Eberhard setzt sich dagegen zur Wehr, wie Kant die "Erscheinung" bei Leibniz interpretiert und bestimmt dabei seinerseits jenen Begriff. Im Vergleich dazu muß festgestellt werden, welche Funktion er in Kants System zu erfüllen hat und wie Eberhard diese darstellt. Unter Berufung auf mehrere Schriftsteller der Leibniz-Wolffischen Observanz definiert Eberhard den Leibnizischen Begriff der "Erscheinung" ("phaeno556 Vgl. S. 296. 557 S. 296-297. 558 Vgl. KrV B 327.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
menon") «als undeutliche oder verworrene Vorstellung durch die äußeren Sinne».559 Danach könne nur Körperliches Erscheinung sein, nur Körperlich-Räumliches und Zusammengesetztes. 560 Leibniz bediene sich des Begriffs "Erscheinung" lediglich im Zusammenhang mit seiner "Theorie über die Körper", wo er zwischen dem "Reale[n] in dem Gegenstande" und der undeutlichen Wahrnehmung unterscheide (S. 305). Hier gälten ihm nicht nur die sog. "Nebenbeschaffenheiten", wie "Farbe, Ton, Wärme", sondern auch die "Hauptbeschaffenheiten" der Körper, nämlich "Ausdehnung und Bewegung", als Erscheinungen (S. 305). Falsch sei es, wenn Kant behaupte, die Leibniz-Wolffische Philosophie nenne alles, was "bloß undeutlich oder verworren vorgestellt" (S. 299) werde, "Erscheinung". In diesem ungerechtfertigt weiten Sinn verwende Kant das Wort "Erscheinung", wenn er darauf hinweise, nach Leibniz müsse es sich bei der gewöhnlichen Vorstellung von "Recht" um eine Erscheinung handeln, da diese Vorstellung undeutlich sei.561 Ebenso unrichtig sei es, wenn Kant den Begriff der Erscheinung bei Leibniz nur als logisch nach der "Form der Deutlichkeit" verstehe und nicht auch als transzendental gemäß "Ursprung und Inhalt" (S. 301). Nach obiger Definition entspringe eine Erscheinung aus sinnlichen Vorstellungen. Sie enthalte als "bildliche Idee" die "Vorstellung von einem einzelnen Dinge" (S. 301). Eberhard versucht nun, seinerseits den Kantischen Begriff der Erscheinung zu bestimmen. Dabei hält er zuerst Kant vor, eine Zirkeldefinition des Begriffs gegeben zu haben. Kants Definition sei daher der Leibnizischen unterlegen (S. 302). In der "Kritik der reinen Vernunft" hat der Terminus "Erscheinung" an manchen Stellen nur die Bedeutung des in der Anschauung Gegebenen, etwa in A 20 ("Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung heißt Erscheinung').562 Diese Stellen sind für den Kantischen transzendentalen Hauptbegriff "Erscheinung"/"Phaenomenon" zu vernachlässigen. Um einen Grund für seinen Vorwurf zu erkünsteln, stützt sich Eberhard nicht auf die zentralen Stellen, sondern auf die Nebenbemerkungen, die er zudem nicht korrekt wiedergibt. Nur deshalb kann er Kant folgende Definition unterschieben: «Eine Erscheinung ist eine Modifikation der Sinnlichkeit (S. 301).» Da Kant, so Eberhard weiter, "Sinnlichkeit" als das "Vermögen [.] modifiziert zu werden"
559 S. 299/300. 560 S. 299, 300. 561 S. 300. Eberhard bezieht sich auf A 43 der "KrV", wo es heißt: "Ohne Zweifel enthält der Begriff von Recht, dessen sich der gesunde Verstand bedient, ebendasselbe, was die subtilste Spekulation aus ihm entwickeln kann, nur daß im gemeinen und praktischen Gebrauche man sich dieser mannigfaltigen Vorstellungen in diesen Gedanken nicht bewußt ist. Darum kann man nicht sagen, daß der gemeine Begriff sinnlich sei, und eine bloße Erscheinung enthalte, denn das Recht kann gar nicht erscheinen, sondern sein Begriff liegt im Verstände, und stellt eine Beschaffenheit (die moralische) der Handlungen vor, die ihnen an sich selbst zukommt" 562 Die Stelle entspricht KrV B 34; vgl. auch B 122 = A 89-90: "[M]ithin können uns [.] Gegenstände erscheinen, ohne daß sie sich notwendig auf Funktionen des Verstandes beziehen müssen [...]. [D]enn ohne Funktionen des Verstandes können allerdings Erscheinungen in der Anschauung gegeben werden."
4.5. Synoptische Analyse der Eberhard ¡sehen Aufsätze und der Kantischen Replik
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bestimme, lasse sich der Zirkel zu dem Satz schließen: «Eine Erscheinung ist eine Modifikation des Vermögens, modifiziert zu werden (S. 301).» Eberhard bezieht sich dabei auf folgende Stellen aus der "KrV": A 20 und A 45 zum Beleg des Ausdrucks "Modifikation der Sinnlichkeit" und A 19 und A 44 zum Beleg der Umschreibung "Vermögen, modifiziert zu werden" für "Sinnlichkeit". Beide Angaben stammen aus der "Transzendentalen Ästhetik", also einem Kontext, wo Kant eine adäquate Bestimmung seines Hauptbegriffes "Erscheinung" noch gar nicht leisten kann, weil die begriffliche Erkenntnisbedingung, die zusätzlich zur anschaulichen erfüllt sein muß, noch nicht behandelt ist. Eberhard beachtet dies - sei es aus Unwissenheit oder in manipulativer Absicht - nicht, ja er ignoriert sogar einen in A 20 von Kant gemachten Hinweis auf die beiden Komponenten Materie und Form fiir Erscheinung. Somit blendet Eberhard nicht nur die begriffliche Bedingung, sondern die spezifisch transzendentale Bedingung fiir empirische Anschauung, nämlich Raum und Zeit als apriorische Formen der Anschauung, aus. Für Eberhard ist damit nach Kant die Erscheinung nur das in der Empfindung Vorgestellte ohne die Momente von Begriff und reiner Form der Anschauung. Angesichts dieser Verstöße feilt gar nicht mehr ins Gewicht, daß Eberhard statt des in A 19 und A 44 von Kant verwendeten "affizieren" "modifizieren" gebraucht. Nach dem mißglückten Angriff auf eine angebliche Kantische Definition nimmt sich Eberhard vor, "etwas genauer" Kants "Theorie über die Natur der Erscheinungen" "auseinanderzusetzen" (S. 302). Ohne sich diesmal auf Kant-Stellen zu berufen, behauptet er: Hr. Kant erkennt selbst, daß sich die Erscheinungen auf Dinge an sich beziehen, d. i. in Dingen, die keine Erscheinungen sind, ihren Grund haben.' 63
Ein Bezug von Erscheinungen auf Dinge an sich oder eine Gegründetheit von Erscheinungen in Dingen an sich ist nach Kant nur in einem logischen Zusammenhang zu prädizieren. "Ding an sich" ist so als ein logischer Korrespondenzbegriff zu "Erscheinung" zu verstehen. 564 Nirgends hat Kant eine materiale Relation der Erscheinung zum Ding an sich behauptet. Im Gegensatz dazu meint Eberhard seinen Satz material im ontologischen Sinn. Erscheinungen sind fiir ihn "verworrene Vorstellungen" (S. 303). Auf sinnliche Art verworren vorgestellt wird dabei die Individualität der Dinge an sich. Ihre allgemeinen Bestimmungen - und so auch das dem Zusammengesetzten zugrundeliegende Einfache - erkennt nur der Verstand. Trotz des Charakters der Verworrenheit hält Eberhard eine Erscheinung ftir "ein Bild, eine Abbildung" (S. 303) des Dings an sich. Er unterscheidet dabei die subjektiven und (kausal zu verstehen) die objektiven Gründe fiir Erscheinungen: Da die Erscheinung eine verworrene Vorstellung ist, kann sie nicht bloß objektive Gründe, sondern muß
563 S. 302. 564 ÜE 207; KrV A 251-252.
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4. D i e Kontroverse i m engeren Sinn
zusätzlich subjektive Gründe besitzen.565 Für die Wahrheit der Vorstellung zeichnen, wie bereits oben ausgeführt, nach Eberhard die objektiven Gründe verantwordich, für die Verworrenheit die subjektiven. 566 Das Ziel der "KrV" besteht nach Kant darin, Freiheit wieder möglich und denkbar zu machen, nachdem sie durch Leibniz in arge Bedrängnis gebracht worden war.567 Das kann nur dann gelingen, wenn unsere Erkenntnis - die Allgemeinheit und Notwendigkeit fordert - sich nicht auf die Dinge an sich erstreckt, sondern auf die Gegenstände als Erscheinungen begrenzt ist. Der ausnahmslose Konnex der notwendigen Verbindung von Ursachen und Wirkungen in Gestalt der mechanischen Naturkausalität bleibt im Bereich der Gegenstände als Erscheinungen unangetastet. 568 Dennoch ist die Möglichkeit der Freiheit als einer unbedingten Handlung unabhängig davon gegeben. Kant unterscheidet einen "negativen" und einen "positiven" "Nutzen" der Kritik (KrV B XXIV). Der erste, negative, bestehe in der Einsicht, daß sich die "spekulative[.] Vernunft niemals über die Erfahrungsgrenze hinaus [.] wagen" (ebd.) darf, will sie Erkenntnis von objektiver Gültigkeit erreichen. In einem zweiten Schritt erweist sich dieser negative Nutzen als positiv, weil sich damit ein praktischer Vernunftgebrauch eröffnet, der in keinster Weise von den auf die "Grenzen der Sinnlichkeit" beschränkten Bedingungen restringiert wird (KrV B XXV). So wird es konkret möglich, "das Objekt in zweierlei Bedeutung" zu nehmen, praktisch als "Ding an sich selbst" und theoretisch als "Erscheinung" (KrV B XXVII). Ein Widerspruch der Vernunft mit sich wird durch diese Unterscheidung des Objekts vermieden. So läßt sich sowohl sagen, der Wille sei frei, als auch, er sei der Naturnotwendigkeit unterworfen. Im ersten Fall wird er, bzw. die Seele (als Trägerin des Willens), empirisch verstanden, im zweiten als Ding an sich. Aus dem Erweis der Möglichkeit des Dings an sich ergibt sich aber keineswegs die Beantwortbarkeit von Fragen nach seiner Beschaffenheit.569
565 Vgl. S. 303/304: "Die Farben müssen andere objektive Gründe haben, als die Ausdehnung, die Ausdehnung andere als die Farben./ Allein die Gegenstände bleiben oft einerley und die Erscheinungen sind verschieden, der grüne Wald wird in der Feme blau, und der viereckige Thurm wird rund." Verworrenheit liegt jedoch nicht bloß in den Fällen optischer Täuschung vor, sondern ebenfalls bei klaren sinnlichen Vorstellungen, etwa eindeutigen Farbwahrnehmungen. 566 S.303/304. 567 Selbstverständlich bemühte sich Leibniz in seiner theoretischen Philosophie, die Freiheit unbeschadet des Naturmechanismus zu rechtfertigen, aber es scheint ihm dies nicht wirklich gelungen zu sein. An einigen Stellen tritt auch die Verabschiedung von Freiheit ganz offen zu Tage, etwa zu Beginn von § 13 der "Principes": "Car tout est réglé dans les choses une fois pour toutes avec autant d'ordre et de correspondance qu'il est possible, la supreme Sagesse et Bonté ne pouvant agir qu'avec une parfaite harmonie: le present est gros de l'avenir, le futur se pouvoit lire dans le passé, l'éloigné est exprimé dans le prochain." Es ist schwer zu verstehen, wie neben dem Determinismus, der sich in der Formel, die Gegenwart gehe mit der Zukunft schwanger und die Zukunft sei aus der Vergangenheit abzulesen, zeigt, noch Freiheit bestehen kann. 568 Vgl. KrV B XXIX. 569 Vgl. ÜE 225.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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Kant über sinnliche und intellektuelle Anschauung570 Auf beide Beweisgänge Eberhards ist zu beziehen, was Kant zu diesem Aufsatz in seiner Antwortschrift bemerkt. Es kommt ihm dabei v. a. darauf an, die positive Rolle zu betonen, die er der Sinnlichkeit beimißt. Nach Kant belegt selbst Eberhards Kritik an der angeblich verfälschenden Darstellung der Leibnizischen Begriffe von Sinnlichkeit und Erscheinung die Richtigkeit seines Urteils (ÜE 218). Zweimal nacheinander formuliert Kant in "ÜE" die zwei im Spiel befindlichen fundamental gegensätzlichen Auflassungen von Sinnlichkeit: die positiv-rezeptiv zu nennende und die privative.571 Je nach dem, welche der beiden man vertritt, ist man für die jeweils nur mit einer kompatible philosophische Grundposition festgelegt Ontologie oder Epistemologie. Die erste Stelle lautet: Entweder die Anschauung ist dem Objecte nach ganz intellectuell, d. i. wir schauen die Dinge an, wie sie an sich sind, und alsdann besteht die Sinnlichkeit lediglich in der Verworrenheit, die von einer solchen vielbefassenden Anschauung unzertrennlich ist: oder sie ist nicht intellectuell, wir verstehen darunter nur die Art, wie wir von einem an sich sich selbst uns ganz unbekannten [empirischen] Object afficirt werden, und da besteht die Sinnlichkeit so gar nicht in der Verworrenheit, daß vielmehr ihre Anschauung immerhin auch den höchsten Grad der Deutlichkeit haben möchte und [...] dennoch aber nicht im Mindesten etwas mehr als bloße Erscheinung enthalten würde. 5 7 2
Gleich auf der nächsten Seite deutet Kant erneut auf den unendlichen Unterschied zwischen der Theorie der Sinnlichkeit, als einer besonderen Anschauungsart, welche ihre a priori nach allgemeinen Principien bestimmbare Form hat, und derjenigen, welche diese Anschauung als blos empirische Apprehension der Dinge an sich selbst annimmt, die sich nur durch die Undeutlichkeit der Vorstellung von einer intellectuellen Anschauung (als sinnliche Anschauung) auszeichne[t]. 5 7 3
Die privative Theorie unterstellt Kant Eberhard wie Leibniz (ÜE 219). Nach Kants hier angeführten Worten richtet sich bei Leibniz die intellektuelle Anschauung auf die (Gesamtheit der) Dinge an sich. Die Sinnlichkeit besteht oder besser gesagt: entsteht - gleichsam als Bild oder Resultante - der intellektuellen Anschauung. Die Verworrenheit als ihr Wesen erklärt sich daraus, daß die primäre intellektuelle Anschauung hochgradig komplexe Teilvorstellungen umfaßt. Die Sinnlichkeit ist insofern ihrem Wesen nach privativ, als sie keinen eigenen positiven Informationsgehalt besitzt, sondern nur einen fremden (einen intellektuellen) auf undeutliche Art repräsentiert, ohne das Komplexe irgendwie explizieren zu können. Ohne das, wovon sie
570 Ü E 218, 2. Abs. bis 221, I.Abs. 571 Bei "Kants Thesen" wurde von uns oben die privative Auflassung differenziert in das "Komplexions-" und "diabolos-Modell" der Sinnlichkeit. 572 Ü E 219. 573 Ü E 220. Mit "empirische Apprehension" ist hier die intellektuelle Anschauung charakterisiert. Auch sie ist in dem Sinn empirisch, daß sie der tatsächlichen Erfahrung der Dinge an sich bedarf, um einen Erkenntnisgehalt zu bekommen.
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4. D i e Kontroverse im engeren Sinn
resultativ Sinnlichkeit ist, ist sie nichts, und es wäre deshalb absurd, bei ihr eine "nach allgemeinen Prinzipien bestimmbare Form" zu suchen. Sinnliche Anschauung und intellektuelle sind nach dieser Erklärungsart korreliert. Nur so fallt die Sinnlichkeit als Erkenntnisquelle im eigentlichen Sinn aus. (Sie ist dann eher als ein prismatisches Erkenntnisgefäß zu denken, als eine Form, nicht im Sinn einer unhintergehbaren Konstitutionsleistung, sondern als eine Art "Aggregatzustand", der aufgelöst und in andere Zustände überfuhrt werden kann.) Gegen Ende der Streitschrift durchtrennt Kant diese Beziehung aus taktischen Gründen (ÜE 248). Er läßt zwar Leibniz immer noch "ein ursprüngliches [...] intellektuelles Anschauen" behaupten, doch richtet sich dies jetzt nur mehr auf "übersinnliche[.] Wesen" und nicht auf die "Sinnenwesen". Etwas verklausuliert sagt Kant damit, auch Leibniz lasse die Sinnenwesen nur einer nunmehr eigenständigen sinnlichen Anschauung zugänglich sein.574 Hatte vorher Kant mit Nachdruck die Kennzeichnung der Verworrenheit als typisch für das Leibnizische Modell von Sinnlichkeit hervorgehoben, so rät er jetzt, "man" solle sich "durch seine [Leibnizens] Erklärung von der Sinnlichkeit als einer verworrenen Vorstellungsart nicht stören lassen" (ÜE 248). Dahinter wird deutlich Kants Bemühung sichtbar, Leibniz als Kronzeugen für die eigene philosophische Position umzuinterpretieren, um Eberhard seine oberste Berufungsinstanz zu entziehen. Deshalb muß er Leibnizens Theorie der Sinnlichkeit von einer privativen zu einer positiv-rezeptiven umwerten, und so setzt er auch Leibnizens Begriff "Sinnenwesen" mit seinem Begriff "Erscheinungen" gleich (ÜE 248). Bei Kant findet sich keine schrittweise durchgeführte Explikation von Leibnizens Theorie der Anschauung. 575 Den verschiedenen Stellen aus der " K r V und aus "ÜE" ist mit Sicherheit nur zu entnehmen, welche Faktoren Kant als beteiligt denkt (Ding an sich, intellektuelle Anschauung, vielleicht sogar Begriff,576 Verworrenheit, Sinnlichkeit). Doch auch Leibniz selbst verbleibt in den "Meditationes" im Unbestimmten. So stellt er einerseits das sinnlich Empfundene als etwas originär Gegebenes dar ("colores", "odores" und "sapores" nennt er als Beispiele fiir "sensuum objecta") und spricht vom Blinden, dem man nicht erklären könne, was "rot" sei,577 macht aber andererseits die Empfindungen zu etwas Derivativem, das in Nicht-Sinnliches aufge574 Wie etwa der vorher in ÜE 220 auf Kants Theorie der Sinnlichkeit bezogene Ausdruck "einer besonderen Anschauungsart" (Z. 8) bezeugt, schieben die im späteren Kontext auf Leibniz bezogenen beinahe identischen Worte "auf eine besondere Art Anschauung" (ÜE 248, Z. 31-32) Leibniz die eigene Theorie unter. 575 Es versteht sich von selbst, daß eine solche im Rahmen dieser Arbeit nicht versucht werden kann. Die Herausforderung dabei wäre doppelt: Sie müßte einmal den spezifisch eigenen Begriff von Sinnlichkeit bzw. Anschauung bei Leibniz (in seiner Entwicklung) darstellen und zum anderen die Akzente, die er bei seinen großen Repliken - vor allem der zu Lockes "Essay" in den "Nouveaux Essais" - setzt, beachten. Damit wäre bei dieser Aufgabe ein sehr umfängreicher Diskussionszusammenhang zu eröffnen. 576 Daß er sich über den Status des als verworren vorgestellten Intellektuellen nicht definitiv im klaren war, zeigt etwa die Verwendung der neutralen Phrase "Verstandesvorstellungen" (ÜE 219, Z. 31). Hier können anschauende wie begriffliche Vorstellungen des Verstandes gemeint sein. 577 Leibniz: Meditationes, S. 422.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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löst werden könne ("[L]icet certum sit, notiones harum qualitatum compositas esse et resolvi posse [.,.]"). 578 Wenn Leibniz somit eine gewisse Doppelnatur der Sinnlichkeit vorfuhrt, ist es erlaubt, die Gesamtposition von der schwächeren Seite her zu bewerten und durch ein klares Endurteil dessen Theorie der Sinnlichkeit als privativ zu qualifizieren. (Es kommt dann auch gar nicht mehr auf die genaue Zuordnung der oben aufgezählten Faktoren an.) Aus Eberhards Leibniz verpflichteter privativer Bestimmung der Anschauung und damit von Raum und Zeit können die positiven Merkmale von Raum und Zeit (z. B. Stetigkeit und Drei-, bzw. Eindimensionalität) gar nicht abgeleitet werden. 57 ' Ist dies zunächst ein Argument gegen eine solche Theorie, so zeigt sich hier zugleich die Unentbehrlichkeit einer positiven Auffassung von Anschauung für den transzendentalkritischen Standpunkt: Nur wenn Raum und Zeit etwas ursprünglich und unaufhebbar Positives sind, können sie als Bedingungen der Möglichkeit von "Geometrie und allgemeine[r] Naturlehre" (ÜE 220) fungieren. Allgemeiner ausgedrückt: Nur so sind synthetische Urteile a priori möglich: Das gegebene Princip [der Sinnlichkeit] muß selbst etwas Positives sein, welches zu solchen Sätzen ["nämlich [.] Erweiterungen des Erkenntnisses"] das Substrat ausmacht, aber freilich nur blos subjectiv und nur in so fern von Objecten gültig, als diese nur für Erscheinungen gelten. 580
4.5.6. "Über die Unterscheidung der Urteile in analytische und synthetische" Zu Beginn dieses Aufsatzes, dem Kant in seiner Streitschrift fast den ganzen zweiten Abschnitt gewidmet hat, 581 bezeichnet Eberhard Kants Lehre der Distinktion der Urteile in analytische und synthetische als "neue Theorie" (S. 307). Daß es sich bei der Kantischen Frage, wie synthetische Urteile - und zwar synthetische Urteile a priori - möglich sind, um den Hauptansatz zur gesamten Transzendentalphilosophie und
578 Leibniz: Meditationes, S. 422/423. Ebenso weist Leibniz in den "Nouveaux Essais" darauf hin, daß die sinnliche Vorstellung nur dem Anschein nach einfach (und das bedeutet auch: genuin) und deshalb eine Analyse erforderlich sei (Buch II, Kap. II). Zu Beginn des ersten Buchs (Kap. I, § 1) behauptet Leibniz, alle Gedanken und Tätigkeiten der Seele stammten aus ihrem eigenen Grund. Daß er trotzdem sogar zum abstrakten Denken sinnliche Zeichen und Hilfsmittel als nötig erachtet (a.a.O., § 5), unterstreicht gerade die Unabhängigkeit der erkannten Gegenstände von allen empirisch erforderlichen Hilfsmitteln. Ganz in diesem Sinn stellt Leibniz seine Antwort der empiristischen auf die Frage gegenüber, ob ein plötzlich sehend Gewordener durch den Gesichtssinn eine Kugel von einem Würfel unterscheiden könne, die er vorher nur über den Tastsinn kennengelernt habe (a.a.O., Buch II, Kap. IX, § 8). 579 ÜE 220. Eberhard spricht, wie Kant auflistet, von "Unvermögen", "Ohnmacht" und "Schranken" (vgl. S. 305 und 377). Kant kommentiert die Termini mit "Undeutlichkeit" und "Mängeln" (ÜE 220). "Verworrenheit" (ÜE 219, Z. 18-19) und "Undeutlichkeit" setzt er dabei gleich. 580 ÜE 220. (Reine) Anschauung ist damit das "Substrat" flir die begriffliche oder formale Komponente eines synthetischen Urteils (a priori). 581 ÜE 226-246.
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4. D i e Kontroverse im engeren Sinn
damit auch um die Entscheidungsfrage über die Möglichkeit einer Metaphysik' 82 handelt, übersieht Eberhard. 583 Nach seinen Worten kommt dieser "neuen Theorie" ein sekundärer Charakter zu: Sie soll der "Kantischen Vernunftkritik" nur "zur Stütze dienen" (S. 307). Stillschweigend geht daraus hervor, es lasse sich - auf Leibnizische Art eine adäquate Vernunftkritik und zugleich eine vernünftige Erkenntnis der übersinnlichen Dinge an sich leisten, die auf eine solche "Stütze" nicht angewiesen sei. Was Kant als den Hauptweg der transzendentalen Untersuchung vorgestellt hat, erscheint dann nach Eberhard als Umweg, wenn nicht gar Abweg. Typisch dafür steht folgende Aussage: [D]ie analytischen u n d synthetischen Urtheile a priori (wenn m a n sie d a n n unterscheiden will) k ö n n e n n u r unterschieden werden nach der Art, wie das Prädikat durch das Subjekt b e s t i m m t wird; die erstem sind wahr, w e n n das Prädikat das Wesen oder ein wesentliches Stück; die letztern, wenn es ein Attribut des Subjekts ist; das D i n g , dessen Wesen, wesentliche Stücke oder Attribute sie aussagen, m a g übrigens e m p f u n d e n werden k ö n n e n oder nicht. 5 8 4
Eberhard sieht ausdrücklich von Anschauung und möglicher Empfindung ab und betrachtet nur das begriffslogische Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat. Die Kant beschäftigende transzendentale Frage nach den Konstitutionsbedingungen der Urteile, die sich bei den synthetischen Urteilen a priori stellt, wird damit entweder ganz ausgeblendet oder für identisch mit der Bestimmung der logischen Relation zwischen Subjekt und Prädikat erklärt. Im zweiten Fall behauptet Eberhard, daß ein synthetisches Urteil a priori dadurch konstituiert wird, daß der Subjektbegriff den Prädikatbegriff allein und vollständig bestimmt. Ein Urteil, das die Erkenntnis a priori über den Inhalt des Subjektbegriffs hinaus erweitert, ist nach Kant hingegen nur durch "eine reine Anschauung a priori" (ÜE 240) möglich. 585 Deshalb müssen nach Kant an der "Auflösung der Aufgabe: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" - schon vom Zweck ihrer Stellung her - "alle metaphysischen Dogmatiker unvermeidlich scheitern". 586 Somit erstaunt es Kant, daß sich Eberhard überhaupt auf diese Frage einläßt, 587 doch verrät obiges Zitat bereits deutlich, daß er das nur auf der Basis einer versteckten Uminterpretation - oder sagen wird deutlicher: einer verdeckten Verfälschung - der Fragestellung tut. 582 ÜE 244, Z. 10-13. 583 Vgl. Kants Ausführungen im VI. und VII. Abschnitt der "Einleitung" der zweiten Ausgabe der "KrV" unter den Überschriften "Allgemeine Aufgabe der reinen Vernunft" und "Idee und Eintheilung einer besonderen Wissenschaft unter dem Namen einer Kritik der reinen Vernunft", B 19-38, sowie Kants Erinnerungen in "ÜE" 227,228 sowie Prol. 276. Die transzendentale Hauptfrage hat Kant freilich erst in den "Prolegomena" und dann in der "Einleitung" der zweiten Ausgabe der "KrV" mit voller Deutlichkeit herauspräpariert. Die entsprechende Formulierung der eisten Ausgabe wirkt im Vergleich dazu verklausuliert (A 10). 584 S. 330; vgl. auch S. 331. 585 Vgl. ÜE 242: "Die Kritik aber zeigt [...] daß es die reine, dem Begriffe des Subjects untergelegte Anschauung sein müsse, an der es möglich, ja allein möglich ist, ein synthetisches Prädicat a priori mit einem Begriffe zu verbinden." Vgl. auch ÜE 243 und 245. 586 ÜE 226. 587 ÜE 226.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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Kant charakterisiert die synthetischen Urteile a priori nicht bloß logisch oder negativ durch das Nichtenthaltensein des Prädikats im Subjekt, sondern positiv oder transzendental durch die Verbindung (Synthesis) von Subjekt und Prädikat auf der Basis von Zeit und gegebenenfalls Raum als reinen Anschauungen und damit Formen der empirischen Anschauung. 588 Begriffslogisch sind Subjekt und Prädikat voneinander unabhängig. Nur durch die Anschauung können sie einander zugeordnet werden, und zwar sogar auf notwendige und allgemeine Art, weil es sich hier nicht um empirische, sondern um reine Anschauung handelt, aufgrund deren empirische Anschauung erst möglich ist.
