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German Pages 181 Year 2014
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
Konvergenz und Divergenz Sprachvergleichende Studien zum Deutschen
Band 2 Herausgegeben von Eva Breindl und Lutz Gunkel Im Auftrag des Instituts für Deutsche Sprache Gutachterrat Ruxandra Cosma (Bukarest) Martine Dalmas (Paris) Livio Gaeta (Turin) Matthias Hüning (Berlin) Sebastian Kürschner (Nürnberg) Torsten Leuschner (Gent) Marek Nekula (Regensburg) Attila Péteri (Budapest) Christoph Schroeder (Potsdam) Björn Wiemer (Mainz)
Krisztina Molnár
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
Redaktion: Melanie Steinle
ISBN 978-3-11-034312-0 eISBN 978-3-11-034324-3 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Akademie Verlag GmbH Ein Unternehmen von De Gruyter Druck & Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt
Vorwort und Dank............................................................................................................7 1.
Einleitung: Zielsetzung, Methoden und Verfahren............................................. 9
2.
Sprachtypologie und kontrastive Linguistik. Wissenschaftsgeschichtlicher Überblick.......................................................................................................... 12
2.1
Sprachtypologie................................................................................................ 12
2.2
Kontrastive Linguistik...................................................................................... 14
2.3
Kontrastive Linguistik auf sprachtypologischer Grundlage: Forschungsgeschichte und Methoden..................................................................................... 16
3.
Substantivdetermination................................................................................... 19
3.1
Definitionsversuch............................................................................................ 19
3.2
Determinative. Abgrenzung von anderen Wortarten........................................ 22
3.3
Determinative im Deutschen und im Ungarischen........................................... 24
4.
Definitheit......................................................................................................... 28
4.1
Definiter Artikel............................................................................................... 32
4.2
Demonstrativa.................................................................................................. 44
4.3
Exkurs: Anamnestische Verwendung der Demonstrativa................................. 49
4.4
Possessiva......................................................................................................... 58
4.5
Allquantoren..................................................................................................... 61
5.
Indefinitheit...................................................................................................... 71
5.1
Indefiniter Artikel............................................................................................. 72
5.2
Nullartikel......................................................................................................... 76
5.3
Zur Optionalität des indefiniten Artikels im Ungarischen............................... 81
VI
Inhalt
5.3.1 Die Satzstruktur des Ungarischen.................................................................... 81 5.3.2 Egy in verschiedenen syntaktischen Kontexten............................................... 83 5.3.3 Fazit.................................................................................................................. 92 5.4
Existenzquantoren............................................................................................ 94
5.5
Exkurs: Die indefiniten Pendants der anamnestischen Demonstrativa............ 99
5.6
Spezifizität...................................................................................................... 104
6.
Exkurs: Die Kombinierbarkeit der Determinative......................................... 117
6.1
Die Kombinationsmöglichkeiten der Determinative...................................... 118
6.2
Kombinierbarkeit und Definitheit.................................................................. 121
6.3
Kombinierbarkeit und Wortartenzugehörigkeit.............................................. 125
7.
Generizität...................................................................................................... 128
7.1
Erscheinungsformen der Generizität.............................................................. 134
7.2
Generische Nominalphrasen........................................................................... 141
7.3
Generische Sätze............................................................................................ 154
7.4
Determinative in generischen Ausdrücken..................................................... 163
8.
Zusammenfassung und Ausblick.................................................................... 170
Korpora und Quellen.................................................................................................... 173 Literatur....................................................................................................................... 174
Vorwort und Dank
Die vorliegende Arbeit ist eine überarbeitete und in vieler Hinsicht erweiterte Fassung meiner Dissertation, die an der Universität Pécs (Ungarn) im Dezember 2005 eingereicht und im Februar 2007 verteidigt wurde. An dieser Stelle möchte ich den Personen danken, die zur Entstehung der Arbeit beigetragen haben: Frau Mária Farkas gebührt Dank dafür, dass sie mir vorgeschlagen hat, ein Doktorandenstudium zu absolvieren und dafür, dass sie meine Aufmerksamkeit auf das Thema „Substantivdetermination“ gelenkt hat. Herrn Professor Péter Bassola danke ich für die langjährige Betreuung der Arbeit. Teile der Arbeit habe ich mit unterschiedlichen Personen diskutieren können, für die wertvollen Hinweise und Ratschläge danke ich (in alphabetischer Reihenfolge) den Herren Peter Canisius, Lutz Gunkel und Frau Professor Gisela Zifonun. Nicht zuletzt möchte ich mich bei Attila Péteri für die weiterführenden Gedanken und Vorschläge bedanken, die er in seinem Gutachten zur Dissertation formuliert hat. Schließlich möchte ich den Herausgebern danken für die Aufnahme des Buches in die Reihe. Pécs, April 2013
Krisztina Molnár
1. Einleitung: Zielsetzung, Methoden und Verfahren
Das Phänomen der Substantivdetermination gehörte lange zu den weniger untersuchten Bereichen der Sprachwissenschaft, wohl weil das Verb mit seinen grammatischen Kategorien in den meisten Sprachen schon auf den ersten Blick eine Vielfalt an interessanten Phänomenen bot (wie zum Beispiel Tempora und Modi). Andererseits wurde (und wird heute noch oft) unter der Substantivdetermination lediglich der Gebrauch der Artikel verstanden. Diesen zu untersuchen galt als uninteressant. Als Begründung wird angegeben, er sei in jeder Artikelsprache (beinahe) identisch. Diese Betrachtungsweise ist zu vereinfachend und lässt vieles außer Acht. Unter den Sprachen der Welt sind diejenigen, in denen sich ein Artikel herausgebildet hat, in der Minderheit. Die Sprachen ohne Artikel sind aber auch fähig, die Determination der Substantive auszudrücken, das heißt, zu kennzeichnen, ob eine Nominalphrase als determiniert oder nicht-determiniert zu verstehen ist. Sie tun das mit Hilfe von adsubstantivisch gebrauchten Pronomina oder der Wortstellung. Auch in den Sprachen, die über Artikel verfügen, ist nicht überall die im Deutschen oder im Ungarischen „gewohnte“ Zweiteilung in definite und in indefinite Artikel vorhanden. Es gibt nämlich Sprachen, in denen es nur definite (z.B. Altgriechisch, Isländisch, Bulgarisch), und solche, in denen es nur indefinite Artikel (z.B. Persisch) gibt.1 Im Französischen und im Italienischen finden wir „zusätzlich“ den Partitivartikel. Es gibt auch Sprachen, in denen der Artikel nicht Definitheit oder Indefinitheit, sondern Spezifizität beziehungsweise Nicht-Spezifizität der Nominalphrase bezeichnet (so in einigen Niger-Kongo- und austronesischen Sprachen, wie zum Beispiel im Tagalog).2 Andererseits sind es nicht nur die „traditionellen“ Artikel, die eine Nominalphrase als definit oder indefinit markieren können. Auch adsubstantivisch gebrauchte Pronomina (Demonstrativa, Indefinita, Possessiva, Interrogativa) können die syntaktische Position der Artikel einnehmen und Definitheit/Indefinitheit kennzeichnen. Artikel und adsubstantivische Pronomina lassen sich daher zu einer Klasse, die der Determinative, zusammenfassen.3 Die Determinative bzw. die Substantivdetermination des Deutschen werden seit etwa den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts intensiver erforscht. Was die ungarische Sprache 1 2 3
Vgl. Krámský (1972: 74ff.). Vgl. Greenberg (1978: 55ff.); Givón (1978: 300). Je nach Kontext können auch Quantoren und verschiedene Typen von Attributen Definitheit markieren, von denen die ersteren oft – wie auch in dieser Arbeit – zu den Determinativen gezählt werden.
10
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
betrifft, wird dieser Bereich erst in den Grammatiken der letzten zwanzig Jahre eingehender behandelt (s. z.B. Kiefer 1992). Einen systematischen kontrastiven Vergleich der Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen gibt es bis heute nicht, auch wenn in der deutschen Grammatik von Pál Uzonyi ein stichwortartiger Vergleich des Artikelgebrauchs im Deutschen und im Ungarischen zu finden ist (Uzonyi 1996: 484ff.).4 Im Folgenden wird die Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen beschrieben. Die kontrastive Analyse erfolgt auf sprachtypologischer Grundlage, das heißt, Erkenntnisse der Sprachtypologie fungieren als Vergleichsgrundlage. Obwohl diese Herangehensweise schon im Jahre 1971 von László Dezső und William Nemser vorgeschlagen wurde (s. Abschnitt 2.3), existieren – meines Wissens – nur sehr wenige Untersuchungen dieser Art, zumindest in Bezug auf den deutsch-ungarischen Sprachvergleich.5 Der Vergleich erfolgt hier ungerichtet, beschrieben wird jedoch zuerst immer das Deutsche. Bei der Beschreibung werden in erster Linie Beispielsätze aus elektronischen Korpora herangezogen, es kommen aber auch – seltener – konstruierte Beispielsätze sowie Beispiele aus der einschlägigen Literatur vor. Für das Deutsche werden das Deutsche Referenzkorpus (DeReKo) des Mannheimer Instituts für Deutsche Sprache, für das Ungarische das Ungarische Nationalkorpus (MNSZ) verwendet. Ferner werden, wenn es notwendig erscheint, auch literarische Texte sowie Internetbelege analysiert. Die Analyse setzt bei den semantisch-pragmatischen Funktionen der Determinative an. Diese Vorgehensweise kann auf zweierlei Weisen begründet werden: 1) Trotz typologischer Verschiedenheit haben in den beiden Sprachen (wie auch in den meisten Artikelsprachen) der definite und der indefinite Artikel die gleichen Hauptfunktionen (z.B. bei Ersterwähnung wird – zumeist – der indefinite, bei Wiederaufnahme der definite Artikel gebraucht); 2) Vor allem im Deutschen gibt es Eigennamen mit definitem Artikel, bei denen dieser keine Identifizierungsfunktion ausübt, sondern Bestandteil des Namens ist (z.B. die Schweiz). So sind m.E. von einer Analyse, die bei den semantisch-pragmatischen Funktionen der Determinative ansetzt, genauere Ergebnisse bzw. Einsichten in das Funktionieren der Einzelsprachen zu erwarten als von einer reinen Strukturanalyse. Die Untersuchung erfolgt synchron, eine diachrone Perspektive wird nur in den Fällen berücksichtigt, in denen die sprachgeschichtliche Entwicklung den heutigen Sprachgebrauch beeinflusst. Auf eine detaillierte diachrone Untersuchung des Gebrauchs der Determinative muss an dieser Stelle leider aus Platzgründen verzichtet werden. Im Folgenden wird zuerst ein kurzer wissenschaftsgeschichtlicher Überblick über die Sprachtypologie und die kontrastive Linguistik bzw. deren Verbindbarkeit gegeben. Dar4
5
In den letzten Jahren wird die Substantivdetermination mit zunehmendem Interesse erforscht, es sind Sammelbände erschienen, in denen dieser Bereich aus unterschiedlichen Perspektiven dargestellt wird (vgl. z.B. Giannakidou/Rathert (Hgg.) 2009; Müller/Klinge (Hgg.) 2008; Stark/Leiss/Abraham (Hgg.) 2007). Diesem Ansatz ist auch das Projekt „Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich“ am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim verpflichtet, in dem sprachvergleichend auf typologischer Grundlage gearbeitet wird (s. Abschnitt 2.3).
Einleitung
11
auf folgt ein Kapitel über die Substantivdetermination, in dem der Begriff Substantivdetermination zu klären sein wird. Hier wird auch auf die Problematik der Abgrenzung der Determinative von anderen Wortklassen eingegangen. Den eigentlichen Hauptteil der Arbeit bildet die kontrastive Analyse der Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen, die in den Kapiteln 4-7 durchgeführt wird. In den ersten zwei Kapiteln (4 und 5) werden die Ausdrucksmöglichkeiten für Definitheit und Indefinitheit in den beiden Sprachen untersucht, wobei die Gebrauchsweisen der einzelnen Determinative analysiert werden. Es wird auch den Bereichen eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt, die in der Literatur nicht oder nur am Rande erwähnt werden, wie zum Beispiel der so genannte anamnestische Gebrauch der Demonstrativa, die Konkurrenz zwischen dem indefiniten und dem Nullartikel, wie sie insbesondere für das Ungarische charakteristisch ist, oder die Unterscheidung zwischen spezifischen und nicht-spezifischen indefiniten Nominalphrasen. Kapitel 6 ist ein Exkurs über die Kombinationsmöglichkeiten der Determinative, wobei vor allem der Frage nachgegangen wird, ob und inwieweit die Kombination der Determinative den Determinationsgrad beziehungsweise die Wortartenzugehörigkeit beeinflusst. Kapitel 7 behandelt die generischen Verwendungen von Artikeln. Abschließend werden die Ergebnisse der Analyse zusammengefasst und Vorschläge für weitere Untersuchungen formuliert.
2. Sprachtypologie und kontrastive Linguistik. Wissenschaftsgeschichtlicher Überblick
Sowohl die Sprachtypologie als auch die kontrastive Linguistik werden heute allgemein als Teilbereiche der vergleichenden Sprachwissenschaft betrachtet. Beide Disziplinen vergleichen Sprachen aus unterschiedlichen Perspektiven, daher wird zwischen ihnen meist kein direkter Zusammenhang gesehen. Sie lassen sich aber durchaus miteinander verbinden, so dass man die Vorteile der beiden Betrachtungsweisen nutzen kann. Im Folgenden werden zuerst die Geschichte und die Methoden der Sprachtypologie, dann die der kontrastiven Linguistik kurz umrissen. In einem dritten Unterkapitel werden dann die Vorteile beschrieben, die aus der Kombination der beiden Disziplinen resultieren können. Darüber hinaus wird auf die in der vorliegenden Arbeit verwendete Methode eingegangen.
2.1 Sprachtypologie6 Die Sprachtypologie als ein Teilbereich der vergleichenden Sprachwissenschaft beschäftigt sich mit dem Vergleich von Sprachen unter systematischem Gesichtspunkt. Genealogische und regionale Aspekte werden dabei grundsätzlich außer Acht gelassen – auch wenn sich seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die genealogische und die Arealtypologie etabliert haben. In ihren Anfängen hat sich die Sprachtypologie vor allem mit der Klassifizierung von Sprachen beschäftigt. Diese so genannte generalisierende Typologie klassifiziert die Sprachen nach der Ähnlichkeit beziehungsweise Unähnlichkeit des Sprachbaus. Sie entstand im 19. Jahrhundert mit der Arbeit von Friedrich Schlegel („Über die Sprache und Weisheit der Indier“ 1808), in dem er die Sprachen in flektierende und in agglutinierende Sprachen eingeteilt hat.7 Diese Einteilung wurde 1818 von August Wilhelm Schlegel um einen dritten Typ der isolierenden Sprachen und dann durch Wilhelm von Humboldt 1836 um den vierten, den der inkorporierenden Sprachen ergänzt. Auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden noch neue Typologien vorgeschlagen, die 6
7
Vgl. u.a. Althaus/Henne/Wiegand ((Hgg.) 1980: 636f.); Croft (1990: 1-43); Ineichen (1991); Roelcke (1997: 11ff.); Zifonun: Vorlesung „Sprachtypologie und Sprachvergleich“ (www.ids-mannheim.de/ gra/texte/zif4.htm). Er benutzt allerdings diese Termini noch nicht. Die zwei Sprachtypen heißen bei ihm „Sprachen durch Flexion“ bzw. „Sprachen durch Affixa“ (Schlegel 1808: 44ff.).
Sprachtypologie und kontrastive Linguistik
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in der Humboldtschen Tradition standen. So wurde die Klassifizierung der Sprachen von Vladimir Skalička um einen fünften Typ, den der introflexiven Sprachen, ergänzt.8 Ein weiteres wichtiges Forschungsanliegen der generalisierenden Typologie war und ist die Universalienforschung, deren berühmtester Vertreter Joseph Greenberg war, der als der Begründer der eigentlichen modernen Typologieforschung angesehen werden kann. Diese Art von Sprachtypologie versucht, eine größere Anzahl von Sprachen hinsichtlich weniger oder nur eines Parameters zu untersuchen. Anhand der Ergebnisse dieser Untersuchungen wollte/will man universelle Eigenschaften der Sprachen feststellen, bzw. Zusammenhänge zwischen einzelnen sprachlichen Phänomenen finden, die in Form von so genannten implikativen Universalien formuliert werden. Diese generalisierende Sprachtypologie kann als Teil der Sprachtheorie beziehungsweise als eine Disziplin der allgemeinen Sprachwissenschaft angesehen werden. Mit den Arbeiten der Sprachwissenschaftler der Prager Schule entstand ein zweiter Ansatz der Sprachtypologie, die so genannte charakterologische Typologie, die eng mit dem Namen von Vilém Mathesius verknüpft ist. (Auch der Terminus „Typologie“ selbst wird zum ersten Mal von den Prager Linguisten verwendet.) Ziel der charakterologischen Typologie ist es, den Bau einer einzelnen Sprache mit Hilfe typologischer Kriterien zu beschreiben (Althaus/Henne/Wiegand (Hgg.) 1980: 636). Was die in dieser Arbeit untersuchten Sprachen anbelangt, liegen bisher nur wenige typologische Arbeiten vor. Das Ungarische wurde von Vladimir Skalička schon 1935 beschrieben9, neuere Arbeiten, die diesem Ansatz vepflichtet sind, sind mir nicht bekannt.10 Für das Deutsche liegen – meines Wissens – bislang zwei (allerdings neuere) Arbeiten vor: die Monographie von Thorsten Roelcke „Sprachtypologie des Deutschen“ (1997), in dem der Autor eine vollständige sprachtypologische Beschreibung des Deutschen anstrebt, und der Sammelband „Deutsch – typologisch“ (Lang/Zifonun (Hgg.) 1996). Ein neuerer Ansatz der Sprachtypologie ist der funktional-typologische Ansatz. Er ist 8
9
10
Zwar kann mit 1808, dem Erscheinungsjahr des Buches von Friedrich Schlegel; ein ziemlich genauer Zeitpunkt für die Geburt der Sprachtypologie angegeben werden, doch gab es bereits Vorläufer im 17. und im 18. Jahrhundert. Unter ihnen sollen der Name des Philosophen John Locke und der des Abbé Gabriel Girard genannt werden. Der wichtigste Wegbereiter war aber der Engländer Adam Smith, der eher als Moralphilosoph und Gründer der Volkswirtschaftslehre bekannt ist. In seiner im Jahre 1761 erschienenen Arbeit „Dissertation on the origin of language“ hat er bereits zwei Sprachtypen unterschieden (vgl. Zifonun: Vorlesung „Sprachtypologie und Sprachvergleich“, www.idsmannheim.de/gra/texte/zif4.htm). „Zur ungarischen Grammatik“: Diese Arbeit liefert keine vollständige sprachtypologische Beschreibung der Grammatik des Ungarischen, sondern versucht, mit den Methoden des Strukturalismus sowie der Sprachtypologie, einen „Umriss des ungarischen Sprachbaus“ (Skalička 1979: 91) zu geben. Skalička unternimmt eine sprachtypologische Charakterisierung des Ungarischen im Vergleich mit dem Finnischen, Tschechischen und Türkischen. Das Ungarische ist in dieser Hinsicht vor allem deshalb interessant, weil es zwar eine agglutinierende finnougrische Sprache ist, aber auch typische indoeuropäische Eigenschaften aufweist. Eine von diesen Eigenschaften ist die Herausbildung des Artikels, die für einige Gruppen der indoeuropäischen Sprachen (germanische, romanische Sprachen) typisch, für die finnougrischen Sprachen aber untypisch ist (s. hierzu auch Becker 1948a, 1948b; Lewy 1964).
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
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aufgrund der Erkenntnis entstanden, dass es oft unmöglich ist, bei einem Vergleich von Sprachen ein strukturelles Merkmal als Tertium Comparationis auszuwählen. Croft begründet die Notwendigkeit dieses Ansatzes folgendermaßen:
The essential problem is that languages vary in their structure to a great extent; indeed, that is what typology (and more generally, linguistics) aims to study and explain. But the variation in structure makes it difficult if not impossible to use structural criteria, or only structural criteria, to identify grammatical categories across languages. Although there is some similarity in structure („formal“ properties) that may be used for cross-linguistic identification of categories, the ultimate solution is a semantic one, or to put it more generally, a functional solution. (Croft 1990: 11)
Der vorliegenden Untersuchung wird der funktional-typologische Ansatz zugrundegelegt.
2.2 Kontrastive Linguistik Die kontrastive Analyse von zwei (seltener: mehr) Sprachen wurde ins Leben gerufen, um die Unterschiede zwischen den einzelnen Sprachen herauszustellen. Diese Zielsetzung ist auch in den Bestimmungen der kontrastiven Linguistik zentral. Hier sei die Definition von Kurt Rein zitiert: Die kontrastive Linguistik ist
eine vergleichende sprachwissenschaftliche Beschreibungs- und Analysemethode, bei deren möglichst detaillierten ‘Vergleichen’ das Hauptinteresse nicht auf den Gemeinsamkeiten, sondern auf den Abweichungen oder ‘Kontrasten’ zwischen den beiden – oder mehreren – verglichenen Sprachsystemen beziehungsweise Subsystemen liegt. (Rein 1983: 1)
Anfänge der kontrastiven Linguistik sind schon im 19. Jahrhundert mit der Arbeit von Charles H. Grandgut „German and English Sounds“ aus dem Jahre 1892 bzw. mit der von Wilhelm Viëtor „Elemente der Phonetik des Deutschen, Englischen und Französischen“ zu finden. Von den Linguisten der Prager Schule hat Vilém Mathesius 1926 eine vergleichende Analyse des Englischen und Tschechischen vorgelegt. Im Jahre 1933 erschien das Buch von Yuen Ren Chao „A Preliminary Study of English Intonation (with American Variants) and Its Chinese Equivalents“. Den Durchbruch brachte 1953 das Buch von Uriel Weinreich „Languages in Contact“, das allgemein als Beginn der Sprachkontaktforschung betrachtet wird. Mit diesem Buch wurde der Begriff Interferenz in die Sprachwissenschaft eingeführt. Die Grundlagen der kontrastiven Linguistik wurden neben dem Buch von Weinreich auch mit dem Artikel von Zellig Harris „Transfer Grammar“ (1954) und dem Buch von Robert Lado „Linguistics across Cultures“ (1957) gelegt.11 Die kontrastive Linguistik als selbstständige Wissenschaft entstand auf der Basis der erwähnten Arbeiten in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Das Hauptanliegen der kontrastiven Linguistik war es, eine bessere Grundlage für den Fremdsprachenunterricht zu 11
Vgl. Di Pietro (1977: Kap. 1).
Sprachtypologie und kontrastive Linguistik
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schaffen. So beinhalteten die kontrastiven Forschungen einen systematischen Vergleich der Muttersprache und der zu erlernenden Fremdsprache. Bei diesen Vergleichen wurde von der Annahme ausgegangen, dass die Fremdsprache auf der Basis der Muttersprache erlernt werde, das heißt, Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Sprachen würden das Erlernen erleichtern, während Unterschiede es erschwerten.12 Nicht nur diese Annahme erwies sich als unhaltbar; Kritiker haben unter anderem bemängelt, dass bei den Analysen die Ähnlichkeiten nicht erforscht wurden bzw., dass nicht einmal die Interferenzfehler, die ohnehin nur einen möglichen Fehlertyp darstellen, vorherzusagen sind. Aus diesem Grund wurde die Idee der kontrastiven Linguisten, Interferenzfehlern vorzubeugen, nicht verwirklicht.13 Dieser teilweise Misserfolg führte zu dem Vorschlag, die kontrastive Linguistik aus ihrem engen Bezug auf den Fremdsprachenunterricht zu lösen. Auf diese Weise hat sich, als selbstständige Disziplin, die angewandte kontrastive Linguistik etabliert, die zum Teil die ursprüngliche sprachlich-didaktische Zielsetzung beibehalten und den Fremdsprachenunterricht in den Mittelpunkt der Forschung gesetzt hat, zum Teil aber Forschungen auf dem Gebiet der Soziolinguistik (z.B. Dialekt/Hochsprache kontrastiv)14 und der Übersetzungswissenschaft (Übersetzungsvergleich, maschinelle Übersetzung) betreibt. Die andere Teildisziplin, die theoretische kontrastive Linguistik ist demgegenüber an sprachwissenschaftlicher Grundlagenforschung interessiert und liefert Beiträge unter anderem zur allgemeinen Sprachtheorie, zur Theorie der kontrastiven Linguistik, zur Grammatik der Einzelsprachen und zur Universalienforschung.15 Das Ziel der kontrastiven Linguistik ist nach neueren Ansätzen „ein umfassender Vergleich zweier Sprachen“, der „grundsätzlich nicht gerichtet ist“ (König 1996: 32). Das bedeutet, dass die beiden Sprachen gleichgewichtig behandelt werden. Diese Ungerichtetheit wird aber meistens nicht verwirklicht, auch bei Arbeiten nicht, die angeblich dieser Zielsetzung folgen. So gibt es in den kontrastiven Arbeiten meistens doch eine Ausgangs- und eine Zielsprache.16 Auf den Fremdsprachenunterricht bezogen und somit auch zielgerichtet sind auch die meisten kontrastiven Arbeiten, in denen das Deutsche und das Ungarische verglichen wurden. Die Blütezeit erlebte die deutsch-ungarische kontrastive Linguistik in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als unter der Leitung von János Juhász eine Forschungsgruppe gegründet wurde, die die beiden Sprachen unter zahlreichen Aspekten untersucht hat.17 Die (ersten) Ergebnisse dieser Forschungen wurden 1980 in einem Sam12 13 14
15 16 17
Vgl. James (1972, 1980); Juhász (1970: 9ff.). Vgl. Kortmann (1998: 137f.). Zwischen 1976 und 1981 sind acht Hefte in der Reihe „Dialekt/Hochsprache kontrastiv. Sprachhefte für den Deutschunterricht“ erschienen. Vgl. Kühlwein (1990: 14); Szépe (1980: 10f.). Z.B. Engel et al. (1999). Um diese Zeit gab es andere Forschungsgruppen, die sich zum Ziel gesetzt haben, das Ungarische mit anderen Sprachen zu vergleichen. Von diesen möchte ich nur die ungarisch-englischen kontrastiven Forschungen erwähnen, da innerhalb dieses Projekts mit Stephanides (1974) auch ein Vergleich der Artikelverwendung in den beiden Sprachen vorliegt. Im Jahre 1971 hat in Pécs auch eine Konferenz für kontrastive Linguistik stattgefunden.
16
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
melband unter dem Titel „Kontrastive Studien Deutsch-Ungarisch“ veröffentlicht (Juhász (Hg.) 1980). Seit der Auflösung dieser Gruppe konzentrieren sich die Arbeiten auf einzelne Teilgebiete der Grammatik. So wird in einer Forschungsgruppe unter der Leitung von Regina Hessky an einem Projekt „zweisprachige Lexikographie“ gearbeitet, während ein anderes Team, geleitet von Péter Bassola, die Substantivvalenz im deutsch-ungarischen Sprachvergleich untersucht. Bei beiden Gruppen liegen schon erste Ergebnisse vor.18 Außer den erwähnten gibt es noch zahlreiche kontrastive Arbeiten im Bereich der Phraseologie.19 Im Bereich der Grammatik (Morphologie, Syntax) sind mir keine umfassenderen Darstellungen bekannt. Von den neueren Arbeiten möchte ich die Dissertation von Attila Péteri über Abtönungspartikeln und die Monographie von Tibor Szűcs erwähnen, die eine umfassende, eher theoretisch angelegte Darstellung des Deutschen und des Ungarischen aus der Sicht des Ungarischen als Fremdsprache ist.20
2.3 Kontrastive Linguistik auf sprachtypologischer Grundlage: Forschungsgeschichte und Methoden Die Idee, Sprachtypologie und kontrastive Linguistik miteinander zu kombinieren, ist keineswegs neu. Schon im Jahre 1971 haben László Dezső und William Nemser in ihrem Vortrag auf der Konferenz für kontrastive Linguistik in Pécs dafür plädiert, Sprachtypologie und kontrastive Linguistik miteinander zu verbinden. Sie argumentieren folgendermaßen:
It is the task of typology to examine the typological rules governing specific language types, and the universal principles valid for all languages. Research on rules specific to individual languages, on the contrary, belongs to descriptive linguistics. Since such typological rules and universal principles operate in every language, they provide an optimal starting-point for ascertaining both the common characteristics of languages and their contrasting features. The system of principles and typological rules forms a network which unites individual languages while at the same time revealing their typological characteristics. Such rules provide the common basis which alone permits the contrastive analysis of languages, while at the same time allowing for individual variation among these languages. (Dezső/Nemser 1973: 3)
Dezső und Nemser vertreten die Meinung, dass die Ergebnisse solcher Untersuchungen in erster Linie im Fremdsprachenunterricht anzuwenden sind. Sie plädieren dafür, im Fremdsprachenunterricht nach Möglichkeit mit der Vermittlung sprachtypologisch gemeinsamer Strukturen zu beginnen und dass der Erwerb der Strukturen, die von denen der Ausgangssprache abweichen, auf der Grundlage der gemeinsamen Strukturen erfol18 19 20
Bassola ((Hg.) 2003); Hessky (1996). Z.B. Földes (1996); Hessky (1987). Vgl. Péteri (2002); Szűcs (1999). Péteri (2002: 33) sieht die von ihm verwendete konfrontative Methode als einen ersten Schritt zu einem typologischen Sprachvergleich. Seit dem Einreichen meiner Dissertation (2005) sind weitere sprachtypologisch fundierte kontrastive Analysen entstanden, so z.B. Beczner et al. (2009).
Sprachtypologie und kontrastive Linguistik
17
gen sollte. Dies veranschaulichen sie am Beispiel der Wortstellung bei unterschiedlichen Sprachen. Zumindest bei den ungarischen Germanisten hat dieser Vorschlag wenig Resonanz erhalten;21 erst in den letzten Jahren sind deutsch-ungarische kontrastive Arbeiten entstanden, die explizit eine sprachtypologische Grundlage haben (s. Fußnote 20). Demgegenüber wurde in Deutschland in den letzten 15-20 Jahren die Rolle der Sprachtypologie für kontrastive Untersuchungen erkannt und mit zunehmendem Interesse erforscht. Mit Griesbach (1986) liegt ein Versuch einer typologisch orientierten Referenzgrammatik des Deutschen vor. Auch Abraham (1995) fordert eine „typologische DaF-Methode“. Er zeigt, dass typologische Kenntnisse über Ausgangs- und Zielsprache sowohl beim Verstehen als auch bei der Korrektur von Interferenzfehlern eine entscheidende Hilfe leisten können.22 Was die Methode bei solchen Vergleichen angeht, fungiert hier die Sprachtypologie als Vergleichsgrundlage. Die schon ausgearbeiteten typologischen Merkmale „bilden ein Raster grammatischer Optionen, das die Struktur der Sprache über verschiedene Ebenen hinweg bestimmt“ (Lang 1996: 8). Dieses typologische Raster bildet einen geeigneten Rahmen für kontrastive Studien. Die auf diese Weise gewonnenen Ergebnisse können einerseits neue Informationen über die Einzelsprachen liefern, andererseits auch für den DaF-Unterricht von Nutzen sein. Die Rolle der Sprachtypologie darf auch bei solchen Vergleichen nicht verkannt werden:
Typologie ist nicht einfach ein Schüttelsieb mit unterschiedlichen Durchlaßöffnungen, sondern eine ständige Bemühung um Strukturvergleiche auf einer zweiten Stufe, nämlich um die Sortierung von Übereinstimmungen und Differenzen, die man in der Strukturbildung der verglichenen Sprachen, also auf der ersten Stufe, ausfindig gemacht hat. (Lang 1996: 11)
Dieser Weg wurde von einem Forschungsteam im Mannheimer Institut für Deutsche Sprache eingeschlagen, wo an einem Projekt „Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich“ gearbeitet wird. Im Rahmen dieses Projekts wird das Deutsche auf sprachtypologischer Grundlage mit vier europäischen Sprachen, darunter auch mit dem Ungarischen, konfrontiert.23 Im Folgenden werde ich mich an der von der Mannheimer Forschungsgruppe angewendeten Methode orientieren. Da es in der vorliegenden Arbeit um einen Vergleich von nur zwei Sprachen geht, musste die Methode modifiziert werden. So wird im nächsten Kapitel das Phänomen der Substantivdetermination beschrieben, und zwar aus funktional-typologischer Sicht. Dabei werden die Möglichkeiten dargestellt, wie die Substantivdetermination in verschiedenen Sprachen ausgedrückt werden kann. In einem zweiten Unterkapitel wird die Wortklasse der Determinative im Deutschen und im Ungarischen 21 22
23
So auch 30 Jahre nach Dezső/Nemser: Sőrés (2001). Vgl.: Zifonun: Vorlesung „Sprachtypologie und Sprachvergleich“ (www.ids-mannheim.de/gra/texte/ zif4.htm). Näheres unter: „Neue Wege in der vergleichenden Grammatikschreibung“ (www.ids-mannheim.de/ gra/personal/texte/zif2.pdf), sowie unter „Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich“ (www.ids-mannheim.de/gra/personal/texte/zif1.pdf).
18
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
von anderen Wortarten abgegrenzt. Es werden auch die Parameter isoliert, nach denen sich dieses Phänomen in unseren Vergleichssprachen untersuchen lässt. In den darauffolgenden Kapiteln wird dann die Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen nach diesen Parametern beschrieben und miteinander kontrastiert. Zum Schluss werden die Ergebnisse der Analyse zusammengefasst.
3. Substantivdetermination
In diesem Kapitel wird der Versuch unternommen, eine brauchbare (Arbeits-)Definition des Phänomens der Substantivdetermination zu finden, die als Grundlage für die spätere Analyse dienen kann. Es wird ferner die Forschungsgeschichte dieses Phänomens skizziert. In einem weiteren Unterkapitel wird eine (mögliche) Abgrenzung der Determinative von anderen Wortarten im Deutschen und im Ungarischen vorgenommen. Diese Abgrenzung wird nach Möglichkeit auf übereinzelsprachlichen Kriterien basieren.
3.1 Definitionsversuch Einige Sprachwissenschaftler (wie z.B. Croft 1990; Vater 1991) sind der Auffassung, dass die Substantivdetermination (oder Nominaldetermination) ein universales Phänomen ist. Demgegenüber gibt es auch Sprachwissenschaftler, die die Determination als die Kategorie der Determinative/Artikel ansehen (z.B. Lyons 1999; Uzonyi 1996). Bei dieser Betrachtungsweise bleibt die Tatsache unberücksichtigt, dass unter den Sprachen der Welt die Artikelsprachen in der Minderheit sind, und dass auch die Sprachen ohne Artikel Determination ausdrücken können. Der Terminus ‘Determination’ bedeutet ‘Bestimmung’, ‘Festlegung’. Es stellt sich die Frage, was (welche Spracheinheit) wodurch (durch welche andere) und wie (grammatisch, semantisch, pragmatisch oder anders) bestimmt wird. Darüber hinaus sollten die Fragen beantwortet werden, ob es für dieses Phänomen außersprachliche Bedingungen gibt und welche diese Bedingungen sind bzw. welche Arten der Determination es gibt. In der einschlägigen Literatur sind zahlreiche Definitionsvorschläge zur Substantivdetermination zu finden. Es liegt wohl an der Komplexität des Phänomens, dass bis jetzt keine Definition vorliegt, anhand deren man die Substantivdetermination in ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen untersuchen könnte. Einige Definitionen sind zu allgemein, als dass man sie als Ausgangspunkt für eine Untersuchung verwenden könnte, andere dagegen sind so spezifisch, dass man sie nicht oder nur sehr begrenzt sprachübergreifend gebrauchen kann. Im Folgenden werden einige von diesen Definitionen zitiert und auf ihre Verwendbarkeit hin geprüft.
20
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
Eine in der deutschsprachigen Literatur vielzitierte Definition der Substantivdetermination, die ich hier anführen möchte, stammt von Eugenio Coseriu:
Dem Bereich der ‘Determinierung’ entsprechen alle jene Operationen, die in der Sprache als Tätigkeit erfolgen, um etwas über etwas mit den Zeichen der Sprache zu sagen, d.h. um ein ‘virtuelles’ Zeichen (als Teil der ‘Sprache’) zu ‘aktualisieren’ und auf die konkrete Wirklichkeit zu lenken, bzw. um den Bezug eines (virtuellen oder aktuellen) Zeichens zu begrenzen, zu präzisieren und zu orientieren. (Coseriu 1975: 260)
Diese etwas allgemeine Definition wird später präzisiert, indem Coseriu vier Arten der nominalen Determination unterscheidet, nämlich Aktualisierung, Diskrimination, Delimitierung und Identifizierung (Coseriu 1975: 260). Einige der späteren Definitionsversuche sind auf der Grundlage von Coserius Definition entstanden. So ist zum Beispiel für Zhou die Determination „ein Verfahren, das aus der Langue-Bedeutung der Wörter eine Parole-Bedeutung macht und somit notwendig für jeglichen Sprachgebrauch ist“ (Zhou 1985: 14). Er definiert die Determination als eine syntaktisch-semantische Relation, „in der eine Spracheinheit eine andere voraussetzt und näher bestimmt“ (ebd.: 20). Diese Auffassung lässt die artikellosen Sprachen, welche die Mehrheit der Sprachen der Welt bilden, unberücksichtigt bzw. berücksichtigt sie nur insofern, als es auch in diesen Sprachen Determinative wie zum Beispiel Demonstrativa geben kann. Oomen (1977) zitiert die Definition des „Handbuchs der Linguistik“, nach der die Determination eine „grammatische Bestimmung eines Wortes oder eines Morphems durch ein anderes“ ist (Stammerjohann (Hg.) 1975: 84, zitiert in Oomen 1977: 7) und fügt hinzu, dass „Determination durch semantische Züge zustandekommt“ (Oomen 1977: 7f.). Die Autorin beschreibt die Determination im Deutschen auf semantischer Grundlage, setzt sich aber mit der von ihr zitierten Definition nicht auseinander. Unklar ist m.E., was unter „grammatischer Bestimmung“ zu verstehen ist. So werden u.U. nämlich nicht nur die artikellosen Sprachen aus dem Bereich der Determination ausgeschlossen, sondern auch diejenigen, in denen es keine Genera und/oder Adjektivdeklination gibt. Nach dieser Definition könnte man zum Beispiel weder im Englischen noch im Ungarischen die Substantivdetermination untersuchen, da in diesen Sprachen die Artikel keinerlei morphosyntaktische Informationen liefern.24 Dagegen scheint mir die Definition von Heinz Vater (1991: 15) insofern besser zu sein, als sie verschiedene Gesichtspunkte kombiniert. Für Vater bedeutet Determination in erster Linie Markierung der grammatischen Kategorien des Substantivs (AGR-Markierung), die entweder am Determinativ oder am Substantiv ausgedrückt werden oder morphologisch ganz unmarkiert bleiben können. Zweitens bedeute Determination die Markierung von Definitheit. Unklar ist nur, warum die AGR-Markierung ein Bestandteil der Definition bleiben soll25 – wenn nicht aufgrund der linguistischen Tradition –, wenn sie auch unmarkiert sein 24
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Hier sind nur die „traditionellen“ definiten und indefiniten Artikel gemeint, die in den erwähnten Sprachen weder ihre Form verändern, noch Einfluss auf die Adjektivdeklination ausüben, da die attributiv gebrauchten Adjektive sowohl im Englischen als auch im Ungarischen unflektiert sind. Vater betrachtet die AGR-Markierung auch in späteren Arbeiten als die primäre Eigenschaft der Determinative (Vater 1993: 70).
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kann, wie es in vielen Sprachen auch der Fall ist (s. Fußnote 24). Viel wichtiger ist aber, dass laut dieser Definition nur die Definitheit als eine Art der Determination erscheint, die Indefinitheit und die Generizität werden außer Acht gelassen. (Indefinite Ausdrücke werden als Numeralphrasen analysiert, generische Ausdrücke werden nicht erwähnt.) Dazu kommt, dass die Unterscheidung zwischen Definitheit und Indefinitheit keineswegs eine universale Eigenschaft der Sprachen ist, da es durchaus Sprachen gibt, in denen mit Hilfe von Artikeln zwischen Spezifizität und Nicht-Spezifizität unterschieden wird (s. Kapitel 1). Schließlich gibt es Sprachwissenschaftler, die – auch wenn sie von Determinationsforschern oft zitiert werden – nicht die Substantivdetermination als Ganzes, sondern „nur“ die Definitheit beziehungsweise Indefinitheit beschreiben. Unter ihnen ist zuerst Jiři Krámský zu erwähnen, der in seinem Buch „The Article and the Concept of Definiteness in Language“ eine sprachtypologisch fundierte Analyse der Artikel in den Sprachen der Welt gibt. (Die artikellosen Sprachen sind inbegriffen.) Diese Arbeit ist 1972 erschienen und gibt einen sehr guten Überblick über das Phänomen. Eine neuere Arbeit zu diesem Thema lässt noch auf sich warten. Ein zweites Standardwerk ist die im Jahre 1978 erschienene Monographie von John A. Hawkins „Definiteness and Indefiniteness“. Die meisten Feststellungen von Hawkins sind heute noch haltbar. Da aber bei der Analyse nur die englische Sprache berücksichtigt wurde, darf man nicht verallgemeinern und die Behauptungen unreflektiert in andere Sprachen übertragen (vgl. u.a. Himmelmann 1997: 35ff.). Nach dem Überblick über einige frühere Definitionen wird im Folgenden eine (Arbeits-)Definition der Substantivdetermination gegeben, welche die Grundlage der späteren Analyse bilden soll. Demnach wird hier die Determination als eine universale funktionale Kategorie verstanden, die primär semantisch-pragmatische Züge trägt. Es gibt zwei Haupttypen von Determination: die partikuläre und die generische Determination. Wenn partikuläre Determination vorliegt, wird auf einzelne Vertreter einer Gattung referiert, während im Fall von generischer Determination eine ganze Gattung bezeichnet wird. Bei den hier untersuchten Sprachen kann die partikuläre Determination in zwei Untergruppen geteilt werden, in definite und in indefinite Determination. Im Folgenden wird die Substantivdetermination nach den Parametern Definitheit, Indefinitheit und Generizität beschrieben. Die Substantivdetermination kann in verschiedenen Sprachen auf unterschiedliche Weisen ausgedrückt werden bzw. auch eine einzelne Sprache kann unterschiedliche Ausdrucksmöglichkeiten der Substantivdetermination besitzen. Zu diesen Ausdrucksmitteln gehören in erster Linie die Determinative, deren Abgrenzung von den anderen Wortklassen die Aufgabe des nächsten Unterkapitels sein wird, dann die verschiedenen Arten der Attribute (auch in Form von Relativsätzen) und die Wortstellung, deren Rolle bei der Substantivdetermination in den artikellosen Sprachen am bedeutendsten ist. In die Analyse der folgenden Kapitel werden nur die Determinative einbezogen. Andere Möglichkeiten zur Nominaldetermination werden nur insofern berücksichtigt, als sie Einfluss auf den Gebrauch der Determinative ausüben.
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Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
3.2 Determinative. Abgrenzung von anderen Wortarten Bevor ich über die Abgrenzung der Determinative von anderen Wortklassen bzw. über die Zuordnung der einzelnen Elemente zu dieser Kategorie spreche, muss eine terminologische Frage geklärt werden, nämlich die der Benennung dieser Kategorie. Ich habe bis jetzt den Terminus „Determinativ“ benutzt und werde das auch im Weiteren tun. In der Literatur sind aber auch verschiedene andere Termini zu finden. Der älteste unter ihnen ist der Terminus „Artikel“, worunter nur der definite und der indefinite Artikel verstanden wurden (vgl. z.B. Krámský 1972). Später wurde diese Kategorie ausgedehnt, zuerst nur auf den Nullartikel, dann aber auch auf Elemente, die traditionell zu der Kategorie der Pronomina gerechnet wurden, die aber in der gleichen syntaktischen Position wie die Artikel stehen können. Der Terminus „Artikel“ war aber nicht mehr geeignet, um diese erweiterte Kategorie zu bezeichnen. Aus diesem Grund sind neue Termini entstanden, von denen einige nur als Notlösungen angesehen werden können. Manche Autoren haben den Terminus „Artikel“ beibehalten und die Wortklasse zweigeteilt in „Artikel im engeren Sinne“ und in „Artikel im weiteren Sinne“ (Duden 1995; Schreiber 1999) oder in „einfache“ und „spezifische“ Artikel (Weinrich 1993), wobei in die jeweils erste Gruppe die „traditionellen“ definiten und indefiniten Artikel (in der Duden-Grammatik auch der Nullartikel), in die zweite die adsubstantivisch gebrauchten Pronomina bzw. bei Weinrich auch die Quantoren eingeordnet werden. Was die Duden-Grammatik betrifft, ist die erwähnte Klassifizierung ein Fortschritt im Vergleich zu der in der 4. Ausgabe von 1984, in der die Artikel und die Pronomina einer gemeinsamen Klasse der „Begleiter und Stellvertreter des Substantivs“ zugeordnet werden. Als Lösung dieses terminologischen Problems wurden verschiedene Termini angeboten. Zhou (1985) benutzt zum Beispiel den Ausdruck „Artikelformen“ als Bezeichnung für diese Klasse. Dieser Begriff ist insofern irreführend, als man dabei auch an die verschiedenen Deklinationsformen des Artikels denken kann. Weniger verwirrend, aber m.E. auf den ersten Blick genauso unklar ist der Terminus „Artikelwort“, der unter anderen in Grimm (1970), Helbig/Buscha (1991) und Duden (2009)26 verwendet wird. In der generativen Grammatik wird ein weiterer Terminus gebraucht: Determinativ (/Determinans/Determinator). Dieser impliziert, dass die Kategorie neben den Artikeln auch andere Elemente umfasst.27 Was die Grammatikschreibung des Ungarischen anbelangt, taucht hier der Terminus „Determinativ“ (= determináns) erst mit den generativ orientierten Grammatiken wie zum Beispiel der von Kiefer (1992) oder von É. Kiss/Kiefer/Siptár (1999) auf; in den älteren Grammatiken (und sogar in einigen neueren, wie Forgács 2001) werden nur der definite und der indefinite Artikel behandelt. Im Weiteren werde auch ich den Ausdruck 26
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Genauer gibt es in der neuesten Auflage der Duden-Grammatik (2009) die Wortklasse „Artikelwörter und Pronomen“, womit zu der Einteilung der Ausgabe von 1984 zurückgekehrt wird. Die Wortklasseneinteilung in der Ausgabe von 2009 wird mit gemeinsamen morphologischen Eigenschaften begründet. Siehe auch Thieroff (2000: 141ff.) zur Geschichte dieser Wortklasse bzw. Kolde (1996: 45ff.) zur Forschungsgeschichte.
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„Determinativ“ gebrauchen, der unter den neueren Bezeichnungen die am häufigsten verwendete ist. Unabhängig von solchen terminologischen Problemen muss noch geklärt werden, was überhaupt ein Determinativ ist. Wenn die Determinative eine geschlossene Wortklasse bilden sollen, dann müssen sich auch Kriterien angeben lassen, nach denen die einzelnen Elemente dieser Wortklasse möglichst eindeutig zugeordnet werden können. Einige Autoren scheinen dieses Problem zu vereinfachen, indem sie schreiben, Determinative seien Elemente, welche die Funktion der Determination erfüllen können (z.B. Vater 2000: 15). Angesichts der Tatsache, dass der Begriff „Substantivdetermination“ einer Definition entbehrt (s. Abschnitt 3.1), ist diese Art von „Zuordnungskriterium“ unakzeptabel. Andere Definitionen basieren auf der syntaktischen Funktion der Determinative. Von diesen sei hier die Definition von Engel zitiert: „Wenn man [...] die Subklasse ‘Nullartikel’ einführt, ist das Determinativ der (einzige) obligatorische Begleiter des Nomens im Text. [...] Die Hauptfunktion des Determinativs besteht darin, dass es das Nomen zur Nominalphrase macht“ (Engel 1992: 523). Ähnliche Definitionen finden wir auch in den früheren Arbeiten von Vater (s. z.B. Vater 1979). Diese Definition ist zwar ziemlich allgemein, scheint aber auf den ersten Blick brauchbar zu sein. Die erwähnten Autoren zählen aber, trotz der gleichen Definition, teilweise unterschiedliche Elemente zur Klasse der Determinative. Dazu kommt, dass in den neueren, an der generativen Grammatik orientierten Arbeiten (z.B. Vater 1991) nicht die Substantive, sondern die Determinative als Kopf der Phrase angesehen werden, so dass in diesen Arbeiten von einer Determinativphrase gesprochen wird. In diesem Fall müssen andere Zuordnungskriterien gefunden werden. Einige Sprachwissenschaftler verwenden, entweder zusätzlich zu den erwähnten oder als einziges Kriterium, das Kriterium der syntaktischen Distribution, nach dem zu den Determinativen diejenigen Elemente gehören, die in der gleichen syntaktischen Umgebung wie der definite Artikel vorkommen können.28 Diese Definition schreibt dem definiten Artikel eine – nirgendwo explizit begründete – Sonderstellung zu. Darüber hinaus ist sie übereinzelsprachlich nicht anwendbar (wenn das auch von keinem der Autoren angestrebt wurde, da sie nur das Deutsche behandeln). Meiner Ansicht nach wären übereinzelsprachliche Zuordnungskriterien zu der Klasse der Determinative vor allem deshalb wünschenswert, weil sie bei Sprachvergleichen wichtige Orientierungshilfe leisten könnten. Diese Kriterien müssten aber gerade aus diesem Grund relativ allgemein verfasst sein und bedürften gegebenenfalls einzelsprachlicher Spezifizierungen. Ein zweites Problem neben der Zuordnung der einzelnen Elemente zu der Klasse der Determinative ist die Abgrenzung der Determinative gegenüber anderen Wortklassen, vor allem den Pronomina und Numeralien. Wie schwierig diese Abgrenzung ausfallen kann, wird im folgenden Abschnitt (3.3) am Beispiel des Deutschen und des Ungarischen gezeigt. Zuletzt möchte ich noch den zahlreichen expliziten und impliziten Definitionen der Determinative eine weitere hinzufügen, die anstrebt, übereinzelsprachlich verwendbar zu 28
S. Grimm (1970: 9); Vater (1979: 38); Zhou (1985: 53).
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sein (wobei, wie oben erwähnt, einzelsprachliche Spezifizierungen notwendig sein können). Diese Definition versteht sich als Arbeitsdefinition und dient als Grundlage für die spätere Analyse. Demnach bilden die Determinative eine geschlossene Wortklasse, bestehend aus selbstständigen oder gebundenen Elementen, die als einziges Mittel der Determination allein fähig sind, eine Nominalphrase als partikulär oder generisch (in einigen Sprachen als spezifisch oder als nicht-spezifisch, s. Kapitel 1) zu kennzeichnen. Sie modifizieren jedoch die Bedeutung des zugehörigen Substantivs nicht, sie legen die Referenzeigenschaften des zugehörigen Substantivs fest. In mehreren Sprachen sind sie auch Träger von grammatischen Informationen. (Diese sind vor allem morphologische Informationen, wie zum Beispiel die Kennzeichnung von Genus, Kasus und Numerus.)
3.3 Determinative im Deutschen und im Ungarischen Da es das Hauptanliegen der vorliegenden Arbeit ist, den Gebrauch der Determinative zum Ausdruck der Definitheit, Indefinitheit und Generizität im Deutschen und im Ungarischen zu beschreiben und miteinander zu vergleichen, soll die im vorangehenden Unterkapitel gegebene Definition der Determinative um sprachspezifische Merkmale erweitert werden. Auf diese Weise kann man – im Idealfall – die Determinative in den beiden Sprachen eindeutig einer Kategorie zuordnen und sie somit von anderen Wortarten abgrenzen. Ich beginne mit dem Deutschen, weil dieser Bereich bzw. diese Problematik hier ausführlicher beschrieben wurde als im Ungarischen. (Das bedeutet allerdings nicht, dass für das Deutsche eine Lösung dieses Zuordnungs- und Abgrenzungsproblems vorliegen würde.) Wie oben (Abschnitt 3.2) schon erwähnt, gibt es Autoren, die auf eine Definition bzw. eine Abgrenzung verzichten29 oder nur ein sehr allgemeines Zuordnungskriterium angeben. Andere Autoren (Vater 1979; Zhou 1985) operieren auch oder ausschließlich mit dem Kriterium der syntaktischen Distribution, wobei die Sonderrolle des definiten Artikels nicht erklärt wird. Das gleiche Verfahren führt aber zu unterschiedlichen Ergebnissen. Bei Zhou gehören neben den Artikeln, Demonstrativa, Possessiva, Indefinita auch die Kardinalzahlen zu den Determinativen, die kein anderer Autor zu dieser Kategorie zählt. (Vater rechnet das adjektivische Demonstrativpronomen solcher zu den Adjektiven.) Es gibt Autoren, die ausschließlich grammatische (morphologisch-syntaktische) Merkmale zur Abgrenzung gebrauchen. Das tut zum Beispiel Hans-Jürgen Grimm, indem er schreibt:
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Der Artikel30 ist eine Wortklasse, die immer vor einem Substantiv oder einem attributiven Adjektiv steht, die eine in Genus, Kasus und Numerus kongruierende unmittelbare Konstituente zu dem betreffenden Substantiv bildet, die nur mit diesem Substantiv permutierbar ist und vor der kein anderes Wort dieser Wortklasse in demselben Syntagma stehen kann. (Grimm 1971: 263) Vgl. Duden (1984: 314): „Als Begleiter des Substantivs sind diese Wörter Attribute und können nur mit dem Substantiv, mit dem sie grammatisch kongruieren, gebraucht und verschoben werden.“ Für die Determinative gebraucht Grimm den Terminus „Artikel“.
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Grimm zählt aufgrund dieser Definition neben dem definiten, dem indefiniten und dem Nullartikel die Demonstrativa, die Possessiva und die Indefinita zu dieser Wortklasse. Von diesen entsprechen aber nicht alle den vorher angegebenen Kriterien. Das Indefinitum allzum Beispiel kann durchaus allein umgestellt werden (Quantoren-Floating) bzw. einige von diesen Elementen lassen sich durchaus miteinander kombinieren (s. Kapitel 6). Das zweite Problem versuchen die Autoren zu lösen, indem sie eine begrenzte Kombinierbarkeit der Determinative untereinander zulassen oder von zusammengesetzten Determinativen sprechen.31 Das erste Problem wird oft gelöst (s. z.B. Vater 1986, 1998), indem die Quantoren aus der Kategorie der Determinative ausgeschlossen werden mit der Begründung, sie würden andere Funktionen als die Determinative wahrnehmen. Auch Vater (1991) verwendet morphologische Zuordnungskriterien. Seiner Meinung nach soll ein Determinativ bei einem folgenden Adjektiv die schwache Flexion auslösen (Vater 1991: 25). Gleichzeitig zählt er auch die Possessiva zu den Determinativen, die bekanntlich die gemischte Deklination der Adjektive fordern. Gemäß dieser Definition wären also die Possessiva an einigen Stellen des Paradigmas Determinative, an anderen wiederum nicht. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, da der Verfasser schreibt, bei starken Adjektivendungen würde die Determination durch die Endung des Adjektivs zustande kommen (Vater 1991: 15). Danach wäre aber die Determination selbst ein rein morphologisches Phänomen. Relativ einfach ist die von Engel in seiner „Kurzen Grammatik der deutschen Sprache“ gewählte Methode zur Wortarteneinteilung (Engel 2002: 9). Seine Methode ist praxisbezogen, er operiert dabei mit Fragen, die helfen sollen, sukzessive alle Wortarten auszufiltern. Bei den vermeintlichen Determinativen muss man nur fragen, ob das gegebene Element mit dem pränominalen (sächsischen) Genitiv kombinierbar ist. Der pränominale Genitiv lässt nämlich andere Determinative nicht zu, so gehören alle Elemente, die sich nicht mit ihm kombinieren lassen, zur Klasse der Determinative. Eine ebenso brauchbare, theoretisch fundierte Definition finden wir auch in der IDSGrammatik (Zifonun/Hoffmann/Strecker 1997). Die Verfasser geben hier Kriterien an, von denen mindestens eines erfüllt sein muss, damit ein Element in die Klasse der Determinative eingeordnet werden kann. Diese Kriterien sind a) das NP-Bildungskriterium, b) das Rektionskriterium und c) das Distributionskriterium (ebd.: 1930). Diese sind keineswegs neu, sondern Übernahmen oder Modifikationen der eben behandelten Kriterien. In dieser Kombination kommen sie aber vorher nicht vor. Das ist deshalb wichtig, weil gerade diese Kombination von Kriterien es ermöglicht, die vorher erwähnten Kritikpunkte zu beseitigen. Nach den letzten zwei Definitionen, auf die ich mich im Weiteren stützen möchte, gehören zu den Determinativen im Deutschen der definite, der indefinite und der Nullartikel, die Demonstrativa, die Possessiva, die Quantordeterminative und die Interrogativa. Was die ungarische Sprache anbelangt, ist diese Problematik bisher weniger untersucht. Wie oben erwähnt, wurden in den älteren (und in einigen neueren) Grammatiken nur die Artikel (der definite und der indefinite) behandelt, und zwar als eine Untergruppe 31
Z.B. manch ein, welch ein.
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Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
der so genannten „Relationswörter“ (viszonyszó), zu denen neben den Artikeln unter anderem die Postpositionen und die Konjunktionen gezählt wurden.32 Der Ausdruck „Determinativ“ kommt zuerst in den generativ orientierten Grammatiken der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts vor. Leider wird in diesen Arbeiten die Zuordnungs- bzw. Abgrenzungsproblematik nicht thematisiert. Im Syntax-Band der von Ferenc Kiefer herausgegebenen Grammatik finden wir zum Beispiel als Erklärung nur so viel: „Determinativ: Artikel, Demonstrativpronomen, Fragewörter, Quantoren“ (Szabolcsi/Laczkó 1992: 195, Übersetzung von mir). In dem Kapitel über die Struktur der Nominalphrasen im Ungarischen werden die Interrogativa als Determinative überhaupt nicht behandelt. Was die Quantoren angeht, werden von ihnen nur die Allquantoren als Determinative angesehen, während die Existenzquantoren als Numeralien ausgewiesen werden. Eine noch merkwürdigere Position nimmt die Neue Ungarische Grammatik (Új magyar nyelvtan 1999) von Katalin É. Kiss, Ferenc Kiefer und Péter Siptár ein, nach der nur diejenigen Elemente zu der Kategorie der Determinative gerechnet werden, die Individualisierung ausdrücken können. Individualisierte Ausdrücke werden somit mit den definiten gleichgesetzt.33 Daraus folgt, dass diejenigen Elemente, die nicht individualisieren und somit nach der Auffassung der Autoren Indefinitheit ausdrücken, nicht zu den Determinativen gezählt werden. Sie werden alle zu den Numeralien gerechnet. Ich bestimme die Klasse der Determinative daher nach den in Abschnitt 3.2 angegebenen Kriterien. Demnach zählen zu den Determinativen im Ungarischen der definite, der indefinite und der Nullartikel, die Demonstrativa, die Interrogativa und die Quantordeterminative. In die vorliegende Analyse wurden sämtliche Typen der Determinative der beiden Vergleichssprachen aufgenommen, bis auf die Interrogativa, deren Determinationsgrad m.E. nicht eindeutig festzustellen ist. Abschließend soll noch kurz auf zwei Probleme eingegangen werden. Das erste betrifft den indefiniten Artikel. In der grammatikographischen Tradition wird in beiden Sprachen zwischen einem definiten und einem indefiniten Artikel unterschieden. (Diese Zweiteilung ist auch in anderen Artikelsprachen vorhanden.) In der neueren Literatur, vor allem in generativen oder generativ orientierten Arbeiten, wird dem „traditionellen“ indefiniten Artikel der Artikelcharakter abgesprochen.34 Stattdessen wird er zu den Numeralien gerechnet und das Syntagma als Numeralphrase analysiert. Fest steht, dass in den meisten Sprachen, in denen es einen indefiniten Artikel gibt, derselbe sich aus dem Numerale „eins“ herausgebildet und eine ähnliche oder sogar die gleiche Form wie das Numerale hat.35 Als Unterscheidungskriterium kann in beiden Sprachen nur die Betonung angegeben 32 33
34
35
Vgl. u.a. A. Jászó ((Hg.) 1994: 224); Szent-Iványi (1995: 72); Tompa ((Hg.) 1961: 268ff., 1968: 73ff.). Auf die Problematik der Definitheit wird in Kapitel 4 näher eingegangen. Dort wird auch diese Sichtweise zu kritisieren sein. Aber auch in einigen älteren Arbeiten, wie bei Hetzron (1970), wo der indefinite Artikel – ohne Erklärung – als „non-existent in Hungarian“ (ebd.: 926) bezeichnet wird. Vgl. auch Harweg (1973), wo behauptet wird, dass sich diese Verwandtschaft nicht nur auf die Einzahl bezieht, sondern auch andere Kardinalzahlen als indefinite Artikel fungieren können.
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werden. Das ist ein eher schwaches Kriterium, da auch das Numerale meistens unbetont ist. Daran knüpft ein zweites Kriterium an, nach dem der Artikel ein (im Deutschen) grundsätzlich klitisierbar ist, das heißt auch in der schwachen Form ’n auftreten kann, während ein als Numerale nie abgeschwächt sein kann (vgl. Thieroff 2000: 171ff.). Es wurden auch schon Versuche unternommen, Kriterien zu finden, nach denen man beurteilen kann, ob eine gegebene Sprache über einen indefiniten Artikel verfügt. Ein solcher Kriterienkatalog wurde von Givón (1981) ausgearbeitet (s. Himmelmann 2001: 838). Das Problem mit diesen Kriterien ist, dass sie am Beispiel des Englischen erfasst wurden. Einerseits kann man im Englischen formal leicht zwischen dem indefiniten Artikel und dem Numerale unterscheiden, was die Ausarbeitung solcher Kriterien erleichtert, andererseits aber darf man nie aufgrund einer einzigen Sprache verallgemeinern. Eines dieser Kriterien ist der Gebrauch des indefiniten Artikels vor prädikativ verwendeten Nominalphrasen. Dass aber zum Beispiel im Englischen der indefinite Artikel auch bei solchen Prädikativen verwendet wird, wo im Ungarischen in der Regel kein Artikel steht (eng. He is a teacher. ung. Ő Ø tanár.), ist kein Argument gegen das Vorhandensein eines indefiniten Artikels im Ungarischen. So wird in der vorliegenden Arbeit die Existenz eines indefiniten Artikels in beiden Vergleichssprachen vorausgesetzt – umso mehr, als dieser einer der wichtigsten und am häufigsten gebrauchten Indefinitheitsmarkierer ist. Das zweite Problem betrifft die ungarischen Possessivsuffixe. Im Deutschen gehören die adsubstantivisch gebrauchten Possessivpronomina eindeutig zu den Determinativen. Im Ungarischen wird (beinahe) derselbe Sachverhalt mit Possessivsuffixen ausgedrückt. Demnach gehören – rein funktional gesehen – auch diese zu den Determinativen. Da sich die Substantive mit Possessivsuffix durchaus mit den anderen Determinativen, darunter mit dem indefiniten Artikel und mit den wenigen Determinativkombinationen, kombinieren lassen, ist fraglich, ob es wirklich die Possessivsuffixe sind, die als Definitheitsanzeiger auftreten. Auf diese Problematik wird in Abschnitt 4.4 über die Possessiva sowie in Kapitel 6 über die Kombinierbarkeit der Determinative näher eingegangen.
