Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele: Grundzüge von Immanuel Hermann Fichtes philosophischer Anthropologie 9783495825518, 9783495492321


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Table of contents :
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1 Einleitung
1.1 Ausgangspunkt
1.1.1 Die Unzulänglichkeit des gegenwärtigen Menschenbildes
1.1.2 Ein Beitrag zur gegenwärtigen Aufgabe der Philosophie des Geistes
1.1.3 Zur Berichtigung der »Unbill« der philosophiegeschichtlichen Würdigung von Immanuel Hermann Fichte
1.2 Lage des Forschungsmaterials
1.3 Forschungsstand
1.3.1 Thematische Schwerpunkte der Forschung zu Immanuel Hermann Fichte
1.3.2 Die Sekundärliteratur zur Philosophie des Geistes, Anthropologie und Psychologie Immanuel Hermann Fichtes
1.4 Fragestellung und Relevanz
1.5 Methode und Struktur
2 Immanuel Hermann Fichte im Kontext der nachidealistischen Philosophie
2.1 Der defizitäre Zustand der Historiographie der nachidealistischen Philosophie
2.2 Konturen einer Neugestaltung des historischen Bildes der nachidealistischen Philosophie
2.2.1 Einige allgemeinen Tendenzen der nachidealistischen Philosophie
2.2.2 Die Kontroversen der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts
2.2.2.1 Die Kontroverse um die göttlichen Dinge
2.2.2.2 Die Kontroverse um die Identität der Philosophie
2.2.2.3 Die Materialismus-Kontroverse
2.2.2.4 Die Darwinismus-Kontroverse
2.2.3 Vergessene Strömungen der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts
2.2.3.1 Der empiristisch-psychologische Idealismus
2.2.3.2 Der deutsche Spätidealismus
2.3 Immanuel Hermann Fichte als spätidealistischer Philosoph
3 Immanuel Hermann Fichtes wissenschaftstheoretische Grundlegung der philosophischen Anthropologie
3.1 Die Menschenfrage als systematischer Mittelpunkt der Philosophie Immanuel Hermann Fichtes
3.1.1 Retrospektive Würdigung der eigenen philosophischen Leistung
3.1.2 Die neuplatonische Präexistenzlehre im Kontext von Immanuel Hermann Fichtes Dissertation über den Ursprung des Neuplatonismus
3.1.3 »Gemütserschütterung« und »Begeisterung für das Edle und Tiefe«: Die geistig-existentielle Bestimmung der Philosophie
3.1.4 Die »Mysterien« der Seele und die »Psychologische Briefe«
3.1.5 Eine Entwicklungsgeschichte der Seele als Projekt für das Hauptwerk
3.1.6 Der »Ausbruch« innerster Einsichten im Kontext des Unsterblichkeitsstreits
3.1.7 Die zentrale Stellung der Menschen- und Seelenfrage
3.2 Begriff und Aufgabe der philosophischen Anthropologie
3.2.1 Existentielle Bestimmung der philosophischen Anthropologie
3.2.2 Disziplinäre Bestimmung der philosophischen Anthropologie
3.2.2.1 Die Preisgabe des Seelenbegriffs im 19. Jahrhundert
3.2.2.2 Postkritische Zurückforderung der Seele als Gegenstand der Anthropologie und der Psychologie
3.2.2.3 Einteilung der Philosophie des Geistes in Anthropologie und Psychologie
3.2.2.3.1 Die philosophische Anthropologie als Lehre der Wesensapriorität des menschlichen Geistes
3.2.2.3.2 Die Psychologie als Lehre des bewusstwerdenden, bewussten und selbstbewussten menschlichen Geistes
3.3 Die epistemologische Rechtfertigung einer spekulativen Wissenschaft der menschlichen Seele
3.3.1 Die Rückkehr zum »ehrlichen Weg Kants«
3.3.2 Der anthropozentrische Standpunkt als Vermittlungspunkt
3.3.3 Die Idee des menschlichen Erkennens
3.3.4 Genetische Epistemologie: Entfaltung des erkennenden Bewusstseins zum spekulativen Erkennen
3.3.4.1 Anfang der Philosophie und Methode der Epistemologie
3.3.4.2 Die Entwicklungsgeschichte des erkennenden Bewusstseins
3.3.4.2.1 Die Grundbestimmung des erkennenden Bewusstseins
3.3.4.2.2 Das Streben und die Hauptmomente der Entwicklungsgeschichte des Denkens
3.3.4.3 Der Standpunkt des spekulativ-anschauenden Erkennens
3.3.4.3.1 Die Entstehung des Erkenntnisproblems
3.3.4.3.2 Die Steigerung des Erkenntnisproblems zur »spekulativen Krisis« des Denkens
3.3.4.3.3 Die spekulative Wiederherstellung der Objektivität
3.3.4.3.4 Die Rückkehr der Spekulation zur Erfahrung
3.3.4.4 Die philosophische Anthropologie als aposteriorisch-spekulative Betrachtung des Menschen
3.4 Die aposteriorische Methode einer spekulativen Wissenschaft der menschlichen Seele
3.4.1 Die Seelenfrage als empirisches Problem
3.4.2 Die Unzulänglichkeit der apriorischen Methode
3.4.3 Die Verfahrensweise des aposteriorischspekulativen Erkennens
3.4.3.1 Spekulatives Erkennen durch Induktion, Analogie und Hypothese
3.4.3.2 Die Einschränkungen der aposteriorischen Methode
3.4.3.2.1 Von der apodiktischen Gewissheit zur philosophischen Wahrscheinlichkeit
3.4.3.2.2 Von der systematischen Geschlossenheit zur unendlichen Offenheit und Progression