Die Originalität der Unterscheidung Nachdem nun Eberhard die synthetischen Urteile a priori und ihre epistemologische Rechtfertigung zur Nebensache erklärt hat (wiewohl er doch seinerseits eine Vernunftkritik leisten will), versucht er, Kant die Urheberschaft der Unterscheidung der Urteile in synthetische und analytische streitig zu machen. "Richtig verstanden", liege sie "jeder bisherigen gründlichen Metaphysik zum Grunde" (S. 311). Das angeblich richtige Verständnis legt er in einer (sehr zweifelhaften) Art von Rekonstruktion der beiden Urteilstypen dar. Dabei zeigt sich, daß er den Unterschied - ohne den, wie gesagt, Kants transzendentale Hauptfrage sinnlos wird - aufhebt. So beweist allein schon Eberhards Verfahren, daß die Kantische Unterscheidung tatsächlich Originalität fiir sich beanspruchen darf. Hinter Eberhards Aktion steckt offenbar folgendes Argument, das gänzlich äußerlich bleibt, und sich nicht auf die inneren Denknotwendigkeiten fiir die begrenzte Anwendbarkeit synthetischer Urteile a priori einläßt: Kant schränkt synthetische Urteile a priori auf Gegenstände als Erscheinungen ein und leugnet ihre Tauglichkeit zur Erkenntnis des An-sich. Die bisherige gründliche Metaphysik verwendet ihrerseits ein Äquivalent synthetischer Sätze a priori, erlaubt damit aber Aussagen über die Dinge an sich als den Gründen der Erscheinungen. Also muß Kants Beschränkung des Geltungsbereichs synthetischer Urteile a priori als willkürlich verkürzende Abweichung gewertet werden. 589 Im Gegensatz zu Kants Überzeugung 590 hat nach Eberhard sowohl die LeibnizSchule 591 als auch Crusius 592 den Unterschied gekannt. Zurecht bezeichnet Eberhard
588 589 590 591 592
KrVB 42-43,38/39,49-51,46. S. 307,308,312. Vgl. S. 310. Eberhard verweist S. 311 und 318 ohne Stellenangaben aufWolff und Baumgarten. Eberhard erinnert an § 260 des folgenden Werkes: Christian August Crusius: Weg zur Gewißheit und Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntnis. Leipzig 1746.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
Crusius als "Dogmatiker", 593 unterschlägt aber dessen erbitterte Gegnerschaft zur Leibniz-Schule, die sich an der Kritik des Satzes vom zureichenden Grund verdichtet. 594 Bereits diese Äußerlichkeit zeigt, daß es Eberhard nur darum geht, Einwände gegen Kant zu sammeln, nicht aber darum, sachlich fundiert nach archäologischen Spuren für den Unterschied der analytischen und synthetischen Urteile zu suchen. In diesem Fall hätte er sich Crusius viel intensiver widmen müssen, denn selbst die Kantianer Schmid 595 und Beck 596 glaubten zu sehen, die besagte Unterscheidung sei bei ihm deutlicher noch als bei Locke, auf den Kant - freilich unter sehr beschränkten Hinsichten - selbst verwiesen hatte,597 ausgestaltet. Hätte das jedoch Eberhard unternommen, so hätte er notgedrungen einen weiteren Gegner seines eigenen Systems auf den Plan rufen müssen. Wohl nur deshalb erwähnt Eberhard Crusius, weil dies bereits vor ihm Schmid getan hat. Aus dem Blickwinkel Eberhards relativierte damit ein Kantianer die Originalität des Meisters (S. 311). In seiner Antwort in "ÜE" beansprucht Kant für sich, den Schritt von einer logischen Unterteilung der Urteile zu einer transzendentalen Fragestellung als erster getan zu haben. 598 Die Distinktion der Sätze in "identische" und "nichtidentische" ist bloß logisch, vorkantisch, trivial,599 ähnlich wie die ebenfalls logische Unterteilung der Urteile in Urteile a priori und solche a posteriori (ÜE 228). Kants Begriffspaar "analytisch" und "synthetisch" liefert nicht einfach nur einen neuen Namen ftir die alte Sache, 600 sondern deckt die Notwendigkeit der Frage nach den Bedingungen der Mög593 S. 311; zuletzt bewertet auch Wundt Crusius als Dogmatiker (Wundt: Kant, S. 81 und bereits S. 73), obwohl er ihn streckenweise als Vorläufer Kants darstellt (z. B. S. 61, 67, 69). 594 Vgl. vor allem seine frühen Schriften und dabei insbesondere "De usu et limitibis principii rationis determinantis, vulgo suffiöcntis" von 1743. Gesammelt und überarbeitet hat sie Crusius 1750 in den "Opuscula philosophico-theologica" neu herausgebeben. - Vgl. Wundt: Kant, S. 61/62 Anm. 3. 595 Karl Christian Erhard Schmid: Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Philosophie. Jena 1786. 596 Vgl. Beck an Kant vom 24. August 1793 (AK Bd. XI, S. 444-445): "Vor einiger Zeit las ich in Krusü Weg, zur Gewisheit und Zuverlässigkeit, veranlaßt durch] Herrn Schmidts Lexikon und zu meinem Verwundern habe ich (§ 260) die Unterscheidung der analytischen und synthetischen Urtheile weit deutlicher darin gefunden, als in der von Ihnen citirten Stelle des Locke." Auch Eberhard stieß durch Schmid auf Crusius (vgl. S. 311). 597 Kant: Prol. 270; vgl. Phil. Mag., Bd. I, S. 311. Am genannten Ort der "Prolegpmena" bezieht sich Kant aus Lockes "An Essay conceming Human Understanding" auf das 4. Buch, 3. Hauptstück ("Of the Extent of Humane Knowledge"), hauptsachlich §§ 8-21. Explizit nennt er allerdings nur die Paragraphen 9 und 10. Bezeichnenderweise nehmen die "Nouveaux Essais" an der Parallelstelle zum "Essay" die Hinweisung auf synthetische Urteile nicht im geringsten auf. Ebenfalls in den "Prol.", S. 270, weist Kant Eberhard im Vorgriff zurecht: "Man muß durch eigenes Nachdenken zuvor selbst darauf gekommen sein, hernach findet man sie auch anderwärts, wo man sie gewiß nicht zuerst wUrde angetroffen haben, weil die Verfasser selbst nicht einmal wußten, daß ihren eigenen Bemerkungen eine solche Idee zum Grunde liege. Die, so niemals selbst denken, besitzen dennoch die Scharfsichtigkeit, alles, nachdem es ihnen gezeigt worden, in demjenigen, was sonst schon gesagt worden, aufzuspähen, wo es doch vorher niemand sehen konnte." 598 ÜE 246: "Niemand hat also diese Unterscheidung in ihrer Allgemeinheit zum Behuf einer Kritik der Vernunft überhaupt begriffen." 599 ÜE 244. Vgl. KrV B 9 und Prol. 305 (§ 22). 600 ÜE 245 gegen Phil. Mag. S. 317.
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lichkeit einer "Synthesis a priori" auf. 601 Während der Ausdruck "nichtidentisch", eine bloße Negation, die positive Bestimmung solcher Urteile offen läßt (und als logische Abgrenzung sogar unbeantwortet lassen muß), verweist der schon formal positive Ausdruck "synthetisch" bereits auf einen besonderen Grund fiir synthetische Urteile, der wegen der Entgegensetzung zu den analytischen nicht der des Nichtwiderspruchsprinzips sein kann und damit überhaupt außerhalb der Logik liegen muß. 6 0 2 Wäre also die von Kant vorgenommene Unterscheidung der Urteile schon früher bekannt gewesen, so hätten auch schon früher daraus die transzendentalen Konsequenzen unter Aussetzung von "alle[m] dogmatische[n] Verfahren" (ÜE 244) gezogen werden müssen, was aber (wohl auch nach Eberhards Ansicht) nicht erfolgt ist.603 Deshalb weist Kant die von Eberhard angeführten Beispiele zurück: Das von Crusius "fuhrt bloß metaphysische Sätze an, die nicht durch den Satz des Widerspruchs bewiesen werden können". 604 Locke bekümmert sich nicht um das, was allen synthetischen Urteilen gemein ist und hat "nicht die mindesten allgemeinen Regeln für die reine Erkenntnis a priori überhaupt" (ÜE 245) gezogen. In den "Prolegomena" betont Kant ausdrücklich, daß auch weder "der berühmte Wolff" und der "scharfsinnige Baumgarten" (und damit überhaupt die Leibnizianer) noch sogar Hume, der ihn ja nach seinem Zeugnis aus dem "dogmatischen Schlummer" 605 erweckte, den Unterschied der Urteile in seinem Sinn bemerkt hätten. 606
Die Kantische Unterscheidung der Urteile in analytische und synthetische Bevor auf Eberhards "Rekonstruktion" der Kantischen Urteilslehre eingegangen wird, soll zusammengetragen und kritisch kommentiert werden, was Eberhard von ihr berichtet. Zu beobachten ist, daß er dabei vor allem die von Kant der Anschauung zugeteilte Rolle ausblendet oder umakzentuiert. Textlich stützt er sich vor allem auf die "Prolegomena": Die analytischen Urtheile, sagt uns Hr. Kant, sind solche, die bloß erläuternd sind, und zu dem Inhalt der Erkenntniß nichts hinzuthun; die synthetischen hingegen solche, die erweiternd sind, und die gegebene Erkenntniß vergrößern. 607
601 602 603 604
ÜE 244, insbesondere Z. 26-27. ÜE 244-245. ÜE 243-244,246. ÜE 245/246. Kant ging damit auch in antizipierter Form auf Becks "Entdeckung" ein. Soweit nachweisbar, hat Kant nicht direkt Beck geantwortet, denn der nächste Brief im Schriftwechsel zwischen Kant und Beck stammt - vom 17. Juni 1794 - wiederum von Beck. Es ist jener berühmte, in dem er Kant mitteilt, er "arbeite an einem Aufsatz, worin [er] die Methode der Critick umwende" (AK Bd. XI, S. 510). 605 Prol.260. 606 Prol.270. 607 S. 309; Eberhard hält sich eng an Prol. 266. Vgl. auch Phil. Mag., Bd. I, S. 313/314, 315 und S. 325.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
Eberhard bleibt bei der bloßen Entgegensetzung "erläuternd"/ "erweiternd" stehen. D e m legitimierenden Grund für die Erweiterung a priori geht er - wie eingangs gesagt - nicht nach, weil dieser ihn zur Unverzichtbarkeit der (sinnlichen) Anschauung, die er generell zu eliminieren trachtet, fuhren würde. Eberhard verfahrt also hier nach seinen eigenen Denkvoraussetzungen konsequent. Ginge er anders vor, müßte er sich letztlich selbst widerlegen. Man würde Eberhards Anliegen nicht verstehen, wollte man ihn mit der Tatsache entschuldigen, daß Kants Worte aus der "Einleitung" der Kritik der reinen Vernunft über den Unterschied der Urteile in synthetische und analytische die Bedeutung der Anschauung noch nicht hinreichend würdigen. (Vor Beginn der eigendichen Argumentation in der "Transzendentalen Ästhetik", die sich ihrerseits erst nach der "Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" im Kapitel über die "synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes" erfüllt, wäre das angemessen auch gar nicht möglich.) 6 0 8 Das fallt vor allem in den beiden Versionen des Abschnitts "Von dem Unterschiede analytischer und synthetischer Urteile" auf. 609 Hier sagt dem Gehalt nach Kant kaum mehr, als was Eberhard berichtet. Statt der Anschauung a priori verwendet Kant den Platzhalter "X". 610 Erst in der "Einleitung" zur zweiten Ausgabe der "KrV" weist er vorab stärker auf die Anschauung hin. 6 1 1 Dies geschieht aber - abgesehen von einer Bemerkung, w o der Raum sogar flüchtig als Begriff a priori vorgestellt wird 6 1 2 - einen Abschnitt später 613 im Kontext der mathematischen Urteile und verleitet dann durch das Beispiel der "fünf Finger" eher dazu, Anschauung als bloß pädagogisch-empirische Hilfskonstruktion zu mißverstehen. 614 Von der
608 Vgl. KrV B 171 und B 175. 609 KrV ("Einleitung") B 10-14; A 6-10. Es versteht sich von selbst, daß die gelegendichen Erwähnungen der Anschauung in der zweiten "Vorrede" zur "KrV" hier unberücksichtigt bleiben können, weil sie nur aus der Argumentation des Werkes, die aber mit der "Einleitung" und dem dort zuerst (und, wie sich erst später ganz herausstellt, vorläufig) vorgestellten Begriff von analytischen und synthetischen Urteilen beginnt, richtig beurteilt werden können. Die erste "Vorrede" konzipiert Transzendentalphilosophie ohnehin nur "als das Inventarium aller unserer Besitze durch reine Vernunft, ein System von Erkenntnissen "aus lauter reinen Begriffen" unter Ausschluß "auch nur bcsorukrefr] Anschauung" (A XX) [Wir beziehen diese Worte auf die vorhergehende Aussage "nach den Begriffen, die wir hier davon geben werden" (A XX) und damit als Aussage über die Kritik und nicht bloß die darauf basierende "Metaphysik der Natur" (A XXI).] Die Mängel dieser Aussage überwindet ein Satz in den "Prol.", S. 365, Z. 16-25. 610 KrV A 8, A 9: "Was ist hier das X, worauf sich der Verstand stützt, wenn er außer dem Begriff von A ein demselben fremdes Prädicat aufzufinden glaubt, das gleichwohl damit verknüpft sei?" und B 13: "Was ist hier das Unbekannte - x, worauf sich der Verstand stützt, wenn er außer dem Begriff von A ein demselben fremdes Prädicat B aufzufinden glaubt, welches er gleichwohl damit verknüpft zu sein erachtet?". 611 Dennoch heißt es noch am Ende der "Einleitung" (B 29 = A 15): "Sofern nun die Sinnlichkeit Vorstellungen a priori enthalten sollte, welche die Bedingung [A: "Bedingungen"] ausmachen, unter der uns Gegenstände gegeben werden, so würde sie zur Transcendental-Philosophie gehören." 612 KrV B 5. 613 Im Abschnitt "V. In allen theoretischen Wissenschaften der Vernunft sind synthetische Urtheile a priori als Principien enthalten", KrV B 14-18. 614 KrV B 15 = Prol. 269.
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Anschauung a priori spricht die "Einleitung" der ersten Ausgabe nur in einem kleinen Satz im Zusammenhang mit Mathematik. 615 Der Gefahr, auf die Kant in diesem Zusammenhang hinweist, nämlich, daß die Anschauung a priori mit einem Begriff a priori verwechselt wird, ist er vorher selber unterlegen, wo er als Vorstellungen a priori nur "gewisse ursprüngliche Begriffe und aus ihnen erzeugte Urteile" 616 gelten läßt. Damit erklärt er selbst - nolens - alle Urteile a priori als nur auf begrifflichen Gründen beruhend und die "wahre Allgemeinheit und strenge Notwendigkeit" 617 von synthetischen Urteilen a priori als begrifflich begründet. In den "Prolegomena" bleibt die Anschauung a priori zunächst ebenfalls ausgespart, wenn Kant sagt, es gibt synthetische Urteile, "die a priori gewiß sind, und die aus reinem Verstände und Vernunft entspringen". 618 In "ÜE" wiederholt Kant das Wesentliche seiner Ausfuhrungen aus der "Einleitung" der beiden Ausgaben der "KrV". Auch hier ist von der Anschauung, die sich hinter dem Wörtchen "mehr" verbirgt, nicht explizit die Rede: Die synthetischen Urteile, so Kant, sind Urtheile, durch deren Prädicat ich dem Subjecte des Urtheils mehr beilege, als ich in dem Begriffe denke, von dem ich das Prädicat aussage, welches letztere also das Erkenntniß über das, was jener Begriff enthielt, vermehrt; dergleichen durch analytische Urtheile nicht geschieht, die nichts thun, als das, was schon in dem gegebenen Begriffe wirklich gedacht und enthalten war, nur als zu ihm gehörig klar vorzustellen und auszusagen. 6 "
Die Ausführungen kongruieren mit dem, was Eberhard über Kants analytische Urteile referiert. Sie sagen im Prädikat nichts, als das, was im Begriffe des Subjekts schon wirklich, obgleich nicht so klar und mit so deutlichem Bewußtseyn enthalten war. 620
An dieser Stelle zeigt sich, wie zwei Philosophen in etwa die gleiche Verbalaussage fundamental verschieden bewerten. Für Wolff und seine Anhänger steckt in dieser Formel Programm und Methode der Philosophie schlechthin: Mehr kann der menschliche Verstand nicht leisten, als gegebene Vorstellungen (in Urteilsform: "Begriffe
615 616 617 618
KrV A4. KrV A 2. KrVA2. Prol. 267 (§ 2c). Unter alleiniger Berufung auf die "Prol.", S. 266, kann Eberhard dann tatsächlich noch nicht von der Anschauung a priori sprechen. Die "Prolegomena" behandeln die feine Anschauung unter dem Kapitel Mathematik. Für uneingeweihte Leser kann es unklar bleiben, daß die ästhetische Erkenntnisbedingung in die anschließenden Kapitel über reine Naturwissenschaft und Metaphysik herübergenommen werden muß. Nicht bloß didaktisch ungeschickt ist es, daß Kant auch die Kategorien erst im Naturwissenschaftskapitel thematisiert, denn ihr Verhältnis zur Mathematik wie Metaphysik wird so nicht voll aufgeklärt. 619 ÜE 228; nochmals ÜE 232, Z. 16-23. In der "KrV" wiederholt Kant diese Distinktion B 193-194 und im Rahmen des Kapitels "Die Disciplin der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauche" (B 740755). 620 S. 313, verändertes Zitat aus: Prol. 266.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
des Subjekts") aufzuklären. 621 Kant im Gegenzug hält eine solche analytische Explizierung für sekundär. Nach ihm setzen analytische Urteile das schon voraus, was im Rahmen der Erkenntnisvergewisserung den Möglichkeitsbedingungen nach gerade gerechtfertigt werden soll: synthetische Erkenntnis. 622 Umgekehrt mag das Insistieren auf der Analysis Eberhard für die Fragestellung nach den Konstitutionsbedingungen von auf apriorischen Synthesen beruhenden Urteilen desensibilisiert haben. Bezüglich der synthetischen Urteile bemerkt Eberhard später lapidar, daß sie der Anschauung bedürfen (S. 329). Ihr Gegenstand stehe nach Kant "unter den nothwendigen Bedingungen der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen, und zwar, wohl bemerkt, des Mannigfaltigen der Anschauung in einer möglichen Erfahrung" (S. 328/ 329). Da Eberhard in dem Aufsatz nirgends zwischen reiner und empirischer Anschauung unterscheidet, 623 drängt sich dem Publikum der Eindruck auf, die bloß empirische Anschauung sei gemeint. Somit ist durch Zurückhaltung von Information ein offener Widerspruch entstanden: Ein Urteil vor aller Erfährung (im Fall der synthetischen Urteile a priori) beruht auf Erfahrung. Die synthetischen Urteile a posteriori sind allesamt "Erfahrungsurteile[.]" (S. 328) und als solche mit Leibnizens Erfahrungsurteilen einerlei. Wenn aber Eberhard erläutert, sie enthielten notwendigerweise "anschauende Begriffe" (ebd.), weicht er mitten in der Berichterstattung wieder von Kants Konzept ab. Aus dessen Perspektive verfuhrt der statt des eindeutigen Ausdrucks "Anschauungen" oder "anschauende Vorstellungen" gebrauchte Terminus "anschauende Begriffe" dazu, schon die Anschauung selbst als etwas versteckt oder verworren Begriffliches aufzufassen. Ganz automatisch wäre dann der Rückschritt in den reinen Verstandesbegriff legitimiert, und im Ergebnis wäre die Synthesis von Anschauung und Begriff in die Auflösung von Anschauung in zugrundeliegende Begriffe verwandelt. Besonders merkwürdig ist Eberhards Darlegung, in welchen Disziplinen nach Kant synthetische Urteile a priori vorkommen, nämlich in keiner als nur der Mathematik. 624 Da für einen Leibnizianer jedoch, wenn man so sagen darf, gerade die mathematischen Urteile am allerwenigsten synthetisch sind, genügt schon diese
621 Vgl. Leibniz: Nouveaux Essais, Buch IV, Kap. III, § 6. 622 Vgl. K r V B 130. 623 Die Formel "in einer möglichen Erfahrung" (S. 329) ist zwar im Kantischen Sinn dem Wortlaut nach korrekt, ohne die vorherige Information, daß Kant Raum und Zeit als reine Anschauungen a priori annehme, kann sie jedoch nur im Sinne von "in empirischer Anschauung" (andernfalls paßte auch das von Eberhard verstärkend gesetzte "wohl bemerkt", ebd., nicht) und nicht, wie das von Kant eigentlich gemeint ist, im Sinne von "in der reinen Anschauung" verstanden werden. Auf S. 308 spricht Eberhard zwar einmal von Raum und Zeit als "Bedingung[en] sinnlicher Anschauung", vollzieht aber nicht mit, daß es sich bei diesen Bedingungen um Anschauungen a priori handelt, so daß sich für ihn apriorische Erkenntnis und Raum- und Zeitvorstellung ausschließen. Aus diesem Grunde schreibt er dann Kant vielleicht die Ansicht zu, die "ganze Metaphysik" enthalte "lauter analytische Urteile" (ebd.), da ja Metaphysik nur apriorische Erkenntnis sein könne. 624 S. 314, 318/319. Der Grund mag mit darin liegen, daß Kant in den "Prol." Raum und Zeit explizit nur in seinem Mathematik-Kapitel behandelt (Prol. 280-286).
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Vorbringung - bei der ja stimmt, daß nach Kant alle mathematischen Urteile synthetisch a priori sind -, 625 um Kant weiter ins Zwielicht zu rücken. Kant läßt jedoch auch in den "Prolegomena" keinen Zweifel darüber, daß alle Wissenschaften (abgesehen von der formalen Logik) synthetische Sätze a priori enthalten müssen, neben der Mathematik und der reinen Naturwissenschaft auch die Metaphysik, 626 die nur hilfsweise analytische Sätze umfaßt, denn "[>Eigentlich metaphysische Urteile" sind "insgesamt synthetisch".627 Dessen ungeachtet behauptet Eberhard, nach Kant enthalte die Metaphysik lediglich analytische Sätze,628 woraus ihm leicht die Position zugesprochen werden kann, die Metaphysik könne "gar keine synthetischen Urteile enthalte[n]" (S. 325). Als Folge des ausschließlich analytischen Charakters metaphysischer Sätze resultiere nach Kant, so Eberhard, daß eine "Erkenntnis des höchsten Wesens" (S. 309) und überhaupt von Gegenständen außerhalb von Raum oder Zeit (S. 308) nicht möglich sei. Zum Beleg pickt sich Eberhard aus den "Prolegomena" ausschließlich die Stellen heraus, die von einer unproblematischen Teilmenge metaphysischer Sätze, die Kant sogar als apodiktische Wahrheiten 629 akzeptiert, handeln, eben den dort hilfsweise vorkommenden analytischen Sätzen, und behauptet, nach Kant seien alle metaphysischen Sätze überhaupt analytisch. Da Kant in dem von Eberhard evozierten Zusammenhang nicht von seiner Begründung einer wissenschaftlichen Metaphysik spricht, sondern den bisherigen Zustand der unzulänglichen Versuche von Metaphysik beschreibt, weist er nur darauf hin, daß die dort vertretenen synthetischen Sätze allesamt ohne Fundierung geblieben sind. Damit ist aber gesagt, auch die bisherige Metaphysik habe synthetische Sätze enthalten. In seiner Streitschrift wird Kant noch deutlicher: Die bisherige Metaphysik umfasse sogar wahre synthetische Sätze, sofern es sich bei ihnen um "die Prinzipien einer möglichen Erfährung" handele, aber auch diese seien nicht "aus Gründen a priori bewiesen' worden. 630 Kants "Transzendentale Dialektik" in der "KrV" dient in voller Ausführlichkeit dem Nachweis der Unhaltbarkeit nur solcher (allerdings sehr zahlreicher) synthetischer Sätze der Metaphysik, die nicht die genannte Bedingung erfüllen. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, daß es Kant ist, der diesen von ihm abgelehnten Sätzen den Status der Synthetizität zuspricht. Nur auf dieser Basis kann er 625 Vgl. KrV B 14. Analytische Sätze, wie "Das Ganze ist sich selber gleich", werden zwar in der Mathematik benutzt und als gültig vorausgesetzt, ihnen kommt aber kein spezifisch mathematischer Status zu. Wie echte mathematische Sätze können sie jedoch in der Anschauung dargestellt werden (B 16-
17). 626 Prol. 279-280; vgl. KrV B 14-18. Präziser läßt sich sagen, daß "alle[.] theoretischen Wissenschaften der Vernunft" (B 14) synthetische Urteile a priori enthalten müssen, sollen sie Wissenschaften sein. Eine Wissenschaft ist insofern Vernunftwissenschaft, als in ihr "etwas a priori erkannt" (BIX) wird. 627 Kant: Prol. 273; auch Kant, ÜE 233, zitiert diese Stelle. 628 S. 308. Eberhard versucht, sich dabei auf Kants "Prol.", S. 271, zu stützen. 629 Kant: Prol. 271. 630 Ü E 233, Z. 12. Der Ausdruck "Prinzipien einer möglichen Erfahrung" ist hier ganz allgemein zu verstehen. Vgl. auch ÜE 227 Anm.