4. Definitheit
In diesem sowie in den Kapiteln 5 bis 7 wird die Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen nach den im vorherigen Kapitel angegebenen Parametern untersucht. So werden die Ausdrucksmöglichkeiten der Definitheit, der Indefinitheit und der Generizität in den beiden Sprachen behandelt, mit besonderem Hinblick auf den Gebrauch der Determinative. Als Exkurs beschäftigt sich ein selbstständiges Kapitel (Kap. 6) mit der Kombinierbarkeit der Determinative. Die Analyse soll zeigen, dass neben den vielen Übereinstimmungen im Gebrauch der Determinative in diesen Sprachen – die möglicherweise mindestens zum Teil universelle Eigenschaften sind – auch zahlreiche Unterschiede vorhanden sind, die sich nur bei einer detaillierteren Untersuchung herauskristallisieren. Eine solche Analyse kann neben Einblicken in das Funktionieren der Einzelsprachen Beiträge zu der typologischen Verortung der untersuchten Sprachen liefern. Die Ergebnisse lassen sich nicht nur in der Theorie, sondern auch in praktischen Bereichen wie im Fremdsprachenunterricht und in der Übersetzungswissenschaft verwenden. In diesem Kapitel wird zuerst versucht, eine adäquate (Arbeits-)Definition der Definitheit zu finden beziehungsweise dieses Phänomen zu beschreiben. Somit wird auch die Forschungsgeschichte dieses Bereichs kurz umrissen. Es ist nicht leicht, eine Definition für diesen Bereich zu finden, die als Ausgangspunkt für eine Analyse dienen kann. Das beweist die Tatsache, dass dieser Bereich in den letzten hundert Jahren von verschiedenen Theoretikern nach verschiedenen Gesichtspunkten untersucht bzw. beschrieben worden ist. Diese Untersuchungen waren natürlich nicht nutzlos, die an und für sich einfache Frage, was Definitheit überhaupt ist, konnte aber immer noch nicht beantwortet werden. Die ersten Definitions- bzw. Beschreibungsversuche der Definitheit sind in der Sprachphilosophie zu finden. Im Jahre 1905 ist die Studie von Bertrand Russell mit dem Titel „On Denoting“ erschienen, die später immer wieder in Sammelbände zur Referenzsemantik aufgenommen wurde. In dieser Arbeit beschäftigt sich Russell mit dem Denotatbereich und mit dem Beitrag zum Wahrheitswert definiter Beschreibungen, worauf ich hier nicht näher eingehen will. Als „Antwort“ auf die Russellsche Studie erschien 1950 der Artikel von P. F. Strawson „On Referring“. Die damit ausgelöste Debatte wurde mit der Studie „Reference and Definite Descriptions“ von Keith Donnellan (1966) fortgesetzt.36 Versuche, das Phänomen der Definitheit zu beschreiben, gab es auch in der linguistischen Semantik, allerdings später als in der Sprachphilosophie. Einer der ersten Versuche 36
Vgl. u.a. eine neuere semantiktheoretische Zusammenfassung der Definitheit (Heim 1991).
Definitheit
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stammt von Hawkins (1978), dessen Arbeit mehrere Autoren beeinflusst hat. Hawkins untersucht den Gebrauch des definiten Artikels im Englischen und unterscheidet sechs grundlegende Gebrauchsweisen des definiten Artikels (mit einigen Untertypen).37 Da der definite Artikel sich in den meisten Sprachen aus einem Demonstrativpronomen herausgebildet hat, untersucht Hawkins auch, ob und in welchen Gebrauchsweisen sich der definite Artikel durch ein Demonstrativpronomen ersetzen lässt. Ein zweiter Beschreibungsversuch stammt von Löbner (1985). Er unterscheidet zwischen semantischer und pragmatischer Definitheit. Nach seiner Auffassung existiert semantische Definitheit unabhängig von der konkreten Äußerungssituation, während pragmatische Definitheit auf Faktoren des konkreten Äußerungskontextes basiert (ebd.: 279). Ferner versucht Löbner zu zeigen, dass der definite Artikel signalisiert, dass die betreffende Nominalphrase als ein Funktionsbegriff („functional concept“) zu verstehen ist (ebd.: 313ff.). Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie grundsätzlich semasiologisch orientiert sind. Das heißt, sie gehen von den Verhältnissen einer einzigen Sprache aus und versuchen zu verallgemeinern, anstatt von einem abstrakten System auszugehen.38 Löbner geht so weit, zu behaupten: „the meaning of the definite article is essentially the same in different languages“ (1985: 280). Das Problem ist nur, dass man diese Bedeutung noch nicht beschreiben konnte, sowie ferner, was auch Löbner zugesteht, dass die gleiche Bedeutung nicht identisch mit den gleichen Gebrauchsweisen ist. Es gibt auch Versuche, Definitheit abstrakt zu beschreiben, zu definieren. Ein solcher Versuch stammt von Klaus Heger (1983). In seinem Aufsatz formuliert Heger keine explizite Definition der Definitheit (die er von Indefinitheit ungetrennt behandelt), sondern er versucht, die Arten der Definitheit in Merkmalsmatrizen einzuordnen. Nur wenn man annehme, dass es möglicherweise mehrere Arten von Definitheit gibt, könne man Erscheinungen erklären, die es zwar im Deutschen nicht, wohl aber im Italienischen (und im Ungarischen) gibt, wie die Kombination des an und für sich als definit angesehenen Possessivpronomens (bzw. Possessivsuffixes) mit dem indefiniten Artikel (also it. un mio cavallo, ung. egy lovam [dt. ein Pferd von mir]). Nach der Auffassung von Heger wären solche Nominalphrasen relational definit, referenziell aber nicht. Er unterscheidet nämlich drei Arten der Definitheit, die quantitative, die relationale und die referenzielle Definitheit, die auf unterschiedliche Weise alle Identifizierung ausdrücken (ebd.: 100).39 Was die Identifizierung angeht, existiert für ihn eine Art Skala, die von „nicht-identifizierbar“ bis „identifiziert“ reicht und verschiedene Grade der Definitheit bezeichnet (ebd.: 102). 37
38 39
Diese Gebrauchskontexte werden in Abschnitt 4.1 genauer beschrieben, hier sollen sie vorerst nur aufgelistet werden: 1) anaphoric uses, 2) immediate situation uses, 3) larger situation uses, 4) associative anaphoric uses, 5) unfamiliar uses with explanatory modifiers, 6) unexplanatory modifiers (Hawkins 1978: 106ff.). Vgl. auch Hauenschild (1993: 990). „Allen drei Arten von (In)Definitheit gemeinsam ist […], daß es […] um die Identifizierung von Elementen geht: um ihre Anzahl im Fall der ‘quantitativen’, um ihre Subklassenzugehörigkeit im Falle der ‘relationalen’ und um ihre Identität im Fall der ‘referenziellen’ (In)Definitheit“ (Heger 1983: 100).
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Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
Das Phänomen „Definitheit“ wurde auch nach anderen Herangehensweisen untersucht. Krámský (1972) gibt einen sprachtypologisch fundierten Überblick über diesen Bereich (s. auch Abschnitt 3.2). Für ihn bedeutet Definitheit (die er übrigens Determination nennt) Individualisierung (Krámský 1972: 31). Wie wir weiter unten sehen werden, ist diese Auffassung etwas weit gefasst, da es durchaus Nominalphrasen geben kann, die individualisiert, aber nicht – oder nur in gewisser Hinsicht – definit sind. Eine neuere Arbeit, deren Herangehensweise von der der erwähnten abweicht, ist die von Christopher Lyons (1999). Lyons behauptet, dass es unmöglich sei, Definitheit auf semantischer oder pragmatischer Grundlage zu charakterisieren. Daher schlägt er vor, Definitheit als eine grammatische Kategorie zu betrachten. Lyons ist der Ansicht, Definitheit sei „die Grammatikalisierung der Identifizierbarkeit“ (ebd.: 278, Übersetzung von mir). Somit bestreitet er die Universalität der Substantivdetermination, da er das Vorhandensein der Kategorie „Definitheit“ den Sprachen abspricht, die nicht über Artikel verfügen bzw. deren Artikel den Unterschied spezifisch – nicht-spezifisch markieren. Im Folgenden werde ich Definitheit als ein semantisch-pragmatisches Konzept betrachten. Demnach sind diejenigen Nominalphrasen definit, die Gegenstände oder Sachverhalte bezeichnen, die für den Hörer40 identifizierbar sind. Diese Identifizierbarkeit wird einerseits durch die Determinative, die zu untersuchen das Anliegen dieses Kapitels ist, andererseits durch verschiedene Existenzbedingungen ermöglicht. Die Existenzbedingungen können sowohl semantischer als auch pragmatischer Art sein. Zu den semantischen Bedingungen gehören die Vorinformationen des Hörers, die extensionale Einmaligkeit des bezeichneten Gegenstandes41 und die nähere Bestimmung durch andere Nominaldeterminative (z.B. Attribute). Die pragmatischen Bedingungen umfassen die Präsuppositionen des Textproduzenten – dieser kann etwas als für den Hörer schon bekannt voraussetzen – und die Sprechsituation (vgl. Zhou 1985: 123ff.). Bevor ich mit der Analyse beginne, sollten für beide Vergleichssprachen diejenigen Determinative ausgesondert werden, die – allein oder zusammen mit anderen Nominaldeterminativen – Definitheit anzeigen können. Von den Determinativen können sowohl im Deutschen als auch im Ungarischen der definite Artikel und die Demonstrativa Definitheit markieren. Im Deutschen zählen auch die Possessiva zu den Definitheitsmarkierern. Die Position der ungarischen Possessivsuffixe ist – wie schon erwähnt (Abschnitt 3.3) – umstritten, genauer behandelt werden sie in Abschnitt 4.4. Die Tatsache, dass in den beiden Sprachen (fast) die gleichen Determinative Definitheit markieren können, bedeutet bei weitem nicht, dass sie auf die gleiche Weise gebraucht werden. Das detailliert zu untersuchen, wird die Aufgabe dieses Kapitels sein. 40
41
„Hörer“ steht hier und im Weiteren auch für den Leser, genauso wie „Sprecher“ auch für den Schreibenden/Verfasser/Autor steht. Damit ist keine absolute, sondern nur eine relative Einmaligkeit gemeint. Wenn ich z.B. in Ungarn „der Ministerpräsident“ sage, meine ich den Ministerpräsidenten von Ungarn zur Äußerungszeit, von dem es nur einen einzigen gibt, wenn auch in der Welt mehrere Ministerpräsidenten leben (vgl. auch Hawkins 1978).
Definitheit
31
Vorher sollen noch einige Problemfälle erwähnt werden. Einen Problemfall stellen die Determinative aller, sämtlicher und jeder dar.42 Da wir vorher auch die Quantoren zu den Determinativen gerechnet haben, müssen wir auch feststellen, ob sie Definitheit oder Indefinitheit ausdrücken.43 Während die Existenzquantoren eindeutig Indefinitheit kennzeichnen, ist diese Frage bei den Allquantoren nicht so einfach zu beantworten. In der vorliegenden Arbeit werden sie als definit betrachtet (Genaueres dazu in Abschnitt 4.5). Den zweiten Problemfall stellen im Ungarischen die Determinative minden und valamennyi44 bzw. die Determinative auf -ik45 dar. Diese zwei Gruppen von Determinativen hängen (semantisch) zusammen, da zu der letzteren auch das Determinativ mindegyik (‘jeder einzelne’) gehört. Wenn wir die Allquantoren als Anzeiger von Definitheit betrachten, müssen auch die ungarischen Nominalphrasen mit den oben angeführten Determinativen definit sein. Die meisten mir bekannten ungarischen Grammatiken sind aber anderer Meinung, indem sie minden als Markierer von Indefinitheit ausweisen.46 Das tun sie offensichtlich aus morphosyntaktischen Gründen. Im Ungarischen existieren zwei Arten der Konjugation, die so genannte subjektive und die so genannte objektive Konjugation. Nach der grammatikographischen Tradition fordert eine definite Nominalphrase als (Akkusativ-)Objekt die objektive Konjugation, eine indefinite dagegen die subjektive.47 Eine Nominalphrase (ohne Possessivsuffix) mit minden als Akkusativobjekt fordert aber die subjektive Konjugation und wird somit als indefinit angesehen. Die Nominalphrasen mit einem Determinativ auf -ik in Objektposition stehen dagegen mit der objektiven Konjugation. Sie werden als definit angesehen,48 trotz der Tatsache, dass zu diesen Determinativen unter anderen auch valamelyik (‘irgendein’) und bármelyik (‘ein beliebiges’) gehören, die semantisch keinesfalls definit sind. Das führt zu der merkwürdigen Feststellung, dass die Nominalphrase minden ház (‘alle Häuser’) als indefinit, die Nominalphrase valamelyik ház (‘irgendein Haus’) dagegen als definit betrachtet wird. Es muss aber unbedingt hinzugefügt werden, dass in den ungarischen Grammatiken die Definitheit durchweg als Individualisierung definiert wird. Da hier die Substantivdetermination und somit auch die Definitheit als ein semantisch-pragmatisches Phänomen betrachtet wird (s. Abschnitt 3.1), werden die Nominalphrasen, die individualisiert aber nicht identifizierbar sind, nicht zu den definiten gezählt49 (vgl. auch die Abschnitte 4.4 bzw. 5.4). 42
43
44 45 46
47
48 49
Hier und im Folgenden steht die singularische maskuline Form stellvertretend für das ganze Paradigma, auch wenn einige dieser Formen (z.B. aller) weniger gebräuchlich sind. Dieses Problem wird in der Literatur oft nicht expliziert. Die unterschiedlichen Arten von Zuordnung bleiben in vielen Fällen ohne Erklärung (s. dazu auch Abschnitt 4.5). Sie sind ungefähr die Entsprechungen von aller und sämtlicher. Dieses Suffix hat eine individualisierende Funktion. Die einzige Ausnahme bildet Szabolcsi/Laczkó (1992: 225f.), wo Definitheit als ein semantisches Merkmal betrachtet wird. Das kann man bei den Artikeln am besten sehen: Olvasom a könyvet/olvasok egy könyvet (‘Ich lese das/ein Buch’). So auch Kiefer/É. Kiss ((Hgg.) 1994: 219). Eine ähnliche Position nimmt auch Dezső (1972) ein.
32
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
Nach dieser kurzen Klärung meines Standpunktes in diesen Problemfällen kann mit der Analyse der Ausdrucksmöglichkeiten der definiten Nominalphrasen bzw. mit der des Gebrauchs der Determinative in definiten Nominalphrasen im Deutschen und im Ungarischen begonnen werden.
4.1 Definiter Artikel Die Analyse des Gebrauchs der Determinative zum Ausdruck der Definitheit beginne ich mit dem definiten Artikel, welcher der typischste Definitheitsmarkierer ist. Der definite Artikel – im Gegensatz zu den anderen Definitheitsmarkierern – bezeichnet nämlich Definitheit, ohne dabei eine zusätzliche Bedeutung zu haben, wenn er auch in einigen Sprachen – wie auch im Deutschen – grammatische Informationen liefert. Da eine synchrone Untersuchung einer sprachlichen Erscheinung von ihrem diachronen Aspekt nicht völlig losgelöst werden kann, möchte ich kurz skizzieren, wie sich der definite Artikel im Deutschen und im Ungarischen herausgebildet hat. Davon erhoffe ich, einige Besonderheiten des gegenwärtigen Sprachgebrauchs besser erklären zu können. Wie in den meisten Sprachen mit definitem Artikel, hat sich dieser auch im Deutschen und im Ungarischen aus einem Demonstrativpronomen entwickelt. Was die deutsche Sprache betrifft, hat sich hier der definite Artikel schon in der althochdeutschen Zeit (8. bis 11. Jahrhundert) herausgebildet, aus einem fernverweisenden gemeinsamen indogermanischen Demonstrativpronomen.50 In dieser Zeit unterlag der Artikelgebrauch noch keinen festen Regeln, erst in der mittelhochdeutschen Zeit, mit dem Abbau der synthetischen Kasuskennzeichnungen wurden die Regeln zur Artikelverwendung fester (vgl. Bach 1961; Roelcke 1997).51 Im Ungarischen war die Quelle des definiten Artikels das Demonstrativpronomen az, das auf etwas Fernerliegendes verweist. Herausgebildet hat sich der definite Artikel in der ersten Hälfte der altungarischen Periode,52 verbreitet wurde diese Form erst gegen Ende dieser Periode (vgl. Kiss/Pusztai (Hgg.) 2003). Man kann hier natürlich nur von einer schrittweisen Entwicklung reden, die Formen mit oder ohne Artikel existierten eine zeitlang nebeneinander. Die Gründe, warum das Ungarische „plötzlich“ einen definiten Artikel brauchte, sind noch unklar, es wird aber immer wieder betont, dass es sich bei der Herausbildung des definiten Artikels um eine innere Entwicklung des Ungarischen han50 51
52
Vgl. dazu auch Vogel (1993). Man kann sich hier auch die Frage stellen, warum der Artikel entstanden ist. Diese Frage konnte zwar noch nicht beantwortet werden, einen interessanten Erklärungsversuch finden wir aber in Leiss (2000). Leiss vertritt die Meinung, dass die Entstehung des Artikelsystems möglicherweise mit dem Abbau des Aspektsystems zusammenhängt. Siehe auch weitere Artikelentstehungstheorien in Presslich (2000), wo vor allem der Frage nach der Entstehung des indefiniten Artikels nachgegangen wird. Die Einteilung der sprachgeschichtlichen Perioden des Ungarischen richtet sich nach wichtigen geschichtlichen Ereignissen. Die altungarische Periode dauerte von der Landnahme (896) bis zu der Schlacht von Mohács (1526) (vgl. Kiss/Pusztai (Hgg.) 2003: 16).
Definitheit
33
delt, ohne die Einwirkung von anderen Sprachen.53 Der Gebrauch des definiten Artikels stimmte schon bei der Herausbildung mit seinem heutigen Gebrauch im Großen und Ganzen überein. Interessant ist aber, dass gerade die Substantive, die etwas als einmalig Angesehenes bezeichnen, relativ spät mit dem definiten Artikel versehen wurden; sie standen meistens ohne Artikel. Offensichtlich hat die Einmaligkeit ausgereicht, etwas als definit zu betrachten, ein Definitheitsmarkierer war also nicht notwendig. Bis zur Herausbildung einer gewissen Systemhaftigkeit existierten das Demonstrativpronomen az und der Artikel az nebeneinander, so dass es in einigen Fällen unmöglich ist, die beiden auseinander zu halten. Schließlich hat sich das System etabliert, dass das Demonstrativum zusammen mit dem Artikel verwendet wird (Näheres dazu unter Abschnitt 4.2).54 Nach diesem kurzen geschichtlichen Überblick wende ich mich dem Hauptaugenmerk dieses Kapitels, dem Gebrauch des definiten Artikels unter synchronem Aspekt zu. Hier wird ausschließlich der Gebrauch des definiten Artikels zum Ausdruck der Definitheit untersucht. Somit werden von der Analyse sowohl der konventionelle Artikelgebrauch, wobei der Artikel nicht Definitheit anzeigt, sondern eigentlich Bestandteil des Substantivs ist (die Schweiz), als auch die Verwendung des definiten Artikels in Funktionsverbgefügen und Phraseologismen ausgeklammert. Bei den letzteren weicht der Artikelgebrauch von den allgemeinen Regelmäßigkeiten ab; seine Beschreibung würde einer weiteren Untersuchung bedürfen. Die zweite wichtige Gebrauchsweise des definiten Artikels, nämlich seine Verwendung in generischen Nominalphrasen wird Gegenstand von Kapitel 7 sein, wie auch die Kombinierbarkeit des definiten Artikels mit anderen Determinativen in Kapitel 6 behandelt wird. Die wichtigsten Gebrauchskontexte des definiten Artikels wurden von John Hawkins (1978) zusammengefasst und beschrieben. Die Beschreibung bezieht sich zwar auf das Englische, beansprucht jedoch übereinzelsprachliche Gültigkeit. Diese Beschreibung ist zwar nicht neu, aber bis heute die einzige, die von der Funktion der Artikel ausgeht. Aus diesem Grund wurde sie in die nachfolgende Analyse einbezogen.55 Hawkins unterscheidet sechs wesentlichere Verwendungsweisen des definiten Artikels (mit Untergruppen; aus diesem Grund habe ich hier insgesamt sieben aufgeführt). Da diese Gebrauchsweisen – mindestens für das Deutsche – von mehreren Autoren übernommen wurden (BisleMüller 1991: 50ff.; Himmelmann 1997: 35ff.), habe ich untersucht, ob und inwieweit sie für die hier analysierten Sprachen, das Deutsche und das Ungarische, gültig sind. Nach der hier verwendeten Arbeitsdefinition bedeutet Definitheit Identifizierbarkeit für den Hörer. Diese Identifizierbarkeit kann auf unterschiedliche Weisen gewährleistet werden. Diese Gebrauchsweisen hat Hawkins zusammengefasst. Die erste Gebrauchsweise des definiten Artikels ist sein anaphorischer Gebrauch, wobei der definite Artikel zur Wiederaufnahme dient und auf etwas schon Erwähntes hin53
54 55
Die Existenz eines definiten Artikels im Ungarischen ist keine Selbstverständlichkeit. Unter den finnougrischen Sprachen gibt es außer im Ungarischen nur im Mordwinischen einen definiten Artikel (der allerdings ein postponierter Artikel ist) (vgl. Fodor (Hg.) 1999: 1500). Vgl. Benkő ((Hg.) 1992: 716ff.). Vgl. auch andere Beschreibungsversuche, wie z.B. Quasthoff (1978); Roberts (2003).
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
34
weist (Hawkins 1978: 107). Wiederaufgenommen werden können einerseits mit einem indefiniten oder Nullartikel eingeführte Nominalphrasen (1), andererseits auch durch Verben bezeichnete Vorgänge/Zustände (2). (1.d) Dieser Behälter hat unten eine Öffnung, die durch eine Klappe verschlossen wird, und zwar mittels eines nach oben gebundenen Fadens. [...] Der Faden56 wird nun durchgebrannt. (LIM/LI1.00145 Hochkeppel, W.: Denken als Spiel) (1.u) Egy
nagy
INDEF.ART groß
a
nagy
acélipari
anyagi
DEF.ART groß
Diósgyőri Acélművek
finanziell
Diósgyőrer Stahlwerke
a
cég
társaság
állítólag
Stahlindustrie.ADJ Gesellschaft
gondokkal
társulna
interessier.3SG
küszködő
für
Lapértesülés
Zeitungsbericht
vállalati
a
szerint
nach
formában
DEF.ART Firma gemeinsam gesellschaftlich sich-gesell.KOND.3SG
érdeklődik
Schwierigkeit.PL.KOM kämpfend
iránt.
közös
angeblich
Form.INE
magyar
DEF.ART ungarisch
üzemmel.
Werk.KOM57
(MNSZ)
‘Ein großes Stahlwerk soll sich für die Diósgyőrer Stahlwerke, die mit großen finanziellen Schwierigkeiten kämpfen, interessieren. Laut Zeitungsberichten würde die Firma eine Joint-Venture-Gesellschaft mit dem ungarischen Betrieb gründen.’58 (2.d) Offensichtlich zu spät erkannte eine 23jährige Pkw-Fahrerin auf der Untermühlaustrasse Richtung Innenstadt, dass vor ihr drei weitere Pkw verkehrsbedingt anhielten. Sie fuhr auf und schob mit ihrem Auto die anderen Fahrzeuge ineinander. Bei dem Aufprall erlitten zwei Insassen der stehenden Pkw leichtere Verletzungen. (MMM/104.06420 Mannheimer Morgen, 15.4.1991) (2.u) Egy
INDEF.ART
riport
Reportage
akiket
REL.PRON.PL.AKK
A
56 57
58
jen.PL.DEL
harc
Kampf
három fogoly
DEF.ART drei
azokról
Gefangen
számol
bericht.3SG
közben während
közül az
be,
PRT
elfogtak.
gefangennehm.PST.3PL
egyik „foglalkozás
von DEF.ART einer Beruf
nélküli“
ohne (MNSZ)
‘Eine Reportage berichtet über diejenigen, die während des Kampfes gefangengenommen wurden. Einer der drei Gefangenen ist „ohne Beruf“ [...]’ Die Neueinführung wird kursiv, die Wiederaufnahme fett gedruckt. In den Glossen werden folgende Abkürzungen verwendet: DEF.ART: definiter Artikel, INDEF.ART: indefiniter Artikel, NOM: Nominativ, AKK: Akkusativ, GEN: Genitiv, DAT: Dativ, SUP: Superessiv, DEL: Delativ, SUB: Sublativ, INE: Inessiv, ELA: Elativ, ILL: Illativ, ADE: Adessiv, ABL: Ablativ, ALL: Allativ, KOM: Komitativ-Instrumental, TERM: Terminativ, TEMP: Temporalis, KAUS: Kausal-Final, ADJ: Adjektivbildungssuffix, REL.PRON: Relativpronomen, PART: Partizip, NEG: Negationswort, INF: Infinitiv, KOND: Konditional, IMP: Imperativ, PST: Vergangenheit, FUT: Futur, POT: Potentialis, FKT: faktitiv, PRT: Verbpartikel, SUBJ: subjektive Konjugation, OBJ: objektive Konjugation, POSS: Possessivsuffix, SG: Singular, PL: Plural, 1/2/3: 1./2./3. Person. Wenn die ungarischen Beispiele keine Übersetzungen der deutschen sind, gebe ich (in einfache Anführungszeichen gesetzt) eine deutsche Übersetzung an. Darüber hinaus werden die ungarischen Beispiele mit Interlinearglossen versehen.
Definitheit
35
Bei der zweiten Verwendungsweise des definiten Artikels, die Hawkins „visible situation use“ nennt (Hawkins 1978: 110), wird ein Gegenstand dadurch bestimmt, dass er von den Kommunikationsteilnehmern gesehen werden kann bzw. dass im Blickfeld der Kommunikationsteilnehmer nur ein einziger solcher Gegenstand vorhanden ist (bei singularischen Nominalphrasen; im Plural wird auf alle in Frage kommenden Gegenstände referiert – das folgt aus der Inklusivität definiter Nominalphrasen). (3.d) Gib mir das Salz! (3.u) Add
ide
geb.IMP.2SG
a
hierher DEF.ART
sót!59
Salz.AKK
(4.d) Schließ bitte die Tür! (4.u) Csukd
schließ.IMP.2SG
be
PRT
az
DEF.ART
ajtót!
Tür.AKK
Der dritte Gebrauchskontext ist der „unmittelbar situative Gebrauch“ („immediate situation use“) (Hawkins 1978: 111). In diesem Fall soll in bestimmten Situationen das Wissen des Sprechers ausreichen, etwas als definit zu kennzeichnen, der Hörer kann aufgrund der Situation den als definit bezeichneten Gegenstand identifizieren. So kann der Sprecher dem Hörer sagen, wenn der letztere einen Garten betreten will: „Geh da nicht hinein! Der Hund ist bissig!“. Diese Verwendung des definiten Artikels ist auch dann korrekt, wenn weit und breit kein Hund zu sehen ist, der Hörer wird das Gesagte nicht auf die Weise interpretieren, dass der Sprecher eine generische Aussage über Hunde gemacht hat (vgl. auch ebd.: 111f.). Eine weitere Verwendungsweise des definiten Artikels wird von Hawkins „larger situation use“ genannt (ebd.: 115). In diesem Fall wird eine Art „Vorerwähnung“ durch den situationellen Kontext gewährleistet, der Hörer kann den Referenten entweder aufgrund seines Allgemeinwissens identifizieren oder er verfügt schon über spezifische Kenntnisse über den Sachverhalt. (5.d) Auch die Astronauten, die auf dem Monde landeten, fanden eine staubtrockene, atmosphärelose Wüste vor, wie man ja nach allem zu erwarten hatte. (LIM/LI1.00110 Haber, H.: Brüder im All) (5.u) A
kormány
DEF.ART Regierung
15 milliárd
forintot
alapján
döntése
július
Beschluss.POSS3SG auf-Grund Juli
osztanak
ki
az
1-jétől
erst.POSS3SG.ABL
egészségügyi
15 Milliarde Forint.AKK verteil.3PL PRT DEF.ART Gesundheitswesen.ADJ
dolgozók
között [...] jelentette
be
Mitarbeiter.PL unter
‘Nach einem Beschluss der Regierung werden ab 1. Juli unter den Angestellten im Gesundheitswesen 15 Milliarden Forint verteilt – kündigte Árpád Gógl an.’
59
Beispiele von mir.
ankündig.PST.3SG PRT
Gógl Árpád. (MNSZ)
Gógl Árpád
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
36
(6.d) Während Camus noch an seinem Roman „Die Pest“ schrieb, dachte Jean-Louis Barrault an eine Dramatisierung des Pest-Mythos, wie sie schon Antoine Artaud geplant hatte. Barrault und Camus einigten sich, und Arthur Honegger schrieb ihnen für die Uraufführung von 1948 im Pariser Marigny-Theater die Bühnenmusik. (LIM/ LI1.00015 MELOS, März 1970, Nr.3, S.104-107) (6.u) [...] kitárta
a
karjait […],
ausbreit.PST.3SG DEF.ART Arm.POSS3SG.PL.AKK
mintha
áldást
akár a
wie DEF.ART
pápa,
Papst
osztana … (MNSZ)
als ob
Segen.AKK
‘[...] hat seine Arme ausgebreitet, wie der Papst, als ob er den Segen erteilen würde.’
erteil.KOND.3SG
Die letzte Verwendungsweise des definiten Artikels, in der er anaphorisch gebraucht wird, ist der „assoziativ-anaphorische Gebrauch“ („associative anaphoric use“) (Hawkins 1978: 123). In diesem Fall wurde schon ein Referent eingeführt, zu dem der Referent (die Referenten) der mit definitem Artikel gebrauchten Nominalphrase in irgendeiner Zugehörigkeitsrelation steht (z.B. Teil-Ganzes-Beziehung). Die assoziative Anapher erlaubt es zum Beispiel, nach der Erwähnung von Hochzeit über die Braut oder nach der Erwähnung von Auto über die Reifen zu sprechen, ohne diese Referenten explizit eingeführt zu haben. (7.d) [...] und zuletzt öffneten wir die Eisentür zum Dachboden. Dort setzten wir uns für eine Weile auf eine der Aussteuer-Truhen unter der Schrägwand. (LIM/LI1.00414 Demetz, H.: Ein Haus in Böhmen) (7.u) [...] jelentette
ma […],
nyelvű
címoldalán
bericht.PST.3SG heute
című
angol
a
China Daily
Titelseite.POSS3SG.SUP DEF.ART
napilap.
Az
írás
China Daily
szerint
Titel.ADJ englisch sprachig Tageszeitung
DEF.ART Bericht
a
szeptember végi
nukleáris balesetet
Kínában
is
DEF.ART September
japán
Ende.ADJ japanisch nuklear
szükségét
China.INE auch Notwendigkeit.POSS3SG.AKK
DEF.ART Sicherheitsregelung.PL
a
biztonsági előírások
felhívni
a
nach
követően
Unfall.AKK nach
érezték
empfind.PST.3PL
betartására
Einhaltung.POSS3SG.SUB
figyelmet. (MNSZ)
lenken
‘[...] hat heute [...] die englischsprachige Tageszeitung „China Daily“ auf ihrer Titelseite berichtet. Nach dem Artikel fand man nach dem Nuklearunfall Ende September in Japan auch in China notwendig, auf die Einhaltung der Sicherheitsregelungen aufmerksam zu machen.’
DEF.ART Aufmerksamkeit.AKK
(8.d) Am Samstag, um 12 Uhr mittags, überfiel ein 49jähriger eine Apotheke in der Neckarstadt: Mit vorgehaltener Pistole bedrohte er die Apothekerin und forderte die Herausgabe allen Geldes. (MMM/102.39059 Mannheimer Morgen, 3.2.1991)
Definitheit
37 a
(8.u) Álldigálunk
herumsteh.1PL DEF.ART
elnyomom a
lérobot
gombot,
drück.1SG DEF.ART
előtt. Bedobok
Saftroboter
vor
einwerf.1SG
NarancsFanta
egy ein
helyett
Knopf.AKK OrangeFanta
statt
pénzt,
Geld.AKK
CitromFanta
ZitroneFanta
érkezik. (MNSZ)
komm.3SG
‘Wir stehen vor dem Getränkeautomaten rum. Ich werfe eine Münze ein, drücke auf den [falschen] Knopf, statt Fanta Orange kommt Fanta Zitrone.’
Schließlich unterscheidet Hawkins noch zwei Gebrauchsweisen des definiten Artikels, die er „unfamiliar uses“ nennt (Hawkins 1978: 130ff.). In diesen Fällen wird der definite Artikel bei Ersterwähnung eines Referenten benutzt.60 Dieser Gebrauch wird durch unterschiedliche Arten der Attribute, wie Adjektive, Genitivattribute oder Relativsätze ermöglicht. Die Attribute, die für den Hörer eine Identifizierung ermöglichen, bezeichnet Hawkins als „explanatory modifiers“ (ebd.). Diese Attribute sind in jedem Fall obligatorisch, ohne sie wäre eine Identifizierung für den Hörer und somit der Gebrauch des definiten Artikels unmöglich (oder würde zu Missverständnissen führen). (9.d) Der Wunsch, Diamanten und Schmucksteine im Laboratorium herzustellen, ist uralt.61 (LIM/LI1.00236 Strübel, G.: Mineralogie und Kristallographie) (9.u) A
mi
időnkben
ez
egészen másként volt.62 (MNSZ)
DEF.ART wir Zeit.POSS1PL.INE das ganz
‘In unseren Zeiten war das ganz anders.’
anders
sein.PST.3SG
(10.d) Zur Neuordnung im Hochschulbereich wird die Landesregierung die mit der Verabschiedung des Hochschulgesetzes im März dieses Jahres eingeleitete Entwicklung fortführen. (LIM/LI1.00343 Kühn, H.: Regierungserklärung) (10.u) Amit
végül
meg
REL.PRON.AKK schließlich
DEF.ART zwei
ankündig.PST.3SG dass
DEF.ART darüber PART vorläufig
60
61
62
a
két
bejelentette, az
erről
cég
Firma
hogy
PRT
igazgatótanácsa
is
auch
Vorstand.POSS3SG
megkötötték
schließ.PST.3PL
szóló előzetes
még
tett:
tun.PST.3SG
aznap
noch am selben Tag
megállapodást. (MNSZ)
Vereinbarung.AKK
Dass diese Verwendungsweise nicht so selten ist, wie das häufig angenommen wird, zeigt die Korpusanalyse von Fraurud (1990). In einem Korpus von geschriebenen schwedischen Texten kommt der definite Artikel nach Frauruds Zählungen in fast 60% der Fälle bei Ersterwähnung vor. Auch wenn diese Zahl nach unten korrigiert werden soll – Fraurud zählt nämlich auch generische Nominalphrasen sowie Fälle hinzu, die Hawkins (1978) als „associative anaphoric use“ und „larger situation use“ bezeichnet – , ist die Gebrauchshäufigkeit des definiten Artikels bei Erstnennungen ziemlich hoch. Der definite Artikel und das zugehörige Substantiv werden – wie bisher – fett gedruckt, die Attribute werden kursiv geschrieben. Hier geht es in erster Linie darum, zu zeigen, ob die Hawkinsschen Gebrauchsweisen für unsere Vergleichssprachen gültig sind, und nicht darum, die gleichen Typen von Attributen in beiden Sprachen aufzuführen. Auf die möglichen Unterschiede wird weiter unten detailliert eingegangen.
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
38
‘Was er schließlich auch getan hat: Der Vorstand der beiden Firmen hat noch am selben Tag angekündigt, die vorläufige Vereinbarung darüber getroffen zu haben.’
(11.d) Hannah Arendt hat es als die Verteidigung der stalinistischen Schauprozesse interpretiert; [...] (LIM/LI1.00312 Melchinger: Geschichte des politischen Theaters, 1971) (11.u) [...] és
und
ezek
a
mindenkinek,
javaslatok]
dies.PL DEF.ART Vorschlag.PL all.GEN
az
mindkét koalíciós félnek
így so
érdekét
Koalitionspartner.GEN DEF.ART Interesse.POSS3SG.AKK
szolgálják.
beide
dien.3PL
‘und diese [Vorschläge] dienen dem Interesse aller, so auch beider Koalitionspartner.’ (MNSZ)
Ferner gibt es Attribute, von Hawkins als „unexplanatory modifiers“ bezeichnet (Hawkins 1978: 148), die zwar den Gebrauch des definiten Artikels erlauben, sogar fordern, eine Identifizierbarkeit (meistens) jedoch nicht ermöglichen. Die typischsten solcher Attribute sind die Ordinalzahlen und die Superlative; daneben können auch andere Attribute diese Rolle übernehmen. (12.d) Nach ca. einer Stunde machen wir die erste Rast im Gasthof Eichholt in Davensburg. (LIM/LI1.00032 Schneider, G.: Die Belegschaft) (12.u) A
nemzetbiztonsági
a
testület
DEF.ART Staatssicherheit.ADJ
áll
Ausschuss
77 77
százalékkal
Prozent.KOM
helyen. (MNSZ)
második
steh.3SG DEF.ART zweit
Platz.SUP
‘Der Ausschuss für Staatssicherheit steht mit 77% auf dem zweiten Platz.’
(13.d) Die gegenwärtigen Bildungseinrichtungen erhalten neue Funktionen. (LIM/ LI1.00179 Deutscher Bildungsrat: Empfehlungen der Bildungskommission) (13.u) [...] a
világ vezető
a
DEF.ART Welt
erősödtek
führend
tőzsdéin
Börse.POSS3SG.PL.SUP
legfontosabb wichtigst
mindenhol überall
részvények. (MNSZ)
stärk.PST.3PL DEF.ART
‘An den führenden Börsen der Welt ist [der Kurs] der wichtigsten Aktien überall gestiegen.’
Aktie.PL
(14.d) Gehen Sie in den eigenen Garten oder auf eine Wiese. (LIM/LI1.00067 Bundesminister für Jugend, Familie …) (14.u) Tudjuk,
hogy
wiss.1PL dass önmagában an und für sich
nem
az
európai
uniós
a
saját
problémáinkat
DEF.ART europäisch DEF.ART eigen
fogja
werd.3SG
Union.ADJ
tagság [...]
Mitgliedschaft
Problem.POSS1PL.PL.AKK
megoldani [...] (MNSZ)
NEG
lösen
‘Wir wissen, dass die Mitgliedschaft in der EU an und für sich unsere eigenen Probleme nicht lösen wird.’
Definitheit
39
Die obige Darstellung hat zwar gezeigt, dass die Gebrauchskontexte, die Hawkins für den englischen definiten Artikel beschrieben hat, auch im Deutschen und Ungarischen anzutreffen sind. Dennoch bleiben einige Fragen offen. Zunächst ist zu fragen, wie die offensichtlich vorhandenen Unterschiede im Artikelgebrauch im Deutschen und im Ungarischen erklärt werden können. Eine mögliche Antwort wäre, dass beide – oder zumindest eine der beiden – Sprachen noch andere als die von Hawkins aufgeführten Gebrauchsweisen aufweisen. Um diese Hypothese zu überprüfen, habe ich in beiden Vergleichssprachen je 2.000 Belege mit dem definiten Artikel daraufhin untersucht, wie der Gebrauch des Artikels zu erklären ist. Da dafür die Rolle des Kontextes wichtig ist, habe ich die Belege aus dem Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) nach dem Zufallsprinzip mit der Suchoption „2 Sätze vorher, 1 Satz nachher“ ausgesucht. Da es im ungarischen Korpus des Instituts für Sprachwissenschaft (MNSZ) eine solche Suchoption nicht gibt, habe ich hier die Belege – ebenfalls nach dem Zufallsprinzip – in einem Kontext von 20 Wörtern untersucht. Die Ergebnisse der Analyse werden in den folgenden Tabellen zusammengefasst: Deutsch Gebrauchsweise
Anzahl
„Hawkins“
1532
Ungarisch Prozentzahl
Gebrauchsweise
Anzahl
Prozentzahl
76,6%
„Hawkins“
1460
73%
+ Possessivsuffix
130
6,5%
Attributsatz
55
2,75%
Attributsatz
18
0,9%
Generizität
43
2,15%
Generizität
42
2,1%
Eigennamen
227/29 mit Attr.
11,35%
Eigennamen
140/21 mit Attr.
7%
Idiome/FVG
51
2,55%
Idiome/FVG
21
1,05%
nach Dem.
122
6,1%
Sonstiges
63
3,15%
Sonstiges
56
2,8%
Fehler
29
1,45%
Fehler
11
0,55%
Insgesamt
2000
100%
Insgesamt
2000
100%
Tab. 1: Gebrauchsweisen des definiten Artikels
Unter „Hawkins“ werden die von Hawkins beschriebenen Gebrauchsweisen zusammengefasst. Die Eigennamen habe ich getrennt in die Tabelle aufgenommen, weil sie von Hawkins’ Untersuchung ausgeschlossen blieben. (Allerdings könnten die Eigennamen mit Attribut gerade wegen der Attribuierung möglicherweise zu den „unfamiliar uses“ gezählt werden.) Unter „Sonstiges“ wurden die Fälle angegeben, in denen ich den Gebrauch des definiten Artikels nicht eindeutig erklären konnte, bzw. in denen der definite Artikel mit einem anderen Determinativ kombiniert wurde. Schließlich wurden unter „Fehler“ diejenigen Belege zusammengefasst, in denen – wahrscheinlich wegen eines
40
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
Programmfehlers – kein definiter Artikel beziehungsweise nicht der Artikel hervorgehoben wurde. Was das Ungarische anbelangt, musste die Tabelle um zwei Zeilen erweitert werden. Zum einen gibt es 130 Belege, in denen der Artikelgebrauch den von Hawkins beschriebenen Gebrauchsweisen entsprach, das Substantiv aber zusätzlich mit einem Possessivsuffix versehen wurde (Näheres dazu in Abschnitt 4.4). Zum anderen gab es 122 Belege, in denen der definite Artikel – nach den oben erörterten Regelmäßigkeiten – nach Demonstrativa verwendet wurde. Aus diesen Zahlen wird ersichtlich, dass die von Hawkins beschriebenen Gebrauchsweisen des definiten Artikels sowohl im Deutschen als auch im Ungarischen mit Abstand die häufigsten sind. Das heißt, dass die Hawkinsschen Gebrauchsweisen genauer untersucht werden müssen. So muss einerseits der Artikelgebrauch innerhalb der einzelnen Gebrauchsweisen sprachvergleichend untersucht werden, andererseits müssen bei der Analyse unterschiedliche Typen der Substantive berücksichtigt werden. Diese Untergruppen konnten anhand einer Voranalyse ausgesondert werden. So muss der Artikelgebrauch vor Kontinuativa, unterschieden nach Stoffnamen und Abstrakta, in beiden Sprachen untersucht und miteinander verglichen werden. Ferner muss der Artikelgebrauch bei solchen Substantiven analysiert werden, die von einem Attributsatz weiter bestimmt werden. Ein besonderes Augenmerk muss unter den Attributsätzen den Relativsätzen gelten. Schließlich soll noch auf einen Spezialfall kurz eingegangen werden: auf die Verschmelzungen im Deutschen und ihre Entsprechungen im Ungarischen. Ob sich die Unterschiede im Artikelgebrauch zwischen dem Deutschen und dem Ungarischen tatsächlich in den erwähnten Bereichen finden lassen oder es auch weitere Kontexte gibt, in denen diese Sprachen Unterschiede im Gebrauch des bestimmten Artikels aufweisen, habe ich, über die elektronischen Korpora hinaus, anhand zweier Übersetzungskorpora untersucht. Die Verwendung eines Übersetzungskorpus birgt verschiedene Gefahren in sich. Einerseits soll die Analyse keine Übersetzungskritik sein, andererseits hat sich die vorliegende Untersuchung nicht zum Ziel gesetzt, nach den Entsprechungen eines Determinativs in der jeweils anderen Sprache zu suchen, sondern zu beschreiben, wie die einzelnen Determinative in den beiden Kontrastsprachen eine bestimmte (funktional-semantische) Funktion ausüben können. Diese Probleme waren mir bewusst, wie auch die Tatsache, dass bei einer Übersetzung die Ausgangssprache Einfluss auf die Zielsprache haben kann. Trotz dieser Überlegungen habe ich mich für das Übersetzungskorpus entschieden, da ich mir davon erhofft habe, die Unterschiede im Gebrauch des definiten Artikels in den beiden Vergleichssprachen besser erfassen zu können. Ein weiteres Argument für ein Übersetzungskorpus war, dass die elektronischen Korpora bestimmte Suchanfragen nicht erlauben. So kann man zum Beispiel weder nach Abstrakta noch nach Stoffnamen suchen. Bei der Korpusauswahl habe ich folgende Gesichtspunkte berücksichtigt: (1) Der Text soll in beiden Vergleichssprachen vorliegen, wobei eine der Vergleichssprachen die Originalsprache des Textes ist; (2) er soll verhältnismäßig neu sein, also möglichst aus dem 20. Jahrhundert stammen; (3) er soll die Standardsprache repräsentieren,
Definitheit
41
darf also weder dialektal noch soziolektal gefärbt sein;63 (4) er soll sowohl monologische als auch dialogische Teile enthalten. Anhand dieser Kriterien habe ich für das Deutsche den Roman „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz (SL) ausgewählt, von dem die ersten zwei Kapitel analysiert wurden. Für das Ungarische habe ich den Roman von Sándor Márai „Sindbad geht heim“ („Szindbád hazamegy“) (SM) ausgewählt und die ersten 30 Seiten analysiert. Wie erwartet, zeigen sich Unterschiede im Gebrauch der Determinative, wenn die Nominalphrase durch einen Attributsatz näher bestimmt wird. So wird im Ungarischen nur im Falle von nicht-restriktiven Relativsätzen der definite Artikel verwendet, vor restriktiven Relativsätzen steht das Demonstrativum az. (Auf dieses Phänomen wird in Abschnitt 4.2 näher eingegangen.) (15.d) [...] aber durch die Art, wie er abschloß (SL: 7) (15.u) [...] hanem
azzal
sondern jen.KOM
a
DEF.ART
móddal,
Art.KOM
ahogy wie
bezárt (SL: 7)
abschließ.PST.3SG
(16.d) […] in dem festen Zimmer, das man mir […] zugewiesen hatte (SL: 16) (16.u) […] abban a jen.INE DEF.ART
utaltak
zuweis.PST.3PL
zárkában, amelybe Zelle.INE REL.PRON.ILL
be (SL:16)
akkor dann
PRT
Das bedeutet auch, dass die von Hawkins beschriebenen Gebrauchsweisen für das Ungarische nur mit Einschränkungen gelten. Bei der vorletzten Gruppe (mit „explanatory modifiers“) können zwar verschiedene Typen von (obligatorischen) Attributen vorkommen (s. 9-11.u), nicht aber der restriktive Relativsatz. Diese Behauptung kann auch durch eine eingehendere Analyse der (nur) 18 Belege untermauert werden, die einen Attributsatz (nach definitem Artikel) enthalten (s. Tab. 1). Von diesen Belegen beinhalten 15 Relativsätze (die restlichen drei sind sonstige Attributsätze), die sich alle als nicht-restriktiv ausgewiesen haben. Das heißt aber auch, dass in diesen Fällen der definite Artikel anaphorisch gebraucht wurde. Ein weiterer Unterschied im Artikelgebrauch zwischen den beiden Vergleichssprachen ist, dass im Deutschen Konstruktionen mit dem so genannten externen Possessor möglich sind. Das bedeutet, dass das Besitzverhältnis nicht nur mit einer Nominalphrase mit einem possessiven Determinativ ausgedrückt werden kann, sondern, dass die Möglichkeit besteht, den Besitzer außerhalb der Nominalphrase mit einem Pronomen oder einer Nominalphrase im Dativ anzugeben nach dem Typ mir tut der Kopf weh oder ich habe mir den Arm gebrochen. Das Ungarische gebraucht in solchen und ähnlichen Fällen meistens das Possessivsuffix, entweder allein oder zusammen mit dem bestimmten Artikel. (Auf diese Frage wird in den Abschnitt 4.4 und Kapitel 6 detaillierter eingegangen.) (17.d) mir [...] rote Flecken in die Oberschenkel kniff (SL: 10) 63
Eine Analyse des Gebrauchs der Determinative in der gesprochenen Sprache oder in Varietäten unterschiedlichen Typs wäre sicherlich interessant, würde aber den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen.
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
42 (17.u) vörös
rot
csíkot
Streifen.AKK
a
vágott
combomba (SL S: 11)
schneid.PST.3SG DEF.ART Oberschenkel.POSS1SG.ILL
(18.d) während ihm der Ärmel bis zum Ellenbogen hinabrutschte (SL: 9) (18.u) Ø kabátujja
Ärmel.POSS3SG
könyökig
Ellenbogen.TERM
felcsúszott (SL: 9)
hinaufrutsch.PST.3SG
Ferner gibt es Fälle, in denen im Deutschen der definite, im Ungarischen der Nullartikel steht. Da ich nur solche Nominalphrasen untersucht habe, in denen der Artikel Definitheit ausdrückt, erhob sich die Frage, ob dieselben Nominalphrasen (in dem gleichen Kontext) im Ungarischen nicht (oder weniger) definit oder im Gegenteil als inhärent definit angesehen werden und deshalb keinen definiten Artikel fordern. Letzteres scheint der Fall zu sein bei Körperteilen, die als Inalienable in bestimmten Kontexten keinen Artikel fordern (mit (19) oder auch ohne Possessivsuffix (20, 21) am Substantiv), wie auch bei einigen anderen Nominalphrasen, deren Referenten sich wie Inalienable verhalten (22). (19.d) hob die unansehnliche Hand (SL: 9) (19.u) fölemelte
heb.PST.3SG
Ø
jelentéktelen
unansehnlich
kezét (SL: 9)
Hand.POSS3SG.AKK
(20.d) von der Schulter bis zum Knie (SL: 7) (20.u) Ø válltól
térdig (SL: 7)
Schulter.ABL
Knie.TERM
(21.d) dem er manchmal eins mit dem Ellenbogen versetzte (SL: 25) (21.u) néha
oldalba
is
bökte, Ø
manchmal Seite.ILL auch stech.PST.3SG
könyökkel (SL: 26)
Ellenbogen.KOM
(22.d) stopfte er ihn zum zweiten Mal in die Tasche (SL: 29) (22.u) újra
wieder
Ø
zsebre
Tasche.SUB
gyűrte. (SL S.29)
stopf.PST.3SG
Es muss hinzugefügt werden, dass im Ungarischen in all diesen Beispielen auch eine Kombination von definitem Artikel und Possessivsuffix möglich gewesen wäre, in den obigen Kontexten überwiegt aber der Nullartikel. Eine zweite Gruppe von Substantiven, bei denen im Gegensatz zum Deutschen im Ungarischen im gleichen Kontext nicht der definite, sondern der Nullartikel steht, scheinen die Abstrakta zu bilden: (23.d) Das Prospekt verriet jedoch nicht nur die Mühsal (SL: 20) (23.u) a
prospektus
DEF.ART Prospekt
nemcsak Ø nicht nur
fáradságról Mühsal.DEL
beszélt (SL: 21) sprech.PST.3SG
Es sollen noch die possessiven Konstruktionen erwähnt werden (vgl. auch Abschnitt 4.4). Bei nachgestellten Genitivattributen muss im Deutschen (bei Gattungsnamen) immer ein Artikel gesetzt werden, und zwar sowohl vor dem Possessor als auch vor dem Possessum, um Definitheit (oder auch Indefinitheit) zu signalisieren (vgl. der Garten des Hauses). Im Ungarischen haben wir zwei Möglichkeiten: a ház kertje und a háznak a kertje. Im ersten
Definitheit
43
Fall bekommt der Possessor keine Flexionsendung, nur den Artikel (also eigentlich DEF. ART Haus Garten.POSS3SG), während er im zweiten Fall die Genitivendung erhält (also DEF.ART Haus.GEN DEF.ART Garten.POSS3SG). Das Possessum kann nur in diesem zweiten Fall mit einem definiten Artikel stehen. Beide Konstruktionen werden im Ungarischen als gleichrangig betrachtet, sie sind beide definit und weisen keine semantischen Unterschiede auf. Sie sind bis auf wenige Ausnahmen gegeneinander austauschbar. Im Falle von Interrogativpronomina oder von Nominalphrasen mit den Demonstrativa ez/az ist nur die Genitivform möglich: *ki könyve – kinek a könyve (wessen Buch), *ez a fiú könyve – ennek a fiúnak a könyve (das Buch dieses Jungen). Die beiden Konstruktionen weisen aber durchaus syntaktische Unterschiede auf: Die genitivische Form kann auch in Distanzstellung von ihrer Besitz-Nominalphrase auftreten: (24.u) Katinak Kati.GEN
is elveszett auch verlorengeh.PST.3SG
az esernyője.64 DEF.ART Regenschirm.POSS3SG
‘Auch Katis Regenschirm ist verlorengegangen.’
Zum Schluss soll noch ein umstrittener Bereich erwähnt werden, der der Verschmelzungen. Dieses Phänomen wurde schon vielseitig untersucht und beschrieben, es herrscht jedoch keine Einigkeit darüber, wie die Verschmelzungen betrachtet werden sollen. Sie wurden lange Zeit angesehen als die Kontraktion von bestimmten Präpositionen mit Formen des definiten Artikels (nach dem Typ zu+dem→zum). Diese Betrachtungsweise erwies sich als unhaltbar. Einerseits konnten die Regeln der Zusammenziehung, also wann eine Verschmelzung möglich, obligatorisch oder unmöglich ist, noch nicht eindeutig beschrieben werden, nicht einmal für die Schriftsprache, und für das Mündliche ist eine größere Anzahl von Verschmelzungen charakteristisch. Andererseits wurde noch keine Erklärung gefunden für das Phänomen, dass in bestimmten Fällen die Verschmelzungen und die „zugehörigen“ Vollformen unterschiedliche Bedeutungen haben. (25.d.a) Er geht zu der Schule. (25.d.b) Er geht zur Schule.
Während im Satz (25.d.a) eine genaue Ortsangabe zu lesen ist, hat der Satz (25.d.b) die Bedeutung ‘er ist im schulpflichtigen Alter’(vgl. Dedenbach 1987: 19, sowie Hartmann 1978). Diese Tatsache und die Erkenntnis, dass sich einige Verschmelzungsformen – wenn überhaupt – nicht durch den definiten, sondern durch den indefiniten Artikel umschreiben lassen (z.B. er ist zum Maler ausgebildet worden – *zu dem Maler/zu einem Maler), hat zu der Annahme geführt, dass die Verschmelzungen Formen der Präpositionen mit einem analytischen Flexiv sind (vgl. auch Ágel 1996: 41).65 Aus dem Gesagten wird klar, dass die Frage „Wie definit sind die Verschmelzungen?“ keineswegs unangebracht ist. Um sie beantworten zu können, sollten wir aber mehr von der Natur der Verschmelzungen wis64 65
Beispielsatz von mir. Eine andere Auffassung wird von Harweg (1989) vertreten, der die Verschmelzungen als schwache Formen des definiten Artikels betrachtet.
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
44
sen. Das bedeutet auch, dass eine detailliertere Analyse auf diesem Gebiet den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde.
4.2 Demonstrativa Die Demonstrativa bilden die zweite Gruppe der Determinative, die durchweg als definit angesehen werden. Sie haben aber im Gegensatz zu den Artikeln auch eine Bedeutung. Hier werden sie nur in ihrem Gebrauch als Determinative untersucht; ihre pronominale Verwendung bleibt ausgeklammert. Die Analyse beginne ich mit den deutschen Demonstrativa dieser/jener und ihren ungarischen Entsprechungen ez/az. Diese Determinative markieren einerseits Definitheit, andererseits weisen sie auf etwas Näher- beziehungsweise Fernerliegendes hin. Im Ungarischen wird nach den Demonstrativa ez/az (beziehungsweise nach ihren Zusammensetzungen ugyanez/ugyanaz [‘derselbe’]) obligatorisch der definite Artikel verwendet.66 Die Gründe für diese angebliche Kombination beziehungsweise scheinbar doppelte Determinationsmarkierung sind in der Sprachgeschichte zu suchen. Wie in Abschnitt 4.1 schon erwähnt, hat sich der ungarische definite Artikel aus dem Demonstrativum az entwickelt; sie haben bis heute die gleiche Form. Da aber wegen dieser Formgleichheit das Demonstrativum nicht mehr vom Artikel zu unterscheiden war, wurde mit der Zeit nach dem Demonstrativum der Artikel gesetzt. Diese Demonstrativa des Ungarischen sowie auch ihre Zusammensetzungen sind auch aus morphologischer Sicht eigenartig: Sie sind die einzigen Determinative im Ungarischen, die dekliniert werden. Sie bekommen die gleichen Endungen wie die zu ihnen gehörenden Substantive. (1.u)67 ez
az
alma
dies- DEF.ART
Apfel
‘dieser Apfel – diesen Apfel’
– ezt
– dies.AKK
az
almát
DEF.ART Apfel.AKK
Was den Gebrauch dieser Determinative in den beiden Vergleichssprachen betrifft, ist ihr Gebrauch vor Gattungsnamen weitgehend identisch: (2.d) Wir haben dieses Geld von einem Transport der Takerer, den wir gefunden haben, nachdem das Schiff zu Bruch gegangen ist. (LIM/LI1.00004 Kneifel, H.: Der Schrecken von Takera) (2.u) Ez a költő nem a jelenségek
dies
DEF.ART
Dichter NEG
kihívására
DEF.ART
válaszol
Phänomen.PL
harccal [...] (MNSZ)
Herausforderung.POSS3SG.SUB
‘Dieser Dichter beantwortet nicht die Herausforderung der Ereignisse mit einem lyrischen Kampf [...]’
66
67
antwort.3SG
lírai
lyrisch Kampf.KOM
Diese Demonstrativa haben auch stilistisch markierte Varianten, ezen/azon bzw. e, die allein, d.h. ohne Artikel stehen. Der Übersichtlichkeit halber beginnt die Belegzählung in jedem Kapitel und Unterkapitel wieder bei 1.
Definitheit
45
(3.d) Eine dieser Zweiglinien war die Strecke von Jarmen nach Schmarsow. Jene Bahn wurde nach 1945 [...] wieder aufgebaut. (LIM/LI1.00173 Obermayer, H.: Taschenbuch Deutsche Schmalspurlokomotiven) (3.u) [...] hogy valaha
is
dass jemals
mint
auch
abban a
oldottabban beszélgettünk volna
lockerer
jen.INE DEF.ART
unterhalt.KOND.PST.1PL
néhány
egymással,
miteinander
órában. (MNSZ)
wie
einige
Stunde.INE
‘dass wir uns jemals lockerer unterhalten hätten, wie in jenen paar Stunden’
Unterschiede tauchen erst auf, wenn die Nominalphrasen, die als Determinativ diese Demonstrativa enthalten, durch einen Relativsatz weiter spezifiziert werden. Nach Hawkins ist im Englischen mit den Demonstrativa this/that – den englischen Entsprechungen der hier untersuchten Determinative – keine Neueinführung mit einem restriktiven Relativsatz möglich, es können nur deiktische oder nicht-restriktive Relativsätze verwendet werden. Das wäre ein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem Gebrauch des definiten Artikels und dem der Demonstrativa (Hawkins 1978: 150f.). Da die Theorie von Hawkins übereinzelsprachliche Gültigkeit beansprucht und seine Behauptungen zu den Gebrauchskontexten des definiten Artikels – wenigstens für unsere Vergleichssprachen – in der Regel zutreffen, bin ich der Frage nachgegangen, ob auch seine oben erwähnte Behauptung über die Demonstrativa auch für das Deutsche und das Ungarische zutrifft. Was das Ungarische angeht, ist in dieser Sprache ein restriktiver Relativsatz nach dem Demonstrativum az durchaus möglich (vgl. auch Abschnitt 4.1). Man kann sogar die Regelmäßigkeit beobachten, dass nach einer Nominalphrase mit dem Demonstrativum az restriktive Relativsätze stehen, während nach einer Nominalphrase mit definitem Artikel nicht-restriktive Relativsätze stehen:68 (4.u.a) Az a
csapat,
jen- DEF.ART Truppe
harcolt,
mely
REL.PRON
a
DEF.ART
Piraboy vízmosásnál
Piraboy
Schlucht.ADE
eltévedt. (MNSZ)
kämpf.PST.3SG
verirr.PST.3SG
‘Die Truppe, die an der Piraboy-Schlucht gekämpft hat, hat sich verirrt.’
(4.u.b) A
templom
pedig, amelyben
Orsolyák
műve. (MNSZ)
DEF.ART Kirche
az
und
ma
REL.PRON.INE heute
gyönyörködhetünk,
bewunder.POT.1PL
DEF.ART Ursuline.PL
‘Die Kirche, die wir heutzutage bewundern können, ist von den Ursulinen gebaut worden.’
Werk.POSS3SG
Im Deutschen steht in beiden Fällen der definite Artikel (vgl. die Übersetzungen bzw. Abschnitt 4.1). 68
Vgl. É. Kiss/Kiefer/Siptár (1999: 154) sowie É. Kiss (2002: 246), wo behauptet wird, dass sich die restriktiven Relativsätze von den nicht-restriktiven durch Vorhandensein von Korrelaten unterscheiden.
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
46
Im Falle von identischen Relativsätzen ermöglicht gerade die Wahl zwischen Demonstrativum und definitem Artikel die Unterscheidung zwischen restriktiven und nicht-restriktiven Relativsätzen: (5.u.a) […] de
igaza
volt
aber Recht.POSS3SG sein.PST.3SG
aki
kutat
annak
az
akart69
REL.PRON Brunnen.AKK
‘Aber der Agronom, der einen Brunnen wollte, hatte Recht.’
(5.u.b) […] de igaza volt az
agronómusnak,
jen.DAT DEF.ART Agronom.DAT
woll.PST.3SG
(DEF.ART
agronómusnak, aki kutat akart
Agronom.DAT)
Im Originalbeispiel (5.u.a) wird ein neuer Referent eingeführt, daher steht ein restriktiver Relativsatz nach einer Nominalphrase mit dem Demonstrativum az, im Satz (5.u.b) muss der Referent schon bekannt sein, also auf irgendeine Weise schon eingeführt worden sein, so kann der definite Artikel verwendet werden und der Relativsatz ist nicht-restriktiv (deshalb auch nicht obligatorisch). Was das deutsche fernverweisende Demonstrativum angeht, sind nach jener sowohl restriktive (6d) als auch nicht-restriktive (7d) Relativsätze möglich (vgl. auch Gunkel 2007):70 (6.d) Es läßt die Berufsausbildung überwiegend in den Betrieben, sieht eine Vertiefung der dort erlernten Fähigkeiten sowie eine Ergänzung der praktischen Ausbildung um jene Bereiche vor, die der einzelne Betrieb nicht oder nur mit erheblichem finanziellen Eigenaufwand bewältigen kann. (LIMTG/LI1.00065 General-Anzeiger, 19.5.1971, Beilage, o.S.) (7.d) Über weite Passagen der Rede warb er bei den Meinungsführern der Wirtschaft um jenes Grundvertrauen, das er gerade in wirtschaftlich ungewissen Zeiten als Basis eines Wahlerfolgs ansieht. (MMM/101.29966 Mannheimer Morgen, 13.1.1991)
So ist es sowohl im Deutschen als auch im Ungarischen möglich, mit az beziehungsweise jener und einem restriktiven Relativsatz neue Referenten in den Diskurs einzuführen. Das Deutsche verfügt aber noch über ein rein kataphorisches Demonstrativum, nämlich derjenige. Nach derjenige ist der (restriktive) Relativsatz obligatorisch.71 Derjenige ist – im Gegensatz zu jener – rein kataphorisch, so ist es möglich, mit diesem Determinativ neue Referenten in den Diskurs einzuführen. (8.d) Zu diesem Zweck wird das Lernangebot der Berufsaufbauschule in diejenigen Bildungsgänge der Sekundarstufe 2 eingebracht, für die das Abitur 1 nicht Eingangsvor69 70
71
Der Beispielsatz (5.u.a) stammt aus dem MNSZ, der Satz (5.u.b) ist eine Modifizierung von mir. In der einschlägigen Literatur wird auf diese Frage in der Regel nicht eingegangen, die wenigen Feststellungen sind widersprüchlich; vgl. Helbig/Buscha (1991: 676), wo behauptet wird, dass bei nicht-restriktiven Relativsätzen „[a]n Stelle des bestimmten/unbestimmten Artikels beim Bezugswort im HS […] das demonstrative Artikelwort dieser/jener stehen [kann]“, sowie Himmelmann (1997: 50), nach dem nach jener restriktive Relativsätze (von ihm „etablierend“ genannt) stehen. Das Problem wird m.W. zuerst in Gunkel (2007) eingehender untersucht. Vereinzelt finden sich Belege mit derjenige ohne Relativsatz (vgl. Gunkel 2007: 216).