4 Immanuel Hermann Fichtes philosophische Anthropologie
4.1 Doxographie und Kritik der Haupttheorien der Psychologie
4.1.1 Kritik am dualistischen Spiritualismus
4.1.1.1 Influxustheorie
4.1.1.2 Okkasionalismus
4.1.1.3 Prästabilismus
4.1.1.4 Die Unzulänglichkeit des substanzdualistischen Axioms
4.1.2 Kritik am monistischen Materialismus
4.1.2.1 Epiphänomenalistische Psychologie
4.1.2.2 Epiphänomenalistische Biologie
4.1.2.3 Die Unzulänglichkeit des materialistischen Begriffs des Realen
4.1.3 Kritik am identitätsphilosophischen Monismus
4.1.3.1 Spinozas realistischer Monismus
4.1.3.2 Schellings idealistischer Monismus
4.1.3.3 Hegels logischer Monismus
4.1.3.4 Die Unzulänglichkeit des pantheistischen Identitätsprinzips
4.1.4 Kritik am realistischen Individualismus
4.1.4.1 Das Ich als Vorstellung eines realen Wesens
4.1.4.2 Der Bildungsprozess der Ichvorstellung
4.1.4.3 Die Unzulänglichkeit des Einfachheitsbegriffs
4.1.5 Allgemeiner Seelenbegriff als heuristisches Prinzip
4.2 Beweis der Wesensapriorität und der Unvergänglichkeit der menschlichen Seele
4.2.1 Die Substantialität der menschlichen Seele
4.2.1.1 Die Realität der Seele unter dem Aspekt der Raumzeitlichkeit
4.2.1.1.1 Allgemeiner Begriff der Realität als Quantitierung des Qualitativen
4.2.1.1.2 Spezifischer Begriff der Realität als Setzung und Erfüllung von Raum und Zeit
4.2.1.1.3 Der Leib als die raumzeitliche Wirklichkeit der Seele
4.2.1.2 Die substantiellen Bestimmungen der Seele
4.2.1.2.1 Die Seele als einendes Prinzip
4.2.1.2.1.1 Einheit in der Mannigfaltigkeit
4.2.1.2.1.2 Die dynamische Allgegenwart der Seele im Leib
4.2.1.2.2 Die Seele als beharrliches Substrat
4.2.1.2.3 Die Seele als selbsterhaltende Kraft
4.2.1.2.4 Die Seele als progressives Wesen
4.2.2 Die Individualität der menschlichen Seele
4.2.2.1 Ontologische Einzelheit
4.2.2.2 Natürliche Individualität
4.2.2.3 Geistige Persönlichkeit (Genius)
4.2.2.3.1 Der Leib als »Vollgeberde« der Seele
4.2.2.3.2 Das Selbstbewusstsein als »die höchste Form der Persönlichkeit«
4.2.2.3.3 Das Verhältnis zum Ideengehalt
4.2.2.4 Exkurs: Persönlichkeit und Gemeinschaft. Die ethischen Implikationen der philosophischen Anthropologie
4.2.2.4.1 Die wechselseitige Ergänzung der Genien
4.2.2.4.2 Die praktischen Ideen als Inhalt des Grundwillens des Menschen
4.2.2.4.3 Die menschliche Persönlichkeit als die leitende Idee der Zukunft
4.2.3 Die Präexistenz der menschlichen Seele
4.2.3.1 Die Präexistenz als »Mittelzustand zwischen Nichtwirklichkeit und Wirklichkeit«
4.2.3.2 Die wesentlichen Eigenschaften der organischen Tätigkeit
4.2.3.3 Die Präexistenz der Seele als Bedingung des Verzeitlichungsprozesses in Zeugung, Verleiblichung und Bewusstwerdung
4.2.3.3.1 Der innere Leib als vorbildliches Prinzip
4.2.3.3.2 Die Phantasietätigkeit der Seele als schöpferische Kraft
4.2.4 Die Fortdauer der menschlichen Seele
4.2.4.1 Der physiologische Begriff der Seelenfortdauer
4.2.4.1.1 Der Tod als Moment des Lebensprozesses
4.2.4.1.2 Die Fortdauer der Organisationskraft
4.2.4.2 Der psychologische Begriff der Seelenfortdauer
4.2.4.2.1 Der Haupteinwand gegen die Idee der Fortdauer mit Bewusstsein
4.2.4.2.2 Die Fortdauer der Bewusstseinsquelle
4.2.4.2.2.1 Die Apriorität des Bewusstseinsvermögens
4.2.4.2.2.2 Leibentbundene Bewusstseinsphänomene als »Antizipationen des Todes«
4.2.4.3 Der historisch-ethische Begriff der Seelenfortdauer
4.2.4.3.1 Der Mensch in der Geschichte
4.2.4.3.1.1 Der Mensch als ein perfektibles und geschichtsbildendes Wesen
4.2.4.3.1.2 Die Unzulänglichkeit der Menschengeschichte zur Vervollkommnung der ethischen Bestimmung des Menschen
4.2.4.3.2 Die Fortdauer des Genius
4.2.4.3.2.1 Die individuelle »Lebenssumme«
4.2.4.3.2.2 Die unendliche Perfektibilität der Persönlichkeit
4.2.4.3.2.3 Exkurs: Fichte, Lessing und die Frage nach der Reinkarnation
5 Konklusion
Literaturverzeichnis
1 Primärliteratur
1.1 Immanuel Hermann Fichte
1.1.1 Werke
1.1.2 Buchkapitel, Zeitschriftenartikel, Rezensionen
1.1.3 Nachlass
1.2 Spätidealismus
1.3 Philosophie und Psychologie des 19. Jahrhunderts
1.4 Weitere Literatur
2 Sekundärliteratur
2.1 Immanuel Hermann Fichte
2.2 Philosophie und Psychologie des 19. Jahrhunderts
2.3 Weitere Literatur
Anhang
Tabelle 1. Immanuel Hermann Fichtes Leben und Werk
Abbildung 1. Auszug aus den Tagebüchern von Immanuel Hermann Fichte
Abbildung 2. Sekundärliteratur in chronologischer Reihenfolge
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Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele: Grundzüge von Immanuel Hermann Fichtes philosophischer Anthropologie
 9783495825518, 9783495492321