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4 . D i e Kontroverse im engeren Sinn
sie als unhaltbar entlarven, denn er stellt Erweiterungsansprüche fest, ohne daß ein Grund vorhanden wäre, der die Verbindung der an sich differenten Subjekt- und Prädikatbegriffe legitimieren würde. 631 Mit Kants Charakterisierung dieser metaphysischen Urteile als synthetisch ist es durchaus vereinbar, daß ihre Verfechter - voran Leibniz 632 - sie nicht als synthetisch verstanden haben. 633 Kants Kritik schließt dann auch den Aspekt der Enttarnung vermeintlich analytischer Sätze als versteckt synthetischer ein. Das wird besonders bei den "Paralogismen" der rationalen Psychologie deutlich. 6 3 4 Bestimmungen wie Einfachheit oder Unsterblichkeit einer Seelensubstanz glaubt man analytisch aus dem (auch für Kant identischen) Bewußtsein des "Ich denke" durch Abstraktion ableiten zu können. Mit demselben Gegenbeispiel, das er an zwei verschiedenen Stellen seiner Streitschrift 635 einsetzt, kann Kant Eberhards Behauptung entkräften, er verweigere der Metaphysik und er versage der reinen Naturwissenschaft synthetische Urteile a priori, nämlich mit dem Hinweis auf die Grundsätze des reinen Verstandes, die die Kritik "durch Beweise a priori dartut". 6 3 6 In der Einleitung zur zweiten Ausgabe der "KrV" hat Kant als synthetische Sätze a priori der Naturwissenschaft Urteile angeführt, die nicht ganz rein waren. 6 3 7 Im selben Buch bezeichnet er später die Grundsätze noch ganz mit dem Vokabular der Vernunftkritik, wenn er das entsprechende Kapitel überschreibt mit "Des Systems der Grundsätze des reinen Verstandes Dritter Abschnitt. Systematische Vorstellung aller synthetischen Grundsätze desselben". 638 In den "Prolegomena" stellt er die Grundsätze wie in der Streitschrift ins Licht der Naturwissenschaft: "Reine physiologische Tafel allgemeiner Grundsätze der Naturwissenschaft". 639 Der Status der Grundsätze ist allerdings in beiden Versionen gleich geblieben: Diese Sätze sind metaphysisch 640 - deshalb dienen sie auch zum Beleg, daß Metaphysik a priori bewiesene wahre synthetische Urteile enthalte ( Ü E 2 3 5 ) -, aber als
631 Vgl. ÜE 234 und Prol. 277. 632 Nach Leibniz gilt: "[I]n omni Propositione vera affirmariva, necessaria vel conringentc, universal) vel singulari, Notio praedicati aliquo modo continetur in notione subjecti." (Text "Phil., IV, 3, a, 1-4" aus Couturat: [Opuscules], S. 16). 633 Sehr versteckt wird deudich, daß Kant gesehen hat, daß Leibniz alle Urteile als analytisch begriff: Kant an Reinhold vom 12.5.1789 (AK XI, S. 38, Z. 13). 634 Vgl. KrV B 401, B 407-410, A 366. 635 Ü E 233 unten (für den Kontext der reinen Naturwissenschaft) und ÜE 235 unten (für den Kontext der Metaphysik). 636 Kant verweist in ÜE 233 auf KrV A 158-235. Diese Grundsätze sind deshalb synthetisch, weil sie die ästhetische wie begriffliche Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis vereinigen (vgl. auch KrV B 765). Eberhards Grundsätze hingegen sind jedoch rein begrifflich (wie auch Kants Prinzipien der reinen Vernunft bloß begrifflich sind). 637 KrV B 17; zum Unterschied "rein"/"a priori" B 3. 638 KrV B 197 = A 158. 639 Prol. 303. 640 Ü E 233, Z. 28-29 und Ü E 235, Z. 26-30.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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"Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung1641 sind sie zugleich Grundlage der empirischen Naturwissenschaft(en). Dies impliziert wiederum, daß sie - wiewohl a priori ohne Bezug zur Empirie keine Bedeutung haben.642
Eberhards "Rekonstruktion" Eberhard begründet seine in drei Etappen643 erfolgende Neuformulierung der Kantischen Unterscheidung der Urteile in analytische und synthetische und der synthetischen in Urteile a priori und a posteriori vorab mit dem Hinweis, Kants Aussagen entbehrten der Wahrheit oder wenigstens der Deudichkeit.644 Wie am Schluß des Aufsatzes zu erfahren ist, hat er sie dadurch wahr und deutlich zu machen versucht, daß er sie in ein dogmatisch-leibnizianisches Schema umgoß (S. 331). Anspruch auf einen neutralen "Vergleich", den er S. 312 angekündigt hat, kann er damit nicht mehr erheben. Auf S. 313 bestimmt Eberhard zwar noch die synthetischen Urteile als solche, die im kontradiktorischen Gegensatz zu den analytischen nicht "das Wesen des Subjekts" oder "eines seiner wesentlichen Stücke" prädizieren, später jedoch läuft die Rekonstruktion des synthetischen Urteils a priori durch einen Kunstgriff doch auf so etwas wie eine - damit analytische - Wesensprädikation hinaus. Wichtig wird hier Eberhards Begriff des "Attributs". Auf dieselbe Bewegung trifft man in einer Bemerkung S. 314, woraus ersichtlich wird, daß synthetische Sätze auf dem Prinzip vom zureichenden Grunde beruhen sollen.645 Da dieses sich nach Eberhard auf das vom ausgeschlossenen Widerspruch zurückfuhren läßt, fungiert das Prinzip der analytischen Urteile zugleich als Prinzip der synthetischen. Synthetische Urteile werden dadurch zu einer Unterart der analytischen. Nur durch eine solche Subordination der synthetischen Urteile unter die analytischen gelingt es Eberhard, Leibnizens Unterscheidung der Urteile der Kantischen 641 ÜE 233, Z. 31. Die "Grundsätze des reinen Verstandes", d. h. die "Axiome der Anschauung", die "Anticipationen der Wahrnehmung", die "Analogien der Erfahrung" und die "Postulate des empirischen Denkens überhaupt" (KrV B 200), genügen dem "obersten Grundsatze aller synthetischen Urtheile" (KrV B 193), auf den wir weiter unten eingehen. Ganz unkantisch wäre es aber, zu behaupten, sie würden aus diesem obersten Grundsatz logisch abgeleitet. 642 Dem Eberhard muß Kant in diesem Kontext dann vorhalten, er mache aus Prinzipien der Möglichkeit der Erfährung bloße "Erfährungsurteile" (ÜE 233). Kant beruft sich dabei auf S. 318/319 des "Phil. Mag.", wo Eberhard schreibt: "Denn, die Urtheile der Mathematik ausgenommen, sind nur die Erfehrungurtheile synthetisch." 643 S. 312-318, S. 318-321 und S. 322-325. 644 S. 310; auf S. 314 nennt Eberhaid wenigstens Kants Bestimmung der analytischen Urteile "zweideutig"645 Erst S. 316 bezeichnet Eberhard expressis verbis den Satz vom Grund als das "gemeinschaftliche Prinzip" der synthetischen Urteile. Daran, daß der Satz vom Widerspruch nach seinem eigenen früheren "Beweis" das gemeinschaftliche Prinzip der analytischen wie synthetischen Urteile ist, erinnert Eberhard in diesem Aufsatz freilich wohlweißlich nicht. Vgl. auch S. 326, 331.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
anzunähern. Nach Leibniz gibt es "reine Vernunfturteile" - gemeint sind die synthetischen Urteile a priori -, deren Hauptbegriffe [gemeint sind Subjekt und Prädikat] so von einander verschieden sind, daß das Prädikat weder ganz noch zum Theil mit dem Subjekt einerley, obgleich in demselben gegründet ist. 646
Nur scheinbar werden diese Worte, wie von Eberhard versichert, Kant wie Leibniz gerecht. 647 Genau betrachtet, verrät der Ausdruck "gegründet" das eben skizzierte Reduktionsverfehren. Mit den solcherart Leibniz zugesprochenen synthetischen Urteilen a priori läßt sich nach Eberhard die Erkenntnis von Dingen an sich "vermehren oder erweitern" (S. 308). Immanent von Leibniz aus gesehen, ist diese Behauptung nur unter der Voraussetzung der Transformation von synthetischen Urteilen in analytische möglich, und in der Tat erfüllt Eberhard kunstfertig diese Bedingung. Von Kant aus gesehen, sind der Anspruch auf Erkenntnis des An-sich und der Einsatz synthetischer Urteile a priori prinzipiell inkompatibel, und zwar schon der Definition entsprechend aus logischen Gründen. Eberhard kann also hier die Kantische Vernunftkritik nicht im Sinne der Leibnizischen erweitern, denn ein solcher Versuch liefe bereits auf einen logischen Widerspruch hinaus: Ein Erweiterungsurteil, das nur aufgrund der dem endlichen Subjekt notwendig zukommenden reinen Formen der Anschauung gebildet werden kann, kann gar nichts über Gegenstände aussagen, die jenseits möglicher Anschauung und daher Uber den Bereich der Erfahrung hinaus unabhängig vom Subjekt gedacht werden müssen. 648 Wenn Raum und Zeit Formen der sinnlichen Anschauung und damit Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind, können Urteile, die sich notwendig auf sie stützen müssen, den Bereich der Erfahrung und der Gegenstände der Erfahrung nicht übersteigen.649 Des weiteren kommt bei Kant das "Ding an sich" nicht als Erkenntnisvoraussetzung oder Erkenntnisgegenstand - und sei es auch nur im Modus der unendlichen Annäherung - ins Spiel, sondern bloß logisch als formal erzwungener Gegenbegriff zu "Gegenstand als Erscheinung". 650 Nur weil sich Eberhard konsequent der Kantischen Begründung synthetischer Urteile a priori und damit der Rolle des Dings an sich als einem bloßen GrenzbegrifF verweigert, kann er überhaupt hoffen, mit synthetischen Urteilen a priori zu einer Erkenntnis der Dinge an sich zu kommen. Überdies ist er sich durchaus bewußt, sein Ziel,
646 S. 308. 647 D e n Akzent beim Unterschied zwischen Kant und Leibniz setzt Eberhard in diesem Zusammenhang nicht in auf die Bestimmung der Urteilsarten, sondern darauf, daß er Kant bestreiten läßt, durch synthetische Urteile a priori könnten, wie Leibniz behaupte, Dinge an sich erweiternd erkannt werden (S. 308). 648 Vgl. Kant an Reinhold, 12.5.89 (AK XI, S. 38). 649 Prol. 281-283 (§§ 8-10) und 316 (§ 34). Auch der Gebrauch der Kategorien ist auf anschaulich Gegebenes bezogen (KrV B 308). 650 KrV A 251, B 307/308; vgl. auch B 310-312.
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selbst nach Hr. Kants strengster Forderung die Erkenntiß der Dinge an sich und also auch die Erkenntniß eines höchsten Wesens [zu retten,] 651
erst durch die "Rekonstruktion" der Kantischen Urteilslehre zu erreichen.652 Die Erkenntnis der Dinge an sich durch synthetische Urteile a priori muß er wohl auch aus dem Grunde verfechten (und entsprechend die Tragweite der Transformation verheimlichen), weil er dem bloßen Verstand gleich erweiternde Erkenntnis der (allgemeinen Bestimmungen) der Dinge an sich sichern will. Um gegen Kant glaubwürdig zu erscheinen, operiert er deshalb nicht geradezu mit analytischen Urteilen, die für Kant lediglich Erläuterungsurteile sind, sondern tut so, als könnten auch synthetische Urteile das Gewünschte leisten. Von Kant aus gesehen, würde selbst das Gelingen des Erweises, synthetische Urteile seien versteckt analytische, noch nicht dafür sprechen, daß mit analytischen der Erkenntniszugang zum An-sich gewährleistet oder auch nur möglich sei. (Wären alle Urteile analytisch, wäre allerdings dem transzendentalphilosophischen Ansatz jegliche Geschäftsgrundlage entzogen.) Im Rahmen der Leibnizischen Philosophie wird jedoch von einem solchen Konnexus der Analytizität aller Urteile und der Erkennbarkeit des Absoluten (d. h. des gesamten Universums seinem Wesen nach) ausgegangen. Ausgangspunkt ist dabei freilich die "Perzeption". Jede repräsentiert - auf mehr oder minder verworrene Weise - das Ganze.653 Somit sind in der Perzeption654 immer schon alle möglichen Begriffe angelegt. Da sich alle Begriffe auf dasselbe beziehen, müssen sie prinzipiell alle kompatibel und nach dem Satz des Widerspruchs, bzw. des Grundes, aufeinander rückführbar sein. Wegen der Analytizität des Urteils - als der denkbar einfächsten Struktur eines solchen - ist es plausibel, ein Urteil als unmittelbaren Reflex einer Perzeption zu deuten: Wenn ich überhaupt perzipiere, bin ich in der Lage, in mehreren Abstraktions- oder Reflexionsstufen zu urteilen und dabei den komplexen (ja man könnte sagen: absoluten) Gehalt der Perzeption zu entwickeln.655 Erweiterungserkenntnis durch analytische Urteile und mittels abstrakter Begriffe ist somit als 651 652 653 654
S. 312. Vgl. S. 311/312. Leibniz: Principes, §§ 13, 14; Discours: §§ 9, 26. Da die Perzeption bei Leibniz das An-sich (das Absolute, das Ganze) repräsentiert, kann ihr Status, worauf im vorigen Kapitel eingegangen wurde, nicht bloß sinnlich und kann das Sinnliche nicht - im Sinne Kants - etwas irieduzibel Positives sein. Sie ist im eigentlichen Sinn repräsentatives Bild, von dem dann gleichsam im Reflex zu fragen ist, was es denn abbilde, was im letzten nicht wiederum ein Bild sein kann. So gelangt man vom Moment des Sinnlichen und Verworrenen bei der Perzeption zum übersinnlich Intellektuellen, das erst den Gegenstand des "Bildes" adäquat darstellen kann. Die Empfindung bei Kant (das sinnlich Gegebene) hat (was sich mit den Formen der Anschauung und der Angewiesenheit des Gegebenen auf die Synthesis durch Kategorien beweisen läßt) mit einem An-sich nichts zu tun. Ihm fehlt daher der Rcpräsen tations Charakter. (Nach Kant beansprucht wiederum die Empfindung bei Locke einen Bezug zu den Dingen selbst.) 655 Sehr vereinfacht könnte man den Gang der Abstraktion in sukzessiven Urteilen so vorstellen (wobei die Begriffe in ihrer Grundstruktur nicht aus der Erfahrung, sondern nur bei Gelegenheit der Erfahrung entstehen): "Rot", "Dieses Rot hier und jetzt" "Dieses Rote ist ein Apfel", "Apfel ist ein Etwas mit mehreren Eigenschaften" "«Substanz» ist das Beharrliche", "Wenn es wechselnde Akzidenzen gibt, so ist es notwendig, daß ihnen einen Substanz zugrundeliegt" usw.
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4. D i e Kontroverse im engeren Sinn
Aufklärungsleistung von Perzeptionen - wenngleich nur unter gewaltigem metaphysisch-spekulativem Aufwand - denkbar. Nach Leibniz sind also selbst Existenzurteile analytisch. Anders gewendet: Analytischen Urteilen kommt bei ihm ein fundamentum in re zu. 6 5 6 Nach Kant hingegen kann kein Existenzurteil, also kein Urteil über etwas, was da ist, analytisch sein, da zur Bezeichnung einer Existenz (nicht anders wie zur Prädikation der Möglichkeit oder Notwendigkeit eines Sachverhalts) Anschauung erfordert wird. 6 5 7 Deshalb können analytische Urteile zwar in Begriffen gefaßte Erfährung in einem zweiten Schritt logisch explizierend verarbeiten (den Begriffsgehalt erläutern), nicht aber selbst Erfahrungsurteile sein. 658 Die ganze eigentliche "Rekonstruktion" vollzieht Eberhard nach dem für ihn einzig möglichen Kriterium der "Verschiedenheit der Bestimmungsart des Prädikats durch das Subjekt" (S. 331). Dadurch geschieht die gesamte Neuformulierung aus einem analytischen Blickwinkel heraus, wodurch nur ein begriffslogisch vermitteltes Verhältnis von Begriffen in Betracht kommen kann. Die positive Rolle von Raum und Zeit kann nach diesem Ansatz gar nicht gewürdigt, und das synthetische Urteil a priori so nur negativ als Nichtenthaltenheit des Prädikats im Subjekt bestimmt werden. Nach Ausschaltung der reinen Anschauung bleibt dann nur der Satz vom zureichenden Grund übrig, um die notwendige Verbindung der Hauptbegriffe eines synthetischen Satzes zu erklären.
Erster Rekonstruktionszug In einem ersten Versuch unterscheidet Eberhard ein dreifaches Verhältnis des Prädikats zum Subjekt: (a) Die Prädikate drücken das "Wesen" oder "wesentliche Stücke" 659 des Subjekts aus. Auf diese Art entstehen nach dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch "ganz identische" oder "zum Teil identische" Urteile. 660 656 l.cibniz: Discours, § 8. 657 KrV B 176-187: "Von dem Schematismus der reinen Vcretandesbegriffe"; dort heißt es B 138: "Das Schema der Möglichkeit ist [...] die Bestimmung der Vorstellung eines Dinges zu irgend einer Zeit. Das Schema der Wirklichkeit ist das Dasein in einer bestimmten Zeit. Das Schema der Notwendigkeit ist das Dasein eines Gegenstandes zu aller Zeit." Anschauung wird nach Kant nicht nur zur Bezeichnung eines wirklichen, möglichen oder notwendigen Sachverhalts erfordert, sondern auch zur Bestimmung der Modalität eines möglichen, wirklichen oder notwendigen Urteils (vgl. KrV B 265287: "Postulate des empirischen Denkens überhaupt"). Im Sinne der die Kantischcn Ansätze immanent weiterführenden Arbeit von Bernward Grunewald, "Modalität und empirisches Denken", Hamburg 1986, läßt sich Gegenstands- und Urteilsmodalität am Sachverhalt zusammenführen. Vgl. dazu die ausführliche Rezension von Manfred Zahn in den "Kant-Studien" 80 (1989) 100-114. 658 I'rol. 268; KrV B 103: "|ll|s können keine Begriffe dem Inhalte nach analytisch entspringen." Vgl. auch KrV B 626. 659 S. 313, 315. liin "wesentliches Stück" enthält einen Teilaspckt des Wesens des Prädikats. 660 S. 312-313. Wir nennen sie modernisiert "vollidentische" und "teilidentische" Urteile. Eberhard spricht auch davon, daß das Prädikat eines analytischen Urteils "die Sacherklärung des Subjekts oder
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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Es handelt sich dabei um die analytischen Urteile im Sinne Kants. Die von Eberhard über Kant hinaus vorgenommene Differenzierung in vollidentische (und daher im strengen Sinn tautologische Urteile vom Stil "Dreiecke sind Dreiecke") 661 und teilidentische Urteile ("Dreiecke sind Figuren") ist von Kant her gesehen legitim u n d unproblematisch, denn bei ihr handelt es sich selbst um ein analytisches Urteil, da jede Vollidentität Teilidentitäten einschließt. Der Ansatzpunkt zu einer Abweichung von Kant, der alle analytischen Urteile insgesamt als die Erkenntnis nicht erweiternd u n d in diesem Sinne als "leer" (S. 313) qualifiziert, liegt darin, daß Eberhard nur die vollidentischen Urteile als "leer" bezeichnet. Dadurch entsteht die Illusion, die anderen (teilidentischen) Urteile böten bereits einen Erkenntniszuwachs. (b) Die Prädikate drücken "Attribute" des Subjekts aus. 662 Attribute sind zwar keine Teile des Wesens des Subjekts, werden aber durch es "bestimmt" (S. 314). Konkret heißt das: Sie sind - Eberhard fuhrt als Beispiel den Satz "Alle Dreiecke sind die Hälften von Parallelogrammen" (S. 314) an Bestimmungen, die nicht zum Wesen des Subjekts gehören, aber in diesem Wesen ihren zureichenden G r u n d haben (S. 314).
Über den Begriff "Attribut" bestimmt Eberhard das Kantische synthetische Urteil a priori. Eberhard nennt solche Urteile allerdings "notwendige und ewige Wahrheiten" (S. 315). Die reine Anschauung bleibt dabei ausgeklammert. Ein Attribut wird nach dem Satz vom zureichenden Grund durch einen Vernunftschluß dem Subjekt zugeordnet. Von Kant aus gesehen, liegt in dieser "Emanzipation" von der Anschauung, die mit fälschen Erwartungen an die Logik parallel geht, der Ansatz, daß man sich auf der Suche nach Erweiterung der Erkenntnis in die Land lügenden Nebelbänke des dialektischen Scheins verirrt: Bloß logische Konstruktionen (denen formaler Notwendigkeitscharakter zukommen mag) werden mit objektiv gültigen materialen Erkenntnissen verwechselt. 663 Eberhards alles in allem sehr vager Hinweis auf den Satz vom Grund als Prinzip der synthetischen Urteile a priori, läßt sich am naheliegendsten nur auf eine Art präzisieren, die Eberhard das scheinbar gewonnene Land a priori wieder wegnimmt: Wie er selbst S. 14 zugegeben hat, beruhen auf dem Satz vom Grund die "bedingten Vernunftschlüsse". Kant schließt sich in seiner "Logik" dieser communis opinio an, 6 6 4
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eines Merkmals dieser Sacherklärung ist" (S. 313). "Im erstem Falle enthält das Prädikat alle Bestimmungen des Subjekts, wodurch es jederzeit von allen andern Dingen kann unterschieden werden [...]" (S. 312). Ganz identisch sind auch Urteile, wo nicht einfach nur der Begriff des Subjekts an der Stelle des Prädikats wiederholt wird, sondern, wo er durch seine Definition ersetzt wird, wie im Satz "Dreiecke sind dreiseitige Figuren" (S. 312). S. 314. "Attribute" übersetzt Eberhard S. 316 mit "Eigenschaften". Vgl. KrV B 295, 397. Kant: Logik, AK IX, S. 129, § 76: "A ratione ad rationatum; a negadone rationati ad negationem rationis valet consequenda." Vgl. auch Kant an Reinhold vom 12.5.89, AK XI, S. 35 Anmerkung.
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erinnert jedoch daran, daß "hypothetische Vernunftschlüsse" nur einen "Beweisg n W 6 6 5 enthielten, aber im Gegensatz zu kategorischen und disjunktiven keinen materialen Beweis darlegen könnten, denn Vorder- wie Nachsatz (der Major eines bedingten Vernunftschlusses) seien nur problematisch (also bestenfalls möglich) 666 und nicht assertorisch. Nur die Grund-Folge-Beziehung, die "Konsequenz", sei assertorisch. 667 Auch wenn Vorder- und Nachsatz fälsch seien, bliebe sie logisch gültig. 668 Somit kann Eberhard zwar in der Tat nach dem Satz vom Grund Attribute folgern, aber dadurch nicht ihre Wirklichkeit demonstrieren. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum sich Eberhard bemüht, den Satz vom Grund auf den vom Widerspruch zurückzuführen: 66 ' Hypothetische Schlüsse könnte er dann in kategorische verwandeln, mit denen sich - nach dem Satz vom Widerspruch als ihrem Prinzip (S. 14) ein strenger Beweis durchfuhren ließe.670 (c) Die Prädikate drücken "Modifikationen und Verhältnisse des Subjekts" (S. 315) aus. 671 So charakterisiert Eberhard die "Zeitwahrheiten" (S. 315), die er auch "zufällige" Wahrheiten (S. 317) nennt, die synthetischen Urteile a posteriori im Kantischen Sinn. Wie bei den analytischen nimmt Eberhard auch bei den synthetischen Urteilen a posteriori eine Untergliederung vor. Als Beispiel für "Modifikation" nennt er den Satz "Dieser Stein ist jetzt warm", als Beispiel für "Verhältnisse" den Satz "Einige Körper sind schwer" (S. 315). Die Subunterscheidung soll vielleicht Kants "Wahmehmungs-" und "Erfahrungsurteilen" aus den "Prolegomena" entsprechen, 672 oder es liegt hier in etwas verunglückter Form der Unterschied zwischen singulären und allgemeinen Urteilen (im Sinne von empirisch oder komparativ allgemeinen Urteilen, die nicht apodiktisch allgemein sein müssen, denn die Schwere gehört im Gegensatz zur Ausgedehntheit nicht analytisch zum Begriff des Körpers) vor: Alle Körper sind - in dieser Welt - immer schwer, während einzelne Körper, hier ein konkreter Stein, zeitlich begrenzt bestimmte Eigenschaften annehmen können.
665 666 667 668 669
Kant: Logik, AK IX, S. 129, § 75, Anm. 2. Kant: Logik, AK IX, S. 108, § 30. Kant: Logik, AK IX, S. 105, § 25 und Anmerkungen. Kant: Logik, AK IX, S. 105, § 25, Anm. 2. Zwei Passagen bei Kant, ÜE 230, Z. 16-27, und ÜE 230, Z. 35 bis 231, Z. 15, erläutern genau diesen Punkt. Die Aussagen vor allem der zweiten hier genannten Passage finden sich auch im Brief an Reinhold vom 12.5.89, AK XI, S. 36. 670 Auch gegen den Versuch, hypothetische Urteile auf kategorische zu reduzieren, wendet sich Kant: Logik, AK IX, S. 105, § 25 Anm. 2. 671 Mit anderen Worten: "zufällige Beschaffenheiten oder Verhältnisse" des Subjekts (S. 316). 672 In Kants "Logik" (AK IX, S. 113, § 40), heißt es "Ein Wahrnehmungsurtheil ist bloß subjectiv, ein objectives Urtheil aus Wahrnehmungen ist ein Erfáhrungsurtheil." Danach ist "Der Stein ist warm" (ebd.) bereits ein Erfahrungsurteil, weil hier eine Aussage über den Zustand - oder die Verhältnisse des Steins gemacht wird. Ein Wahrnehmungsurteil könnte in diesem Zusammenhang nur lauten: "Bei der Berührung des Steins [hier und jetzt] empfinde ich Wärme" (ebd.). In den "Prolegomena" nimmt Kant die Unterscheidung weiter auf: S. 297-302 (§§ 18-20).
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Am Ende der ersten Umformulierung faßt Eberhard die Prädikate der Punkte (b) und (c) als "Affektionen des Subjekts" 673 und beide Urteilstypen als "nicht identische" zusammen (S. 317). Taktisch hat Eberhard schon bei Punkt (a) versucht, nur eine Teilmenge der analytischen Urteile als leer und deshalb trivial zu erweisen. Der bloße Erläuterungscharakter analytischer Urteile sollte auf diese Weise relativiert werden. Bei Punkt (b) hat er alle synthetischen Urteile a priori in analytische verwandelt. Das setzt sich, wie gleich erläutert werden wird, bei Punkt (c) fort, denn nach Eberhard beruhen auch synthetische Urteile a posteriori auf dem analytisch reduzierbaren Satz vom Grund. Den Satz vom Widerspruch benennt Eberhard explizit als das Prinzip der analytischen Urteile und weiß sich darin mit Kant zurecht einig. 674 Der Satz des Grundes gilt ihm als das Prinzip für alle synthetischen Urteile - a priori gleichwie a posteriori. 675 Hier will er Kant ergänzen, denn bei ihm habe er "vergebens"676 nach einem solchen gesucht.