Definitheit
47
aussetzung ist. (LIM/LI1.00179 Deutscher Bildungsrat: Empfehlungen der Bildungskommission)
Es soll noch auf die Demonstrativa eingegangen werden, die sich auf etwas Näherliegendes beziehen. Nach dem deutschen Demonstrativum dieser sind auch nur nicht-restriktive Relativsätze möglich. Für das ungarische ez scheint diese Behauptung auch zuzutreffen: (9.d) Das Wort deutsch tritt zuerst im 8. und 9. Jahrhundert nur in der Gestalt des lateinischen „theodiscus“ in Erscheinung. Dieses Lehnwort, das offenbar auf ein vom Ursprung her nicht näher präzisierbares volkssprachiges Wort zurückgeht, ist in den beiden ersten Jahrhunderten seines Lebens nur im sprachlichen Sinne belegt. (MMM/101.28410 Mannheimer Morgen, 10.1.1991) (9.u) Gúnyosan
mondta
höhnisch
mert
denn
sag.PST.3SG
hitt
ezt
das.AKK
a
glaub.PST.3SG DEF.ART
ezt
a
az
írókat […] (SM: 15)
dies.AKK DEF.ART
világot,
Welt.AKK
a
DEF.ART
boldogságban, Glück.INE
mely
REL.PRON
hajós,
Seefahrer
és
mélyen megvetette
und tief
veracht.PST.3SG
éhezteti
hunger.FKT.3SG
DEF.ART Schriftsteller.PL.AKK
‘Höhnisch sagte das der Seefahrer; denn er glaubte an das Glück und hatte eine tiefe Verachtung für diese Welt, die die Schriftsteller hungern lässt […]’ (SM: 18)
Diese Demonstrativa können nur anaphorisch oder deiktisch verwendet werden, daher ist hier ein restriktiver Relativsatz in beiden Sprachen ausgeschlossen. Es soll noch kurz ein deutsches Determinativ erwähnt werden, dessen Position in der Literatur sehr umstritten ist. Es geht um die betonte Variante von der. Dieses Determinativ wird oft zu den Demonstrativa gezählt (z.B. Engel 1992, 2002), in mehreren Grammatiken bleibt es aber unerwähnt (Duden 1998; Eisenberg 2004; Helbig/Buscha 1991). Dieses Determinativ kann von dem definiten Artikel morphologisch nicht unterschieden werden,72 so wird von den Autoren, die es als Demonstrativum ansehen, die Betontheit als einziges Unterscheidungskriterium angegeben. Gunkel (2006) ist aber der Ansicht, dass die Betontheit allein – als ein nichtlexikalisches Merkmal – zur Wortartenunterscheidung nicht ausreicht (ebd.: 82). Er betrachtet betontes der als Artikel, der auch demonstrativ verwendet werden kann. Betontes der kann sowohl mit restriktiven als auch mit nicht-restriktiven Relativsätzen stehen (ebd: 93, 2007). Da der definite Artikel im Ungarischen meistens unbetont ist73, steht in den Fällen, in denen im Deutschen betontes der verwendet wird, im Ungarischen das Demonstrativum az (ez):
72 73
Sich von dem Artikel unterscheidende Formen hat es nur in seiner pronominalen Verwendung. In einigen seltenen Fällen kann auch der definite Artikel betont werden: ung. Végre megtaláltam A megoldást, dt. Endlich habe ich DIE Lösung gefunden. Der betonte Artikel bezeichnet, dass unter den möglichen Lösungen die geeigneteste gefunden wurde (vgl. auch Gunkel 2006: 82).
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
48
(10.d) DER Ring gefällt mir am besten.74 (10.u) AZ a gyűrű tetszik
jen
DEF.ART
Ring
gefall.3SG
a legjobban.
am besten
Betontes der kann in der Schriftsprache von dem definiten Artikel nicht unterschieden werden, auch im DeReKo-Korpus wird dieses Determinativ als definiter Artikel annotiert, so wird es hier nicht weiter berücksichtigt. Zum Schluss soll noch auf die adjektivischen Demonstrativpronomina eingegangen werden. Im Deutschen ist die Einordnung von solcher zu den Determinativen problematisch, da es nicht mit jedem Substantiv verknüpft werden kann: (11.d.a) ?Solche Theorie taugt nichts. (11.d.b) *Solcher Mann kam gestern. (Ballweg 1999: 109)
Auch bei der Deklination der darauffolgenden Adjektive gibt es Schwankungen, so erfüllt es das Rektionskriterium nur teilweise.75 Zwar werden die Demonstrativa meistens als definit betrachtet (s. oben), solcher kann aber mit dem indefiniten Artikel kombiniert werden: Es gibt sowohl die Form ein solcher, als auch solch ein, was die Frage nach dem Definitheitsgrad von solcher aufwirft. Auf diese Frage wird in Kapitel 6 detaillierter eingegangen. Nach neueren Arbeiten befindet sich solcher auf dem Weg einer Entwicklung von einem „richtigen“ Determinativ zu einem Adjektiv (Ballweg 1999: 113; Zifonun/ Hoffmann/Strecker 1997). Im Ungarischen gibt es auch unter den adjektivischen Demonstrativpronomen ein nahverweisendes (ilyen) und ein fernverweisendes (olyan) Demonstrativum. Diese Demonstrativa verhalten sich eher wie die Adjektive, was auch die Tatsache beweist, dass sie häufig mit Artikeln – sowohl mit dem definiten als auch mit dem indefiniten – kombiniert auftreten (s. auch Kapitel 6). Somit kann die Frage nach der Definitheit der adjektivischen Demonstrativpronomina auch im Ungarischen nicht entschieden werden. Ein weiteres wichtiges Charakteristikum des Ungarischen ist, dass nach ilyen nicht-restriktive Relativsätze, während nach olyan restriktive Relativsätze verwendet werden können. Diese Eigenschaft weist das deutsche solcher nicht auf: Nach einer Nominalphrase mit diesem Determinativ ist der Relativsatz untypisch, oft sogar ungrammatisch (vgl. Engel 1992). (12.u) [...] mert úgy ítélte
weil so
meg, hogy a
magyar
beurteil.PST.3SG PRT dass DEF.ART ungarisch
olyan döntéseket
hozott ,
amelyek
solch Entscheidung.PL.AKK bring.PST.3SG REL.PRON.PL
a
közös
vállalat
ártanak
schad.3PL
érdekeinek. (MNSZ)
DEF.ART gemeinsam
‘[...] weil er der Ansicht war, dass der ungarische Teilhaber Ø Entscheidungen getroffen hat, die der gemeinsamen Firma schaden.’
74
75
Firma
társtulajdonos
Teilhaber
Interesse.POSS3SG.PL.DAT
Beispielsatz von Gunkel (2006: 82), Übersetzung von mir. Die Betonung wird durch Großbuchstaben gekennzeichnet. Vgl. Ballweg (1999); Zifonun/Hoffmann/Strecker (1997).
Definitheit
49
4.3 Exkurs: Anamnestische Verwendung der Demonstrativa In diesem Kapitel soll es um eine weniger bekannte Gebrauchsweise der Demonstrativa gehen, welche in der Literatur nur am Rande, wenn überhaupt, behandelt wird. Diese Gebrauchsweise wird in der deutschsprachigen Literatur „anamnestisch“ genannt (vgl. Ahrenholz 2007: 63ff.; Bühler 1934: 309; Himmelmann 1997: 57ff.), in den englischsprachigen Arbeiten wird dafür der Terminus „recognitional“ (vgl. Diessel 1999: 105ff.; Himmelmann 1996: 230ff.) verwendet. Im Folgenden werden zuerst die allgemeinen Charakteristika der anamnestischen Demonstrativa beschrieben wie sie in der einschlägigen Literatur zu finden sind. Anschließend wird anhand von Korpusbeispielen überprüft, ob und inwieweit diese Charakteristika für die Vergleichssprachen Deutsch und Ungarisch zutreffen. Zuletzt wird eine Zusammenfassung der Ergebnisse mit Ausblick auf die möglichen Grammatikalisierungswege der Demonstrativa gegeben (vgl. Molnár 2010). Die Datengrundlage bilden dabei online zugängliche Korpora (DeReKo und DGD des IDS, sowie das Ungarische Nationalkorpus), verschiedene literarische Werke sowie verschiedene Internetquellen, vor allem Weblogs und Foren.76 Die Korpusauswahl lässt sich dadurch begründen, dass – wie weiter unten ausgeführt wird – die anamnestische Verwendung zwar als eine in erster Linie für die gesprochene Sprache charakteristische Gebrauchsweise der Demonstrativa angesehen wird, Verwendungen in der geschriebenen Sprache jedoch nicht ausgeschlossen sind. Da es für das Ungarische m.W. kein online zugängliches Korpus der gesprochenen Sprache gibt, habe ich das Subkorpus „persönlich“ des Ungarischen Nationalkorpus verwendet, welches Texte aus Internetforen enthält. Weblogs und Internetforen enthalten schriftlich fixierte Texte, deren Sprachgebrauch aber der gesprochenen Sprache nahesteht. Dadurch wurde gewährleistet, dass in beiden Vergleichssprachen Belege sowohl aus dem schriftlichen als auch aus dem (quasi) mündlichen Sprachgebrauch untersucht werden konnten. Der anamnestische Gebrauch der Demonstrativa – genauer von jener – wurde zuerst bei Bühler (1934) erwähnt, er hat diese Gebrauchsweise jedoch nicht ausführlich untersucht. Erst seit den letzten 20-30 Jahren gibt es vereinzelte Studien zum Thema (Auer 1981, 1984; Himmelmann 1996, 1997 sowie Ahrenholz 2007).77 Die allgemeinen Charakteristika der anamnestischen Verwendung lassen sich wie folgt zusammenfassen: Das auffallendste und auch wichtigste Merkmal dieser Gebrauchsweise ist, dass die Demonstrativa in dieser Funktion bei Ersterwähnung verwendet werden. Da es sich hierbei um definite Nominalphrasen handelt, sollte der Referent für den Hörer identifizierbar sein. Beim anamnestischen Gebrauch ist gerade diese Identifizierbarkeit nicht notwendigerweise gegeben. Eine Nominalphrase mit einem anamnestischen Demonstrativum kann, muss aber nicht auf ge76
77
Insgesamt wurden etwa 60 Belege ausgewertet, welche sich auf die Vergleichssprachen gleichmäßig verteilen. Wegen der relativ niedrigen Anzahl der Belege wurde auf eine statistische Auswertung der Ergebnisse verzichtet. Diese Behauptung bezieht sich nur auf das Deutsche. Für das Ungarische ist mir keine Arbeit bekannt, die diese Gebrauchsweise eingehender behandeln würde.
50
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
meinsames Wissen von Sprecher und Hörer rekurrieren. Vielmehr kann gesagt werden, dass der Sprecher nur „so tut“, als ob der Referent dem Hörer schon bekannt sei, er kann aber dessen nicht sicher sein. Die Bedeutung ist ungefähr zu paraphrasieren mit „Du weißt schon, was ich meine.“ (vgl. Himmelmann 1997: 60). Nicht zuletzt wegen dieser Eigenschaft wird diese Funktion von Himmelmann (ebd.: 82) als „aktivierend“ bezeichnet. Ferner kann beobachtet werden, dass es häufig um weniger wichtige Referenten geht („low topicality“, Himmelmann 1996: 230), die nicht mehr im Bewusstsein präsent sind. Die erwähnten Eigenschaften, vor allem die, dass es nicht sicher ist, dass der Hörer den Referenten identifizieren kann, haben zur Folge, dass die Nominalphrasen mit anamnestischen Demonstrativa häufig von Relativsätzen (oder anderen Attributen) begleitet sind, die Informationen zur Identifikation liefern (vgl. Himmelmann 1997: 60). Eine weitere Eigenschaft ist, dass anamnestische Demonstrativa in erster Linie für die gesprochene Sprache charakteristisch sind, da hier Rückfragen seitens des Hörers und die eventuell notwendigen Zusatzinformationen zur Referentenidentifizierung möglich sind. Auer (1984: 638) sowie Himmelmann (1997: 58) erwähnen, dass die anamnestische Verwendung der Demonstrativa häufig von Verzögerungsphänomenen, wie z.B. Pausen und Wiederholungen begleitet wird. Ahrenholz (2007: 196ff.) kommt hingegen nach einer Untersuchung im gesprochenen Deutsch zu dem Schluss, dass – zumindest in den von ihm untersuchten Korpora – bei anamnestischer Verwendung eher auf einen weiteren Kontext Bezug genommen wird, als Unsicherheit des Sprechers markiert würde. Ein letztes wichtiges Merkmal ist, dass die Demonstrativa in anamnestischer Verwendung stets unbetont sind. Es bleibt noch die Frage zu klären, welche Demonstrativa in anamnestischer Funktion verwendet werden können. Im Deutschen sind das dieser und jener, im Ungarischen ez und az. Auer (1981) und Ahrenholz (2007) untersuchen nur dieser; Himmelmann (1996) hingegen behauptet – anhand eines Vergleichs von fünf Sprachen –, dass in dieser Funktion typischerweise distale Demonstrativa vorkommen, in Himmelmann (1997) führt er den Begriff „anamnestisch“ jedoch bei der Beschreibung der Funktionen von dieser ein. Im Folgenden werden die oben genannten Charakteristika der anamnestischen Demonstrativa empirisch nachgeprüft. Die Analyse ist nicht exhaustiv, sie versucht lediglich, die wichtigsten Eigenschaften der anamnestischen Demonstrativa in unseren beiden Vergleichssprachen darzustellen und somit zum Erfassen und Verstehen der Funktionen der Demonstrativa beizutragen. Es wird geprüft, ob die oben zitierten Charakteristika (mit Ausnahme der Verzögerungsphänomene) neben dem Deutschen auch für das Ungarische zutreffen. Das ist vor allem deswegen relevant, weil Himmelmann (1997) annimmt, dass die anamnestische Verwendung den Ausgangspunkt für die Grammatikalisierung des definiten Artikels bildet (ebd.: 34). Auch bei dem von Diessel (1999: 113) vorgeschlagenen Grammatikalisierungsweg der Demonstrativa entsteht der determinative Gebrauch78 aus dem anamnestischen.79 78
79
In determinativer Funktion werden die Demonstrativa weder deiktisch noch phorisch verwendet, sie kennzeichnen lediglich die Definitheit der zugehörigen Nominalphrase. Diese Frage wird in der einschlägigen Literatur kontrovers diskutiert. Es gibt Sprachwissenschaftler, die behaupten, dass die anamnestische Verwendung sprachübergreifend eher untypisch sei (vgl. Ly-
Definitheit
51
Was das deutsche jener anbelangt, so wird dieses Demonstrativum in der gesprochenen Sprache selten verwendet. Das bedeutet, dass es auch in der anamnestischen Funktion eher selten auftritt, jedoch nicht ausgeschlossen ist. Alle unten aufgeführten Beispiele stammen aus der geschriebenen Sprache, in den untersuchten Texten der DGD habe ich kein Beispiel für die anamnestische Verwendung von jener gefunden. Ein wichtiges Charakteristikum des anamnestischen jener ist, dass es weder mit derjenige, noch mit dér kommutierbar ist (vgl. Gunkel 2007: 223). Unter den Belegen mit anamnestischem jener gibt es – wie erwartet – solche, in denen die Nominalphrase durch einen Relativsatz erweitert wurde: (1.d) Daraufhin ließ Waigel jenen Referentenentwurf erstellen, der jetzt bundesweit für Schrecken sorgt. (S93/H36.04402 Goethe zieht immer: 212)
Hier wird angenommen, dass die Leser mindestens von der Existenz des erwähnten Referentenentwurfes gehört haben, d.h. der Referent ist für sie identifizierbar. Der (nichtrestriktive) Relativsatz steuert zum „Wiedererkennen“ des Referenten bei, identifizierbar wird dieser dadurch nicht. Neben Relativsätzen kommen auch andere Typen von Attributen vor: (2.d) Zwischen ihm und Lydia bestand jenes merkwürdige Verhältnis von Zuneigung, nervöser Duldung und Vertrauen auf der einen Seite und Zuneigung, Abneigung und duldender Nervosität auf der anderen: sie war seine Sekretärin. (Tucholsky: 46) (3.d) Aber mitunter sprach sie doch ihr Platt, oder eben jenes halbe Platt: Missingsch. (Tucholsky: 46)
Diese Belege enthalten neben den Attributen auch weitere Angaben (kursiv gedruckt), welche die Identifizierung des Referenten erleichtern. Das kann im Falle von schriftlichen Texten sogar notwendig sein, da der Leser keine Möglichkeit zur Rückfrage hat. Dieser wird viel häufiger verwendet als jener – und zwar nicht nur in anamnestischer Funktion.80 Aus diesem Grund sind Belege mit anamnestischem dieser vergleichsweise leicht zu finden. Beispiele mit Relativsatz sind am häufigsten anzutreffen: (4.d) Und dann weiß ich nit, also ’s letzte Jahr war ich nicht drauf, ob diese Vexierspiegel auch da waren, wo man auf einmal so ganz dick und so klein und so dünn wird… (DGD, PF123) (5.d) Nichts mehr war zu spüren von dieser kühlen Überlegenheit, mit der sie im Büro so viele Männer verscheucht hat. (LIM/LI1.00017, Franzen, S.*Erotik im Büro; Jasmin H. 14: 120-125) (6.d) Denn das Frühjahr, der war ja rein im Mai war es zu kalt, daß diese gewaltigen Nachtfröste, die wir damals hatten und die Trockenheit […] (DGD, ZWX75)
80
ons 1999: 177, sowie in Anlehnung an Lyons Ionin 2006: 179). Somit schließen sie den oben skizzierten Grammatikalisierungsweg – zumindest implizit – aus. Vgl. DeReKo, Archiv der geschriebenen Sprache: 759.898 Belege für jener, 13.765.361 Belege für dieser.
52
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
(7.d) Die Bären waren’s sicher nicht. Es sind diese verwilderten Hunde, die die Schafe fressen. (Hörbeleg, ZDF, 27.7.2008)
Zu beachten ist jedoch, dass – außer in (4.d) – die Nominalphrasen neben Relativsätzen auch durch adjektivische Attribute erweitert wurden. Am interessantesten ist hier der Beleg (7.d), wobei es sich um einen so genannten Spaltsatz (Cleft-Konstruktion) handelt. Der Relativsatz ist hier – syntaktisch gesehen – obligatorisch, enthält aber keine neue Information, ist also thematisch. Hervorgehoben wird der Ausdruck „verwilderte Hunde“, deren Existenz allerdings den Kommunikationsteilnehmern bekannt sein soll, damit das Referieren mit dem anamnestischen Demonstrativum gelingt. Das Demonstrativum muss anamnestisch interpretiert werden, da die Hunde weder vorerwähnt noch in der Situation vorhanden (d.h. zu sehen) sind. Des Weiteren lassen sich auch Belege mit Präpositionalattribut (8.d) und mit enger Apposition (9.d) finden: (8.d) […] und dann gab es gestern noch diesen Ausflug nach Ópusztaszer. (Hörbeleg, 11.10.2007) (9.d) Und dann fällt ihm ein, daß Marlies gesagt hat, Bettina sei seit einiger Zeit verändert, nämlich seit dem Tag, da sie die Blumen von diesem Patienten Hollmann bekam. (LIM/LI1.00005, Dorn, U.: Dem Tod entrissen: 44-47)
Ferner soll erwähnt werden, dass anamnestisches dieser auch bei Eigennamen, vor allem Personennamen, möglich ist. Eigennamen reichen bekanntlich allein zum Referieren, zur Identifizierung aus, sie brauchen eigentlich kein Determinativ. Die Bedeutung einer Nominalphrase, die aus einem anamnestischen Demonstrativum und einem Eigennamen besteht, kann ungefähr umschrieben werden mit ‘X, den wir kennen’ oder ‘X, wie wir ihn kennen’: (10.d) Die anderen Sachen fielen nebenbei an: das mit diesem Hank Chester. Und mit ihnen, meine ich. (LIM/LI1.00003, Kommissar X: Bd. 603: 59-63)
Trotz dieser „doppelten Identifizierbarkeit“ sind unter den untersuchten Belegen Attribute häufig anzutreffen: (11.d) Warum hat sie nicht erwähnt, daß sie mit diesem Hollmann, der in Wirklichkeit sein Freund Markus ist, ausgegangen ist? (LIM/LI1.00005, Dorn, U.: Dem Tod entrissen: 44-47) (12.d) Da war damals, vor 60 Jahren, dieser junge Bob Mitchum, eine Halbwaise, ein Streuner, der es nicht aushielt auf dem Land bei der Familie in Delaware. (S93/H08.00873: Fahr zur Hölle: 218) (13.d) Staunenswertes gab sie von sich. Nicht nur, daß Hillary mit Albert-Schweizer-Zitaten um sich warf […], sie ließ auch gleich die erste Garde protestantischer Theologie auffahren – und die Amerikaner in ihren Lexika nachschlagen, wer denn diese hochgerühmten Tillichs, Niebuhrs und Bonhoeffers eigentlich waren. (S93/H22.02597: Schlafkrankheit der Seele: 151)
Anamnestische Demonstrativa sind auch in generischer Lesart möglich:
Definitheit
53
(15.d) … daß sie diese Gesetze der Höflichkeit, daß sie die täglich von morgens bis mittags um eins üben … (DGD, FR023) (16.d) Sie spricht wie eine mediokre Komödiantin in einem dieser blöden Filme. (Sperber: 934)
Für Beispiele mit jener vgl. Gunkel (2007: 223). Was das Ungarische betrifft, werden ez und az in anamnestischer Funktion mit annähernd gleicher Häufigkeit verwendet. (Auf die Bedeutungsunterschiede wird weiter unten ausführlich eingegangen.) Auffallend ist jedoch, dass es unter den untersuchten Beispielen keines mit Relativsatz gibt. Attribute werden häufig verwendet, diese sind aber typischerweise Adjektive. Wie die Belege zeigen, wird das Demonstrativum az meistens mit Attributen verwendet: (17.u) Ügyünkre
Sache.poss1pl.sub
annyiban
dass
hogy
hajnaltájt,
a
kávéházban, egy
kézirat
prt.komm.PST.3sg
ravasz schlau és azt
mosolyával,
azzal
sitz.PST.1sg
fölött félig bóbiskolva, halb schlafend
a
furcsa,
jen.kom def.art komisch
titokzatos
geheimnisvoll
Lächeln.poss3sg.kom
mondta: […] (Rejtő: Ezen egy éjszaka)
und das.akk
sag.PST.3sg
‘Uns geht die Sache insofern an, als er gegen Morgen, als ich im Café saß, über ein Manuskript gebeugt, im Halbschlaf, mit jenem komischen, geheimnisvollen, schlauen Lächeln plötzlich zu mir kam, und sagte: [...]’ Harley-Davidson
indef.art Harley-Davidson
Fall
ültem
dort
indef.art Manuskript über
egyszercsak odajött
eset,
def.art
ahogy ott
plötzlich
(18.u) Egy
az
gehör.3sg
gegen-Morgendämmerung wie
def.art Café.ine
tartozik
insofern
kedvenc sárga
geliebt
gelb
es még az
motoron
sebesen elvágtat,
Motorrad.sup
kamgarnruhája
schnell
van
rajta,
Kammgarnanzug.POSS3SG sein.3SG
az
őrült
def.art
sárga
verrückt gelb
prt.fahr.3sg er.SUP
cilinder
und noch jen-
a
‘Er fährt auf einer Harley-Davidson schnell weg, er hat seinen gelben Lieblingsanzug aus Kammgarn an und sogar diesen blöden gelben Zylinder auf dem Kopf.’
fején
def.art Kopf.poss3sg.sup
van, [...] (Rejtő: Egy bolond száz bajt csinál)
hogy az
végződni a
und dann NEG wiss.1sg dass
hogyan
wie
is
auch
fog
werd.3sg enden
auch
sein.3SG
(19.u) Meg aztán nem tudom,
Zylinder
is
a
rohadt
jen- def.art verdammt
kedves
def.art lieb
pereskedés
Rechtsstreit
főnökömmel,
Chef.poss1sg.kom
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
54
akinek
sokkal jobban megéri
rel.pron.dat viel
mehr
minthogy kifizetné,
auszahl.kond.3sg
egy
hosszadalmas per,
lohn.3sg indef.art langwierig
ami
REL.PRON
nekem
Prozess
jár. (grafogirl.freeweblog.hu)
als
ich.dat zusteh.3sg
‘Und ich weiß auch nicht, wie dieser verdammte Rechtsstreit mit meinem lieben Chef enden wird, für den sich ein langwieriger Prozess besser lohnt, als dass er auszahlen würde, was mir zusteht.’
Bei (19.u) finden wir eine zusätzliche Erklärung, welche die Hintergründe darstellt und Informationen über den erwähnten Rechtsstreit liefert. Wie oben im Zusammenhang mit den allgemeinen Charakteristika der anamnestischen Demonstrativa bereits erwähnt, kann der Sprecher nicht sicher sein, ob der Hörer den Referenten identifizieren kann. Das zeigen die Rückfragen wie in dem folgenden Beleg aus einem Internetforum: (20.u) A: Tessék nekem délután
bitte
hogy ne
dass
nicht
égjek
négykor
szorítani,
vier.TEMP
die-Daumen-drücken
nagyon azzal
be
blamier.IMP.1SG PRT sehr
a
nyomorult
jen.KOM DEF.ART dämlich
előadással!
ich.DAT Nachmittag
Vortrag.KOM
B: …, persze
hogy szorítunk.
natürlich
számíthatsz
dass
Rám
mindenképpen.
die-Daumen-drück.1PL ich.SUB auf-jeden-Fall
: Milyen előadás? (http://index.hu/forum)
rechn.POT.2SG : was-für-ein Vortrag
‘– Ihr sollt mir am Nachmittag um vier die Daumen drücken, dass ich mich mit diesem dämlichen Vortrag nicht so sehr blamiere! – Natürlich drücken wir dir die Daumen. Auf mich kannst du auf jeden Fall zählen. Was für ein Vortrag?’
Az in anamnestischem Gebrauch kann auch mit Eigennamen, insbesondere Personennamen stehen. Ähnlich wie bei Gattungsnamen werden auch hier häufig Attribute verwendet: (21.u) […] és
oly
annak
a
a
pasas. (MNSZ)
und so
elrévült
tekintettel
verträumt Blick.KOM
merednek maguk
starr.3PL
sich
bizonyos Daumier-nak a
elé, vor
mint
wie
rajzán
jen.GEN DEF.ART bestimmt Daumier.GEN DEF.ART Zeichnung.POSS3SG.SUP
DEF.ART Typ
‘und sie starren mit einem so verträumten Blick vor sich hin, wie der Typ auf der Zeichnung von diesem Daumier.’
(22.u) Példának okáért
zum Beispiel
Torda
Torda
ott
dort
Júlija [sic!]. Júlia
sein.3SG jen- DEF.ART
az
a
unglücklich
Végigmondja
a
szöveget,
van
zu-Ende-sprech.3SG DEF.ART
szerencsétlen Text.AKK
Definitheit
55
majd
bemutatkozik. (MNSZ)
dann
vorstell.3SG
‘Nehmen wir zum Beispiel diese arme Torda Júlia. Sie sagt ihren Text, dann stellt sie sich vor.’
Gelegentlich findet man auch Belege ohne Attribut: (23.u) […] a
DEF.ART
hülye
blöd
és
stílusát
managerek a
olyan kis az
70-es
nyálas
schleimig
a
elkezdték
formálgatni
Stil.POSS3SG.AKK beginn.PST.3PL formen
Manager.PL DEF.ART 70er
und solch klein
mint
Stones
Stones
évek
Jahr.PL
kölykök
kerültek
Kid.PL
Mick Taylor
komm.PST.3PL
be
PRT
gyerek. (MNSZ)
wie
‘Anfang der 70er Jahre begannen blöde Manager, den Stil der Stones zu formen und in die Band kamen Schleimer wie dieser Mick Taylor.’
(24.u) Ott
jen- DEF.ART Mick Taylor
elején,
Anfang.POSS3SG.SUP
Kind.
példának okáért az
volt
sein.PST.3SG zum Beispiel
a
dort
‘Nehmen wir zum Beispiel diesen Ludwig XIV […]’
XIV. Lajos81… (MNSZ)
jen- DEF.ART XIV. Ludwig
Ohne Attribut können sogar Gattungsnamen stehen: (25.u) Mentünk azzal geh.PST.1PL jen.KOM
a DEF.ART
sárkánnyal… (Hörbeleg 21.8.2008) Drache.KOM
‘Wir sind mit diesem Drachen gefahren [...] ’
Hier gibt der Kontext (Bericht über einen Besuch im Vergnügungspark) Auskunft darüber, was der Referent von sárkány (‘Drache’) sein kann. Über den anamnestischen Gebrauch von ez kann Ähnliches gesagt werden: (Adjektivische) Attribute werden häufig verwendet (26.u): (26.u) A
gond
hogy
a
gulyásleves
volt.
DEF.ART Problem DEF.ART Gulaschsuppe sein.PST.3SG
Tudom,
sokan
nem
wiss.1SG dass
viele
de
szeretem,
én úgy
nicht
raknak bele
zellert,
tun.3PL es.ILL Sellerie.AKK
végül
találtam
aber ich so mög.1SG schließlich find.PST.1SG ezt a zöld zeller szárat vagy dies.AKK DEF.ART grün Sellerie Stängel.AKK oder
és
azt
vágtam
darabokra […] (grafogirl.freeweblog.hu)
und das.AKK
‘Problematisch war die Gulaschsuppe. Ich weiß, dass viele keinen Sellerie reintun, aber ich mag sie mit Sellerie, schließlich habe ich diesen grünen Sellerie-Stängel oder was gefunden und habe ihn in Stücke geschnitten.’
81
schneid.PST.1SG
mit was.AKK
Stück.PL.SUB
Streng genommen gibt es in (24.u) ein Attribut (der XIV), das aber eng zum Namen gehört, dessen Verwendung also nicht von der Mitteilungsabsicht des Sprechers abhängt.
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
56
Darüber hinaus gibt es Belege ohne Attribut, wobei bei (27.u) das Possessivsuffix am Kopfsubstantiv die Identifizierung des Referenten für den Hörer erleichtert: (27.u) Te itt kínlódsz ezzel a pár garasoddal, […] (Kästner: 27)
du
‘Du zerbrichst Dir wegen deiner paar Groschen den Hinterkopf’82
hier quäl.2SG dies.KOM DEF.ART paar
(28.u) Hogyhogy mégis itt
vagyok?
wieso
na ja
ja
‘Wieso ich trotzdem da bin? Na ja, es gibt diesen Sternschnuppenfall [...] Ja, ich werde ihn beobachten.’
doch
Groschen.POSS2SG.KOM
Hát,
van
Igen,
meg
hier sein.1SG
ez
a
csillaghullás…
sein.3SG dies- DEF.ART Sternschnuppenfall
fogom
PRT
nézni […] (morpheus.880223.freeweblog.hu)
werd.1SG sehen
Anamnestisches ez kann auch mit Eigennamen vorkommen: (29.u) Kezdődik
a
und
nicht
ein
‘Das Toben auf dem Spielplatz fängt an, und in diesem blöden Stadtwäldchen83 (wir wohnen nicht weit von ihm) gibt es keinen ordentlichen Spielplatz.’
és
ebben
(nem
messze lakunk
egy
a
Spielplatz.adj
őrület,
beginn.3SG
DEF.ART
játszótéri
dies.INE weit
DEF.ART
wohn.1PL
épkézláb
blöd
tőle)
Ligetben
Stadtwäldchen.INE
es.abl
játszótér
vernünftig
hülye
Wahnsinn
sincs. (http://forum.index.hu)
Spielplatz
ist.neg
Nominalphrasen mit anamnestischen Demonstrativa können auch im Ungarischen eine generische Lesart aufweisen.84 (30.u) 1865-ben a
halál pont
1865.INE DEF.ART Tod
wie
gestorben
82 83 84
mint
bármikor máskor:
jede
belehalt az
andere Zeit
asszonyok (olyan
volt
Frau.PL
az
so
das sein.PST.3SG DEF.ART
nem
erre
gyermekkori betegségek,
Kinderkrankheit.PL
nagy számban,
groß Anzahl.INE
érzése:
a
gyakori volt
häufig sein.PST.3SG
Gefühl.POSS3SG
hogy
dass
Bostonban,
Boston.INE
[…] szülésbe
Geburt.ILL
az
embernek
DEF.ART Mensch.GEN
Ezek
a
nők
dies.PL DEF.ART Frau.PL
világra valók) … (Pearl: 16) Welt.SUB seiend.PL ‘1865 war der Tod genauso häufig in Boston wie zu den anderen Zeiten: Kinderkrankheiten […] Frauen, die während der Geburt gestorben sind (in einer so großen Anzahl, dass man das Gefühl hatte: Diese Frauen sind nicht für diese Welt geschaffen).’
nicht
is
olyan
genau so
auch dies.SUB DEF.ART
Zu beachten ist, dass das deutsche Original kein Demonstrativum enthält. Liget (oder genauer Városliget) ist der Name eines Parks in Budapest, gilt daher als Eigenname. Für az habe ich zwar in den untersuchten Korpora keine Belege gefunden, ich würde aber die Möglichkeit einer generischen Lesart nicht ausschließen.
Definitheit (31.u) Nell
Nell
57 arra
gondolt,
nyilván
figyelmetlen
az
asztalon
wohl
unachtsam
DEF.ART Tisch.SUP
rabszolgákat
Sklave.PL.AKK
csak
hogy az
das.SUB denk.PST.3SG dass
a
DEF.ART
[...]
volt,
és
néhány
Ezeket
a
sein.PST.3SG
maradt.
új színes bőrű konyhalány
DEF.ART neu farbig und
einige
bleib.PST.3SG dies.PL.AKK
nem
nicht
érdekelte
kenyérmorzsa
Brotkrümel
DEF.ART
interessier.PST.3SG
Küchenmädchen
a
felszabadított
befreit
tisztaság,
DEF.ART Sauberkeit
látszat. (Pearl. 18)
nur
Schein
‘Nell dachte, dass das neue farbige Küchenmädchen nicht aufgepasst hat und einige Brotkrümel auf dem Tisch geblieben sind. Für diese befreiten Sklaven war nicht die Sauberkeit wichtig, sondern nur der Schein.’
In diesen Fällen beziehen sich die generisch zu interpretierenden Nominalphrasen nicht auf die ganze Gattung, die Bedeutung der generischen Nominalphrase in (30.u) könnte daher paraphrasiert werden mit ‘Frauen dieser Art’ oder ‘solche Frauen’. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die in der einschlägigen Literatur aufgeführten Charakteristika für das Ungarische teilweise nachgewiesen werden konnten: Nominalphrasen mit anamnestischen Demonstrativa sind aktivierend und lassen sich mit „Du weißt schon, was ich meine“ paraphrasieren. Da der Sprecher nicht sicher sein kann, ob der Hörer den Referenten tatsächlich identifizieren kann, verwendet er häufig Attribute. Im Deutschen wird das typischerweise in Form von Relativsätzen realisiert, für das Ungarische sind Relativsätze (nach anamnestischen Demonstrativa) nicht charakteristisch, es werden in der Regel adjektivische Attribute verwendet. Einen möglichen Grund für das Fehlen der Relativsätze sehe ich darin, dass im Ungarischen das Demonstrativpronomen az als Korrelat für restriktive Relativsätze grammatikalisiert ist (vgl. Abschnitt 4.2). In diesem Fall wird es aber betont, was eine anamnestische Lesart ausschließt. Zu bemerken ist auch, dass für die Attribute im Ungarischen – zumindest in den untersuchten Belegen – eine bestimmte Art von Emphase charakteristisch ist: In erster Linie werden adjektivische Attribute verwendet, die eine negative Bewertung/Beurteilung ausdrücken. Was die Bedeutung der untersuchten Demonstrativa anbelangt, kann für dieser und jener – in der anamnestischen Verwendungsweise – kein klarer Bedeutungsunterschied angegeben werden, vor allem weil diese Demonstrativa in unterschiedlichen Registern verwendet werden. Was das Ungarische betrifft, weisen ez und az in anamnestischer Funktion einen klaren Bedeutungsunterschied auf. Sie sind einander insofern ähnlich, als sie – per definitionem – aktivierend sind. Trotz der gleichen Grundbedeutung sind sie aber nicht kommutierbar. Ein Austausch führt zwar nicht zu ungrammatischen Sätzen, die anamnestische Lesart wird aber nicht beibehalten, die Demonstrativa müssen stattdessen deiktisch oder pho-
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
58
risch interpretiert werden.85 In der ursprünglichen deiktischen Bedeutung ist az distal, ez proximal. In der anamnestischen Verwendung ähneln sie der so genannten Esophora86, man könnte diese Gebrauchsweise mit Harweg (2005) als „Esophora am Phantasma“ bezeichnen. Wird az verwendet, berichtet der Sprecher aus einer Außenperspektive. Mit ez hingegen berichtet er aus einer Innenperspektive, er versetzt sich in die gegebene Situation. Diese unterschiedliche Perspektivierung lässt sich an den Belegen (25.u) und (26.u) sehr gut beobachten. In beiden Fällen wird von persönlichen Erlebnissen des Sprechers berichtet. Beide Erlebnisse werden im Nachhinein erzählt. Bei (25.u) wird schon durch den situationellen Kontext klar, dass sich die Kommunikationsteilnehmer nicht im Vergnügungspark befinden, der Sprecher ist also gezwungen, das distale Demonstrativpronomen zu verwenden, wenn er verstanden werden will. Bei (26.u) hingegen handelt es sich um einen Eintrag in ein Internet-Tagebuch, wo der Anschein erweckt werden soll, dass die Ereignisse möglichst zeitnah aufgeschrieben werden. Dass der Reisebericht, dem (26.u) entnommen wurde, erst mehrere Monate nach der Reise verfasst wurde, entdeckt der Leser nur, wenn er auf der Webseite nach diesbezüglichen Angaben sucht. Was die Grammatikalisierung der Demonstrativa betrifft, konnte der von Diessel (1999: 113) vorgeschlagene Grammatikalisierungsweg
deiktisch/phorisch > anamnestisch > determinativ
nicht bestätigt werden. Eine determinative Funktion haben typischerweise distale oder distanzneutrale Demonstrativa, im Deutschen sind es in erster Linie dér und derjenige, welche aber in anamnestischer Funktion nicht auftreten können. Andererseits kann dieser Grammatikalisierungsweg auch nicht ganz ausgeschlossen werden, da jener sowohl anamnestisch als auch determinativ verwendet werden kann (und derjenige aus jener hervorgeht, vgl. Kluge 2002: 452). Für das Ungarische hingegen könnte dieser Vorschlag zutreffen, da az in all diesen Funktionen auftritt und auch als Quelle für den definiten Artikel gilt. In diesem Bereich sind aber noch weitere Untersuchungen notwendig.
4.4 Possessiva Auch die Possessiva gehören zu den Determinativen, die – nach allgemeiner Auffassung – Definitheit markieren. Darüber hinaus haben sie auch eine begriffliche Bedeutung. Es 85
86
Das scheint zumindest für die Mehrheit der untersuchten Belege zu stimmen. Eine Ausnahme könnte der Beleg (28.u) bilden, welcher – nach meinem Sprachgefühl – auch mit az anamnestisch interpretiert werden kann. Esophora liegt vor, wenn sozusagen aus der Situation heraus in den Text hinein verwiesen wird (vgl. Canisius in Harweg 2005: 205). Wenn man sich die folgenden Sätze ansieht, kann man feststellen, dass die Wahl der phorischen Ausdrücke davon abhängt, wo sich der Sprecher zur Zeit der Äußerung befindet. Bei (1) ist er in Budapest, bei (2) nicht: (1) Ich bin in Budapest geboren und lebe hier seit 30 Jahren. (2) Ich bin in Budapest geboren und lebe dort seit 30 Jahren.
Definitheit
59
ist nicht einfach, diese Bedeutung anzugeben. Meistens wird von einer Besitz- oder Zugehörigkeitsrelation gesprochen, einige Fälle, wie zum Beispiel ihr Erröten können aber schwerlich auf diese Weise interpretiert werden.
Possessiva können also [...] schwerlich durch eine eigene, ihnen inhärente, referenzsemantisch interpretierte, relationale Bedeutung gefasst werden. In der Sprachtypologie wird daher in neueren Arbeiten [...] auf eine Funktionsbestimmung [...] abgehoben, die a) die Funktion dieser Ausdrücke für die Eingrenzung des Denotats des [...] Kopfsubstantivs und damit für die potenzielle Referenz der Gesamt-NP herausstellt und b) auf die Vorgabe einer inhärenten relationalen Bedeutung zugunsten von aus dem sprachlichen Kontext oder aus dem Wissen induzierter Relationalität verzichtet. (Zifonun 2005: 7)
Das heißt, dass die Possessiva eine „referentielle Verankerung“ (Zifonun 2005: 7) des Possessums durch den Possessor ausdrücken. Es stellt sich nun die Frage, ob sie tatsächlich definit sind. Im Deutschen – und auch in anderen Sprachen, wie im Englischen, Französischen, Schwedischen, Dänischen – sind die Nominalphrasen mit Possessiva eindeutig definit. Das kann durch die Tatsache untermauert werden, dass in diesen Sprachen die Possessiva mit dem definiten Artikel nicht kombiniert werden können (auch im Schwedischen nicht, wo es einen postponierten definiten Artikel gibt, die syntaktische Position des Possessivums, also die Stelle vor dem Substantiv, leer ist). Der definite Artikel und die Possessiva haben also eine komplementäre Distribution, und auch der indefinite Artikel kann nicht verwendet werden: (1.d.a) *das mein Buch (1.d.b) *mein das Buch
Im Ungarischen werden die Possessivsuffixe auch als Definitheitsmarkierer betrachtet (vgl. Keszler (Hg.) 2000: 194; É. Kiss/Kiefer/Siptár 1999). Demnach wäre eine Nominalphrase wie (1.u) nach diesen Autoren definit: (1.u) könyvem
Buch.POSS1SG
Nicht nur einfache Nominalphrasen mit Possessivsuffix, sondern auch die Possessivkonstruktionen – nach dem Typ Péter verse (das Gedicht von Péter, eigentlich Péter Gedicht. POSS3SG) oder a ház ablaka (das Fenster des Hauses, eigentlich DEF.ART Haus Fenster.POSS3SG) – werden als definit betrachtet. Nach Szabolcsi/Laczkó (1992) können diese Konstruktionen nur dann indefinit sein, wenn sie entweder einen Indefinitheitsmarker enthalten oder wenn der Possessor in Distanzstellung auftritt und das Possessum keinen Artikel hat (ebd.: 203) (vgl. auch Abschnitt 4.1): (2.u.a) Nem
olvastam
Péter versét.87
NEG
‘Ich habe das Gedicht von Péter nicht gelesen.’
87
les.PST.1SG Péter Gedicht.POSS3SG.AKK
Beispielsatz von Szabolcsi/Laczkó (1992: 201).
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
60 (2.u.b) Péternek
nem olvastam
Péter.GEN
NEG les.PST.1SG
versét.
Gedicht.POSS3SG.AKK
‘Von Péter habe ich kein Gedicht gelesen.’
Als ein Argument für die Definitheit ungarischer Nominalphrasen mit Possessivsuffix wird oft genannt (z.B. É. Kiss/Kiefer/Siptár 1999: 79ff.), dass solche Nominalphrasen als Akkusativobjekte die objektive Konjugation fordern (vgl. auch Abschnitt 4.1). Im Ungarischen können aber die Possessiva – im Gegensatz zum Deutschen – sowohl mit dem definiten als auch mit dem indefiniten Artikel kombiniert werden. (Diese Eigenschaft teilt das Ungarische zum Beispiel mit dem Italienischen.) (3.u.a) a
barát-om
DEF.ART
Freund.POSS1SG
‘mein Freund’ (3.u.b) egy
barát-om
INDEF.ART Freund.POSS1SG
‘ein Freund von mir’
Als eine mögliche Erklärung bietet sich für das Ungarische an, dass wegen der Suffixform die Stelle vor dem Substantiv leer bleibt, im Italienischen stehen aber sowohl die Possessiva als auch die Artikel vor dem Substantiv in einer Reihenfolge „Artikel – Possessivum – Substantiv“ (also il mio amico, un mio amico), so ist diese These übereinzelsprachlich kaum haltbar. Auch die Definitheit der ungarischen Nominalphrasen mit Possessivsuffix wurde von mehreren Autoren in Frage gestellt. Harweg (1968) zum Beispiel untersucht die ungarischen Entsprechungen von haben-Konstruktionen und behauptet, die Nominalphrasen mit Possessivsuffixen (und ohne Artikel) wären im Ungarischen in diesen Konstruktionen indefinit, da sie einerseits mit dem definiten Artikel nicht kombinierbar sind (wohl aber mit dem indefiniten, s. (4.u)), andererseits aber in ihren deutschen Entsprechungen den indefiniten Artikel enthalten (4.d) (Harweg 1968: 298): (4.u.a) Van
sein.3SG
lovam.
Pferd.POSS1SG
(4.u.b) *Van
a
(4.u.c) Van
egy
lovam.
sein.3SG DEF.ART Pferd.POSS1SG sein.3SG INDEF.ART
lovam.
Pferd.POSS1SG
(4.d) Ich habe ein Pferd.
Harweg vertritt die Meinung, dass die meisten Nominalphrasen mit Possessivsuffix – außerhalb der haben-Konstruktionen – trotz des vorher Gesagten definit sind (ebd.: 299f.). Heger (1983) behauptet demgegenüber, ausgehend von Beispielen des Italienischen, solche Ausdrücke wären relational definit. Ob sie auch referenziell definit sind, hängt vom Artikel ab (ebd.: 100) (vgl. auch Abschnitt 4.1).
Definitheit
61
Zifonun (2005) bietet einen übereinzelsprachlich verwendbaren Lösungsvorschlag an. Nach Zifonun besitzen Sprachen wie das Deutsche, Englische, Französische usw., in denen sich die Possessiva mit den Artikeln nicht kombinieren lassen, „definitheitsinduzierende“ Possessiva, während Sprachen, in denen die Possessiva sowohl mit der Definitheit als auch mit der Indefinitheit der Nominalphrase verträglich, also mit dem definiten und dem indefiniten Artikel (sowie mit Demonstrativa, Quantoren und Numeralia) kombinierbar sind, „definitheitsunspezifische“ Possessiva aufweisen (ebd.: 13). Was die Definitheit der Nominalphrasen in den beiden Gruppen von Sprachen anbelangt, sind sie in Bezug auf den Possessor beide definit. Darüber hinaus sind die Sprachen mit definitheitsinduzierenden Possessiva auch bezüglich des Possessums definit, während die Sprachen mit definitheitsunspezifischen Possessiva in dieser Hinsicht unmarkiert sind (ebd.: 10). Das heißt, dass die deutsche Nominalphrase mein Fahrrad im relevanten Kontext das einzige Fahrrad bezeichnet, das mir gehört, während das ungarische biciklim nur soviel besagt, dass es um ein Fahrrad geht, das mir zugehörig ist. Ob ich darüber hinaus noch weitere Fahrräder besitze, wird nicht gesagt. Die ungarische Entsprechung von mein Fahrrad würde also a biciklim lauten, wobei neben der Zugehörigkeitsrelation auch die Definitheit expliziert wird. Dass die Nominalphrasen mit Possessivsuffix die objektive Konjugation fordern, auch wenn sie mit dem indefiniten Artikel stehen, kann mit der Possessor-Definitheit dieser Nominalphrasen erklärt werden (vgl. ebd.: 73).
4.5 Allquantoren Wie im einführenden Teil zu diesem Kapitel schon angedeutet, bilden die Allquantoren einen problematischen Bereich bei der Beschreibung der Ausdrucksmöglichkeiten der Definitheit. Ein Grund dafür ist, dass die Quantoren häufig aus der Klasse der Determinative ausgeschlossen werden mit der Begründung, sie würden nicht determinieren, sondern „nur“ quantifizieren (vgl. Vater 1986, 1991, 2000 sowie Abschnitt 3.3). Die Frage nach der Definitheit beziehungsweise Indefinitheit der Allquantoren taucht in den Arbeiten, in denen die Determinative einzeln und nicht nach ihren semantischpragmatischen Funktionen behandelt werden (so in vielen Grammatiken), überhaupt nicht auf (z.B. Duden 1984; Helbig/Buscha 1991). In diesen Arbeiten finden wir nur eine Bedeutungserklärung der Determinative. Einige Grammatiker betrachten die allquantifizierten Nominalphrasen als indefinit, möglicherweise weil diese Wörter traditionell zu den Indefinitpronomina gezählt werden.88 So schreibt z.B. Engel: „Alle Indefinita determinieren die durch ein Nomen bezeichnete Größe in sehr allgemeiner und unbestimmter Weise“ (Engel 1992: 540). 88
Haspelmath (2000: 12) behauptet demgegenüber, die Allquantoren wären definit und würden daher nicht zu den Indefinitpronomina gehören.
62
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
Es gibt daneben eine weitere Theorie, die auch in der vorliegenden Arbeit vertreten wird: Nach dieser Auffassung sind allquantifizierte Nominalphrasen als definit zu betrachten. Diese Ansicht scheinen verschiedene Autoren zu teilen (Bisle-Müller 1991; Lavric 2001; Zhou 1985 sowie in seinen früheren Arbeiten auch noch Vater 1980). Bei den erwähnten Autoren werden die Allquantoren zwar explizit zu den definiten Determinativen gezählt, die Zuordnung wird aber meistens nicht begründet. Trotzdem lassen sich für diese Auffassung mehrere Argumente finden. Die Nominalphrasen mit Allquantor entsprechen durchaus dem Kriterium der Identifizierbarkeit (s. Heidolph/Flämig/Motsch 1981: 665; Zhou 1985: 123). Ferner können sie – in bestimmten Kontexten – ohne wesentlichere Bedeutungsunterschiede durch den definiten Artikel ersetzt werden (vgl. Grimm 1970: 88). Eine indirekte Stellungnahme finden wir bei Weinrich, der die Determinative aller, sämtlicher und jeder als anaphorische Artikel betrachtet, das heißt, ihnen aus textgrammatischer Sicht die gleiche Rolle wie dem definiten Artikel zuschreibt (Weinrich 1993: 470). Ein weiteres Argument für die Definitheit allquantifizierter Nominalphrasen ist, dass die Allquantoren in vielen Sprachen – so auch im Deutschen89 – mit dem definiten Artikel kombiniert werden können. Für die Definitheit dieser Nominalphrasen spricht meiner Meinung nach auch das Quantoren-Floating.90 Wenn Allquantoren in Distanzstellung erscheinen, wird vor das zugehörige Substantiv – und zwar obligatorisch – der definite Artikel gesetzt (1.d). Beim Floaten anderer Elemente, zum Beispiel Existenzquantoren, erscheint kein definiter Artikel (2.d). (1.d.a) Alle Studenten haben sich für die Prüfung gründlich vorbereitet.91 (1.d.b) Die Studenten haben sich alle für die Prüfung gründlich vorbereitet. (2.d.a) Viele Studenten waren zu den Feierlichkeiten erschienen. (2.d.b) Ø Studenten waren viele zu den Feierlichkeiten erschienen.
Des Weiteren können die (nicht-generischen) Nominalphrasen mit Allquantor als inklusiv angesehen werden, genauso wie diejenigen, die einen definiten Artikel enthalten. Nach Hawkins (1978) ist Definitheit inklusiv. Das bedeutet, dass zwischen Sprecher und Hörer ein „shared set“ von Referenten vorausgesetzt wird, worauf sich der Sprecher bezieht. Verwendet er den definiten Artikel, referiert er auf alle Elemente, die in diesem „shared set“ enthalten sind. Meiner Meinung nach werden die Allquantoren ziemlich oft genau auf diese Weise verwendet (vgl. auch die Ersetzbarkeit von definitem Artikel und Allquantoren bei Grimm 1970). Es soll darüberhinaus noch die Auffassung erwähnt werden, nach der die Indefinita – unter ihnen auch die Allquantoren – zwar zu den Determinativen gezählt werden, aber hinsichtlich Definitheit als unmarkiert betrachtet werden (Eisenberg 2004: 184). Zuletzt soll noch die Studie von Shanen (1993) genannt werden, in der die Ansicht vertreten wird, dass das Lexem aller weder ein Determinativ noch ein Quantor ist, son89
90 91
Nur der Allquantor aller kann im Deutschen mit dem definiten Artikel kombiniert werden (s. auch Kapitel 6). Nicht alle Allquantoren können gefloatet werden (s.u.). Beispielsätze von mir.
Definitheit
63
dern lediglich signalisiert, dass die von dem zugehörigen Substantiv bezeichnete Menge als „voll“ aufzufassen ist (ebd.: 48). Im Ungarischen werden quantifizierte Nominalphrasen (einschließlich der allquantifizierten) meistens als indefinit betrachtet, da sie als Akkusativobjekte mit der subjektiven Konjugation stehen (vgl. Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 96). Diese Feststellung ist m.E. nicht haltbar. Zwar fordert der Quantor minden tatsächlich die subjektive Konjugation (und wird deswegen auch von É. Kiss/Kiefer/Siptár 1999 für indefinit gehalten), valamennyi in seiner Bedeutung als Allquantor steht aber mit der objektiven Konjugation. Darüber hinaus gibt es auch unter den meistens als definit betrachteten Pronomina auf -ik einen Allquantor, nämlich mindegyik, der auch die objektive Konjugation fordert (s. oben). Einzig bei Szabolcsi/Laczkó (1992) wird behauptet, dass das Merkmal [+definit] ein semantisches ist und nicht in jedem Fall mit der Wahl zwischen der subjektiven und der objektiven Konjugation korreliert. Als Beispiel wird minden genannt, das mit der subjektiven Konjugation steht (aber semantisch definit ist) (vgl. ebd.: 225). Bevor ich mit der Analyse beginne, muss noch eine terminologische Frage geklärt werden. Die im Folgenden analysierten Indefinitpronomina werden zwar als Allquantoren bezeichnet, sie stellen aber keine Allquantifikation im Sinne der Logik dar (vgl. Zifonun/Hoffmann/Strecker 1997: 1967). Diese Determinative bezeichnen nämlich nicht (unbedingt) alle möglichen Denotate des zugehörigen Substantivs, sondern nur diejenigen, die – aufgrund des situationellen oder sprachlichen Kontextes – in Frage kommen. Ihre Bezeichnung als Allquantor kann aber m.E. trotzdem beibehalten werden. Im Folgenden werden die Allquantoren im Deutschen und im Ungarischen auf ihre Verwendungsmöglichkeiten hin untersucht. In unseren Vergleichssprachen – wie auch in vielen anderen Sprachen – gibt es zwei Typen von allquantifizierenden Pronomina, von denen zu dem ersten Typ Pronomina gehören, die eine kollektive Bedeutung haben, den zweiten Typ hingegen Allquantoren bilden, die distributiv sind. Der erste Typ wird im Deutschen von aller und sämtlicher, im Ungarischen von minden und valamennyi vertreten, von den distributiven Allquantoren werden hier das deutsche jeder und das ungarische mindegyik untersucht.92 Die Analyse beginne ich mit den Allquantoren mit kollektiver Bedeutung. Was das Deutsche anbelangt, wurde hier das Determinativ aller am eingehendsten untersucht. Aller als Allquantor drückt Totalität aus, das heißt, es bezieht sich auf die „vollständige“ Menge der bezeichneten Denotate. Diese Bedeutung weist aller sowohl bei singularischen als auch bei pluralischen Substantiven auf, vgl. alle Kinder, alle Mühe/alles Geld. Aller wird (in nicht-generischen Nominalphrasen) anaphorisch verwendet, was auch als ein Indiz für seine Definitheit aufgefasst werden könnte. (3.d) Lee Buckley kauerte sich unterdessen hinter einen der größeren Steinbrocken, legte seine Winchester schußbereit auf die Deckung und wartete. Der gegenüberliegende 92
Es gibt auch schon Versuche, den definiten Artikel als Allquantor aufzufassen, so auch Werner (1978). Diese Auffassung ist nicht haltbar, wie die folgenden Beispielsätze zeigen: Ich habe mir den Arm gebrochen (Menschen haben in der Regel zwei Arme) oder Der Sturm hat die Dachziegel beschädigt (aber mit großer Wahrscheinlichkeit nicht jedes einzelne Stück).
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
64
Rand des breiten Canyons hob sich bereits dunkel und drohend gegen den Abendhimmel ab, während alle Felsen und Büsche hier unten im Grund allmählich ihre Konturen verloren. (LIM/LI1.00002 Nagel, C.H.: Dieser Mann traf …) (4.d) Eine sehr wesentliche Rolle in dem komplexen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft der Kinder und schulischer Leistung scheint die milieubedingte geringe Entfaltung von Unterschichtkindern im sprachlichen Bereich zu spielen. Unsere Schule ist aber weitgehend eine Sprachschule. Nahezu alles Wissen, das sie zu vermitteln hat, wird in sprachlicher Form dargeboten. (LIM/LI1.00013 Harnisch, G.: Die Sprache …)
Das ungarische minden hat auch eine kollektive Bedeutung und wird anaphorisch (oder deiktisch) verwendet.93 Nach minden stehen nicht nur Kontinuativa sondern auch Individuativa im Singular. (Das ist ein allgemeines Charakteristikum des Ungarischen – wie auch anderer uralischer Sprachen. Es reicht aus, wenn ein Element in der Nominalphrase das Merkmal [Mehrheit] aufweist. So muss (und darf) man nicht einmal nach den Kardinalzahlen den Plural verwenden, also 5 könyv (‘5 Bücher’, eigentlich ‘5 Buch’).) (3.u) Az
előbbit
külügyminiszteri tanács
DEF.ART Vorherig.AKK
a
illetően
DEF.ART Außenministerrat
elfogadott hogy
legutóbbi
az
unió
dass
megadni Írországnak
bereit
all-
a
belül
azt,
innerhalb
lehetséges möglich
das.AKK
segítséget
Hilfe.AKK
továbblépéshez. (MNSZ)
geben
‘Was das vorher Erwähnte anbelangt, wird die auf der letzten Sitzung des Außenministerrates angenommene Stellungnahme gestärkt, vor allem der Teil, dass die EU bereit ist, Irland alle mögliche Hilfe zu geben.’
(4.u) És
Irland.DAT
Sitzung.POSS3SG.SUP
dies.SUP
minden
kész
DEF.ART Union
ülésén
ezen
Stellungnahme.AKK
stärk.3PL
letzt
állásfoglalást,
angenommen
megerősítik
betreffend
amikor
und als
tekintetével
DEF.ART Weitergehen.ALL
kilépett
austret.PST.3SG
az
DEF.ART
önkéntelenül is
Blick.POSS3SG.KOM ungewollt
Helyette
minden falon,
az
előadás
statt seiner all-
auch
utcára,
Straße.SUB
Ladilla Józsefet
Ladilla József.AKK
kerítésen és
Wand.SUP Zaun.SUP und
plakátjaira
kereste.
such.PST.3SG
fán
Baum.SUP
bukkant. (MNSZ)
DEF.ART Aufführung
Plakat.POSS3SG.PL.SUB find.PST.3SG
‘Und als er auf die Straße trat, suchte er auch ungewollt mit seinem Blick József Ladilla. Statt seiner erblickte er an allen Mauern, Zäunen und Bäumen die Plakate der Aufführung.’
Das Determinativ aller – wie auch minden – hat zwar eine kollektive Bedeutung, kann aber in einigen Fällen durchaus auch distributiv interpretiert werden: 93
Minden, wie auch das deutsche jeder (vgl. Fn. 103), hat auch eine indefinite Bedeutung. In diesem Fall hat es jedoch eher die Bedeutung „ein beliebiges“. Vgl. Minden pillanatban várható volt. (‘Er konnte jede Minute eintreffen.’).
Definitheit
65
(5.d) [...] Nach dem Protokoll mußten sich alle Gäste eine halbe Stunde vor dem Eintreffen der Hoheit auf ihren Plätzen befinden. (LIM/LI1.00018 de Villalonga, J.: Nichts gegen mich) (5.u) Németországnak
Deutschland.DAT
hogy
dass
volt
sein.PST.3SG
annyi
soviel
minden leszálló amerikai all-
bérleti
landend amerikanisch
díjat
kötött
forder.PST.3SG
esze,
Klugheit.POSS3SG
repülő
Flugzeug
ki
PRT
után
nach
magának [...] (MNSZ)
Miete.ADJ Gebühr.AKK
für sich
‘Deutschland war klug genug, nach jedem landenden amerikanischen Flugzeug Gebühren zu fordern.’
Kontextbedingt können die Allquantoren aller beziehungsweise minden auch iterativ gedeutet werden: (6.d) Der Horchraum meldete jetzt alle dreißig Sekunden. (LIM/LI1,00007 Alman: Endrass, 1970) (6.u) A képviselőknek egy ciklusban összesen hat
DEF.ART Abgeordnet.PL.DAT eins Periode.INE
nyilvános vagyonnyilatkozatot
kell
öffentlich Besitzerklärung.AKK müss.3SG
egyet-egyet
a
geben.3PL
mandátumuk
eins.AKK eins.AKK DEF.ART Mandat.POSS3PL
illetve
beziehungsweise
lejártakor,
insgesamt sechs
tenniük:
egyet-egyet
megszerzésekor, Erlangen.TEMP
Ablaufen.TEMP eins.AKK eins.AKK
pedig
und
minden januárban. (MNSZ)
jed-
‘Die Abgeordneten sollen in einer Legislaturperiode insgesamt sechs Besitzerklärungen abgeben, je eine am Anfang und am Ende ihrer Amtszeit und je eine jedes Jahr im Januar.’