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A

Cristián Hernández Maturana

Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele Grundzüge von Immanuel Hermann Fichtes philosophischer Anthropologie

ϑ

ALBER THESEN

https://doi.org/10.5771/9783495825518

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B

Cristián Hernández Maturana Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele Grundzüge von Immanuel Hermann Fichtes philosophischer Anthropologie Mit einem Vorwort von Frederick Beiser

ALBER THESEN

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https://doi.org/10.5771/9783495825518 .

https://doi.org/10.5771/9783495825518 .

Cristián Hernández Maturana

Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele Grundzüge von Immanuel Hermann Fichtes philosophischer Anthropologie Mit einem Vorwort von Frederick Beiser

Verlag Karl Alber Baden-Baden

https://doi.org/10.5771/9783495825518 .

Cristián Hernández Maturana Substantiality, Individuality, Preexistence and Perduration of the Human Soul Main Features of Immanuel Hermann Fichte’s Philosophical Anthropology This book addresses the question of the nature and the immortality of the human soul in the context of Immanuel Hermann Fichte’s philosophical anthropology. In particular, it undertakes a systematic and immanent reconstruction of Fichte’s argument for the substantiality, individuality, preexistence, and perduration of the human soul. This monographic investigation fills a research gap which is long pending and offers not only impulses for research on late idealism, but also and above all important insights and guiding principles for a philosophy of the human spirit adequate for the present.

The author: Cristián Hernández Maturana studied Psychology at the Pontificia Universidad Católica de Chile (2011) and completed a Master of Arts in Philosophy at the Friedrich-Schiller-Universität Jena (2014). He received his PhD in 2020 from the Pontificia Universidad Católica de Chile and the Universität Hildesheim in the framework of a cotutelle agreement. Since the completion of his PhD, he has been a Postdoctoral Research Fellow at the Institute of Philosophy of the Pontificia Universidad Católica de Chile.

https://doi.org/10.5771/9783495825518 .

Cristián Hernández Maturana Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele Grundzüge von Immanuel Hermann Fichtes philosophischer Anthropologie Dieses Buch befasst sich mit der Frage nach dem Wesen und der Unsterblichkeit der menschlichen Seele im Kontext der philosophischen Anthropologie Immanuel Hermann Fichtes. Insbesondere nimmt es sich eine systematische und immanente Rekonstruktion des Argumentes Fichtes für die Substantialität, die Individualität, die Präexistenz und die Fortdauer der menschlichen Seele vor. Diese monographische Untersuchung erfüllt eine lange anhängige Lücke der Forschung und bietet nicht nur Anregungen für die Forschung zum Spätidealismus, sondern auch und vor allem wichtige Einsichten und Anhaltspunkte für eine der Gegenwart angemessene Philosophie des menschlichen Geistes.

Der Autor: Cristián Hernández Maturana studierte an der Pontificia Universidad Católica de Chile Psychologie (2011) und schloss an der FriedrichSchiller-Universität Jena einen Master of Arts in Philosophie ab (2014). Er promovierte 2020 im Rahmen einer Cotutelle an der Pontificia Universidad Católica de Chile und an der Universität Hildesheim. Seit dem Abschluss seiner Promotion ist er Postdoktorand am Institut für Philosophie der Pontificia Universidad Católica de Chile.

https://doi.org/10.5771/9783495825518 .

Alber-Reihe Thesen Band 83

Das Promotionsprojekt 21150375 wurde von der Agencia Nacional de Investigación y Desarrollo (ANID) von Chile durch ein Promotionsstipendium im Rahmen des Programms »Becas Nacionales« gefördert. Die Veröffentlichung wurde mit Mitteln des Fachbereichs Kulturwissenschaften und Ästhetische Kommunikation der Stiftung Universität Hildesheim und der Vicerrectoría de Investigación der Pontificia Universidad Católica de Chile gefördert

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© VERLAG KARL ALBER – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2022 Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper

www.verlag-alber.de ISBN 978-3-495-49232-1 (Print) ISBN 978-3-495-82551-8 (ePDF)

https://doi.org/10.5771/9783495825518 .

Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Frederick Beiser . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Die Unzulänglichkeit des gegenwärtigen Menschenbildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Ein Beitrag zur gegenwärtigen Aufgabe der Philosophie des Geistes . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Zur Berichtigung der »Unbill« der philosophiegeschichtlichen Würdigung von Immanuel Hermann Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Lage des Forschungsmaterials . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Thematische Schwerpunkte der Forschung zu Immanuel Hermann Fichte . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Die Sekundärliteratur zur Philosophie des Geistes, Anthropologie und Psychologie Immanuel Hermann Fichtes . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Fragestellung und Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Methode und Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2

21 23

24 26 27 27

35 42 47

Immanuel Hermann Fichte im Kontext der nachidealistischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . .

51

2.1 Der defizitäre Zustand der Historiographie der nachidealistischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . .

52

Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

A

https://doi.org/10.5771/9783495825518 .

7

Inhaltsverzeichnis

2.2 Konturen einer Neugestaltung des historischen Bildes der nachidealistischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Einige allgemeinen Tendenzen der nachidealistischen Philosophie . . . . . . . . . . 2.2.2 Die Kontroversen der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.1 Die Kontroverse um die göttlichen Dinge . . . . . 2.2.2.2 Die Kontroverse um die Identität der Philosophie . 2.2.2.3 Die Materialismus-Kontroverse . . . . . . . . . 2.2.2.4 Die Darwinismus-Kontroverse . . . . . . . . . . 2.2.3 Vergessene Strömungen der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . 2.2.3.1 Der empiristisch-psychologische Idealismus . . . 2.2.3.2 Der deutsche Spätidealismus . . . . . . . . . . . 2.3 Immanuel Hermann Fichte als spätidealistischer Philosoph . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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55 57 59 64 71 76 88 90 92 99

Immanuel Hermann Fichtes wissenschaftstheoretische Grundlegung der philosophischen Anthropologie . . . 101

3.1 Die Menschenfrage als systematischer Mittelpunkt der Philosophie Immanuel Hermann Fichtes . . . . . . . . . 3.1.1 Retrospektive Würdigung der eigenen philosophischen Leistung . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Die neuplatonische Präexistenzlehre im Kontext von Immanuel Hermann Fichtes Dissertation über den Ursprung des Neuplatonismus . . . . . . . . 3.1.3 »Gemütserschütterung« und »Begeisterung für das Edle und Tiefe«: Die geistig-existentielle Bestimmung der Philosophie . . . . . . . . . . . 3.1.4 Die »Mysterien« der Seele und die »Psychologische Briefe« . . . . . . . . . . . . . . 3.1.5 Eine Entwicklungsgeschichte der Seele als Projekt für das Hauptwerk . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.6 Der »Ausbruch« innerster Einsichten im Kontext des Unsterblichkeitsstreits . . . . . . . . . . . . 3.1.7 Die zentrale Stellung der Menschen- und Seelenfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

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102

107 109 112 114 116

Cristián Hernández Maturana https://doi.org/10.5771/9783495825518 .