Kant gegen Eberhards Logizismus677 Gegen Eberhards Hantieren mit dem Begriff "Attribut" 678 wendet Kant ein, daß damit die entscheidende Frage noch offen bleiben muß, auf welche Art, ob nur folgernd oder synthetisch erweiternd, dem Subjekt das Attribut zugesprochen wird, denn "Attribut" ist an sich nur ein logischer Begriff, mit dem nicht nach dem Ursprung einer Erkenntnis geforscht werden kann. Kant entfaltet das Gegenargument, indem er seinerseits eine logische Distinktion der Urteile entwirft. 679 Durch die offenbare Identität beider Tafeln, 680 gelingt es ihm, Eberhards Bestimmung der Urteile, die sich ja als mehr als nur logisch verstand, als bloß logisch zu enttarnen. 681 Nachdem Kant daraufhingewiesen hat, daß die Unterscheidung "a priori"/ "empirisch" "ein in der Logik bekannter [..] Unterschied" (ÜE 228) sei, schreibt er:
673 674 675 676 677 678
S. 316. Im Falle der Attribute handelt es sich um "unveränderliche Affektionen" des Subjekts (S. 314). S. 316; Eberhard bezieht sich auf Prol. 267 (§ 2 b). S. 316. S. 316. Es geht hier insbesondere um: ÜE 228, 3. Abs. bis 232, 1. Abs. Eberhard stützt sich auf diesen Begriff auch, wie wir sehen werden, in der zweiten und dritten Rekonstruktion. 679 Der Satz vom Widerspruch - und mithin die formale Logik - gilt als negatives Wahrheitskriterium von allen Urteilen (KrV B 189; ÜE 195 oben). Das bedeutet auch, daß sich synthetische Sätze nicht begrifflich widersprechen dürfen. 680 Unter der zweiten Tafel verstehen wir Eberhards erste Rekonstruktion gemäß obiger Darstellung. 681 In seinem Brief an Reinhold vom 12.5.1789 gibt Kant, genau bettachtet, ein zweites Argument gegen Eberhards "Attribut". Jenes deckt sich mit unserem aus Eberhards eigenen früheren Worten sogleich gegen ihn vorgebrachten Einwand, daß er selbst diesen Ausdruck so bestimmt, daß ein damit bezeichnetes Prädikat notwendig analytisch sein muß: AK XI, S. 36, Z. 11-16. Es ist partiell im Argument von "ÜE" enthalten: vgl. ÜE 230, Z. 16-27; 230, Z. 35 - 231, Z. 15; 231, Z. 20-31.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn D o c h ist u m des Herrn Eberhards willen hier nicht überflüssig anzumerken: daß ein Prädicat, weiches durch einen Satz a priori einem Subjecte beigelegt wird, eben dadurch als dem letzteren nothwendig angehörig (von dem Begriffe desselben unabtrennlich) ausgesagt wird. Solche Prädicate werden auch zum Wesen (der inneren Möglichkeit des Begriffe) gehörige (ad essentiam 682 pertinentia) Prädicate genannt, dergleichen folglich alle Sätze, die a priori gelten, enthalten müssen; die übrigen, die nämlich vom Begriffe (unbeschadet desselben) abtrennliche, heißen außerwesentliche Merkmale (extraessentialia). Die ersteren gehören nun zum Wesen entweder als Bestandstücke desselben (ut constitutiva), oder als darin zureichend gegründete Folgen aus demselben (ut rationata). Die ersteren heißen wesentliche Stücke (essentialia), die also kein Prädicat enthalten, welches aus anderen in demselben Begriffe enthaltenen abgeleitet werden könnte, und ihr Inbegriff macht das logische Wesen (essentia) aus; die zweiten werden Eigenschaften (attributa) genannt. Die außerwesentlichen Merkmale sind entweder innere (modi), oder Verhältnißmerkmale (relationes) und können in Sätzen a priori nicht zu Prädicaten dienen, weil sie vom Begriffe des Subjekts abtrennlich und also nicht nothwendig mit ihm verbunden sind. 6 8 3
Es wäre fatal, wollte man diese Einteilung der Urteile als auf ihren Ursprung gehend interpretieren. Dann würde nämlich Kant selbst in den Logizismus Eberhards fallen. Es geht hier nicht um die transzendentale Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von synthetischen Sätzen, sondern nur um die nachfolgend mögliche, d. h. die Wirklichkeit solcher Urteile voraussetzende logische Analyse derselben Sätze, wofiir schon das verwendete Vokabular spricht ("essentia" als "logisches Wesen", "rationata" u. dgl.). 684 Alle Urteile a priori müssen als Urteile a priori notwendig sein. Die damit mögliche logische Behandlung dieser notwendigen Sätze hat jedoch nichts mit der Frage zu tun, worauf konstitutiv die Notwendigkeit beruht, ob nur auf begrifflichen Gründen wie bei analytischen oder auf reiner Anschauung wie bei synthetischen Urteilen a priori. In der zitierten Passage unterscheidet Kant alle möglichen Prädikate in "ad essentiam pertinentia" und "extraessentialia". Nur im ersten Fall kommt das Prädikat dem Subjekt notwendig zu. Die "außerwesentlichen" Prädikate können vom Begriff des Subjekts abgetrennt werden, ohne daß das "logische Wesen" des Subjekts beschädigt würde. Ganz wie Eberhard unterteilt er sie in "innere [Merkmale] (modi)" und "Verhältnismerkmale (relationes)". Nach Kant lassen sich auf diese Art nur synthetische Urteile a posteriori logisch darstellen, während Eberhard glaubt, damit die Möglichkeit solcher Urteile erklärt zu haben. 685 Was zum "Wesen" oder - ebenfalls logisch gemeint - zur "inneren Möglichkeit" gehört, untergliedert Kant in die elementaren (d. h. logisch nicht weiter ableitbaren) "Bestandstücke" des Wesens ("ut constitutiva") und die "Eigenschaften" des Wesens 682 An dieser Stelle verweist Kant auf folgende Fußnote (ÜE 229): "Damit bei diesem Worte auch der geringste Schein einer Erklärung im Cirkel vermieden werde, kann man statt des Ausdrucks ad essentiam den an diesem Ort gleichlautenden ad internam possibilitatem pertinentia brauchen." 683 ÜE 228-229. 684 Siehe auch Kant an Reinhold vom 12.5.89, AK XI, S. 36, Z. 28-37. 685 Vgl. hier Punkt (c) der ersten Eberhard-Rekonstruktion.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
235
("ut rationata"). Mit den "Eigenschaften" sind synonym die "Attribute" bezeichnet. Sie sind nach dem logischen Satz vom Grund (der auf dem Satz vom Widerspruch beruht) aus dem Wesen gefolgert. 686 Ein Bestandsstück (ein "essentiale") ist z. B. das Prädikat "ausgedehnt" in dem Satz "Alle Körper sind ausgedehnt", denn ohne das Merkmal der Ausdehnung gibt es nicht das logische Wesen "Körper". Ein dem Ursprung nach analytisches Attribut zu "Körper" wäre "teilbar" ("Alle Körper sind teilbar"). Es kann logisch aus "ausgedehnt" gefolgert werden. 687 Dem Ursprung nach kann aber ein Attribut auch synthetisch a priori sein, wenngleich es, logisch betrachtet, notwendig zum Subjekt gehört, und zwar deshalb, weil die logische Notwendigkeit die transzendentale widerspiegeln muß. 688 In dem Satz "Eine jede Substanz ist beharrlich" (ÜE 229) macht "beharrlich" weder ein wesentliches Stück von "Substanz" aus noch kann es aus irgendeinem solchen - was die Konstitution des Urteils angeht - abgeleitet werden. Logisch gesehen muß dieses Prädikat jedoch mit Notwendigkeit dem Subjekt zugesprochen werden. Also bleibt nichts übrig, als es logisch als "Attribut" des Subjekts zu qualifizieren. Damit gibt es nun sowohl analytische als auch synthetische Attribute.689 Da der Begriff "Attribut" nur logische Valenz hat, müßte Eberhard zur Bestimmung eines synthetischen Urteils a priori eine "Tautologie"690 gebrauchen und formulieren «Synthetische Urteile a priori sind Urteile mit synthetischem Prädikat». Damit spränge aber ins Auge, daß Eberhard durch seinen Rekonstruktionsversuch gerade nicht erklärt und erklären kann, worin das Synthetische besteht. 691
686 ÜE 230, 231. 687 Vgl. ÜE 229, 331. 688 Erinnert sei daran, daß nach der "transzendentalen Ästhetik" Raum und Zeit notwendige Vorstellungen sind (KrV A 26, A 31). 689 Streng genommen müßte Kant bei einer logischen Darstellung synthetischer Urteile a priori zwischen synthetischen Prädikaten, die zum Wesen des Subjekts gehören, und solchen, die aus dem Wesen gefolgert werden, unterscheiden. Da es hier nicht um den nicht-begrifflichen Ursprung der Urteile zu tun ist, ist nicht einzusehen, warum synthetische Prädikate a priori nicht zum logischen Wesen des Subjekts gehören sollten. Der Satz «Jede Substanz ist beharrlich» enthielte dann, logisch rekonstruiert, durchaus in seinem Prädikat ein Bestandsstück des Subjekts. Ein synthetisches Attribut läge etwa in dem Satz «Jede Substanz ist veränderlich» (vgl. KrV B 230-231) vor (da nur - durch Akzidenzien - an dem Beharrlichen Veränderungen auftreten können, wogegen die Akzidenzien selbst bloß wechseln, sich also nicht verändern). So ganz scheint also diese logische Rekonstruktion logisch den synthetischen Urteilen nicht gerecht zu werden. Auch verwechselt Kant im Zuge seiner Argumentation manchmal die logische und transzendentale Ebene, so daß sich nicht haltbare transzendentale Aussagen ergeben, etwa ÜE 229, Z. 20-23, wonach "synthetisch" das "Attribut" als "nothwendige Folge vom Wesen abgeleitet werden" kann, oder ÜE 242, Z. 8-10, wonach ein synthetisches Prädikat im Begriff des Subjekts gegründet ist. - Um Eberhards Verwendung des Begriffe "Attribut" für synthetische Urteile a priori anzufechten, genügt jedoch schon der Hinweis, daß durch seine Rückführung des Satzes vom Grund auf den Satz vom Widerspruch alle Attribute letztlich analytisch sind (vgl. dazu ÜE 235, Z. 4-8). 690 ÜE 230, 231. Gegenfiber Reinhold spricht Kant noch deutlicher von einer "platten" oder "schalen" "Tautologie" und nennt sie "Blendwerk" (AK XI, S. 34). 691 ÜE 230, 231.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
Statt einer wirklichen Rekonstruktion mit Auflösung der Aufgabe, wie synthetische Urteile a priori möglich sind, hat Eberhard - so darf noch einmal mit Kant im Ergebnis festgestellt werden - bloße logische "Klassifikationen" (ÜE 242) vorgeführt. Bestenfalls könnten sie als Verstandesbedingungen der Erkenntnis Sinn machen: Die Aufgabe wird nie aufgelöset, wenn man die Bedingungen der Erkenntniß, wie die Logik thut, blos von Seiten des Verstandes in Anschlag bringt. Die Sinnlichkeit und zwar als Vermögen einer Anschauung a priori muß dabei mit in Betrachtung gezogen werden, und wer in den Classificationen, die die Logik von Begriffen macht [...], Trost zu finden vermeint, wird Mühe und Arbeit verlieren (ÜE 242).
Zweiter Rekonstruktionszug 692 In seinem nächsten Rekonstruktionsversuch beschäftigt sich Eberhard nochmals mit "nicht identischen Urteilen, welche notwendige und ewige Wahrheiten sind" (S. 318), also mit den Sätzen, die im Sinn der ersten Neuformulierung den synthetischen Urteilen a priori entsprechen sollten. Die "Attribute", ergänzt Eberhard nun, könnten "entweder a priori oder a posteriori erkannt werden" (S. 318), wohl, weil beide demselben Satz vom Grund genügen. Da nach Leibniz alle Urteile Inklusionsverhältnisse zwischen den Hauptbegriffen und somit analytisch sind, wirkt es plausibel, zu sagen, analytische Urteile könnten entweder a priori (wenigstens bei den Vernunftwahrheiten) oder a posteriori (insbesondere bei den Tatsachenwahrheiten) gefallt werden, ja ein und derselbe (wenngleich vielleicht nicht jeder) Sachverhalt könne entweder a priori oder a posteriori erkannt werden. 693 A posteriori kann ich aus der Wirklichkeit auf die Möglichkeit (der Sache und des entsprechenden Begriffs, so komplex er sein mag) schließen ("ab esse ad posse valet consequentia"), 694 a priori von der Widerspruchsfreiheit der Teilmerkmale einer Vorstellung, also der als solche erwiesenen Möglichkeit, auf die Wirklichkeit. Diese Theorie scheint Eberhard seiner Unterscheidung zugrunde zu legen. Wird sie jedoch auf Kants Bestimmung der Urteile angewandt, ergibt sich bereits ein logischer Widerspruch.
692 Eberhards Ausfuhrungen im zweiten wirken ebenso wie im dritten Rekonstruktionszug ziemlich konfus. Kant läßt sich in "ÜE" nur auf den ersten näher ein. Im Blick auf die folgenden spricht er von einer "Staubwolke von Distinctionen und Classificationen" (ÜE 232). Vgl. auch ÜE 234 und 243. 693 Vgl. Leibniz: Discours, §. 13 (Schluß) und Meditationes, S. 425. 694 Nach Kant, ÜE 193, leiht die Logik diesen Grundsatz der Metaphysik. Nach Leibniz ist die Wahrheit einer "idea" nicht schon durch ein klares und deutliches Bewußtsein von ihr gewahrleistet, sondern nur dann, wenn die Vorstellung dieser Idee a priori oder a posteriori (in der Erfahrung) möglich ist. A priori ist eine Vorstellung möglich, wenn ihre Teilvorstellungen miteinander verträglich sind: "nihilque in illis incompatibile esse scimus". (Leibniz: Meditationes, S. 425). Leibniz nennt die Definition einer Sache real, wenn sie keinen Widerspruch einschließt: "nullam involvere contradictionem" (a.a.O., S. 424).
4 . 5 . Synoptische Analyse der Eberhard ¡sehen Aufsätze und der Kantischen Replik
237
Man muß kein Kantianer sein, um zu sehen, daß man nicht zugleich behaupten kann, ein Urteil sei a priori 6 9 5 (nichts anders verbirgt sich ja hinter der Rede vom "Attribut") und man falle es a posteriori. Versteht man "a priori" weniger im Sinn von "vor aller Erfährung" als im Sinn von "von streng notwendiger und allgemeiner Gültigkeit", so tritt derselbe Widerspruch in anderer Gestalt auf, denn ein solcher Anspruch kann dann nicht "a posteriori", auf dem Boden des Zufälligen, erwachsen. 6 9 6 Vor dem Hintergrund der Kantischen Definitionen betrißt ein solcher Widerspruch nicht nur die synthetischen Urteile a priori, sondern ebenso die analytischen Urteile. Diese sind nach Kant allesamt a priori, 6 9 7 und zwar nicht wegen des Ursprungs der Begriffe (dieser kann, wie etwa im Satz "Das Einfache ist unteilbar", a priori oder a posteriori, z. B. wie im Satz "Der Schimmel ist weiß", sein), sondern wegen der Erläuterung des Subjektbegriffs im Prädikat, zu welchem Akt es nach Kant keiner Erfährung bedarf, bzw. die allgemein und notwendig gilt. Doch wie sieht Eberhards Unterscheidung der synthetischen Urteile a priori genauer aus? Laut Eberhard habe Kant "seine Definition der synthetischen Urteile augenscheinlich zu enge" gezogen. 698 "Herr Kant" scheint nämlich bloß die nicht schlechterdings nothwendigen Wahrheiten und von den schlechterdings nothwendigen Wahrheiten die letztere Art der Urtheile, deren nothwendige Prädikate nur a posteriori von dem menschlichen Verstände können erkannt werden, unter seinen synthetischen Urtheilen zu verstehen.
Als "schlechterdings notwendige Wahrheiten" dürfen mit Eberhards Worten die analytischen Sätze identifiziert werden. (Jedenfalls kann ein Satz nur dann schlechterdings wahr sein, wenn das logische Verhältnis des Prädikats zum Subjekt allein die Wahrheit des Satzes bestimmt.) Alle "nicht schlechterdings notwendigen Wahrheiten" sind dann tatsächlich im Sinne Kants synthetische Urteile, aber nicht alle synthetische Urteile a priori, um die es allein geht, wenn Eberhard von "Attributen" spricht. Anstatt hier weiter zu differenzieren, schwenkt er um und kehrt zu den eigentlich bereits ausgeschlossenen "schlechterdings notwendigen Wahrheiten" zurück. 6 9 9 Diese sind es, wo er nun eine Unterteilung vornimmt, nach der es analytische Sätze gibt, deren "notwendige Prädikate" vom Menschen nur "a posteriori" erkannt werden können. Offenbar versteht Eberhard dann Kants synthetische Urteile a priori so, daß sie einerseits die bereits vorher unter Punkt (b) herauspräparierten "Attribute", anderer695 Den Ausdruck "Urteil a priori" hat sich Eberhard selbst S. 314 zu eigen gemacht. 696 Vgl. ÜE 234: "Piädicate, die nur a posteriori und doch als nothwendig erkannt werden, [...] sind [...] ganz undenkbare Dinge." 697 K r V A 6 ; P r o l . 267. 698 S. 319; Eberhard unterscheidet auch hier nicht zwischen synthetischen Urteilen a priori und a posteriori. Ohne damit das Problem der synthetischen Urteile a priori zu einer bloßen Frage der Definition zu reduzieren, hält Kant dem Tadel entgegen, man könne einer stipulativen Definition gar nicht vorwerfen, sie sei zu eng oder zu weit, denn der Begriff sei ja nicht unabhängig von der Definition gegeben. Die Rechtfertigung ("Deduktion") dessen, was durch eine Definition postuliert wird, kann nicht schon in der Definition selbst geleistet werden (ÜE 232). 699 Da diese keine Attribute sein können, widerspricht Eberhard seinen Ausführungen im ersten "Rekonstruktions"zug bei Punkt (b).
238
4. D i e Kontroverse im engeren Sinn
seits so etwas wie «analytische Urteile a posteriori» umfassen. Es muß nicht eigens betont werden, daß die letztere Variante von Kant aus gesehen nicht nur kein synthetisches Urteil a priori, sondern Überhaupt unmöglich ist. 700 Ohne den Weg über die von der Sprachkonvention her gebotene Gleichsetzung von einem "schlechterdings notwendigen" Satz mit einem analytischen kann man vereinfacht Eberhards Unterscheidung auch auf folgende Art nachvollziehen: Die nicht schlechterdings notwendigen Wahrheiten sind die synthetischen Urteile a posteriori. Unter den schechterdings notwendigen Wahrheiten, also dann den synthetischen Urteilen a priori, gibt es einige, die a posteriori erkannt werden. Auch diese (vereinfechte) Unterscheidung gebiert also einen Unbegriff. Offenbar vermißt Eberhard im zweiten Fall bei Kants "zu enger" Definition so etwas wie «synthetische Urteile a priori a priori» und damit vielleicht überhaupt die synthetischen Urteile a priori. Im ersten Fall waren es «analytische Urteile a priori», die zu den synthetischen zu rechnen seien. Solche Monstrositäten laufen auf nichts als eine künstliche Erweiterung der Erkenntnis durch analytische Urteile hinaus. In einem Satz dieses Stücks sagt dies Eberhard ausdrücklich: [D]enn Urtheile, die unsere Erkenntniß erweitern, k ö n / n e n auch solche seyn, deren Prädikate solche Affektionen des Subjekts sind, welche m a n aus dem Begriffe des Subjekts herleiten k a n n . 7 0 1
Dritter Rekonstruktionszug Erst nach Abschluß des dritten Rekonstruktionszuges wird so recht deudich, 702 worum es Eberhard im zweiten und dritten zu tun ist. Wie schon im ersten die analytischen und synthetischen Urteile a posteriori untergliedert wurden, 703 so will er auch die synthetischen Urteile a priori symmetrisch in zwei Gruppen teilen - letztlich um zu zeigen, daß Kant zu ungenau und ohne sich als Urheber verstehen zu dürfen, vorgegangen war. Was diese Unterteilung tatsächlich aber primär belegt, ist erneut Eberhards rein distinktionslogisches Verfahren, womit er Kant vom ganzen Ansatz her verfehlen muß, denn die Anschauung verliert dabei alle Bedeutung, und mehr oder minder unterschwellig wird aus einer synthetischen Verbindung eines Prädikats mit einem Subjekt ein nur begriffliches Verhältnis von Subjekt und Prädikat. So unterscheidet also Eberhard bei den synthetischen Urteilen a priori in der dritten Rekonstruktion zwischen "reziprokablen" und "nicht-reziprokablen" Urteilen. 704 700 701 702 703
ÜE 234. Kant wirft hier Eberhard Widersprüchlichkeit und Unverständlichkeit vor. S. 319/320. S. 325 in Verbindung mit S. 320 und S. 322-323. Die Unterteilung der synthetischen Urteile a posteriori läßt Eberhard im dritten Rekonstruktionsgang allerdings fallen (vgl. S. 323). 704 S. 322/323. Da vor allem die Unterscheidung der zweiten Rekonstruktion sehr vage gehalten war, kann Eberhard leicht den Anschein einer Identität jener zu der der dritten erwecken (S. 320).
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
239
Im ersten Fall sagt das Prädikat ein "eigentümliches Attribut (attributum proprium)" (S. 322) des Subjekts aus, im zweiten ein "gemeines Attribut (attributum commune)" (S. 323), d. h. eines, das neben dem Subjekt, von dem geurteilt wird, noch anderen Subjekten zukommt. Subjekt und Prädikat können deshalb nicht mehr umgekehrt werden. Beide Arten gehören zusammen mit den analytischen Urteilen zur Gruppe der "unbestimmten Urteile (iudicia indefinita)". 705 Von ihr grenzt Eberhard die Gruppe der "bestimmten Urteile (iudicia definita)", 706 d. h. die synthetischen Urteile a posteriori, ab. Beiden jedoch eignet der Status der Allgemeinheit. So spricht denn auch Eberhard von den "bestimmten Urteilen" als den "allgemeinen synthetischen Urteilen a posteriori" (S. 323). Erläutert und begründet wird die dritte - von Eberhard zunächst auf Jakob Bemoulli 707 zurückgeführte - Distinktion durch Rückgriff auf aristotelisches Gedankengut. Da er dies nur in logischer Absicht tut, bedarf es keiner näheren Behandlung der auch bei Eberhard nur aufgezählten Begriffe von "genos", "eidos", "diaphora", "idion" und "symbebekos" (S. 323-325), den "Prädikabilien" (S. 323) aus dem "Organon" des Aristoteles. 708 Auf ähnliche Art hatte Eberhard, wie wir gesehen haben, schon eine Ergänzung der Kantischen reinen Verstandesbegriffe durch Aristoteles angemahnt. Eberhards Terminologie von "Wesen", "wesentlichen Stücken" und "Attributen" ebenso wie von "Gattung", "Art" und "spezifischem Unterschied" kommt zwar zunächst nur logische und im transzendentalen Sinn daher defiziente Valenz zu, dahinter steckt jedoch der Absicht nach das "onto-logische" Denken, wonach Erkenntnis das Wesen der Sache (und dazu gehören dann auch die Teile und Attribute des Wesens) begrifflich-abstraktiv erfaßt und auf diese Weise zu bestimmten Begriffen
703 S. 322. Es handelt sich dabei um "ein solches, dessen Subjekt der Gattungsbegriff ist, von dem das Prädikat ausgesagt wird" (S. 320), mit anderen Worten, um ein solches, dessen "Subjekt der höhere Gattungsbegriff ist, dem das Prädikat beygelegt wird" (S. 322). - Durch ein derartiges begriffliches Unterordnungsverhältnis des Prädikats unter einen zuvor mit dem Subjekt gegebenen Gattungsbegriff werden per definitionem synthetische Urteile a priori in analytische transformiert. 706 S. 323. Die Subjekte der bestimmten Urteile sind "die unter einem gewissen Gattungsbegriffe enthaltenen Arten und Individua" (S. 320/321). Durch den Rekurs auf den Gattungsbegriff weiden auch diese Urteile - die synthetischen a posteriori - zu analytischen. 707 S. 320, 324. Kant "verbittet" sich den "ihm darin angewiesenen Platz" (ÜE 243), weil auch diese Einteilung "die Bedingungen der Erkenntniß [...] blos von Seiten des Verstandes in Anschlag bringt" (ÜE 242). Der Mathematiker Jakob Bernoulli (1654-1705) verfaßte u. a. den "Parallelismus ratiocinii logici et algebraici", Basel 1685, und die 1713 von Nikolaus Bernoulli herausgegebene Schrift "Ars conjectandi" (wo die Wahrscheinlichkeitsrechnung auf moralische und politische Sachverhalte angewandt wird). Eberhard bezieht sich wohl auf das zuerst genannte Werk. 708 Das sog. "Organon" des Aristoteles umfaßt bekanndich die fünf Schriften "Categoriae", "De Interpretatione", "Analyöca priora", "Analyrica posteriora", "Tópica" und "De Sophistids elenchis" (Th. Waitz (Hg.): Aristotelis Organon graece. 2 Bde. Leipzig 1844-1842). Die von Eberhard angesprochene "Lehre von den Prädikabilien" findet sich v. a. im eisten dieser Texte. Eberhard versteht die Kategorien ontologisch: S. 323 setzt er die "möglichen Prädikate eines Urteils" mit den "in einem Dinge denkbaren Bestimmungen" gleich. Kant hält - parte pro toto - die "Topik" des Aristoteles dagegen Ar bloß logisch (KrV B 324-325).
240
4. Die Kontroverse im engeren Sinn
von "Art", "Gattung" und "differentia specifica" kommt. Kants transzendentaler Idealismus versucht nun gerade, unter Abwehr des Skeptizismus die Möglichkeit objektiv gültiger Urteile diesseits einer ontologischen Wesensebene zu begründen, da er dem menschlichen Verstand eine Wesenserkenntnis (eine Erkenntnis der Dinge an sich) mit Gründen fiir unzugänglich hält. Ahnlich hatte Newton eine Naturerklärung gegeben, die auf Wesensaussagen über die "Natur" der Körper oder Kräfte verzichtet, weil seine Methode der mathematischen Darstellung von Phänomenen (d. h. von empirischen Beobachtungen) solche Wesensaussagen über phänomenal Gegebenes hinaus in keiner Weise legitimieren kann. 709 Umgekehrt kann Eberhard überhaupt nur vor dem Hintergrund der Verbindung von Logik und Ontologie sein Unternehmen mit einem Schein von Legitimität versehen, nämlich die Synthetizität von Urteilen in (mehr oder minder mittelbar zu erschließende) Analytizität zu transformieren und zugleich analytische Urteile als mehr als nur erläuternd auszugeben, indem entferntere logische Folgerungen zu Erweiterungsfunktionen uminterpretiert werden.
Der "oberste Grundsatz aller synthetischen Urteile" 710 Kant empfindet es als schlicht lächerlich, daß Eberhard den (materialen) Grund (ur die Bildung eines Urteils, dessen Prädikat nicht im Subjekt enthalten ist, als den (logischen) Satz vom Grund selbst bestimmt, ebenso, daß er ein synthetisches Prädikat "Attribut" nennt, da es als Ausdruck mit wiederum bloß der logischen Bedeutung, daß ein Attribut "notwendig" zum Subjekt gehört, auch ein analytisches Prädikat repräsentieren kann. 711 Schon eine erste Analyse der Begriffe "Grund" und "Urteil" zeigt also, daß Eberhard gar kein Prinzip (und gar keine Rekonstruktion) der synthetischen Urteile geliefert hat. Eberhard aber vermißt bei Kant das Prinzip der synthetischen Urteile an einer Stelle, und zwar in § 2 c der "Prol.",712 wo es dieser noch gar nicht darstellen kann, denn die reine Anschauung beginnt Kant erst in § 7 systematisch zu thematisieren. Allerdings trifft darüber hinaus zu, daß sich in den "Prolegomena" weder ein "Prinzip" noch ein "oberster Grundsatz" aller synthetischer Urteile explizit formuliert findet, obwohl noch einmal in § 5 davon die Rede zu sein scheint, allerdings schon in diffuserer Form, denn Kant spricht dort von "anderen Prinzipien als dem Satze des Widerspruchs". 713 Hinter der Geste, ein Prinzip zu vermissen, steckt eigentlich ein Haltung,
709 Newton: Principia, Bd. III, S. 4 (Drittes Buch, gegen Ende des Kommentars zur dritten regula philosophandi): "Attamen gravitatem corporibus essentialem esse minime affirmo." Ferner: a.a.O., S. 174 (aus dem Scholium generale): "Rationem vero harum Gravi tatis proprietatum ex Phaenomenis nondum potui deducere, et hypotheses non fingo." 710 KrV B 193. Von "ÜE" behandelt dieser Abschnitt hauptsächlich S. 239, 2. Abs. bis S. 243, 1. Abs. 711 ÜE 239 und 242. 712 Eberhard bezog sich offenbar auf den ersten Absati S. 267. Vgl. Phil. Mag., S. 316. 713 Prol. 275.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
241
die d e n ganzen Kantischen Ansatz verfehlt, d e n n Kants A u f w e r t u n g der A n s c h a u u n g als irreduzible Erkenntnisquelle schließt ein Prinzip, aus d e m Sätze logisch abgeleitet werden, aus. 7 1 4 In der "KrV" hat n u n Kant zwar einen "obersten Grundsatz aller synthetischen Sätze" formuliert, aber d a m i t kein b l o ß rationales Prinzip. Es geht d e m System der Grundsätze des reinen Verstandes d a n n auch nicht so voraus, daß diese daraus hergeleitet würden, sondern ist gleichsam eine vorgegriffene Z u s a m m e n f a s s u n g der g e m e i n s a m e n Merkmale dieser einzelnen Grundsätze. 7 1 5 In diesem S i n n e hätte ein aufmerksamer u n d gutwilliger Leser der "Prol." einen solchen in der Systematik nur auxiliären obersten Grundsatz gar nicht vermissen dürfen, sondern hätte ihn selbst als Quintessenz der Ausfuhrungen der Paragraphen 1 4 bis 3 8 a b n e h m e n k ö n n e n . Analytische Urteile haben ihren zugleich logischen w i e transzendentalen Bestimmungsgrund i m logischen Nichtwiderspruchsprinzip. 7 1 6 Synthetische Urteile w e r d e n nur g e m ä ß d e m , was der "oberste Grundsatz" enthält, b e s t i m m t ( u n d nach einer vielfaltigen Typologie, die sich in keinster Weise aus jenem ziehen läßt). S o ergibt sich eine Asymmetrie: Kant n i m m t nicht bloß zwei Grundsätze oder Prinzipien an, sondern ein b e s t i m m e n d e s Prinzip (für analytische Urteile) 7 1 7 u n d
714 Leider legen Kants Formulierungen auf S. 267 der "Prol." (erster Absatz von § 2 c) die Ableitbarkeit aus einem Prinzip selbst nahe: "[...] ob sie zwar aus jedem [jenem?] Grundsatze, welcher er auch sei, jederzeit dem Satze des Widerspruchs gemäß abgeleitet werden müssen [...]". Es wäre allerdings höchst inkonsequent, dieses Prinzip, auf das dann so viel ankäme, nirgends in den "Prol." zu exponieren. Die Ableitung verbietet sich auch schon aus dem Grunde, weil ein solches Prinzip, bzw. ein solcher Grundsatz für alle synthetischen Urteile, also auch die a posteriori, gelten soll. Daß sich Kant in besagtem Absatz überhaupt etwas unüberlegt äußert, belegt auch der Satz, synthetische Urteile entsprängen "aus reinem Verstände und Vernunft". Die reine Anschauung ist hier ausgeblendet. 715 Erst nachdem Kant vom "System aller Grundsätze des reinen Verstandes" in allgemeiner Form gesprochen hat (KrV B 187-189), behandelt er wie zur Angabe des Resultats der vorhergehenden Argumentation und zur Orientierung des Lesers in zwei kurzen Kapiteln die beiden "obersten Grundsätze" aller analytischen (B 189-192) und aller synthetischen (B 193-197) Urteile. Im Blick auf die damit nicht als Ableitungen aus dem obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile zu verstehenden Grundsätze des reinen Verstandes schickt Kant einige Kautelen voraus, neben dem Hinweis, die Grundsätze würden zu ergänzen wäre: unter Hinzunahme der Anschauung (vgl. B 357) - nach der "Leitung" der "Tafel der Kategorien" (B 187) aufgestellt, etwa diese: "Grundsätze a priori fuhren diesen Namen nicht bloß deswegen, weil sie die Gründe anderer Urtheile in sich enthalten, sondern auch weil sie selbst nicht in hohem und allgemeinern Erkenntnissen gegründet sind" (B 188). 716 Prol. 275: "Die Möglichkeit analytischer Sätze [...] gründet sich lediglich auf dem Satze des Widerspruchs." Die Möglichkeit synthetischer Sätze a priori muß "auf anderen Principien [!] als dem Satze des Widerspruchs beruhen" (ebd.). Nach den ausfuhrlicheren Erörterungen der "KrV" erfüllt das Nichtwiderspruchsprinzip eine Doppelfunktion. Es ist die notwendige (logische und deshalb "allgemeine, obzwar nur negative") Bedingung "aller unserer Urtheile überhaupt", nämlich, "daß sie sich nicht selbst widersprechen, widrigenfalls diese Urtheile an sich selbst (auch ohne Rücksicht aufs Object) nichts sind" (B 189). Analytische Sätze hingegen beruhen positiv und transzendental auf dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, der hier hinreichende Erkenntnisbedingung wird (B 190). Damit wird klar, daß der Hauptzweck des Abschnitts über den obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile in einer "Gegenstellung" (B 189) zur zweiten (transzendentalen) Funktion des Nichtwiderspruchsprinzips besteht. 717 Vgl. KrV B 191: "Daher müssen wir auch den Satz des Widerspruchs als das allgemeine und völlig hinreichende Principium aller analytischen Erkenntniß gelten lassen; aber weiter geht auch sein Ansehen und Brauchbarkeit nicht, als eines hinreichenden Kriterium der Wahrheit."