Januar.INE
In diesen Fällen wird m.E. auch ihre Bedeutung als Allquantor beibehalten. Unter den Allquantoren im Deutschen kann aller auch gefloatet werden, also in Distanzstellung von der zugehörigen Nominalphrase auftreten.94 In diesen Fällen steht die Nominalphrase mit dem definiten Artikel, auch wenn die nicht gefloatete Form keinen Artikel enthalten hat (s. auch oben): (7.d) Alle Schwierigkeiten wurden überwunden. Die Schwierigkeiten wurden alle überwunden.95 Was das ungarische minden anbelangt, kann es in dieser Form nicht gefloatet werden. In Distanzstellung kann nur die Form mind erscheinen:96 (7.u) Minden nehézséget
94 95 96
all-
Schwierigkeit.AKK
legyőztünk.
überwind.PST.1PL
Zum Floating s. auch Ballweg (1997); Vater (1980). Beispielsätze von mir, die Sätze unter (7.u) sind die Übersetzungen von (7.d). Bei mind ist die Voranstellung unmöglich.
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
66
A
nehézségeket
DEF.ART Schwierigkeit.PL.AKK
mindet
legyőztük.
all.AKK
überwind.PST.1PL
Steht mind in Distanzstellung, so erscheint das Bezugssubstantiv im Plural und das nachgestellte mind wird dekliniert, verhält sich also wie eine Apposition. Das nachgestellte appositive mind kann auch mit Nominalphrasen im Singular vorkommen. In diesen Fällen signalisiert es eine Art „Vollständigkeit“ oder „Ganzheit“. Würde man denselben Sachverhalt durch ein vorangestelltes Determinativ ausdrücken, sollte man az összes wählen (wobei die Position von összes umstritten ist, da es nur kombiniert mit dem definiten Artikel auftritt). (8.u.a) A
levest
(8.u.b) Az
összes levest
DEF.ART Suppe.AKK DEF.ART all-
mindet
megettem.97
all.AKK aufess.PST.1SG
Suppe.AKK
megettem.
aufess.PST.1SG
Im Übrigen kann auch az összes in Distanzstellung erscheinen: (8.u.c) A
levest
DEF.ART Suppe.AKK
az
DEF.ART
összeset
all.AKK
megettem.
aufess.PST.1SG
‘Ich habe die ganze Suppe aufgegessen.’
Zu beachten ist, dass aller auch in Kontexten auftreten kann, in denen eine Deutung als Allquantor problematisch ist. Hier geht es um Ausdrücke wie in aller Heimlichkeit oder in aller Ruhe. In diesen Nominalphrasen bezeichnet aller nicht unbedingt Totalität, sondern einen sehr hohen Grad. Es handelt sich um feste Wendungen. Der andere Allquantor im Deutschen mit einer kollektiven Bedeutung, sämtlicher, wurde nicht annähernd so detailliert beschrieben wie aller. Sämtlicher fehlt zum Beispiel gänzlich in der Auflistung der Determinative in Helbig/Buscha (1991). Sämtlicher und aller werden häufig als Synonyme aufgefasst, sämtlicher gilt jedoch als stilistisch markiert. Was die Gebrauchshäufigkeit angeht, wird sämtlicher viel seltener als aller verwendet.98 Das kann nicht allein mit stilistischen Unterschieden erklärt werden, auch die Gebrauchskontexte von sämtlicher sind eingehender zu untersuchen. Wie aller, hat auch sämtlicher eine kollektive Bedeutung und wird meistens anaphorisch verwendet. (9.d) Genau zwei Minuten vor dem planmäßigen Start erhielten die Flughafenbehörden einen anonymen Telefonanruf mit dem Hinweis, an Bord befinde sich eine Bombe. Sämtliche Insassen der wartenden Maschine mußten sofort von Bord gehen [...] (LIM/LI1.00344 General-Anzeiger, 79/24) (10.d) Nach dem Ende der 13jährigen Amtszeit Afanasjews stürzte das Flaggschiff der gleichgeschalteten sowjetischen Presse in die Bedeutungslosigkeit ab – wegen unklarer Besitzverhältnisse beschlagnahmte ein Moskauer Gericht vergangene Woche gar sämtliches Prawda-Eigentum. (S94/H16.01937 Der Spiegel) 97 98
Beispielsätze von mir. DeReKo, morphosyntaktisch annotierte Korpora: 68.017 Belege mit aller, 1.249 Belege mit sämtlicher.
Definitheit
67
Auch nach sämtlicher stehen die zählbaren Substantive im Plural, die unzählbaren im Singular. Eine distributive Interpretation ist auch bei den Nominalphrasen mit sämtlicher – kontextabhängig – möglich. (11.d) Der Wachoffizier führte zwar das Boot, aber er, der Kommandant, stand im Hintergrund jede Sekunde bereit, die Führung [...] des Bootes zu übernehmen. So hatte es auch sein voriger Kommandant [...] gehalten. Und so hielt er es und so verfuhren sämtliche anderen U-Bootkommandanten. (LIM/LI1.00007 Alman, K. et al.: Der Landser)
Der Allquantor sämtlicher kann – im Gegensatz zu aller – nicht iterativ interpretiert werden (vgl. Shanen 1993: 48): (12.d) *sämtliche Augenblicke
Als letztes soll auch erwähnt werden, dass sämtlicher nicht in Distanzstellung von der zugehörigen Nominalphrase auftreten kann: (13.d) Sämtliche Bücher habe ich verkauft.99 *Die Bücher habe ich sämtliche verkauft.
Was den zweiten ungarischen Allquantor mit kollektiver Bedeutung, valamennyi,100 angeht, wird auch er anaphorisch verwendet. Das zugehörige Substantiv steht im Singular. (14.u) A
nemzeti kisebbségek
külön
DEF.ART national Minderheit.PL
szintén
auch
fejezet szabályozza.
getrennt Kapitel regel.3SG
megteremtik
schaff.3PL
etnikai
védelmét
Schutz.POSS3SG.AKK
a
feltételeket
Ennek
értelmében
dies.GEN Sinn.POSS3SG.INE
valamennyi
DEF.ART Bedingung.PL.AKK all-
identitásának
Idenität.POSS3SG.GEN
állampolgár Staatsbürger
megőrzéséhez [...] (MNSZ)
ethnisch
‘Der Schutz der nationalen Minderheiten wird auch durch ein selbstständiges Kapitel geregelt. Demnach werden die Bedingungen für die Bewahrung der nationalen Identität eines jeden Staatsbürgers geschaffen.’
(15.u) [...] amikor
wenn
a
Bewahrung.POSS3SG.ALL
kormány […] a
DEF.ART Regierung
valamennyi információ birtokában
all-
Information
akkor [...] az
Besitz.POSS3SG.INE
Országgyűlés elé terjeszti
kapcsolatos
verbunden
lesz,
sein.FUT.3SG
javaslatát. (MNSZ)
dann
‘und wenn die Regierung alle Informationen über die Flugzeuge hat, wird sie ihren Entwurf vor das Parlament bringen.’
99 100
DEF.ART Parlament
gépekkel
DEF.ART Maschine.PL.KOM
vor unterbreit.3SG Vorschlag.POSS3SG.AKK
Beispielsatz von mir. Dieser Quantor hat auch eine Interpretation als Existenzquantor mit der Bedeutung ‘einige’, die in diesem Kapitel ausgeklammert bleibt. Die beiden können aufgrund der Konjugation unterschieden werden. Valamennyi fordert als Allquantor die objektive, als Existenzquantor die subjektive Konjugation.
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
68
Wie das deutsche sämtlicher, vertritt auch das ungarische valamennyi eine stilistisch gehobenere Variante des Allquantors. Auch seine Gebrauchshäufigkeit ist niedriger als die von minden. Valamennyi kann auch nicht iterativ gedeutet werden: (16.u) *Valamennyi all-
percben
csörgött
a
Minute.INE klingel.PST.3SG DEF.ART
telefon.101
Telefon
‘Jede Minute klingelte das Telefon.’
Was die Position von valamennyi in der Nominalphrase angeht, kann dieser Quantor auch gefloatet werden. In diesem Fall steht die zugehörige Nominalphrase mit dem definiten Artikel, das Substantiv steht im Plural. Valamennyi – wie auch mind – verhält sich bei Distanzstellung wie eine Apposition und wird dekliniert. (17.u) Valamennyi
könyvet
all-
DEF.ART Buch.PL.AKK
‘Ich habe alle Bücher gelesen.’
A
Buch.AKK
elolvastam.102
könyveket
ausles.PST.1SG
valamennyit
all.AKK
elolvastam.
ausles.PST.1SG
Als letztes sollen noch die Gebrauchsweisen der distributiven Allquantoren, das deutsche jeder103 und das ungarische mindegyik untersucht werden. Diese Quantoren haben ausschließlich eine distributive Bedeutung, so können sie mit kollektiven Prädikaten nicht verbunden werden: (18.d) *Jede Karte wurde gemischt.104 (18.u) *Mindegyik kártyát megkeverték.
jed-
Karte.AKK
misch.PST.3PL
Wie die anderen Allquantoren, werden auch die distributiven anaphorisch gebraucht. Das deutsche jeder kann – im Gegensatz zu aller und sämtlicher – nur mit singularischen Substantiven vorkommen. Kontinuativa aber scheinen nach jeder nur in den seltensten Fällen zu stehen. (19.d) [...] Es gebe aber die Befürchtung, [...], daß die Kroaten die Waffenruhe zu einer Neugruppierung ihrer Streitkräfte nutzten könnten. Bisher habe es nach jedem Abschluß eines Waffenstillstands neue Kämpfe gegeben. (M91TG/101.27781 Mannheimer Morgen, 7.1.1991) (20.d) Möllemann hat deshalb nicht nur die Pflicht darauf hinzuweisen, daß Investitionen das Rückgrat jeder Wirtschaft sind [...] sondern er muß auch für den Vorrang für private Initiativen sorgen. (M91TG/101.28051 Mannheimer Morgen, 8.1.1991)
Selbstverständlich steht auch das ungarische mindegyik mit einem singularischen Substantiv. Kontinuativa scheinen nach diesem Determinativ ausgeschlossen zu sein. 101
Beispielsatz von mir. Beispielsatz von mir. 103 Jeder hat auch eine Bedeutung als ein indefinites Determinativ (s. auch Fn. 93). Auch in dieser Bedeutung wird er distributiv interpretiert, hat aber eher die Bedeutung ‘beliebig’. Vgl. Besuche mich einmal. Du kannst jeden Tag kommen. (Heidolph/Flämig/Motsch 1981: 664). 104 Beispielsatz sowie Übersetzung von mir. 102
Definitheit (19.u) Ma
heute
69 már
schon
interneten
szinte
fast
mindegyik hazai
jed-
heimisch
újság
hozzáférhető
Zeitung erreichbar
is [...] (MNSZ)
Internet.SUP
‘Heute ist fast jede heimische Zeitung auch im Internet erreichbar.’
auch
(20.u) *mindegyik információ
Während das deutsche jeder auch iterativ gebraucht werden kann, ist diese Verwendungsweise beim ungarischen mindegyik nicht möglich. (21.d) Jedes vierte Video, das von der „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften“ seit 1983 untersucht wurde, ist wegen pornographischen Inhalts auf den Index gesetzt worden. (MMM/101.27726 Mannheimer Morgen, 7.1.1991) (21.u.) *mindegyik negyedik videófilm
Zum Schluss soll noch die Möglichkeit zum Floating untersucht werden. Sowohl das deutsche jeder (22.d) als auch das ungarische mindegyik (22.u) können in Distanzstellung auftreten. (Für mindegyik ist aber die Distanzstellung untypisch, als Bestandteil einer Subjekt-Nominalphrase kann es überhaupt nicht gefloatet werden (22.u.b).) In beiden Fällen steht das Substantiv im Plural und die Nominalphrase enthält den definiten Artikel. Wie die anderen gefloateten Quantoren, wird auch mindegyik morphologisch-syntaktisch als eine Apposition betrachtet und dekliniert. (22.d) Jedes Kind hat einen Apfel bekommen.105 Die Kinder haben jedes einen Apfel bekommen. (22.u.a) Mindegyik jed-
A
DEF.ART
gyereket
Kind.AKK
gyerekeket
Kind.PL.AKK
megajándékozták.
beschenk.PST.3PL
mindegyiket
jed.AKK
megajándékozták
beschenk.PST.3PL
‘Jedes Kind wurde beschenkt.’ (22.u.b) Mindegyik jed-
*A
gyerek Kind
gyerekek
DEF.ART Kind.PL
kapott
egy almát.
bekomm.PST.3SG eins Apfel.AKK
mindegyik kapott jed-
egy
bekomm.PST.3SG eins
almát.106
Apfel.AKK
‘Jedes Kind hat einen Apfel bekommen.’
Die Ergebnisse der Analyse können in der folgenden Übersichtstabelle zusammengefasst werden:
105 106
Beispielsätze sowie Übersetzung von mir. Hier wäre die Konstruktion a gyerekek mindegyike (DEF.ART Kind jed.POSS3SG) auch korrekt, in diesem Fall handelt es sich aber um eine Possessivkonstruktion und nicht um die Distanzstellung des Determinativs.
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
70
Deutsch
Gebrauchsweise anaphorisch kollektiv distributiv iterativ floatbar
aller + + + + +
sämtlicher + + + -
Ungarisch
jeder + + + +
minden + + + + ?
valamennyi mindegyik + + + + + + ?
Tab 2: Gebrauchsweisen der Allquantoren
Alle untersuchten Allquantoren erwiesen sich als anaphorisch. Das war auch zu erwarten, weil diese Eigenschaft eines der Kriterien war, anhand deren wir die Allquantoren als definit eingestuft haben. Sowohl die kollektiven als auch die distributiven Allquantoren können – die ersteren jedoch nur in bestimmten Kontexten – distributiv gedeutet werden, die distributiven haben aber keine kollektive Bedeutung. Von den deutschen Allquantoren kann nur sämtlicher nicht iterativ interpretiert werden, im Ungarischen dagegen ist eine solche Interpretation nur bei minden möglich. Sämtlicher unterscheidet sich von den anderen deutschen Allquantoren auch dadurch, dass es nicht gefloatet werden kann. Im Ungarischen kann nur valamennyi ohne Weiteres in Distanzstellung erscheinen, die anderen beiden Allquantoren können nur mit Einschränkungen gefloatet werden.
5. Indefinitheit
Im Folgenden wird zuerst das Phänomen der Indefinitheit kurz beschrieben, dann werden diejenigen Determinative im Deutschen und im Ungarischen ausgesondert, die Indefinitheit anzeigen können. Der Gebrauch dieser Determinative in den beiden Sprachen wird einer kontrastiven Analyse unterworfen. Ein besonderes Augenmerk wird dabei dem Vergleich des indefiniten und des Nullartikels gewidmet. In einem eigenständigen Unterkapitel (5.6) werden die spezifischen und die nicht-spezifischen indefiniten Nominalphrasen untersucht bzw. deren Erscheinungsformen in den betreffenden Sprachen miteinander verglichen. In der Literatur existieren zahlreiche Untersuchungen zum Thema Indefinitheit107 (auch wenn dieser Bereich weniger untersucht ist als der der Definitheit), in vielen wird aber das Konzept der Indefinitheit nicht definiert. Es gibt auch verschiedentlich den Vorschlag, Indefinitheit ex negativo zu definieren, demzufolge „das, was nicht definit ist, indefinit ist“ (wenn das auch selten explizit formuliert wird). Andere Vorschläge betonen die Nicht-Identifizierbarkeit eines potenziellen Referenten als das entscheidende semantische Merkmal indefiniter Nominalphrasen (z.B. Oomen 1977; Vater 2000; Zhou 1985), ein Ansatz, der auch die Grundlage der Beschreibung in vielen Grammatiken des Deutschen bildet (Duden 1984; Uzonyi 1996). Stellvertretend sei hier die Definition von Zhou (1985: 104) zitiert, nach der indefinite Determination voliege, wenn das Determinativ angibt, „daß sich [sein] Bezugswort auf eine für den Hörer nicht identifizierbare Teilmenge der betreffenden Gegenstandsgattung bezieht“. Diese Ansätze gehen von der Perspektive des Hörers aus. Für den Sprecher kann der Referent der Nominalphrase sowohl identifizierbar als auch nicht-identifizierbar sein. Durch den Gebrauch indefiniter Determinative signalisiert er, dass er den Referenten als für den Hörer nicht-identifizierbar voraussetzt. Hawkins scheint seine Überlegungen (Hawkins 1978, 1991) aus der Sicht des Sprechers zu entwickeln; ebenso wie Definitheit wird Indefinitheit als ein semantisch-pragmatisches Phänomen behandelt. Nach Hawkins zeichnet sich Indefinitheit durch „Exklusivität“ aus (Hawkins 1978: 186). Der Sprecher setzt für sich und den Hörer ein sog. „shared set“ von Gegenständen und Sachverhalten als Referenzbereich voraus. Verwendet er eine indefinite Nominalphrase, muss dieses „shared set“ auch Gegenstände oder Sachverhalte enthalten, auf die sich der Sprecher in der konkreten Redesituation nicht bezieht. 107
Vgl. z.B. van Langendonck (1980).
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
72 (1)
Ich habe mir einen Arm gebrochen. („shared set“: Menschen haben – in der Regel – zwei Arme)
Dagegen ist die Grammatikalität des Satzes (2)
Ich habe mir eine Nase gebrochen.
?
eher fragwürdig, da das „shared set“ nur ein einziges Element enthält. Die Exklusivität kann auch bestehen, wenn kein solches „shared set“ vorausgesetzt ist: (3)
Gestern habe ich im Zoo einen Pandabären gesehen. Es ist der einzige Pandabär, den es noch auf der Welt gibt.108
Auch in der vorliegenden Arbeit wird Indefinitheit als ein semantisch-pragmatisches Phänomen betrachtet. Das wichtigste Charakteristikum indefiniter Nominalphrasen ist, dass ihr Referent für den Hörer nicht-identifizierbar ist. Ob er für den Sprecher identifizierbar ist, ist irrelevant, relevant wird das erst bei der Unterscheidung von spezifischen und nicht-spezifischen Nominalphrasen (vgl. Abschnitt 5.6). Unter den Determinativen können sowohl im Deutschen als auch im Ungarischen der indefinite Artikel, der Nullartikel, die Quantordeterminative (außer den Allquantoren), und im Deutschen das Determinativ kein Indefinitheit anzeigen. Im Folgenden wird der Gebrauch der indefiniten Determinative in beiden Vergleichssprachen ausführlich beschrieben. Dabei beschäftigt sich jeweils ein gesondertes Unterkapitel mit der Optionalität des indefiniten Artikels im Ungarischen (5.3) bzw. mit den indefiniten Pendants der anamnestischen Demonstrativa (5.5). Das abschließende Unterkapitel 5.6 behandelt das Phänomen der Spezifizität.
5.1 Indefiniter Artikel Unter den Determinativen, die Indefinitheit anzeigen können, kommt dem indefiniten Artikel die wichtigste Rolle zu. Wahrscheinlich ist er der häufigste Indefinitheitsanzeiger (neben dem Nullartikel). Der indefinite Artikel hat sich sowohl im Deutschen als auch im Ungarischen aus dem Numerale „eins“ herausgebildet – wie in den meisten Sprachen, in denen die Existenz eines indefiniten Artikels angenommen wird. Aufgrund der Formgleichheit wird sowohl für das Deutsche als auch für das Ungarische in neueren Arbeiten die Existenz eines indefiniten Artikels bestritten und die Form den Numeralien/Quantoren zugeordnet.109 Da ich der Meinung bin, dass der indefinite Artikel nicht nur eine rein quantifizierende Funktion hat, werde ich die Existenz eines indefiniten Artikels in den beiden Vergleichssprachen voraussetzen und seine Gebrauchsweisen zum Ausdruck der Indefinitheit beschreiben. 108
Beispielsatz von Gunkel (persönliche Mitteilung). Vgl. auch ähnliche Beispiele in Hawkins (1991: 427). 109 Vgl. Vater (1991: 16); É. Kiss/Kiefer/Siptár (1999: 79).
Indefinitheit
73
Die Funktion des indefiniten Artikels – wie auch aller anderen indefiniten Determinative – ist es, anzuzeigen, dass der Referent der zugehörigen Nominalphrase für den Hörer nicht identifizierbar ist (vgl. oben). Was die Gebrauchsweisen des indefiniten Artikels angeht, gibt es solche, die nicht auf die hier behandelten Vergleichssprachen beschränkt sind, sondern universelle Gültigkeit zu haben scheinen. In den Sprachen, in denen ein indefiniter Artikel existiert, wird dieser zur Einführung neuer Referenten verwendet. Das ist auch bei unseren Vergleichssprachen der Fall: (1.d) [...] und sah dann plötzlich auf etwa 200 Meter ein Gehörn aus dem Gras herausragen, und zwar war es ein hohes und starkes. Das mußte der Bock sein. (LIM/LI1.00126 Sachsen, E.: Mein Jagdbuch) (1.u) Valahol
a
völgy
oldalára
kis
ház. (MNSZ)
nagy hegyek tövében,
irgendwo DEF.ART groß Tal
egy
eldugott
Berg.PL Fuß.POSS3SG.INE INDEF.ART versteckt
Seite.POSS3SG.SUB
kapaszkodva,
sich-anlehnend
van
egy
sein.3SG INDEF.ART
klein
Haus
‘Irgendwo am Fuß der großen Berge, an der Seite eines verborgenen Tals, steht ein kleines Haus.’
Mit dem indefiniten Artikel kann auch ein beliebiges Element einer Klasse bezeichnet werden: (2.d) „Wenn es sich um einen Mord handelt, macht man eben Gedankensprünge“, hatte er in einem Film jemanden sagen hören. (LIM/LI1.00111 Handke, P.: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter) (2.u) Ábrahám Attilát
Ábrahám Attila.AKK
egy
is
auch
felbőszült verärgert
megsértette
beleidig.PST.3SG
játékos. (MNSZ)
INDEF.ART
Spieler
‘Auch Attila Ábrahám hat ein verärgerter Spieler beleidigt.’
Für den Gebrauch des indefiniten Artikels spielt auch die funktionale Satzperspektive eine Rolle. Man kann die Tendenz beobachten, dass Nominalphrasen, die zum rhematischen Teil des Satzes gehören, mit dem indefiniten Artikel stehen (vgl. Welke 1993: 31f.). (3.d) Also hat Dunkelblau eine „beruhigende“ Wirkung auf das vegetative Nervensystem. (LIM/LI1.00108 Lüscher, M.: Der Lüscher-Test) (3.u) A
polgári
DEF.ART bürgerlich
egy
INDEF.ART
ez
a
társadalmakban
Gesellschaft.PL.INE
masszív massiv
politika
van
sein.3SG
középréteg,
Mittelschicht
közönsége. (MNSZ)
das DEF.ART Politik
‘In den bürgerlichen Gesellschaften gibt es eine massive Mittelschicht, sie ist das „Publikum“ der Politik.’
Publikum.POSS3SG
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
74
Die weiteren Gebrauchskontexte des indefiniten Artikels scheinen sprachspezifisch zu sein. Die singularischen Nominalergänzungen/Prädikative stehen im Deutschen meistens mit dem indefiniten Artikel. Der indefinite Artikel kennzeichnet, dass die Subjektsnominalphrase ein Vertreter der durch das Prädikativ bezeichneten Klasse ist (4.d.a). Eine Ausnahme bilden die Berufs-, Religions- und Herkunftsbezeichnungen und die Titel, die ohne Artikel stehen (4.d.b). (Im Weiteren werden sie als Berufsbezeichnungen zusammengefasst.) Werden diese aber als Eigenschaftsbezeichnungen verwendet, bekommen sie wiederum den indefiniten Artikel (4.d.c). Der indefinite Artikel wird auch gebraucht, wenn die Berufsbezeichnung mit einem Attribut versehen wird (4.d.d). (4.d.a) Der Arzt ist ein vielbeschäftigter Mann, [...] (LIM/LI1.00108 Lüscher, M.: Der Lüscher-Test) (4.d.a’) Das ist ja fast ein Dummerjungenstreich. (LIMTG/LI1.00005 Dorn: Tod, 1970) (4.d.b) [...] dabei durfte aber nicht erwähnt werden, daß der Herzog von Reichstatt Ø König von Rom gewesen war! (LIM/LI1.00250 Steinert, M.: Hitlers Krieg und die Deutschen) (4.d.c) Er ist ein Schauspieler. (Helbig/Buscha 1991: 378) (4.d.c’) Ich bin ein Berliner. (Eichhoff 1993) (4.d.d) Ein großer Chirurg wollte er werden. (LIM/LI1.00006 St. Pauli Nachrichten 131: 3)
Was das Ungarische anbelangt, stehen hier die Prädikative bzw. die nominalen Prädikate meistens ohne Artikel (4.u.a) (vgl. auch Abschnitt 5.2). Der indefinite Artikel kann, muss aber nicht stehen, wenn das Prädikativ ein Attribut aufweist (4.u.b). Berufs- und Herkunftsbezeichnungen werden auch im Ungarischen ohne Artikel gebraucht, auch wenn sie attributiv erweitert sind (4.u.c-d). (4.u.a) Nélkülük Ø adathalmaz volna ohne sie
Ø kavargó turbulent
csupán
Datenhaufen sein.KOND.3SG nur
helyszín,
Ort
vagy oder
egy
dermedt
INDEF.ART erstarrt
a
DEF.ART
világ,
Welt
múzeum [...] (MNSZ) Museum
‘Ohne sie wäre die Welt nur ein Datenhaufen, ein turbulenter Ort oder ein erstarrtes Museum.’ egy
(4.u.b) Ez
das
INDEF.ART
nagyon fontos probléma. (MNSZ) sehr
wichtig Problem
‘Das ist ein sehr wichtiges Problem.’ (4.u.c) Ø
Táncos Tänzer
volt. (MNSZ) sein.PST.3SG
‘Er war Ø Tänzer.’ (4.u.d) Ma
heute
Ø
német
deutsch
író. (MNSZ)
Schriftsteller
‘Heute ist er ein deutscher Schriftsteller.’
Indefinitheit
75
Die oben angeführten Beispiele für attribuierte indefinite Nominalphrasen gelten nur für adjektivische Attribute. Wenn eine indefinite Nominalphrase (nicht nur als Prädikativ, sondern auch in anderen syntaktischen Positionen) durch einen Relativsatz näher bestimmt wird, weisen unsere Vergleichssprachen weitere Unterschiede auf. Eine mit dem indefiniten Artikel eingeleitete Nominalphrase kann im Deutschen sowohl nicht-restriktive (5.d.a) als auch restriktive (5.d.b) Relativsätze als Attribut enthalten. Im Ungarischen dagegen sind nach einer Nominalphrase mit indefinitem Artikel nur nicht-restriktive Relativsätze möglich (5.u.a). Im Falle von restriktiven Relativsätzen muss der indefinite Artikel mit dem fernverweisenden adjektivischen Demonstrativpronomen olyan kombiniert werden (5.u.b), das hier rein kataphorisch verwendet wird (vgl. auch Abschnitt 4.2 bzw. Kapitel 6). (5.d.a) Nach dieser Einführung begann ein Rundgang, bei dem uns vor allem die Versuchsabteilung interessierte [...]. (LIM/LI1.00032 Schneider, G.: Die Belegschaft 11/1970: 8) (5.d.b) Er führt in einem solchen Stadium ein Leben, in dem er tatsächlich nicht mehr von der Stelle kommt. (LIM/LI1.00104 Bürger-Prinz, H.: Ein Psychiater berichtet) (5.u.a) Létezett
existier.PST.3SG
amely
REL.PRON
látott
egy
INDEF.ART
a
DEF.ART
együttes, Band
Beatleshez
Beatles.ALL
hasonló funkciót
ähnlich Funktion.AKK
el […]. (MNSZ)
ausüb.PST.3SG
‘Es gab eine Band, die eine ähnliche Funktion wie die Beatles ausgeübt hat.’
(5.u.b) […] aki
REL.PRON
lakik,
PRT
San Franciscótól
délre
San Francisco.ABL Süden.SUB
amelytől
Jeremiásnak
egy
olyan
INDEF.ART solch-
rémálmai
házban
Haus.INE
wohn.3SG REL.PRON.ABL Jeremiás.DAT Albtraum.POSS3SG.PL
vannak. (MNSZ)
sein.3PL
‘[…] der südlich von San Francisco in einem Haus wohnt, von dem Jeremiás Albträume hat.’
Für das Deutsche gelten Relativsätze, die in ihren Bezugsnominalphrasen das Demonstrativum solcher enthalten, eher als unüblich (vgl. Abschnitt 4.2). Die Ergebnisse der Analyse können wie folgt zusammengefasst werden:
76
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
Gebrauchsweise Neueinführung beliebiges Element Rhema Prädikativ ohne Attribut mit Attribut Berufsbezeichnung110 ohne Attribut Berufsbezeichnung mit Attribut Relativsatz nicht-restriktiv restriktiv
Deutsch + + + + + -
Ungarisch + + + (+) (+) -
+
-
+ +
+ -
Tab 3: Gebrauchskontexte des infinitiven Artikels Aus der Tabelle wird ersichtlich, dass der indefinite Artikel im Deutschen in mehr Gebrauchskontexten vorkommt als im Ungarischen. Während er von den untersuchten Kontexten einzig mit Berufs- und Herkunftsbezeichnungen als Prädikativen nicht gebraucht wird, wird der ungarische indefinite Artikel bei Prädikativen – mit einigen wenigen Ausnahmen (s.o.) – nicht verwendet. Darüber hinaus reicht der ungarische indefinite Artikel alleine nicht aus, um restriktive Relativsätze einzuleiten. Als kataphorisches Element muss also die Nominalphrase zusätzlich ein zweites Determinativ – das adjektivische Demonstrativpronomen olyan – enthalten.
5.2 Nullartikel Der Nullartikel gehört zu den Determinativen, über deren Existenz – vor allem unter Germanisten – immer wieder diskutiert wird.111 Einige Autoren sprechen von Artikellosigkeit oder Fehlen des Artikels (Bisle-Müller 1991; Duden 1984, 2009; Grimm 1970; Uzonyi 1996; Weinrich 1993), während andere (Grimm 1987; Engel 1992; Helbig/Buscha 1991; Zhou 1985) ausschließlich den Terminus Nullartikel verwenden. Diese Betrachtungsweisen tragen m.E. nicht der Tatsache Rechnung, dass sich die Fälle, in denen in der Nominalphrase formal kein Determinativ realisiert wird, voneinander grundlegend unterscheiden können. Allerdings kann die Verwendung des Terminus Nullartikel zu auf den ersten Blick merkwürdigen Formulierungen führen, die mit Recht kritisiert werden können (vgl. den mit viel Ironie und Humor geschriebenen Aufsatz von Löbner 1986). Aus den erwähnten Gründen wird, vor allem in der neueren Literatur, zwischen einer grammatisch bedingten Artikellosigkeit (Nullartikel) und dem Fehlen des Artikels unterschieden (Heidolph/Flä110
„Berufsbezeichnung“ subsumiert in der Tabelle neben Berufsbezeichnungen auch Herkunfts- und Religionsbezeichnungen. 111 S. z.B. Pérennec (1993).
Indefinitheit
77
mig/Motsch 1981; Kolde 1989).112 Zu der ersten Gruppe gehört demnach unter anderem die Verwendung des Nullartikels anstelle des fehlenden Plurals des indefiniten Artikels, zu der zweiten das Fehlen des Artikels in Zeitungsüberschriften, Wendungen, Aufzählungen u.Ä. Diese Unterscheidung wird auch in der vorliegenden Arbeit beibehalten. Da das Ziel dieser Untersuchung die Analyse und Beschreibung der Substantivdetermination im Deutschen und Ungarischen ist, werden auch in diesem Kapitel nur diejenigen Gebrauchsweisen des Nullartikels behandelt, die eindeutig die Indefinitheit der betreffenden Nominalphrase kennzeichnen, alle anderen Verwendungsweisen werden außer Acht gelassen. Für die Analyse wurden gedruckte literarische Texte als Korpus ausgewählt, und zwar die bei der Analyse des definiten Artikels als Übersetzungskorpora verwendeten Auszüge aus dem Roman „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz (SL) und „Sindbad kehrt heim“ von Sándor Márai (SM). Bei der Untersuchung mussten zuerst die Verwendungsweisen des Nullartikels ausgesondert werden, bei denen er die Indefinitheit der Nominalphrase markiert. Ferner musste bei den Substantiven zwischen Kontinuativa (unzählbaren Substantiven) und Individuativa (zählbaren Substantiven) unterschieden werden, da diese semantische Eigenschaft offensichtlich auch den Artikelgebrauch – auf jeden Fall den Gebrauch des Nullartikels – beeinflusst. Darüber hinaus wurde, bei den Individuativa, zwischen singularischen und pluralischen Formen unterschieden. Der Nullartikel kann sowohl im Deutschen als auch im Ungarischen gebraucht werden, wenn ein neues Element in den Diskurs eingeführt wird. Auch hier soll die oben erwähnte Unterscheidung zwischen Kontinuativa und Individuativa, sowie die Unterscheidung zwischen singularischen und pluralischen Individuativa vorgenommen werden. Kontinuativa stehen bei Neueinführung von Diskurselementen im Deutschen wie auch im Ungarischen mit Nullartikel. Analoges gilt für Individuativa im Plural mit Nullartikel. (1.d) [...] ganz bedeckt mit Ø bläulich schimmerndem Treibeis. (SL: 7) (1.u) Szindbád Ø bizonyos ünnepélyességgel
Sindbad
belső
gewiss
Feierlichkeit.KOM
szorongással
Beklemmung.KOM
és Ø
und
készült
vorbereit.PST.3SG
titkos,
heimlich
útjára. (SM: 7)
inner
Reise.POSS3SG.SUB
‘Sindbad bereitete sich mit einer gewissen Feierlichkeit und Ø heimlicher, innerer Beklemmung auf seine Reise vor.’
(2.d) [...] alles, und sogar die Sonne lenkt mich ab, die wie durch Milchglas getrübt, Ø lange, keilförmige Schatten fordert. (SL: 7) (2.u) Elhozta
a
csendet,
voltak
bring.PST.3SG
Ø apró
‘Sie hatte die Stille gebracht, in der auch Ø winzige Geräusche waren [...]’(SM: 15)
112
DEF.ART Stille.AKK
melyben
neszek
winzig Geräusch.PL
REL.PRON.INE sein.PST.3PL
is, [...] (SM: 13) auch
Zur Forschungsgeschichte vgl. auch Thieroff (2000).
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
78
Individuativa im Singular dagegen sind, wenn sie neue Elemente in den Diskurs einführen, nur im Ungarischen mit Nullartikel möglich. Im Deutschen steht in solchen Fällen meistens der indefinite Artikel. (3.u) Ø Új
neu
szakácskönyvet
kellene
Kochbuch.AKK
írni. (SM: 15)
müss.KOND.3SG
schreiben
(3.d) Man müßte ein neues Kochbuch schreiben. (SM: 18)
*Man müsste Ø neues Kochbuch schreiben.
Wenn ein beliebiges Element einer Menge oder (bei Kontinuativa) eine nicht weiter zu spezifizierende Teilmenge gemeint ist, weisen die beiden Vergleichssprachen keine relevanten Unterschiede auf: Der Nullartikel kann sowohl bei Kontinuativa (4), als auch bei singularischen (6) und pluralischen (5) Individuativa verwendet werden. (4.d) [...] lagen fleckige Seiten von Ø Notenpapier [...] (SL: 13) (4.u) A
pesti nép
a
inkább a
DEF.ART Pester Volk
lieber
ezt
józan
dies.AKK DEF.ART
az Ø
mert
das
szereti,
mákonyt,
nüchtern
vitatkozásra
feketekávét
DEF.ART schwarzer Kaffee.AKK lieb.3SG Opium.AKK
ingerli
Diskutieren.SUB reiz.3SG
őket. (SM: 18)
weil
sie.AKK
‘Das Pester Volk hat lieber den Schwarzen, dieses kluge Opium, weil er sie zum Diskutieren reizt.’ (SM: 21)
(5.d) [...] und auf der, wie bei uns, Ø schwer erziehbare Jugendliche festgehalten und gebessert werden [...] (SL: 8) (5.u) Én
még nem
is
noch NEG auch
láttam Ø
seh.PST.1SG
részeg
pestieket […] (SM: 18)
ich
betrunken Pester.PL.AKK
‘Ich habe noch gar keine betrunkenen Pester gesehen [...]’ (SM: 21)
(6.d) […] hat sogar, mit Ø forderndem Knöchel, dem Fensterbrett ein paar pochende Fragen gestellt [...] (SL: 7) (6.u) [...] és Ø
und
vizsgaruhát
Examenskleid.AKK
vehessen
kauf.POT.IMP.3SG
Zsókának. (SM: 19)
Zsóka.DAT
‘und für Zsóka ein Examenskleid kaufen könne.’ (SM: 22)
Es soll aber hinzugefügt werden, dass der Gebrauch des Nullartikels bei singularischen Individuativa im Deutschen eher die Ausnahme als die Regel darstellt.113 Bei den substantivischen Prädikativen soll, wie oben (Abschnitt 5.1) schon erwähnt, zwischen Berufs-, Religions- und Herkunftsbezeichnungen, Titeln (im Weiteren auch hier als Berufsbezeichnungen zusammengefasst) und sonstigen Bezeichnungen unterschieden werden. Berufsbezeichnungen als Prädikative sind in den beiden Vergleichssprachen sowohl im Singular als auch im Plural mit Nullartikel nicht nur möglich, der Nullartikel scheint in diesen Kontexten sogar obligatorisch zu sein (vgl. hierzu ebenfalls Abschnitt 5.1). 113
Zur Verwendung artikelloser Individuativa mit bestimmten Präpositionen vgl. Kiss (2011).
Indefinitheit
79
(7.d) Er ist Ø Lehrer.114 (7.u) [...] Ø
kegyszerkereskedő
volt [...] (SM: 18)
Kirchengerätehändler
sein.PST.3SG
‘er handelte mit religiösen Gegenständen’ (SM: 21)
(8.d) Ø Federhändler! (SM: 18) (8.u) Ø Tollkereskedők! (SM: 18)
Federhändler.PL
Stehen singularische Berufsbezeichnungen – entweder als tatsächliche Bezeichnungen von Berufen oder als Bezeichnungen von Charaktereigenschaften – als Prädikative mit Attribut, wird im Deutschen der indefinite Artikel gesetzt, und zwar obligatorisch. Im Ungarischen wird dagegen auch in diesem Fall der Nullartikel verwendet (vgl. auch Abschnitt 5.1). (9.d) Es gab eine Zeit [...], da jeder Schriftsteller auf dem Grund seines Herzens hätte Vörösmarty gleichen wollen, der ein wahrer Herr war, [...] (SM: 30) (9.u) Volt
egy
szíve
Herz.POSS3SG
szeretett volna
idő
sein.PST.3SG INDEF.ART Zeit
[...], amikor minden
als
mélyén
Tief.POSS3SG.SUP
Schriftsteller
Vörösmartyra
Vörösmarty.SUB
hasonlítani, aki
woll.KOND.PST.3SG ähneln
író
jed-
Ø
igazi
úr
volt [...] (SM: 25)
REL.PRON wahr Herr
sein.PST.3SG
Auch im Fall von Nominalphrasen mit Nullartikel habe ich die Erweiterungsmöglichkeiten durch Relativsätze untersucht. In beiden Sprachen sind nach solchen Nominalphrasen sowohl nicht-restriktive (10) als auch restriktive (11) Relativsätze möglich. Hinzugefügt werden soll aber, dass im untersuchten ungarischen Korpus nicht-restriktive Relativsätze in einer deutlich höheren Anzahl vertreten waren als restriktive.115 Was das Deutsche betrifft, gab es zwar im Korpus Beispiele für Relativsätze nach Nominalphrasen mit Nullartikel, diese enthielten aber Präpositionen wie (10d) (vgl. Fußnote 113), oder es lag eine pluralische Nominalphrase vor (11d). Die Mehrzahl bildeten Relativsätze, deren (indefinite) Bezugsnominalphrasen einen indefiniten Artikel oder das Determinativ kein enthielten. (10.d) und fuhr mit Ø straff geblähtem Umhang, der zwischen den Beinen mit einer Klammer zusammengefaßt war, Richtung Bleekenwarf. (SL: 20) (10.u) Mint regényhőse [...], ő is legszívesebben inast
wie
és
und
Romanheld.POSS.3SG
titkárt
Sekretär.AKK
ernyedt
schlaff
er
auch
tartott volna
halt.KOND.PST.3SG
lábaira
Bein.POSS3SG.PL.SUB
a
am liebsten
– Ø inast,
Diener.AKK
aki
Diener.AKK REL.PRON
felhúzza
zieh.3SG
harisnyát [...] (SM: 8)
DEF.ART Strumpf.AKK
‘Wie sein Romanheld [...] hätte auch er am liebsten einen Diener und einen Sekretär gehalten – einen Diener, der ihm die Strümpfe über die welken Beine zöge [...]’ (SM: 8) 114 115
Beispielsatz von mir. Auf eine statistische Auswertung der Belege wird wegen ihrer niedrigen Anzahl verzichtet; es gab ca. 30 Belege für den untersuchten Fall.
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
80
(11.d) Auch heute noch leben Ø Menschen, die nicht wissen, daß in den Szekler Gulasch nicht Rindfleisch, sondern die knochigen Fleischstückchen gehören. (SM: 19) (11.u.a) Nem NEG
akadt
Ø
find.PST.3SG
aki
ne
bérkocsis
Kutscher
ismerte volna
a
DEF.ART
városban
Stadt.INE
személyesen a
REL.PRON NEG enn.KOND.PST.3SG persönlich
DEF.ART
hajóst. (SM: 18) Seefahrer.AKK
‘Es fand sich in der Stadt kein Kutscher, der den Seefahrer nicht persönlich gekannt hätte.’ (SM: 21) (11.u.b) Még
noch
hogy dass
ma
heute
élnek Ø
is
emberek,
auch leb.3PL
a
székelygulyásba
DEF.ART Szekler Gulasch.ILL
hanem a
sondern DEF.ART
csontos
knochig
akik
nem
Mensch.PL REL.PRON.PL NEG
nem
NEG
tudják,
wiss.3PL
színhús,
Fleisch
húsdarabkák
valók. (SM: 16)
Fleischstückchen.PL
gehör.3PL
(s. (11.d) zur Übersetzung)
Die Ergebnisse der Analyse können wie folgt dargestellt werden:
Gebrauchsweise
Neueinführung
beliebiges Element Prädikativ Relativsatz
Kontinuativa Individuativa Kontinuativa Individuativa
Berufsbezeichungen anderes
Deutsch Singular Plural + --+ + --(+) + + + (+)
+ (+)
Ungarisch Plural Singular + --+ + + --+ + + + + +
+ +
Tab. 4: Gebrauchskontexte des Nullartikels
Wie erwartet, kann der Nullartikel im Ungarischen in mehr Gebrauchskontexten verwendet werden als im Deutschen (bei dem indefiniten Artikel war das gerade umgekehrt, s. Abschnitt 5.1). Im Ungarischen kann der Nullartikel auch bei Individuativa im Singular vorkommen, eine Gebrauchsweise, die im Deutschen beinahe unmöglich ist. Auch die Prädikative stehen im Deutschen tendenziell nicht mit dem Nullartikel, während im Ungarischen genau das Gegenteil zu beobachten ist.
Indefinitheit
81
5.3 Zur Optionalität des indefiniten Artikels im Ungarischen In den vorhergehenden zwei Abschnitten wurden der indefinite und der Nullartikel behandelt. Es wurde untersucht, in welchen Gebrauchskontexten diese Determinative auftreten können. Man kann feststellen, dass die Hauptverwendungsweisen dieser Artikel in den Vergleichssprachen identisch sind (vgl. Tab. 3 und Tab. 4): In beiden Sprachen kann sowohl der indefinite als auch der Nullartikel die Neueinführung eines Referenten oder ein beliebiges Element einer Menge (bzw. eine beliebige Teilmenge) kennzeichnen. Ferner wurde festgestellt, dass der indefinite Artikel im Deutschen in mehr Gebrauchskontexten vorkommt als im Ungarischen, da er auch bei Prädikativen und bei Bezugsnominalen restriktiver Relativsätze verwendet wird. Demgegenüber kann der Nullartikel im Ungarischen in mehr Gebrauchskontexten verwendet werden als im Deutschen, da er auch bei singularischen Individuativa möglich ist. Wenn man Paralleltexte untersucht, fällt auf, dass – trotz der identischen Hauptgebrauchsweisen – in mehreren Kontexten, in denen im Deutschen der indefinite Artikel obligatorisch ist, sein ungarisches Äquivalent nur optional auftritt oder teilweise sogar ausgeschlossen ist. Diese Beobachtung legt die Annahme nahe, dass im Ungarischen der indefinite Artikel schwächer grammatikalisiert ist als im Deutschen. Der Optionalität des indefiniten Artikels wird in der ungarischen Grammatikographie wenig Aufmerksamkeit geschenkt, die syntaktisch-semantischen Bedingungen bleiben weitgehend unerwähnt.116 Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die Kontexte, in denen egy obligatorisch, optional oder ausgeschlossen ist, mit Hilfe syntaktischer und/oder semantischpragmatischer Kategorien zu identifizieren. Dabei werde ich mich auf Nominalphrasen in Subjekt- und Objektfunktion beschränken.117 Da ich den Gebrauch von egy aus der Perspektive des Deutschen untersuche, werden nur die Fälle berücksichtigt, deren deutsche Äquivalente den indefiniten Artikel aufweisen. Als Datengrundlage dienen neben Belegen aus dem Ungarischen Nationalkorpus (MNSZ) der Roman von Sándor Márai „Sindbad geht heim“ (SM), sowie der zweisprachige Band „Ungarische Erzählungen“ (UE).
5.3.1 Die Satzstruktur des Ungarischen Die Artikelwahl ist neben der Satzgliedfunktion auch von der syntaktischen Position der betroffenen Nominalphrase abhängig. Daher muss vor der eigentlichen Analyse die Satzstruktur des Ungarischen kurz skizziert werden (vgl. É. Kiss 2002: 2ff.). Die Satzstruktur des Ungarischen kann schematisch wie in (1) dargestellt werden. Der minimale Satz besteht aus einer Verbalphrase (VP). Dieser kann optional ein Topik und/ 116 117
Vgl. Kiefer (1994: 451): „Note that in Hungarian the indefinite article is quite often optional.“ Vgl. Gunkel/Molnár (2009); Molnár (2009).
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
82
oder ein Fokus vorangehen. Das Vorkommen von Topik und Fokus ist voneinander unabhängig, ihre Reihenfolge ist aber fest (zuerst Topik, dann Fokus). (1)
(Topik) (Fokus) VP
Das Topik kennzeichnet den Gegenstand der Prädikation,118 der Fokus ist hingegen das informationelle Zentrum des Satzes. Ein weiteres Charakteristikum des Fokus ist, dass die fokussierte Konstituente immer den Hauptakzent trägt und adjazent zum Verb(stamm) ist, d.h. dem finiten Verb immer vorangeht. (2a) (Mit
olvas
Péter?)
was.AKK les.3SG Péter
‘Was liest Peter?’
(2b) Péter
EGY
INDEF.ART
ECO-REGÉNYT119
Péter
‘Peter liest einen Roman von Eco.’
Eco-Roman.AKK
olvas.120
les.3SG
Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang die Partikelverben. Bei unbesetzter Fokusposition steht die Partikel direkt vor dem Verbstamm (3a, 4), bei besetzter Fokusposition steht sie dagegen danach (3b, 5). (3a) (Topik) Prt V ... (3b) (Topik) Fokus V Prt … (4)
Józsi
megette
Józsi
‘Józsi hat die Suppe gegessen.’
(5)
Józsi
PRT.ess.PST.3SG
a
A
DEF.ART
LEVEST
DEF.ART Suppe.AKK
levest.
Suppe.AKK
ette
ess.PST.3SG
meg.
Józsi
PRT
‘Józsi hat DIE SUPPE gegessen.’ (Oder besser: ‘Es war die Suppe, was Józsi gegessen hat.’)
Das bedeutet auch, dass sich aufgrund der Position der Verbpartikel relativ zuverlässig entscheiden lässt, ob die Fokusposition besetzt ist.121 Bei unmarkierter Akzentuierung bleibt die Fokusposition leer. Hauptakzentträger ist in diesem Fall das finite Verb (vgl. (6); Szendrői 2003: 45) oder die präverbale Verbpartikel. Nebenakzente fallen auf das Topik sowie auf postverbale Konstituenten, die jedoch auch deakzentuiert sein können. 118
In den einschlägigen ungarischsprachigen Arbeiten wird das Topik häufig als „logisches Subjekt“ bezeichnet. 119 Fokussierte Konstituenten werden durch Großbuchstaben gekennzeichnet. 120 Die nicht anders gekennzeichneten Beispiele sind von mir. 121 Vereinzelt lassen sich Beispiele finden, in denen – in neutralen Sätzen – die Partikel dem Verbstamm folgt, und die Position vor dem Verbstamm von einem obligatorischen Adverbial besetzt wird (É. Kiss 1994: 88): Budapest a Duna két partján terül el. Budapest DEF.ART Donau zwei Ufer.POSS3SG.SUP lieg.3SG PRT ‘Budapest liegt an den beiden Ufern der Donau.’
Indefinitheit (6) Józsi Józsi
83
ismeri
kenn.3SG
‘Józsi kennt Mari.’
Marit. (Szendrői 2003: 41)
Mari.AKK
5.3.2 Egy in verschiedenen syntaktischen Kontexten Im Folgenden wird untersucht, in welchen syntaktischen Kontexten egy in indefiniten Subjekten und Objekten in Topikposition, Fokusposition und im postverbalen Bereich auftritt. In topikalen indefiniten Subjekten oder Objekten ist der indefinite Artikel obligatorisch (vgl. (7)). Zu beachten ist, dass die Verbpartikel el in (7) anders als in (8) präverbal positioniert ist. Somit kann das Subjekt nur in (8) als Fokus interpretiert werden, während es in (7) als Topik interpretiert werden muss: (7) Egy/*Ø
INDEF.ART
repülőgép
Flugzeug
elszállt
PRT.flieg.PST.3SG
a
város
DEF.ART
Stadt
a
város
felett.
über
‘Ein Flugzeug flog über die Stadt.’ (8) EGY/Ø
REPÜLŐGÉP szállt
INDEF.ART Flugzeug
el
flieg.PST.3SG PRT DEF.ART Stadt
felett.
über
‘EIN FLUGZEUG flog über die Stadt.’
Der indefinite Artikel ist in (8) im Gegensatz zu (7) optional. Der Grund dafür ist, dass Topiks – als Gegenstände der Prädikation – im Ungarischen referenziell oder generisch sein müssen, und spezifisch im Sinne von Enç (vgl. É. Kiss 1992, 2002; Enç 1991). Für fokussierte Elemente gilt diese Einschränkung nicht. Topiks wie in (9) und (10) werden in der Literatur (vgl. É. Kiss 2002: 22; É. Kiss/ Kiefer/Siptár 1999: 24f.) als kontrastive Topiks bezeichnet. Sie drücken aus, dass der Referent der topikalisierten Nominalphrase ein Teil einer – sowohl für den Sprecher als auch für den Hörer identifizierbaren/rekonstruierbaren – Menge ist, und dass für die restlichen Elemente dieser Menge das Prädikat nicht zutreffen muss (vgl. É. Kiss/Kiefer/ Siptár 1999: 24). Von nicht-kontrastiven Topiks unterscheiden sie sich intonatorisch durch eine so genannte Brückenkontur mit dem ansteigenden Akzent auf dem Topik. Der Beweis, dass es sich bei kontrastiven Topiks nicht um eine spezielle Art von Fokus handelt, wird von einem einfachen Test geliefert: Satzadverbiale stehen zwischen kontrastivem Topik und Verb (9b). D.h. kontrastive Topiks müssen – im Gegensatz zu fokussierten Konstituenten – nicht adjazent zum finiten Verb stehen. Anders als bei nicht-kontrastiven Topiks sind indefinite Subjekte und Objekte in kontrastiven Topiks jedoch präferiert artikellos (vgl. Alberti 1997: 346; Gunkel/Molnár 2009: 856). (9a) KÖNYVET
szívesen olvas gern
Buch.AKK
‘BÜCHER liest Peter gerne’ (anderes, z.B. Zeitungen, aber nicht).
(9b) KÖNYVET valószínűleg
les.3SG
Péter.
szívesen
wahrscheinlich gern
Péter
olvas
Buch.AKK
les.3SG
‘BÜCHER liest Peter wahrscheinlich gerne.’
Péter.
Péter
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
84 (10) Zsinórt,
zöldből
és
csak
pirosból,
Kordel.AKK grün.ELA und rot.ELA
Zsóki
körül
ketten
nur
tudtak
zwei
könn.PST.3PL
fonni. (UE: 178/179)
Zsóki
um-herum
‘Eine Kordel aus grün und rot konnten nur zwei um Zsóki spinnen.’
spinnen
In fokussierten indefiniten Subjekten (vgl. 11-13) und Objekten (vgl. 14,15) ist der indefinite Artikel optional (s. auch Gunkel/Molnár 2009). (11) [(Egy)]
INDEF.ART
tele
[d]ömper Kipper
sárga,
frissen
gelb
haladt
bányászott
frisch
a
fahr.PST.3SG
gefördert
műúton,
DEF.ART Chaussee.SUP
homokkal. (UE: 114/115)
voll
‘Auf der Chaussee fuhr ein Kipper, voll mit gelbem, frisch gefördertem Sand.’
(12) [(Egy)]
[s]ovány kis schmal
klein
százas
Csepel,
INDEF.ART
[(egy)]
INDEF.ART hundert
az
adta
motorbicikli robogott
Motorrad wie
von-hier
fehér
trikóban
Turnhemd.INE
mögötte a
utána,
hinter-ihm
látta,
seh.PST.3SG
méltóságteljes hangot. Rajta fehér
das geb.PST.3SG DEF.ART würdevoll weiß
knatter.PST.3SG
ahogy innen
Csepel
a
Sand.KOM
Ton.AKK auf-ihm weiß
[(egy)]
feketére
INDEF.ART schwarz
hátsó ülésen
lányféle,
sült
nadrágban,
Hose.INE
fiatalember,
gebrannt junger Mann
mert mintha sok haj
hinter-ihm DEF.ART hintere Sitz.SUP Mädchenartiges weil als ob viel Haar és [(egy)] piros pettyes szoknya lobogna. (UE: 118/119) und INDEF.ART rot gepunktet Rock flatter.KOND.3SG
‘Ein kleines, schmales Motorrad knatterte hinter ihm, eine Csepel hundert, wie es von hier aussah, und die gab diesen würdevollen Ton von sich. Auf dem Motorrad in weißer Hose und weißem Turnhemd ein braungebrannter junger Mann, auf dem Hintersitz wohl ein Mädchen, denn es sah aus, als flatterte dort viel Haar und ein rotgetupfter Rock.’
(13) [(Egy)]
[n]agy
INDEF.ART groß
csörtetett
csapat Schar
feléje
bivaly
a
Büffel
rassel.PST.3SG
‘Eine große Schar schwarzer Büffel rasselte aus dem Dickicht auf sie zu.’
délelőtt
INDEF.ART Vormittag
[(egy)]
piros
a
Dickicht.ELA
méltóságos
DEF.ART gnädig
rózsacsokrot
asszony
Frau
talált […]. (UE: 24/25)
INDEF.ART
‘Eines Vormittags fand die gnädige Frau […] einen roten Rosenstrauß.’
(15) [(Egy)]
rot
DEF.ART
sűrűből. (UE: 134/135)
(14) Egy
auf-sie-zu
fekete
schwarz
könyvet
Rosenstrauß.AKK find.PST.3SG
kezdtem
lapozgatni,
beginn.PST.1SG blättern
eldobtam. (UE: 8/9)
INDEF.ART Buch.AKK
beiseite werf.PST.1SG
‘Ich […] begann in einem Buch zu blättern, warf es beiseite.’
Indefinitheit
85
Eine Ausnahme von dieser Regel bilden bestimmte Partikelverben, bei denen der indefinite Artikel in fokussierten Subjekten und Objekten obligatorisch ist, vgl. (16). Bei der partikellosen Variante derselben Verben ist der indefinite Artikel optional, vgl. (17). (16a) egy/*Ø
könyvet
INDEF.ART Buch.AKK
olvastam
el
les.PST.1SG
PRT
‘Ich habe ein Buch ausgelesen.’ (16b) egy/*Ø cipőt vettem
meg
INDEF.ART Schuh.AKK kauf.PST.1SG
PRT
‘Ich habe ein Paar Schuhe gekauft.’ (17a) egy/Ø könyvet olvastam
INDEF.ART Buch.AKK
les.PST.1SG
‘Ich habe ein Buch gelesen.’ (17b) egy/Ø cipőt vettem
INDEF.ART Schuh.AKK kauf.PST.1SG
‘Ich habe ein Paar Schuhe gekauft.’
Dass diese Beschränkung nicht generell für Partikelverben gilt, wie manchmal behauptet wird (vgl. Kiefer 1994: 450), zeigen wiederum Fälle wie (18), in denen die Setzung des indefiniten Artikels optional ist. Analoges gilt – wie in (17) – für die partikellosen Gegenstücke, vgl. (19). (18) egy/Ø
kerékbilincset
szerel
INDEF.ART Parkkralle.AKK
‘Er bringt eine Parkkralle an.’ (19) egy/ Ø kerékbilincset
INDEF.ART Parkkralle.AKK
‘Er repariert eine Parkkralle.’
fel
anbring.3SG PRT
szerel
reparier.3SG
Auf den Zusammenhang zwischen Artikelgebrauch und Verbpartikeln werde ich weiter unten ausführlicher eingehen. Was die postverbalen indefiniten Nominalphrasen betrifft, ergaben sich aufgrund der Korpusanalyse zwei relevante syntaktische Parameter, welche das Vorkommen des indefiniten Artikels beeinflussen, und zwar die Satzgliedfunktion und die Besetzung der Fokusposition (vgl. Molnár 2009). Bei unbesetzter Fokusposition ist der indefinite Artikel bei Subjekten obligatorisch (vgl. 20, 21). Zu beachten ist, dass Belege mit postverbalen indefiniten Subjekten relativ selten sind. (In meinem Korpus von 500 Sätzen gab es insgesamt nur 32 solche Belege.)122 (20) Aztán megjelenik egy/*Ø klasszikus bohóchármas,
dann
piros
122
rot
PRT.erschein.3SG
INDEF.ART
klassisch
Clowntrio
bohócorral. (MNSZ) Clownnase.KOM
‘Dann erscheint ein klassisches Clowntrio mit roten Clownnasen.’
In erster Linie wurden Sätze untersucht, die Partikelverben enthalten, da – wie oben erwähnt – die Stellung der Verbpartikeln ein relativ zuverlässiger Indikator für die Besetzung der Fokusposition ist.
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
86 (21) A
főváros
IX. kerületében
DEF.ART Hauptstadt
egy/*Ø
már
IX. Bezirk.POSS3SG.INE
16 férőhelyes,
schon
úgynevezett
16 platzig
so genannt
működik
arbeit.3SG
krízisszálló. (MNSZ)
INDEF.ART
Notunterkunft.
‘Im IX. Bezirk der Hauptstadt gibt es schon eine sogenannte Notunterkunft mit 16 Plätzen.’
Der Satz (21) kann u.U. auch ohne den indefiniten Artikel grammatisch sein; in diesem Fall trägt aber das Verb den Hauptakzent: (21’) A főváros IX. kerületében már MŰKÖDIK (16 férőhelyes) krízisszálló.
‘ES GIBT schon eine Notunterkunft (mit 16 Plätzen) im IX. Bezirk der Hauptstadt.’
Das rückt den Satz aber eher in den Bereich der Existenzausdrücke (s. unten). Auch bei den (direkten) Objekten lässt sich die Tendenz zur Setzung des indefiniten Artikels beobachten (vgl. 22, 23); hier finden sich aber auch Belege, die keinen indefiniten Artikel enthalten (24, 25).123 (22) Gyermekkorában
Kindheit.POSS3SG.INE
egy
egyszer
kifosztott
einmal
PRT.ausraub.PST.3SG
sasfészket. (UE: 142f.)
INDEF.ART Adlernest.AKK
‘In seiner Kindheit hatte er einmal ein Adlernest ausgenommen.’
(23) Gyorsan megszervez
schnell
tehát
PRT.organisier.3SG
Marinovich Endrével.
also
egy
INDEF.ART
találkozót
Treffen.AKK
(MNSZ)
Marinovich Endre.KOM
‘Schnell organisiert er also ein Treffen mit Endre Marinovich.’
(24) Ha
anyagi
wenn
finanziell
kialakíthatnak
helyzetük
megengedi,
Situation.POSS3PL PRT.erlaub.3SG
fürdőszobát,
mellékhelyiséget.124 (MNSZ)
PRT.mach.POT.3PL
‘Wenn die finanzielle Situation es erlaubt, können sie (ein) Bad und (eine) Toilette machen lassen.’
(25) Ha
wenn
csak
pedig aber
szólni
valakinek
nincs pénze
jemand.DAT NEG Geld.POSS3SG
kell,
müss.3SG
és
und
hivatalból
Amt.ELA
ügyvédre,
Rechtsanwalt.SUB
kirendelnek
védőt. (MNSZ)
nur
‘Wenn jemand kein Geld für einen Rechtsanwalt hat, muss er es nur mitteilen, und er bekommt einen Pflichtverteidiger.’
123
sagen
Badezimmer.AKK Toilette.AKK
PRT.bestell.3PL Verteidiger.AKK
Vgl. Alberti (1997: 345f.), wo behauptet wird, dass Argumente in postverbaler Position – in neutralen Sätzen – nicht durch artikellose Substantive ausgedrückt werden können. 124 Dass hier die Nichtsetzung des Artikels nicht durch die Aufzählung zu erklären ist, beweist die Grammatikalität des Satzes [...] kialakíthatnak fürdőszobát (‘sie können ein Bad machen lassen’).
Indefinitheit
87
Zu beachten ist, dass die beiden Beispiele ohne Artikel (24, 25) Partikelverben enthalten. In der Literatur wird die These vertreten (vgl. z.B. Kiefer 1992, 1994), Partikelverben seien inkompatibel mit artikellosen Nominalphrasen als (Akkusativ-)Objekten. Der Unterschied zwischen Sätzen wie (24), (25) und (16), (17) sowie den in der Literatur zitierten Beispielen (levelet ír – *levelet megír [Brief schreiben] Kiefer 1992: 837, Kiefer/É. Kiss 1994: 480) ist, dass bei den letzteren die Verbpartikeln nur einen aspektuellen Unterschied ausdrücken – sie kennzeichnen Perfektivität. In Sätzen wie (24) und (25) oder bei (18) und (19) tragen die Verbpartikeln – neben der Perfektivierung – auch zur Bedeutungsveränderung bei. Somit kann festgehalten werden, dass der indefinite Artikel nur bei Objekten der perfektiven, partikelhaltigen Variante der Verbpaare obligatorisch ist. Diese Verben zeichnen sich auch durch eine andere besondere Eigenschaft aus: Die Verbindungen ‘artikelloses N + (Partikel-)Verb’ verhalten sich syntaktisch weitgehend wie Inkorporationen.125 Die Inkorporation wurde zwar m.W. bisher nur bei partikellosen Verben untersucht, die syntaktische/strukturelle Ähnlichkeit ist aber nicht zu übersehen: Das inkorporierte Substantiv darf weder phrasal ausgebaut sein, also Artikel und/oder Attribute haben (vgl. 26, 27), noch durch ein definites Pronomen wiederaufgenommen werden (28) (vgl. É. Kiss 1994: 52 – für Verben ohne Partikel). (26) *kialakíthatnak
szép
fürdőszobát
PRT.mach.POT.3PL schön Badezimmer.AKK
‘(sie) können ein schönes Bad machen lassen’ (27) *kirendelnek jó védőt126
PRT.bestell.3PL
gut
Verteidiger.AKK
‘(sie) bestellen einen guten Verteidiger’ (28) *kialakítottak fürdőszobát, majd lerombolták
PRT.mach.PST.3PL Badezimmer.AKK dann
‘sie haben ein Bad machen lassen, dann haben sie es zerstört’
(azt)
PRT.zerstör.PST.3PL jen.AKK
Das inkorporierte Substantiv kann zusammen mit dem Verb in die Topikposition verschoben werden (29) bzw. die Konstruktion kann als Ganze nominalisiert werden (30). (29) Fürdőszobát
kialakítani
jövőre
nächtes Jahr
fognak.