Inhaltsverzeichnis

3.2 Begriff und Aufgabe der philosophischen Anthropologie . 3.2.1 Existentielle Bestimmung der philosophischen Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Disziplinäre Bestimmung der philosophischen Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.1 Die Preisgabe des Seelenbegriffs im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.2 Postkritische Zurückforderung der Seele als Gegenstand der Anthropologie und der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.3 Einteilung der Philosophie des Geistes in Anthropologie und Psychologie . . . . . . . . . . 3.2.2.3.1 Die philosophische Anthropologie als Lehre der Wesensapriorität des menschlichen Geistes . . . 3.2.2.3.2 Die Psychologie als Lehre des bewusstwerdenden, bewussten und selbstbewussten menschlichen Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die epistemologische Rechtfertigung einer spekulativen Wissenschaft der menschlichen Seele . . . . . . . . . . . 3.3.1 Die Rückkehr zum »ehrlichen Weg Kants« . . . . 3.3.2 Der anthropozentrische Standpunkt als Vermittlungspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Die Idee des menschlichen Erkennens . . . . . . . 3.3.4 Genetische Epistemologie: Entfaltung des erkennenden Bewusstseins zum spekulativen Erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4.1 Anfang der Philosophie und Methode der Epistemologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4.2 Die Entwicklungsgeschichte des erkennenden Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4.2.1 Die Grundbestimmung des erkennenden Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4.2.2 Das Streben und die Hauptmomente der Entwicklungsgeschichte des Denkens . . . . . .

Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

116 116 120 120

123 126 129

133 144 145 150 153

156 157 160 161 165

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https://doi.org/10.5771/9783495825518 .

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Inhaltsverzeichnis

3.3.4.3 Der Standpunkt des spekulativ-anschauenden Erkennens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4.3.1 Die Entstehung des Erkenntnisproblems . . . . 3.3.4.3.2 Die Steigerung des Erkenntnisproblems zur »spekulativen Krisis« des Denkens . . . . . . . 3.3.4.3.3 Die spekulative Wiederherstellung der Objektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4.3.4 Die Rückkehr der Spekulation zur Erfahrung . . 3.3.4.4 Die philosophische Anthropologie als aposteriorisch-spekulative Betrachtung des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Die aposteriorische Methode einer spekulativen Wissenschaft der menschlichen Seele . . . . . . . . . . . 3.4.1 Die Seelenfrage als empirisches Problem . . . . . 3.4.2 Die Unzulänglichkeit der apriorischen Methode . 3.4.3 Die Verfahrensweise des aposteriorischspekulativen Erkennens . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3.1 Spekulatives Erkennen durch Induktion, Analogie und Hypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3.2 Die Einschränkungen der aposteriorischen Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3.2.1 Von der apodiktischen Gewissheit zur philosophischen Wahrscheinlichkeit . . . . . . 3.4.3.2.2 Von der systematischen Geschlossenheit zur unendlichen Offenheit und Progression . . . .

4

176 185 193

196 196 197 198 200 203 208 208 211

Immanuel Hermann Fichtes philosophische Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

4.1 Doxographie und Kritik der Haupttheorien der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Kritik am dualistischen Spiritualismus . . . . 4.1.1.1 Influxustheorie . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1.2 Okkasionalismus . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1.3 Prästabilismus . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1.4 Die Unzulänglichkeit des substanzdualistischen Axioms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10

173 173

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214 215 217 219 220

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222

Cristián Hernández Maturana https://doi.org/10.5771/9783495825518 .

Inhaltsverzeichnis

4.1.2 4.1.2.1 4.1.2.2 4.1.2.3

Kritik am monistischen Materialismus . . . . . . Epiphänomenalistische Psychologie . . . . . . . . Epiphänomenalistische Biologie . . . . . . . . . Die Unzulänglichkeit des materialistischen Begriffs des Realen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Kritik am identitätsphilosophischen Monismus . . 4.1.3.1 Spinozas realistischer Monismus . . . . . . . . . 4.1.3.2 Schellings idealistischer Monismus . . . . . . . . 4.1.3.3 Hegels logischer Monismus . . . . . . . . . . . 4.1.3.4 Die Unzulänglichkeit des pantheistischen Identitätsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Kritik am realistischen Individualismus . . . . . . 4.1.4.1 Das Ich als Vorstellung eines realen Wesens . . . 4.1.4.2 Der Bildungsprozess der Ichvorstellung . . . . . . 4.1.4.3 Die Unzulänglichkeit des Einfachheitsbegriffs . . 4.1.5 Allgemeiner Seelenbegriff als heuristisches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Beweis der Wesensapriorität und der Unvergänglichkeit der menschlichen Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Die Substantialität der menschlichen Seele . . . . 4.2.1.1 Die Realität der Seele unter dem Aspekt der Raumzeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1.1.1 Allgemeiner Begriff der Realität als Quantitierung des Qualitativen . . . . . . . . 4.2.1.1.2 Spezifischer Begriff der Realität als Setzung und Erfüllung von Raum und Zeit . . . . . . . . . 4.2.1.1.3 Der Leib als die raumzeitliche Wirklichkeit der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1.2 Die substantiellen Bestimmungen der Seele . . . 4.2.1.2.1 Die Seele als einendes Prinzip . . . . . . . . . 4.2.1.2.1.1 Einheit in der Mannigfaltigkeit . . . . . . . . 4.2.1.2.1.2 Die dynamische Allgegenwart der Seele im Leib 4.2.1.2.2 Die Seele als beharrliches Substrat . . . . . . . 4.2.1.2.3 Die Seele als selbsterhaltende Kraft . . . . . . . 4.2.1.2.4 Die Seele als progressives Wesen . . . . . . . .

Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

223 225 227 229 231 231 233 237 240 241 241 243 245 248 250 254 255 256 258 265 268 269 269 270 274 275 276

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https://doi.org/10.5771/9783495825518 .

11

Inhaltsverzeichnis

4.2.2 Die Individualität der menschlichen Seele . . . . 4.2.2.1 Ontologische Einzelheit . . . . . . . . . . . . . 4.2.2.2 Natürliche Individualität . . . . . . . . . . . . . 4.2.2.3 Geistige Persönlichkeit (Genius) . . . . . . . . . 4.2.2.3.1 Der Leib als »Vollgeberde« der Seele . . . . . . 4.2.2.3.2 Das Selbstbewusstsein als »die höchste Form der Persönlichkeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2.3.3 Das Verhältnis zum Ideengehalt . . . . . . . . 4.2.2.4 Exkurs: Persönlichkeit und Gemeinschaft. Die ethischen Implikationen der philosophischen Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2.4.1 Die wechselseitige Ergänzung der Genien . . . 4.2.2.4.2 Die praktischen Ideen als Inhalt des Grundwillens des Menschen . . . . . . . . . . . . . 4.2.2.4.3 Die menschliche Persönlichkeit als die leitende Idee der Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Die Präexistenz der menschlichen Seele . . . . . 4.2.3.1 Die Präexistenz als »Mittelzustand zwischen Nichtwirklichkeit und Wirklichkeit« . . . . . . . 4.2.3.2 Die wesentlichen Eigenschaften der organischen Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3.3 Die Präexistenz der Seele als Bedingung des Verzeitlichungsprozesses in Zeugung, Verleiblichung und Bewusstwerdung . . . . . . . 4.2.3.3.1 Der innere Leib als vorbildliches Prinzip . . . . 4.2.3.3.2 Die Phantasietätigkeit der Seele als schöpferische Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Die Fortdauer der menschlichen Seele . . . . . . 4.2.4.1 Der physiologische Begriff der Seelenfortdauer . . 4.2.4.1.1 Der Tod als Moment des Lebensprozesses . . . 4.2.4.1.2 Die Fortdauer der Organisationskraft . . . . . . 4.2.4.2 Der psychologische Begriff der Seelenfortdauer . . 4.2.4.2.1 Der Haupteinwand gegen die Idee der Fortdauer mit Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4.2.2 Die Fortdauer der Bewusstseinsquelle . . . . . 4.2.4.2.2.1 Die Apriorität des Bewusstseinsvermögens . . 4.2.4.2.2.2 Leibentbundene Bewusstseinsphänomene als »Antizipationen des Todes« . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

4.2.4.3 Der historisch-ethische Begriff der Seelenfortdauer 4.2.4.3.1 Der Mensch in der Geschichte . . . . . . . . . 4.2.4.3.1.1 Der Mensch als ein perfektibles und geschichtsbildendes Wesen . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4.3.1.2 Die Unzulänglichkeit der Menschengeschichte zur Vervollkommnung der ethischen Bestimmung des Menschen . . . . . . . . . . . . . 4.2.4.3.2 Die Fortdauer des Genius . . . . . . . . . . . . 4.2.4.3.2.1 Die individuelle »Lebenssumme« . . . . . . . 4.2.4.3.2.2 Die unendliche Perfektibilität der Persönlichkeit 4.2.4.3.2.3 Exkurs: Fichte, Lessing und die Frage nach der Reinkarnation . . . . . . . . . . . . . . . . .

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326 326 328

330 332 332 334 335

Konklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 1

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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 1. Immanuel Hermann Fichtes Leben und Werk . . . Abbildung 1. Auszug aus den Tagebüchern von Immanuel Hermann Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 2. Sekundärliteratur in chronologischer Reihenfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

363 364

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Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Immanuel Hermann Fichte . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Buchkapitel, Zeitschriftenartikel, Rezensionen 1.1.3 Nachlass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Spätidealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Philosophie und Psychologie des 19. Jahrhunderts 1.4 Weitere Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Immanuel Hermann Fichte . . . . . . . . . . . . 2.2 Philosophie und Psychologie des 19. Jahrhunderts 2.3 Weitere Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anhang

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Vorwort von Frederick Beiser

For most of the 20th century, the study of German 19th century philosophy had an established and stable curriculum. There was German idealism, which consisted in Kant, Fichte, Schelling and Hegel; there were the early existentialists, Kierkegaard and Nietzsche; there was the lonely grouchy figure of Arthur Schopenhauer; and, finally, there were the left-Hegelians and Karl Marx. Beyond these figures, few dared to venture. Of course, there were »academic philosophers«, but they were boring epigoni which could be safely ignored. Curriculae on 19th century philosophy in the Anglophone world included some or all these figures but rarely anyone else. There were two chief sources of this image of German philosophy: one was Hegel’s history of philosophy, which shaped the concept of idealism so that it would end with his own system; the other was Karl Löwith’s remarkable Von Hegel bis Nietzsche, which gave a lively account of developments after Hegel. Starting in the 1980s, this paradigm began to break down. It has proven itself to be remarkably limited in scope and intention. The scholarship of Dieter Henrich on the early history of philosophy in Jena revealed the many »minor« thinkers who were fundamental for the formation of German idealism; the research of Manfred Frank showed the philosophical richness and depth of the romantic movement, which had for so long been treated solely as a literary movement; and, finally, the study of the neo-Kantian movement by Klaus Köhnke had made clear its profound contribution to the history of 19th century philosophy. Gradually, it became evident that there was an enormous problem in the distribution of academic labor: there were not too many scholars chasing too few books—the standard complaint—but too few scholars to master too many books. Lying in the depths of history were mountains of unexplored material, which it would take generations to understand. Among the new found lands of 19th century history was the Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Vorwort von Frederick Beiser