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
einen "obersten" Grundsatz zur Erinnerung der allgemeinen Merkmale (nämlich der Anschauungsbedingung Uber die Begriffsbedingung hinaus), nach denen die eigendichen Grundsätze des reinen Verstandes gebildet werden. Würde der oberste Grundsatz zu einem Prinzip aufgewertet werden, müßten die Grundsätze des reinen Verstandes zu Resultaten logischer Folgerungen vermindert werden. Im Gegensatz zu den die Anschauung an wichtigen Stellen ausklammernden Darlegungen der "Prol." bemüht sich Kant in "ÜE", gerade die Rolle der (reinen) Anschauung hervorzuheben. 718 Dies wird nicht zuletzt deshalb deudich, weil hier Kant, wie unten erläutert werden wird, seine Ausfuhrungen weit weniger komplex darstellt als in der "KrV". Für den obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile - gleichsam ein Satz mit einer zweiwertigen Variable, da er gleichermaßen für Urteile a priori und a posteriori gelten muß - gebraucht Kant in seiner Streitschrift folgende Formulierung: [D]as Princip
synthetischer
Urtheile
Uberhaupt, welches
nothwendig
aus
ihrer
Definition folgt, [...] [lautet]: elaßsie nicht anders möglich sind, als unter der Bedingung einer dem Begriffe ihres Subjects untergelegten Anschauung, welche, wenn sie Erfahrungsurtheile sind, empirisch, sind es synthetische Urtheile a priori, reine A n s c h a u u n g a priori ist. 7 1 9
In Kants Brief an Reinhold vom 12. Mai 1789 finden wir dazu eine Entsprechung: Alle synthetische Urteile des theoretischen Erkenntnisses sind nur durch die Beziehung des gegebenen Begrifs auf eine Anschauung möglich. 7 2 0
In "ÜE" heißt es ergänzend: D i e Kritik aber zeigt diesen G r u n d der Möglichkeit [synthetischer Urteile a priori] deutlich an, nämlich: daß es die reine, dem Begriffe des Subjects untergelegte A n s c h a u u n g sein müsse, an der es möglich, ja allein möglich ist, ein synthetisches Prädicat a priori mit einem Begriffe zu verbinden (ÜE 242).
718 Vgl. ÜE 242: "Die Aufgabe wird nie aufgelöset, wenn man die Bedingungen der Erkenntniß, wie die Logik thut, blos von Seiten des Verstandes in Anschlag bringt." 719 ÜE 241. Das logisch konnotierte Wort "Prinzip" wird gleich wieder dadurch entschärft, daß es als notwendige Folge aus der Definition der synthetischen Urteile vorgestellt wird. Man kann auch feststellen, daß Kant zwar das von Eberhard angemahnte Prinzip durch Verweis auf die "KrV" und die explizite Formulierung in "ÜE" geliefert hat, daß aber die Formulierung des Prinzips zeigt, daß es sich dabei gerade nicht um ein rein rationales Prinzip handelt. Nach Kant hat es zwei Folgen: Es begrenzt den Gebrauch der Vernunft und dient zum Beweis für die Idealität von Raum und Zeit (ÜE 241). Der oberste Grundsatz ist also kein "Prinzip" im Sinn von KrV B 24 ("Principien der Erkenntniß a priori"), bzw. B 25 ("die Principien der Synthesis a priori") oder aber im Sinn von KrV B 357: Hier nennt Kant "Erkenntniß aus Principien" "diejenige", "da ich das Besondere im Allgemeinen der Begriffe erkenne". 720 AK XI, S. 38. Aufschluß über den nur auxiliären Status eines expliziten obersten Grundsatzes oder Prinzips mag eine Vergeßlichkeit Kants geben: In dem genannten Brief an Reinhold ist ihm nicht bewußt, in der "KrV" einen solchen Sau "in einer besonderen Formel aufgestellt" zu haben (ebd., Z. 20), und er macht deshalb den hier im Haupttext zitierten Vorschlag. Zugleich weist er daraufhin, das "Princip" (Kant nimmt hier augenscheinlich Eberhards Wort auf), das Eberhard fordere, sei "durch die ganze Critik d. r. V. von Cap: vom Schematism der Urtheilskrufi an, ganz unzweydeuñg angegeben" (ebd., Z. 18-20).
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
243
Und an einer anderen Stelle: Zur Bildung von synthetischen Urteilen (a priori) sei erforderlich, daß etwas außer dem gegebenen Begriffe noch als Substrat hinzu kommen müsse, was es möglich macht, mit meinen Prädicaten Uber ihn hinaus zu gehen (ÜE 243).
Die eigentliche transzendentale Bedingung ("was es möglich macht") fiir synthetische Urteile ist damit die Anschauung. 721 Die Schritte zur Annahme einer Erweiterung durch reine Anschauung zeichnet Kant in der Streitschrift nach. 722 Er geht von der unkontroversen Tatsache aus, daß durch Erfahrung die Erkenntnis über das hinaus erweitert wird, was schon im Begriff gewußt wird: In der empirischen Anschauung treffe ich "vieles" von dem an, "was meinem Begriffe korrespondiertf.], aber darüber hinaus - und hierin, also in der Anschauung, liegt der (reale) Grund fiir die Erweiterung - "auch noch Mehreres, was in diesem Begriffe noch nicht gedacht war, als mit jenem verbunden" (ÜE 240). Hier sind also bereits die zwei entscheidenden Momente präsent: Die Erweiterung durch Anschauung (als Grund) und ihre Verbindung mit dem Begriff des Subjekts. Der nächste Schritt basiert auf einem Analogieschluß: Wenn Erweiterung a posteriori durch Anschauung a posteriori möglich ist, so muß Erweiterung a priori durch Anschauung a priori möglich sein (ÜE 240). Daß Anschauung a priori möglich ist, ist damit noch gar nicht als bewiesen vorausgesetzt (ÜE 241). Auch den Gedanken, daß ein begriffliches Urteil (also ein Urteil mit einem analytisch im Subjekt enthaltenen Prädikat) nur durch etwas Nicht-Begriffliches erweitert werden kann, fordert schon die Logik. Die Anschauung a priori wird zunächst durch Absehen von empirischen Komponenten (d. h. vom "Wirklich-Empfindbare[n] im Raum und der Zeit") 723 bei der empirischen Anschauung erschlossen, und zwar als notwendige Anschauung a priori, denn weitere Bestimmungen - es blieben bloß Raum und Zeit selbst - könnten nur um den Preis der Vernichtung von Anschauung überhaupt weggenommen werden. Raum und Zeit erweisen sich damit als "positive" "Formen meiner Sinnlichkeit". Als solche können sie nur solche Erweiterungsurteile legitimieren, deren Gegenstand innerhalb der "Grenzen der sinnlichen Anschauung" liegt (ÜE 240). Ohne diese Restriktion könne man nicht einmal von widerspruchsfreien Begriffen wissen, "ob ihnen überhaupt ein Gegenstand korrespondiere, oder nicht" (ÜE 240). Der oberste Grundsatz aller synthetischen Urteile lautet in der "KrV": [E]in jeder Gegenstand steht unter den nothwendigen Bedingungen der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einer möglichen Erfahrung (B 197).
721 Vgl. weiter unten in ÜE 245: "[...] Anschauung, für das reine Erkenntniß a priori aber reine Anschauung die unentbehrlichen Bedingungen [...]. 722 ÜE 239, Z. 19 bis 240, Z. 35. (ÜE 241 bezeichnet Kant diesen Abschnitt als "das kurzgefaßte Resultat des analytischen Theils der Kritik des Verstandes".) 723 ÜE 240, Z. 9; vgl. KrV A 21 -22.
244
4. Die Kontroverse im engeren Sinn
Das grammatische Subjekt des Grundsatzes in obigen Formulierungen war das synthetische Urteil, hier dagegen ist es der Gegenstand möglicher Erfahrung. Tatsächlich handelt es sich dabei nur um die zwei Seiten einer Medaille, wie Kant im an den Satz anschließenden Absatz expliziert: Auf solche Weise sind synthetische Urcheile a priori möglich, wenn wir die formalen Bedingungen der Anschauung a priori, die Synthesis der Einbildungskraft und die nothwendige Einheit derselben in einer transzendentalen Apperception, auf ein mögliches Erfahrungserkenntniß überhaupt beziehen und sagen: die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung und haben darum objective Gültigkeit in einem synthetischen Urtheile a priori. 724
Die Formel von der "synthetischen Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einer möglichen Erfährung" ist gleichbedeutend mit den oben zitierten Formeln von der "dem Begriffe ihres Subjekts untergelegten Anschauung" oder der "Beziehung des gegebenen Begriffe auf eine Anschauung". Waren hiermit vorher nur die Bedingungen der Möglichkeit der synthetischen Urteile bezeichnet, geht es jetzt - als unmittelbare Folge - auch um die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstande dieser Urteile. Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind die möglichen Typen der durch Anschauung synthetischen Urteile a priori, konkret: die Grundsätze des reinen Verstandes. 725 Als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung gelten sie aber nicht bloß für das Urteilen oder die Subjektseite der Erfahrung, sondern zugleich für den damit prädizierten Gegenstand der Erfährung, das "Objekt" im eigentlichen Sinn dieses Wortes, denn es ist kein Gegenstand der tatsächlichen Erfahrung denkbar, der nicht jenen Bedingungen konform sein müßte, unter denen er überhaupt erst erfahren werden kann. Anders gesagt: Wenn ich nur unter ganz bestimmten von mir systematisch erschließbaren Bedingungen über einen Gegenstand urteilen kann, dann muß der Gegenstand als diesen Bedingungen gemäß bestimmt vorgestellt werden. Daraus folgt noch einmal, daß ich es beim Erkennen (das sich nur immer als ein Urteilen vollziehen kann) nicht mit Gegenständen als Dingen an sich zu tun habe, sondern mit Gegenständen als Erscheinungen. 726 Alle mir verfugbaren Begriffe von Realität kön724 KrV B 197. Die Formulierung nach dem Doppelpunkt findet sich bereits in A 111 der "KrV": "Die Bedingungen a priori einer möglichen Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung." Zu beachten ist, daß Kant bei der jeweils zweiten Nennung des Wortes "Bedingungen" den unbestimmten Artikel in partitaäver Absicht setzt, denn das Gegebene der Empfindung kann keine apriorische Bedingung sein. 725 Die Verbindung von Anschauung (insbesondere der Zeit als dem "Inbegriff" (KrV B 194) aller Vorstellungen) und den beiden Hauptbegriffen des Urteils erläutert Kant über den gesamten Abschnitt "Von dem obersten Grundsatze aller synthetischer Urtheile" (B 193-197) näher durch die Funktion von Einbildungskraft und Apperzeption. Darauf kann hier nicht weiter eingegangen werden. 726 KrV A 128-130. Das hier sprechende Wir (bzw. in unserer Darstellung: Ich; doch auch Kant schwenkt in A 129 zur Redeweise vom "ich") ist das (nicht personal zu verstehende!) transzendentale Subjekt. Die flüssige Redeweise aus der Ich- oder Wir-Perspektive ist problemlos in einen Diskurs der neutralen dritten (grammatischen) Person übersetzbar. In beiden Fällen geht es um eine transzendentale oder epistemologische Argumentation. Da das "ich" (bzw. "wir") transzendental zu verstehen ist, können "meine Erscheinungen" nicht im Sinn eines subjektiven Idealismus gedeutet werden.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
245
nen sich nur auf diese Erscheinungen beziehen und sie als objektliche Wirklichkeit (und in diesem Sinn als alles andere als Erscheinung und Schein) charakterisieren.727
Analytizität oder Synthetizität Gegen Kant glaubt Eberhard einwenden zu müssen, es gebe in der Metaphysik erweiternde Sätze, obwohl sie a priori erkannt würden (S. 319). Er stellt dies an zwei Beispielgruppen dar, deren Urteile jedoch als analytisch728 erwiesen werden können, nämlich (a) "Alles Notwendige ist ewig;" "alle notwendigen Wahrheiten sind ewige Wahrheiten". 729 (b) "Alle endlichen Dinge sind veränderlich;" "das unendliche Ding ist unveränderlich".730 Die Spannung zwischen dem Analytischsein und dem nicht-tautologischen Anspruch der Urteile hat wohl Eberhard dazu bewogen, für sich und die traditionelle Metaphysik synthetische Sätze anzunehmen, obwohl seine ganze vorherige Argumentation darauf hinauslief, synthetische Urteile zu analytischen umzuprägen und den Unterschied zu verwischen. So reklamiert Eberhard an der entscheidenden Stelle nicht geradezu synthetische Urteile a priori für seine Metaphysik, sondern ihr angebliches Pendant gemäß seiner dritten Umformulierung, nämlich "unbestimmte reziprokable und nichtreziprokable" Urteile (S. 325). Eberhards Beispiele sind unbeholfen. Mit dem Satz aus (a) "Alle notwendigen Wahrheiten sind ewige Wahrheiten" will er offenbar sagen, eine notwendige Wahrheit gelte zu aller Zeit, bzw., es sei keine Zeit (oder keine mögliche Welt) denkbar, in der eine notwendige Wahrheit nicht gälte. Eine solche Geltung zu aller Zeit wäre dann aber nichts anderes als eine Folge des Begriffs der notwendigen Wahrheit, denn diese gilt unter allen Umständen, also auch zu jeder möglichen Zeit. Damit ist der Satz analytisch. Der Satz wäre nur dann synthetisch - und darauf weist Kant in seiner Antwort zuerst hin 731 -, wenn man unter "Wahrheit" "ein besonderes in der Zeit existierendes Ding" verstünde, was fiir Kant wie Leibniz gleichermaßen absurd wäre. "Ewig" wäre hier mit "zu aller Zeit existierend" zu interpretieren, und die Zeitbestimmung käme dem "Ding" Wahrheit zu. 732 Man kann hinzufügen, daß in diesem Fall ein wider727 728 729 730 731
Vgl. KrV B 335. Vgl. ÜE 235, 236. Phil. Mag., S. 319. Phil. Mag., S. 325; ÜE 235/236; vgl. auch ÜE 238. Mit Eberhards erstem Beispiel beschäftigt sich Kant in seinem Brief an Reinhold vom 12.5.89, AK XI, S. 37, Z. 25 bis S. 38, Z. 3 und in ÜE 235, Z. 1-23. 732 Dieses Argument Kants findet sich nur in einem einzigen Satz (ÜE 235, Z. 14-17) ausgeführt.
246
4. D i e Kontroverse im engeren Sinn
sprüchliches synthetisches Urteil a priori vorläge: Wahrheit, also etwas, das gar nichts Gegenständliches und insofern nicht zeidich bestimmbar ist, würde mit einer dem Subjekt unterlegten Zeitbestimmung synthetisch in Verbindung gebracht. Als zweites versucht Kant, Eberhards Satz in seine eigene Sprache zu übersetzen. Er würde, explizit formuliert, dann so lauten: «Ewige Wahrheiten "hängen nicht von der Erfahrung ab (die zu irgend einer Zeit angestellt werden muß)"». Kant nimmt jetzt "ewig" in einer anderen Bedeutung als vorher, nämlich vom Urteilen im Sinn von "auf gar keine Zeitbedingung beschränkt". Ewige Wahrheiten sind damit "a priori als Wahrheiten" oder "als notwendige Wahrheiten erkennbar". 733 Im Ergebnis erweist sich Eberhards Satz erneut als analytisch. Der Nachweis, daß Eberhards Beispiele unter (b) analytisch sind, kann von seinen Denkvoraussetzungen her so gefuhrt werden: Wenn ein Ding unendlich ist, so muß es alle Realität besitzen und ist damit unveränderlich, denn es kann keine Realität annehmen, die es nicht schon hat. Im Gegensatz dazu ist ein endliches Ding veränderlich. In beiden Fällen ergibt sich das Prädikat der (Un-)Veränderlichkeit analytisch aus dem Subjekt eines (un-)endlichen Wesens. Wie bei den Beispielen unter (a) unternimmt es Kant, Eberhards Aussagen von Kants eigenem Denken her zu bewerten. Dabei wirft er Eberhard vor, nicht nur mit den Sätzen unter (b), sondern auch mit denen unter (a) eine Amphibolie in Bezug auf die Begriffe "veränderlich" und "unveränderlich" begangen zu haben. 734 Mit diesem Begriffspaar werde in der Metaphysik gewöhnlich gespielt [.], indem man es bald in blos logischer Beziehung auf den Begriff des Subjects, bald in realer auf den Gegenstand betrachtete und doch darin einerlei Bedeutung zu finden glaubte ( Ü E 2 3 8 ) .
Etwas kann dem Dasein nach, d. h. realiter, veränderlich sein, dann muß es aber unter der Bedingung der Zeit, also möglicher Erfährung, stehen; oder es kann nur logisch, dem Begriff nach, veränderlich sein. Im ersten Fall geht es um ein Existenzurteil über ein Objekt, im zweiten Fall um ein logisches Urteil über einen Begriff und sein logisches Wesen. Kants Nachweis der bloßen Analytizität von Eberhards Beispielsätzen läuft darauf hinaus, daß er durch Absehen von der Zeit über die Dinge gar nicht mehr in realer Absicht und damit synthetisch urteilen kann. Sein Satz "Alle endlichen Dinge sind veränderlich" wäre nur dann synthetisch und wahr, wenn unter "endlichen Dingen" "Gegenstände als Erscheinungen", die als solche immer unter der Bedingung der Zeit stehen, verstanden würden. Da dieses Urteil aber a priori von endlichen Dingen an sich gelten soll, ist es Büsch, denn es spricht einem Noumenon ("endliches Ding") eine Bestimmung zu ("veränderlich"), die ihm nur als zeitliches Phaenomenon zukommen kann, denn reale Veränderlichkeit ist 733 ÜE 235, Z. 17-24. 734 ÜE 238. In Bezug auf (a) könne man auch so formulieren: «Alle notwendigen Wahrheiten sind unveränderlich.» Kant diskutiert Eberhards zweite Beispielgruppe ÜE 235, Z. 24 bis 238, Z. 7 mit einer anschließenden generellen Bemerkung über beide Gruppen ÜE 238, Z. 8 bis 239, Z. 11.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
247
Abfolge von Bestimmungen in der Zeit. Nur das also kann veränderlich sein, "was nicht anders als in der Zeit existieren kann" (ÜE 236). Was das real gemeinte Urteil über das "unendliche Wesen" (ÜE 237) angeht ("Das unendliche Ding ist unveränderlich"), so kann ein solches Subjekt in keinster Weise als Phänomen interpretiert werden und somit ohne Widerspruch nicht als in der Zeit existierend vorgestellt werden. Die scheinbar erweiternde Aussage über einen realen Sachverhalt erweist sich damit als fälsch, und es bleibt nur ein analytisch-logisches Urteil übrig, das sich nach Kant mit "dem Satze der Kritik" (ÜE 237) "Der Begriff des allerrealsten Wesens ist kein Begriff eines Phänomens" 735 deckt. Daß das Endliche veränderlich und das Unendliche unveränderlich ist, gilt also nur logisch. Veränderlich ist in diesem Sinne dann das, was durch seinen Begriff noch nicht durchgängig bestimmt ist (ÜE 236). Unveränderlich kann nur dasjenige sein, dem logisch alle denkbaren positiven Prädikate zugesprochen werden können (ÜE 236). Wie alle logischen Aussagen sind auch diese analytisch. Ähnlich wie mit dem Spiel mit dem Prädikat des Veränderlichen verfahre - so Kant - Eberhard mit "dem Satze des Grundes" (ÜE 238), indem er ihn manchmal in realer, manchmal in logischer Bedeutung gebrauche: [E]r wollte eine logische Regel, die gänzlich analytisch ist und von aller Beschaffenheit der Dinge absttahirt, für ein Naturprincip, u m welches es der Metaphysik allein zu thun ist, durchschlüpfen lassen (ÜE 239).
Bei der jetzigen Amphibolie gebe er vor, über existierende Gegenstände zu sprechen, urteile aber tatsächlich nur über Begriffe (ÜE 238). Dagegen muß bemerkt werden, daß Kant Eberhards ontologischem Anliegen ausweicht und es geradezu als nicht vorhanden ausblendet. 736 Nur von seiner Warte aus ist das eben berichtete Urteil in voller Schärfe zwingend. An Kants Vorwurf an Eberhard wie Baumgarten, "Begriff fiir Sache" genommen zu haben (ÜE 238), mag sich eine noch so berechtigte Kritik am damaligen Verfahren der Ontotogie und der Ontotogie überhaupt anknüpfen lassen, es vereinfacht aber die Problemkonstellation zu sehr, wenn von einem Trialismus Transzendentalphilosophie - Logik - Ontologie ohne weiteres zu einem Dualismus der ersten beiden Glieder 737 übergegangen wird. Im Detail bezeichnend dafiir ist, daß Kant bei der Diskussion von Eberhards Beispielen den Leibnizischen Versuch der ontologischen Aufhebung der Raum-Zeit-Phänomene in Relationsbegriffe nicht berücksichtigt. Nur dadurch kann er Eberhard vorhalten, durch Fortfäll der Anschauung nur mehr logische Begriffe zu behalten.
735 ÜE 237 (im Original gesperrt); vgl. KrV B 605-607 und Prol. 348 (§ 55). 736 Vgl. auch ÜE 193-194. 737 Terminologisch bezeichnet ihn Kant als den Gegensatz "Logik" versus "Metaphysik", etwa ÜE 239. "Metaphysik" und "Transzendentalphilosophie" sind hier gleichbedeutend.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
Wahrheitsfahigkeit Aus Eberhards Bemerkung S. 328, synthetische Urteile a priori seien nur dann wahrheitsfahig, wenn sie im Sinn von Wolff und Baumgarten verstanden würden, ergibt sich zuletzt, daß nur analytische Urteile wahr - und zwar im Sinn von gegenständlicher Wahrheit - sein könnten. Eine Begründung dieser für Kant absurden Folgerung liegt zunächst in Leibnizens Prämisse über den Zusammenhang von Analytizität des Urteils und Erkenntnis des An-sich. Die Gegenprobe findet Eberhard darin, daß seiner Ansicht nach Kants (nicht-"rekonstruierte") synthetische Urteile wegen der Bindung des Begriffe an die Anschauung auf der Ebene der bloßen Vorstellung und Erscheinung verharren müssen und somit die auch von Kant aufgeworfene Wahrheitsfrage nach der Übereinstimmung mit dem Gegenstand 738 unbeantwortbar wird: Vorstellungen stimmen mit Vorstellungen überein. So weit bringt uns also der kritische Idealismus [...]. 735
Die traditionelle Formel des Wahrheitsbegriffs bereitet Kant jedoch deswegen keine Schwierigkeiten, weil er unter dem Gegenstand, auf den sich die Vorstellung beziehen soll, den Gegenstand als Erscheinung versteht und sich dabei auf ein reales Objekt bezieht. Eberhard verkürzt jedoch den Kantischen Ausdruck "Erscheinung" zur lediglich subjektiven "Modifikation der Sinnlichkeit", 740 also im Kantischen Sinn zur Empfindung, und sucht den Gegenstand als Grund der Erscheinung (S. 332) über Kants objektiv Reales hinaus. Nur unter der Bedingung dieser Uminterpretation stimmt Eberhards These, Kants synthetische Urteile a priori seien nicht wahrheitsföhig, ja sogar selbstwidersprüchlich, weil sie einerseits gegenständliche Wahrheit ausdrücken (eine wahre Aussage über einen Sachverhalt machen) sollten, sie aber andererseits so definiert würden, daß sie diese gar nicht erreichen könnten. 741 738 S. 328. Eberhard verweist zurecht auf KrV A 157, wo Kant "Wahrheit" als "Übereinstimmung [der Erkenntnis] mit dem Objekt" bestimmt. (Vgl. auch KrV B 82-83.) Leider geht er nicht weiter der Kantischen Bedeutung des Wortes "Objekt" nach und versteht es in der Folge völlig abseitig als "Gegenstand" im Sinn von "Ding an sich". Vgl. KrV B 236 und B 296. Konsequent faßt Eberhard, was oben gleich nochmals zur Sprache kommen wird, Kants "Erscheinung" lediglich im Sinn von "Wahrnehmung" (vgl. KrV A 120) oder Empfindung auf. 739 S. 329. Vgl. auch S. 331: "Denn die synthetischen Urtheile können in der Theorie des kritischen Idealismus keine Gegenstände außer der Vorstellung haben, da sie sich auf nichts beziehen können, das außer der Vorstellung wirklich wäre, und ihre logische Wahrheit also nur in der Übereinstimmung einer Vorstellung in uns, mit eben derselben Vorstellung in uns besteht [.]" Mit solchen Worten erhebt Eberhard gegen Kant erneut den Vorwurf des subjektiven Idealismus, auf den später noch eingegangen wird. 740 S. 329. In drei Anmerkungen verweist Eberhard auf einen wahren Wust von z. T. ganz ungeeigneten Kantstellen: Prol., §§ 18-23; KrV A 20,42, 50 sowie 104, 391, 490. 741 S. 331/332. Innerhalb seines Adäquationsmodells von Wahrheit verfugt Eberhard über ein einheitliches allgemeines Wahrheitskriterium, das seinen Denkvoraussetzungen nach als "onto-logisch" bezeichnet werden kann: Da alle Urteile analytisch sind, kann nach dem Sau vom Widerspruch, sofern die Hauptbegriffe des Urteils hinreichend expliziert werden können, die Wahrheit oder Falschheit eines Satzes (gleichgültig, wovon er spricht) festgestellt werden. (Auf den Satz vom Grund braucht hier nicht eigens eingegangen werden, da er auf den vom Widerspruch zurückgeführt werden kann.) Kant hingegen weist das als hinreichendes Wahrheitskriterium zurück. Ihm kommt nur - als conditio
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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Welches Urteil auch immer nach dem Satz vom zureichenden Grund oder vom ausgeschlossenen Widerspruch korrekt bestimmt wird, das ist nach Eberhard objektiv gültig oder - er gebraucht das synonym - logisch wahr. 742 Eine Unterscheidung der Sätze nach dem Gesichtspunkt der "Verschiedenheit der Bestimmungsart des Prädikats durch das Subjekt" (S. 331) ist zwar formal möglich und, wie wir gezeigt haben, zur Bestimmung der Spielarten des Analytischen sinnvoll, aber für die materiale Wahrheit der Erkenntnis unerheblich (S. 330). Nur so weit glaubt Eberhard, eine Unterscheidung der Urteile in analytische und synthetische retten zu können. Daß er den Kantischen Boden verlassen muß, lastet er Kant an: Ohne seine "Rekonstruktionen" hätte er die Unterscheidung gleich fallen lassen müssen, da sich synthetische Urteile a priori als nicht wahrheitsföhig erwiesen hätten. Diese polemische Kulmination am Ende seines Aulsatzes schlägt umso unerbittlicher auf Eberhard zurück, wenn man sich seine Fehler vergegenwärtigt. Schon äußerlich wird an seiner Zitierweise deutlich, daß Eberhard die Passage, wo Kant die Objektivität der Erscheinung mit der Objektivität der Kategorien beweist, die "Transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe", nicht sonderlich beachtet. 743 Freilich ist damit die allgemeinere Frage nach der letztlichen Synthetizität oder Analytizität von Erkenntnisurteilen noch nicht beantwortet. Auch im Modell von Leibniz läßt sich, wie wir sahen, im Rahmen von Analytizität so etwas wie Erweiterung konzipieren. Wohl auch in diesem Punkt stehen sich zwei philosophische Paradigmen letztlich unvermittelbar gegenüber.