Badezimmer.AKK PRT.machen
werd.3PL
‘Sie werden nächstes Jahr ein Badezimmer machen lassen.’
(30) a fürdőszoba-kialakítás ‘das Badezimmer-Machen’
Die Konstruktion in (30) könnte – nach meinem Sprachgefühl – eventuell deswegen fragwürdig sein, weil für das Ungarische die mehrgliedrigen Komposita untypisch sind; präferiert werden Possessivkonstruktionen: a fürdőszoba kialakítása. Bei Verben ohne Partikeln verhalten sich die inkorporierten Substantive syntaktisch weitgehend wie Verbpartikeln: Sie stehen unmarkiert präverbal, ohne enger Fokus sein zu 125 126
Bei dieser Auffassung bleibt die Feststellung von Alberti (1997) (vgl. Fußnote 123) haltbar. Die Formen jó védőt rendel ki/szép fürdőszobát alakít ki sind grammatisch nur dann korrekt, wenn die Nominalphrasen (oder genauer die Attribute) als Fokus interpretiert werden.
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
88
müssen. Diese Bedingung wird hier aus dem einfachen Grund nicht erfüllt, weil die Verben schon eine Partikel haben, welche die Position unmittelbar vor dem Verb einnimmt. Zu beachten ist jedoch, dass bei diesen Verben auch die Reihenfolge N+V+PRT unmarkiert sein kann (31), d.h., die Substantive können, müssen aber nicht als enger Fokus interpretiert werden: (31) Péternek
védőt
rendeltek
ki.
Péter.DAT Verteidiger.AKK
bestell.PST.3PL PRT
‘Péter wurde ein Pflichtverteidiger bestellt.’
Von den insgesamt 85 Belegen mit nachgestellten indefiniten Objekten gab es neun, in denen die Setzung des indefiniten Artikels optional war. Einige von diesen Fällen sind in (32)-(34) aufgeführt. (32) vagy
oder
kért
egyszerűen [(egy)]
klasszikusan és
bitt.PST.3SG klassisch
und
einfach
esetleg
[(egy)]
kisfröccsöt,
vagy
[(egy)]
hosszúlépést. (SM: 113)
oder
INDEF.ART
[(egy)]
klein Gespritzter.AKK INDEF.ART
INDEF.ART
fröccsöt,
INDEF.ART Gespritzter.AKK
tréfát
Witz.AKK
oder
Langschritt.AKK
‘oder er bestellte klassisch und einfach einen Gespritzten, je nachdem einen kleinen Gespritzten, einen Witz oder einen Langschritt’ (SM: 141)
(33) Ha
az
kiadhat
wenn
bárki
anyagi
DEF.ART finanziell
háttér
rendelkezésre
Hintergrund
PRT.herausgeb.POT.3SG
áll,
Verfügung.SUB
(egy)
CD-t. (MNSZ)
jeder
‘Wenn es finanziell gesichert ist, kann jeder eine CD herausgeben.’
(34) A
portásnak
aláírom
DEF.ART Pförtner.DAT
és
unterschreib.1SG
is
auch
INDEF.ART
steh.3SG
adok
geb.1SG
a
DEF.ART
CD.AKK
(egy)
INDEF.ART
golyóstollat,
Kugelschreiber.AKK
számlát. (MNSZ)
und
Rechnung.AKK
‘Auch dem Pförtner gebe ich einen Kugelschreiber und unterschreibe die Rechnung.’
Die Beispiele, in denen der Artikel optional oder ausgeschlossen ist, weisen eine bemerkenswerte Ähnlichkeit auf: Die Verben verlangen effizierte Objekte127, d.h. die durch das Akkusativobjekt bezeichnete Entität wird durch den vom Verb bezeichneten Vorgang erzeugt.128 Verben dieses Typs verlangen nicht-spezifische Objekte (É. Kiss 2002: 155). Wenn man beachtet, dass im Ungarischen Nicht-Spezifizität sowohl mit dem indefiniten als auch mit dem Nullartikel ausgedrückt werden kann, stellt sich die Frage, warum der 127
Eine Art Ausnahme bildet hier (34), in dem ein Besitzerwechselverb vorkommt. Die Frage, ob solche Verben gemeinsam mit Verben mit effizierten Objekten oder als eine gesonderte Klasse zu behandeln sind, muss noch geklärt werden. 128 In der Literatur wird auch von diesen Verben behauptet, dass sie keine Partikel zulassen; das gilt aber offensichtlich auch hier nur für die Verben, bei denen die Partikel ausschließlich Perfektivität markiert.
Indefinitheit
89
indefinite Artikel in einigen Fällen ausgeschlossen ist. Zwar lässt sich wegen der geringen Anzahl an Belegen nur eine vorläufige Hypothese formulieren, doch bin ich der Auffassung, dass in den fraglichen Fällen (vgl. 24, 25) der indefinite Artikel eher als Numerale interpretiert würde, mit der Bedeutung „genau ein Stück“. Artikellose singularische Substantive sind im Ungarischen aber in der Lage, eine nicht weiter bestimmte/spezifizierte Menge zu kennzeichnen. Bei Subjekten ist auch bei besetzter Fokusposition eine Tendenz zur Setzung des indefiniten Artikels zu beobachten – in 20 von 26 Belegen finden wir den indefiniten Artikel. (35) Nemzeti ökológiai
national
kutatási program
ökologisch
fejezte
beend.PST.3SG
be
kidolgozását
Forschungsprogramm
egy/*Ø
Ausarbeitung.POSS3SG.AKK
akadémikusokból
PRT INDEF.ART Akademiemitglied.PL.ELA
álló
bestehend
munkacsoport. (MNSZ)
Arbeitsgruppe.
‘Eine aus Mitgliedern der Akademie bestehende Arbeitsgruppe hat die Ausarbeitung eines nationalen ökologischen Forschungsplans beendet.’
Egy war nur in einem einzigen Beleg optional.129 (36) [...] és
emiatt
figyelhető
meg
und deshalb beobachtbar PRT
(?egy)
gyors
INDEF.ART schnell
regisztráltatás (MNSZ) Registrierung
‘und deswegen ist eine schnelle Registrierung zu beobachten’
Hier handelt es sich jedoch um ein Substantiv, das Nicht-Zählbares bezeichnet. Solche Substantive kommen im Ungarischen präferiert artikellos vor. Somit könnte auch die Grammatikalität der artikelhaltigen Variante von (36) hinterfragt werden. Bei Objekten lässt sich keine klare Präferenz erkennen; Setzung und Nichtsetzung des Artikels kommen im untersuchten Korpus annähernd gleich häufig vor. (37) Izraelben külügyminiszter-helyettesnek
Israel.INE stellvertretender Außenminister.DAT
neveztek
ernenn.PST.3PL
egy
ki
arabot. (MNSZ)
PRT INDEF.ART Araber.AKK
‘In Israel wurde ein Araber zum stellvertretenden Außenminister ernannt.’ (38) Vannak
emberek,
sein.3PL Mensch.PL
csinálnak
Ø
akik
életükből
REL.PRON.PL Leben.POSS3SG.ELA
remekművet. (MNSZ)
mach.3PL
‘Es gibt Menschen, die aus ihrem Leben ein Meisterwerk machen.’
(39) Tavaly
Meisterwerk.AKK
még csak
az
Agfa ajánlott
letztes Jahr noch nur
‘Letztes Jahr hat nur noch Agfa einen Preis angeboten.’
129
fel Ø díjat. (MNSZ)
DEF.ART Agfa anbiet.PST.3SG PRT
Preis.AKK
Bei den restlichen Belegen handelt es sich um Substantive, die unzählbare Mengen bezeichnen und daher präferiert artikellos vorkommen.
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
90 (40) Egykor
früher
a
Ø
fekhelyet. (MNSZ)
‘Früher hat man hier auch für den Diener einen Schlafplatz eingerichtet.’
cseléd
DEF.ART Diener
számára is
für
auch
itt
alakítottak
hier einricht.PST.3PL
ki
PRT
Schlafplatz.AKK
Die Sätze (39) und (40) enthalten Partikelverben mit artikellosem Objekt. Auch für diese Beispiele gelten die obigen Feststellungen. Optional ist der indefinite Artikel auch hier nur in wenigen Fällen (vgl. 41-44). (41) egy
szakadt
cipője
talpából
INDEF.ART zerrissen Schuh.POSS3SG
vágott
ki
hozzá
új
tömítést (UE: 84/85)
schneid.PST.3SG
‘aus der Sohle eines zerrissenen Schuhs von sich schnitt er dazu eine neue Dichtung zurecht’
öt
dazu
[(egy)]
(42) Az
PRT
Sohle.POSS3SG.ELA
fiatalember
DEF.ART fünf
junger-Mann
robbantott
fel
INDEF.ART neu Dichtung.AKK
egy
helyi
INDEF.ART lokal
[(egy)]
házi
bankfióknál
Bankfiliale.ADE
készítésű
spreng.PST.3SG
‘Die fünf jungen Männer haben an einer lokalen Bankfiliale eine selbstgebastelte Bombe gesprengt.’
(43) és
a
PRT INDEF.ART häuslich gemacht
pokolgépet. (MNSZ)
krajnai
délszlávok 1575-ben
Bombe.AKK
Ljubljanában állítottak
fel
und DEF.ART Krainaer Südslave.PL 1575.INE
Ljubljana.INE stell.PST.3PL PRT
[(?egy)]
vezetője
nyomdát.
A
nyomda
INDEF.ART Presse.AKK DEF.ART Presse
Manlius János
Leiter.POSS3SG
volt. (MNSZ)
Manlius János
‘und die Krainaer Südslaven haben 1575 in Ljubljana eine Presse aufgestellt. Der Leiter der Presse war János Manlius.’
(44) Így
so
sein.PST.3SG
elképzelhető, hogy az
vorstellbar
(egy)
dass
intézményen belülről
jelölnek
ki
DEF.ART Institut.SUP innen.DEL ernenn.3PL PRT
alacsonyabb beosztású rangig
vezetőt. (MNSZ)
INDEF.ART niedriger
Leiter.AKK
‘So ist es vorstellbar, dass ein Leiter niedrigeren Ranges institutsintern ernannt wird.’
Zu beachten ist, dass alle Beispiele Partikelverben enthalten, und dass in den Sätzen (41), (42) bzw. (44) die Substantive attribuiert sind. (Ohne Artikel und Attribut wären auch diese Substantive inkorporierbar.) Mir scheint, dass hier die Setzung des Artikels nicht nur die Quantität, sondern auch die Referenzialität der betreffenden Nominalphrase hervorhebt, zumal artikellose Nominalphrasen in der Literatur generell als nicht-referenziell betrachtet werden (vgl. É. Kiss 1992: 130, 1994: 52). Abschließend sollen noch zwei Spezialfälle erwähnt werden. Beim ersten handelt es sich um eine Erscheinung, die in der Literatur „experiential sentence“ (Kiefer 1994: 444),
Indefinitheit
91
„existential sentence“ (Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 162) oder „egzisztenciális olvasat“ (‘existentielle Lesart’) (Kiefer 1992: 838) genannt wird. Diese Konstruktion hat keine direkte Entsprechung im Deutschen, man könnte sie am besten wiedergeben durch: ‘es ist schon mal vorgekommen, dass p’ (wobei mit ‘p’ die Proposition bezeichnet wird). In dieser Konstruktion steht in der Regel das finite Verb an der ersten Stelle; daher müssen alle anderen Elemente postverbal platziert sein. Ein weiteres Kennzeichen der Konstruktion ist, dass das finite Verb den Hauptakzent trägt, alle anderen Elemente sind deakzentuiert. Subjekte und Objekte kommen in dieser Konstruktion präferiert artikellos vor (vgl. auch Gunkel/Molnár 2009; Molnár 2009). (45) Haladt
már
frissen
fahr.PST.3SG
teler
schon
sárga,
gelb
dömper a
(?egy)
INDEF.ART Kipper
műúton,
DEF.ART Chaussee.SUP
bányászott homokkal.
voll
frisch
‘Es ist schon mal vorgekommen, dass auf der Chaussee ein Kipper mit gelbem, frisch gefördertem Sand fuhr.’
(46) Talált
már
piros
gefördert
a
find.PST.3SG schon
(?egy)
INDEF.ART
rot
az
ő
a
fakereszt
DEF.ART
Sand.KOM
méltóságos
asszony
gnädig
Frau
rózsacsokrot
Rosenstrauß.AKK
fehér
csokra
DEF.ART sie weiß
Strauß.POSS3SG
mellett
neben
lábánál.
DEF.ART Holzkreuz
‘Es ist schon mal vorgekommen, dass die gnädige Frau zu Füßen des Holzkreuzes neben ihrem weißen Strauß einen roten Rosenstrauß fand.’
(47) OLVASTAM
Fuß.POSS3SG.ADE
már
el
schon PRT
könyvet
Buch.AKK
két
zwei
nap
Tag
alatt.
les.PST.1SG
unter
‘Es ist schon mal vorgekommen, dass ich ein Buch in zwei Tagen zu Ende gelesen habe.’
Die zweite spezielle Konstruktion stellen die Existenzausdrücke dar. Es handelt sich um Verben, die Existenz ausdrücken. Ihre Subjekte kommen im Ungarischen präferiert artikellos – und häufig postverbal – vor. (48) Ott
dort
meg
van
biológiai
sein.3SG biologisch
növényboncoló
sarok, meg
Ecke
und
szertár,
Kabinett
műhely (UE: 172/173)
und
Pflanzensezierung Werkstatt
‘Dort gab es eine „biologische Ecke“ und ein Kabinett und eine Werkstatt für Pflanzensezierung.’
Eine besondere semantische Eigenschaft dieser Konstruktion ist, dass hier auch die folgende deutsche Übersetzung angemessen wäre: (48’) Dort gab es biologische Ecken, Kabinette und Werkstätten für Pflanzensezierung.
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
92
Diese Interpretationsmöglichkeit resultiert daraus, dass die ungarischen singularischen Substantive – trotz der Form – hinsichtlich der Kategorie Numerus unterspezifiziert sind. Auf dieses Problem wird hier aber nicht eingegangen.
5.3.3 Fazit Die Auftretensmöglichkeiten des ungarischen indefiniten Artikels in Subjekten und Objekten sind in Tabelle 5 zusammengefasst.130 Topik kontrastives Topik Fokus Postverbal
Fokus unbesetzt Fokus besetzt „experiential sentences“ Existenzausdrücke
egy + N
N
+ (-)
+
+ + + + + (-) (-)
+
Subjekt Objekt Subjekt Objekt
(+) (+) + + +
Tab. 5: Auftretensmöglichkeiten des indefiniten Artikels im Ungarischen
Es zeigt sich damit, dass die Feststellung von Kiefer (1994: 451; vgl. Fußnote 116) nicht haltbar ist. Der indefinite Artikel ist in der überwiegenden Mehrheit der Belege nicht optional, d.h. entweder ist er obligatorisch oder ausgeschlossen. Als Erklärung für diese Verteilung bietet sich Folgendes an: Für den präverbalen Bereich gilt, dass – wie oben erwähnt – Topiks referenziell (oder generisch) und spezifisch (im Sinne von Enç 1991) sein müssen. Artikellose Nominalphrasen werden in der Literatur allgemein als nicht-referenziell und nicht-spezifisch angesehen, so sind sie in dieser Verwendung ausgeschlossen. Bei den kontrastiven Topiks hingegen soll die Nicht-Spezifizität oder, wenn man will, die Rollenlesart im Sinne von Fauconnier (1985) hervorgehoben werden, da hier nach É. Kiss (2002: 24) die indefiniten Nominalphrasen eher Eigenschaften bezeichnen, die mit anderen Eigenschaften kontrastiert werden. Was die fokussierten indefiniten Subjekte und Objekte anbelangt, kann man annehmen, dass hier mehrere Möglichkeiten vorliegen: Rollen- bzw. Individuenlesart, referenzielle bzw. nicht-referenzielle Bezugnahme, spezifische bzw. nicht-spezifische Nominalphrasen. Der Lesartenunterschied kann in bestimmten Fällen unbedeutend sein. Kiefer (1994: 449) stellt zum Beispiel bei levelet írt und egy levelet írt (‘Er hat einen Brief geschrieben.’) nur einen stilistischen Unterschied fest. 130
Die Klammern sollen darauf hinweisen, dass die Setzung bzw. Nichtsetzung des Artikels zwar nicht ungrammatisch, aber unüblich ist.
Indefinitheit
93
In Bezug auf postverbale indefinite Nominalphrasen lässt sich Folgendes feststellen: Bei postverbalen Subjekten ist bei besetzter Fokusposition der indefinite Artikel obligatorisch. Er wird auch bei besetzter Fokusposition tendenziell gesetzt. Als Erklärung bieten sich mehrere Möglichkeiten an: Der indefinite Artikel kann hier einfach stärker grammatikalisiert sein, da die Nominalphrase keine ausgezeichnete pragmatische, aber eine primäre grammatische Funktion hat. Andererseits muss in neutralen Sätzen das (postverbale) Subjekt (nach É. Kiss 2002: 29 auch andere nominale Satzglieder) referenziell sein (vgl. auch Alberti 1997). Das scheint in der Argumentstruktur der Verben verankert zu sein. Nichtreferenzielle Ausdrücke als Subjekte können nur in den oben erwähnten zwei speziellen Konstruktionen vorkommen: bei den Existenzausdrücken und in „experiential sentences“. Bei den Objekten lässt sich nur bei unbesetzter Fokusposition eine Tendenz zur Setzung des indefiniten Artikels beobachten. Ist die Fokusposition besetzt, wird indefiniter und Nullartikel ungefähr gleich häufig verwendet, wobei die jeweils andere Möglichkeit entweder zu ungrammatischen Sätzen oder zu einer anderen Lesart führt. Der Grund dafür kann sein, dass die artikellosen Nominalphrasen im Ungarischen eher den Begriff als solchen hervorheben und damit auf die Rollenlesart (im Sinne von Fauconnier 1985) festgelegt sind. Nominalphrasen mit indefinitem Artikel können sowohl Rollen als auch Individuen bezeichnen, sind also im Hinblick auf die Unterscheidung Rollen- bzw. Individuenlesart neutral. Man neigt aber – per konversationeller Implikatur – dazu, die Nominalphrasen mit indefinitem Artikel mit einer Individuenlesart zu interpretieren. In den Belegen ohne Artikel ist nur die Rollenlesart möglich. Die Funktion des Nullartikels besteht demnach darin, die Rollenlesart hervorzuheben und die Individuenlesart zu blockieren. Bei den Belegen mit obligatorischem indefinitem Artikel handelt es sich hingegen eindeutig um Ausdrücke, die Individuen bezeichnen, meistens um spezifische Nominalphrasen (auch im Sinne von Enç 1991). Die Fälle, in denen der indefinite Artikel optional ist, weisen – im untersuchten Korpus – Prädikate auf, welche nicht-spezifische Nominalphrasen als Objekte fordern. Nicht-spezifische Nominalphrasen können im Ungarischen sowohl mit dem unbestimmten Artikel stehen als auch artikellos sein. Die Wahl zwischen den beiden Möglichkeiten im aktuellen Kontext kann m.E. durch verschiedene Faktoren beeinflusst werden. Wenn der indefinite Artikel eher als Numerale interpretiert würde, wird eher die artikellose Form bevorzugt. Ebenfalls wird die artikellose Nominalphrase verwendet, wenn das Objekt inkorporiert wird oder als solches angesehen werden kann. Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass im Ungarischen die Nominalphrasen mit egy im Hinblick auf Referenzialität, Spezifizität bzw. Rollen- und Individuenlesart ambig sind, während die artikellosen Nominalphrasen Nicht-Referenzialität, Nicht-Spezifizität bzw. die Rollenlesart hervorheben.
94
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
5.4 Existenzquantoren Als eine letzte Gruppe der Determinative, die Indefinitheit der zugehörigen Nominalphrase anzeigen können, wurden die Existenzquantoren auf ihre Verwendungsmöglichkeiten hin untersucht. Die Existenzquantoren bilden eine Teilklasse der Quantordeterminative. Die Quantordeterminative wurden lange – und werden heute noch oft – als Indefinita bezeichnet, da diese Elemente traditionell zu den Indefinitpronomina gerechnet wurden. Den Terminus Quantordeterminativ finde ich aber besser geeignet, da die Bezeichnung Indefinitpronomen suggeriert, dass diese Determinative Indefinitheit markieren, was meines Erachtens nicht für jedes Element zutrifft (vgl. Abschnitt 4.5). Was das Deutsche angeht, besteht in der einschlägigen Literatur keine Einigkeit darüber, welche Elemente zu dieser Gruppe zählen. Im Folgenden werden nur diejenigen Existenzquantoren behandelt, die den in Abschnitt 3.3 beschriebenen Kriterien eindeutig entsprechen. Diese sind die Determinative irgendein, irgendwelcher, mancher, einige, etliche, mehrere und das negative Determinativ kein. Im Ungarischen wird die in diesem Kapitel untersuchte Gruppe der Determinative traditionell zu zwei unterschiedlichen, aber einander ähnlichen Unterklassen der Wortart Pronomen gerechnet, zu den Indefinitpronomina, die den deutschen Indefinita ähneln, und den so genannten allgemeinen Pronomina, die eine beliebige Möglichkeit signalisieren. So gehören zu der Gruppe der Existenzquantoren die Determinative valamilyen, valamelyik, némelyik, valamennyi131, néhány, akármilyen/bármilyen, akármelyik/bármelyik132 und semelyik, semmilyen. Die oben aufgelisteten Existenzquantoren bilden auf keinen Fall – und in keiner der beiden untersuchten Sprachen – eine homogene Gruppe, d.h. sie können durchaus weiter klassifiziert werden. Im Deutschen gibt es einen Existenzquantor, nämlich irgendein, der nur mit singularischen Nominalphrasen vorkommen kann. Die Existenzquantoren irgendwelcher, mancher und – in bestimmten Fällen – einige können sowohl mit singularischen als auch mit pluralischen Nominalphrasen vorkommen, während die Quantoren etliche und mehrere nur mit Nominalphrasen im Plural kombinieren. Das Determinativ kein kann auch mit singularischen und pluralischen Nominalphrasen vorkommen; es unterscheidet sich von den anderen Existenzquantoren dadurch, dass es Negation ausdrückt.133 Auch die ungarischen Existenzquantoren können weiter klassifiziert werden. Die Existenzquantoren auf -milyen haben einen eher adjektivischen Charakter, während die auf -ik stark individualisierend sind (vgl. Abschnitt 3.3). Erstere können sowohl mit singularischen als auch mit pluralischen Nominalphrasen vorkommen, letztere nur mit singularischen, was aus der Individualisierung folgt. Valamennyi, néhány und némelyik implizieren, dass es um mehrere Vertreter der von der Nominalphrase bezeichneten Klasse 131
Nur in seiner indefiniten Bedeutung. Akármelyik und bármelyik beziehungsweise akármilyen und bármilyen sind synonym. 133 Näheres dazu in Eroms (1993). 132
Indefinitheit
95
geht, auch wenn – nach den oben, in Abschnitt 4.5, erörterten Regeln – das zugehörige Substantiv im Singular steht. Auch im Ungarischen haben wir einen negativen Existenzquantor, nämlich semelyik. Die Determinative mit akár-/bár- bezeichnen, dass es bei der Nominalphrase um beliebige Referenten der bezeichneten Gattung geht. Um einen Überblick über die Existenzquantoren in den beiden Vergleichssprachen zu bekommen, sei hier die folgende Gegenüberstellung gegeben: Deutsch irgendein irgendwelcher mancher einige, etliche, mehrere kein (ein beliebiges)134
Ungarisch valamelyik (valamilyen) valamilyen némely(ik) valamennyi, néhány semelyik, semmilyen akármelyik/bármelyik (akármilyen/bármilyen)
Tab. 6: Existenzquantoren im Deutschen und im Ungarischen
Es soll aber unbedingt hinzugefügt werden, dass sich diese Gegenüberstellung ausschließlich auf die lexikalische Bedeutung bezieht. Die angeführten deutsch-ungarischen Determinativpaare sind also lediglich als (ungefähre) lexikalische und auf keinen Fall als funktionale Entsprechungen zu betrachten. Was die Gebrauchskontexte der Existenzquantoren angeht, können sie im Deutschen bei der Einführung von neuen Referenten verwendet werden: (1.d) Ihre beiden Freunde lümmeln unterdessen in Nathalies Wohnung herum, sehen amerikanische Filme oder stopfen irgendwelches schreckliches Fast-food-Zeug in sich hinein. (MMM/601.02538 Mannheimer Morgen, 19.1.1996) (2.d) Solche ungewöhnlich hohe Niederschlagssummen verursachten im Herbst 1969 im östlichen Maghreb, besonders in Tunesien, mehrere Hochwasserquellen [...] (LIM/ LI1.00011 Mensching, G.: Hochwasserkatastrophe; Geographische Z. 58/2)
Demgegenüber scheinen im Ungarischen nicht alle Existenzquantoren diese Funktion ausüben zu können: Bei der Verwendung von Determinativen auf -ik muss der Denotatbereich der zugehörigen Substantive auf irgendeine Weise (durch den situationellen oder sprachlichen Kontext) schon bekannt sein, die restlichen Existenzquantoren können aber durchaus bei Neueinführung verwendet werden: (1.u) Azután
kell
‘Dann brauchen wir irgendeinen Pelzmantel für Balambér.’
(2.u) A
134
irgendein
szétbombázott
DEF.ART zerbombt
sárbogárdi
Pelzmantel
Balambérnak. (MNSZ)
dann
brauch.3SG
valamilyen bunda […]
parókia
Sárbogárder Pfarrhaus
Balambér.DAT
vendégszobájában
Gästezimmer.POSS3SG.INE
Die Klammern sollen darauf hinweisen, dass es sich bei ein beliebiges selbstverständlich nicht um ein Determinativ des Deutschen, sondern um die lexikalische Entsprechung der betreffenden ungarischen Determinative handelt.
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
96
megmaradt
néhány apró tárgy
a
régi
klein Gegenstand DEF.ART alt
időkből […] (MNSZ)
bleib.PST.3SG einig
Zeit.PL.ELA
‘Im Gästezimmer des zerbombten Pfarrhauses von Sárbogárd blieben einige kleinere Gegenstände aus den alten Zeiten erhalten.’
Mit den Existenzquantoren können auch beliebige Elemente einer Klasse bezeichnet werden. Das wird durch ihre lexikalische Bedeutung ermöglicht. (3.d) Hättest du nicht um Schlaftabletten oder irgendein schmerzstillendes Mittel bitten können? (LIM/LI1.00005 Dorn, U.: Dem Tod entrissen) (3.u) Nem
NEG
el
maradt
a
templomból,
bleib.PST.3SG PRT DEF.ART Kirche.ELA
ha
valamelyik
családtag
még
noch
akkor
dann
sem,
NEG
gyengélkedése [...]
wenn irgendein Familienmitglied Krankheit.POSS3SG indokolttá tette volna. (MNSZ) begründet mach.KOND.PST.3SG
‘Er blieb von der Kirche nie weg, auch dann nicht, wenn das durch die Krankheit eines Familienmitglieds hätte erklärt werden können.’
Die Existenzquantoren können sowohl im Deutschen als auch im Ungarischen verwendet werden, wenn ein schon eingeführter Referent wiederaufgenommen wird. Dieser anaphorische (oder deiktische) Gebrauch wird durch die Bedeutung der Existenzquantoren erlaubt, da sie in Kombination mit einem Substantiv mindestens ein Element der von dem Substantiv bezeichneten Klasse herausgreifen (kein bzw. semelyik schließen dagegen alle Elemente aus der fraglichen Klasse aus). Im Ungarischen können nur die Existenzquantoren auf -ik anaphorisch verwendet werden. (4.d) Aber es ist klar, warum hier diesmal nicht so viel Müll liegt. Wir hatten kein Hochwasser, das uns noch irgendwelches Zeug angeschwemmt hätte. (MMM/602.06780 Mannheimer Morgen, 12.2.1996) (5.d) Wir sind in einer großen Wohnung bei Fremden, in einem Zimmer höre ich meinen Vater mit einigen Leuten sprechen, [...] (LIM/LI1.00102 Bachmann, I.: Malina) (4.u) A
műsornak
nincs
előre
DEF.ART Sendung.DAT
vezérfonala, vagy ami még rosszabb, vezéreszméje: Leitfaden.POSS3SG oder REL.PRON noch schlimmer Leitgedanken.POSS3G soha semelyik művészt nem kértünk vagy zólítottunk
nie
kein
fel
arra,
PRT
kerülje
NEG.sein.3SG von vornherein
megszabott
Künstler.AKK NEG
hogy
das.SUB dass
ki
PRT
bitt.PST.1PL oder
bármelyik témát irgendein
gegeben
vagy
Thema.AKK oder
aufford.PST.1PL
személyt
Person.AKK
élceivel. (MNSZ)
meid.IMP.3SG
‘Die Sendung hat keinen vorgegebenen Leitfaden – oder, was noch schlimmer ist, Leitgedanken: Wir haben keinen Künstler darum gebeten oder dazu aufgefordert, irgendein Thema oder Person in seinen Witzen zu meiden.’
Witz.POSS3SG.PL.KOM
Indefinitheit
97
(5.u) Sípos
egy
Sípos
dossziét
vesz
INDEF.ART Mappe.AKK
némelyik iratot
elkérem
Akte.AKK
elő,
nehm.3SG
PRT
tőle; [...] (MNSZ)
einige
bitt.1SG
er.ABL
‘Sípos nimmt eine Mappe hervor, ich bitte ihn um einige Akten.’
Es soll noch kurz auf die Existenzquantoren eingegangen werden, die eine Negation ausdrücken. Diese sind das deutsche kein beziehungsweise das ungarische semelyik und semmilyen. Kein wird im Deutschen verwendet, wenn es um die Verneinung von Sätzen mit indefiniten Nominalphrasen geht. Wie die anderen Existenzquantoren des Deutschen, kann auch kein sowohl bei Neueinführung (6.d) als auch bei Wiederaufnahme gebraucht werden (7.d). Semelyik wird in ähnlichen Kontexten verwendet, hat aber – wegen des Suffixes -ik – eine stark individualisierende Bedeutung, bedeutet also ungefähr soviel wie „keiner der schon eingeführten Referenten“. Das bedeutet auch, dass semelyik – gleich den anderen Determinativen auf -ik – nur anaphorisch gebraucht werden kann (6.u und 7.u). (6.d) Es gibt in Baden-Württemberg keine Weisungen, die in die Entscheidungsbefugnis der Staatsanwaltschaft eingreifen. (MMM/104.05383 Mannheimer Morgen, 12.4.1991) (7.d) 1987 ging es aus dem Kammerorchester der Jungen Deutschen Philharmonie hervor. Es hat keinen Chefdirigenten [...] (MMM/101.33392 Mannheimer Morgen, 22.1.1991) (6.u) Kortalan az
zeitlos
sem
előadás,
DEF.ART Aufführung
a
NEG DEF.ART
díszlet,
a
NEG
rendezés,
DEF.ART Regie
sem a
ruhák
Bühnengestaltung NEG DEF.ART Kleid.PL
helyezik semelyik
nem
hiszen sem
da
setz.3PL kein
évszázadba
a
NEG
‘Die Aufführung ist keiner Epoche zuzuordnen, da weder die Regie, noch die Bühnengestaltung, noch die Kostüme die Geschichte in ein bestimmtes Jahrhundert setzen.’ többi
(7.u) A
DEF.ART ander
igaz
wahr
nem
ez
volt
Jahrhundert.ILL DEF.ART
történetet. (MNSZ)
szocialista
országra,
persze ránk
ehemalig sozialistisch Land.SUB und auch
az
állítás,
ugyanakkor
dies- DEF.ART Behauptung gleichzeitig
lehetett
és
Geschichte.AKK
mit
és
terv
során
DEF.ART Besitzwechsel.ADJ Plan
‘Diese Behauptung trifft auf die anderen ehemaligen sozialistischen Länder, so auch auf uns zu, gleichzeitig konnte man aber in keinem der Länder wissen, was von dem Plan zur Änderung der Besitzverhältnisse zu verwirklichen ist und wie.’
tulajdonváltási
und
während
wie
Staat.INE
lehet
NEG
a
wissen was.AKK
hogyan
államban
könn.PST.3SG
tudni,
semelyik
kein
is
wir.SUB auch
könn.3SG
megvalósítani. (MNSZ)
verwirklichen
Wie bei den anderen Determinativen, wurde auch bei den Nominalphrasen mit Existenzquantor die Erweiterbarkeit durch Relativsätze untersucht. Was die Existenzquantoren des Deutschen anbelangt, können diese Nominalphrasen sowohl durch restriktive (8.d)
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
98
als auch durch nicht-restriktive (9.d) Relativsätze erweitert werden. In dem untersuchten Korpus (70 Belege) waren auch die weiterführenden Relativsätze in einer verhältnismäßig großen Anzahl (18 Belege) vertreten (10.d). (8.d) Jetzt, in der Frage der doppelten Integration, geht es nicht um irgendeine Sache, die man dem Volk vormachen kann, sondern um das Verständnis seiner selbst. (S93/ H01.00022 Das Volk, die Wut, die Gewalt: 29) (9.d) Zum Glück gab es hier einige Gestrüppkulissen, die den Burschen die Sicht nahmen, aber irgendwann hatten sie ihn dann doch entdeckt [...] (LIM/LI1.00002 Nagel, C.H.: Dieser Mann traf …) (10.d) Initiator der beruflichen Bildungsmesse ist das Arbeitsamt im Verein mit etlichen Instituten, die ihr Angebot an Aus- und Weiterbildungs- oder Umschulungsmöglichkeiten vorstellen. (MMM/601.03309 Mannheimer Morgen, 23.1.1996)
Im Ungarischen scheinen nicht-restriktive Relativsätze nach Nominalphrasen mit Existenzquantoren häufiger vorzukommen (8.u). Bei restriktiven Relativsätzen wird das Bezugsnominal – ähnlich wie bei dem indefiniten Artikel – durch das adjektivische Demonstrativpronomen olyan erweitert (9.u).135 (8.u) Ugyanakkor fontos
gleichzeitig
[...] bármilyen
beliebig
létrehozása
az
wichtig das
is,
szabadon
dass
szervezetet,
frei
egyesületet [...],
Organisation.AKK Verein.AKK
[...]
Gründung.POSS3SG
hogy
auch
nem ütközik
jogszabályba. (MNSZ)
‘Es ist aber auch wichtig, dass sie frei Organisationen und Vereine gründen können, deren Gründung nicht gegen die Gesetze verstößt.’ olyan
bocsátva az
amelyek
REL.PRON.PL
NEG stoß.3SG Gesetz.ILL
(9.u) Ártalmas anyag bármilyen
alakíthassanak
gründ.POT.IMP.3PL
schädlich
Stoff
amely
a
beliebig
tengerbe
solch-
REL.PRON DEF.ART Meer.ILL gelassen
veszélyt
anyagot
Stoff.AKK
emberi
jelent,
bedeut.3SG
egészségre
DEF.ART menschlich Gesundheit.SUB
jelenthet ... (MNSZ)
Gefahr.AKK bedeut.POT.3SG
‘Unter Schadstoffen werden Stoffe verstanden, die für die Menschen schädlich sein können, wenn sie ins Meereswasser geraten ...’
Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass die Existenzquantoren in beiden Vergleichssprachen in gleichen Gebrauchskontexten verwendet werden. Der wichtigste Unterschied ist, dass, während im Deutschen dieselben Existenzquantoren zur Neueinführung und zur Wiederaufnahme gebraucht werden, im Ungarischen zwei Reihen für diese zwei Funktionen vorhanden sind: Die Existenzquantoren auf -milyen werden nur zur 135
Es muss hinzugefügt werden, dass hier nur eine wesentlich kleinere Anzahl von Beispielen untersucht werden konnte als im Deutschen; im Ungarischen Nationalkorpus war nämlich weder die Suche nach Relativpronomen möglich (es gibt nur die Suchoption „Pronomen“), noch konnte man nach Wörtern suchen, die nicht direkt aufeinander folgen.
Indefinitheit
99
Neueinführung verwendet, während die auf -ik stark individualisierend und somit in einem bestimmten Sinne anaphorisch sind.
5.5 Exkurs: Die indefiniten Pendants der anamnestischen Demonstrativa In Abschnitt 4.3 wurde der anamnestische Gebrauch der Demonstrativa untersucht. Die dort behandelten anamnestischen Demonstrativa haben auch indefinite Pendants: Das sind im Deutschen so ein/so’n (vgl. Auer 1981: 307; Harweg 2005; ähnlich auch Canisius, im Druck), im Ungarischen (egy) ilyen/olyan (vgl. Molnár 2010). Die Wortartenzugehörigkeit von so beziehungsweise so’n ist unklar, ebenso wie seine Semantik. (Für weitere Diskussionen vgl. z.B. Canisius 2004; Hennig 2007; Hole/Klumpp 2000; Lenerz/ Lohnstein 2005.) Die Wörter ilyen und olyan werden in den einschlägigen ungarischen Grammatiken als adjektivische Demonstrativpronomina eingestuft (vgl. Abschnitt 4.2). Auch wenn es sich bei so nicht um ein Determinativ handelt (bei so’n lässt sich diese Frage (noch) nicht beantworten), ist es wichtig, so ein/so’n bzw. (egy) ilyen/olyan in die Untersuchung der Substantivdetermination einzubeziehen, da beide Ausdrücke eine Funktion haben, die sie zum indefiniten Pendant der anamnestischen Demonstrativa macht. Die anamnestische Gebrauchsweise von so wird m.W. zuerst von Brugmann (1904: 138f.) erwähnt, er benutzt den Terminus „anamnestisch“ allerdings noch nicht:
So kommt auch sonst oft in einer Weise gebraucht vor, dass man sagen möchte, es stehe absolut. Nhd. […] da kam so ein kerl auf mich zu, da lief ich weg. […] Bei da kam so ein kerl auf mich zu schwebt dem Redenden vor, dass der Mensch gefährlich aussah; durch das nachkommende da lief ich weg bekommt so auch für den Angeredeten einen bestimmten Inhalt. […] Meistens aber verzichtet der Redende darauf, das so zu determinieren und überlässt es dem Angeredeten, sich die Beziehung dazu zu suchen, die sich aus der ganzen Situation, aus dem ganzen Zusammenhang ergibt. Der Angeredete kann aus dem so heraushören ‘du wirst schon wissen, was ich meine’. Wird dieser Gebrauch von so nun zur Gewohnheit, so verflüchtigt sich damit das Bedeutungselement der Deixis. (Hervorhebung im Original)
Wie aus dem obigen Zitat hervorgeht, wird so bzw. so’n in dieser Verwendung nicht deiktisch gebraucht. Eine phorische Bedeutung ist ebenfalls ausgeschlossen, genauso wie die Bedeutungskomponente, die einen Vergleich ausdrückt. Ich würde diesen Gebrauch von so/so ein als anamnestisch bezeichnen, und das aus mehreren Gründen: Wie man dem Zitat entnehmen kann, lässt sich die Bedeutung von so in dieser Verwendung genauso paraphrasieren wie die des anamnestischen dieser/jener (vgl. Abschnitt 4.3). Ferner ist so in dieser Funktion immer unbetont, bei Akzentuierung geht die anamnestische Lesart verloren. Was das Ungarische betrifft, wird die anamnestische Funktion der adjektivischen Demonstrativpronomina in einem Aufsatz von Laczkó (2003: 323f.) erwähnt. Sie benutzt den Terminus „anamnestisch“ nicht, stellt aber fest, dass in dieser Funktion die Pronomina unbetont sind. Sie behauptet ferner, dass diese Pronomina weder deiktisch noch ana-
100
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
phorisch sind. Von ihrer Funktion stellt sie lediglich fest, dass sie „irgendeine Diskurspartikel-Funktion“ (Laczkó 2003: 323, Übersetzung von mir) ausüben. Im Folgenden wird die anamnestische Funktion von so/so ein/so’n bzw. (egy) ilyen/ olyan ausführlicher untersucht. Die Datengrundlage bilden – wie in Abschnitt 4.3 – Belege aus DeReKo, dem Ungarischen Nationalkorpus (MNSZ), Weblogs und Internetforen. Es wurden insgesamt etwa 60 Belege ausgewertet. Im Gegensatz zum anamnestischen dieser/jener ist die Verwendung von Attributen nach anamnestischem so’n kein charakteristisches Merkmal; Belege mit und ohne Attribut kommen mit annähernd gleicher Häufigkeit vor. Diese Tatsache ist insofern zu erwarten, als so’n Indefinitheit kennzeichnet; eine Referentenidentifizierung ist seitens des Hörers nicht notwendig. Wie erwähnt, sind Belege ohne Attribut keine Seltenheit: (1.d) Da steht doch wieder so ein „Ausländer“ bei der Frankfurter Bahnauskunft. Bittet um eine Verbindung, […] (LIM/L29.00351 Frankurter Rundschau, 20.10.1971: 9) (2.d) Auch Renate wurde in die Mangel genommen, hochschwanger wie sie war. „Ich mußte dann öfters mal auf die Toilette, und da durfte ich nicht allein hingehen. Und da an diesem Wochenende keine Frau im Haus war, kam so’n Stasi-Offizier mit. Der drehte sich nicht etwa um, sondern stand vor mir und schaute mir zu, wie ich mit meinem dicken Bauch auf der Klobrille saß.“ (R99/APR.26626 Frankfurter Rundschau, 3.4.1999. 5) (3.d) „Na, so lernen wir uns besser kennen. Und dann können wir alle zusammen auch was machen.“ – „Was denn?“ – Na, so’n Projekt oder sowas.“ (E97/JUN.15808 Zürcher Tagesanzeiger, 24.6.1997: 57) (4.d) Apropos Spaß – Spaß heißt nass. Mal so’n Getränk gehört dazu! (HMP07/SEP.02708 Hamburger Morgenpost, 25.9.2007: 1-14)
Bei den Belegen mit Attribut ist kein bestimmter Typ vorherrschend, adjektivische Attribute (5.d, 6.d), Präpositionalattribute (7.d) und Relativsätze (8.d, 9.d) kommen gleichermaßen vor: (5.d) […] Das freut die beiden natürlich, daß sich auch die Jugend für dieses Hobby interessiert. „Denn den jungen Leuten müssen wir unsere Kenntnis ja weitergeben, die Techniker von heute lernen an solchen Geräten gar nicht mehr.“ Und Stapelfeldt ist da so ein wandelndes Radiolexikon. (M95/506.01500 Mannheimer Morgen, 3.6.1995) (6.d) Machen Sie jetzt bloß kein Aufhebens, ich hätt bloß gerne so’n schönes dickes Zigarrchen. Ach was: zwei. Können Sie mir da was empfehlen? (L99/OKT.76702 Berliner Morgenpost, 30.10.1999: 14.) (7.d) Junge Wessi-Frau kommt in ein ostdeutsches Kaff, um ihre Erbschaft, eine Spelunke, in Besitz zu nehmen. Den Laden will sie aufmischen und außerdem gegen böse Bauspekulanten kämpfen, die scharf auf ihr Grundstück sind. Ach, du liebe Güte, denkt sich der Zuschauer, schon wieder so ein Drama um Besser-Wessis und Jammer-Ossis. (M96/602.07051 Mannheimer Morgen, 14.6.1996) (8.d) „Die Schöne und das Biest“ von Gretny. Von wem? Nie gehört – sicher wieder so ein Moderner, der auf der Musical-Welle mitreitet. (M94TG/411.10244 Mannheimer Morgen, 18.11.1994)
Indefinitheit
101
(9.d) Wer ist Daniel? So’n Typ, den ich kenne. (Hörbeleg, PRO7 5.9.2009)
Ferner lassen sich auch Belege finden, wo die Nominalphrase mit so’n eine generische Lesart aufweist: (10.d) Nun kaufen wir Spielzeug selbst ein und lassen es bei uns abholen. Es gibt altersgerechte Spiele, Lego-Bausteine, Puppen, hier und dort ein Buch, vor allem aber Kuscheltiere. Denn so ein Kuscheltier ist ja nicht nur irgend ein Spielzeug. (M94TG/411.12270 Mannheimer Morgen, 30.11.1994)
Im Ungarischen werden in anamnestischer Funktion die adjektivischen Demonstrativa ilyen/olyan verwendet, meistens in Kombination mit dem indefiniten Artikel egy. Belege mit olyan kommen dagegen seltener vor. Aus diesem Grund werden diese beiden Demonstrativa im Folgenden nicht getrennt behandelt. Die Belege mit Attribut – adjektivische Attribute und/oder Relativsätze – waren in einer größeren Anzahl vertreten als solche, die kein Attribut enthielten. Der Unterschied ist jedoch – auch im Hinblick auf die insgesamt relativ niedrige Anzahl der Belege – nicht signifikant. Wie erwähnt, sind Belege mit anamnestischem ilyen/olyan auch ohne Attribut möglich (11.u, 12.u), wobei gelegentlich zusätzliche Informationen seitens des Sprechers gegeben werden (13.u): (11.u) hogy mondjuk
dass
a
házasságkötő-teremből kifelé
sag.IMP.1PL DEF.ART Trauungssaal.ELA
odamegy
egy
hozzád
aztán
érdeklődik
erkundig.3SG
nézeteidről,
jövet
gehend
ilyen emberforma,
PRT.geh.3SG du.ALL INDEF.ART solch dann
hinaus
az
Menschenartiges
abortusszal
DEF.ART Abtreibung.KOM
kapcsolatos
zusammenhängend
valamint … (MNSZ)
Anschauung.POSS2SG.PL.DEL und
‘z.B. beim Verlassen des Trauungssaals geht so’n Typ auf dich zu und fragt nach deiner Meinung über die Abtreibung und […]’
(12.u) „Janikám,
Janika.POSS1SG
egy
INDEF.ART
dobj
werf.IMP.2SG
ilyen
solch-
kapitális hiba
weboldalt“
má’
schon
nekem
ich.DAT
avagy az
Webseite.AKK oder
össze
zusammen
első
DEF.ART erst
három
drei
honlaptervezéskor (www.internet-marketing.hu/blog/janikam)
Fehler Webseiteplanen.TEMP
kapital
‘Janika, mach mir mal bitte so’ne Webseite – oder die ersten drei kapitalen Fehler beim Planen von Webseiten.’
(13.u) A
sofar
jó
DEF.ART Schofar
(tök
gut
az
das
hangja
olyan solch
kürt féle
Blashorn-artiges
van). (MNSZ)
(sehr
Stimme.POSS3SG sein.3SG)
‘Der Schofar ist so’ne Art Blashorn (und hat eine verdammt gute Stimme).’
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
102
Bei den Belegen mit Attribut waren diejenigen mit adjektivischem Attribut vorherrschend, aber auch Relativsätze scheinen keine Ausnahmefälle zu sein: (14.u) Még
évekkel
noch
ezelőtt egyszer
Jahr.PL.KOM vorher
ilyen
kaptunk Én
chinesisch Wundertee.AKK
kezdtem
el
inni,
új
ich
mert mindig
beginn.PST.1SG PRT trinken weil
ajándékba
bekomm.PST.1PL Geschenk.ILL
csodateát.
kínai
solch
einmal
immer
akkoriban
azért
damals
vevő
vagyok
deswegen
az
Käufer sein.1SG
DEF.ART
teákra. (MNSZ)
neu
‘Noch vor Jahren haben wir einmal so’nen chinesischen Wundertee geschenkt bekommen. Ich habe ihn damals begonnen zu trinken, weil ich gerne neue Teesorten ausprobiere.’
Tee.PL.SUB
(15.u) […] Ha
hogy
dass
ezzel jönnél,
akkor megint ott
wenn damit komm.KOND.2SG dann
a
egy
magyar
DEF.ART Ungar
wieder
ilyen
da
könnyen
INDEF.ART solch
leicht
vagyunk,
sein.1.PL
irányítható,
lenkbar
nép … (MNSZ)
akaratnélküli
willenlos
‘Wenn du das sagst, dann sind wir wieder da, dass die Ungarn ein leicht lenkbares Volk ohne eigenen Willen sind.’
Volk
(16.u) Közterületfelügyelőnek
álcázzák
Parkwächter.DAT
sárga ivecoval
tarn.3PL
kiemelik
magukat
sich.AKK
és
Iveco.KOM PRT.heb.3PL und
egy
és
olyan
und INDEF.ART solch
elviszik. (MNSZ)
gelb
‘Sie [= die Autodiebe] geben sich für Parkwächter aus und heben es [= das Auto] mit so’nem gelben Iveco auf und nehmen es mit.’
(17.u) Az
ország bármelyik
DEF.ART Land
beliebig
lefényképeznek […],
PRT.photographier.3PL
kell
brauch.3SG
csak
csak
nur
PRT.nehm.3PL
pontjáról
egy
ilyen
INDEF.ART solch
hozzá, amit
dazu
kell
bárkit
REL.PRON.AKK
végülis
eigentlich
hozzá 5.000.000 Ft,
brauch.3SG dazu
bárhol
Punkt.POSS3SG.DEL jed.AKK irgendwo
egyszerű
einfach
bárki
jed.NOM
kamera
Kamera
megvehet,
kauf.POT.3SG
uszkve. (MNSZ)
nur
‘Sie können von jedem Ort des Landes aus jeden fotografieren, wo er auch immer ist, man braucht dazu nur so’ne einfache Kamera, die eigentlich jeder kaufen kann, man braucht dazu nur ca. 5.000.000 Forint.’
(18.u) Hogyan magyarosítsam
wie
Az
das
5.000.000 Forint
madjarisier.IMP.1SG
egy
INDEF.ART
a
DEF.ART
ungefähr
„jet-pack“ szót? jet-pack
ilyen kütyü, amit solch Dings
Wort.AKK
az
ember
REL.PRON.AKK DEF.ART Mensch
Indefinitheit
103
a
hátára
DEF.ART Rücken.POSS3SG.SUB
wie
und DEF.ART
mint és
egy
a
INDEF.ART
hátizsákot,
csatol,
knüpf.3SG
Rucksack.AKK
levegőbe
Luft.ILL
tud
könn.3SG
vele
es.KOM
emelkedni.
sich heben
(www.gyakorikerdesek.hu/tudomanyok_helyesiras/115156-hogyan-magyarositsama-jet-pack-szot; 26.1.2009) ‘Wie soll ich das Wort „jet-pack“ ins Ungarische übersetzen? Das ist so’n Ding, das man sich auf den Rücken binden kann wie einen Rucksack und dann kann man sich damit in die Luft heben.’
Unter den untersuchten Belegen habe ich keinen mit generischer Lesart gefunden136, ich würde aber eine solche Verwendung zumindest von egy ilyen nicht von vornherein ausschließen. Betrachtet man die Belege mit anamnestischem so’n näher, zeigen sich auffallende Ähnlichkeiten: so ist in allen Fällen unbetont (und könnte auch nicht betont werden, ohne dass sich die Lesart verändern würde), es wird weder deiktisch/phorisch noch komparativ verwendet. Diese so(’n)-Verwendungen unterscheiden sich aber auch in verschiedenen Hinsichten: In (2.d) ist von einer bestimmten Person die Rede, die fragliche Nominalphrase könnte also als spezifisch (im Sinne von „ein bestimmter“) interpretiert werden. In (10.d) hingegen haben wir eine generische Nominalphrase. Hier ließe sich einwenden, dass auch Nominalphrasen mit dem indefiniten Artikel in dieser Hinsicht ambig sind. Wenn aber so’n die gleiche Funktion wie der indefinite Artikel ausüben würde, wäre das aus Sicht der Sprachökonomie ungünstig. Wie ich sehe, lassen sich die Belege auf einer Skala anordnen, mit den Stufen generisch (10.d) – nicht-spezifisch (3.d, 4.d, 6.d) – spezifisch (1.d, 2.d, 9.d). Die Belege mit prädikativen so’n-NPn (5.d, 7.d, 8.d) nehmen eine Sonderstellung ein. In jedem Fall besteht die Funktion von so’n darin, zu kennzeichnen, dass die fragliche Nominalphrase als typreferenziell und type-definit zu interpretieren ist.137 Mit der Verwendung von so’n werden charakteristische Eigenschaften oder der Typ des Referenten aktiviert. Somit referieren so’n-NPn auf einen bestimmten, als bekannt vorausgesetzten Typ. In (10.d) bezieht sich das generische so ein Kuscheltier auf die Gattung, auf den Typ „Kuscheltier“ als solchen; man könnte die – etwas umständliche – Paraphrase „die Gattung ‘Kuscheltier’, wie wir sie kennen und wie sie von einem beliebigen Exemplar der Gattung repräsentiert wird“ verwenden. Die so’n-NPn in (3.d), (4.d) und (6.d) sind nicht-spezifisch zu interpretieren (wenn man annimmt, dass sich spezifische Nominalphrasen durch die Hinzufügbarkeit von „be136
Ein Grund dafür könnte sein, dass indefinite generische Nominalphrasen im Ungarischen nur beschränkt möglich sind (vgl. Abschnitt 7.1, 7.2). 137 Die Begriffe typreferenziell und type-definit sind nicht wie bei Lenerz/Lohnstein (2005) bzw. wie bei Hole/Klumpp (2000) zu interpretieren, da die Referenzobjekte weder hinsichtlich relevanter Merkmale miteinander verglichen werden (wie bei Lenerz/Lohnstein 2005) noch bezieht sich so in dieser Funktion auf einen kontextuell bestimmten Typ (wie bei Hole/Klumpp 2000).
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
104
stimmt“ erkennen lassen), es wird ja nicht über ein bestimmtes Projekt oder über einen bestimmten Typ von (alkoholischen) Getränken gesprochen. Type-definit und typreferenziell sind aber diese Nominalphrasen durchaus, da sie sich durch „wie wir den Typ ‘Projekt’/‘(alkoholisches) Getränk’ kennen“ umschreiben lassen. Im Beleg (1.d) ist so ein Ausländer schon als spezifisch zu interpretieren, in der Bedeutung „ein bestimmter“. Da der Ausdruck auch ohne so spezifisch interpretiert würde, stellt sich die Frage nach der Funktion von so. Meiner Meinung nach wird mit so ausgedrückt, dass diese Person als typischer Vertreter der „Gattung“ ‘Ausländer’ angesehen wird. Mit so’n Typ in (9.d) wird eine konkrete Person gemeint, genauso wie mit so’n StasiOffizier in (2.d). Beim letzten Beispiel geht es immer um dieselbe Person (für ähnliche Beispiele vgl. Canisius 2004). Zuletzt sind noch die Belege (5.d), (7.d) und (8.d) zu erwähnen, in denen die so’n-NPn – syntaktisch gesehen – in prädikativer Funktion auftreten, sie beziehen sich aber auf den jeweiligen Referenten als einen typischen Vertreter der Gattung. Was die Funktion/Bedeutung von anamnestischem ilyen/olyan anbelangt, scheint diese einheitlicher zu sein als die Funktion von anamnestischem so’n im Deutschen. Auch über das Ungarische kann gesagt werden, dass Nominalphrasen mit anamnestischem ilyen/olyan typreferenziell und type-definit sind. In prädikativer Funktion sind (egy) ilyen/olyan-NPn Equative, in den anderen syntaktischen Funktionen lässt sich ihre Bedeutung mit „wie wir den Typ ‘X’ kennen“ paraphrasieren (wobei mit ‘X’ der Referent der jeweiligen Nominalphrase bezeichnet wird). Zusammenfassend lässt sich Folgendes behaupten: Von den indefiniten Gegenstücken der anamnestischen Demonstrativa (so ein/so’n bzw. egy ilyen/olyan) konnte festgestellt werden, dass sie typreferenziell und type-definit sind, in dem Sinne, dass mit diesen Determinativen die Aufmerksamkeit des Hörers auf die (proto)typischen Eigenschaften des gegebenen Referenten gelenkt wird. Ferner lässt sich ein Unterschied zwischen Nominalphrasen mit und ohne so bzw. ilyen/olyan beobachten: Nominalphrasen mit so bzw. ilyen/ olyan sind eindeutig, indem sie die soeben genannten Eigenschaften zeigen, Nominalphrasen mit ein/egy sind hingegen in vielen Kontexten ambig (s. dazu auch Abschnitt 5.3 bzw. 5.6).
5.6 Spezifizität In Abschnitt 5.3 wurden Spezifizität bzw. Nicht-Spezifizität als zentrale Eigenschaften von Nominalphrasen mit indefinitem bzw. Nullartikel genannt, ohne dass sie näher charakterisiert worden wären. Dies wird im Folgenden nachgeholt. Indefinite Nominalphrasen in Sätzen wie (1)
Ich möchte Peter ein Buch schenken.
Indefinitheit
105
können bekanntlich zwei Lesarten aufweisen. Nach der einen weiß ich schon, was für ein Buch ich ihm schenken will, nach der anderen weiß ich nur, dass das Geschenk ein Buch sein wird. Die erste Lesart wird in der Literatur meistens als „spezifisch“, die zweite als „nicht-spezifisch“ oder „unspezifisch“ bezeichnet. Obwohl dieser Unterschied intuitiv einleuchtend ist, ist es schwierig, ihn genauer zu erfassen. Das zeigt sich auch darin, dass das Thema zwar in der Literatur häufig behandelt wird, aber es immer noch viele offene Fragen gibt: 1. Wie soll „Spezifizität“ definiert werden? 2. Ist Spezifizität ein semantisches oder ein pragmatisches Phänomen? 3. Wie kann man die spezifische und die nicht-spezifische Lesart voneinander unterscheiden bzw. gibt es Tests, mit deren Hilfe es sich entscheiden lässt, welche der beiden Lesarten vorliegt? Im Folgenden wird nicht versucht, die Frage 1 zu beantworten; es werden lediglich die in der Literatur bisher erörterten Ansätze diskutiert. Die Fragen 2 und 3 werden im zweiten Teil dieses Kapitels diskutiert, wo auch auf die Frage 4. Weisen auch andere indefinite Determinative jeweils eine spezifische und eine nicht-spezifische Lesart auf oder hat nur der indefinite Artikel diese Eigenschaft? eingegangen wird. Was die Definition von „Spezifizität“ betrifft, sind in der Literatur verschiedene Vorschläge ausgearbeitet worden. Einer der verbreitetsten ist der von Hawkins (1978: 212):
In a specific reading the speaker has a particular, included, referent in mind. The identity of this referent will generally be arbitrary for the hearer unless identifiability can be guaranteed despite the indefiniteness of reference. In a non-specific interpretation the identity of the included referent will be arbitrary for both speaker and hearer. Which of the potential referents is included and which is excluded is indeterminate.
Unklar bleibt jedoch, ob der Sprecher in der Lage sein muss, den Referenten zu identifizieren. Wenn jemand den Satz (2) äußert, referiert er auf eine bestimmte Wohnung, ohne dass daraus klar wird, ob er sie identifizieren kann, oder nähere Informationen zu dieser Wohnung geben kann: (2)
Peter hat sich eine neue Wohnung gekauft.
Dieser Eigenschaft von spezifischen Nominalphrasen wird in der Arbeit von Bisle-Müller (1991) Rechnung getragen. Bisle-Müller unterscheidet zwischen zwei Typen des spezifischen Gebrauchs von indefiniten Nominalphrasen. Nach dem ersten kann der Sprecher den Referenten identifizieren „aber will oder kann ihn nicht so beschreiben, dass der Hörer ihn auch identifizieren kann“ (ebd.: 39). Nach dem zweiten kann der Sprecher den Referenten nicht identifizieren, er „weiß aber, daß ein besonderer Gegenstand existiert, auf den er das Prädikat bezieht“ (ebd.). Haspelmath (2000) verwendet für diese Typen die Termini „spezifisch bekannt“ (für den Sprecher) bzw. „spezifisch unbekannt“ und untersucht die Indefinitpronomina danach,
106
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
welche der drei Lesarten (spezifisch bekannt, spezifisch unbekannt, nicht-spezifisch) sie aufweisen können. Daraus ergibt sich für die vorliegende Untersuchung die Frage 5) Wie sind die Bedeutungen/Verwendungsweisen der indefiniten Determinative auf der Skala spezifisch bekannt – spezifisch unbekannt – nicht-spezifisch einzuordnen? Haspelmath (2000: 38) fasst die Bedeutung von „spezifisch“ wie folgt zusammen: „I will say (preliminarily) that an expression is specific if the speaker presupposes the existence and unique identifiability of ist referent.“ In Enç (1991) wird unter anderem der Ansatz, nach dem spezifische Nominalphrasen einen weiten Skopus haben,138 kritisiert, da in diesem Fall Spezifizität eine Art von Skopusrelation und kein selbstständiges semantisches Phänomen wäre. Enç (ebd.: 8) fasst – anhand von Untersuchungen des Türkischen – Spezifizität als Partitivität auf:
A specific indefinite is only required to obey the Novelty Condition, which states that its discourse referent must be distinct from previously established discourse referents. In contrast, the discourse referent of a nonspecific indefinite is further required to be unrelated to previously established referents.
Von Heusinger (2007: 275) gibt eine semantische Typologie von spezifischen indefiniten Nominalphrasen, nach der fünf Typen unterschieden werden können: 1) „scopal specific indefinites“ 2) „epistemic specific indefinites“ 3) „partitive specific indefinites“ (vgl. Enç 1991), 4) „discourse prominent or „noteworthy“ specific indefinites“ (vgl. Ionin 2006) und 5) „relative specific indefinites“. Er behauptet, dass der fünfte Typ der häufigste und damit der prototypische sei und fasst seine Feststellungen wie folgt zusammen:
The main thesis of this paper is that specificity indicates that an expression is referentially anchored to another argument expression in the discourse. ‘Referentially anchored’ means that the referent of the specific NP is functionally dependent on the referent of another expression. (von Heusinger 2007: 286; Hervorhebung von mir)
Im Folgenden werden die Definitionen von Enç (1991) und von Heusinger (2007) zugrunde gelegt. Wenden wir uns jetzt der Frage 3, d.h. der Frage nach der Unterscheidung von spezifischen und nicht-spezifischen Nominalphrasen zu. In der Regel wirkt der sprachliche und/ oder situationelle Kontext, in dem ein Satz geäußert wird, desambiguierend. Untersucht werden sollen aber auch die sprachlichen Mittel, mit deren Hilfe diese Lesarten unterschieden werden können. Haspelmath (2000: 38) führt drei Tests zur Unterscheidung der spezifischen und nichtspezifischen Lesart auf, die in der Literatur häufig erwähnt werden: Der erste Test besteht darin, die betreffende Nominalphrase durch „bestimmt“ (eng. certain) zu erweitern, da dieser Ausdruck eine spezifische Lesart erzwingt. Dieser Test funktioniert in vielen Fällen, wie man an unserem Beispielsatz (3a) sehen kann: (3a) Ich möchte Peter ein bestimmtes Buch schenken. 138
Dieser Ansatz wird vertreten u.a. von Fodor/Sag (1982); Hawkins (1978: 203ff.).