field sometimes referred to as »late idealism«. It turns out that when Hegel ended his history of modern idealism with his own system he spoke much too soon. The idealist movement would not really end until the death of Ernst Cassirer in 1945; but long before then there were important spokesmen for the movement who kept alive the idealist legacy. Perhaps the chief late idealists were Adolf Trendelenburg (1802–1872) and Hermann Lotze (1816–1881); but there was a host of thinkers who fit under this label (Ignaz Troxler, Heinrich Chalybäus, Christian Weiβe, Moriz Carrière, Jakob Frohschammer), all of whom deserve examination. Not the least of these thinkers is the one to whom the present study is devoted: Immanuel Hermann Fichte. History has not been kind to Immanuel Hermann Fichte. He not only fell under the shadow of his very famous father, Johann Gottlieb Fichte, but he also had to struggle to find a position and make a name for himself. In the history of 19th century philosophy he has been usually allotted a few perfunctory paragraphs, which would stress his defense of theism and immortality; but that would make him sound like a reactionary Christian publicist. The originality and depth of Fichte’s many writings show him to be a central figure of late idealism, a thinker of no less stature than Trendenlenburg and Lotze. Cristián Hernández Maturana’s study brings to light many fascinating facets of Fichte’s thought which have gone largely unnoticed in the secondary literature: that the inspiration for Fichte’s belief in immortality came not from Christian but Greek sources; that Fichte eschewed the old rationalist a priori proofs for the immortality of the soul and instead fell back on a posteriori arguments from psychology and anthropology; that Fichte was completely familiar with all the controversies of his age and that his philosophy was his answer to them. Last but not least, Fichte developed his own original theory of mind-body relations: he maintained that the soul had to embody itself, that its essential nature was spatial and temporal. The Immanuel Herman Fichte that emerges from Hernández’s study is a full-blooded figure enmeshed in the controversies and concerns of his era. It places Fichte where he should be: in the center of the map in the study of late German idealism. Hernández’s discussion is a model of clarity and thoroughness, making it a necessary stopping point for anyone interested in the study of German 19th century philosophy. Frederick Beiser 16

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Syracuse, New York Cristián Hernández Maturana https://doi.org/10.5771/9783495825518 .

Danksagung

Das vorliegende Buch ist die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, welche in der Zeit von August 2016 bis Januar 2020 angefertigt und im Rahmen einer Cotutelle von der Facultad de Filosofía der Pontificia Universidad Católica de Chile und vom Fachbereich Kulturwissenschaften und Ästhetische Kommunikation der Universität Hildesheim angenommen wurde. Allen Personen und Institutionen, welche mich bei der Anfertigung und Veröffentlichung meiner Dissertation unterstützt haben, möchte ich an dieser Stelle meinen aufrichtigen Dank aussprechen. An erster Stelle möchte ich mich bei Prof. Dr. Harald Schwaetzer und Prof. Dr. Luis Mariano de la Maza nicht nur für ihre wissenschaftliche Unterstützung, sondern auch für ihr Zutrauen und die Freiheit, die sie mir zur Konzipierung und Durchführung meiner Arbeit gewährt haben, herzlich bedanken. Für die Übernahme des Zweitgutachtens an der Universität Hildesheim danke ich ebenso Prof. Dr. Wolfgang Christian Schneider. Ein ganz besonderer Dank gilt auch Prof. Dr. Frederick Beiser, der mich freundlicherweise mit einem Vorwort zu diesem Buch geehrt hat. Bei der Themenwahl und den Voruntersuchungen meiner Arbeit haben mich seine Worte ermutigt, trotzt des Risikos eine Dissertation über einen vernachlässigten Philosophen zu schreiben. Mit seinem Vorwort kommt diese Arbeit also zum vollen Kreis. Für konstruktive Anregungen und vielfältige Unterstützung in verschiedenen Phasen meiner Arbeit möchte ich mich besonders bei Prof. Dr. Carlos Cornejo, Prof. Dr. Eduardo Fermandois, Prof. Dr. Marcelo Boeri, Prof. Dr. Francisco de Lara und Dr. Iván de los Ríos bedanken. Meinen herzlichen Dank möchte ich ferner M.A. Johanna Hueck für die anregenden Gespräche, die produktive Zusammenarbeit und die freundliche Gesellschaft, die sie mir während meines Forschungsaufenthaltes in Bernkastel-Kues geleistet hat, aussprechen. Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Danksagung

Im Rahmen meines Forschungsaufenthaltes in Deutschland sei dem damaligen Institut für Philosophie der Cusanus Hochschule und dem jetzigen Philosophischen Seminar der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte dafür gedankt, mir den Raum zur ruhigen Arbeit sowie die Möglichkeit gewährt zu haben, an verschiedenen Doktorandenkolloquien einige Resultate meiner Forschung teilen und zur Diskussion bringen zu dürfen. Bei Frau Arietta Ruß von der Handschriftenabteilung der Württembergische Landesbibliothek Stuttgart bedanke ich mich für die Bereitstellung des Nachlasses von Immanuel Hermann Fichte. Außerdem möchte ich Dr. Jörg Ewertowski, der mir an der Rudolf Steiner Bibliothek in Stuttgart Zugang zu wichtigen unveröffentlichten Dokumenten des Nachlasses von Hermann Ehret gewährt hat, für sein freundliches Entgegenkommen und seine Hilfsbereitschaft herzlich danken. Dem Verlag Karl Alber möchte ich nicht nur für die Professionalität bei der Veröffentlichung dieses Buches, sondern auch für das Vertrauen in die Relevanz meiner Arbeit meinen aufrichtigen Dank aussprechen. Dr. Martin Hähnel danke ich sehr für die freundliche und hervorragende Begleitung der Veröffentlichung. Für die finanzielle Förderung durch ein vierjähriges Promotionsstipendium gilt mein besonderer Dank der damaligen Comisión Nacional de Investigación Científica y Tecnológica (CONICYT) und der jetzigen Agencia Nacional de Investigación y Desarrollo (ANID), ohne welche die Anfertigung dieser Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Ferner sei im Rahmen der Veröffentlichung des vorliegenden Buches sowohl dem Fachbereich Kulturwissenschaften und Ästhetische Kommunikation der Universität Hildesheim als auch der Vicerrectoría de Investigación der Pontificia Universidad Católica de Chile für die finanzielle Unterstützung durch einen Druckkostenzuschuss aufrichtig gedankt. Meinen herzlichen Dank möchte ich schließlich meinen Freunden und meiner Familie aussprechen, die mich während dieser Jahre auf vielfältige Weise unterstützt und begleitet haben.