4.5.7. "Über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis" Im letzten von Kant in seiner Streitschrift behandelten Aufsatz fragt Eberhard nach dem Ursprung realer (d. h. objektiver) Erkenntnis. 744 Gegen den Kritizismus fallt dabei seine These zweifach aus: Er beantworte die Frage nach dem Ursprung der Erkenntnis nicht und könne sie mit seinen Mitteln gar nicht beantworten (S. 369). sine qua non von wahren Aussagen - formale (formallogische) Valenz zu (KrV B 84). Ein einheitlichaUgemcina materielles Wahrheitskriterium nimmt er nicht an. Ein theoretisches Erkenntnisurteil ist nach Kant nur dann wahr, wenn die Empfindung durch die Urteilskraft den (pluialen!) Grundsätzen des reinen Verstandes gemäß bestimmt wird (Prol. 375, KrV B 350). Die - an sich heterogenen Grundsätze allein machen ohne die Tätigkeit der (empirischen) Urteilskraft also auch nur wiederum formal zu nennende (wenngleich nicht mehr formallogische) Kriterien aus. 742 S. 327, 331. 743 KrV B 335: "[W]as wir hauptsächlich eingeschärft haben: daß, obgleich Erscheinungen nicht als Dinge an sich selbst unter den Objecten des reinen Verstandes mit begriffen sind, sie doch die einzigen sind, an denen unsere Erkennmiß objective Realität haben kann, nämlich wo den Begriffen Anschauung entspricht." Diese Stelle führt den Kantischen VollbegrifF von "Erscheinung" als Synthese von Anschauung und Begriff vor. Vgl. auch KrV A 127, B 197 und B 65 = A 48. (Auch Kant insistiert in "ÜE" nicht auf der Bedeutung der transzendentalen Deduktion.) 744 Eberhard gibt eingangs vor, hier Gedanken zu entwickeln, die bisher noch nicht behandelt worden seien. Tatsächlich finden sich gerade in diesem Aufsatz - Eberhards letztem im eisten Band des "Phil. Mag." - zahlreiche Wiederholungen (etwa zur Raum-Zeit-Theorie und Theorie des Verstandes).
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
Damit klingt wie auch gegen Ende des vorigen Beitrags der Vorhalt an, der transzendentale Idealismus sei ein bloß subjektiver Idealismus. Eberhards These stimmt, wenn man beachtet, was eigendich Kants Fragestellung gewesen ist und in welchem Sinn Eberhard die Vokabel "Ursprung" verwendet. 745 Mit "Ursprung" fragt Eberhard nach den letzten Ursachen und - real verstanden - Gründen nicht bloß der Erkenntnis, sondern der (spekulativen) Verortung der Erkenntnis in einer erkennenden Substanz einerseits wie einer auf diese wirkenden und schließlich erkannten Substanz andererseits. Das Kantische epistemologische Konstrukt eines "transzendentalen Subjekts" als Inbegriff aller apriorischen Bedingungen der Möglichkeit der Erfährung und damit der Objekte der Erfahrung soll somit ontologisch rückgebunden werden, in einer noumenalen Subjekt- und Objekt-Substanz einer rationalen Psychologie und Kosmologie, die wiederum beide ihre Fundierung in einer rationalen Theologie finden. Was der Intention nach auf eine Ontologisierung - hier insbesondere der Kantischen Anschauungsförmen Raum und Zeit und der Kategorien - hinauslaufen soll, bedeutet bei Eberhard faktisch eine zügellose Abstraktion aus empirisch-psychologischen Sachverhalten und die Übertragung der abstrakten Bestimmungen auf alle Dinge überhaupt. 746 So ist also, wenigstens von Kant aus gesehen, nicht nur der Schritt zur Ontologie angreifbar, sondern immanent auch die Methode, um zu ontologischen Aussagen zu gelangen. Kant thematisiert den "Ursprung" oder die "Quellen" der menschlichen Erkenntnis ausschließlich unter der Frage, worauf sich der Anspruch auf objektive Gültigkeit von Erweiterungsurteilen gründet, ob nur auf zufälliger Empfindung oder auch auf notwendigen Vorstellungen a priori. Sie läßt sich damit auf der Ebene des (freilich nicht bloß als empirisch verstandenen) Bewußtseins beantworten. 747 Darüber hinaus nach einem Ursprung zu forschen, ist nach Kant überschwenglich, denn es läßt sich kein Rechtsgrund mehr angeben, der auch nur diese Nach-Frage ihrer objektiven Bedeutung nach legitimieren könnte. Insofern muß Kant (im Bereich der theoretischen Vernunft) beim "phaenomenon" und den Bedingungen der Möglichkeit einer
745 Vgl. KrV B 809. Die Quid-facti-Bedeutung seiner Untersuchung wird schon an der Eingangsfrage S. 369 deudich: "Woher haben wir unsere wirkliche Erkenntnis?" Später heißt es entsprechend: "Wie kommen diese Anschauungen [Raum und Zeit] in die Seele?" (S. 387) und "Wie kommen aber diese Begriffe [die Kategorien] in die Seele?" (S. 392). Kants besonders im vorigen Kapitel erörterte transzendentale Hauptfrage wird mit solchen Formulierungen völlig verfehlt. 746 Dieses Verfahren gibt Eberhard selbst S. 390 und S. 392 zu. 747 Der Rückgang auf Grundbedingungen des Bewußtseins darf nicht mit einer psychologischen Betrachtung verwechselt werden (zu Kants Abgrenzung des Transzendentalen vom Psychologischen s. KrV B 829). Die somit erschlossenen formalen Bedingungen der Erkenntnis auf Seiten des transzendentalen Subjekts (Apperzeption, Kategorien, Formen der Anschauung) und die ebenfalls erschlossene materiale Bedingung des Gegebenen erweisen sich in dem Sinn als unhintergehbar, daß jedes Weiterschreiten, sollte es überhaupt möglich sein, sie von neuem voraussetzt. Das betrifft auch die im Zusammenhang mit dem "Gegebenen" häufig fälsch gestellte Frage nach der "transzendentalen Affektion" (vgl. dazu da hier nicht weiter auf dieses Problem eingegangen werden kann - G. Buchdahl: A Key to the Problem of Affection; insbesondere S. 82 und 86-88).
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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Erkenntnis von Phänomenen stehen bleiben. Andernfalls würde er seinen Ansatz selbst aufheben. Mit Leibniz versucht Eberhard - anhand des Satzes vom Grund - von der Erscheinung zu ihren Gründen zurückzugehen. Beide vertreten das Konzept des "phaenomenon bene fundatum",748 Danach hat die nur sinnliche "Erscheinung" übersinnliche (noumenale oder intelligible) Gründe, die allein der Verstand erkennen kann. 7 4 ' Wie bereits des öfteren betont wurde, ist die Kantische "Erscheinung" dagegen nicht ausschließlich eine empirisch-sinnliche Vorstellung. Sie ist nur durch die Ordnungsleistung der Form der Anschauung wie des reinen Verstandesbegriffs möglich und gilt (anders als das "phenomene" bei Leibniz) nicht nur subjektiv, sondern hat objektive Bedeutung im Sinne von "Gegenständen als Erscheinung". Das "noumenon", das Kant als Gegenbegriff zu "phaenomenon" markiert, steht damit außerhalb von Objektivität und Erkenntnis und dient dazu, den Bereich der Sinnlichkeit von außen problematisch zu begrenzen.
Der Grund der Wirklichkeit der empirischen Erkenntnis Aus Kants Perspektive ist das, was Eberhard unter "empirischer Erkenntnis" oder "Erkenntnis a posteriori" versteht, unterbestimmt, da es sich nur um die "Empfindung" handelt. 750 Unter dem Grund der Wirklichkeit der Empfindung versteht Eberhard den Verbund eines objektiven und subjektiven Grundes in ontologisch-realer Bedeutung. An Kant sieht er bestenfalls das formale Rudiment eines subjektiven und objektiven Grundes, das nach weiterer Bestimmung verlange.751 Insofern sei bei ihm die Erkenntnis nach der Subjekt- wie Objektseite real ungegründet (S. 386) und damit insgesamt nur von privativ-subjektiver Valenz (S. 370/371). Eberhard beachtet dabei nicht, daß er - trotz seines ontologischen Anspruchs - dabei nach Kant nur nach einer "empirischen Deduktion" forscht. 752
748 Vgl. S. 399, S. 404. "Bene fundatum" bedeutet: Es gibt subjektive und objektive Ära^ründe (S. 400). Die allgemeinen Bestimmungen dieser Gründe können - worauf früher bereits eingegangen wurde durch den Verstand erkannt werden (vgl. S. 288). "Grund" kann hier nicht mit Kant im epistemologischen Sinn (vgl. KrV B 294: "Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena") verstanden werden. Das zeigen schon die von Eberhard im Aufsatz verwendeten Überschriften, etwa S. 387: "Was ist der Grund der Wirklichkeit unserer Vernunfterkenntnis [...]?" 749 Zur Verwendung der Redeweise vom "phaenomenon bene fundatum" (Eberhard gebraucht diesen Ausdruck etwa S. 404) bei Leibniz vgl. die Worte "phaenomenon reale seu bene fundatum" aus einem Brief an de Volder aus dem Jahr 1705 (Gerhardt, Bd. II, S. 276), "un pur phenomene ou apparence bien fondée, comme encor l'espace et le temps" aus einem Brief an Arnauld aus dem Jahr 1687 (Gerhardt, Bd. II, S. 118). Vgl. auch Leibniz an Remond (Gerhardt, Bd. III, S. 636). 750 S. 370: "Was ist empirische Erkenntnis? Empfindung." 751 S. 379; vgl. S. 377/378. 752 KrV B 117-118.
252
4. Die Kontroverse im engeren Sinn
Eberhard versucht zunächst, Kants Unzulänglichkeit im Blick auf den real-objektiven Grund der Erkenntnis zu zeigen. "Empfindung" sei nach Kant und generell der "Eindruck eines Gegenstandes auf das Gemüt" (S. 370). Kant könne jedoch den Gegenstand nicht als Gegenstand annehmen. Er sei entweder "Erscheinung" und damit selbst bloß "sinnliche Vorstellung" (ebd.), also kein Gegenstand, oder aber "Ding an sich" und damit nach Kant als Gegenstand nicht erkennbar. 753 So ergebe sich für Kant eine zweifache Unmöglichkeit, einen real-objektiven Grund als Modifikator der Sinnlichkeit anzunehmen, nicht "einfache Substanzen" als Elemente der Körper und nicht die sie wirkende "unendliche Substanz" Gott (S. 370). Der Hallenser drückt sich auch so aus, daß nach Kant das Ding an sich weder sinnlich vorgestellt noch gedacht werden kann (S. 371). Die Antithese gilt nach Leibniz: Das Ding an sich kann - verworren - sinnlich vorgestellt und - prinzipiell bis zu völliger Deutlichkeit - denkend erkannt werden. Implizit erkennt Eberhard im Gegensatz zu seinem vorigen Aufsatz jetzt an, daß die Anschauungsformen Raum und Zeit eine sinnliche Vorstellung des An-sich unmöglich machen. Daß das Ding an sich, das Noumenale, nach Kant nicht gedacht werden kann, stimmt freilich nicht. Ein Noumenon ist nach Kant zwar kein Gegenstand der Erkenntnis, da die über den Begriff hinaus erforderliche Anschauung fehlt, wohl aber kann ein Ding an sich problematisch bloß durch Begriffe vorgestellt werden. Weil Eberhard mit Leibniz der Anschauung keine positive Rolle bei der Erkenntnis zuspricht, kann er nicht zwischen Denken und Erkennen differenzieren. Insofern ist es falsch, was Eberhard Kant unterstellt, nämlich, daß "der Satz des Widerspruchs und des zureichenden Grundes" nicht auf "Dinge an sich" gingen (S. 371). In logischer Bedeutung dienen beide Prinzipien bei Kant dem Denken des Noumenalen. 754 Damit lassen sie sich freilich nicht real erkennen. 755 Die Denkbarkeit des Noumenon bei Kant zu leugen, hätte allerdings große Konsequenzen fiir das System, da dadurch die Sinnlichkeit und damit der Bereich möglicher phänomenaler Erkenntnis von nichts mehr begrenzt würde. Kausalität aus Freiheit unabhängig von Naturkausalität ließe sich dann nicht mehr annehmen. 756 Wie auch das "Amphibolie"-Kapitel in der "KrV" zeigt, können jedoch bloße Denkbestimmungen von Gedankendingen durchaus vorgenommen werden. So kann man - bloß problematisch zu verstehen - von intelligiblen Gründen sprechen, etwa vom "Einfachen" im Blick auf das "Zusammengesetzte".
753 S. 370,386. 754 ÜE 2 0 1 , 2 0 3 , 2 0 5 / 2 0 6 , 2 0 8 , 2 0 9 . Prol. 353, Z. 6-8; 354, Z. 5-9; 355, Z. 5-16. (Beispiele fiir Denkurteile bezüglich des Noumenalen nennt etwa auch Schopenhauer: Wurzel, S. 166 (§ 56). Allerdings ist er sich a.a.O. nicht über den problematischen Status dieser nur logisch bedingten Sätze im klaren.) 755 Nach Eberhard verwendet Kant den Satz vom Grund und vom Widerspruch so wie die transzendentalen Ideen: regulativ und nicht konstitutiv (S. 371). 756 KrV B XXVII; vgl. auch KrV B XX, B 310-311.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
253
Wegen der Unerkennbarkeit des Noumenon fehle Kant, so Eberhards zweiter Hauptpunkt in diesem Abschnitt, auch der real-subjektive Grund der Erkenntnis, die denkende Substanz Seele. Überblicksartig benennt Eberhard zunächst die philosophiegeschichtlich aufgetretenen Antworten auf die Frage nach dem Grund der Wirklichkeit der Empfindungen. Danach liegt er (a) in der "Einwirkung der äußeren Gegenstände", (b) "des höchsten Wesens", (c) "in der Kraft unserer eigenen Seele" oder (d) "in allem diesem zusammengenommen" (S. 372). (a) Daß die "äußeren Gegenstände sich, wenn wir empfinden, in der Seele abdrükken" und sich jene nur "leidendlich verhält", lehnt er als die "erste" und "roheste" Ansicht ab (S. 372). Damit grenzt er sich offensichtlich sowohl gegen die "bloße gemeine Verstandesphilosophie" (S. 376), d. h. die Popularphilosophie, wie gegen Humes "Impressionsphilosophie" (S. 385) ab. Auch nach dem Modell (b) bliebe das erkennende Subjekt passiv. Nach Descartes könnten nur durch göttliche Vermittlung aus körperlichen Bewegungen (z. B. der Lichtteilchen) geistige Vorstellungen (z. B. Farbwahrnehmungen) werden. 757 Die Variante (c) erklärt Eberhard nicht; ebenso wenig erklärt und spezifiziert er (d). Er fuhrt nur - als Modell (d') - aus, daß Leibniz (a) und (c) verbunden habe. 758 Daraus folgt, daß zwischen dem "Objekt" (den sich bewegenden Farbteilchen) und der "Empfindung" (der Farbwahrnehmung) keine Ähnlichkeit bestehen kann. 759 Deshalb habe Leibniz die "Vorstellungen durch die Sinne undeutliche, verworrene, das ist Erscheinungen'760 genannt. Eberhard bewegt sich auf der quid-facti-Ebene der Ontologie, wenn er von Leibniz behauptet, dieser habe den "subjektivefn] Grund bei den Erscheinungen" (S. 377)
757 S. 372-374. Eberhard bezieht sich dabei wohl auf die "Dioptrique" im Anha ig zum "Discours de la méthode". 758 S. 374-377. S. 375 heißt es: "Nach seiner [Leibnizens] Theorie war also der natürliche zureichende Grund der Empfindungen theils objektiv theils subjektiv, und dem zufolge war also nicht der ganze völlig genugthuende Grund bloß in dem Mannigfaltigen oder dem objektiven, sondern zum Theil in dem subjektiven, das dieses Mannichfàltige aufnimmt oder vorstellt." 759 S. 375,380, 394. 760 S. 375 (Hervorhebung von uns). In dem diesen Darlegungen folgenden Absatz bemerkt Eberhard: "So weit, glaub ich, wird Hr. Kant mit der Leibnizischen Theorie über die empirische Erkenntniß zufrieden seyn" (S. 375). Die Leibniz-Eberhardische Bestimmung von Erscheinung kann jedoch Kant nicht befriedigen, da für ihn, wie mehrmals betont wurde, die Erscheinung mehr als nur sinnlichen Status hat. Auch die früher genannte Leibnizische Grundposition, wonach der "Grund der Erscheinungen teils objektiv, teils subjektiv" (ebd.) ist, vermöchte Kant nur dann zufriedenzustellen, wenn unter dem realen "Grund" kein Ding an sich verstanden würde.
254
4. D i e Kontroverse im engeren S i n n
b e s t i m m t , n ä m l i c h als d i e " S c h r a n k e n d e s S u b j e k t s " . 7 6 1 K a n t sei e i n e s o l c h e - o n t o l o gische - B e s t i m m u n g schuldig geblieben.762 I m n ä c h s t e n S c h r i t t u n t e r n i m m t es E b e r h a r d , d e n B e g r i f f d e r S c h r a n k e a u f K a n t s T h e o r e m v o n der r e i n e n A n s c h a u u n g z u projizieren, u m m i t d i e s e m - p r i v a t i v e n Begriff Kants angebliche Bodenlosigkeit zu supplementieren. Er deutet damit die epistemologische F u n k t i o n v o n R a u m u n d Zeit in einen o n t o l o g i s c h e n Sachverhalt um: Es ist etwas i m G e m ü t h e , welches die F o r m , die B e d i n g u n g , der subjektive/ G r u n d der A n s c h a u u n g des R a u m e s u n d der Z e i t ist, u n d das sind seine S c h r a n k e n , welche m a c h e n , d a ß das G e m ü t h das Mannichfaltige gleichzeitige nicht unterscheidet, u n d also sich dasselbe u n t e r d e m Bilde des R a u m e s vorstellt, seine V e r ä n d e r u n g e n aber successiv entwickeln m u ß , u n d d u r c h die Vorstellung ihrer stätigen successiven E n t w i c k l u n g das Bild d e r Z e i t erhält. 7 6 3 E b e r h a r d b e a n s p r u c h t , g e n a u e r als K a n t z u s e i n . T a t s ä c h l i c h j e d o c h ist d i e B e s t i m m u n g , d i e er g i b t , s c h w ä c h e r , d e n n m i t ihr ist g a n z g e n e r e l l d i e s i n n l i c h e Vorstellungsart der m e n s c h l i c h e n Seele bezeichnet. D e r spezifische Status v o n reinem R a u m u n d reiner Z e i t ist d a m i t v e r l o r e n . 7 6 4 D u r c h d i e G l e i c h s e t z u n g K a n t s m i t L e i b n i z bezüglich der Lehre über die Sinnlichkeit kann Eberhard d a n n Kants Kritik an Leibn i z e n s A u f f a s s u n g v o n S i n n l i c h k e i t , w i e er sie in d e r "KrV", A 2 7 6 , g e ä u ß e r t hat, g e g e n i h n s e l b s t w e n d e n (S. 3 8 0 ) . E b e r h a r d f o r s c h t ü b e r d i e S c h r a n k e n , bzw. F o r m e n d e r A n s c h a u u n g , w e i t e r n a c h d e m s u b j e k t i v e n L e t z t g r u n d d e r e m p i r i s c h e n E r k e n n t n i s - der S u b s t a n z "Seele", d e r e n 761 S. 377, 394-395. Wie üblich nennt Eberhard keine Leibniz-Scellen. Man könnte sich aber hier beziehen auf die "Theodizee", S. 384 (Antwort zum fünften Einwand aus dem "Abregé de la Controverse reduite à des Arguments en forme") und den "Discours de metaphysique", § 30, S. 455. "Schranke" lautet danach bei Leibniz "limitation". 762 Wenn Eberhard schreibt, Kant habe ("soviel ich weiß") nicht bestimmt, was der subjektive Grund bei den Erscheinungen sei (S. 377), so kann sich das augenscheinlich nicht auf Anschauungsformen und Kategorien beziehen. Diese sind für Eberhard andernorts (etwa Anfang S. 378 und S. 379) sehr wohl ein subjektiver Grund, nur kein ontologisch befriedigender real-subjektiver Grund. Vgl. auch S. 377/ 378: "Eine Erscheinung, sagt Leibnitz, ist eine Vorstellung der Seele, die theils in ihren Schranken, theils in dem Objekte, ihren Grund hat; eine Erscheinung ist eine Modifikation des Gemüths, sagt Hr. Kant, die theils durch den Stoff oder das Mannigfaltige, theils durch die Form oder das Aufnehmende bestimmt wird." 763 S. 378/379. - S. 378, 391 und 395-396 äußert Eberhard jedoch (laut S. 378 offensichtlich vor allem im Blick auf KrV B 34) seine Unsicherheit, wie er Raum und Zeit als die "reinen Formen der Anschauung" vetstehen soll, entweder als die "Schranken dieser endlichen Vorstellungskraft" (S. 395) oder als die (für Eberhard abstrakten und allgemeinen) Vorstellungen vom bloßen Raum und von der bloßen Zeit (vgl. S. 396). In ÜE 221 und 222 stellt Kant (unter Bezug auf Eberhards Seite 391) klar, daß er unter Raum und Zeit weder eine Mangelerscheinung ("Schranken") noch "Bilder" verstehe. Im Blick auf das Letztere sind Raum und Zeit überhaupt erst Bedingungen der Möglichkeit von Bildern, ebenso könne es, so Kant in ÜE 222, Bilder nur von etwas geben, dessen Begriff bereits vorhanden sei. Auch der Vorwurf auf S. 379, Kant habe sich in KrV A 267, zweideutig ausgedrückt, ist ein Symptom für Eberhards Widerstreben gegenüber der Kantischen Lehre von der reinen Anschaung a priori. 764 Dabei bildet er eine Kette synonymer Begriffe: "Form" - "Bedingung" = "Grund" = "Schranke" (S. 379, Abs. 2), ohne zu beachten, daß deren Verwendung aus ganz unterschiedlichen Kontexten stammt.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
255
Akzidenzien besagte Schranken sein sollen. Mit einer geschickten Volte stellt er dabei eine neue angebliche Gemeinsamkeit zwischen Kant und Leibniz fest. "Beide Vernunftkritiken" seien darüber eins, "daß die empirische Erkenntnis eine Vorstellungskraft, eine vorstellende Substanz voraussetze" (S. 381). Sein Kniff besteht darin, von einer auch für Kant unproblematischen "Vorstellungskraft" (einem Gegenstand der empirischen Erkenntnispsychologie) zurückzuschließen auf eine ontologische "res cogitans" ("vorstellende Substanz"), die aber zur epistemologischen Erklärung von Vorstellungen wie einer Vorstellungskraft gar nicht benötigt wird. Die "Schranken des Subjekts" wären dann als Akzidenzien der "vorstellenden Substanz" zu verorten. Erst nachdem er mit dieser Pseudorekonstruktion Kant bereits auf seine Seite gewaltsam herübergezogen hat, diskutiert er den Unterschied des Substanzbegnffi bei Leibniz und Kant. Nach Kant sei die Substanz "ein bloßes Subjekt in einem kategorischen Urteil" (S. 382). Damit meint er offensichtlich, bei Kant erfülle der an sich unsinnliche Begriff von Substanz als Kategorie eine bloß "logische" (ebd.) Funktion.765 Dagegen wendet Eberhard für Leibniz zunächst ein, daß das Kriterium der Substanz, d. h. die Subjektstelle im Urteil, auch vom Akzidens erfüllt werden kann (S. 382). Gerade das aber - wir bewegen uns noch auf logischer Ebene - hat Kant fiir das Akzidens ausschließen wollen, als er im "Übergang zur transzendentalen Deduktion der Kategorien" der "KrV darauf hinwies, eine Substanz könne "immer nur als Subjekt"766 betrachtet werden. Doch über diese Aussage hinaus genügt nicht das Merkmal, was de jure logisches Subjekt im Satz zu sein hat, um etwas als Substanz zu bestimmen; es bedarf dazu korrespondierender Anschauung und des Schemas der Substanz.767 Eberhard schiebt hingegen Kant die logizistische Position unter: «Alles, was Subjekt sein kann, ist Substanz.» Von Seiten Eberhards klingt zweitens gegen Kant der Vorwurf an, durch seine logisch-grammatische Bestimmung dessen, was Substanz ist, nur Urteile über begriffliche Extensionsverhältnisse fallen zu können.768 Erinnert man sich an Kants Hinzunahme der Anschauungsbedingung zum Gebrauch etwa der Substanzkategorie, wird auch diese Anschuldigung haltlos. Eberhard glaubt ferner (und erst jetzt stößt er zum Kern seiner Ausfuhrungen vor), gegen Kant anmahnen zu müssen, man könne eine Substanz nicht bloß logisch als Subjekt, dem Prädikate zukämen, sondern man müsse sie "auch als Substanz" (S. 383) betrachten. In diesem Fall, so sagt Eberhard,
765 S. 382: "Nach der reinen (unsinnlichen) Categorie, sagt Hr. Kant, ist eine Substanz ein bloßes Subjekt in einem categorischen Urtheile." Eberhard gibt die Kant-Stellen nicht an, auf die er sich - sachlich unangemessen - bezieht. Zu denken ist dabei an: KrV A 350, A 401 und wohl hauptsächlich B 128129 (obwohl gerade dort Eberhards Aufbereitung des Satzes schon widerlegt ist). 766 KrV B 129; vgl. ÜE 225, Z. 14-16. 767 KrV B 183 ("Das Schema der Substanz ist die Beharrlichkeit des Realen in der Zeit [...]"); siehe auch KrV B 186, B 288, B 291, B 412-413. 768 S. 382/383.