Indefinitheit
107
Eisenberg (2004: 147) behauptet, dass nicht-spezifische indefinite Nominalphrasen durch die Paraphrase mit „irgendein“ identifiziert werden können: (3b) Ich möchte Peter irgendein Buch schenken.
Dass diese Behauptung nicht haltbar ist, zeigt Haspelmath (2000: 68), wonach irgendein nicht nur in nicht-spezifischen, sondern auch in spezifisch unbekannten Kontexten auftreten kann. So auch in Satz (4a): (4a) Peter hat sich irgendeine Wohnung gekauft.
Ferner gibt es Fälle, in denen die Tests zu Sätzen mit fragwürdiger Akzeptabilität führen:139 (5a) Meine Frau erwartet ein Kind. (5b) ??Meine Frau erwartet ein bestimmtes Kind. (5c) ??Meine Frau erwartet irgendein/ein beliebiges Kind.
Ein zweiter Test zur Identifizierung spezifischer Lesarten beruht auf der Möglichkeit, Anaphern zu binden (vgl. Grimm 1986: 43; Haspelmath 2000: 38). So können spezifische indefinite Nominalphrasen Personalpronomen als Anaphern haben: (6a) Klaus hat mich um ein Buch gebeten und ich werde es ihm schicken.
Nicht-spezifische Nominalphrasen verlangen hingegen (nach Grimm 1986: 43) Indefinitpronomina als Anaphern: (6b) Klaus hat mich um ein Buch gegeben und ich werde ihm eins schicken.
Dieser Test führt jedoch nicht immer zu eindeutigen Ergebnissen. Es gibt nämlich Fälle, in denen nicht-spezifische Nominalphrasen mit einem Personalpronomen wieder aufgenommen werden können, z.B. in einem Satz, der einen nicht-indikativischen Verbmodus, ein futurisches Tempus oder Modalverben enthält (vgl. Haspelmath 2000): (7)
Pedro wants to buy a bicycle [non-spec]. It must/will be black. (Haspelmath 2000: 38)
Die letzte Möglichkeit zur Desambiguierung, die Haspelmath (2000) erwähnt, besteht darin, dass nur spezifische Nominalphrasen durch „an existential sentence“ paraphrasiert werden können: (8a) Es gibt ein Buch, das ich Peter schenken möchte (und zwar …) (8b) *Es gibt ein Buch, das ich Peter schenken möchte, (aber ich weiß noch nicht, was für ein Buch das sein soll).
Zur Unterscheidung zwischen spezifischer und nicht-spezifischer Lesart einer indefiniten Nominalphrase können auch Relativsätze beitragen. An nicht-spezifische Nominalphrasen können nur restriktive Relativsätze geknüpft werden, während spezifische Nominalphrasen sowohl mit restriktiven als auch mit appositiven Relativsätzen verträglich sind (vgl. Blühdorn 2007: 301; Zifonun 2001: 64): (9) 139
Ein Mann, dessen Ehefrau gestorben ist, kann Hinterbliebenenrente beantragen.
Auf diese Beispiele hat mich Peter Canisius aufmerksam gemacht (persönliche Mitteilung).
108
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
(10) Ein Mann, dessen Ehefrau gestorben ist, ging zum zweiten Mal auf Brautschau. (Beispiele aus Blühdorn 2007: 301)
Blühdorn (2007: 301) erklärt diese Verteilung folgendermaßen:
Einer plausiblen These zufolge ist das Relativpronomen in appositiven RSen referentiell, während es in restriktiven RSen als gebundene Variable anknüpft […]. Das referentielle Relativpronomen eines appositiven RSes nimmt das Bezugsnominale anaphorisch wieder auf, ebenso wie ein anaphorisches Personalpronomen, durch das es reformuliert werden kann.
Das heißt, Relativpronomen verhalten sich in appositiven Relativsätzen wie anaphorische Personalpronomen. Da diese sich nur auf spezifische Nominalphrasen beziehen können, sind Relativpronomen in einer vergleichbaren Verwendung bei nicht-spezifischen Nominalphrasen ausgeschlossen. Wie sich herausgestellt hat, sind Relativsätze eher unzuverlässige Indikatoren, da beim Vorhandensein von restriktiven Relativsätzen sowohl die spezifische als auch die nichtspezifische Lesart möglich ist.140 Ein Fall, wobei zwischen spezifischen und nicht-spezifischen Nominalphrasen grammatisch unterschieden werden kann, ist die Negation. Nehmen wir den (zweideutigen) Satz: (11) Sie möchte einen reichen Mann heiraten.
Will man den Satz negieren, indem die Spezifizität der Nominalphrase beibehalten wird, der Originalsatz also die Lesart hat „Es gibt einen bestimmten reichen Mann, den sie heiraten möchte“, erhält man den Satz (11a). (11a) Sie möchte einen reichen Mann nicht heiraten.
Das heißt, in diesem Fall bleibt die Nominalphrase außerhalb des Skopus der Negation und das Negationswort nicht wird verwendet. Wenn man aber den Satz auf eine Weise negieren will, dass die indefinite Nominalphrase eine nicht-spezifische Lesart aufweist, wählt man die Form (11b) (11b) Sie möchte keinen reichen Mann heiraten.
In diesem zweiten Fall wird das Determinativ kein gebraucht und die indefinite Nominalphrase befindet sich im Skopus der Negation. Anhand dieser Beispiele könnte man zu der Annahme verleitet werden, dass im Deutschen das Negationswort Auskunft über die spezifische bzw. nicht-spezifische Lesart gibt. Dass das nicht der Fall ist, zeigen wiederum Beispiele wie (11c). (11c) Sie möchte nicht einen reichen Mann heiraten, sondern einen intelligenten.
Die indefinite Nominalphrase ist in diesem Satz eindeutig als nicht-spezifisch zu interpretieren. Die indefinite Nominalphrase befindet sich auch hier im Skopus der Negation. Dass es kommunikativ notwendig sein kann, die Spezifizität einer Nominalphrase explizit zu kennzeichnen, beweist die in Abschnitt 5.5 beschriebene Verwendung von so 140
Ganz abgesehen von dem Problem, wie man restriktive von nicht-restriktiven Relativsätzen unterscheiden kann. Es gibt auch Relativsätze, die beide Lesarten zulassen, wie z.B. Ich suche ein Auto, das 160km/h fahren kann.
Indefinitheit
109
ein/so’n, wo festgestellt wurde, dass indefinite Nominalphrasen mit so ein/so’n in der Regel spezifisch (oder generisch) sind. Dass so in dieser Verwendung unbetont sein muss, kann den Beginn der Grammatikalisierung bis hin zu einem spezifischen indefiniten Artikel bedeuten, deren Ende aber noch nicht zu sehen ist (vgl. auch Canisius 2004: 441). Wenden wir uns nun dem Ungarischen zu. Wie in Abschnitt 5.3 erwähnt wurde, sind Nominalphrasen mit dem indefiniten Artikel ambig im Hinblick auf die Spezifizität. So ist (ohne Kontext) der ungarische Satz (12) Szeretnék
venni
egy
mög.KOND.1SG
‘Ich möchte ein Auto kaufen.’
kaufen INDEF.ART
autót.
Auto.AKK
genauso ambig wie seine deutsche Übersetzung. Auch einige sprachliche Möglichkeiten zur Desambiguierung sind denen im Deutschen ähnlich. Auch die ungarischen Nominalphrasen können mit bizonyos (‘bestimmt’) erweitert werden, um Spezifizität, oder mit tetszőleges (‘beliebig’), um Nicht-Spezifizität zu kennzeichnen. Nicht-Spezifizität kann auch durch bestimmte Indefinita (Existenzquantoren) wie z.B. valamilyen (‘irgendein’) gekennzeichnet werden.141 Was die Desambiguierung durch Hinzufügung von Relativsätzen angeht, ist das Ungarische dem Deutschen insofern ähnlich, als sich hier das adjektivische Demonstrativpronomen olyan als Korrelat für restriktive Relativsätze (nach indefiniten Bezugsnominalphrasen) grammatikalisiert hat, seine Verwendung ist aber nicht obligatorisch (vgl. Abschnitt 5.1 und 5.5). Somit können restriktive und nicht-restriktive Relativsätze voneinander relativ leicht unterschieden werden. Restriktive Relativsätze sind sowohl nach spezifischen (13) als auch nach nicht-spezifischen (14) Nominalphrasen möglich, während nicht-restriktive Relativsätze nur an spezifische (15) Nominalphrasen anknüpfen können: (13) A
most
DEF.ART jetzt
tárgyalt
törvényjavaslat
diskutiert
Gesetzesentwurf
INDEF.ART solch
egy
olyan szociális
foglal
törvénybe,
nehm.3SG
sozial
Gesetz.ILL
a legmesszebbmenőkig
intézkedést
Maßnahme.AKK
amit
a
szocialista
frakció
REL.PRON.AKK DEF.ART sozialistisch Fraktion
támogat, […] (MNSZ)
weitestgehend
‘Der Gesetzesentwurf, der zurzeit zur Diskussion steht, schreibt eine soziale Maßnahme vor, die von der Fraktion der Sozialisten weitestgehend unterstützt wird.’
(14) De
141
mi a
helyzet mondjuk
aber was DEF.ART Lage
ahol
wo
egy ein
unterstütz.3SG
orvos
Arzt
egy
olyan kistelepülésen,
sag.IMP.1PL INDEF.ART solch klein-Ortschaft.SUP
meg
und
egy
ein
rendelő
Praxis
van […] (MNSZ)
sein.3SG
Nach Haspelmath (2000: 73) können die Indefinita mit vala- sowohl in spezifischer als auch in nichtspezifischer Bedeutung verwendet werden. Welche Lesart vorliegt, entscheidet das Zweitglied. (Z.B. valamelyik (‘irgendein’): Pronomina auf -ik sind identifizierend, so hat valamelyik die Bedeutung ‘eines der vorher Erwähnten’, ist daher partitiv und damit als spezifisch zu interpretieren.)
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
110
‘Was passiert aber in einer kleinen Ortschaft, wo es nur einen Arzt und eine Arztpraxis gibt?’
(15) A
Ramberg-hadosztály
azonban a
aber
megfigyelésére
Poroszlóra
egy
Beobachtung.POSS3SG.SUB
tol
előre,
schieb.3SG vorwärts
kell
bleib.3SG
DEF.ART Tiszafüred.DEL Poroszló.SUB
marad,
Heves.SUP
Tiszafüredről
Hevesen
DEF.ART Ramberg-Division
INDEF.ART
amelynek
rögzített
müss.3SG sein.INF.3SG damit.NEG befestigt
kudarcnak
legyen
részleget
passend
állandó
nehogy
führend Flussübergang
megfelelő
Truppe.AKK
mozgásban
REL.PRON.DAT ständig
lennie,
vezető átkelőhely
Bewegung.INE
állások
Stellung.PL
által
durch
kitéve. (MNSZ)
Misserfolg.DAT
sein.IMP.3SG
ausgesetzt
‘Die Ramberg-Division bleibt in Heves, sie schiebt aber, um den Flussübergang zwischen Tiszafüred und Poroszló zu beobachten, eine Truppe vor, welche ständig in Bewegung sein soll, damit sie wegen einer befestigten Stellung nicht zum Scheitern verurteilt wird.’
Hier soll angemerkt werden, dass in einigen romanischen Sprachen wie im Französischen, Italienischen oder Spanischen in Relativsätzen, welche die Nicht-Spezifizität der vorangehenden Nominalphrase kennzeichnen sollen, ein anderer Modus, und zwar der Konjunktiv, verwendet wird. Demnach ist die indefinite Nominalphrase in dem italienischen Satz (16) Cerco
un
cagnolino che
ha
such.1SG INDEF.ART Hund
‘Ich suche einen Hund, der ein weiches Fell hat.’
il
pelo morbido.
REL.PRON hab.3SG DEF.ART Fell
weich
als spezifisch zu interpretieren, während die indefinite Nominalphrase in (17) Cerco
un
pelo
cagnolino che
such.1SG INDEF.ART Hund
DEF.ART Fell
il
morbido.
abbia
REL.PRON hab.KONJ.3SG
weich
als nicht-spezifisch zu interpretieren ist. Das Ungarische besitzt auch eine ähnliche Möglichkeit zur Desambiguierung, die aber in erster Linie nicht für Relativsätze, sondern für andere weiterführende Sätze charakteristisch ist. Wenn wir den Satz (18) Keresek
egy
such.1SG
INDEF.ART
‘Ich suche einen Maler.’
festőt.
Maler.AKK
nehmen und ihn wie in (18a) erweitern, bleibt er zweideutig: (18a) Keresek
egy
festőt,
aki
such.1SG INDEF.ART Maler.AKK REL.PRON
jól
gut
tud
könn.3SG
Indefinitheit
111
portrét festeni, pontos és megbízható. Porträt.AKK malen pünktlich und zuverlässig ‘Ich suche einen Maler, der gut Porträts malen kann und pünktlich und zuverlässig ist.’
Führt man aber den Satz fort wie in (18b), erhält man eine eindeutig spezifische Lesart, während mit der Fortsetzung in (18c) die Nicht-Spezifizität der Nominalphrase gekennzeichnet wird: (18b) Keresek
egy
festőt.
Jól
such.1SG INDEF.ART Maler.AKK gut
pontos
és
portrét
festeni,
Porträt.AKK malen
megbízható.
pünktlich
‘Ich suche einen Maler. Er kann gut Porträts malen und ist pünktlich und zuverlässig.’
(18c) Keresek
such.1SG
portrét
und
tud
könn.3SG
zuverlässig
egy
INDEF.ART
festeni,
malen
festőt.
Maler.AKK
legyen
sein.IMP.3SG
Jól tudjon
gut könn.IMP.3SG
pontos
és
pünktlich und
megbízható.
zuverlässig
Porträt.AKK
‘Ich suche einen Maler. Er soll gut Porträts malen können und pünktlich und zuverlässig sein.’
Unterschieden wird auch hier durch den Modus: Im Satz (18c) wird der Imperativ verwendet (der im Ungarischen ein vollständiges Präsensparadigma hat).142 Man könnte hier einwenden, dass im Deutschen eine ähnliche Möglichkeit vorhanden ist, nämlich wenn das Modalverb sollen als Imperativ-Paraphrase verwendet wird. Sehen wir uns deshalb die deutschen Übersetzungen der Sätze (18b) und (18c) an: (19) Ich suche einen Maler. Er kann gut Porträts malen, ist pünktlich und zuverlässig. (20) Ich suche einen Maler. Er soll gut Porträts malen können, pünktlich und zuverlässig sein.
Durch die Fortsetzung im Indikativ erhält die indefinite Nominalphrase in (19) eine eindeutig spezifische Lesart. Da der deutsche Imperativ nicht über ein vollständiges Paradigma verfügt, wurde in der Übersetzung von (18c) das Modalverb sollen verwendet. Der Unterschied zwischen (18c) und (20) ist aber, dass der deutsche Satz zweideutig ist, da das Modalveb selbst – wie bekannt – zwei Lesarten hat. Aus diesem Grund hat die Nominalphrase im Satz (20) eine spezifische (20a) und eine nicht-spezifische (20b) Lesart: (20a) Ich suche einen (bestimmten) Maler. Man sagt, er kann gut Porträts malen, er ist pünktlich und zuverlässig. (20b) Ich suche einen (beliebigen) Maler. Ich möchte, dass er gut Porträts malen kann und pünktlich und zuverlässig ist. 142
Nach einer anderen Auffassung hat der ungarische Imperativ nur Formen in der 2. Person, die restlichen wären die Formen des Konjunktivs, der ein vollständiges Paradigma habe und formgleich mit dem Imperativ sei (vgl. I. Molnár 1994). Hier kann dieses Problem nicht thematisiert werden; wichtig für unsere Zwecke ist, dass die Modusunterschiede zur Desambiguierung beitragen können.
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
112
Wie im Deutschen, helfen auch im Ungarischen Anaphern, Spezifizität und Nicht-Spezifizität voneinander zu trennen. Die ungarischen Äquivalente der Sätze (6a) und (6b) lauten wie folgt: (21a) Klaus
kért
is
Klaus
és
el
bitt.PST.3SG
und PRT auch
(21b) Klaus
kért
fogok
Klaus
és
und
tőlem
ich.ABL
fogom
werd.1SG.OBJ
bitt.PST.3SG
tőlem
egy
könyvet
INDEF.ART Buch.AKK
neki
er.DAT
küldeni
schicken
egy
ich.ABL INDEF.ART
is
werd.1SG.SUBJ auch
neki
(azt).
das.AKK
könyvet
Buch.AKK
küldeni egyet.
er.DAT schicken eins.AKK
Wie wir sehen, geht das Ungarische in der Unterscheidung sogar einen Schritt weiter, indem im Satz (21a) mit spezifischer Lesart neben dem (fakultativen) Pronomen die so genannte objektive Konjugation gebraucht wird, während in (21b) mit nicht-spezifischer Lesart das (in diesem Fall obligatorische) Indefinitpronomen die so genannte subjektive Konjugation fordert. Es lässt sich ferner ein Zusammenhang zwischen Partikelverwendung und Spezifizität beobachten: Die Konstruktion von Partikelverb und Indefinitpronomen würde Spezifizität im Sinne von Partitivität kennzeichnen: (21c) Klaus
kért
el
Klaus
és
und
bitt.PST.3SG PRT
tőlem
ich.ABL
is
egy
fogok
auch
könyvet
INDEF.ART Buch.AKK
werd.1SG.SUBJ
neki
küldeni
er.DAT schicken
egyet.
eins.AKK
Diese Feststellung scheint für die Fälle zuzutreffen, in denen die Verbpartikeln ausschließlich Perfektivität markieren. Das Ungarische hat aber auch Mittel, um zwischen spezifischer und nicht-spezifischer Lesart zu unterscheiden, die m.W. das Deutsche nicht hat. Eines von diesen Mitteln ist die Intonation. Wie Anna Szabolcsi in ihrem Aufsatz über die Unterscheidung zwischen Spezifizität und Nicht-Spezifizität zeigt, gehören zu den verschiedenen Lesarten auch unterschiedliche Intonationsmuster (Szabolcsi 1983: 83f.). Wenn also der Satz (22) mit einer Intonation wie in (22a) gesprochen wird, erhält er eine spezifische Lesart, während mit der fallenden Intonation in (22b) die Nominalphrase eindeutig als nicht-spezifisch interpretiert wird: (22) Ismerek egy
híres
kenn.1SG INDEF.ART berühmt
embert.
Mensch.AKK
‘Ich kenne einen berühmten Menschen.’
(22a) ’Ismerek egy ’híres ’embert. (22b) ’Ismerek egy híres embert. (Szabolcsi 1983: 83)
Eine weitere Möglichkeit, die Spezifizität einer Nominalphrase mit indefinitem Artikel zu kennzeichnen, ist die Wortstellung. Nominalphrasen in Topikposition müssen im Un-
Indefinitheit
113
garischen spezifisch oder generisch sein (vgl. Abschnitt 5.3), d.h. Topikalisierung bedeutet Spezifizierung: (23) Egy
könyvetT
keresek.
INDEF.ART Buch.AKK
‘Ich suche ein (bestimmtes) Buch.’
such.1SG
Nach dem indefiniten Artikel sollen auch die anderen indefiniten Determinative daraufhin untersucht werden, ob sie Spezifizität oder Nicht-Spezifizität der Nominalphrase anzeigen oder ambig in dieser Hinsicht sind. Ich fahre mit dem Nullartikel, einem häufig verwendeten Indefinitheitsmarkierer, fort. Da dieser im Deutschen bevorzugt mit Kontinuativa im Singular bzw. mit Individuativa im Plural verwendet wird (s. Abschnitt 5.2), habe ich nur diese Verwendungsweisen untersucht. Ausgeklammert bleiben also die zählbaren Substantive im Singular mit Nullartikel, die eher einen Sonderfall darstellen. In den erwähnten Fällen kann eine Nominalphrase mit Nullartikel sowohl eine spezifische als auch eine nicht-spezifische Lesart aufweisen: (24) Ich möchte Ø Öl kaufen. (25) Ich werde Ø Holz hacken. (26) Ich pflücke Ø Blumen.
Der Satz (24) ist zweideutig: Die indefinite Nominalphrase kann sich z.B. auf eine bestimmte Marke Bratöl beziehen, von der ich regelmäßig eine Flasche kaufe; in diesem Fall ist die Nominalphrase spezifisch. Ich kann mich aber auch auf beliebige Mengen irgendeiner Ölsorte bezogen haben. Im letzten Fall wäre die Nominalphrase als nicht-spezifisch zu interpretieren. Die Nominalphrasen in den Sätzen (25) und (26) sind aber eher nicht-spezifisch: Der Sprecher spricht über eine weiter nicht zu bestimmende Menge (und Qualität) der genannten Gattungen. D.h. bei indefiniten Nominalphrasen mit Nullartikel scheint die nicht-spezifische Lesart präferiert zu sein. Sowohl die Kontinuativa im Singular als auch die Individuativa im Plural mit Nullartikel können aber auch in Kontexten vorkommen, in denen sie eindeutig spezifisch verwendet werden: (27)
(Kontext: Beschreibung einer Situation) A: Was siehst Du? B: Ich sehe ein Glas und in dem Glas ist Ø Wasser. B’: Ich sehe einen Tisch und auf dem Tisch liegen Ø Blumen.143
Für das Ungarische wurde einerseits in Abschnitt 5.2 festgestellt, dass der Nullartikel in mehr Gebrauchskontexten verwendet werden kann als im Deutschen, da er auch mit Individuativa im Singular stehen kann. Ferner wurde in Abschnitt 5.3 festgestellt, dass es eine wichtige Funktion des Nullartikels ist, die Nicht-Spezifizität der betreffenden Nominalphrase zu kennzeichnen. Somit sind indefinite Nominalphrasen mit Nullartikel im Un143
Auf diese Verwendungsweisen hat mich Lutz Gunkel aufmerksam gemacht (persönliche Mitteilung).
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
114
garischen grundsätzlich nicht-spezifisch. Demnach haben die indefiniten Nominalphrasen in den Sätzen (28) und (29) nur eine nicht-spezifische Lesart: (28) Ø Orvost
keresek.
Arzt.AKK
such.1SG
‘Ich suche einen Arzt.’
(29) Ø Virágot
szedek.
Blume.AKK
pflück.1SG
‘Ich pflücke Blumen.’
Dasselbe lässt sich über Kontinuativa (30) sowie über pluralische Individuativa (31) behaupten: (30) Ø Fát
Holz.AKK
fogok
‘Ich werde Holz hacken.’
(31) Ø Munkatársakat
Mitarbeiter.PL.AKK
aprítani.
werd.1SG hacken
keresünk.
such.1PL
‘Wir suchen Mitarbeiter.’
Wie im Deutschen, können auch im Ungarischen Kontexte gefunden werden, in denen indefinite Nominalphrasen mit Nullartikel eine eindeutig spezifische Lesart aufweisen. Das kann anhand der Übersetzung des Beispiels (27) gezeigt werden: (32) A:
Mit
was.AKK
B:
Egy
B’: Egy
INDEF.ART
INDEF.ART
Ø
látsz?
seh.2SG
poharat
látok,
Glas.AKK
seh.1SG
asztalt
látok,
a
pohárban Ø víz
DEF.ART Glas.INE
az
asztalon
Tisch.AKK seh.1SG DEF.ART Tisch.SUP
van.
Wasser sein.3SG
Ø virág
van/
Blume sein.3SG
virágok vannak.
Blume.PL sein.3PL
Diese Beispiele zeigen, dass die in der Literatur häufig erwähnte These, nach der indefinite Nominalphrasen mit Nullartikel immer nicht-spezifisch seien (vgl. Alberti 1997: 342; Szabolcsi 1983: 89), einer Modifizierung bedarf. Es sollen noch die restlichen indefiniten Determinative, die Existenzquantoren, daraufhin untersucht werden, welche Lesarten sie induzieren. Einige von ihnen, das deutsche irgendein und irgendwelcher bzw. das ungarische valamilyen, scheinen nur eine nicht-spezifische und eine spezifisch-unbekannte Interpretation zuzulassen: (33) Ich möchte irgendein Buch kaufen. (34a) Vorhin hat irgendein Student von dir angerufen. Ich weiß aber nicht mehr, wer es war. (34b) ??Vorhin hat irgendein Student von dir angerufen. Rate mal, wer es war.144 144
Beispiele in Anlehnung an Haspelmath (2000: 47), Übersetzung von mir.
Indefinitheit
115
(35) Szeretnék
mög.KOND.1SG
venni
valamilyen
könyvet.
kaufen irgendein
Buch.AKK
Die indefiniten Nominalphrasen in den Sätzen (33) und (35) haben eine eindeutig nichtspezifische Lesart. In (34a) kann man die Nominalphrase nur als spezifisch interpretieren, es handelt sich ja um einen bestimmten Studenten, den aber der Sprecher nicht identifizieren kann, daher ist die Lesart spezifisch-unbekannt. Der Satz (34b) enthält eine indefinite Nominalphrase, die spezifisch-bekannt sein sollte, die Akzeptabilität dieses Satzes ist aber eher fragwürdig. Übersetzt man die Sätze (34a) und (34b) ins Ungarische (36a, 36b), muss irgendein mit dem Indefinitum valamelyik wiedergegeben werden. Die Pronomina und Determinative auf -ik sind identifizierend, daher kann die Nominalphrase nur eine spezifische Lesart haben, eine spezifisch-bekannte Interpretation scheint dagegen ausgeschlossen zu sein: (36a) Nemrég telefonált
vorhin
anruf.PST.3SG
de
már
aber
(36b) ??Nemrég
vorhin
schon
nem
NEG
telefonált
anruf.PST.3SG
Találd
rat.IMP.2SG
ki,
valamelyik tudom,
wiss.1SG
Student.POSS2SG
hogy ki
dass
valamelyik
wer
wer
volt.
sein.PST.3SG
tanítványod.
irgendein
hogy ki
PRT dass
tanítványod,
irgendein
Student.POSS2SG
volt.
sein.PST.3SG
Da die Bedeutung von valamelyik am angemessensten zu paraphrasieren wäre mit ‘ein beliebiges Exemplar der vorher erwähnten (oder anderswie bekannten) Gattung’, ist es partitiv, d.h. eine nicht-spezifische Lesart ist unmöglich. Was die anderen Existenzquantoren wie einige und néhány anbelangt, werden sie – wie mir scheint – meistens nicht-spezifisch interpretiert, sie können aber durchaus beide Lesarten haben. Wenn ich zum Beispiel von mir behaupte: (37) Ich möchte noch einige Bücher über Spezifizität lesen. (38) Szeretnék
mög.KOND.1SG
a
DEF.ART
még
noch
elolvasni
PRT.lesen
néhány
einige
könyvet
Buch.AKK
specifikusságról.
Spezifizität.DEL
kann es sein, dass ich sowohl die Anzahl als auch die Titel dieser Bücher kenne – in diesem Fall hat die Nominalphrase eine spezifische Lesart. Es ist aber genauso möglich, dass ich mein Wissen über Spezifizität als zu gering einschätze und vorhabe, eine noch nicht bestimmte Anzahl von Büchern über Spezifizität, über die ich noch nichts Näheres weiß, zu lesen. In diesem zweiten Fall hat die Nominalphrase eine nicht-spezifische Lesart. Ich halte es für wichtig, das hier Erörterte dadurch zu ergänzen, dass Nominalphrasen mit Kardinalzahlen (und ohne Determinative) auch ambig sind hinsichtlich Spezifizität, eine Tatsache, auf die selten hingewiesen wird. So haben die Sätze (39) Ich suche zwei berühmte Menschen.
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
116 (40) Keresek
such.1SG
két
híres
zwei
berühmt
embert.
Mensch.AKK
sowohl eine spezifische als auch eine nicht-spezifische Lesart; ich kann nämlich nach zwei bestimmten berühmten Personen suchen oder ich kann auch zwei beliebige Personen suchen, die berühmt sind. Zum Schluss seien die untersuchten indefiniten Determinative des Deutschen und des Ungarischen in einer Übersichtstabelle dargestellt, welche die möglichen Lesarten dieser Determinative zeigt und sie miteinander vergleicht:
spez.-bek.
Deutsch spez.-unbek. nicht-spez.
ein Ø
spez.-bek.
Ungarisch spez.-unbek.
irgendein einige kein Tab. 7: Lesarten indefiniter Determinative
nicht-spez. egy Ø valamilyen/valamelyik néhány
6. Exkurs: Die Kombinierbarkeit der Determinative
In der vorliegenden Arbeit werden die Determinative im Deutschen und im Ungarischen vor allem in Bezug auf ihre semantisch-pragmatischen Funktionen untersucht. Der folgende Exkurs widmet sich dagegen ihren syntaktischen Eigenschaften. Für die Zuordnung von Elementen zur Klasse der Determinative wird oft als syntaktisches Kriterium angegeben, dass sich Elemente derselben Wortklasse innerhalb einer Phrase gegenseitig ausschließen, also in komplementärer Distribution zueinander stehen (vgl. z.B. Helbig/Buscha 1991: 335). Dies wird oft als ein Argument dafür angeführt, die Quantoren aus der Klasse der Determinative auszuschließen, da es ja zum Beispiel im Deutschen die Kombination all(e) die gebe. Was das Deutsche betrifft, behaupten die meisten Grammatiken, dass sich die Determinative nur begrenzt miteinander kombinieren lassen bzw. dass es sich in bestimmen Fällen (z.B. ein wenig, was für ein) nicht um syntaktische Kombinationen, sondern um zusammengesetzte Determinative handelt.145 Im Folgenden wird gezeigt, dass die Determinative des Deutschen weit mehr Kombinationsmöglichkeiten zulassen als es allgemein angenommen wird, bzw. dass in gewissen Fällen sogar eine Kombination dreier Determinative möglich ist.146 Im ersten Teil dieses Kapitels werden zuerst die Kombinationsmöglichkeiten der Determinative im Deutschen, dann die im Ungarischen behandelt.147 Als Grundlage für die Zusammenstellung der Kombinationen dienten die morphosyntaktisch annotierten Korpora des DeReKo bzw. das Ungarische Nationalkorpus (MNSZ). Im zweiten Teil wird die Frage diskutiert, ob und wie die Kombinationsmöglichkeiten der Determinative den Definitheitsgrad beeinflussen. Ferner wird auf die Frage eingegangen, ob und inwieweit die Kombinationsmöglichkeiten die Wortartenzugehörigkeit beeinflussen.
145
Vgl. Duden (1984: 314 und 1995: 305); Engel (1992: 553 und 2002: 118f.); Engel et al. (1999: 807); Helbig/Buscha (1991: 355f.); Uzonyi (1996: 494); Zifonun/Hoffmann/Strecker (1997: 76) sowie Müller (1986). 146 Vgl. auch ähnliche Untersuchungen in anderen Sprachen, z.B. Prado Ibán (1993) für das Spanische. 147 In diese Untersuchung wurde der Nullartikel aus offensichtlichen Gründen nicht aufgenommen.
118
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
6.1 Die Kombinationsmöglichkeiten der Determinative Was das Deutsche betrifft, zeigt die Tabelle 8148, dass die mehrfach angenommene begrenzte Kombinierbarkeit der Determinative ein ziemlich weites Spektrum an Kombinationsmöglichkeiten bedeutet (vgl. auch Molnár 2004). In die Tabelle 8 wurden auch Wörter aufgenommen, die – nicht zuletzt wegen ihres umstrittenen Status als Determinativ – in die funktional-semantische Analyse der Kapitel 4, 5 bzw. 7 nicht einbezogen wurden. Die Demonstrativa solcher/derartiger sind adjektivische Demonstrativpronomina: Sie verhalten sich ähnlich wie Adjektive und sind daher mit fast allen Determinativen kombinierbar. Aufgrund dieses Verhaltens und der Tatsache, dass sie sich auch mit einigen Determinativkombinationen kombinieren lassen (s.unten), wobei sie am nächsten zum Substantiv stehen, sind sie in der Tabelle, getrennt von den anderen Demonstrativa, erst in den Spalten I und J angegeben. Bei den Determinativen, die sowohl im Singular als auch im Plural gebraucht werden, wird – wie bisher – die Form des Nominativ Singular Maskulinum stellvertretend für das gesamte Paradigma angegeben. Die möglichen Kombinationen können erfasst werden, indem man nach einem mit Ziffern bezeichneten Determinativ ein mit einem Buchstaben bezeichnetes setzt.
148
Anmerkungen zu der Tabelle 8: In den nummerierten Zeilen sind diejenigen Determinative aufgelistet, die in einer Kombination als das erste Element auftreten können: 1-2: der definite und der indefinite Artikel; 3: Demonstrativa; 4: Possessivartikel; 5-17: Quantordeterminative. In den mit Buchstaben bezeichneten Kolumnen sind diejenigen Determinative angegeben, die das zweite Element einer Kombination bilden können:A-B: der definite und der indefinite Artikel; C: Demonstrativa; D: Possessivartikel; E-H: Quantordeterminative; I-J: Demonstrativa.
-
dieser/ jener
mein
all(e)
3
4
5
einige
etliche
mehrere
sämtliche
beide
irgendein
irgendwelche
lauter
kein
9
10
11
12
13
14
15
16
17
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
welch/ manch/ solch
8
-
jeder
viele/wenige
6
7
die
-
-
der ein
1 2
-
-
-
-
-
-
-
-
-
ein
-
-
-
-
-
-
-
diese
diese
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
wenige
-
-
-
-
vielen/wenigen
vielen/wenigen
-
vielen/wenigen
viele/wenige
F
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
beide
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
derartige
derartige derartige
solche solcher
solche
derartiger
derartige
derartiger ?
solcher
?
solche ?
derartige
derartige
derartige
derartige
-
solche
solche
solche
solche
-
derartige
?
solche solche
?
derartige
derartiger ?
-
derartiger
derartiger
J
solche
solcher
?
-
solcher
-
solcher
sämtlicher -
I
H
beiden sämtlichen
beiden
-
beiden
beide
G
Tab. 8: Kombinationsmöglichkeiten der Determinative im Deutschen
?
-
-
diese
?
-
-
diese/?jene ?
-
?
meine
?
meine
-
-
jeder
meine
-
jeder
E
-
mein
D
-
-
-
diese/jene
-
-
-
ein dieser/jener
der
C
B
A
Exkurs: Die Kombinierbarkeit der Determinative 119
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
120
Nicht aufgeführt wurden: –– Determinative, mit denen keine Kombination möglich ist, z.B. mancher –– Fälle, die nicht als Kombination gelten: –– Determinative, die zwar der Form nach wie Kombinationen aussehen, in Wirklichkeit aber zusammengesetzte Determinative sind: was für ein, ein bisschen –– Fälle, in denen das zweite Element nicht als Determinativ fungiert: der eine Mann, mein einer Sohn –– Fälle, in denen die Determinative nicht den gleichen Kasus haben: einer meiner Freunde –– Kombinationen dreier Determinative: In einigen Fällen ist es sogar möglich, drei Determinative miteinander zu kombinieren. all(e) diese meine diese meine beiden alle meine solchen/derartigen ? jeder meine solche/derartige ? viele meine solchen/derartigen Aus der Tabelle beziehungsweise der obigen Auflistung wird ersichtlich, dass der Allquantor all- und der Possessivartikel am häufigsten in Determinativkombinationen auftreten können bzw. dass sich die Existenzquantoren irgendein, irgendwelcher, lauter und kein lediglich mit den adjektivischen Demonstrativpronomina kombinieren lassen (bei den meisten ist sogar die Akzeptabilität dieser Kombinationen eher fragwürdig). In den Grammatiken des Ungarischen wird den Kombinationsmöglichkeiten der Determinative fast keine Aufmerksamkeit gewidmet. Die einzige mir bekannte Feststellung über die Kombinierbarkeit der Determinative im Ungarischen ist, dass sich der definite Artikel mit den Quantordeterminativen nur dann kombinieren lässt, wenn zwischen ihnen noch ein Element steht (das aber kein Determinativ ist): én
(1.u) az
DEF.ART ich
‘alle meine Geheimnisse’
(2.u) a
minden
all-
neked
DEF.ART du.DAT
‘alle Briefe an dich’
írt
titkom
Geheimnis.POSS1SG
geschrieben
valamennyi
all-
levél149
Brief
Ferner wird erwähnt, dass die Reihenfolge der Determinative in einer Kombination nicht beliebig ist (É. Kiss/Kiefer/Siptár 1999: 80). Aus diesem Grund ist anzunehmen, dass im Ungarischen die Determinative eine begrenztere Kombinierbarkeit haben als im Deutschen. Die folgende Tabelle 9150 zeigt die Kombinationsmöglichkeiten der Determinative im Ungarischen. 149 150
Vgl. Szabolcsi/Laczkó (1992: 290). Anmerkungen zu Tabelle 9: Die Tabelle ist zu lesen wie Tabelle 8. Reihenfolge der Determinative: 1-2: der definite und der indefinite Artikel; 3-4: Demonstrativa; 5-10: Quantordeterminative. A: der definite Artikel; B: Demonstrativum; C-D: Quantordeterminative; E: das Possessivsuffix.
Exkurs: Die Kombinierbarkeit der Determinative
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
a/az egy ez/az ilyen/olyan minden/mindegyik melyik/milyen/ miféle valamennyi bármelyik/ valamelyik mindkét sok/kevés
121
A a/az a/az -
B ilyen/olyan ilyen/olyan ilyen/olyan ilyen/olyan
C sok/kevés sok/kevés -
D összes összes -
E Possessivsuffix + + + + +
-
-
-
-
+
-
ilyen/olyan
-
-
+
-
ilyen/olyan
-
-
+
-
ilyen/olyan ilyen/olyan
-
-
+ +
Tab. 9: Kombinationsmöglichkeiten der Determinative im Ungarischen
Die Position der unter C und D aufgeführten Elemente ist umstritten. Sok/kevés könnten (wie ihre deutschen Entsprechungen viele/wenige) auch zu den Indefinitnumeralien gerechnet werden. Die Zuordnung von összes zur Klasse der Determinative ist noch problematischer: Es kommt nur in der Verbindung mit dem definiten Artikel vor. Zu bedenken wäre, az összes bzw. az/ez a/az, also die Verbindung von Demonstrativa und definitem Artikel, als zusammengesetzte Determinative aufzufassen. Ferner lässt sich az összes mit den adjektivischen Demonstrativpronomina ilyen/olyan kombinieren. Das Possessivsuffix kombiniert nicht nur mit allen Determinativen, sondern auch mit allen Determinativkombinationen. Das kann wahrscheinlich neben seinem Suffixcharakter in erster Linie mit seiner Eigenschaft als definitheitsunspezifisches Possessivum erklärt werden (vgl. Abschnitt 4.4).
6.2 Kombinierbarkeit und Definitheit Im vorangehenden Teil wurden die Kombinationsmöglichkeiten der Determinative untereinander dargestellt. Anhand der Tabellen 8 und 9 wird ersichtlich, dass es im Deutschen wesentlich mehr Kombinationsmöglichkeiten gibt als im Ungarischen. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, ob und inwieweit die Kombinierbarkeit den Definitheitsgrad beeinflusst. Dazu sollen die Determinativkombinationen nach der Definitheit bzw. der Indefinitheit ihrer Elemente gruppiert werden. Rein theoretisch sind bei der Kombination von zwei Determinativen vier solche Gruppen möglich; sie werden in der folgenden Tabelle 10 dargestellt:
122
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen Determinativ 1 definit definit indefinit indefinit
Determinativ 2 definit indefinit definit indefinit
Tab. 10: Mögliche Gruppen der Determinativkombinationen
Im Deutschen ist hier jede Gruppe vertreten – allerdings nur dann, wenn man auch viele/ wenige zu den Determinativen rechnet. Die Einordnung von viele und wenige zu den Determinativen ist äußerst problematisch, sie werden nämlich vielfach als Numeralien betrachtet (vgl. Abschnitt 3.3). Die Frage nach dem Definitheitsgrad lässt sich zum Teil einfach beantworten: Dass die Kombination zweier definiter Determinative definit und die zweier indefiniter Determinative indefinit ist, scheint unmittelbar einzuleuchten. Bei den Kombinationen eines definiten und eines indefiniten Determinativs kann diese Frage nicht so einfach entschieden werden. Zu fragen ist, ob die Determinative in diesen Kombinationen in dieser Hinsicht gleichrangig sind, oder ob eines der Elemente den Determinationsgrad bestimmt und wenn ja, welches. Sehen wir uns zuerst die Kombinationen an, die an der ersten Stelle ein definites und an der zweiten ein indefinites Determinativ enthalten! Bei solchen Kombinationen können an der ersten Stelle der definite Artikel, die Demonstrativa dieser und (seltener) jener und die Possessiva stehen, die zweite Stelle kann nur von viele beziehungsweise wenige angenommen werden. Diese Determinativkombinationen können als definit eingestuft werden, das heißt, das erste Glied bestimmt den Determinationsgrad. Die Nominalphrasen mit diesen Determinativkombinationen entsprechen durchaus dem Kriterium der Identifizierbarkeit. So wird die Determinativkombination mit dem definiten Artikel z.B. entweder anaphorisch (1.d) oder als Neueinführung mit einem Relativsatz (2.d) verwendet, und auch die restlichen Kombinationen können nur in den Kontexten gebraucht werden, in denen die Demonstrativa (3.d) oder die Possessiva (4.d) auch möglich wären. (1.d) So mußten die Journalisten ohne die allerorts üblichen Arbeitstische auskommen, weil die von der Hallenverwaltung schon vor Wochen abmontiert wurden. Zu allem Pech für die schreibende Zunft hatten die Schifferstadter versehentlich auch noch die wenigen Presseplätze jeweils doppelt besetzt [...]. (M91TG/101.30023 Mannheimer Morgen, 13.1.1991) (2.d) Natürlich gab’s verbale Streicheleinheiten für die vielen Sponsoren, ohne die ein solches Großturnier finanziell lahmen würde. (M96TG/605.19785 Mannheimer Morgen, 8.5.1996) (3.d) Wie gesagt, wandten sich also die Sung sofort gegen die Staaten im Süden. Diese vielen kleinen Südstaaten waren zwar wirtschaftlich und kulturell zum Teil gut entwickelt, aber doch militärisch ziemlich schwach. (LIM/LI1.00249 Eberhard, W.: Geschichte Chinas)
Exkurs: Die Kombinierbarkeit der Determinative
123
(4.d) Deshalb braucht das Unternehmen einen neuen Führungsstil, eine neue Firmenkultur, einen anderen Zugang zum Markt. Bei der Technik kann ich mich ganz auf meine vielen hervorragenden Berater im Hause verlassen. (S94/H18.02117 „Wir müssen Gas geben“: 114)
Anhand der Beispiele wird ersichtlich, dass sich viele und wenige eher als Adjektive oder wie die anderen Numeralien verhalten und keinerlei Einfluss auf den Determinationsgrad haben. Deshalb wäre es sinnvoll, sie nicht als Determinative zu betrachten. In die vorherige Analyse der Indefinitheit (Kapitel 5) wurden sie nicht zuletzt aus diesem Grund nicht aufgenommen. Viel problematischer sind hingegen die Determinativkombinationen, bei denen das erste Glied indefinit, das zweite definit ist. Eine Untergruppe bilden hier die Kombinationen aus Existenzquantoren und den Demonstrativa solcher und derartiger. Ich habe schon in Abschnitt 4.2 darauf hingewiesen, dass die Ansicht, nach der die Demonstrativa definit wären, bei solcher (wie auch bei derartiger) zu revidieren ist. Solcher verhält sich eher als ein Adjektiv; es ist sogar eine Entwicklung von einem „echten“ Determinativ zu einem Adjektiv zu beobachten (vgl. Ballweg 1999; Zifonun/Hoffmann/Strecker 1997: 1936ff., sowie Abschnitt 4.2). Solcher (und derartiger) ist mit mehreren Existenzquantoren kombinierbar; die Nominalphrasen mit diesen Determinativkombinationen sind als Ganzes indefinit, da nicht-identifizierbar für den Hörer:151 (5.d) Von den Ostdeutschen Lohnzurückhaltung zu verlangen ist zwar richtig, aber für einen westdeutschen Politiker erst wirklich mutig, wenn er damit auch die notwendigen Forderungen an seine westlichen Wähler verbindet. Einige solche Forderungen kann man leicht nennen. (S93/H43.05216 Lafontaines halbe Wahrheit: 29) (6.d) Wählen darf nur, wer ins Wählerverzeichnis eingetragen ist, und alle Eingetragenen müßten eine Wahlbenachrichtigung haben. […] Wer bis jetzt noch keine solche Benachrichtigung hat, sollte sich schnellstens mal erkundigen, ob er überhaupt im Wahlverzeichnis steht. (MMM/410.04297 Mannheimer Morgen, 13.10.1994)
Einen Problemfall bedeutet auch die Kombination ein jeder. Diese Kombination hat die Bedeutung ‘jeder einzelne’, wobei, stärker als bei jeder, betont wird, dass es tatsächlich um jeden einzelnen Vertreter einer Klasse geht. So wird diese Kombination oft in generischen Sätzen verwendet (7.d), sie kommt aber durchaus auch in partikulären Sätzen vor (8.d), in denen sie eher Definitheit signalisiert. (7.d) als Ehrenkodex eines jeden Übersetzers […] gilt: man übernehme nur Arbeiten, die man einwandfrei erledigen kann. (LIM/LI1.00409 Feidel, G.: Technische Texte richtig übersetzen)
151
Hier stellt sich die Frage nach der Funktion von solcher bzw. ilyen/olyan. Die Nominalphrasen mit Existenzquantoren sind indefinit, unabhängig davon, ob sie auch ein adjektivisches Demonstrativum enthalten. Der Unterschied zwischen mit Existenzquantoren eingeführten Nominalphrasen mit bzw. ohne Demonstrativa ist, dass die adjektivischen Demonstrativa den Referenten der Nominalphrase typemäßig als definit kennzeichnen, die Nominalphrase in toto bleibt aber indefinit.
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
124
(8.d) Diese für die Entwicklung eines jeden – auch des wirtschaftlichen – Bereiches der Gesellschaft entscheidende Frage wird bei quantitativen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen meistens vernachlässigt, […]. (LIM/LI1.00093 Z. für Nationalökonomie 31/1-2)
Was die Kombinationen dreier Determinative anbelangt, wären hier nach dem Definitheitsgrad der einzelnen Elemente acht Gruppen möglich, von denen im Deutschen eine einzige vertreten ist, nämlich die Kombination dreier definiter Determinative (bzw. von zwei definiten Determinativen und solcher). Aus diesem Grund sind auch die Kombinationen selbst als definit zu betrachten. Im Ungarischen ist die Frage nach der Art der Zusammensetzung der Determinativkombinationen nicht so eindeutig zu beantworten wie im Deutschen. Einerseits gibt es Kombinationen mit den adjektivischen Demonstrativpronomina ilyen/olyan als zweitem Glied. Diese adjektivischen Demonstrativpronomina weisen in syntaktischer Hinsicht mehr Gemeinsamkeiten mit Adjektiven als mit Determinativen auf. Daher ist auch ihre Einordnung in die Klasse der Determinative problematisch (vgl. Abschnitt 4.2). Sie können sowohl mit definiten (9.u) als auch mit indefiniten (10.u) Determinativen kombiniert werden. Im ersten Fall ist die Nominalphrase definit, im zweiten indefinit (vgl. Fußnote 149). Der Determinationsgrad wird also vom ersten Determinativ bestimmt. (9.u) [...] miközben természetesen
während
ami
minden olyan akciót
selbstverständlich jed-
a
elítélek,
solch- Geschehen.AKK verurteil.1SG
politikát
ilyen szintre
viszi
le. (MNSZ)
REL.PRON DEF.ART Politik.AKK solch- Niveau.SUB bring.3SG
‘während ich selbstverständlich jedes Geschehen verurteile, das die Politik auf ein so niedriges Niveau bringt.’
(10.u) Tökéletesen
megférne
a
katolikus
egyházban
vollkommen Platz-hab.KOND.3SG DEF.ART katholisch Kirche.INE egy olyan mozgalom, amely célja INDEF.ART solch- Bewegung REL.PRON Ziel.POSS3SG
a
felnőttek
PRT
is
auch
misszionálása, [...] (MNSZ)
DEF.ART Erwachsen.PL
Missionierung.POSS3SG
‘Auch in der katholischen Kirche würde es Platz für eine Bewegung geben, die sich die Missionierung von Erwachsenen zum Ziel gesetzt hat.’
Andererseits sind es die Possessivsuffixe, deren Einordnung als Determinative viele Probleme aufwirft (vgl. Abschnitt 3.3 und 4.4). Die Possessivsuffixe sind mit jedem definiten und indefiniten Determinativ sowie mit jeder Determinativkombination kombinierbar. Daher wird der Definitheitsgrad von den Determinativen – und nicht von den Possessiva – bestimmt. Die Bezeichnung der ungarischen Possessiva als definitheitsunspezifisch (vgl. Zifonun 2005: 73, sowie Abschnitt 4.4) erweist sich somit als gerechtfertigt.
Exkurs: Die Kombinierbarkeit der Determinative
125
6.3 Kombinierbarkeit und Wortartenzugehörigkeit Die Tatsache, dass sich die Determinative miteinander kombinieren lassen, wirft die Frage nach ihrer Wortartenzugehörigkeit auf. In den Abschnitten 3.2 sowie 3.3 wurden die Determinative von den anderen Wortarten abgegrenzt und die Vertreter dieser Wortklasse aufgelistet. Das bedeutet aber keinesfalls, dass die Determinative eine homogene Kategorie bilden würden. Wenn sich zwei (seltener drei) Determinative kombinieren lassen, taucht die Frage nach der Funktion des zweiten Determinativs auf; beide können die Funktion der Determination natürlich nicht zugleich ausüben. Bei der Kombination zweier definiter oder zweier indefiniter Determinative wäre ein Element – zumindest in funktionaler und sprachökonomischer Hinsicht – überflüssig, während die Kombination eines definiten und eines indefiniten Determinativs widersprüchliche Informationen liefern würde, da eine Nominalphrase nicht gleichzeitig definit und indefinit sein kann. Wie in Abschnitt 6.2 erwähnt, bestimmt bei einer Kombination eines definiten und eines indefiniten Determinativs das erste Glied den Determinationsgrad. Das heißt auch, dass die jeweiligen Zweitglieder nicht unbedingt die Funktion der Determination ausüben. Als Zweitglieder nach einem definiten Determinativ kommen einerseits viele/wenige bzw. sok/kevés, andererseits die adjektivischen Demonstrativa solcher bzw. ilyen/olyan vor. Die Wörter viele/wenige bzw. sok/kevés bleiben aus der Klasse der Determinative sowie aus den Untersuchungen in den Kapiteln 4 und 5 ausgeklammert und werden als Indefinitnumeralia betrachtet. Diese Einteilung erscheint auch deshalb gerechtfertigt, weil diese Elemente keinen Einfluss auf den Determinationsgrad der Nominalphrase ausüben. Aus dem gleichen Grund wäre zu erwägen, die adjektivischen Demonstrativa solcher bzw. ilyen/olyan nicht als Determinative zu betrachten (vgl. dazu auch Abschnitt 6.2). Das ließe sich auch morphologisch motivieren, da diese Elemente in den erwähnten Kombinationen (im Deutschen) wie Adjektive dekliniert werden. Im Fall von manch/welch/solch ein handelt es sich wohl weniger um syntaktische Kombinationen von Determinativen, als um zusammengesetzte Determinative, die Indefinitheit signalisieren. Ebenso lässt sich ein jeder als zusammengesetztes Determinativ und als Variante von jeder auffassen, wobei mit dem Zusatz von ein die Bedeutung ‘jeder einzelne’ und damit die Distributivität hervorgehoben wird. Abschließend sollen noch die Fälle untersucht werden, in denen zwei definite oder zwei indefinite Determinative kombiniert werden. Für die Kombinierbarkeit zweier indefiniter Determinative gibt es im Ungarischen keine Möglichkeit. Im Deutschen findet sich lediglich die Kombination einige wenige. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um eine Determinativkombination, da wenige aus den o.g. Gründen nicht zur Klasse der Determinative gehört. Was die Kombinierbarkeit zweier definiter Determinative betrifft, sind im Ungarischen die Möglichkeiten viel eingeschränkter als im Deutschen (vgl. auch die Tabellen 8 und 9, sowie Abschnitte 6.1 und 6.2). Es gibt lediglich zwei Kombinationsmöglichkeiten, deren Status als syntaktische Kombinationen allerdings fraglich ist: összes kommt näm-
126
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
lich nur in Kombination mit dem definiten Artikel vor, so wäre es auch hier zu erwägen, ein zusammengesetztes Determinativ anzusetzen. Die zweite Kombination zweier definiter Determinative ist die obligatorische Kombination der Demonstrativa ez/az mit dem definiten Artikel, die, wie in Abschnitt 4.2 erwähnt, sprachgeschichtlich zu erklären ist. Im Deutschen fällt auf, dass sich das Quantordeterminativ aller mit mehreren definiten Determinativen kombinieren lässt (vgl. Tab. 8). Bei den erwähnten Kombinationen tritt aller als Erstglied auf; als Zweitglied sind Demonstrativa, Possessiva und der definite Artikel möglich. Für diese Kombinationen ist eine Art von Subordinationsverhältnis charakteristisch (vgl. auch Helbig/Buscha 1991: 356): Eine Nominalphrase wie alle diese/meine Bücher könnte zum Beispiel salopp paraphrasiert werden mit ‘diese/meine Bücher, und zwar alle’. Das bedeutet, dass in diesen Fällen zuerst determiniert, dann quantifiziert wird – ohne dass es so morphosyntaktisch ausgedrückt wäre.152 Zu bemerken ist, dass die anderen Allquantoren diese Eigenschaft nicht aufweisen: jeder lässt sich mit keinem anderen Determinativ kombinieren, sämtlicher nur mit Possessiva, in diesen Fällen steht es aber als Zweitglied und hat – morphologisch – einen adjektivähnlichen Charakter. Das gleiche Subordinationsverhältnis lässt sich auch bei der Kombination von Demonstrativa und Possessiva, sowie bei der dreifachen Kombination von aller mit Demonstrativa und Possessiva beobachten. Es stellt sich somit die Frage, ob es nicht doch berechtigt wäre, die Quantoren aus der Wortklasse der Determinative auszugrenzen und sie z.B. den Numeralien zuzuordnen. Wie in den Abschnitten 3.2, 3.3 sowie in Kapitel 4 erwähnt, üben die Quantoren nicht nur eine quantifizierende, sondern auch eine determinierende Funktion aus. Aus diesem Grund wurden sie in der vorliegenden Arbeit zu den Determinativen gerechnet. Die Numeralien hingegen weisen zwar eine quantifizierende, aber keine determinierende Funktion auf.153 Des Weiteren unterscheiden sich die Quantoren auch syntaktisch von den Numeralien. Die Quantoren, die sich mit anderen Determinativen kombinieren lassen, stehen vor dem jeweiligen Determinativ, Numeralien hingegen zwischen Determinativ und Substantiv: (1a) alle diese Bücher (1b) diese drei Bücher
Als ein Argument für die Ausklammerung der Quantoren aus der Wortklasse der Determinative wird häufig (vgl. Vater 1996) ihre Kombinierbarkeit angeführt. Dieses Argument ist insofern unzureichend, als sich bestimmte Quantoren auch mit Numeralien (Kardinalzahlen oder Ordinalzahlen) kombinieren lassen, und zwar in der Reihenfolge Quantor – Numerale, d.h. in der gleichen Reihenfolge wie Artikel und Numerale: (2a) alle drei Bücher 152
Bei den anderen Allquantoren sollte das zweite Determinativ (und damit auch das Substantiv) im Genitiv stehen: jedes meiner Bücher, was hier nicht als Determinativkombination betrachtet wird (vgl. auch Abschnitt 6.1). 153 Vgl. aber Harweg (1973), wo bestimmte Kardinalzahlen als Artikel betrachtet werden.
Exkurs: Die Kombinierbarkeit der Determinative
127
(2b) jedes dritte Buch
Bemerkenswert ist jedoch, dass selbst die Allquantoren untereinander unterschiedliches syntaktisches Verhalten aufweisen: Wie aus der Tabelle 8 hervorgeht, lässt jeder keine Kombination zu. Ferner konnte bei der Analyse in Abschnitt 4.5 festgestellt werden, dass von den drei untersuchten Allquantoren das deutsche sämtlicher nicht floatbar ist. Dieses Determinativ unterscheidet sich von dem weitgehend gleichbedeutenden aller auch dadurch, dass es sich nur mit Possessiva kombinieren lässt, wobei es sich wie ein Adjektiv verhält.154 Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Annahme, nach der die Determinative keine homogene Wortklasse bilden, anhand der vorliegenden Analyse bestätigt werden kann. Den Kernbereich bilden der definite, der indefinite und der Nullartikel, die lediglich Definitheit/Indefinitheit kennzeichnen. Syntaktisch gesehen, lassen sie (als Erstglied) keine Kombinationen mit anderen Determinativen zu. Dieser Kernbereich kann erweitert werden um die Demonstrativa und (im Deutschen) die Possessiva, die außer der Kennzeichnung von Definitheit auch andere Bedeutungskomponenten tragen und (im Deutschen) untereinander kombinerbar sind. Einen Randbereich bilden schließlich die Quantoren, die nicht nur determinieren, sondern auch quantifizieren, somit auch bestimmte semantische Eigenschaften mit den Numeralien teilen, von denen sie sich aber – zumindest zum Teil – syntaktisch unterscheiden. Die adjektivischen Demonstrativa solcher/derartiger bzw. ilyen/olyan sollten jedoch nicht der Klasse der Determinative zugeordnet werden, da sie sich in erster Linie – sowohl morphologisch als auch syntaktisch – wie Adjektive verhalten und sowohl mit definiten als auch mit indefiniten Determinativen kombinierbar sind. Ferner sollte im Ungarischen auch das Possessivsuffix nicht als Determinativ betrachtet werden, da es – wie schon erwähnt (Abschnitt 4.4 und 6.1 sowie Zifonun 2005) – definitheitsunspezifisch ist.
154
Aus diesem Grund wird bei Helbig/Buscha (1991: 358) sämtlicher aus der Klasse der Determinative ausgesondert.
7. Generizität
Die vorliegende Arbeit versteht sich zwar in erster Linie als eine Analyse des Gebrauchs der Determinative im Deutschen und im Ungarischen, in diesem letzten Kapitel zur generischen Verwendung ist es aber unumgänglich, einen kurzen theoretischen Überblick zum Thema Generizität zu geben. Generizität ist nämlich hauptsächlich eine semantischpragmatische Eigenschaft von Nominalphrasen und Sätzen, auch wenn sie mit Syntax und Morphologie in Zusammenhang steht.155 Zuallererst muss die Frage geklärt werden, was Generizität überhaupt ist. Wollte man etymologisierend verfahren, würde man zu dem Ergebnis kommen, dass der Terminus Generizität von dem lateinischen Wort genus abgeleitet ist, das ‘Gattung’, ‘Art’ bedeutet. Demnach wären diejenigen Nominalphrasen generisch, die eine Gattung als solche bezeichnen, zu untersuchen bliebe nur, welche Art von Nominalphrasen (definite, indefinite, singularische, pluralische) das sein können. Die Situation ist aber bei weitem nicht so einfach. In der einschlägigen Literatur werden – oft nicht explizit – zwei unterschiedliche Phänomene zur Generizität gerechnet: Erstens die Artenreferenz („kind reference“), wobei die Nominalphrasen tatsächlich eine Gattung bezeichnen: (1)
Der Delfin ist ein Säugetier.
Die Prädikate in diesen Sätzen werden als Artenprädikate betrachtet; die Nominalphrasen werden generische Nominalphrasen genannt. Den zweiten zur Generizität gehörenden Bereich machen die generischen Sätze („characterizing sentences“) aus, die eine allgemeine Eigenschaft ausdrücken. In diesem Fall müssen die Nominalphrasen selbst nicht generisch sein: (2)
Abends sieht sich Hans einen Film an.
Es ist offensichtlich, dass die beiden Typen gemeinsame Eigenschaften haben. Trotzdem ist es wichtig, die zwei Typen generischer Beschreibungen auseinanderzuhalten, da es zwischen ihnen sprachliche Unterschiede gibt (s. Abschnitte 7.2, 7.3). Hier stellt sich die Frage, ob und wie Generizität formal markiert wird. Dabei hat sich herausgestellt, dass es in keiner bekannten Sprache eine obligatorische Generizitätsmarkierung gibt. Es gibt zwar Sprachen, in denen Generizität markiert werden kann, diese 155
Vgl. Carlson/Pelletier (Hgg.) (1995), sowie Barwise/Cooper (1981), Blühdorn (2001), Cohen (2002), Geurts (1985), Heyer (1987, 1990), Mumm (1995).
Generizität
129
Markierung ist aber nicht obligatorisch, wie z.B. im Swahili, in dem ein Suffix am Verb eine generische Lesart impliziert, generische Sätze aber auch ohne dieses Suffix formuliert werden können. In einigen deutschen Dialekten (z.B. im Bairischen) gibt es zwei Arten des definiten Artikels, von denen die eine rein anaphorisch, die andere aber nichtanaphorisch ist, so kann letztere auch in generischen Nominalphrasen verwendet werden (vgl. Krifka et al. 1995: 69).156 Aus dem Gesagten ergibt sich eine weitere Frage: Wenn weder generische Nominalphrasen noch generische Sätze eine „besondere“ sprachliche Form aufweisen, wie kann man sie von partikulären Nominalphrasen bzw. Sätzen unterscheiden? Auch dafür lassen sich keine Regeln aufstellen. Es werden verschiedene Tests vorgeschlagen, mit deren Hilfe man generische Nominalphrasen von partikulären Nominalphrasen bzw. generische Sätze von partikulären Sätzen unterscheiden kann. Diese Tests sind leider nicht immer zuverlässig und/oder arbeiten mit Begriffen, die ihrerseits nur schwer definierbar sind. Zum Beispiel: Generische Sätze bezeichnen essentielle Eigenschaften („essential properties“); so ist im Englischen der Satz *A madrigal is popular. nicht korrekt oder mindestens fragwürdig in der generischen Lesart. Es kann aber nicht definiert werden, was eine essentielle Eigenschaft ist.157 Ein weiteres Problem besteht darin, dass sowohl partikuläre Nominalphrasen in generischen Sätzen (3) als auch generische Nominalphrasen in partikulären Sätzen (4) vorkommen können: (3)
Ein Mann weint nicht.
(4)
Nur die Doofen kaufen im Winterschlußverkauf. (M91TG/101.29248 Mannheimer Morgen, 10.1.1991)
Auch die Frage nach der Semantik der generischen Nominalphrasen und Sätze hat in der Forschung viele Probleme aufgeworfen, für die bis heute keine zufriedenstellenden Lösungen gefunden werden konnten. So wird von vielen Semantikern die Auffassung vertreten, dass bei den generischen Sätzen die Generizität durch einen Operator der Verbalphrase zugeordnet wird. Will man aber die Funktion und die Bedeutung dieses Operators beschreiben, stößt man wiederum auf Schwierigkeiten. Im Folgenden werden die wichtigsten Ansätze kurz dargestellt. Eine Möglichkeit wäre, generische Sätze als allquantifizierte Sätze aufzufassen. Diese Auffassung erweist sich aus zwei Gründen als unhaltbar. Einerseits lassen generische Sätze – im Gegensatz zur Allquantifizierung – auch Ausnahmen zu (vgl. (2)). Andererseits aber sind nicht alle allquantifizierenden Sätze generisch (vgl. die Beispiele in Abschnitt 4.5). Was unsere beiden Vergleichssprachen anbelangt, wird Generizität in den gängisten Grammatiken des Deutschen meistens – explizit oder implizit – mit Allquantifikation gleichgesetzt. Es wird noch erwähnt, dass mit generischen Ausdrücken ganze Klassen bezeichnet werden (vgl. Duden 1984: 215; Helbig/Buscha 1991: 372). Das gilt auch für 156 157
Ähnlich auch in der Mundart von Amern, vgl. Admoni (1982: 128). Vgl. auch Burton-Roberts (1977). In dem Artikel wird versucht, die Inakzeptabilität dieses Satzes in einer generischen Lesart unter Rekurs auf syntaktische Strukturen zu erklären.