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So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen, So sagten schon Sibyllen, so Propheten; Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt Geprägte Form, die lebend sich entwickelt. Δαιμων, Dämon Johann Wolfgang von Goethe

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1 Einleitung

1.1 Ausgangspunkt 1.1.1 Die Unzulänglichkeit des gegenwärtigen Menschenbildes Die gegenwärtige Kultur zeigt in Wissenschaft und Leben die Zeichen eines materialistischen Welt- und Menschenbildes, welches vor allem im 19. Jahrhundert eine konturierte Gestalt annahm und seitdem, nicht ohne währenddessen zunehmend verfeinert zu werden, sich in alle Kulturbereiche stark ausbreitete. Während seiner Entstehung und Entwicklung blieben die Philosophen jedoch nicht aus, welche angesichts dieser Verwissenschaftlichung des Welt- und Menschenbildes schon damals die Errichtung einer materialistischen Kultur antizipierten und befürchteten. Unter Berücksichtigung der sich in der Gegenwart mit hoher Geschwindigkeit ausbreitenden Technologisierung und Geistentleerung des Lebens sowie der schwärmerischen Verheißungen einer transhumanistischen Kultur darf man jene Antizipation und Befürchtung für durchaus treffend und berechtigt halten. Aus den Ergebnissen der physiologischen und neurobiologischen Forschung hat sich ein neurowissenschaftliches Menschenbild entwickelt, dem gemäß das Bewusstsein und dessen Funktionen letztendlich aus den materiellen und mechanischen Prozessen des Gehirns und des Nervensystems hervorgehen sollten. Auf diese Weise wird das Bewusstsein auf das Gehirn und das Nervensystem kausal reduziert und als das Epiphänomen solcher Prozesse betrachtet. Nun haben die Ergebnisse der informatischen Forschung dieses neurowissenschaftliche Menschenbild mit der Ansicht ergänzt, dass das Gehirn nicht mehr als ein biologisches Organ, sondern als ein informationsverarbeitender Apparat betrachtet werden soll. Auf diese Weise wird das Bewusstsein und dessen Funktionen als die durch Dekodierung entstandene virtuelle Spiegelung der Informationsprozesse betrachtet, welche nach algorithmischen Regeln in den elektroSubstantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Einleitung

chemischen Netzwerken des Gehirns stattfinden. Letztlich wird aus den Ergebnissen der genetischen und evolutionsbiologischen Forschung dieses neurowissenschaftliche und informatische Menschenbild als das höchste evolutionäre Produkt einer mechanisch durch Anpassung, Selektion und Deszendenz fortlaufenden Naturgeschichte dargestellt. 1 Dieses aus neurowissenschaftlichen, informatischen und darwinistischen Elementen bestehende Menschenbild ist jedoch nicht mehr nur eine bloß in akademischen Kreisen spekulierte, ohnmächtige Abstraktion, sondern es hat seinen Wirkungsbereich insofern erweitert, als es zu einer Abstraktion mit kulturgestaltenden Implikationen geworden ist. Mit anderen Worten: Die Hegemonie dieses Menschenbildes drückt sich nicht nur in seiner Ausbreitung in andere Disziplinen aus, wie beispielsweise in die Neurophilosophie, die Neuroästhetik, die Neuroethik oder die Neurotheologie, sondern auch und vor allem in seinen praktischen Implikationen für die ganze Kultur. Gerade dieses Menschenbild liegt nämlich allen praktischen und angewandten Bereichen der Kultur, wie der Medizin, der Pädagogik und der Ökonomie, zugrunde. Der Kranke, der Schüler und der Konsument werden nämlich unter einem solchen neurozentrischen Modell analysiert, um den neurobiologischen Ursachen des Verhaltens entsprechende Interventionen umzusetzen. Auf diese Weise zieht sich ein materialistisches Menschenbild durch alle Kulturpraktiken bestimmend und gestaltend hindurch. Neben dieser kulturgestaltenden Wirkung hat jenes Menschenbild auch psychologische Implikationen, insofern es das Selbstverständnis des Menschen im Verhältnis zur Welt und zum Leben tiefgreifend moduliert. Aus diesem materialistischen Menschenbild muss sich der individuelle Mensch für eine durchaus zufällige und vergängliche Erscheinung halten. Indem er sich seiner Zeitlichkeit inne wird, entwickelt er zugleich eine Furcht vor dem Tod, welche vor allem in der okzidentalen Kultur den Menschen überwältigt und bis hin zu den Kunstwerken zum Ausdruck kommt. In Romanen, Gedichten, Filmen, Serien usw. wird beispielsweise der Tod als das definitive Ende der Existenz dargestellt, welches vor allem verheerende Wirkungen auf den Menschen hat, sei es als Reaktion auf das Ereignis oder in Antizipation des Todes. Mit anderen Worten: Die verheerende Wirkung des Todes drückt sich einerseits als ein unaussprechliches 1

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Vgl. Tallis (1999), Gabriel (2015) und Fuchs (2017).