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4. D i e Kontroverse im engeren Sinn
sind m i r ihre B e s t i m m u n g e n [die Akzidenzien] nicht bloß logische Prädikate; sie sind W i r k u n g e n derselben [der Substanz], ich betrachte sie [die Substanz] als eine Kraft. 7 6 9
Das Wesen der Substanz bestimmt hier Eberhard als Kraft: Substanz ist Kraft, die ihre Bestimmungen, d. h. die Akzidenzien oder Eigenschaften, wirkt. Das wendet er auf die innere Wahrnehmung an und gelangt so zur Substanz Seele: So d e n k e ich m i r meine Seele als eine Substanz, w e n n ich überlege, daß sie es sich b e w u ß t ist, was ich jetzt schreibe, daß sie die G e d a n k e n , die ich jetzt aufzeichne, wirkt. Eine Substanz kann also auch für den reinen Verstand kein bloßes Subjekt, sie m u ß eine thätige, wirksame Kraft seyn. 7 7 0
Es könnte scheinen, als habe Eberhard nur bei Gelegenheit der inneren Wahrnehmung in concreto die allgemeine Gültigkeit des Substanzbegriffs und aller reinen Verstandesbegriffe erweisen wollen. Tatsächlich jedoch leitet Eberhard später ausdrücklich alle Kantischen Kategorien und noch weiteres, etwa die Reflexionsbegriffe, aus der Introspektion ab. (Wenigstens drängt Eberhards Wortlaut zu dieser Interpretation.) Sie alle sind damit Wirkungen der Kraft Seele: H a t also die menschliche Seele Verstand: so wirkt sie allgemeine Vorstellungen, indem sie sich das Allgemeine ihrer eigenen Veränderungen und Bestimmungen vorstellt; sie wirkt also die Vorstellungen von G r u n d , Z u s a m m e n h a n g , N o t h w e n d i g , Zufallig, Veränderlich, Unveränderlich, Ursach, u. s. w. indem ihre Veränderungen gegründet, verk n ü p f t , zufällig, n o t h w e n d i g sind, von andern verursacht werden, andere verursachen, u. s. w. 7 7 1
Was Eberhard an der Subjektseite deklaratorisch als allgemeingültig gegründet hat, vorab den Begriff der Substanz, überträgt er auch auf die Objektseite zur Bestimmung des die Sinnlichkeit modifizierenden An-sich. Die Herleitung der "allgemeinen Vorstellungen" aus der Selbstwahrnehmung verhindert bei Eberhard allerdings nicht, daß diese Vorstellungen im Resultat bloß begrifflich und aller Anschauung Uberhoben sein sollen. So verbleibt die real-subjektive und real-objektive Fundierung der empirischen Erkenntnis in einer Seelensubstanz und in "Weltsubstanzen"772 gänzlich im Problematischen.773 Der Begriff der "Kraft", mit dem "Substanz" erklärt werden soll, ist im Grunde nicht weniger leer wie die formalen Bestimmungen, die Eberhard zum Beleg dafür anfuhrt, daß dem bloßen Begriff der Substanz Realität zuzuschreiben sei.774
769 770 771 772
S. 383. S. 383; vgl. Leibniz: Principes, § 1. S. 392. S. 387; vgl. S. 386/387: "Die Leibnitzische Philosophie findet den letzten äußern Grund der Wirklichkeit der endlichen Kräfte in der unendlichen Substanz, und die Zwischengründe von der Beschaffenheit und der Intensität ihrer Vorstellungen in den von der Seele verschiedenen Weltsubstanzen, deren Wirkungen sie sich mit den Modifikationen durch ihre eigene Einschränkung, und nach den Gesetzen der Perspektive vorstellt." 773 Vgl. dazu Kants abschließende Bewertung der Ausfuhrungen seines Widersachers ÜE 225, Z. 31-36. 774 S. 385-386.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
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Kant über "Kraft" und "Substanz" Kant betont in "ÜE", daß die Kategorien ohne korrespondierende Anschauung nur logische Valenz beanspruchen können. Der Begriff der Substanz ist dann reduziert der eines Etwas, dessen Existenz nur als die eines Subjects, nicht aber eines bloßen Prädicats von einem andern gedacht werden muß: von dem [Begriff] der Ursache aber bleibt ihm [dem von der Anschauung absehenden Eberhard] nur der eines Verhältnisses von Etwas zu etwas Anderem im Dasein, nach welchem, wenn ich das erstere setze, das andere auch bestimmt und nothwendig gesetzt wird. 7 7 5
Auf logischen Begriffen aber kann sich kein Erkenntnisurteil - weder von Gegenständen als Erscheinungen noch überhaupt von Dingen an sich - stützen. 776 Nicht einmal eine mögliche Beschaffenheit von Dingen an sich kann mit logischen Begriffen dargestellt werden, 777 ja nicht einmal positiv überhaupt die Möglichkeit von Dingen an sich.778 Anstatt korrespondierende Anschauung für "Substanz" zu finden (um nicht bloß das logische Subjekt zu haben), erklärt Eberhard substitutiv einen Intellektualbegriff ("Substanz") durch einen anderen, den der "Kraft". Hier bringt er allerdings - gegen seine Absicht als Nebeneffekt seiner Darlegungen - (innere) sinnliche Anschauung zum Beleg bei. 779 Prinzipiell wird damit das Problem lediglich verschoben, denn "Kraft" ist nach Kant selber wiederum nichts anders als eine Kategorie (oder das Prädicabile derselben), nämlich die der Ursache [,..].780
Zur Erklärung der objektiven Realität von "Substanz" rekurriert also Eberhard zur Kategorie der "Ursache", bzw. einem ihrer Prädikabilien, der "Kraft". Nach Kant bedürfen aber alle diese reinen Verstandesbegriffe einer entsprechenden sinnlichen Anschauung, um objektiv real gebraucht zu werden (ÜE 224). Durch Eberhards Rekurs auf "Kraft" geht, so kritisiert Kant schließlich, der Begriff der Substanz Uberhaupt verloren, denn, wenn man nicht bloß sagt, eine Substanz habe eine Kraft, sondern vielmehr, sie sei eine Kraft, so wird der Begriff der Substanz ein-
775 ÜE 225. 776 ÜE 223, 224, 225. Im ersten Fall fehlt die sinnliche Anschauung, im zweiten kann es diese gar nicht geben. 777 ÜE 225, Z. 8. 778 Ü E 2 2 5 . Z . 25. 779 Wenigstens sieht dies Kant so (ÜE 223-224 unter Bezug auf S. 385). Bei Eberhard kommt so etwas wie die korrespondierende Anschauung nur im Zusammenhang mit der Herleitung des Begriffs Kraft nach Kant ein "Prädikabile", d. h. eine abgeleitete Kategorie (KrV B 108) - aus der Introspektion, bzw. der (empirisch betrachteten) Abstraktion, vor. Man könnte auch sagen, Eberhard belege zwar "Kraft" anschaulich, aber nur äußerlich und ohne im strengen Sinn eine wirklich exakt korrespondierende Anschauung zu bieten (vgl. dazu ÜE 225, Z. 31-36 und ÜE 224, Z. 7-15). 780 ÜE 223.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn
fach durch den der Kraft ersetzt.781 Aus der "Inhärenz in einem Subjekte" wird damit die "Dependenz von einer Ursache", und Kant fugt hinzu: [RJecht so, wie es Spinoza haben wollte, welcher die allgemeine Abhängigkeit aller Dinge der Welt von einem Urwesen, als ihrer gemeinschaftlichen Ursache, indem er diese allgemeine wirkende Kraft selbst zur Substanz machte, eben dadurch jener ihre Dependenz in eine Inhärenz in der letzteren verwandelte. 782
Zu ihren Akzidenzien unterhalte zwar die Substanz das Inhärenz- wie das Dependenzverhältnis, doch dürfen deshalb nicht einfach beide in ihrer Bedeutung gleichgesetzt werden. 783 Im ersten Fall ist das Dasein der Substanz Grund der Existenz der Akzidenzien, im zweiten ist sie - als Kraft - deren Ursache. Die Identität von Kraft und Substanz benötigt aber Eberhard, um der Substanz die für sie unabdingbare Beharrlichkeit zusprechen zu können. Da der Raum nach ihm (ebenso wie der Körper und die Zeit) nur sinnlichen Scheincharakter hat, 784 kann er ihn nicht wie Kant zur Erklärung der Beharrlichkeit der Substanz heranziehen. Damit aber sitzt er in der Falle des Idealismus fest, in der er Kant zu Unrecht vermutet. 785
Der Grund der Wirklichkeit der Vernunfterkenntnis 786 Auch hier ergibt sich hinter verbalem Gleichlaut eine sachliche Asymmetrie zu Kant: Eberhard setzt Vernunfterkenntnis, Erkenntnis aus reiner Vernunft, mit Erkenntnis a priori gleich. 787 Hier spricht er über Raum und Zeit als reine Formen der Anschauung und über die reinen Verstandesbegriffe. Von Kant aus gesehen handelt es sich im strengen Sinn in beiden Fällen nicht um Vernunfterkenntnis. Die Ideen der Vernunft andererseits, Seele, Welt und Gott, hat Eberhard im Zusammenhang mit dem "Grund" der empirischen Erkenntnis behandelt. 788 Erst jetzt thematisiert Eberhard Kants reine Anschauung im Zusammenhang mit Erkenntnis a priori, was für die Beurteilung Kants im vorhergehenden Aufsatz wesentlich gewesen wäre. Noch immer fehlt aber die Angabe, daß durch die reine Anschau-
781 Schon S. 173 setzte Eberhard "Substanz" und "Kraft" gleich. 782 ÜE 224 Anm. Die Ausdrücke verweisen auf den jeweils dritten Titel der Tafel der Kategorien und der Grundsätze. - Kants unterschwellige Kritik an Spinoza tritt auch in seiner Bewertung der causa-suiFormel (für Gott, bzw. Spinozas unendliche Substanz) als in sich widersprüchlich auf (ÜE 198). 783 ÜE 224 Anm. 784 S. 372, 384, 399-400 (7. Leibniz-These). 785 Vgl. KrVB 275/276 und 277/278. 786 Wegen der sachlichen Zusammengehörigkeit behandeln wir unter diesem Titel sowohl den von Eberhard mit "2. Was ist der Grund der Wirklichkeit unserer Vemunfterkenntnis, oder unserer Erkenntnis a priori" (S. 387-391) benannten Abschnitt wie den Abschnitt "3. Ursprung der Kategorien" (S. 391392). 787 S. 387. Alle Erkenntnis ist nach Eberhard entweder Vernunfterkenntnis oder empirische Erkenntnis (S. 369). 788 Vgl. S. 371.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
259
ung Erweiterungsurteile a priori möglich sind. Er beschränkt sich auf die Feststellung, nach Kant müsse eine "Erkenntnis a priori" 1. reine Anschauungen enthalten, die 2. durch die Categorien oder die reinen Verstandesbegriffe Einheit des Bewußtseyns erhalten. 789
Anstatt die transzendentale Frage zu prüfen, wie durch reine Anschauungen synthetische Urteile möglich seien, widmet er sich der ontologischen, wie "diese Anschauungen" und "diese Begriffe in die Seele kommen".790 Nur durch eine solche Verkehrung der Aufgabenstellung kann Eberhard zu dem Urteil gelangen, daß die Entdeckung der einen Hauptquelle unserer/ Erkenntniß, nämlich der reinen Sinnlichkeit [...] nichts weniger als eine wahre Bereicherung [also ganz und gar keine Bereicherung] der Philosophie sey.791
Als Antwort hat Eberhard, wie bereits gesagt, nur das schwächliche Wort parat, die "denkende Kraft" (S. 392) der Seele wirke die Kategorien (die reinen Verstandesbegriffe), und die "Gründe" von Raum und Zeit seien der Seele angeboren (S. 390). Als Schlußstein bedarf Eberhard dann noch einer "unendlichen Substanz", welche die Seele erschafft (S. 392). Als Schwäche wird Kant zunächst angelastet, daß er die Angeborenheit (der Gründe) von Raum und Zeit nicht annehmen könne, weil für ihn "die Vorstellung des unendlichen Wesens" "leer" sei (S. 388). Hier setzt Eberhard Angeborenheit mit Anerschaffenheit gleich, obwohl er gemäß seinem Denken sich mit dem bescheideneren Merkmal hätte begnügen können. Gestützt auf eine obskure Stelle bei Schmid,792 geht Eberhard dann doch davon aus, Kants Theorem von der reinen Anschauung - Kant nennt sie auch "ursprünglich"793 - hänge von Leibnizens Theorie der Angeborenheit ab, und wirft Kant vor, nicht bedacht zu haben, daß nach Leibniz niemals klare Vorstellungen von Raum und Zeit, sondern nur deren Gründe angeboren sein könnten.794 Da für Kant die reinen Anschauungen von Raum und Zeit immer schon klare Vorstellungen seien, könnten sie nicht als angeboren verstanden werden. Um Kant dennoch wenigstens z. T. unter 789 S. 387. 790 S. 387 und S. 392. Daß auch, worauf Eberhard S. 388 per Zitat hinweist, der Kantianer Schmid ontologisierend meint, "Leibnitzens Lehre von angebohrnen Begriffen" liege "der Kantischen Theorie von Erkenntnissen a priori" "offenbar zum Grunde", entlastet Eberhards Vorgehen nicht. Eberhaid fuhrt diese Worte aus dem Artikel "A priori" aus Karl Christian Erhard Schmids "Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Philosophie", Jena 1786, an. 791 S. 388/389. 792 Gemeint ist die S. 388 zitierte Stelle aus Schmids Artikel "A priori" in seinem "Wörterbuch". 793 Vgl. KrV B 58. 794 S. 388-391. Dahinter steckt Leibnizens moderate Angeborenheitsthese (vgl. dazu Vorrede und Erstes Buch der "Nouveaux Essais"), wonach intellektuelle Vorstellungen virtuell angeboren sind ("[...] l'ame contient originairement les principes de plusieurs notions et doctrines que les objets externes reveillent seulement dans les occasions [...]", Nouveaux Essais, S. 42). Leibniz entwickelte sie in Auseinandersetzung mit Descartes und Locke.
4. Die Kontroverse im engeren Sinn
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die Leibnizische Theorie der Sinnlichkeit zu bringen, stuft er kurzerhand die Kantische A n s c h a u u n g v o n R a u m und Zeit z u empirischen Vorstellungen, zu "Bildern", herab, deren "dunkle Gründe" (S. 390) angeboren seien. 7 ' 5 Was n u n diese angeblich überlegene Leibnizische Theorie angeht, so läßt - ähnlich wie i m Fall der Kategorien - Eberhard Raum u n d Zeit durch bloße Psychologisierung und Ontologisierung entstehen: Sie [die "wirkliche Seele"] hat also Vorstellungen, und zunächst Vorstellungen von sich selbst; diese folgen auf einander, sie hat also Vorstellungen von Zeit; sie hat Vorstellungen von Dingen, die beharren und verändert werden, von Verschiedenheit, von Einem, von Vielen; alles dieses zusammengenommen macht, sinnlich vorgestellt, das Bild vom Räume. 7 9 6
Kant zur Frage der Angeborenheit Kant
lehnt
zunächst
ausdrücklich
das
Konzept
einer Angeborenheit
oder
Anerschaffenheit einer begrifflichen oder anschaulichen Vorstellung ab ( Ü E 2 2 1 ) . Bei der damit nur übrigbleibenden Erworbenheit der Vorstellungen n i m m t Kant eine wichtige U n t e r s c h e i d u n g vor: Eine "ursprüngliche Erwerbung" 7 ' 7 liegt vor, w e n n die
795 S. 390-391. Vgl. auch S. 399, 6. Leibniz-These und S. 400-402, 8. Leibniz-These. Die achte LeibnizThese wendet sich gegen beide Punkte der entsprechenden Kant-These (diese nimmt Bezug auf KrV A 23, Nr. 1), wonach der Raum kein empirischer Begriff ist und nicht durch Abstraktion von äußerer Erfahrung gewonnen wurde. Den empirischen Charakter und Ursprung der klaren Raumvorstellung (und analog der Zeitvorstellung) verteidigt auch Maaß in seinem Artikel "Über die transzendentale Ästhetik", Phil. Mag., Bd. I, S. 117-149, insbesondere S. 123-125 und (als Wiederholung) S. 128129. Er gibt zwei Argumente für die Empirizität des Raums (und analog der Zeit): Daß der Raum allen äußeren Erfährungen notwendig zugrundeliegt, bedeutet nicht, daß er als solcher vor der Erfährung vorausgeht. Die Raumvorstellung kann auch immer zugleich mit der Erfährung eintreten. Durch Abstraktion kann in einem nächsten Schritt die bloße Raumvorstellung (ohne Gegenstände) erzeugt werden. - Solange nicht (wie in KrV A 23, Nr. 1) die bloße Subjektivität des Raums bewiesen ist, kann man auch sagen, "der Raum ist ein Verhältnis, das den Dingen, sofern sie als außer mir, oder als außer einander erscheinen, nothwendig zukömmt" (S. 125). Die bloße Raumvorstellung ist dann ein Abstraktionsprodukt aus der Erfährung der Dinge und somit empirisch. 796 S. 390. Bei der Frage nach dem Status dieser über die Introspektion zugänglichen Bestimmungen ("Zeit", «Substanz» - d. h. "Dinge[.], die beharren", "Verschiedenheit", «Einheit») stellt sich wieder die Frage nach dem Status dieser abstrakten oder reflexiven Ausdrücke. Den Fehler des Psychologisierens begeht Eberhard im vollen Sinn nur, wenn man die Abstraktion weitgehend empiristisch auffaßt. Das liegt an dieser Stelle ebenso nahe wie S. 392. Nach den Leibnizischen Denkprämissen jedoch darf die innere Erfahrung nur als Gelegenheitsursache fiir eine metaphysische Abstraktionsleistung aufgefäßt werden. Doch kommt dieser Hauptsinn auch an Leibnizens eigenen Texten oft nur wenig merklich zum Ausdruck (vgl. etwa Discours, § 27 und Principes, § 5). 797 ÜE 221, Z. 29 und Kant fugt in Klammern hinzu: "wie die Lehrer des Naturrechts sich ausdrücken". In ÜE 222/223 gebraucht er die gleichbedeutenden lateinischen Ausdrücke "acquisitio originaria" im Gegensatz zu "acquisitio derivativa", der, wie sich übersetzen ließe, «abgeleiteten oder sekundären Erwerbung». Empirisch "bestimmtet.] Btgriffi von Dingen" gehören zur "acquisitio derivativa", da sie als Bedingungen ihrer Möglichkeit die ursprünglichen voraussetzen (ÜE 222/223).
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
261
Vorstellung noch nicht (in anderer Form) bereits vorhanden war, sondern erstmals in einer "Handlung" 798 gebildet wird. Dazu rechne die "Kritik" erstlich die Form der Dinge im Raum und der Zeit, zweitens die synthetische Einheit des Mannigfaltigen in Begriffen; denn keine von beiden nimmt unser Erkenntnißvermögen von den Objecten, als in ihnen an sich selbst gegeben, her, sondern bringt sie aus sich selbst a priori zu Stande. 7 "
Obwohl Kant bei seiner Disjunktion die Seite der Angeborenheit eigentlich bereits hinter sich gelassen und verworfen hat, kommt er nochmals darauf zurück: Es m u ß aber doch ein Grund dazu im Subjecte sein, der er möglich macht, daß die gedachten Vorstellungen so und nicht anders entstehen und noch dazu auf Objecte, die noch nicht gegeben sind, bezogen werden können, und dieser Grund wenigstens ist angeboren?00
Im Fall der "Form äußerer" und - so ist zu ergänzen - innerer "Gegenstände überhaupt" gilt Kant die "bloße Rezeptivität"801 als das Angeborene, im Fall der Kategorien gelten ihm dafür "die subjektiven Bedingungen der Spontaneität des Denkens (Gemäßheit mit der Einheit der Apperzeption)". 802 Am Wortlaut der Kant-Zitate sieht man sofort, daß jetzt Kant epistemologische Begriffe - so im besonderen "Rezeptivität" und "Spontaneität" als die obersten noch ganz undifferenzierten transzendentalen Bedingungen und im allgemeinen einen KardinalbegrifF des transzendentalen Diskurses, den "Grund der Möglichkeit" 803 - als etwas Angeborenes naturalisiert. In der " K r V findet sich dazu keine Entsprechung. Dort ist überhaupt von Angeborenheit nirgends die Rede, außer negativ im Zusammenhang einer ausdrücklichen Zurückweisung eines jeglichen "Präfbrmationssystem[s] der reinen Vernunft" (KrV B 167). Einer genetischen Metaphorik bedient sich Kant in der "KrV" nur zur Bezeichnung dessen, was er in "ÜE" "acquisitio originaria" nannte. 804 Würde man - etwa im Sinn der oben erwähnten Stelle von Schmid 805 - das Kantische Apriori als etwas Angeborenes oder auch nur den Gründen nach Angeborenes ontologisch verorten wollen, so entzöge man ihm den Status einer notwendigen und allgemeinen Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis und Erfährung, indem man es an eine faktische Bedingung knüpfte.
798 ÜE 221, Z. 31; vgl. auch ÜE 222, Z. 32. 799 ÜE 221. 800 ÜE 221, Z. 36 bis 222, Z. 2. Später (ÜE 222, Z. 28-30) heißt es nochmals: "Dieser erste formale Grund [..] der Möglichkeit [...] ist [.] angeboren [...]." 801 ÜE 222, Z. 34 und 35. 802 ÜE 223, Z. 4-5. 803 Etwa ÜE 222, Z. 24. 804 Vgl. KrV B 90/91, B 167-168. In KpV 254 lehnt Kant explizit die Behauptung der Angeborenheit der Kategorien ab. (Da er dies im Blick auf die Deduktion der Kategorien tut, erstreckt sie sich zugleich auf die Formen der Anschauung.) Von einer Angeborenheit von Spontaneität und Rezeptivität an sich ist hier nirgends die Rede. 805 Auch Schopenhauer setzt Apriori und Angeborensein gleich (Ders.: Wurzel, S. 124; vgl. auch S. 126128, alles Stellen aus § 34).
262
4. Die Kontroverse im engeren Sinn
So kann man sich Kants Abweichung in der Streitschrift nur mit dem Versuch erklären, Eberhard aus strategisch-taktischen Motiven entgegenzukommen, um ihm möglichst nah an seinem eigenen Denken eine fundamentale Alternative aufzuzeigen. Auf den ersten Blick scheint zwar Kant genau dasselbe zu behaupten wie Eberhard (und Leibniz), nämlich eine Angeborenheit der Gründe (zu den nicht-empirischen Vorstellungen), doch wird bei genauerer Aufmerksamkeit aus den Ausfuhrungen Kants klar, daß es ihm um eine Unterscheidung der Angeborenheit der Gründe (die Eberhard vertritt) und der Angeborenheit der Gründe der Möglichkeit geht. Im ersten Fall ist das Angeborene mit dem dann Gebildeten der Tendenz nach gleichgestaltig,806 im anderen hingegen nicht. Eberhards "dunkle Gründe" (S. 390) von Raum und Zeit sind schon irgendwie räumlich oder zeitlich, während die angeborene Spontaneität noch nichts etwa mit dem System der Verstandesbegriffe zu tun hat. Die "acquisitio originaria" - und hierin liegt Kants auch aus der "KrV" bekannte Alternative zu jeglicher Rede von Angeborenheit - muß Eberhard von sich aus bereits als einen Typus der Angeborenheit von Gründen deuten, während Kant hiervon das faktische Moment der Angeborenheit gerade dann am augenfälligsten für Eberhard fernhalten kann, wenn er ihm auf einer anderen Ebene eine solche zugesteht. Aber auch auf jener Ebene mildert Kants Unterscheidung von Denken und Erkennen die Rückwirkung der Konzession auf sein eigenes System, denn ähnlich, wie logisch zur "Erscheinung" das "Ding an sich" gehört, läßt sich zur Eigenleistung der menschlichen Erkenntnis eine Anlage oder Disposition zu ihr als "Grund" logisch erschließen, der dann durch äußerliche Anleihen an der philosophischen Tradition als "angeboren" oder gar "anerschaffen" benannt werden kann. Die feierlichen Worte dürfen nicht darüber täuschen, daß hier, mag er sogar notwendig sein, nur ein problematischer Gedankenschritt vorliegt und kein Erkenntnisurteil.
Ontologisierung Für Eberhard hängen bei Kant die Formen der Anschauung und Funktionen der Einheit im Denken (Kategorien) einerseits wie das in der empirischen Anschauung gegebene Mannigfaltige andererseits gleichsam in der Luft, ohne «fundamentum in re».807 Mit der von Kant angebotenen Theorie der Objektivität, daß die Bedingungen der Möglichkeit der Erfährung zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung 808 sind, will sich Eberhard nicht begnügen, da sie ihm als bloß subjektiv erscheint. Er möchte sie zu Bestimmungen der Gegenstände überhaupt, also nicht bloß, insofern sie Gegenstände der Erfährung sind, machen - und geht dabei von Kant aus gesehen gerade aller Objektivität verlustig, da er wirkliche Gegenstände mit 806 Vgl. S. 401/402, 8. Leibniz-These. (Dagegen scheint freilich wiederum die 10. Leibniz-These, S. 403/ 404, zu sprechen.) 807 Vgl. S. 386 und 392. 808 KrV B 197.
4.5. Synoptische Analyse der Eberhardischen Aufsätze und der Kantischen Replik
263
nur formalen Mitteln erkennen will. Das läßt sich resümierend in mehreren Hinsichten beobachten: (a) Raum und Zeit sollen in der Seele verortet werden. Zu diesem Zweck werden sie als "Schranken" oder als "in ihren Gründen angeboren" bestimmt. 809 (b) Wegen der Unbestreitbarkeit der Vorstellung läßt sich fiir Kant - nur im Blick auf diese - ein Vermögen der Vorstellung, eine Vorstellungskraft, annehmen. Eberhard ontologisiert die "Vorstellungskraft" zur "vorstellenden Substanz", also der traditionellen "res cogitans" (S. 381). Alle von Kant epistemologisch thematisierte "cogitatio" soll damit als faktische Eigenschaft einer intelligiblen Seelensubstanz ("res") verortet werden. (c) Die Kategorien sollen als Seinsbestimmungen jeder Substanz an sich verstanden werden. (d) Eberhards Ontologisierungstendenz ist schon bei seinem Referat des Kantischen Gedankenguts spürbar. Das belegt etwa bei seinen Kant-Thesen zu Abschluß des Artikels ein Ausdruck wie "Einrichtung des vorstellenden Subjekts" 810 oder die Redeweise, nach Kant seien Raum und Zeit "ursprünglich in der Seele".811 Für Kant ist eine etwaige Genese der apriorischen Bedingungen unerkennbar. 812 Für die Kategorien etwa bietet Kant nur einen "Leitfaden" 813 zur systematischen Inventarisierung, aber kein Modell, das nach dem genetischen Ursprung dieser Grundbegriffe forschen soll. Ähnlich verhält es sich mit den Formen der Anschauung. Abgesehen davon, daß das Apriorische schon für eine Suche nach dem "Ursprung des Ursprungs" vorausgesetzt werden müßte, würde es sich dabei nur um eine "quaestio facti" handeln. Als solche kann eine genetische Untersuchung, selbst wenn sie möglich wäre, zur Entscheidung über die Legitimität von Urteilsansprüchen nicht helfen.