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
130
spezielle Untersuchungen, die die Substantivdetermination zum Thema haben. HansJürgen Grimm gibt beispielsweise die folgende Charakterisierung von Generizität an: Generalisierungen sind „allgemeine Äußerungen, die sich jeweils auf alle denkbaren Gegenstände mit gleichen grundlegenden Eigenschaften beziehen. Universalquantifikation und Allgemeinheit sind Eigenschaften der betreffenden Äußerungen“ (Grimm 1986: 73, Hervorhebung im Original). Diese Definition weist verschiedene Schwachstellen auf: Einerseits kann – wie wir weiter unten sehen werden – Generizität nicht mit Allquantifikation gleichgesetzt werden, nicht jede generische Nominalphrase ist nämlich universal quantifiziert. Ein zweites Problem besteht darin, dass die Begriffe „gleiche grundlegende Eigenschaften“ beziehungsweise „Allgemeinheit“ auch nicht scharf abzugrenzen sind. Generizität wird mit Allquantifikation auch von Autoren gleichgesetzt, die eher eine semantische Beschreibung dieses Bereichs anstreben. Auch Oomen analysiert in ihrer Monographie generische Nominalphrasen als allquantifizierende Ausdrücke:
Den sprachlichen Ausdruck für ein Argument mit Universalquantifikation nennt man generische Bezeichnung. Generisch sind nur diejenigen Ausdrücke, die alle von den Prädikatoren im Argument beschriebenen Gegenstände erfassen, ohne daß eine zahlenmäßige oder kontextabhängige Begrenzung auf eine Teilmenge vorgenommen wird. (Oomen 1977: 11)
Das ist umso überraschender, als sie später bei der Beschreibung der Determinative, die in generischen Nominalphrasen vorkommen können, auch das Merkmal [±ausnahmslos] verwendet, wobei sich herausstellt, dass es durchaus Determinative gibt, die in generischen Nominalphrasen das Merkmal [–ausnahmslos] haben oder in dieser Hinsicht unmarkiert sind.158 Was das Ungarische anbelangt, wird Generizität in den älteren Grammatiken überhaupt nicht behandelt. Die einzige mir bekannte Grammatik des Ungarischen, die Generizität explizit behandelt, setzt diese mit der Allquantifikation gleich, wie aus einer Fußnote hervorgeht: „generikus: Az adott kategóriára (csoportra, fajra stb.) általánosan jellemző, minden egyedére érvényes“159 (Keszler (Hg.) 2000: 283). Später werden aber unter anderem auch Beispiele gegeben, die Ausnahmen durchaus zulassen, z.B. Fiú nála jó jegyet nem kaphat (‘Jungen können bei ihm keine guten Noten bekommen’). Andere Auffassungen, nach denen generische Sätze Prototypen oder Stereotypen ausdrücken, könnten solchen Ausnahmen Rechnung tragen. Der Satz (5)
Vögel können fliegen.
kann also zum Beispiel interpretiert werden als: „prototypische Vertreter der Gattung Vogel können fliegen“. Dass es auch nichtprototypische Vertreter dieser Gattung gibt, die nicht fliegen können (z.B. der Pinguin), ist bei diesem Ansatz zugelassen. Andere Sätze hingegen können auch mit diesem Ansatz nicht erklärt werden: (6) 158 159
Vögel legen Eier.
Auch Chur setzt Generizität mit Allquantifikation gleich (Chur 1993: 24). Generisch: für die gegebene Kategorie (Gruppe, Gattung usw.) allgemein charakteristisch, gültig für jeden ihrer Vertreter. (Übersetzung von mir.)
Generizität
131
Dieser Satz kann nicht paraphrasiert werden mit „prototypische Vertreter der Gattung Vogel legen Eier“, da sich der Satz nur auf weibliche Vögel (aber nicht auf alle) bezieht. (Oder sind männliche Vögel nicht prototypisch?) Der letzte Ansatz, den ich hier noch kurz erwähnen möchte, ist die Beschreibung der Generizität als nicht-monotones Schließen/Default-Regeln. Diese Regeln lassen Ausnahmen zu, ohne dass sich dabei der Wahrheitswert der Aussage ändert. Sie funktionieren in etwa folgendermaßen: Wenn wir einen Satz wie (7)
Vögel haben Federn.
hören, dann können wir folgern: „Wenn etwas ein Vogel ist, hat es Federn.“ Wenn wir aber von einer Vogelart hören, deren Vertreter keine Federn haben, müssen wir die obige Aussage noch nicht unbedingt als falsch beurteilen. Zuletzt soll noch der Frage nachgegangen werden, ob und inwieweit sich generische von partikulären Nominalphrasen semantisch unterscheiden. Der größte Unterschied wäre nach einigen Auffassungen, dass generische Nominalphrasen – im Gegensatz zu partikulären – nicht referieren, sondern „nur“ quantifizieren: (8)
Der Tiger ist gefährlich = Alle Tiger sind gefährlich.
Abgesehen davon, dass es theoretisch Tiger geben kann, die geradezu freundlich sind, ist diese Auffassung angesichts der Existenz von Artenprädikaten nicht haltbar: (9)
Das Mammut ist ausgestorben. =?Alle Mammuts sind ausgestorben.
Eine weitere Möglichkeit wäre, die auch für mich teilweise haltbar zu sein scheint, dass die generischen Nominalphrasen nicht die Extension, sondern die Intension eines Substantivs bezeichnen. Dadurch kann beispielsweise erklärt werden, dass wir zwischen Dinosaurier und Tyrannosaurier unterscheiden können, obwohl sie in der heutigen realen Welt die gleiche Extension (eine leere Menge) haben. Problematisch ist hierbei die Definition des Begriffs „Intension“. Es soll noch auf die Subklassifizierung der generischen Ausdrücke eingegangen werden. Da in der mir bekannten Literatur über das Ungarische keine Subklassifizierung vorgenommen wird, werde ich mich hier nur mit der deutschen Sprache beschäftigen. Eine explizite Subkategorisierung ist nur in den wenigsten Arbeiten vorhanden, implizite Subkategorisierungen beziehungsweise Erklärungen von Bedeutungsunterschieden sind viel häufiger anzutreffen. Hier wird nur auf die expliziten Gruppierungen kurz eingegangen. Grimm (1986) unterscheidet vier Subtypen generischer Ausdrücke, die er „effektivdistributiv“, „typisierend“, „exemplarisch“ und „klassifizierend“ nennt (ebd.: 77). Diese Termini werden aber leider nicht näher erklärt; was sie genau bedeuten, lässt sich nur anhand der angeführten Beispiele erschließen. Demnach wäre wohl der Typ der effektivdistributiven Generizität mit dem der Artenreferenz (bei Artenprädikaten) gleichzusetzen:
132
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
(10.d) Das/Ein Kaninchen ist ein Nagetier.160
Bei der typisierenden Generalisierung steht eine – im Sinne der oben beschriebenen Theorie – generische Nominalphrase (mit definitem Artikel) stellvertretend für die ganze Gattung: (11.d) Der Mensch hat Werkzeuge erfunden.
Einen exemplarischen Charakter hat zum Beispiel der Satz: (12.d) Das weiß ja schon ein kleines Kind.
Dieser könnte bedeuten, dass die angegebene Eigenschaft tendenziell auf die Vertreter der genannten Gattung zutrifft. Wenn wir zufällig einen oder mehrere Vertreter auswählen, werden sie mit großer Wahrscheinlichkeit auch die genannte Eigenschaft aufweisen. Das könnte damit ein Typ sein, der auch Ausnahmen erlaubt – wenn das auch nicht expliziert wird. Klassifizierend sind schließlich diejenigen indefiniten singularischen oder pluralischen Nominalphrasen, die die Zuordnung zu einer Gattung in der Funktion von Prädikativen ausdrücken: (13.d) Das Kaninchen ist ein Nagetier.
Eine zweite Subklassifizierung ist in der Duden-Grammatik zu lesen, und zwar zuerst in der Ausgabe von 1995. Dort werden auch vier Typen der Generalisierung unterschieden: die extensionale, die intensionale, die exemplarische und die charakterisierende (Duden 1995: 312f.). Hier werden die entsprechenden Begriffe aber auch erklärt. Die extensionale Generalisierung scheint dem effektiv-distributiven Typ von Grimm zu entsprechen, mit dem Unterschied, dass hier die Nominalphrasen mit indefinitem Artikel bzw. mit Nullartikel im Plural zu der exemplarischen Generalisierung gerechnet werden. Bei der extensionalen Generalisierung wird „zwar der Begriff als solcher gemeint“, „zugleich aber auch die Menge der von diesem Begriff erfaßten Elemente“ (ebd.: 313). Somit wird dieser Typ der Generalisierung mit der Allquantifizierung gleichgesetzt: „Als Probe zur Identifizierung dieses Typs kann der Ersatz mit ‘alle’ und ‘jeder’ dienen“ (ebd.: 312). Diese Auffassung ist nicht nur aus dem Grund problematisch, dass sie keine Ausnahmen zulässt, sondern auch deshalb, weil diese Feststellung auf Artenprädikate wie ist ausgestorben oder ist verbreitet nicht zutrifft. Der Satz (14.d) Alle Saurier sind ausgestorben.
ist nur marginal in einer taxonomischen Lesart möglich, der Satz (15.d) Jeder Saurier ist ausgestorben.
wird hingegen meistens als inakzeptabel empfunden (vgl. Zifonun/Hoffmann/Strecker 1997: 2057f.). Die Artenprädikate sind nämlich nicht-distributiv. 160
Beispiele von Grimm (1986: 77). Bei der effektiv-distributiven Generizität werden auch die Bedeutungsunterschiede zwischen den Determinativen beschrieben, die hier – laut Grimm – verwendet werden können (ebd.: 78f.).
Generizität
133
Die intensionale Generalisierung, bei der das Substantiv intensional interpretiert wird, „d.h. es ist nur der Begriff als solcher mit seinen inhaltlichen Festlegungen gemeint, nicht aber die von diesem Begriff erfaßte Menge der Elemente“ (Duden 1995: 313), kann mit der typisierenden Generalisierung von Grimm gleichgesetzt werden. Die beiden anderen Typen sind nicht nur inhaltlich identisch, sie bekommen sowohl bei Grimm als auch in der Duden-Grammatik die gleiche Bezeichnung: exemplarisch, klassifizierend.161 Es gibt aber auch Versuche, Generizität als ein einheitliches Phänomen zu beschreiben. Eine solche Beschreibung findet sich in der IDS-Grammatik (Zifonun/Hoffmann/ Strecker 1997). Hier wird allgemein über generische Sätze bzw. über Sätze in generischer Lesart geschrieben, „da solche Sätze zumindest in geschriebener Sprache auch nicht generische Lesarten haben“ (können) (ebd.: 2055). In einer Typologie werden „Gattungsprädikation“: (16.d) Der Löwe ist eine Raubkatze. (17.d) Das Mammut ist ausgestorben.
„abgeleitete Gattungsprädikation“: (18.d) Ein Löwe hat eine Mähne.
sowie „gesetzartige Aussagen“: (19.d) Der Läufer zieht diagonal.
zu den generischen Sätzen gezählt, detaillierter behandelt werden aber nur die ersten zwei Typen (Zifonun/Hoffmann/Strecker 1997: 2056ff.). Generische Sätze werden hier als abgeschwächte Versionen von Allaussagen verstanden. Beschrieben wird ihre Semantik durch Default-Regeln, die hier „abgeschwächtes Konditional“ genannt werden. Dieses abgeschwächte Konditional wird folgendermaßen interpretiert: wenn a, dann b, „falls dem nicht ausdrücklich Informationen aus dem Redehintergrund entgegenstehen“ (ebd.: 2059). Auch die Nominalphrasen in ihrer generischen Interpretation werden als abgeschwächte Allaussagen beschrieben, und zwar jeder Typ: Nominalphrasen mit definitem Artikel im Singular und im Plural, Nominalphrasen mit indefinitem Artikel bzw. Nominalphrasen ohne Artikel im Plural und Stoffnamen ohne Artikel im Singular. Ausgegangen wird von der Feststellung: „Die generische Interpretation von Sätzen hängt wesentlich ab von der Interpretation der in ihnen stehenden Nominalphrasen“ (ebd.: 2059). Bei Gattungsprädikaten (z.B. aussterben), gerade weil sie Gattungsprädikate und nicht-distributiv sind, stelle sich das Problem einer Interpretation als abgeschwächter Allsatz nicht (ebd.: 2058).
161
In den letzten beiden Auflagen der Duden-Grammatik (2005, 2009) werden nur drei Typen der Generalisierung erwähnt: extensional, intensional, exemplarisch (vgl. Duden 2005: 303ff., 2009: 295ff.).
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Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
7.1 Erscheinungsformen der Generizität Zu klären ist auch die Frage, welche Typen von Nominalphrasen generisch sind, also auch eine generische Lesart haben können, beziehungsweise welche Typen von Nominalphrasen in generischen Sätzen vorkommen können.162 Zuerst wenden wir uns den Formen generischer Ausdrücke im Deutschen zu. Die folgende Beschreibung basiert im Wesentlichen auf der Arbeit von Gerstner-Link (1995: 79ff.).163 Gerstner-Link unterscheidet in ihrer Arbeit zwischen generischen Nominalphrasen und generischen Sätzen nicht, weshalb sie im Folgenden gemeinsam behandelt werden. Da diese Unterscheidung für die vorliegende Arbeit jedoch durchaus wichtig ist, wird sie anschließend (Abschnitte 7.2, 7.3) wieder aufgenommen. Wie in anderen Sprachen, gibt es auch im Deutschen kein morphologisch-syntaktisches Element, das ausschließlich Generizität kodieren würde. Generische Ausdrücke (i.e. generische Nominalphrasen der Sätze) können demnach verschiedene Formen haben: (1.d.a) Die Silbermöwe besitzt auch spezielle Lernfähigkeiten.164 (1.d.b) Der Hund bellt. (2.d.a) Die Silbermöwen leben stets in Schwärmen zusammen. (2.d.b) Die Hunde bellen. (3.d.a) Ein Löwe hat eine Mähne. (3.d.b) Ein Hund bellt. (4.d.a) Ø Wale sind Säugetiere. (4.d.b) Ø Hunde bellen. (5.d) Ø Reis ist nahrhaft und bekömmlich.
Generische Ausdrücke können somit definit-singularische, definit-pluralische, indefinitsingularische, indefinit-pluralische (ohne Artikel) und artikellose singularische (Kontinuativa) Nominalphrasen enthalten. Das zeigt, dass die Generizität keine inhärente Eigen162
Hier soll auf die zwei kontroversen Auffassungen über die generischen Nominalphrasen beziehungsweise über die Nominalphrasen in generischen Sätzen hingewiesen werden. Die erste behauptet, auch im Falle von Generizität bleibe der Unterschied definit – indefinit bei den Nominalphrasen erhalten (vgl. Eisenberg 2004: 147, s. auch Burton-Roberts 1976; Platteau 1980); nach der zweiten Auffassung – die auch in der vorliegenden Arbeit vertreten wird – ist diese Unterscheidung bei Generizität aufgehoben, die Bezeichnungen definite/indefinite Nominalphrasen weisen nur auf den Artikel hin, den die Nominalphrase enthält. 163 Diese Wahl wird dadurch begründet, dass das Buch von Gerstner-Link m.W. das einzige ist, in dem die Erscheinungsformen von Generizität nach mehreren Aspekten untersucht werden. In den oben zitierten Arbeiten wird diesen Aspekten nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet, für die spätere vergleichende Analyse (s. Abschnitte 7.2, 7.3, 7.4) sind sie aber von zentraler Bedeutung. Weitere, oben nicht zitierte Arbeiten untersuchen die Generizität aus einer völlig unterschiedlichen Perspektive. So z.B. Harweg (1969), der bei unterschiedlichen Typen von Substantiven zu zeigen versucht, inwieweit der definite und der indefinite Artikel in der generischen Lesart austauschbar sind. 164 Beispiele von Gerstner-Link (1995: 79).
Generizität
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schaft, sondern nur eine Lesart von Nominalphrasen oder Sätzen ist. Daraus ergibt sich die Frage, ob diese Konstruktionstypen gleichberechtigt sind oder es einen präferierten Typ gibt bzw. ob diese Typen füreinander einsetzbar sind. Sollte es Restriktionen geben, sind diese wahrscheinlich nicht an die Nominalphrase selbst gebunden, da – wie wir gesehen haben – in generischen Ausdrücken alle Typen vorkommen können. Das heißt, dass die sprachliche Umgebung daraufhin untersucht werden muss, ob sie für bestimmte Restriktionen hinsichtlich der Konstruktion verantwortlich ist. Gerstner-Link hat vier Faktoren überprüft, die für Restriktionen bei Nominalphrasen in generischen Ausdrücken verantwortlich sein können. Von diesen möchte ich hier drei genauer beschreiben, während der vierte, der auch bei Gerstner-Link am wenigsten ausgearbeitet ist, nur am Rande erwähnt wird. Daher werden (i) die Prädikatstypen, (ii) die Aussagentypen, (iii) die TopikKommentar-Gliederung und (iv) die Typen wortsemantischer Bedeutungskomponenten der Nominalphrasen auf grammatische Restriktionen hin überprüft. Was den ersten Faktor, die Prädikatstypen, anbelangt, ist zwischen Artenprädikaten und kollektiven Prädikaten zu unterscheiden. Artenprädikate wie aussterben, verbreitet sein u.ä. können nur auf Arten angewendet werden. Nominalphrasen, die mit solchen Prädikaten kombinieren, sind daher auf eine generische Lesart festgelegt. Auf diese Weise können Artenprädikate zur Desambiguierung dienen. Artenprädikate kombinieren nicht mit allen Typen von Nominalphrasen: (6.d.a) (6.d.b) (6.d.c) (6.d.d)
Der Dodo ist ausgestorben.165 Die Dodos sind ausgestorben. *Ein Dodo ist ausgestorben. ? Ø Dodos sind ausgestorben.
(7.d.a) Der Naturreis ist nahrhaft.166 (7.d.b) Ø Naturreis ist nahrhaft.
Auch hier muss zwischen Individuativa und Kontinuativa unterschieden werden. Individuativa sind mit Artenprädikaten nur mit definitem Artikel – im Singular wie im Plural – möglich. Der artikellose Plural ist in einigen Kontexten möglich, in anderen klingt er in einer generischen Lesart mindestens merkwürdig. Der indefinite Artikel hingegen ist in solchen Kontexten ausgeschlossen.167 Bei Kontinuativa sind sowohl der definite Artikel als auch der Nullartikel ohne Weiteres zulässig. Im Gegensatz zu dem obigen Beispiel (6.d.c) kann in bestimmten Kontexten auch der indefinite Artikel in einer generisch zu lesenden Nominalphrase vorkommen. In diesem Fall impliziert aber der indefinite Artikel eine taxonomische Lesart, es geht also um Subgattungen/Unterarten. Demnach bedeutet die indefinite Nominalphrase in einem Satz wie 165
Beispielsätze von mir. Beispiele von Gerstner-Link (1995: 101). 167 In diesem Kapitel bezeichnen * bzw. ? nicht unbedingt grammatisch nicht korrekte oder fragwürdige Sätze, sie verweisen nur darauf, dass die Sätze in einer generischen Lesart nicht akzeptabel bzw. fragwürdig sind. 166
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Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
(8.d) Ein Wal ist vom Aussterben bedroht.
dass eine bestimmte Walart gemeint ist, auf die das Prädikat zutrifft. Diese Verwendung des indefiniten Artikels ist sogar bei Kontinuativa möglich: (9.d) Ein Reis gedeiht sogar in der gemäßigten Zone.
In diesem Fall geht es um eine bestimmte Reissorte. Auch Demonstrativa können eine taxonomische Lesart induzieren, wichtig ist aber, dass sie auch in dieser Verwendung nur anaphorisch oder deiktisch gebraucht werden können: (10.d) Dieser Wal ist vom Aussterben bedroht. (11.d) Dieser Reis gedeiht sogar in der gemäßigten Zone.
Schließlich verweist Gerstner-Link darauf, dass sogar definite Nominalphrasen eine taxonomische Lesart haben können, vor allem wenn sie als Prädikative (mit restriktiven Relativsätzen) verwendet werden (Gerstner-Link 1995: 87): (12.d) Der Tiger ist die große gestreifte Raubkatze, die man in Indien findet.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bei Artenprädikaten die Nominalphrase, die als Subjekt oder Akkusativobjekt von diesem Prädikat gefordert wird, im Deutschen tendenziell definit (singularisch) ist. Betrachten wir nun die kollektiven Prädikate. Diese können nicht nur auf Arten angewendet werden: Sie sind „in einigen Kontexten auf Individuen hinabprojizierbar“ (Gerstner-Link 1995: 84). Häufig wird aber die Artenlesart bevorzugt, oder ein Substantiv wird gewählt, das das Merkmal [+kollektiv] besitzt, z.B. das Volk (ebd.: 84f.). (13.d.a) Am Ende der Trockenzeit sammelt sich die Antilope an Wasserlöchern.168 (13.d.b) Am Ende der Trockenzeit sammeln sich die Antilopen an Wasserlöchern. (13.d.c) *Am Ende der Trockenzeit sammelt sich eine Antilope an Wasserlöchern. (13.d.d) Am Ende der Trockenzeit sammeln sich Ø Antilopen an Wasserlöchern. (14.d.a) Ø Wasser sammelt sich gerne in Felsspalten. (14.d.b) Das Wasser sammelt sich gerne in Felsspalten.
Der indefinite Artikel ist auch bei kollektiven Prädikaten ausgeschlossen bzw. nur marginal möglich: (15.d.a) Das Zebra lebt in Herden. (15.d.b) Ein Zebra lebt in Herden.
Somit ist auch bei kollektiven Prädikaten eine Tendenz zum Gebrauch des definiten Artikels zu beobachten. Den zweiten zu untersuchenden Faktor stellt der Aussagentyp dar. Generische Nominalphrasen können nämlich auch in Sätzen vorkommen, die keine Artenprädikate, son168
Die Beispiele (13.d-23.d) stammen von Gerstner-Link (1995).
Generizität
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dern ein singuläres – oder anders partikuläres – Prädikat aufweisen. Diese Prädikate bezeichnen partikuläre Ereignisse: (16.d) Die Walfangsstaaten sind dabei, die Wale auszurotten.
Hier ergibt sich die Frage, welche Rolle die Partikularität einer Aussage im Bezug auf die Form der generisch zu lesenden Nominalphrase spielt. Um diese Frage zu beantworten, kann man die Nominalphrase mit einem Prädikat kombinieren, das ausschließlich partikulär interpretiert werden kann, wie z.B. erreichen: (17.d.a) 1770 erreichte die Ratte Australien. (17.d.b) 1770 erreichten die Ratten Australien. (17.d.c) *1770 erreichte eine Ratte Australien. (17.d.d) ?1770 erreichten Ø Ratten Australien.
Auch hier ist eine Nominalphrase mit dem indefiniten Artikel nicht gut möglich, wenn auch eine taxonomische Lesart nicht ausgeschlossen ist. Es wurde verschiedentlich vorgeschlagen (Gerstner-Link/Krifka 1993; Krifka et al. 1995), zusätzlich zu den Prädikatstypen auch spezielle Teilbedeutungskomponenten der generischen Nominalphrasen selbst für Restriktionen verantwortlich zu machen. Von Gerstner-Link werden nur zwei solche Lesarten, die so genannte Avantgarde-Lesart und die Repräsentanten-Lesart erwähnt. Auf diese beziehungsweise die weiteren Lesarten generischer Nominalphrasen und die damit verbundenen möglichen Einschränkungen wird weiter unten bei dem Sprachvergleich (Abschnitt 7.2) näher eingegangen. Aus dem Gesagten folgt, dass nicht nur die Artenprädikate Restriktionen induzieren, sondern Einschränkungen auch vorliegen, wenn die generische Nominalphrase in einer partikulären Aussage steht. So kommt Gerstner-Link zu dem Schluss, dass
das oberste Maß für die Zulässigkeit bestimmter Konstruktionstypen für generisch zu lesende Nominalausdrücke der Aussagentyp ist, in dem der jeweilige Nominalausdruck vorkommt. Generelle Aussagen induzieren keine Restriktionen, singuläre Aussagen tun gerade dies, indem die indefinite Konstruktion, speziell der indefinite Singular, die generische Lesart aufhebt. (Gerstner-Link 1995: 92, Hervorhebung im Original)
Als ein weiterer Faktor, der für Restriktionen hinsichtlich der Nominalphrasentypen in generischen Ausdrücken verantwortlich sein kann, wurde von Gerstner-Link die TopikKommentar-Gliederung untersucht (ebd.: 93ff.). In den Beispielsätzen wird diese Gliederung durch die Wortstellung gekennzeichnet. Hier werden singuläre (partikuläre) und generelle Sätze getrennt untersucht. Für beide Typen gilt, dass in Topikposition mehr Möglichkeiten für die Nominalphrasenkonstruktion gegeben sind. Bei partikulären Sätzen können in Topikposition definit-singularische, definit-pluralische Nominalphrasen sowie Nominalphrasen mit Nullartikel im Plural eine generische Lesart haben, eine indefinit singularische Nominalphrase ist ausgeschlossen: (18.d.a) Das Aquädukt erfanden die Römer. (18.d.b) Die Aquädukte erfanden die Römer.
138
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
(18.d.c) *Ein Aquädukt erfanden die Römer. (18.d.d) Ø Aquädukte erfanden die Römer.
Steht die generisch zu lesende Nominalphrase im Kommentar, sind nur definite Nominalphrasen möglich, sowohl im Singular als auch im Plural: (19.d.a) Die Römer erfanden das Aquädukt. (19.d.b) Die Römer erfanden die Aquädukte. (19.d.c) *Die Römer erfanden ein Aquädukt. (19.d.d) */?Die Römer erfanden Ø Aquädukte.169
Bei den generischen Sätzen haben wir für das Topik keine Einschränkungen: (20.d.a) Der Grizzly lebt in Nordamerika. (20.d.b) Die Grizzlies leben in Nordamerika. (20.d.c) Ein Grizzly lebt in Nordamerika. (20.d.d) Ø Grizzlies leben in Nordamerika.
Für den Kommentar gibt es auch bei diesen Sätzen ähnliche Restriktionen wie bei den partikulären Sätzen; eine indefinit-singularische Nominalphrase ist auch hier ausgeschlossen, eine indefinit-pluralische (mit Nullartikel) nur beschränkt möglich. (21.d.a) In Nordamerika lebt der Grizzly. (21.d.b) In Nordamerika leben die Grizzlies. (21.d.c) *In Nordamerika lebt ein Grizzly. (21.d.d) ?In Nordamerika leben Ø Grizzlies.
Zusammenfassend lässt sich Folgendes feststellen:
Für generelle Aussagen gilt: Steht der betreffende Nominalausdruck im Kommentar, so kann er nicht indefinit konstruiert werden; bildet er dagegen das Topik, so ist auch die indefinite Konstruktion möglich. Für singuläre Aussagen ist diese Regularität dahingehend einzuschränken, daß der indefinite Singular auch in Topikposition blockiert ist, der artikellose Plural jedoch stehen kann, sofern keine wortsemantischen Eigenheiten des betreffenden Nominalausdrucks interferieren. (Gerstner-Link 1995: 97)
Ein weiterer relevanter Faktor ist die Wortsemantik, die von Gerstner-Link weniger berücksichtigt wurde; hier sei sie auch nur kurz erwähnt. Es geht darum, dass bei bestimmten Bezeichnungen von Fruchtsorten, die in generischen Aussagen verwendet werden, ein scheinbarer Widerspruch zu dem oben Gesagten besteht. Eine indefinite singularische Nominalphrase ist auch hier meistens ausgeschlossen: (22.d.a) Die Brombeere wächst bevorzugt an sonnigen Hängen. 169
Diese Überlegungen treffen nicht in jedem Fall zu: (1) Die Sumerer erfanden das Rad/*die Räder/ *ein Rad/*Räder. und (2) Das Rad/*die Räder/*ein Rad/*Räder erfanden die Sumerer. In diesem Fall gibt es mehr Restriktionen als in den obigen Beispielen. Der Grund dafür sei laut Gerstner-Link wahrscheinlich die Referenz von Rad. Es gibt viele Unterarten von Rädern, daher werde Räder/die Räder eher als Artenplural verstanden (vgl. Gerstner-Link 1995: 94).
Generizität
139
(22.d.b) Die Brombeeren wachsen bevorzugt an sonnigen Hängen. (22.d.c) *Eine Brombeere wächst bevorzugt an sonnigen Hängen. (22.d.d) Ø Brombeeren wachsen bevorzugt an sonnigen Hängen.
In anderen Fällen ist die indefinite singularische Form jedoch zugelassen: (23.d) Eine Brombeere ist eine etwa fingernagelgroße, blauschwarze, süße Frucht.
Den Grund dafür sieht Gerstner-Link darin, dass in den Beispielen in (22.d) Brombeere die Bedeutung „Beerenart“ hat, während der Satz (23.d) eine Generalisierung über die einzelne Frucht beinhaltet. Zum Schluss können folgende Feststellungen formuliert werden: Singuläre Aussagen sind für Restriktionen anfälliger als generische (Gerstner-Link 1995: 99), das heißt, dass nicht alle Nominalphrasentypen generische Nominalphrasen sein können. Von Restriktionen sind nahezu ausschließlich die indefiniten Konstruktionen betroffen. So ist offensichtlich, „daß die definite Konstruktion, speziell die definit-singularische, die kontextunabhängigste Konstruktion für generische Nominalausdrücke ist“ (ebd.: 100). Was die definiten Nominalphrasen betrifft, gibt es keine Einschränkungen für die Bildung definitsingularischer generischer Nominalphrasen, „im Gegenteil ist der bestimmte Artikel im Singular das entscheidende Mittel, eine Entität als Art zu klassifizieren“ (ebd.: 105). Nach dem Überblick über die Formen generischer Ausdrücke im Deutschen wird im Folgenden auf das Ungarische eingegangen. In den Grammatiken des Ungarischen findet sich dazu – wenn überhaupt – lediglich der Hinweis, dass eine Nominalphrase mit definitem Artikel eine Gattung oder Art bezeichnen kann (vgl. Galgóczy 1994: 172; Tompa (Hg.) 1961: 270). Im Semantikbuch von Kiefer wird auch nur soviel gesagt, dass die generischen Nominalphrasen mit Artenprädikaten vorkommen und nur den definiten Artikel enthalten können (Kiefer o.J.: 55f.). Als einzige Ausnahme sei hier die von Keszler herausgegebene Ungarische Grammatik (Keszler (Hg.) 2000) erwähnt, in der auch Beispielsätze mit einer generischen Lesart angegeben werden, in denen die Nominalphrasen nicht den definiten, sondern den indefiniten oder den Nullartikel enthalten. Darauf soll später noch eingegangen werden. Zunächst möchte ich noch ein paar kritische Bemerkungen machen zu der Arbeit von Gerstner-Link, die ihrerseits die Generizität auch im Ungarischen untersucht hat (Gerstner-Link 1995: 136ff.). Sie analysiert ausschließlich die Möglichkeiten zur Bildung generischer Nominalphrasen, zuerst in Sätzen mit einem partikulären Prädikat: (24.u.a) A
kutya
DEF.ART
Hund
kutya
(24.u.b) *Egy
INDEF.ART
(24.u.c) A
ugat.
bell.3SG
Hund
kutyák
DEF.ART Hund.PL
(24.u.d) *Ø Kutyák
Hund.PL
ugatnak. bell.3PL
ugat.
bell.3SG
ugatnak.
bell.3PL
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
140
In diesem Fall ist eine mit dem indefiniten Artikel konstruierte Nominalphrase zwar grammatisch korrekt, hat jedoch keine generische Lesart, während der Nullartikel mit einem Substantiv im Plural in allen Lesarten inakzeptabel ist. Mit den Artenprädikaten sind auch nur definite Nominalphrasen möglich: (25.u.a) A
dodó
kihalt.
DEF.ART Dodo
aussterb.PST.3SG
dodó
(25.u.b) *Egy
kihalt.
INDEF.ART Dodo
aussterb.PST.3SG
(25.u.c) A
kihaltak.
dodók
DEF.ART Dodo.PL aussterb.PST.3PL
(25.u.d) *Ø Dodók
Dodo.PL
kihaltak.
aussterb.PST.3PL
So stellt Gerstner-Link (1995: 138) fest, dass „sich aufgrund der konstitutiven Definitheit generischer Nominalphrasen keine prädikatsbedingten Unterschiede beziehungsweise Restriktionen für die Konstruktionsweise generischer Nominalausdrücke ergeben“. Auch Kontinuativa müssen bei generischer Lesart den definiten Artikel erhalten, eine Konstruktion mit Nullartikel ist, im Gegensatz zum Deutschen, ungrammatisch: (26.u.a) Az arany nemesfém.
(DEF.ART Gold Edelmetall)
(26.u.b) *Ø Arany nemesfém.
In einer taxonomischen Lesart ist auch im Ungarischen der indefinite Artikel möglich: (27.u) Egy
antibiotikum
INDEF.ART Antibiotikum
addig
solange
lehet
sein.POT.3SG
hatásos, amíg ... (Keszler (Hg.) 2000: 284)
wirksam bis
‘Ein Antibiotikum kann wirksam sein, bis […]’
Die taxonomische Lesart wird aber von Gerstner-Link nicht eingehender untersucht. So kommt sie zu dem Schluss:
(i) das Ungarische kennzeichnet generische Nominalausdrücke als definit (ausgenommen die taxonomische Lesart, die anderen Gesetzmäßigkeiten unterliegt); (ii) generische Nominalausdrücke können singularisch oder pluralisch konstruiert werden, wobei der Singular präferiert ist; (iii) generische und nicht-spezifische Lesart werden via syntaktisch kodierter Definitheit obligatorisch unterschieden. (Gerstner-Link 1995: 140)
Was Gerstner-Link nicht berücksichtigt, sind generische Sätze. In solchen Sätzen, wie oben schon erwähnt, können sowohl generische als auch partikuläre Nominalphrasen vorkommen. In diesem Fall können aber auch generische Nominalphrasen durchaus mit Nullartikel konstruiert werden:
Generizität
141
(28.u.a) Ø Fiú
nála
Junge er.ADE
jó
gut
jegyet
nem
kaphat.170
Note.AKK NEG
bekomm.POT.3SG
‘Jungen können bei ihm keine guten Noten bekommen.’
Die Subjektnominalphrase in diesem Satz kann aber auch im Plural stehen, sowohl mit dem Nullartikel als auch mit dem definiten Artikel. Demgegenüber scheint mir eine definit-singularische Nominalphrase, sowie eine Nominalphrase mit indefinitem Artikel nicht möglich zu sein: (28.u.b) Ø Fiúk nála jó jegyet nem kaphatnak. (28.u.c) A fiúk nála jó jegyet nem kaphatnak. (28.u.d) *A fiú nála jó jegyet nem kaphat. (28.u.e) *Egy fiú nála jó jegyet nem kaphat.
Partikuläre Nominalphrasen können in generischen Sätzen auch eine indefinit-singularische Form haben: (29.u) Ezt
még
egy
INDEF.ART
kisgyerek is
das.AKK noch
Kleinkind
‘Das weiß schon ein kleines Kind.’
auch
tudja.
wiss.3SG
7.2 Generische Nominalphrasen Nach einem Überblick über die Formen generischer Ausdrücke in beiden Vergleichssprachen sollen diese miteinander kontrastiert werden. Als Erstergebnis bekommt man zunächst Folgendes: (1.d.a) (1.d.b) (1.u.a) (1.u.b)
Die Silbermöwe besitzt auch spezielle Lernfähigkeiten.171 Der Hund bellt. A sirály különleges tanulási képességgel rendelkezik. A kutya ugat.
(2.d.a) (2.d.b) (2.u.a) (2.u.b)
Die Silbermöwen leben stets in Schwärmen zusammen. Die Hunde bellen. A sirályok rajban élnek. A kutyák ugatnak.
(3.d.a) Ein Löwe hat eine Mähne. (3.d.b) Ein Hund bellt. (3.u.a) ?Egy oroszlánnak sörénye van. 170 171
Beispiel von Keszler ((Hg.) 2000: 283). Beispiele von Gerstner-Link (1995: 79), Übersetzung von mir. Da einerseits die ungarischen Beispiele die gleichen Konstruktionen wie die deutschen enthalten und andererseits Übersetzungen der deutschen Beispiele sind, wird auf Interlinearglossen weitgehend verzichtet.
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
142 (3.u.b) *Egy kutya ugat. (4.d.a) (4.d.b) (4.u.a) (4.u.b)
Ø Wale sind Säugetiere. Ø Hunde bellen. *Ø Bálnák emlősök. *Ø Kutyák ugatnak.
(5.d) Ø Reis ist nahrhaft und bekömmlich. (5.u) *Ø Rizs tápláló.
Während im Deutschen alle Nominalphrasentypen vorkommen können – der definit-singularische, der definit-pluralische, der indefinit-singularische, der indefinit-pluralische (mit Nullartikel) und der artikellose Singular (bei Kontinuativa) –, scheinen im Ungarischen nur die definiten Nominalphrasen eine generische Lesart zu erlauben. Zu diesem Schluss kommt auch Gerstner-Link (1995; siehe auch oben). Es sollten aber auch die im vorangegangenen Kapitel erwähnten Fälle analysiert und erklärt werden, in denen im Ungarischen bei Generizität auch indefinite und artikellose Nominalphrasen verwendet werden können, oder sogar die präferierte Konstruktion sind. Zu einer derartigen Analyse scheint die im einleitenden Teil dieses Kapitels beschriebene Unterscheidung zwischen generischen Nominalphrasen und generischen Sätzen, kombiniert mit den von Gerstner-Link verwendeten Gesichtspunkten eine angemessene Untersuchungsmethode zu bieten. So setzt die vergleichende Analyse bei den generischen Nominalphrasen an, also bei Nominalphrasen, die sich auf Arten beziehen (vgl. auch oben). Zunächst werden die generischen Nominalphrasen mit Artenprädikaten untersucht: (6.d.a) (6.d.b) (6.d.c) (6.d.d) (6.u.a) (6.u.b) (6.u.c) (6.u.d)
Der Dodo ist ausgestorben.172 Die Dodos sind ausgestorben. *Ein Dodo ist ausgestorben. ? Ø Dodos sind ausgestorben. A dodó kihalt. A dodók kihaltak. *Egy dodó kihalt. *Ø Dodók kihaltak.
(7.d.a) (7.d.b) (7.u.a) (7.u.b)
Ø Naturreis ist besonders nahrhaft.173 Der Naturreis ist besonders nahrhaft. *Ø Rizs igen tápláló. A rizs igen tápláló.
Auch hier ist zwischen Individuativa und Kontinuativa zu unterscheiden. Bei den Individuativa sind in beiden Sprachen Konstruktionen mit dem definiten Artikel möglich, sowohl im Singular als auch im Plural, ebenso ist der indefinite Artikel in den beiden Spra172 173
Beispiele von mir. Beispiele von Gerstner-Link (1995: 101), Übersetzung von mir.
Generizität
143
chen ausgeschlossen. Der Plural mit Nullartikel ist im Deutschen marginal möglich, im Ungarischen dagegen ungrammatisch. Bei den Kontinuativa ist im Deutschen sowohl der Nullartikel als auch der definite Artikel zulässig, im Ungarischen können solche Substantive in diesen Kontexten nicht mit Nullartikel stehen. Es gibt aber auch Individuativa, bei denen – im Gegensatz zu den vorher Gesagten – im Ungarischen auch der definite Plural ausgeschlossen ist: (8.d.a) (8.d.b) (8.d.c) (8.d.d) (8.u.a) (8.u.b) (8.u.c) (8.u.d)
In Preußen pflanzt man die Kartoffel erst seit dem 17. Jahrhundert an.174 In Preußen pflanzt man die Kartoffeln erst seit dem 17. Jahrhundert an. *In Preußen pflanzt man eine Kartoffel erst seit dem 17. Jahrhundert an. In Preußen pflanzt man Ø Kartoffeln erst seit dem 17. Jahrhundert an. Poroszországban csak a 17. sz. óta termesztik a burgonyát. *Poroszországban csak a 17. sz. óta termesztik a burgonyákat. *Poroszországban csak a 17. sz. óta termesztenek egy burgonyát. *Poroszországban csak a 17. sz. óta termesztenek Ø burgonyákat.
Der Grund dafür scheint zu sein, dass im Ungarischen die Namen von Obst- und Gemüsesorten in allen Kontexten tendenziell im Singular gebraucht werden; die Pluralform kann zwar gebildet werden, hat aber eher eine Artenlesart. Das Ungarische hat aber auch eine Möglichkeit, Generizität zu kennzeichnen, die das Deutsche nicht bzw. nicht bei jedem Substantiv hat: den Nullartikel im Singular: (9.u) Poroszországban a 17. sz. óta termesztenek Ø burgonyát. (9.d) *In Preußen pflanzt man Ø Kartoffel erst seit dem 17. Jahrhundert an.
Ohne Artikel können im Deutschen nur singularische Kontinuativa stehen, bei diesem Prädikat ist das auch im Ungarischen möglich: (10.d) Hier wird Ø Reis angebaut.175 (10.u) Itt termesztenek Ø rizst.
Eine Möglichkeit, mit dem indefiniten Artikel konstruierte Nominalphrasen als generisch zu lesen, ist die taxonomische Lesart: (11.d) Ein Wal ist vom Aussterben bedroht.176
Hier könnte die Subjektnominalphrase paraphrasiert werden mit „eine bestimmte Walart“. Das Ungarische scheint diese Möglichkeit nicht bzw. nur dann zuzulassen, wenn die Artenlesart expliziert wird: (11.u.a) *Egy bálnát a kihalás veszélye fenyeget. (INDEF.ART Wal.AKK)
(11.u.b) Egy bálnafajt a kihalás veszélye fenyeget. (INDEF.ART Walart.AKK) 174
Beispiele von Gerstner-Link (1995: 87f.), Übersetzung von mir. Beispiele von mir. 176 Beispiele von Gerstner-Link (1995: 85), Übersetzung von mir. 175
144
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
Eine Nominalphrase mit einem Demonstrativum ist in den beiden Sprachen in einer taxonomischen Lesart möglich: (12.d) Dieser Wal ist vom Aussterben bedroht.177 (12.u) Ezt a bálnát a kihalás veszélye fenyegeti.
Eine definit-singularische Nominalphrase ist aber in der taxonomischen Lesart – im Gegensatz zum Deutschen – nicht möglich; das Ungarische verwendet auch in diesen Fällen ein Demonstrativum: (13.d) Der Tiger ist die große gestreifte Raubkatze, die man in Indien findet.178 (13.u.a) *A tigris a nagymacska, amely Indiában él. (13.u.b) A tigris az a nagymacska, amely Indiában él.
Als zweites sollen die kollektiven Prädikate untersucht werden, die sich von den Artenprädikaten dadurch unterscheiden, dass sie nicht nur auf Arten angewendet werden können, aber keine Einzelindividuen bezeichnen können (oder nur am Rande, vgl. Abschnitt 7.1): (14.d.a) Am Ende der Trockenzeit sammelt sich die Antilope an Wasserlöchern.179 (14.d.b) Am Ende der Trockenzeit sammeln sich die Antilopen an Wasserlöchern. (14.d.c) *Am Ende der Trockenzeit sammelt sich eine Antilope an Wasserlöchern. (14.d.d) Am Ende der Trockenzeit sammeln sich Ø Antilopen an Wasserlöchern. (14.u.a) *A száraz évszak végén az antilop a vízlelőhelyeknél gyűlik össze. (14.u.b) A száraz évszak végén az antilopok a vízlelőhelyeknél gyűlnek össze. (14.u.c) *A száraz évszak végén egy antilop a vízlelőhelyeknél gyűlik össze. (14.u.d) *A száraz évszak végén Ø antilopok a vízlelőhelyeknél gyűlnek össze.
Mit diesen Prädikaten ist im Deutschen nur die indefinit-singularische Nominalphrase nicht möglich, im Ungarischen dagegen ist ausschließlich eine definit-pluralische Nominalphrase zugelassen (oder ein kollektives Substantiv; in diesem Fall haben wir aber keine generische Nominalphrase). Die bisherigen Ergebnisse können wie in Tabelle 11 zusammengefasst werden.
177
Beispiele von Gerstner-Link (1995: 86), Übersetzung von mir. Beispiele von Gerstner-Link (1995: 87), Übersetzung von mir. 179 Beispiele von Gerstner-Link (1995: 83 bzw. 87), Übersetzung von mir. 178
Generizität Prädikatstyp Artenprädikat
taxonomische Lesart
kollektives Prädikat
145 NP-Typ def.sg. def.pl. indef.sg. Ø pl. Ø sg. indef.sg. def.sg. Dem. def.sg. def.pl. indef.sg. Ø pl.
Deutsch + + ? +** + + + + + +
Ungarisch + +* +*** +**** + + -
Tab. 11: Artenprädikate und kollektive Prädikate180
Im Deutschen gibt es wesentlich weniger Einschränkungen für die Konstruktion generischer Nominalphrasen bei Artenprädikaten und kollektiven Prädikaten als im Ungarischen. Im Deutschen ist – bis auf den indefiniten Singular – jeder Konstruktionstyp zugelassen, wenn auch gegebenenfalls mit Restriktionen. Im Falle einer taxonomischen Lesart ist auch eine indefinit-singularische Nominalphrase möglich. Im Ungarischen dagegen scheint die definite die vorherrschende Konstruktionsweise zu sein, bei einigen Typen von Substantiven ist auch der artikellose Singular zugelassen. Im Folgenden werden die generischen Nominalphrasen in partikulären Aussagen, das heißt, in Aussagen, die sich auf ein bestimmtes Einzelereignis beziehen, auf die Konstruktionsweise hin untersucht. Es werden die von Krifka et al. (1995) beschriebenen Lesarten generischer Nominalphrasen einzeln untersucht, die Konstruktionsweisen in den beiden Vergleichssprachen dargestellt und miteinander verglichen. Hier werden im Großen und Ganzen dieselben Restriktionen erwartet wie bei den Artenprädikaten, aber bei bestimmten Lesarten werden wahrscheinlich auch weitere Einschränkungen zu beobachten sein. Nimmt man eine generische Nominalphrase in einer partikulären Aussage, hat man zunächst die gleichen Möglichkeiten für die Konstruktion der Nominalphrase wie bei den Artenprädikaten: (15.d.a) 1770 erreichte die Ratte Australien.181 (15.d.b) 1770 erreichten die Ratten Australien. (15.d.c) *1770 erreichte eine Ratte Australien. 180
Anmerkungen zu der Tabelle: * mit Einschränkungen s. (8.u) ** nur bei Massennomina *** mit Einschränkungen s. (9.u), (10.u) **** nur expliziert, s. (11.u) 181 Beispiele von Gerstner-Link (1995: 90), Übersetzung von mir.
146
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
(15.d.d) ?1770 erreichten Ø Ratten Australien. (15.u.a) A patkány 1770-ben érte el Ausztráliát. (15.u.b) A patkányok 1770-ben érték el Ausztráliát. (15.u.c) *Egy patkány 1770-ben érte el Ausztráliát. (15.u.d) ?Ø Patkányok 1770-ben érték el Ausztráliát.
Der einzige Unterschied zu den Artenprädikaten ist, dass hier im Ungarischen der artikellose Plural nicht ganz ausgeschlossen ist, wenn er auch etwas merkwürdig klingt. Krifka et al. (1995: 78ff.) unterscheiden sieben verschiedene Lesarten, welche die generischen Nominalphrasen außerhalb der Artenprädikation haben können, und beschreiben diese auch detailliert, aber vor allem aus semantischer Perspektive, auf die syntaktische Struktur wird nicht explizit eingegangen. Die erste ist die so genannte „collective property“-Lesart. In diesem Fall bezieht sich das Prädikat auf die Gesamtmenge der vom Substantiv bezeichneten Referenten. So wird also die Gattung interpretiert als die Summe der zu dieser Gattung gehörenden Elemente. Eine noch ausstehende Aufgabe der Semantik ist, die Bedingungen zu beschreiben, unter denen eine solche Lesart zustandekommen kann (vgl. auch Krifka et al. 1995: 80). (16.d.a) Vor allem die Ostdeutschen sind seit der Wiedervereinigung vom erfasst.182 (www.spiegel.de/spiegel/print/d-13687898.html) (16.d.b) ?Vor allem der Ostdeutsche ist seit der Wiedervereinigung vom erfasst. (16.d.c) *Vor allem ein Ostdeutscher ist seit der Wiedervereinigungvom erfasst. (16.d.d) Vor allem Ø Ostdeutsche sind seit der Wiedervereinigung vom erfasst.
Bananenfieber Bananenfieber Bananenfieber Bananenfieber
(17.d.a) Die deutschen Käufer haben letztes Jahr 11000 BMWs gekauft.183 (17.d.b) ?Der deutsche Käufer hat letztes Jahr 11000 BMWs gekauft. (17.d.c) *Ein deutscher Käufer hat letztes Jahr 11000 BMWs gekauft. (17.d.d) Ø Deutsche Käufer haben letztes Jahr 11000 BMWs gekauft. (16.u.a) A képviselők egyetlen pontban sem találták vétkesnek az elnököt.184 (16.u.b) *A képviselő egyetlen pontban sem találta vétkesnek az elnököt. (16.u.c) *Egy képviselő egyetlen pontban sem találta vétkesnek az elnököt. (16.u.d) *Ø Képviselők egyetlen pontban sem találták vétkesnek az elnököt.
‘Die Abgeordneten haben den Präsidenten nicht für schuldig gehalten.’
(17.u.a) A német vásárlók tavaly 11000 BMW-t vettek. (17.u.b) *A német vásárló tavaly 11000 BMW-t vett. (17.u.c) *Egy német vásárló tavaly 11000 BMW-t vett. 182
(16.d.a) ist das Originalbeispiel, (16.d.b-d) sind Modifizierungen von mir. Beispiele (17) bis (20) in Anlehnung an Krifka et al. (1995: 78), Übersetzungen von mir. 184 (16.u.a) ist das Originalbeispiel aus MNSZ, (16.u.b-d) sind Modifizierungen von mir. 183
Generizität
147
(17.u.d) *Ø Német vásárlók tavaly 11000 BMW-t vettek.
Für diese Lesart scheint eine pluralische Form am besten geeignet zu sein, vor allem aber der definite Plural. Eine indefinit-singularische Nominalphrase ist erwartungsgemäß ausgeschlossen, eine definit-singularische scheint im Deutschen nicht gut möglich zu sein, im Ungarischen ist auch dieser Typ ausgeschlossen. Im Gegensatz zum Deutschen ist im Ungarischen auch hier eine Pluralform mit Nullartikel unmöglich, diese Nominalphrasen haben nur eine nicht-spezifische indefinite Lesart, keine generische. Die zweite Lesart, die untersucht werden soll, wird von Krifka et al. (1995) „average property“-Lesart genannt. Hier bezeichnet man mit der generischen Nominalphrase einen durchschnittlichen Vertreter oder mehrere durchschnittliche oder typische Vertreter einer Gattung. Das bedeutet aber durchaus nicht, dass es einen solchen Vertreter wirklich gibt: (18.d) Die amerikanische Familie hat im Durchschnitt 2,3 Kinder. (18.u) Az
amerikai
DEF.ART amerikanisch
átlagosan
durchschnittlich
2,3
2,3
családokban
Familie.PL.INESS
gyerek Kind
van.
sein.3SG
Bei den Beispielen unter (19) sind auch nicht alle Nominalphrasentypen möglich: (19.d.a) Der deutsche Teenager sieht täglich 6 Stunden lang fern. (19.d.b) Die deutschen Teenager sehen täglich 6 Stunden lang fern. (19.d.c) *Ein deutscher Teenager sieht täglich 6 Stunden lang fern. (19.d.d) Ø Deutsche Teenager sehen täglich 6 Stunden lang fern. (19.u.a) *A német tinédzser naponta 6 órán át néz tévét. (19.u.b) A német tinédzserek naponta 6 órán át néznek tévét. (19.u.c) *Egy német tinédzser naponta 6 órán át néz tévét. (19.u.d) *Ø Német tinédzserek naponta 6 órán át néznek tévét.
Hier scheint auch der definit-pluralische Konstruktionstyp am angemessensten zu sein, wobei im Deutschen auch eine definit-singularische Nominalphrase möglich ist. Im Deutschen ist auch der Plural mit Nullartikel möglich. Interessant ist aber, zu beobachten, dass durch die Erweiterung der Nominalphrase oder des Prädikats mit einem Adjektiv wie durchschnittlich/typisch o.ä. (ungarisch átlagos) auch die indefinite Form ermöglicht wird: (19.d.c’) Ein durchschnittlicher deutscher Teenager sieht täglich 6 Stunden lang fern. (19.d.c’’) Ein deutscher Teenager sieht im Durchschnitt täglich 6 Stunden lang fern. (19.u.c’) Egy átlagos német tinédzser naponta 6 órán át néz tévét. (19.u.c’’) Egy német tinédzser naponta átlagosan 6 órán át néz tévét.
In diesem Fall haben wir aber keine generischen Nominalphrasen, sondern generische Sätze. Die nächste ist die so genannte „characterising property“-Lesart. Bei dieser Lesart kommen die generischen Nominalphrasen in generischen Sätzen vor:
148
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
(20.d.a) Die Kartoffel enthält Vitamin C. (20.d.b) Die Kartoffeln enthalten Vitamin C. (20.d.c) Eine Kartoffel enthält Vitamin C. (20.d.d) Ø Kartoffeln enthalten Vitamin C.
Die Tatsache, dass es sich hier um generische Sätze handelt, erklärt auch, warum im Deutschen auch eine indefinit-singularische Nominalphrase möglich ist. In generischen Sätzen können nämlich, wie wir weiter unten sehen werden, alle Nominalphrasentypen vorkommen (vgl. auch oben). Im Satz (20.d.c) handelt es sich zwar nicht um eine generische Nominalphrase, die Gesamtbedeutung des Satzes verändert sich aber im Vergleich zu den Beispielen (20.d.a, b und d) nur gering. Was das Ungarische angeht, habe ich keine Beispielsätze gefunden, in denen alle Nominalphrasentypen vorkommen könnten, trotzdem gibt es auch hier verschiedene Möglichkeiten zur Konstruktion von generischen Nominalphrasen mit einer „characterising property“-Lesart: (20.u.a) Az állatok a tengerek sötét mélyén vagy a kontinenseken élnek [...] (MNSZ) ‘Die Tiere leben in der dunklen Tiefe der Meere oder auf den Kontinenten.’ (20.u.b) Akkor sem tudnak mások lenni az emberek. (MNSZ) ‘Auch dann können die Menschen nicht anders sein.’ (20.u.c) Hány csontja van az embernek?185 ‘Wie viele Knochen hat der Mensch?’ (20.u.d) Hány csontja van egy embernek? ‘Wie viele Knochen hat ein Mensch?’
In einigen Kontexten ist neben der definiten auch die indefinite Konstruktion möglich. In diesem letzteren Fall liegt auch im Ungarischen keine generische Nominalphrase, sondern ein generischer Satz vor – mit einer leichten Modifizierung der Satzbedeutung. Eine Konstruktion mit dem Nullartikel ist auch hier nicht möglich. Die vierte ist die „distinguishing property“-Lesart. Diese Lesart ähnelt der vorherigen insofern, als die Sätze, die diese Lesart aufweisen, den generischen Sätzen ähnlich sind. Der semantische Unterschied ist, dass bei dem vorherigen Typ auch ein zufällig ausgewählter Repräsentant der genannten Gattung die durch das Prädikat ihm zugewiesene Eigenschaft aufweist, das heißt eine zufällig ausgewählte Kartoffel enthält Vitamin C. Das muss bei dieser Lesart nicht nur nicht der Fall sein, es ist auch eher unwahrscheinlich: (21.d.a) Die Franzosen sind ziemliche Antisemiten.186 (www.spiegel.de/spiegel/print/d-13684354.html, 8.11.2005) (21.d.b) Der Franzose ist ein ziemlicher Antisemit. (21.d.c) *Ein Franzose ist ein ziemlicher Antisemit. (21.d.d) Ø Franzosen sind ziemliche Antisemiten. (21.u.a) A franciák meglehetősen antiszemiták. 185 186
Beispielsatz von mir. (21.d.a) ist das Originalbeispiel, (21.d.b-d) sind Modifizierungen von mir, Übersetzung von mir.
Generizität
149
(21.u.b) *A francia meglehetősen antiszemita. (21.u.c) *Egy francia meglehetősen antiszemita. (21.u.d) *Ø Franciák meglehetősen antiszemiták.
Durch die Beispiele wird auch der syntaktische Unterschied zum vorherigen Typ eindeutig sichtbar: Bei der „distinguishing property“-Lesart ist eine indefinit-singularische Nominalphrase in den beiden Vergleichssprachen ausgeschlossen. Darüber hinaus ist im Ungarischen der artikellose Plural auch hier nicht möglich. Als fünfte wird die so genannte Avantgarde-Lesart generischer Nominalphrasen behandelt. Bei dieser Lesart wird eine Eigenschaft eines (oder mehrerer) Vertreters einer Gattung auf die ganze Gattung übertragen. Wichtig ist, dass dabei nur Eigenschaften in Frage kommen, die für die ganze Gattung von besonderer Relevanz sind: (22.d.a) 1969 betrat der Mensch den Mond.187 (22.d.b) 1969 betraten die Menschen den Mond. (22.d.c) *1969 betrat ein Mensch den Mond. (22.d.d) *1969 betraten Ø Menschen den Mond. (22.u.a) Az ember 1969-ben lépett a Holdra. (22.u.b) ?Az emberek 1969-ben léptek a Holdra. (22.u.c) *Egy ember 1969-ben lépett a Holdra. (22.u.d) *Ø Emberek 1969-ben léptek a Holdra. (22.u.e) 1969-ben lépett Ø ember a Holdra. (23.d) *1976 aß der Mensch in einer Stunde 128 Brezeln.
Die Nominalphrasen in den Sätzen (22.d) und (22.u) werden generisch interpretiert, bei (23.d) wird eine solche Lesart nicht akzeptiert, da diese Eigenschaft wenig relevant zu sein scheint. Was die Konstruktionstypen der Nominalphrasen mit einer Avantgarde-Lesart betrifft, können sie im Deutschen definit-singularisch oder definit-pluralisch sein. Im Ungarischen ist die definit-singularische Form ebenfalls möglich, die definit-pluralische scheint für diese Lesart weniger geeignet zu sein. Darüber hinaus ist im Ungarischen die artikellose singularische Form auch zugelassen, für das Deutsche hingegen – zumindest bei Individuativa – ist sie völlig ausgeschlossen. Als sechste ist die so genannte Repräsentanten-Lesart („representative object interpretation“) erwähnt. Auch hier stehen die Repräsentanten für die ganze Gattung: (24.d.a) Hier wurde in diesem Sommer der schwarze Schwan gesichtet.188 (24.d.b) ?Hier wurden in diesem Sommer die schwarzen Schwäne gesichtet. (24.d.c) *Hier wurde in diesem Sommer ein schwarzer Schwan gesichtet. (24.d.d) *Hier wurden in diesem Sommer Ø schwarze Schwäne gesichtet. (24.u.a) Itt látták ezen a nyáron a fekete hattyút. 187 188
Beispiele von Gerstner-Link (1995: 90f.), Übersetzung von mir. Beispiele von Gerstner-Link (1995: 91), Übersetzung von mir.
150
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
(24.u.b) ?Itt látták ezen a nyáron a fekete hattyúkat. (24.u.c) *Itt láttak ezen a nyáron egy fekete hattyút. (24.u.d) *Itt láttak ezen a nyáron Ø fekete hattyúkat. (24.u.e) Itt láttak ezen a nyáron Ø fekete hattyút.
Hier scheint eine definit-singularische Nominalphrase am angemessensten zu sein. Bei der definit-pluralischen Nominalphrase neigt man eher zu einer Interpretation als eine Menge der betreffenden Gattung, also „mehrere Exemplare von schwarzen Schwänen“ (vgl. Gerstner-Link 1995). Interessant ist hingegen, zu beobachten, dass das Ungarische auch hier die artikellose singularische Form erlaubt. Diese Nominalphrase lässt sowohl eine generische als auch eine nicht-spezifische indefinite Lesart zu. Welche von den beiden die präferierte ist, lässt sich nicht entscheiden. Zuletzt soll noch die Lesart beschrieben werden, die von Krifka et al. (1995) als „internal comparison“-Lesart bezeichnet wird. Dabei werden die Vertreter einer Gattung miteinander verglichen: (25.d.a) Der Wolf wird größer, wenn wir Richtung Norden fahren.189 (25.d.b) Die Wölfe werden größer, wenn wir Richtung Norden fahren. (25.d.c) *Ein Wolf wird größer, wenn wir Richtung Norden fahren. (25.d.d) *Ø Wölfe werden größer, wenn wir Richtung Norden fahren. (25.u.a) Ahogy észak felé haladunk, a farkas egyre nagyobb lesz. (25.u.b) Ahogy észak felé haladunk, a farkasok egyre nagyobbak lesznek. (25.u.c) *Ahogy észak felé haladunk, egy farkas egyre nagyobb lesz. (25.u.d) *Ahogy észak felé haladunk, Ø farkasok egyre nagyobbak lesznek.
Hier scheint die definit-pluralische Form am besten geeignet zu sein, wenn auch die definit-singularische nicht ausgeschlossen ist. Indefinite Nominalphrasen können weder im Singular noch im Plural diese Lesart aufweisen. Zusammenfassend werden die Ergebnisse in der Tabelle 12 dargestellt: Lesart collective property
average property
189
NP-Typ def.sg. def.pl. indef.sg. Ø pl. def.sg. def.pl. indef.sg. Ø pl.
Deutsch + + ? ? + +
Ungarisch + -* + -* -
Beispiele in Anlehnung an Krifka et al. (1995: 78), Übersetzungen von mir.
Generizität characterising property
distinguishing property
Avantgarde
Repräsentanten
internal comparison
151 def.sg. def.pl. indef.sg. Ø pl. def.sg. def.pl. indef.sg. Ø pl. def.sg. def.pl. indef. sg. Ø pl. Ø sg. def.sg. def.pl. indef.sg. Ø pl. Ø sg. def.sg. def.pl. indef.sg. Ø pl.
+ + + + + + + + + + ? + + -
+** +** +** ? + + ? + + ? + + + -
Tab. 12: Erscheinungsformen generischer NPn in partikulären Aussagen190
Man kann feststellen, dass die präferierte Konstruktionsweise generischer Nominalphrasen in beiden Vergleichssprachen die definite ist. Es hängt von den einzelnen Lesarten ab, ob die singularische oder die pluralische Form vorgezogen wird. Was die indefiniten Konstruktionen angeht, ist es nicht verwunderlich, dass indefinit-singularische Nominalphrasen auch hier nur am Rande möglich sind; sie können nämlich keine Gattung bezeichnen. Interessant ist aber, zu beobachten, dass die indefinit-pluralische Form (mit Nullartikel) auch im Deutschen oft blockiert wird. Bei zwei Lesarten, der Avantgardeund der Repräsentanten-Lesart kann im Ungarischen auch eine artikellose singularische Form (bei Individuativa) vorkommen, eine für das Deutsche unbekannte Konstruktionsweise. Der letzte Gesichtspunkt, der hier zur Untersuchung von Typen generischer Nominalphrasen verwendet wird, ist die Topik-Kommentar-Gliederung. Nach den Untersuchungen von Gerstner-Link (1995) (vgl. auch oben) übt auch diese Gliederung Einfluss auf die Konstruktionstypen generischer Nominalphrasen aus. In den folgenden Beispielen wird die Topik-Kommentar-Gliederung durch die Wortstellung markiert (Topik – Satzan190
Anmerkungen zu der Tabelle: * aber: ergänzt durch „durchschnittlich“ möglich ** nicht jedes Substantiv
152
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
fang, Kommentar – Satzende). Auch bei dieser Analyse wird zwischen Artenprädikaten und partikulären Prädikaten unterschieden. Als erster wird der Fall untersucht, in dem die generische Nominalphrase im Topik steht und der Satz ein Artenprädikat hat: (26.d.a) Das Aquädukt erfanden die Römer.191 (26.d.b) Die Aquädukte erfanden die Römer. (26.d.c) *Ein Aquädukt erfanden die Römer. (26.d.d) Ø Aquädukte erfanden die Römer. (26.u.a) A vízvezetéket a rómaiak találták fel. (26.u.b) ?A vízvezetékeket a rómaiak találták fel. (26.u.c) *Egy vízvezetéket a rómaiak találtak fel. (26.u.d) ?Ø Vízvezetékeket a rómaiak találtak fel. (26.u.e) ?Ø Vízvezetéket a rómaiak találtak fel.
Das Deutsche weist auch hier mehr Möglichkeiten auf als das Ungarische, nur die indefinit-singularische Form ist in diesem Fall nicht möglich. Im Ungarischen dagegen scheint die definit-singularische die bestmögliche Form zu sein. Die definit-pluralische Nominalphrase klingt mindestens merkwürdig, die artikellosen Konstruktionen halte ich als kontrastive Topiks eventuell für akzeptabel. Es soll noch untersucht werden, was passiert, wenn dieselben Nominalphrasen im Kommentar stehen: (27.d.a) Die Römer erfanden das Aquädukt. (27.d.b) Die Römer erfanden die Aquädukte. (27.d.c) *Die Römer erfanden ein Aquädukt. (27.d.d) */?Die Römer erfanden Ø Aquädukte. (27.u.a) A rómaiak találták fel a vízvezetéket. (27.u.b) ?A rómaiak találták fel a vízvezetékeket. (27.u.c) *A rómaiak találtak fel egy vízvezetéket. (27.u.d) *A rómaiak találtak fel vízvezetékeket. (27.u.e) *A rómaiak találtak fel Ø vízvezetéket.
Im Kommentar sind weniger Möglichkeiten für die Bildung generischer Nominalphrasen vorhanden: Im Deutschen sind ausschließlich die definiten Konstruktionen zugelassen, im Ungarischen nur die definit-singularische. Schließlich sollten noch die partikulären Prädikate untersucht werden: (28.d.a) Der Grizzly lebt in Nordamerika.192 (28.d.b) Die Grizzlies leben in Nordamerika. (28.d.c) Ein Grizzly lebt in Nordamerika. (28.d.d) Ø Grizzlies leben in Nordamerika. 191
Beispiele (26.d) bis (27.d) bis auf die Konstruktion mit indefinitem Artikel von Gerstner-Link (1995: 93), Übersetzung von mir. 192 Beispiele (28.d) bis (29.d) von Gerstner-Link (1995: 95), Übersetzung von mir.
Generizität
153
(28.u.a) A grizzly Észak-Amerikában él. (28.u.b) A grizzlyk Észak-Amerikában élnek. (28.u.c) *Egy grizzly Észak-Amerikában él. (28.u.d) ?Ø Grizzlyk Észak-Amerikában élnek. (28.u.e) Ø Grizzly Észak-Amerikában él.
In diesem Fall sind im Deutschen alle Konstruktionstypen zugelassen: der definit-singularische und definit-pluralische sowie der indefinit-singularische und indefinit-pluralische. Im Ungarischen sind die definiten Konstruktionen auch möglich, im Singular wie im Plural. Eine Nominalphrase mit dem indefiniten Artikel ist nicht möglich, wohl aber der artikellose Singular. Der artikellose Plural scheint eher eine nicht-spezifische indefinite Lesart zu haben. Im Kommentar sind die Möglichkeiten auch bei diesen Prädikaten beschränkter: (29.d.a) In Nordamerika lebt der Grizzly. (29.d.b) In Nordamerika leben die Grizzlies. (29.d.c) *In Nordamerika lebt ein Grizzly. (29.d.d) ?In Nordamerika leben Ø Grizzlies. (29.u.a) Észak-Amerikában él a grizzly. (29.u.b) Észak-Amerikában élnek a grizzlyk. (29.u.c) *Észak-Amerikában él egy grizzly. (29.u.d) ?Észak-Amerikában élnek Ø grizzlyk. (29.u.e) ?Észak-Amerikában él Ø grizzly.
Wirklich gut scheinen nur die definiten Konstruktionen zu sein. Der indefinite Singular ist auch im Deutschen nicht akzeptabel. Die Formen mit dem Nullartikel lassen eher eine nicht-spezifische indefinite Interpretation zu, das Vorhandensein einer generischen Lesart ist eher fragwürdig. Die Ergebnisse lassen sich in einer Übersichtstabelle (vgl. Tab. 13) veranschaulichen. Topik
Prädikatstyp Artenprädikat
partikuläres Prädikat
NP-Typ def.sg. def.pl. indef.sg. Ø pl. Ø sg. def.sg. def.pl. indef.sg. Ø pl. Ø sg.
Deutsch + + + + + + + -
Ungarisch + ? ? ? + + ? +
154 Kommentar
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen Artenprädikat
partikuläres Prädikat
def.sg. def.pl. indef.sg. Ø pl. Ø sg. def.sg. def.pl. indef.sg. Ø pl. Ø sg.
+ + ? + + -
+ ? + + ? +
Tab. 13: Topik-Kommentar-Gliederung
Auch nach diesem Gesichtspunkt hat das Deutsche im Allgemeinen mehr Möglichkeiten, eine generische Nominalphrase zu bilden, als das Ungarische. Im Ungarischen ist hauptsächlich die definite Konstruktionsweise erlaubt, im Deutschen kann auch eine indefinite singularische oder pluralische Nominalphrase unter bestimmten Umständen vorkommen. Einzig bei partikulären Prädikaten mit einer generischen Nominalphrase im Kommentar weist das Ungarische mehr Möglichkeiten auf als das Deutsche, da hier neben den definiten auch eine artikellose singularische Konstruktion möglich ist. Beide Sprachen teilen die Eigenschaft, dass sie im Topik mehr Konstruktionstypen als im Kommentar erlauben.
7.3 Generische Sätze Dieser Abschnitt befasst sich mit generischen oder charakterisierenden Sätzen (vgl. Molnár 2011). Solche Sätze drücken entweder Generalisierungen über Gattungen oder über einzelne Vertreter von Gattungen aus, so können in diesen Sätzen alle Nominalphrasentypen vorkommen. Krifka et al. (1995: 17ff.) schlagen vor, zwischen habituellen und „lexikalischen“ generischen Sätzen zu unterscheiden. Habituelle Sätze generalisieren über Ereignisse, sie enthalten ein Prädikat, das nicht nur stativ, sondern auch dynamisch ist, also in nicht generischen Sätzen vorkommen kann; lexikalische generische Sätze generalisieren über Eigenschaften und haben ein statives Prädikat. Für die syntaktische Konstruktion der Nominalphrasen ist diese Unterscheidung aber nicht relevant (vgl. Krifka et al. 1995: 18). Auch in unseren Vergleichssprachen können in generischen Sätzen alle Nominalphrasentypen vorkommen, die auch in nicht-generischen Sätzen erlaubt sind: (1.d) Nur die Doofen kaufen im Winterschlußverkauf. (M91TG/101.29248 Mannheimer Morgen, 10.1.1991) (2.d) Ø Japaner lernen für den Job und nur für ihn. Der Hotelkassierer kennt sich im Scheck- und Kreditkarten-Englisch aus, der Reiseberater im Reisebüro-Englisch, die
Generizität
155
Rezeptionsdame im Zimmernummer-Check-in- und Check-out-Englisch. (www.spiegel.de/spiegel/print/d-13680002.html, 8.11.2005)
(3.d) Das sieht ja auch ein Blinder. (HAZ08/JUN.02786 HAZ, 16.6.1998) (1.u) Egy
időben
INDEF.ART
könnyen,
Zeit.INE
hazudott
leicht
a
szívesen gern
és
und
sokat
viel.AKK
nőknek. (SM: 11)
lüg.PST.3SG
‘Es hatte eine Zeit gegeben, da er die Frauen leicht, gern und häufig anlog.’ (SM: 12)
(2.u) A
DEF.ART
Frau.PL.DAT
pesti nép
inkább a
DEF.ART Pester Volk
lieber
feketekávét
DEF.ART schwarzer Kaffe.AKK
szereti […] (SM: 18)
mög.3SG
‘Das Pester Volk hat lieber den Schwarzen’ (SM: 21)
(3.u) […]
egy
engedheti
nem
INDEF.ART
Európába igyekvő
Europa.ILL eilend
NEG
‘eine Stadt, die sich Europa anschließen will, kann sich nicht leisten’ nála
jó
REFL.PRON.DAT
jegyet
kaphat. (Keszler (Hg.) 2000: 283)
Junge
‘Jungen können bei ihm/ihr keine guten Noten bekommen.’ most,
hogy
Note.AKK
nem
(5.u) De
er.ADE gut
PRT
Stadt
magának (MNSZ)
(4.u) Ø Fiú
leist.POT.3SG
meg
város
öregedett
NEG bekomm.POT.3SG
Szindbád, […],
aber jetzt megfontolta überleg.PST.3SG
dass alter.PST.3SG Sindbad szavát, még akkor is, Wort.POSS3SG.AKK noch dann auch
Ø nőkkel
beszélt. (SM: 12)
ha
wenn
Frau.PL.KOM
‘Doch jetzt, da Sindbad alterte, […], bedachte er sein Wort, auch dann noch, wenn er mit Frauen sprach.’ (SM: 13)
sprech.PST.3SG
Wie es aus den Beispielen ersichtlich wird, sind im Deutschen definit-pluralische (vgl. (1d)), indefinit-pluralische (vgl. (2d)), definit-singularische (vgl. (2d)) sowie indefinitsingularische Nominalphrasen (vgl. (3d)) möglich. Im Ungarischen werden diese Möglichkeiten um eine weitere ergänzt, da hier auch artikellose Individuativa im Singular vorkommen können (vgl. (4.u)). Die Tatsache, dass alle Nominalphrasentypen in generischen Sätzen vorkommen können, bedeutet weder, dass sie mit einer annähernd gleichen Häufigkeit vorkommen, noch, dass sie für einander austauschbar sind. Um die Vorkommenshäufigkeit der Nominalphrasentypen bzw. die Ähnlichkeiten und die Unterschiede zwischen den beiden Vergleichssprachen zu erfassen, wurde eine exemplarische kontrastive Analyse anhand literarischer Texte durchgeführt. Als Datengrundlage dienten der Roman „Szindbád
156
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
hazamegy“/„Sindbad geht heim“ von Sándor Márai (SM) und der zweisprachige Band „Moderne ungarische Erzählungen“ (UE). Die Analyse beansprucht selbstverständlich keine absolute Gültigkeit, vermag aber die Grundtendenzen darzustellen und Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Vergleichssprachen aufzudecken. In die Analyse wurden Nominalphrasen in generischen Sätzen in allen syntaktischen Funktionen aufgenommen. Nicht berücksichtigt wurden hingegen Possessivkonstruktionen, die im Ungarischen durch eine besondere Artikelverwendung ausgezeichnet sind (vgl. Abschnitt 4.1). Koordinierte Nominalphrasen wurden der Einfachheit halber als eine Einheit aufgefasst. Die Verschmelzungsformen im Deutschen wurden zu den definiten Nominalphrasen hinzugerechnet – im Bewusstsein dessen, dass ihr Status nicht eindeutig ist (vgl. Abschnitt 4.1). Die Vorkommenshäufigkeit der Nominalphrasentypen ist Tabelle 14 zu entnehmen. NP-Typ
def. sg. def. pl. indef. sg. Ø sg. Ø pl. Sonstiges Gesamt
Deutsch 148 106 21 2 7 5 289193
Ungarisch 157 107 13 5 5 3 290
Tab. 14: Vorkommenshäufigkeit der NP-Typen in generischen Sätzen
Wie es auch zu erwarten war, sind die definiten – singularischen und pluralischen – Nominalphrasen vorherrschend: Im Deutschen gibt es unter den Belegen 254 definite und nur 30 indefinite Nominalphrasen, im Ungarischen 264 definite und 23 indefinite.194 Wenn man die einzelnen Belege betrachtet, gibt es wenige Unterschiede zwischen den Vergleichssprachen. Das war teilweise zu erwarten, einerseits aufgrund der Untersuchungen des Artikelgebrauchs, andererseits auch aufgrund der Analysen von Behrens (2000, 2005). An manchen Stellen musste festgestellt werden, dass die Ähnlichkeiten/Übereinstimmungen auch aus der Korpusauswahl resultieren können: Bei einem Übersetzungskorpus beeinflusst auch die Qualität der Übersetzung die Analyse. Bei dem Roman von Márai musste festgestellt werden, dass der Übersetzer an einigen Stellen viel zu originalgetreu war. Bei solchen Textstellen beziehungsweise bei Belegen, die auffällige, schwer oder nicht erklärbare Unterschiede aufwiesen, wurde nachgeprüft, ob auch andere Nominalphrasentypen ohne Bedeutungsveränderung möglich gewesen wären. Wie schon erwähnt, weisen die Vergleichssprachen wenige Unterschiede auf. In ca. 90% der Belegen kommen in beiden Sprachen die gleichen Nominalphrasentypen vor: 193 194
Eine Nominalphrase des ungarischen Originals wurde nicht übersetzt. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Behrens (2000, 2005). Die Unterschiede resultieren einerseits aus der Korpusauswahl, andererseits daraus, dass Behrens generische Nominalphrasen allgemein, d.h. nicht nur in generischen Sätzen, untersucht hat.
Generizität
157
definit-singularisch (6), definit-pluralisch (7), indefinit-singularisch (8) oder indefinitpluralisch (9): (6.u) Óbudán
szeretik a
nem
Óbuda.SUP
NEG
lieb.3PL DEF.ART
hitelt. (SM: 10) Kredit.AKK
(6.d) In Óbuda liebt man den Kredit nicht. (SM: 11) (7.u) Egy
INDEF.ART
Zeit.INE
időben
könnyen,
hazudott
a
nőknek. (SM: 11)
lüg.PST.3SG
DEF.ART
leicht
szívesen gern
és
sokat
und
viel.AKK
Frau.PL.DAT
(7.d) Es hatte eine Zeit gegeben, da er die Frauen leicht, gern und häufig anlog. (SM: 12) (8.u) Mert
a
denn
DEF.ART
régi alt
„London“-ban
minden, […], amit
alles
REL.PRON.AKK
aki
REL.PRON
s
megvetette
veracht.PST.3SG
szerette
a
egy
a
DEF.ART
korszerű
divatokat
zeitgemäß
Mode.PL.AKK
egy
fogadótól
és
und
úriember,
életmódot
volt
Edelmann
férfias
und lieb.PST.3SG DEF.ART mannhaft
együtt
tatsächlich zusammen sein.PST.3SG
INDEF.ART
szórakozásokat,
valóban
London.INE
Vergnügung.PL.AKK INDEF.ART
Lebensweise.AKK Gasthof.ABL
megkövetelhetett. (SM: 90)
verlang.POT.PST.3SG
(8.d) Denn im alten „London“ war tatsächlich […] alles beisammen, was ein Edelmann, der die zeitgemäßen Moden verachtete und eine Lebensweise und Vergnügungen mannhafter Art liebte, von einem Gasthof verlangen konnte. (SM: 112) (9.u) De
aber
most, jetzt
megfontolta
überleg.PST.3SG
ha
wenn
hogy
dass
öregedett
alter.PST.3SG
szavát,
Wort.POSS3SG.AKK
Ø nőkkel
Frau.PL.KOM
Szindbád, […]
Sindbad
még
noch
akkor
dann
is,
auch
beszélt. (SM: 12) sprech.PST.3SG
(9.d) Doch jetzt, da Sindbad alterte, […], bedachte er sein Wort, auch dann noch, wenn er mit Ø Frauen sprach. (SM: 13)
Unter den Belegen gibt es nur einen einzigen, in dem in beiden Vergleichssprachen ein singularisches Individuativum scheinbar ohne Artikel steht. Hierbei handelt es sich aber um zwei, mit der Konjunktion oder verbundene Nominalphrasen, von denen die erste mit dem indefiniten Artikel steht:
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
158 (10.u) mint
wie
egy
nagy
művész
INDEF.ART groß
bukott,
gestürzt
egykor ünnepelt einmal
lehetőleg
möglichst
gefeiert
rangrejtve
inkognito
vagy
Künstler
oder
félelmes
és
und gefürchtet
szeretne
mög.KOND.3SG
politikus,
Politiker
maradni (SM: 120) bleiben
(10.d) und wie ein großer Künstler oder gestürzter, einmal gefeiert und gefürchtet gewesener Politiker möglichst inkognito bleiben möchte. (SM: 149)
Dass sich hier der Artikel auch auf die zweite Nominalphrase beziehen muss, sieht man auch daran, dass die artikellose Variante im Deutschen ungrammatisch wäre und im Ungarischen eine andere Bedeutung hätte (nämlich ungefähr paraphrasierbar mit „da er ein großer Künstler ist, möchte er möglichst inkognito bleiben“). Was das Deutsche betrifft, wird bei Präpositionalphrasen die Verschmelzungsform verwendet, sofern dies möglich ist: (11) […] ist es gewiß wichtig für ihn, die Beziehungen zur Presse zu pflegen. (SM: 12)
Im Folgenden wird auf die Unterschiede zwischen dem Deutschen und dem Ungarischen genauer eingegangen. Einige von ihnen waren insofern zu erwarten, als sie aus den unterschiedlichen allgemeinen Regeln für die Artikelverwendung resultieren. So wird im Fall von mit und koordinierten Nominalphrasen im Ungarischen der Artikel vor beide Nominalphrasen gesetzt, im Deutschen hingegen wird häufig entweder der zweite Artikel weggelassen (12) oder es wird überhaupt kein Artikel verwendet (13): (12.u) […] honnan
woher
és
tudja
wiss.3SG
a
all das.AKK
természet
und
a férfiakról és DEF.ART Mann.PL.DEL und az állatokról és
DEF.ART
DEF.ART
Natur
Tier.PL.DEL
szellemekről, a
a
mindezt
und
DEF.ART
tárgyakról
Gegenstand.PL.DEL
tüneményeiről,
Erscheinung.POSS3SG.PL.DEL
a DEF.ART a
nőkről, Frau.PL.DEL démoni
DEF.ART
babonákról
dämonisch
és
az
élet
hétköznapi,
Geist.PL.DEL DEF.ART Aberglaube.PL.DEL und DEF.ART Leben alltäglich
vajákos
titkairól – (SM: 22)
zauberisch Geheimnis.POSS3SG.PL.DEL
(12.d) woher er all das Wissen habe von den Dingen und Ø Naturerscheinungen, den Männern und Ø Frauen, den Tieren und Ø dämonischen Geistern, den Spielarten des Aberglaubens und den alltäglichen Gauklergeheimnissen des Lebens – (SM: 26) (13.u) […] mikor
wenn
versenyt
Wette.AKK
a
DEF.ART
vasalnak
bügel.3PL
háziasszony
Hausfrau
húsvét Ostern
és
a
cseléd
und DEF.ART Dienstmädchen
előtt (SM: 13)
vor
Generizität
159
(13.d) […] wenn Ø Hausfrau und Ø Dienstmagd vor Ostern um die Wette bügeln (SM: 15)
Zu erwarten war auch, dass artikellose singularische Individuativa mit dem indefiniten Artikel ins Deutsche übersetzt werden, da die artikellose Konstruktionsweise bei diesen Substantiven im Deutschen sehr beschränkt zu verwenden ist: (14.u) mert
azt
denn
das.AKK
ne
menjen
NEG
tartotta,
mein.PST.3SG
geh.IMP.3SG
hogy Ø úriember dass
Edelmann
idegenbe (SM: 80)
fremd.ILL
(14.d) denn er hielt dafür, ein Edelmann gehe nicht in die Fremde (SM: 99) (15.u) Volt
sein.PST.3SG
amit
valami etwas
itt
az
halandó
Ø
külországi
REL.PRON.AKK sterblich
érthetett
versteh.POT.PST.3SG
emberek
tekintetében […],
hier DEF.ART Mensch.PL Blick.POSS3SG.INE
meg
ausländisch
ember
nem
Mensch NEG
soha. (SM: 68)
PRT
nie
(15.d) Es war hier etwas im Blick der Menschen […], was ein sterblicher Ausländer nie begriff. (SM: 84)
Zu beachten ist jedoch, dass in beiden Belegen der indefinite Artikel auch im Ungarischen ohne Bedeutungsveränderung möglich wäre (vgl. Abschnitt 5.3). Da im Ungarischen die morphologischen Singularformen eher numerusneutral als singularisch aufzufassen sind, ist es nicht überraschend, dass ungarische singularische Nominalphrasen mit pluralischen Nominalphrasen ins Deutsche übersetzt wurden. Dabei sind im Deutschen sowohl definit-pluralische (16, 17) als auch artikellose pluralische (18) Nominalphrasen möglich: (16.u) Írt,
schreib.PST.3SG
ezt
mert
denn
a
sajnálta
bemitleid.PST.3SG
különös,
dies.AKK DEF.ART seltsam
a
DEF.ART
hallgatag
schweigsam
magyart,
Ungar.AKK
népet (SM: 76) Volk.AKK
(16.d) Er schrieb, weil er mit den Ungarn, mit diesem seltsamen, schweigsamen Volk Mitleid hatte. (SM: 94) (17.u) A
halottnak
DEF.ART Tot.DAT
dohánya –
nincs
sein.NEG.3SG Tabak.POSS3SG
mondta (SM: 115) sag.PST.3SG
(17.d) Die Toten haben keinen Tabak – sagte er (SM: 143)
(umgangssprachlich für: Die Toten haben kein Geld.)
(18.u) Szerette
lieb.PST.3SG
a
DEF.ART
piros rot
rózsát (UE: 32)
Rose.AKK
(18.d) Er hat Ø rote Rosen gemocht (UE: 33)
In den Sätzen (16.u) und (17.u) wäre im Ungarischen auch die Pluralform möglich, bei (18.u) wäre sie aber zumindest merkwürdig. Im Deutschen hingegen wären die unter-
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
160
suchten Nominalphrasen – in diesen Sätzen – im Singular nicht möglich oder hätten nicht die gewünschte Lesart. In anderen – ebenfalls generischen – Sätzen können sie natürlich auch im Singular verwendet werden, so auch in der Fortsetzung von (16.d): (19.d) Der Ungar konnte streng, extrem und ausgelassen sein, doch nie war er grausam. (SM: 94)
Da im Ungarischen – zumindest in generischen Ausdrücken – artikellose pluralische Nominalphrasen häufig blockiert sind, kommt es vor, dass definit-pluralische Nominalphrasen mit artikellosen Nominalphrasen ins Deutsche übersetzt werden: (20.u) mert
weil
a
DEF.ART
és
kabáttolvajok Manteldieb.PL
zárkózott
und
munka közben
Arbeit während
igen
sehr
komoly
ernst
emberek (UE: 36)
verschlossen
Mensch.PL
(20.d) weil Ø Manteldiebe während der Arbeit sehr ernste und verschlossene Menschen sind (UE: 37) (21.u) Imádom
lieb.1SG
a
DEF.ART
platánokat (UE: 56)
Platane.PL.AKK
(21.d) Ich liebe Ø Platanen (UE: 57)
An dieser Stelle soll ergänzt werden, dass die ungarischen Nominalphrasen ohne Artikel in diesen Sätzen ungrammatisch wären, während im Deutschen auch die artikelhaltige Form möglich wäre. In diesem Fall wäre aber (21.d) ambig, da der Satz ohne Kontext sowohl generisch als auch definit interpretiert werden könnte. Bis jetzt ging es um Unterschiede, die aufgrund der allgemeinen Regeln für Artikelverwendung gewissermaßen „vorhersagbar“ waren. Im Folgenden soll auf weitere Unterschiede im Artikelgebrauch in generischen Sätzen eingegangen werden, welche sich bei der Analyse ergaben. In zwei Belegen kam es vor, dass eine artikellose pluralische Nominalphrase mit einer definit-pluralischen Nominalphrase ins Deutsche übersetzt wurde: (22.u) Ø fiatal költők
számára az
jung Dichter.PL für
az
irodalom
DEF.ART Literatur
és
DEF.ART
a
und DEF.ART
egyetlen einzig
egészséges
gesund
dolog
Ding
kávéház. (SM: 57) Café
(22.d) für die jungen Dichter das einzig Gesunde die Literatur und das Café sind. (SM: 70)
Bei näherer Betrachtung stellt sich aber heraus, dass in beiden Sprachen sowohl die artikellose als auch die artikelhaltige Formulierung ohne Bedeutungsveränderung möglich wäre. So ist dieser Unterschied im Artikelgebrauch der Willkür des Schriftstellers beziehungsweise des Übersetzers zu verdanken. In zwei Fällen wurde eine definit-singularische Nominalphrase mit einer indefinitsingularischen ins Deutsche übersetzt:
Generizität
161
(23.u) Szegény méltóságos
arm
úgy
so
asszony,
gnädig
bámult,
Frau
akár
wie
az
úgy bámult
starr.PST.3SG so
ügyefogyott kis
DEF.ART unbeholfen
starr PST.3SG
utána az nach
árva,
klein Waise
elveszített
DEF.ART verloren
emberének. (UE: 18)
Mann.POSS3SG.DAT
(23.d) Arme gnädige Frau, wie ein ratloses kleines Waisenkind starrte sie, starrte sie ihrem verlorenen Mann nach. (UE: 39) (24.u) Egyszer az
einmal
azt
das.AKK
van,
sein.3SG
egyik csapatbeli
DEF.ART
ein
in-der-Mannschaft
mondta
neki,
sag.PST.3SG
hogy olyan
er.DAT dass
mint az
wie
suhanc […]
Bursche
solch
pofája
Visage.POSS3SG
agg kosnak (UE: 46/48)
DEF.ART
alt
Bock.DAT
(24.d) Einmal hatte ein Bursche aus seiner Mannschaft […] zu ihm gesagt, er habe eine Visage wie ein alter Bock. (UE: 47/49)
Hier wäre im Deutschen – im Singular – der definite Artikel nicht möglich, da dadurch die Sätze, wenn sie überhaupt akzeptabel wären, nicht die intendierte Lesart aufweisen würden. Im Ungarischen hingegen wäre der indefinite Artikel ohne Bedeutungsveränderung möglich. Bei einem Beleg steht in der deutschen Übersetzung einer artikellosen singularischen Nominalphrase nicht der indefinite, sondern der definite Artikel: (25.u) Ezért
deshalb
kedvelte
mög.PST.3SG
Szindbád nyugodtan és
Sindbad
ruhig
ahogy Ø magyar
wie
ungarisch
und
a
bort
DEF.ART Wein.AKK
rendszeresen,
regelmäßig
férfihoz
Mann.ALL
illett. (SM: 108)
ziem.PST.3SG
(25.d) Darum war Sindbads Liebe zum Wein eine ruhige und geordnete, wie es sich für den Ungarnmann ziemte. (SM: 134)
In diesem Fall geht es um exemplarische Generalisierung, ein typischer Vertreter der „Gattung“ ‘ungarischer Mann’ wird erwähnt. Um diese Lesart zu erhalten, sind im Ungarischen der Nullartikel und der indefinite Artikel möglich. Letzterer hätte auch in (25.u) verwendet werden können, die definite Form wäre hingegen nicht akzeptabel. Auch im Deutschen ist bei exemplarischer Generalisierung eine definit-singularische Nominalphrase unüblich, eine indefinite wäre auch möglich gewesen. Es gibt Belege, in denen definit-pluralische Nominalphrasen des Ungarischen mit singularischen ins Deutsche übersetzt wurden, wobei sowohl definite (26, 27) als auch indefinite (28) Nominalphrasen vorkommen:
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
162 (26.u) Ilyenkor
mindig
um diese Zeit
mert
immer
most
denn
a
Svábhegyen
az
nyílnak
jetzt
DEF.ART Svábhegy.SUP
van,
sein.3SG
orgonák (SM: 88)
aufblüh.3PL DEF.ART Flieder.PL
(26.d) Um diese Zeit ist er immer auf dem Svábhegy, denn jetzt geht der Flieder auf. (SM: 110) (27.u) Szindbád
tudta,
Sindbad
a
mint
als
hogy
wiss.PST.3SG dass DEF.ART
Magyarországon minden
Ungarn.SUP
jobb,
alles
besser
külországokban (SM: 102)
Ausland.PL.INE
(27.d) Sindbad wußte, daß in Ungarn alles besser ist als im Ausland (SM: 126) (28.u) borosan
és
angetrunken
tudta
und
könn.PST.3SG
– a
behunyt
geschlossen
szemmel
különböztetni […] – mint unterscheiden
tízest
DEF.ART Zehner.AKK
is
Auge.KOM wie
az
DEF.ART
meg
auch
a
DEF.ART
PRT
vakok
Blind.PL
ötvenestől (SM: 21)
Fünfziger.ABL
(28.d) auch in angeheitertem Zustande und mit geschlossenen Augen vermochte er […] – wie ein Blinder – den Zehner vom Fünfziger zu unterscheiden (SM: 25)
Zu bemerken ist jedoch, dass bei (26.u) auch die singularische Form ohne Bedeutungsveränderung möglich wäre. Bei der generischen Nominalphrase in (27.u) handelt es sich um eine veraltete Wortform, heute würde man eher den Ausdruck külföldön (Ausland. SUP) verwenden, der Unterschied würde also im Artikelgebrauch und nicht in der Numerusverwendung liegen. Die beiden Wörter – Ausland und külföld – sind unzählbar, somit ist die pluralische Form von vornherein ausgeschlossen. Im Fall von (28) wären in beiden Sprachen sowohl die definit-pluralischen als auch die indefinit-singularischen Formen möglich. Die generische Lesart wird in beiden Fällen gewährleistet, es lassen sich allerdings Bedeutungsunterschiede feststellen: Mit dem definiten Plural wird die Gesamtheit der Referenten der Nominalphrase erfasst, während es sich beim indefiniten Singular um eine exemplarische Generalisierung handelt. Zum Schluss werden noch die in der Tabelle 14 unter „Sonstiges“ aufgeführten Belege kurz erwähnt. Hier wurden einerseits Belege aufgeführt, die keinen Artikel, sondern ein anderes Determinativ aufweisen (29), oder in denen eine Gattung explizit genannt wird (30): (29.u) mert
denn
s
tisztelte
és
respektier.PST.3SG und
minden
und all-
más,
ander-
hasonló ähnlich
utálta
hass.PST.3SG
a
DEF.ART
villamost,
Straßenbahn.AKK
közlekedési eszközt (SM: 20)
Verkehrsmittel.AKK
(29.d) denn er hatte vor der Elektrischen und jedem anderen ähnlichen Verkehrsmittel Respekt und Abscheu (SM: 23)
Generizität
163
(30.u) Szindbád ismert
Sindbad
kenn.PST.3SG
a
régi
DEF.ART alt
még
noch
egyfajta
férfit
eine Art
Mann.AKK
Magyarországon (SM: 67)
Ungarn.SUP
(30.d) Sindbad hatte im alten Ungarn noch eine Art Männer gekannt. (SM: 82)
Andererseits gibt es Belege, in denen die ungarische definite Nominalphrase az ember mit dem generischen man (bzw. einer) ins Deutsche übersetzt wird: (31.u) hogy nem egyéb gyalázatosan veszett hajszánál,
dass
ami
NEG
anderes
verdammt
előbb-utóbb megrágja
REL.PRON
früher später
az
embert. (UE S.44)
DEF.ART
wahnwitzig
és
durchkau.3SG und
Hetzjagd.ADE
aztán
dann
kiköpi
ausspuck.3SG
Mensch.AKK
(31.d) dass es nichts anderes war als eine verdammt wahnwitzige Hetzjagd, die einen früher oder später durchkaut und dann ausspuckt. (UE: 45) (32.u) Mit
tud
rágni az
emberen
hat
was.AKK könn.3SG kauen DEF.ART Mensch.SUP sechs
ilyen
nap! (UE: 62)
solch- Tag
(32.d) Was können sechs solche Tage an einem zehren! (UE: 63)
Zusammenfassend lässt sich Folgendes feststellen: In generischen Sätzen können zwar – wie erwartet – in beiden Vergleichssprachen alle Nominalphrasentypen vorkommen, vorherrschend sind jedoch die definiten Nominalphrasen, von denen die singularischen in der Mehrheit sind. Die indefiniten Nominalphrasen – mit indefinitem oder Nullartikel – machen in beiden Sprachen etwa 10% der Belege aus, wobei deren Anteil im Ungarischen etwas niedriger ist als im Deutschen. Ferner zeigt sich, dass die beiden Sprachen in diesem Bereich nur wenige Unterschiede aufweisen: Zum einen können im Ungarischen in generischen Sätzen (wie auch in nicht-generischen) singularische Individuativa mit Nullartikel stehen, während diese Konstruktion im Deutschen sehr beschränkt anwendbar ist. Zum anderen sind in generischen Ausdrücken im Ungarischen pluralische Nominalphrasen mit Nullartikel häufig blockiert.
7.4 Determinative in generischen Ausdrücken In generischen Ausdrücken können nicht nur die Artikel, sondern auch andere Determinative verwendet werden. In erster Linie geht es um die Allquantoren aller/jeder bzw. minden/mindegyik und die Demonstrativa dieser/jener bzw. ez/az. Des Weiteren sind auch Existenzquantoren wie zum Beispiel einige möglich. Im Folgenden wird auf die Allquantoren und auf die Demonstrativa genauer eingegangen.195 195
Auf diese Verwendungsweise der genannten Determinative wird zwar in der einschlägigen Literatur häufig eingegangen (vgl. Gerstner-Link 1995; Krifka et al. 1995), ausführlicher wurde sie m.W. aber nicht analysiert.
164
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
Mit Blick auf die Verwendung von Allquantoren und Demonstrativa in generischen Ausdrücken habe ich mich auf zwei Hauptfragen konzentriert. Die erste Frage bezieht sich auf die Vorkommenshäufigkeit, d.h. darauf, wie oft die betroffenen Determinative in generischen Ausdrücken verwendet werden, im Gegensatz zu den partikulären Verwendungen; die zweite auf die möglichen Bedeutungen bzw. Lesarten der betroffenen Nominalphrasen. Als Datengrundlage für die kontrastive Analyse dienten Belege aus dem DeReKo und dem Ungarischen Nationalkorpus (MNSZ), wobei nach dem Zufallsprinzip bei jedem Determinativ jeweils 1000 Treffer analysiert wurden. Es wurde darauf geachtet, dass diverse Subkorpora berücksichtigt werden, so dass unterschiedliche Textsorten in die Analyse mit einbezogen wurden. Die Frage nach der Vorkommenshäufigkeit lässt sich vergleichsweise einfach beantworten. Wie zu erwarten, werden die untersuchten Determinative in generischen Ausdrücken relativ selten verwendet:196 Deutsch
Anzahl 20 aller 35 Allquantoren jeder 5 sämtlicher Allquantoren insgesamt 60 dieser 14 Demonstrativa jener 3 Demonstrativa insgesamt 17
Prozentzahl 2% 3,5% 0,5% 2% 1,4% 0,3% 0,85%
Ungarisch Anzahl Prozentzahl 16 1,6% minden 0,4% mindegyik 4 ez az
20 6 3 9
1% 0,6% 0,3% 0,45%
Tab. 15: Vorkommenshäufigkeit von Allquantoren und Demonstrativa in generischen Ausdrücken
Die Vergleichssprachen weisen – wider Erwarten – erhebliche Unterschiede auf: Während im Deutschen unter den Gebrauchsweisen der Allquantoren die generische Verwendung ungefähr genauso häufig ist wie beim definiten Artikel, kommen die betreffenden ungarischen Allquantoren in generischen Kontexten wesentlich seltener vor. Da Demonstrativa in generischen Kontexten nur in einer taxonomischen Lesart möglich sind, ist ihre geringe Vorkommenshäufigkeit insgesamt zu erwarten. Bemerkenswert ist jedoch, dass im Deutschen die Demonstrativa in generischen Ausdrücken doppelt so häufig sind wie im Ungarischen. Die scheinbare Übereinstimmung in der Vorkommenshäufigkeit von jener und az lässt sich dadurch erklären, dass jener insgesamt selten verwendet wird. Was die zweite Frage betrifft, hinsichtlich der Lesarten der generischen Ausdrücke mit den berücksichtigten Determinativen, ergibt sich insofern ein differenzierteres Bild, als die Allquantoren mehrere Lesarten aufweisen. Diese werden im Folgenden ausführlicher dargestellt. Im Deutschen wurden die Allquantoren aller, jeder und sämtlicher untersucht. Die Identifizierung der Beispiele wurde dadurch erschwert, dass Allquantifizierung und Ge196
Vgl. auch die Tabelle 1, aus der ersichtlich wird, dass der definite Artikel in beiden Vergleichssprachen in etwa 2% aller Verwendungen generisch gebraucht wird.
Generizität
165
neralisierung häufig nicht scharf genug getrennt werden können. Lediglich bei generischen Sätzen lässt sich ein Bedeutungsunterschied verhältnismäßig leicht feststellen: In diesen Fällen sind auch Ausnahmen erlaubt, was bei Allquantifizierung per definitionem unmöglich ist. Für aller lassen sich in generischen Sätzen zwei Grundbedeutungen feststellen: Einerseits wird mit diesem Determinativ die ganze Gattung beziehungsweise jeder einzelne Vertreter der Gattung bezeichnet. Dabei sind Ausnahmen zulässig, das heißt, der Satz bleibt auch dann wahr, wenn es Vertreter der bezeichneten Gattung gibt, auf die das Prädikat nicht zutrifft: (1)
Das ist, wie alle Hobbygärtner wissen, eine verstellbare Winkelkonstruktion, die mittels einer Schraube mit Flügelmutter auf die Stärke des jeweiligen Balkongeländers eingestellt werden kann. (M95TG/505.00023 Mannheimer Morgen, 26.5.1995)
(2)
Über Nacht war er zum „zweifellos größten lebenden Dramatiker“ aller Deutschen geworden. (M96TG/601.00002 Mannheimer Morgen, 2.1.1996)
Andererseits wird mit aller eine taxonomische Lesart ausgedrückt, mit der alle Subgattungen der betroffenen Gattung gemeint sind: (3)
Gehölze heißen alle mehrjährigen Pflanzen mit verholzenden Trieben und je nach Wuchsform Bäume oder Sträucher. (M91TG/101.28681 Mannheimer Morgen, 11.1.1991)
(4)
Seit alle Herbizide aus dem Park verbannt sind, geht es auch den Vögeln besser. (M94TG/406.12958 Mannheimer Morgen, 7.6.1994)
Auch jeder kann in generischen Ausdrücken die ganze Gattung bezeichnen, wobei hervorgehoben wird, dass die genannte Eigenschaft auf jeden einzelnen Vertreter der Gattung zutrifft. Bei generischen Sätzen sind auch hier Ausnahmen erlaubt: (5)
Und Angst verschließt, wie jeder Reisende weiß, die Türen. (LIMTG/LI1.00071 EibEibesfeld: Liebe)
(6)
Wir haben in Deutschland ein ganz besonderes Akzeptanzproblem, da jeder deutsche Mann ja irgendwann einmal Lokomotivführer werden wollte – den Bundeskanzler einmal ausgenommen, der wollte immer nur Indianer werden. (M95TG/506.01178 Mannheimer Morgen, 1.6.1995)
Ebenso kann jeder – analog zu aller – eine taxonomische Lesart aufweisen. In diesem Fall wird jede einzelne Subgattung gemeint: (7)
55 Prozent der Bevölkerung bezeichneten den Schnupfen als die harmloseste Erkältungskrankheit, die übrigens, was die Verbreitung betrifft, an der Spitze steht. Er wird gefolgt, von: Husten, Grippe, Heiserkeit, Halsentzündung/Angina, Rachenentzündung, Bronchialkatarrh/Bronchitis, Mandelentzündung, Ohrenschmerzen/Mittelohrentzündung, Stirnhöhlenkatarrh, Lungenentzündung, Rippelfellenentzündung. Jede Erkältungskrankheit bringt Beschwerden mit sich, über deren Art und Häufigkeit ebenfalls Untersuchungen angestellt worden sind. (LIMTG/LI1.00038 Ja zum Leben, 1971)
166
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
(8)
Nicht jedem Tier kann man lange Autofahrten und große Temperaturunterschiede zumuten. Vögel und Kleintiere wie Meerschweinchen und Zwergkaninchen bekommen leicht Kreislaufbeschwerden oder Durchfall. Auch Katzen fällt die Ortsumstellung oft schwer. (M95TG/505.00610 Mannheimer Morgen, 30.5.1995)
Schließlich ist für jeder in generischen Sätzen auch eine dritte Lesart möglich, die so genannte „average property“-Lesart (s. Abschnitt 7.2). Wie schon erwähnt, wird mit dieser Lesart ein durchschnittlicher Vertreter der gegebenen Gattung bezeichnet, ohne dass ein solcher Vertreter tatsächlich existieren muss: (9)
Man kann heute davon ausgehen, dass im Schnitt jeder Bausparer 1,3 Bausparverträge besitzt. (LIMTG/LI1.00034 Eigenheim, Nov./Dez. 1970)
(10) Im Jahr 1970 wandte jeder Bundesbürger im Schnitt 1164 Mark für seine Gesundheit auf. (M91TG/101.27761 Mannheimer Morgen, Jan.1991) (11) Die gfu geht davon aus, daß zu jedem deutschen Haushalt sechs Audiogeräte gehören. (M94TG/406.12886 Mannheimer Morgen, 1.6.1994)
Das Determinativ sämtlicher wird wegen seiner stilistischen Markiertheit insgesamt seltener verwendet als die anderen Allquantoren. So kommt es auch in generischen Ausdrücken selten vor. Auffallend ist jedoch, dass alle fünf Belege eine taxonomische Lesart aufweisen, wie auch (12): (12) Gebaut werden in Mannheim Dieselmotoren in drei Baureihen zum Einbau in Nutzfahrzeuge, als Industriemotoren und Tauschmotoren. Sämtliche Motoren unterschreiten die heutigen Abgas- und Partikelgrenzwerte. (M91TG/105.05960 Mannheimer Morgen, 7.5.1991)
Für das ungarische minden bzw. mindegyik lässt sich Folgendes feststellen: Für minden ist in generischen Ausdrücken – nach den untersuchten Belegen – charakteristisch, dass die ganze Gattung bzw. jeder einzelne Vertreter bezeichnet werden (13, 14), wobei Ausnahmen möglich sind, d.h. das Prädikat muss nicht auf jeden einzelnen Vertreter der Gattung zutreffen. Eine taxonomische Lesart lag nur bei einem einzigen Beleg vor (15): (13) Maradhat
valaki
bleib.POT.3SG
ezt
jemand
minden
jed-
magányos mások
einsam
pedagógus Pädagoge
jelenlétében
andere Anwesenheit.POSS3SG.INE
is,
auch
tudja. (MNSZ)
das.AKK
wiss.3SG
‘Man kann auch in Anwesenheit anderer einsam sein, das weiß jeder Pädagoge.’
(14) Minden ember egy bizonyos fokig
jed-
mondta
színész,
de
legalábbis
Mensch ein bestimmt Grad.TERM Schauspieler aber zumindest
egyszer
valaki –,
jemand
és
ez
pozőr
Poseur
igaz. (MNSZ)
sag.PST.3SG einmal
und das wahr
‘Alle Menschen sind bis zu einem gewissen Grad Schauspieler oder zumindest Poseure – hat mal jemand gesagt – und das ist wahr.’
Generizität
167
(15) Minden művészet közül számunkra legfontosabb a
jed-
Kunst
von
für uns
‘Von allen Künsten ist für uns der Film am wichtigsten.’
film. (MNSZ)
am wichtigsten DEF.ART Film
Demgegenüber weisen alle vier Belege mit mindegyik eine taxonomische Lesart auf: (16) Nem
NEG
mindegyik
madár tudja
jed-
amit
Vogel
például
azt,
könn.3SG
a
gólyák. (MNSZ)
REL.PRON.AKK
‘Nicht alle Vögel können das, wozu zum Beispiel die Störche fähig sind.’
(17) […]
a
Holott
zum Beispiel DEF.ART
das.AKK
mindegyik szőlőnek
obwohl jed-
talaj-
Storch.PL
más
Weintraube.DAT ander-
és
éghajlati
Klima
igénye. (MNSZ)
DEF.ART Boden und
Bedürfnis.POSS3SG
‘Obwohl jede Weintraubensorte einen anderen Typ von Boden und ein anderes Klima braucht.’
Interessanterweise gab es keine Belege mit der „average property“-Lesart, obwohl sie auch – zumindest bei minden nicht ausgeschlossen ist: (18) Az
akciót
DEF.ART Aktion.AKK
az
iskolaév
ekkorra
kezdete
DEF.ART Schuljahr Beginn.POSS3SG
hagyományosan
traditionell átlagosan durchschnittlich
nagy
groß
időzítették,
mert
für-diese-Zeit zeitig.PST.3PL weil
előtt a
vor
bevásárlásokra
DEF.ART
ilyenkor,
zu-dieser-Zeit
családok
indulnak, és
Familie.PL
minden gyereknek
Einkauf.PL.SUB geh.3PL und all- Kind.DAT 392 dollár értékű új ruhát vesznek. (MNSZ)197 392 Dollar wertig neu Kleidung.AKK kauf.3PL
‘Das Sonderangebot war zu dieser Zeit gültig, weil zu dieser Zeit, vor Beginn des Schuljahrs, die Familien gewöhnlich große Einkäufe machen und für jedes Kind Kleidung für durchschnittlich 392 Dollar kaufen.’
Was die untersuchten Demonstrativa angeht, sind sie in generischen Ausdrücken erwartungsgemäß in erster Linie in einer taxonomischen Lesart möglich: (19) Da Geschiebemergel und Löß feinkörnigen Kalk enthalten, der aus den während des Eistransports zerriebenen Kalksteinen herstammt, brausen diese Gesteine mit kalter, verdünnter Salzsäure. (LIMTG/LI100242 Pape: Gesteinsbestimmung) (20) Ebenso gut kommen Hanfpalme, Fächerpalme, Dattelpalme, Palmlilien (Yucca) und die schönen Drazänen […] im Zimmer zurecht. Für die Fensterbank eignen sich diese Pflanzen allerdings nur zu Anfang, als kleine Exemplare. (M95TG/506.01643 Mannheimer Morgen, 17.6.0995) 197
Hier wurde im Subkorpus „Presse“ gezielt nach Belegen gesucht, in denen nach minden bzw. mindegyik innerhalb von drei Wörtern átlagosan (‘durchschnittlich’) folgt. Für mindegyik gab es mit dieser Suchoption keine Belege.
Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
168
(21) Ab 1996 übernimmt der Ludwigshafener Konzern den weltweiten Vertrieb des in Südafrika hergestellten L-Lysins. Diese Aminosäure ist eine Komponente für die Futtermilchproduktion. (M95TG/506.02164 Mannheimer Morgen, 8.6.1995)
Des Weiteren gibt es Belege, in denen sich dieser mit „solcher“ paraphrasieren lässt. Hierbei handelt es sich um generische Sätze. Die Bedeutung der jeweiligen Nominalphrasen lässt sich mit „Vertreter der vorher erwähnten Gattung“ umschreiben: (22) Es werden ja in steigendem Maße immer neue Berufsmöglichkeiten für ältere Ehefrauen erschlossen. Zunehmend und besonders dringend werden diese Frauen als Helferinnen für die Kranken-, Altenpflege, Haushaltspflege, als Aushilfslehrerinnen und Aushilfskindergärtnerinnen oder für sonstige soziale Tätigkeiten gesucht. (LIMTG/ LI1.00253 Schlißke: Altenbuch) (23) Man muß davon ausgehen, daß die wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten ihre Opfer vor allem da fordern, wo traditionell eine Schwachstelle des Nachfrage-Angebot-Gefüges liegt, nämlich in der Gruppe der Jugendlichen ohne oder mit einem nur dürftigen Hauptschulabschluß. Diese Kinder der zweiten Ausländergeneration gehören vielfach zu den dauerhaften Verlierern innerhalb der Arbeitswelt, müssen als gefährdet oder zumindest verführbar gelten. (M96TG/603.11635 Mannheimer Morgen, 11.3.1996)
Der Unterschied zwischen den Belegen (19) bis (21) beziehungsweise (22) bis (23) ist kleiner als er auf den ersten Blick zu sein scheint. In beiden Gruppen beziehen sich die Nominalphrasen mit dieser anaphorisch auf die vorher genannte(n) Gattung(en). Der Unterschied besteht lediglich darin, dass es sich bei (19) bis (21) um etablierte Subgattungen handelt, während die Antezedens-Ausdrücke in (22) und (23) (‘ältere Ehefrauen’ bzw. ‘Jugendliche ohne oder mit einem nur dürftigen Hauptschulabschluss’) keinesfalls etablierte Subgattungen bezeichnen. Die wenigen Belege mit jener weisen alle eine taxonomische Lesart auf. In diesen Belegen wird jener kataphorisch verwendet; die jeweilige Nominalphrase wird durch einen restriktiven Relativsatz erweitert: (24) Fremden gegenüber sind wir weniger tolerant. Das ist eine uns angeborene Disposition, die wir mit jenen geselligen Säugern teilen, die exklusive Verbände bilden. Dazu gehören auch die meisten Affen der Alten Welt. (LIMTG/LI1.00071 Eibl-Eibesfeld: Liebe)
Bei den ungarischen Demonstrativa ez/az kann Analoges festgestellt werden: In generischen Ausdrücken weisen sie eine Lesart auf, die sich als taxonomisch bezeichnen lässt. In diesen Fällen geht es zwar nicht immer um etablierte Subgattungen, es werden aber immer bestimmte Subtypen der genannten Gattung bezeichnet. Der Unterschied zwischen den beiden Demonstrativa liegt darin, dass ez anaphorisch, az kataphorisch und mit restriktiven Relativsätzen verwendet wird: (25) Ha
wenn
a
a
bikarbonát
DEF.ART Bikarbonat
kellő
genügend
vesecsatornácskákból,
akkor
DEF.ART Nierenkanälchen.PL.ELA dann
mennyiségben Menge.INE
szívódik
saug.3SG
minden rendben alles
Ordnung.INE
vissza
PRT
van,
sein.3SG
Generizität
169
míg
ha
während
a
wenn
fokozott adagban
erhöht
vizelettel,
ez
ürül
az
ion
Menge.INE sich-entleer.3SG dies- DEF.ART Ion
az valóságos
láncreakciót
das richtig
el,
DEF.ART Urin.KOM
és annak súlyos következményei lehetnek. (MNSZ) und das.DAT schwer Folge.POSS3SG.PL sein.POT.3PL ‘Wenn das Bikarbonat von den Nierenkanälchen in einer genügenden Menge aufgenommen wird, dann ist alles in Ordnung, aber wenn sich dieses Ion in einer erhöhten Menge mit dem Urin entleert, löst sich eine richtige Kettenreaktion aus, die schwere Folgen haben kann.’
(26) Legjobb
a
jól
a
lisztet
megtisztított búzából
am besten DEF.ART gut
Ezt
Kettenreaktion.AKK
indít
gesäubert
auslös.3SG
otthon
őrölt
PRT
Weizen.ELA zu Hause gemahlen
már
nem kell
átszitálni. (MNSZ)
dies.AKK DEF.ART Mehl.AKK schon NEG
‘Am besten ist das aus gut gesäubertem Weizen zu Hause gemahlene Mehl. Dieses Mehl muss man nicht mehr durchsieben.’
(27) Ez
das
már
schon
ki
is
derült,
müss.3SG
liszt.
Mehl
hiszen néhány év
PRT auch heraustell.PST.3SG da
gént,
durchsieben.
einige
jen.AKK DEF.ART Gen.AKK REL.PRON verantwortlich
azt
a
a
Huntington-betegség
amely
felelőssé
óta
Jahr seit
ismerjük
kenn.1PL
tehető
machbar
kialakulásáért. (MNSZ)
DEF.ART Huntington-Krankheit
Herausbildung.POSS3SG.KAUS
‘Das hat sich schon herausgestellt, da wir schon seit Jahren das Gen kennen, das für die Herausbildung der Huntington-Krankheit verantwortlich ist.’
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Unterscheidung zwischen generischen Nominalphrasen und generischen Sätzen tatsächlich – neben den semantischen – auch auf morphologisch-syntaktischen Unterschieden beruht. Bei den generischen Sätzen liegen keine Einschränkungen für die Bildung von Nominalphrasen vor. So hat sich herausgestellt, dass die unterschiedlichen Lesarten generischer Nominalphrasen auch Einfluss auf die Bildung möglicher Konstruktionen haben. Eine Nominalphrase mit indefinitem Artikel ist auch in unseren Vergleichssprachen in generischer Lesart nicht möglich, im Ungarischen ist aber bei manchen Lesarten eine Form mit Nullartikel bei singularischen Individuativa erlaubt. Die pluralische Form mit Nullartikel ist hingegen sowohl im Deutschen als auch im Ungarischen in einer generischen Lesart häufig blockiert. Man neigt offensichtlich dazu, diese Nominalphrasen als nicht-spezifische indefinite Nominalphrasen zu interpretieren. In generischen Ausdrücken können außer den Artikeln auch andere Determinative vorkommen, wie die Allquantoren und die Demonstrativa, die in der vorliegenden Arbeit detaillierter untersucht wurden. Diese Determinative kennzeichnen in generischen Ausdrücken entweder eine taxonomische Lesart oder eine abgeschwächte, d.h. Ausnahmen zulassende Allquantifikation.
8. Zusammenfassung und Ausblick
Die vorliegende Untersuchung hat einerseits gezeigt, dass die sprachtypologisch-kontrastive Methode auch bei einem Vergleich von nur zwei Sprachen sinnvoll ist, andererseits, dass es im Gebrauch der Determinative in den beiden Vergleichssprachen neben vielen Ähnlichkeiten auch zahlreiche Unterschiede gibt, die erst bei einem zielgerichteten Vergleich deutlich hervortreten. Im Folgenden werden zuerst die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst, dann wird ein Ausblick gegeben und es werden diejenigen Fragen skizziert, deren Beantwortung noch ausgeblieben ist. Bei einer sprachtypologisch-kontrastiven Analyse wird das Tertium Comparationis durch die Sprachtypologie vorgegeben. In der vorliegenden Arbeit war das die semantisch-pragmatische Funktion der Determinative. In den beiden Vergleichssprachen sind die Determinative fähig, die Partikularität oder die Generizität einer Nominalphrase zu kennzeichnen, wobei die partikulären Nominalphrasen entweder definit oder indefinit sein können. Beide Sprachen weisen die gleichen Untergruppen von Determinativen auf, die Definitheit oder Indefinitheit markieren können. Eine Ausnahme bilden hier die ungarischen Possessivsuffixe, die – nach der Kategorisierung von Zifonun (2005) – definitheitsunspezifisch sind. Diese Feststellung konnte auch durch die Analyse in der vorliegenden Arbeit bestätigt werden. Die Determinative weisen einerseits universelle Eigenschaften auf, wie sie in der Literatur z.T. schon beschrieben worden sind (s. z.B. Hawkins 1978 zu den Gebrauchsweisen des definiten Artikels), andererseits haben sie auch einzelsprachspezifische Gebrauchsweisen, die sich möglicherweise erst bei einem Vergleich herauskristallisieren. Definitheit können in den beiden Vergleichssprachen der definite Artikel, die Demonstrativa und die Allquantoren markieren. Im Deutschen gehören auch die Possessiva zu den Definitheitsmarkierern. Der definite Artikel hat im Deutschen und im Ungarischen – wie auch in den anderen Sprachen mit definitem Artikel – die gleichen Hauptfunktionen. Im Ungarischen wird er aber bei Neueinführung nicht verwendet, wenn die Nominalphrase durch einen restriktiven Relativsatz erweitert wird, bei den anderen Arten von Attributen ist er aber möglich. Der definite Artikel wird im Ungarischen auch nach den Demonstrativa ez/az und ihren Zusammensetzungen (obligatorisch) verwendet, diese Gebrauchsweise ist aber durch die Sprachgeschichte bedingt. Unter den Demonstrativa hat sich im Ungarischen az zu einem Korrelat für restriktive Relativsätze entwickelt. Diese
Zusammenfassung und Ausblick
171
Funktion wird im Deutschen in erster Linie vom Demonstrativum derjenige wahrgenommen, aber auch jener und der definite Artikel sind in dieser Verwendung möglich. Die Demonstrativa wurden auch in ihrer anamnestischen Verwendung untersucht, was Rückschlüsse auf den möglichen Grammatikalisierungsweg erlaubt. Der Vorschlag von Diessel (1999: 113) und Himmelmann (1997: 34), nach dem die anamnestische Verwendung der Demonstrativa die Vorstufe zum determinativen Gebrauch bildet, konnte zwar für das Deutsche nicht bestätigt werden, für das Ungarische könnte er aber durchaus zutreffen. Die restlichen definiten Determinative, die Allquantoren, weisen vor allem syntaktische Unterschiede – wie die Möglichkeit des Quantorenfloatings – auf. Unter den Determinativen, die Indefinitheit markieren, weisen die Existenzquantoren keine nennenswerten Unterschiede im Gebrauch auf. Von den anderen Indefinitheitsmarkierern kann im Deutschen der indefinite, im Ungarischen der Nullartikel in mehr Kontexten vorkommen als in der jeweils anderen Sprache. Das wirft in erster Linie die Frage nach dem Grammatikalisierungsgrad des ungarischen indefiniten Artikels auf. So zeigt sich, dass – im Gegensatz zu einer in der Literatur häufig vertretenen Ansicht (vgl. Kiefer 1994: 451) – der indefinite Artikel im Ungarischen in den seltensten Fällen tatsächlich optional ist. Häufig sind aber Nominalphrasen mit indefinitem Artikel im Hinblick auf Referenzialität, Spezifizität bzw. Rollen- und Individuenlesart ambig. Der Nullartikel löst diese Ambiguität auf, indem Nominalphrasen mit Nullartikel Nicht-Referentialität, Nicht-Spezifizität bzw. die Rollenlesart hervorheben. In einem Exkurs wurden auch die indefiniten Pendants der anamnestischen Demonstrativa untersucht, von denen festgestellt wurde, dass sie in erster Linie spezifisch oder generisch verwendet werden. Die Determinative des Deutschen weisen erheblich mehr Kombinationsmöglichkeiten auf als die des Ungarischen, die sich ihrerseits untereinander kaum kombinieren lassen. Die Kombinationsmöglichkeiten beeinflussen auch die Wortartenzugehörigkeit der betreffenden Elemente. Somit konnte die Zuweisung der Quantoren zur Wortklasse der Determinative begründet werden, auch wenn sie in dieser keinesfalls homogenen Gruppe eher den Randbereich bilden. Ferner liefern die Kombinationsmöglichkeiten ein Argument dafür, die adjektivischen Demonstrativa solcher/derartiger bzw. ilyen/olyan aus der Wortklasse der Determinative auszuschließen und sie eher zu den Adjektiven zu rechnen. Mit Blick auf Generizität muss zwischen generischen Nominalphrasen und generischen Sätzen unterschieden werden. Letztere weisen keine Einschränkungen für die Bildung von Nominalphrasen auf, die Determinative kommen aber in unterschiedlicher Häufigkeit vor. Generische Nominalphrasen werden – je nach Lesart – in beiden Sprachen vorzugsweise in einer definit-singularischen Form konstruiert, wobei die definitpluralische Form oft auch möglich ist. Im Deutschen ist oft die Konstruktion mit Nullartikel bei pluralischen Substantiven erlaubt. Dieser Typ ist im Ungarischen unmöglich, es gibt aber Lesarten, bei denen der Nullartikel mit Substantiven im Singular verwendet werden kann.
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Substantivdetermination im Deutschen und im Ungarischen
Die oben skizzierten Ergebnisse sprechen auch dafür, dass – zumindest im Bereich der Substantivdetermination – eine sprachtypologisch-kontrastive Analyse ergiebiger ist als eine Analyse mit den „traditionellen“ kontrastiven Methoden. In der vorliegenden Arbeit wurde eine funktional-typologische Vergleichsgrundlage vorausgesetzt, die es ermöglicht, einen ungerichteten Vergleich der beiden Sprachen in diesem Bereich auszuführen. Die Ergebnisse der vorliegenden Analyse könnten einerseits bei den Beschreibungen der beiden Vergleichssprachen, des Deutschen und des Ungarischen Anwendung finden. In den vorhandenen Beschreibungen wurde zum Beispiel der Spezifizität oder der Generizität wenig Beachtung geschenkt. Ich hoffe aber, dass die obige Analyse geholfen hat, diese Phänomene besser zu verstehen. Andererseits sind die Ergebnisse auch im Fremdsprachenunterricht und in der Praxis der Übersetzung verwendbar, und zwar unabhängig davon, welche von den beiden Vergleichssprachen die Ausgangssprache ist. Das wird durch den nicht gerichteten Vergleich ermöglicht. Was die Korpusauswahl anbelangt, haben die morphosyntaktisch annotierten elektronischen Korpora ermöglicht, eine verhältnismäßig große Anzahl von Beispielen zu untersuchen. Die Suche bzw. die Analyse wurde aber dadurch erschwert, dass beide Korpora zum Teil unterschiedliche Suchoptionen erlauben. Im ungarischen Korpus ist es zum Beispiel nicht möglich, nach Eigennamen zu suchen, weshalb diese von der Analyse leider ausgeklammert werden mussten. Auf dem Gebiet der Substantivdetermination bzw. des Gebrauchs der Determinative gibt es aber immer noch viele offene Fragen, die hier nicht geklärt werden konnten. Wünschenswert wäre unter anderem eine ausführliche diachrone Untersuchung des Gebrauchs der Determinative, die hier nur an manchen Stellen kurz angeschnitten werden konnte. Dadurch könnten synchrone Tendenzen besser erklärt werden. Auch eine Untersuchung der gesprochenen Sprache wäre interessant und würde zu vielen neuen Erkenntnissen verhelfen. Dazu wären aber größere Korpora der gesprochenen Sprache notwendig, die es meines Wissens für das Ungarische noch nicht gibt. Aber auch in dem hier untersuchten synchronen schriftsprachlichen Bereich wurden viele Fragen noch nicht beantwortet, so z.B. die der Verschmelzungen im Deutschen oder des Gebrauchs der Determinative in festen Wortverbindungen, Funktionsverbgefügen oder Phraseologismen. Die Beantwortung dieser Fragen wird noch sehr viel Forschungsaufwand benötigen.
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