809 Je nachdem, ob sich Kants Aussagen unter beide Bestimmungen subsumieren lassen oder nur unter eine, ist nach Eberhard Kants Theorie der Anschauung "entweder ganz oder zum Theil in der Leibnitzischen Theorie enthalten" (S. 391). 810 S. 393, 1. Kant-These. 811 S. 404, 10. Kant-These. Daß Kant, etwa durch seine uneigentliche Redeweise von "Gemüt" (z. B. KrV A 22) und "Vermögen" der ontologischen Rezeption Stützen geliefert hat, entschuldigt Eberhard nicht. Vielfach sind auch die sonst mißverständlich eingesetzten Ausdrücke eindeutig im transzendentalen Sinn zu interpretieren. So kann und muß an vielen Stellen "Gemüt" korrekt als "Bewußtsein überhaupt" verstanden werfen. 812 ÜE 249, Z. 35-37 und KrV B 145/146: "Von der Eigentümlichkeit unsers Verstandes aber, nur vermittelst der Kategorien und nur gerade durch diese Art und Zahl derselben Einheit der Apperception a priori zu Stande zu bringen, läßt sich eben so wenig ferner ein Grund angeben, als warum wir gerade diese und keine andere Functionen zu Urtheilen haben, oder warum Zeit und Raum die einzigen Formen unserer möglichen Anschauung sind." 813 KrV B 91-116 ("Von dem Leitfaden der Entdeckung aller reinen Veistandesbegrifle"); vgl. Prol. 322326 (§ 39). Raum und Zeit als Formen der Anschauung werden bei Kant durch Absehen vom Wirklich-Empirischen der Anschauung gleichsam im Rückschritt gefunden (KrV B 36), also nicht positiv von etwas vor der reinen Anschauung Liegendem abgeleitet. Ahnlich weiden die Kategorien anhand der logischen Funktionen des Urteils durch Absehen von allem Inhalt entdeckt.
264
4. Die Kontroverse im engeren Sinn
4.6. Bewertung des Streits Vorab ist in formaler Hinsicht zu bemerken, auf welches Aktenmaterial sich die Kontrahenten bezogen haben. Kant hat zwar den ganzen ersten (und später auch den zweiten) Band des "Phil. Mag." gelesen, in "ÜE" und den "Vorarbeiten" jedoch - bis auf eine Ausnahme - das erste Stück des ersten Bandes nicht berücksichtigt. 814 Ebenso zog Kant einen relevanten Text aus dem dritten Stück desselben Bandes nicht heran. Ausgespart sind die Texte "Vorbericht",815 "Nachricht von dem Zweck und der Einrichtung dieses philosophischen Magazins, nebst einigen Betrachtungen über den gegenwärtigen Zustand der Philosophie in Deutschland" 816 und "Ausführliche Erklärung über die Absicht dieses philosophischen Magazins"817 (alle drei haben wir zur Charakterisierung von Eberhards Methode herangezogen)818 sowie - bis auf einen einzigen Verweis in "ÜE" 819 - der Text "Über die Schranken der menschlichen Erkenntnis". 820 Signifikant fiir die geringe Aufmerksamkeit auf den zuletzt genannten Beitrag ist, daß Kant bei der Belegung von Eberhards methodischem Vorgehen 821 keine der darin sehr relevanten Aussagen verwendete. Auch Eberhards Hauptthese hätte sich mit Worten dieses Textes gut fassen lassen. Aus den frühen Briefen an Reinhold geht jedoch klar hervor, daß Kant das erste Stück studiert hat. Da er dann aber diesen etwa ein halbes Jahr vor den anderen Stücken erschienenen Pilotteil der Zeitschrift offenbar aus den Augen verloren hatte, fehlte ihm das Verständnis für Eberhards grundlegenden Begriff von "Dogmatismus", den dieser dort in "Über die Schranken der menschlichen Erkenntnis" expliziert hat. 822 In seiner Antwortschrift konzentriert sich Kant auf die Beiträge "Über die logische Wahrheit" und "Über die Unterscheidung der Urteile", also auf Eberhards Vorstellung des Satzes vom Grund und die Bewertung der Kantischen synthetischen Urteile a priori. Die Teile A und B des ersten Abschnitts von "ÜE" beschäftigen sich fast ausschließlich mit dem ersten dieser beiden Aufsätze, der ganze zweite Abschnitt ist dem zweiten gewidmet. Auf die anderen Texte Eberhards bezieht sich dann Kant hauptsächlich in Teil C des ersten Abschnitts von "ÜE" und privilegiert dabei "Über das Gebiet des reinen Verstandes" und "Über den wesentlichen Unterschied der Erkenntnis durch die Sinne und durch den Verstand", deren Argumentation als Einheit ange814 Es versteht sich von selbst, daß sich wir Kants Auslassungen nur im Blick auf relevante Texte des "Phil. Mag." erwähnen. Etwa Eberhards Text "Über die wahre und fälsche Aufklärung, wie auch über die Rechte der Kirche und des Staats in Ansehung derselben" (Phil. Mag., Bd. I, Stück 1, S. 30-77) bleibt hier unberücksichtigt. 815 Phil. Mag., Bd. I, Stück 1,S. III-X. 816 Phil. Mag., Bd. I, Stück 1, S. 1-8. 817 Phil. Mag., Bd. I, Stück 3, S. 333-339. 818 Siehe Kapitel 2.2., 2.3. und 2.4. 819 ÜE 193; hier bezieht sich Kant aufS. 14 des o. g. Textes. 820 Phil. Mag., Bd. I, Stück 1, S. 9-29. 821 Vgl. ÜE 188. 822 Vgl. ÜE 226-227.
4.6. Bewertung des Streits
265
sehen wird. Am wenigstens wird der Aufsatz "Weitere Anwendung" beachtet, wohl weil er Eberhard hauptsächlich zur Ergänzung des vorhergenden dient. Da sich Eberhard auf einzelne Argumentationen Kants nicht im Detail einläßt, überrascht es nicht, wenn wir bei ihm nur punktuelle Stellenangaben zur "KrV" (meist aus dem Text der ersten Ausgabe) und zu den "Prol." finden. Offensichtlich hat er auch mit einem "Wörterbuch" 823 zur Kantischen Philosophie gearbeitet und sich auf Rezensionen der "A.L.Z." 824 bezogen. Auch seine Bezüge auf Leibniz, Wolff, Baumgarten und andere legt er meist nicht offen. So fallt umso deutlicher auf, wie penibel Kant seine Kritik an Eberhard ausführlich mit exakten Seitenangaben und trotz kleinerer Abweichungen genauen Zitaten belegt. Die Qualität von Eberhards KantZitaten ist im Durchschnitt deutlich schlechter als im umgekehrten Fall. Eberhard hat sich hauptsächlich mit folgenden Passagen bei Kant beschäftigt: "Transzendentale Ästhetik", "Leitfäden der Entdeckung" und "Deduktion" der Kategorien, "Amphibolie"-Kapitel, "Vom transzendentalen Schein". Eine andere Frage ist die, welche Teile der "KrV" zur Antwort auf Eberhard besonders relevant sind. Hier sind insbesondere noch zu nennen: "Schematismus"-Kapitel, "Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena", "Von den Paralogismen der reinen Vernunft" und der "Anhang zur transzendentalen Dialektik". In Reaktion auf die Streitschrift versuchten Eberhard und seine Gefährten, Widersprüche zwischen der " K r V und "ÜE" aufzuzeigen, die beweisen sollten, daß sich Kant auf Leibnizens Standpunkt zubewegt habe. 825 So konzediere Kant eine Erkenntnis der Dinge an sich als Realgründe der Erscheinungen, 826 den empirischen Status der Raumvorstellung 827 und die "transscendentale Gültigkeit" des Satzes vom Grund. 828 Ähnlich glaubt auch Vaihinger, "Widersprüche zwischen beiden Darstellungen" neben "Schwächen" und "Inkonsequenzen" auf Seiten Kants feststellen zu können, verzichtet jedoch darauf, sie zu nennen. 82 ' Wie wir bei der synoptischen Diskussion der Texte von Eberhard und Kant an neuralgischen Stellen gezeigt haben, unterläuft Kant manchmal durchaus eine unglückliche Formulierung, aber eine sorgfaltige Analyse des Kontexts und der genauen Bedeutung der Worte kann auf den 823 ÜE 223; gemeint ist Schmids "Wörterbuch zum leichteren Gebtauch der Kantischen Philosophie". 824 S. 378 bezieht sich Eberhard auf Nr. 10 der "A.L.Z". vom 10.1.1789, und zwar eine Stelle (über Kant) aus der vernichtenden Rezension der antikantischen Schrift von Gotdob August Tittel "Kantische Denkformen oder Kategorien", Frankfurt a. M. 1788. Die von Eberhard zitierten Worte sind der Sp. 75 entnommen. In derselben Nummer wird Sp. 77-80 das erste Stück des ersten Bandes des "Phil. Mag." (mehr angezeigt als) rezensiert. 825 Die Dokumente finden sich v. a. im dritten Band des "Phil. Mag.". Im folgenden wird darauf in den Anmerkungen und im Text mit römischen Ziffern für den Band und arabischen für die Seite verwiesen. 826 III, 169-170; III, 214. 827 IV, 229. 828 IV, 173; IV, 197; IV, 284. 829 Vaihinger: Kommentar, Bd. II, S. 537; vgl. auch S. 540.
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4. D i e Kontroverse im engeren Sinn
ersten Blick sich vielleicht auftuende Widersprüche und Inkonsequenzen ohne Schwierigkeit widerlegen. 830 Im Einklang mit unserer Auffassung findet auch Allison nirgends bei Kant Widersprüche. Daß Eberhard Kant "litterarischen Despotismus" (III, 153) vorwirft und von der "Wasserfluth einer massevollen Vernunftkritik" (III, 155) spricht, kann hier getrost übergangen werden. Ganz im Gegensatz zu Kant wich Eberhard in seiner Duplik mitunter von seiner eigenen vorher vertretenen Position ab. Als Beispiel dafür sei hier nur angeführt, daß sich Eberhard gegen Kants vorgebliche Unterstellung wehrte, das Einfache als Teil einer sinnlichen Vorstellung behauptet zu haben. Das Einfache sei kein Teil, sondern ganz wie das Kant dem entgegengesetzt hatte - ein logisch geschlossener Grund, den allerdings Eberhard im Gegensatz zu Kant - und hier bleibt der eigentliche Differenzpunkt bestehen - für objektiv erkennbar hält. Real zu verstehen sind also beide "Interpretationen", die sinnlichen Teile oder die übersinnlichen Gründe, die Verstand und Vernunft zur sinnlichen Erscheinung hinzusetzen.831 Maaß gibt Kant zu, daß der Satz des Grundes synthetisch sein muß; dennoch behauptet er, er ließe sich auf den Satz des Widerspruchs zurückfuhren. 832 Rückblickend läßt sich sagen, daß am charakteristischsten fiir Eberhards Kantrezeption seine Verdrängung der reinen Anschauung ist. Allison spricht davon, er habe im Sinne des Leibnizischen Hintergrunds die Anschauung als Bild verstanden. Schärfer (durchaus im Sinne Kants) formulierend haben wir davon gesprochen, er habe dieses Theorem bewußt abgewertet oder ausgeblendet. Wie immer man den Sachverhalt konzeptualisiert, fest steht, daß Eberhard nicht zwischen Anschauung a posteriori und a priori unterscheidet. Alle Anschauung stellt er als a posteriori dar. 833 Unter dieser Prämisse wird plausibel, daß Anschauung - wie Eberhard behauptet nicht Bedingung zu aller Erkenntnis, sondern lediglich zu sinnlicher Erkenntnis (d. h. Erkenntnis von konkreten Sinnendingen) sein kann. Dazu läßt sich dann leicht das Sophisma gesellen, wonach abstrakte Vorstellungen, bereits deshalb, weil sie nicht
830 Deshalb können wir darauf verachten, die alte Aussagen verstärkt wiederholenden Einwände der Eberhardianer hier erneut zu besprechen. Über die speziell der Reaktion auf "ÜE" (bzw. frühe Rezensionen des "Phil. Mag." durch Kants Mitarbeiter) gewidmeten Artikel informiert die Quellenübersicht im Anhang. 831 III, 251-263; III, 268-274; III, 420-422. Der Streit dreht sich dabei um die Bedeutung des von Eberhard verwendeten Begriffs "Elemente". Kant deutet ihn im Sinn von "Teile", Eberhard in seiner Duplik im Sinn von "Gründe" (III, 256). Eberhards Satz aus I, 169, den Kant in ÜE 200 zitiert, nämlich "Die concretc Zeit ist also etwas Zusammengesetztes, ihre einläche[n] Elemente sind Vorstellungen" legitimiert zusätzlich zum gewöhnlichen Sprachgebrauch ganz und gar Kants Auslegung. Selbst Eberstein zeugt hier gegen seinen Lehrer Eberhard, denn er weiß zu berichten, dieser "entdecke" "in ihnen", d. h. "in den sinnlichen Vorstellungen des Raums und der Zeit", "das unbildliche Einlache", "ohne welches sie nicht bestehen könnten" (Geschichte, Bd. II, S. 167). 832 III, 173 in Verbindung mit III, 187. Im Gegensatz zu Eberhard, der die Rückführung auf das Nichtwiderspruchsprinzip betont (III, 199), bemüht sich Maaß jedoch in III, 187 sichtlich, dies als eine Nebensächlichkeit herunterzuspielen, um von dem Widerspruch abzulenken. 833 Dasselbe Verfahren ist auch bei Eberstein zu bemerken. Siehe dazu etwa: Geschichte, Bd. II, 190-191, 193,205-206.
4.6. Bewertung des Streits
267
unmittelbar sinnlich sind, als "unsinnlich" ausgegeben und ihre Gegenstände für "allgemeine Dinge" gehalten werden. Plausibel wird ferner, daß die Anschauung bei der Bildung mathematischer Urteile keine erkenntniskonstitutive Rolle spielen kann, was wiederum fiir die Analytizität solcher Urteile spricht. Erkenntnis sieht Eberhard dann nicht durch den Horizont der reinen Anschauung (als Form der Erscheinungen) begrenzt, sondern durch die Gemäßheit mit den obersten Grundsätzen, die fiir die Subjekt- wie Objektseite, fiir Vorstellung wie Vorgestelltes, gleichermaßen gelten. Während für Kant alle Erkenntnis sowohl anschauliche als begriffliche Komponenten umfassen muß, kann Eberhard zwei verschiedenen Objektbereiche unterscheiden, Sinnendinge (d. h. "Erscheinungen" in seinem Sinn) und Verstandeswesen. Ein wichtiges Merkmal der Reaktion des Eberhard-Lagers auf "ÜE" besteht in einer nochmaligen Betonung des ontologischen Standpunkts: Da der Satz vom Grund nach Eberhards Beweis "notwendig und allgemein wahr sei" (III, 182), könne er nicht, wie Kant meine, als "bloß" formal abqualifiziert werden. Er gelte als formales Prinzip, insofern, als der Verstand nicht anders könne, als ihm gemäß zu urteilen, und als ein "materielles oder transzendentales", insofern jedes Ding ihm gemäß sein müsse. Aus beidem ergebe sich, daß "die diesem Grundsatze gemäße Verstandeserkenntnis mit den Dingen übereinstimmen müsse, wenngleich ihre Wahrheit nicht an einer sinnlichen Anschauung erprobt werden" (ebd.) könne. Spezifisch ontologisch ist die Denkfigur vor allem in der damit zusammenhängenden Aussage, die formale Dimension des Satzes setze die materiale voraus.834 Die Hauptbedeutung der Kantischen Streitschrift liegt zweifellos in ihrem zweiten Abschnitt, d. h. der Erläuterung der synthetischen Urteile. Dennoch läßt sich Allisons These, "ÜE" führe Gedanken der " K r V weiter oder überhaupt erst deutlich aus, 835 nicht halten, denn nur im Hinblick auf Eingangsformulierungen verbessert sich Kants Bestimmung der synthetischen Urteile. Eine Entsprechung zur v. a. in der transzendentalen Deduktion der Verstandesbegriffe der "KrV" vorgenommenen Erklärung der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori fehlt in "ÜE". Dort wird nur deren Prinzip genannt, die "Synthesis a priori" (ÜE 244) und reine Anschauung als das "Substrat" (ÜE 245) dieser ursprünglichen Verbindung. 836 Allison hält hauptsächlich folgende Stelle aus "ÜE" fiir einen Informationsgewinn: 837 Sie [die "synthetischen Urtheile"] sind Urtheile, durch deren Prädicat ich dem Subjecte des Urtheils mehr beilege, als ich in dem Begriffe denke, von dem ich das Prädicat aus834 III, 185; III, 195-196. 835 Allison hatte in diesem Zusammenhang als zwei Punkte die Weiterentwicklung der Lehre von der reinen Anschauung (Controversy, S. 75) und eine deutlichere Explizierung der Unterscheidung der Urteile in synthetische und analytische (a.a.O., S. 48, 72-74) angesprochen. 836 ÜE 244, Z. 34 - 245, Z. 9. Danach sind die Kategorien "nichts als die reine synthetische Einheit eines Mannigfaltigen (in irgend einer Anschauung) zum Behuf des Begriffe eines Objects Oberhaupt". (Auf diese Stelle verweist Allison: Controversy, S. 61.) 837 Allison: Controversy, S. 48.
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4. Die Kontroverse im engeren Sinn sage, welches letztere also das Erkenntniß über das, was jener Begriff enthielt, vermehrt; dergleichen durch analytische Urtheile nicht geschieht, die nichts thun, als das, was schon in dem gegebenen Begriffe wirklich gedacht und enthalten war, nur als zu ihm gehörig klar vorzustellen und auszusagen. 838 D i e i m Urteil sich vollziehende Erkenntniserweiterung beruht danach gerade auf
dem, was d e m Subjekt nicht durch das D e n k e n beigelegt werden kann. Was aber genau dieses "Mehr" ist, verrät uns obige Formulierung n o c h nicht. Jene Passage vermeidet die Unbestimmtheit, bzw. Mißverständlichkeit der Eingangsformulierungen aus der "KrV" u n d aus den "Prolegomena" damit nur in d e m einen Punkt, daß die Aufmerksamkeit auf etwas gelenkt wird, was nicht durch D e n k e n (d. h. durch den Begriff) geleistet werden kann. In den Eingangsformulierungen sprach Kant noch davon, es gehe bei beiden Urteilsarten u m das D e n k e n des Verhältnisses v o n Subjekt und Prädikat, u n d die Verknüpfung der Hauptbegriffe werde durch oder o h n e Identität gedacht. 8 3 9 U n b e s t i m m t sind die Formulierungen, weil sie vor der eigentlichen Erklärung der Synthetizität einen gemeinsamen Begriff fiir beide Urteilstypen exponieren müssen, mißverständlich, weil es sich - ganz unabhängig davon, daß in einem Satz nicht alle nötige Präzisierung durchgeführt werden kann, soll er für den Leser überschaubar bleiben - zunächst u m eine Definition handelt, die als solche immer in einer logischen Sprache abgefaßt sein m u ß . 8 4 0 D i e Explikation der in ihr verwandten Begriffe, v o n denen einige nur als Platzhalter für Anschauung fungieren, ist als eigene Aufgabe davon zu unterscheiden. 8 4 1 D o c h angesichts des Textwortlauts findet es Allison verständlich, daß Eberhard die Verknüpfung v o n Subjekt und Prädikat i m synthe-
838 ÜE 228, Z. 25-30. 839 KrV BIO: "In allen Urtheilen, worin das Verhältniß eines Subjects zum Prädicat gedacht wird [...]. [...] Analytische Urtheile [..] sind also diejenige, in welchen die Verknüpfung des Prädicats mit dem Subject durch Identität, diejenige aber, in denen diese Verknüpfung ohne Identität gedacht wird, sollen synthetische Urtheile heißen." Nach der Vorstellung des Merkmals des Gedachtwerdens durch oder ohne Identität erfolgt die Unterscheidung in Erläuterungs- und Erweiterungsurteile (KrV B 11 = A 7), doch erneut, ohne daß die Anschauung thematisiert würde. Dies geschieht erst in KrV A 8, allerdings maskiert: "[...] noch etwas anderes (X) [...]". Auch die "Prol." verschweigen die Rolle der Anschauung, wenn in § 2 a der Unterschied der Urteile vorgestellt wird, und differenzieren nur zwischen "wirklich gedacht" und "nicht wirklich gedacht" (Prol. 266). Am Ende des Abschnitts finden sich allerdings die Worte "zu meinem Begriffe etwas hinzuthut" (Prol. 267), die auf eine nicht dem Denken anheimgegebene Lösung deuten. Ganz klar ist jedoch an § 2 a der "Prol." ersichtlich, daß es sich hier zunächst nur um eine Arbeitsdefinition der beiden Urteilsarten handeln soll. Die eigentlich transzendentale Frage nach der Möglichkeit synthetischer Sätze a priori taucht erst in § 5 auf, und erst in § 7 ist der systematische Ort erreicht, wo Kant davon sprechen kann, es müsse "irgend eine reine Anschauung zum Grunde liegen" (Prol. 281). 840 Deshalb etwa der Rekurs auf das Verb "denken". - Auf das Ungenügen von Definitionen zu Beginn einer philosophischen Argumentation hat Kant selbst hingewiesen: KrV B 758. 841 Daß es sich bei diesen Eingangsformulierungen um eine Definition handelt, belegt ÜE 232 (ebenso, daß die Definition von der "Deduction der Möglichkeit der Erkennmiß der Dinge" durch synthetische Urteile unterschieden werden muß). Dort spricht Kant ausdrücklich von der "Definition, welche die Kritik von synthetischen Sätzen giebt" und führt - von Allison unbeachtet - wiederum die reduzierte Formel an, wonach die synthetischen Urteile Sätze sind, "deren Prädicat mehr in sich enthält, als im Begriffe des Subjects wirklich gedacht wird" (ÜE 232, Z. 18-19).
4.6. Bewertung des Streits
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tischen Urteil nicht durch Identität und trotzdem nach dem Satz vom Grund rekonstruieren zu können glaubte. 842 Sieht man einmal von dem für unsere Frage zentralen Entwicklungsgang der transzendentalen Deduktion (die bekanntlich die Resultate der transzendentalen Ästhetik aufnimmt) ab, so läßt sich allerdings feststellen, daß in Formulierungen gegen Ende der "KrV" die Rolle der Anschauung und damit die Relativierung von Denken und begrifflicher Identität bereits deutlich zum Ausdruck kommt: Wenn man von einem Begriffe synthetisch urtheilen soll, so muß man aus diesem Begriffe hinausgehen und zwar zur Anschauung, in welcher er gegeben ist. D e n n bliebe man bei dem stehen, was im Begriffe enthalten ist, so wäre das Urtheil bloß analytisch und eine Erklärung des Gedanken nach demjenigen, was wirklich in ihm enthalten ist. 843
Im Anschluß daran spricht Kant ausdrücklich von der im synthetischen Urteil dem Begriff "korrespondierenden reinen oder empirischen Anschauung" (KrV B 749). Diese Passage enthält also schon mehr als die oben zitierte Stelle aus "ÜE", deren Defizit freilich an anderen Orten der Streitschrift aufgehoben wird, wohl am nachdrücklichsten durch diese: [Synthetische Urteile sind] nicht anders möglich, als unter der Bedingung einer dem Begriffe ihres Subjects untergelegten Anschauung, welche, wenn sie Erfahrungsurtheile sind, empirisch, sind es synthetische Urtheile a priori, reine Anschauung a priori ist. 844
842 Allison: Controversy, S. 53. 843 KrV B 749. 844 ÜE 241, Z . 19-22 (vgl. dazu auch Allison: Controversy, S. 60). Die anderen Stellen aus "ÜE" sind: 234, Z. 28-30; 235, Z. 30-34; 239, Z. 21-26; 239, Z. 31 - 240, Z. 23; 242, Z. 16-19; 242, Z. 20-33; 245, Z. 10-24.
5. Die weiteren Teile der Kontroverse 5.1. Vorgeschichte 5.1.1. Eberhards frühe Kritik an Kants Raum-Zeit-Lehre 1 Wohl auf Anregung seines Freundes Moses Mendelssohn 2 hin verfaßte der damals in Berlin lebende Eberhard ein kleines Gutachten über Kants "De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis", der von ihm am 21. August 1770 öffentlich "in Auditorio maximo" vorgetragenen Abhandlung zur Übernahme seines Amts als ordentlicher Professor der Logik und Metaphysik ("Dissertatio pro Loco Professionis"). Alles deutet darauf, daß der Text einige Zeit vor dem 25. Dezember 1770 niedergeschrieben wurde, dem Tag, an dem Mendelssohn selbst - allerdings ziemlich abweichend von Eberhard - in einem Brief an Kant zu dessen Dissertation Stellung nahm. 3 Eberhard behandelt auf "zwei rechtsseitig beschriebene[n] Blätter[n] in Folio"4 nur die später in die "KrV" übertragene Zeit- und Raumlehre Kants, d. h. die Paragraphen 12 bis 15 (oder die Seiten 13 bis 22 der Originalpaginierung). Wie später im "Phil. Mag." setzt Eberhard Kants "intuitus purus" 5 mit einer sinnlich-konkreten Vorstellung von Raum, bzw. Zeit, gleich und stellt ihr eine intellektuell-abstrakte Vorstellung - also einen Begriff von Raum und Zeit im strengen Sinn - gegenüber. Im ersten Fall würden Raum und Zeit verworren und auf Phänomene (die bei Eberhard alle subjektiv sind) bezogen, im zweiten deutlich und auf Dinge an sich bezogen vorgestellt. Durch diesen Dualismus kann er einige Sätze zu begründen vorgeben. Zunächst interpretiert er Kants Theorem einer reinen Anschauung nur als verunglückten Fall der längst bekannten sinnlich-empirischen Seite der Zeit und des Raums: Denn diese von den äußern Dingen unabhängige Vorstellung der Zeit ist der Intuitus purus, welchen niemand leugnet. Aber es scheint zu rasch geschlossen, wenn man die
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Die Ausführungen beziehen sich auf einen anonymen Eberhard-Text, den, wie bereits wiederholt bemerkt worden ist, Altmann identifiziere (Alemann: Kritik, S. 331) und veröffentlicht (a.a.O., S. 332334) hat. Da Altmann die Zeilen über den gesamten Quellentext hinweg fortlaufend numeriert hat, nennen wir bei Belegen und Zitaten nur die jeweilige(n) Zeile(n). Altmann: Kritik, S. 332. Mendelssohn an Kant vom 25. Dezember 1770 (AK X, S. 113-116). Aus einem Brief von M. Hera an Kant vom 11. September 1770 geht hervor, daß Mendelssohn zu diesem Datum bereits Kants gedruckte Dissertation studiert hatte (AK X, S. 100). Altmann: Kritik, S. 332. (Blatt 1) Z. 7-8; Kant: Mundi, §§ 12, 14/3, 14/5; 25.
5.1. Vorgeschichte
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deutliche Vorstellung des Verstandes, der über seine eignen Wirkungen nachdenkt, und sich daraus eine Erklärung der Zeit abzieht, leugnen wollte. 6
Zweitens begegnet er damit Kants Vorwurf, Leibnizens Bestimmung von Zeit sei zirkulär, denn ihre Definition als "Series successivorum setze die Vorstellung eines zeitlichen "posf bereits voraus.7 Nach Eberhard wird nur der "intuitiv^.] Begriff der Zeit", 8 d. h. die sinnlich-verworrene "anschauende Erstvorstellung von der Zeit" 9 vorausgesetzt, "sie mag nun so wenig klar seyn, als sie will".10 Oer Zirkel scheint also deshalb zu verschwinden, weil die von Eberhard zugestandene Voraussetzung nicht dasselbe bedeutet wie das Resultat der Erklärung, durch das der intellektuelle und eigentliche Begriff der Zeit gewonnen sein soll. Ähnlich kann Eberhard Kant in dem Punkt verbal zustimmen, wonach selbst das Nichtwiderspruchsprinzip die Vorstellung der Zeit voraussetzt, wenngleich er damit nicht Kants reine Anschauung meint, sondern subjektiv-sinnliche Zeitempfindung: "Das principium iwtfr