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Ausgangspunkt

Leiden wegen des Verlustes eines geliebten Menschen und andererseits als eine schaudervolle Angst vor der Perspektive des eigenen Todes aus. Nun lässt sich an diesem Leiden und an dieser Angst eine begleitende Perplexität beobachten, welches sich in die Vorstellung übersetzen lässt, dass der Tod nicht sein soll. Auf diese Weise gibt sich die allgemeinmenschliche Hoffnung auf die Unsterblichkeit kund, welche unter den dargestellten Bedingungen einer materialistischen Kultur nur verfälscht werden kann. Die höchste Idee der Unsterblichkeit, welche aus dem gegenwärtigen Menschenbild hervorgehen kann, ist nämlich die transhumanistische Idee einer digitalen oder informatischen Fortdauer. In diesem Sinne wird dem gegenwärtigen Menschen »[d]as Internet … als eine Plattform der Unvergänglichkeit präsentiert, auf die man dann hoffentlich einmal seinen vom Leib bereinigten Geist hochladen kann, um dann für immer als Informationsgespenst durch den unendlichen binären Raum zu surfen« (Gabriel, 2015, S. 34). Diese Binär- oder Quantenexistenz ist die höchste Form der Unsterblichkeit, auf welche der transhumanistische Mensch hoffen darf.

1.1.2 Ein Beitrag zur gegenwärtigen Aufgabe der Philosophie des Geistes Die Absurdität einer solchen Idee der Unsterblichkeit tritt bald zutage. Die Frage stellt sich nun, wie man dem dieser Idee zugrunde liegenden materialistischen Menschenbild entgegenwirken kann. Durch diese Fragestellung konturiert sich eine ausschlaggebende Aufgabe für die gegenwärtige und künftige Philosophie des Geistes, nämlich, »einen neuen Blick auf unsere Situation als geistige Lebewesen zu werfen« (Gabriel, 2015, S. 325). Nur durch eine tiefere Einsicht in das Wesen des Menschen kann man sodann ein neues Licht auf die Frage nach der Unsterblichkeit werfen. Gerade zur Erfüllung dieser Aufgabe versucht die vorliegende Arbeit einen Beitrag zu leisten. Zu diesem Zweck wird nämlich ein Philosoph in Betracht gezogen, der nicht nur zu denjenigen Denkern gehört, welche im 19. Jahrhundert vor der in der Gegenwart schon verwirklichten materialistischen Kultur warnten. Überdies trat er ihr entschieden mit einer philosophischen Anthropologie entgegen, welche auf der Erfahrung beruhend und aus ihr aufsteigend ein umfassendes Menschenbild und einen Beweis der Fortdauer des menschSubstantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Einleitung

lichen Geistes bietet. Unvermeidlich stellt sich jedoch die Frage, warum eine Arbeit, welche eine schon vor langer Zeit aus der Wissenschaft vertriebene Frage behandelt und welche darüber hinaus diese Frage nicht nach den gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Maßstäben naturalisiert, sondern insofern historisiert, als sie sich auf einen Philosophen eines dem gegenwärtigen Bewusstsein nicht mehr zugänglichen und es ansprechenden historischen Kontextes fokussiert, gerade in der Gegenwart von Interesse sein und irgendeinen Anspruch auf Relevanz und Aktualität erheben sollte. Trotzt der relativen Legitimität dieses Bedenkens muss man immerhin gegen seine Einseitigkeit feststellen, dass die Relevanz und Aktualität dieser Frage nicht in der – naturalisierenden oder historisierenden – Form ihrer Behandlung, sondern in der Kraft und der Notwendigkeit ihres Aufkommens in der menschlichen Existenz liegt. In diesem Sinne ist es kraft der immerwährenden Aktualität der Frage nach dem Wesen des Menschen durchaus berechtigt, sich auf einen beschränkten Zeitraum der Philosophiegeschichte zu fokussieren, um die systematische Befassung eines bestimmten Philosophen mit dieser Frage zu rekonstruieren und daraus Anhaltspunkte für die Gegenwart und die Zukunft zu gewinnen. In diesem Sinne sollte die abgezielte Rekonstruktion einen Beitrag zur gegenwärtigen Aufgabe der Philosophie des Geistes leisten, ein neues Verständnis über die geistige Existenz des Menschen zu begründen.

1.1.3 Zur Berichtigung der »Unbill« der philosophiegeschichtlichen Würdigung von Immanuel Hermann Fichte Das bezweckte Verständnis soll nämlich aus der philosophischen Anthropologie Immanuel Hermann Fichtes entnommen werden, den die Philosophiegeschichte zu Unrecht vernachlässigt hat. Gegen diese Wahl kann man das Bedenken erheben, warum gerade eine Dissertation über einen vergessenen Philosophen zu schreiben, wenn es strategisch sinnvoller wäre, einen Philosophen des Kanons zu wählen. Dieses Bedenken bringt jedoch ein in der Philosophie und der Philosophiegeschichte tief gewurzeltes konformistisches Vorurteil zutage, dass nur der vermittelte Kanon das Beachtenswerte und Wertvolle sei. In dieser Hinsicht schreibt Rudolf Eucken (1903), dass »[d]ie landläufige Schätzung der Philosophen … voll schwerer Unbill« sei, insofern sie »den Ruhm der Leistung ausschließlich einigen wenigen 24

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Männern [erteilt] und … dabei leicht [bevorzugt], was scharf zugespitzt ist und mit schroffer Ausschließlichkeit auftritt« (S. 102– 103). Eine solche philosophiegeschichtliche Schätzung pflege nämlich »die minder glänzende ruhige und vermittelnde Arbeit, welcher doch die Bewegung des Ganzen nicht weniger bedarf, … als etwas Nebensächliches, ja Gleichgültiges zu behandeln« (Eucken, 1903, S. 103). Gerade eine solche philosophische Arbeit des 19. Jahrhunderts versucht diese Dissertation aus der Vergessenheit zu retten, um ihre Bedeutung für die gegenwärtige philosophische Reflexion zu würdigen. Rudolf Eucken, Nobelpreisträger für Literatur im Jahr 1908 sowie Lehrer und Doktorvater Max Schelers, hat zur Philosophie und Vergessenheit Fichtes auch einiges zu sagen. Er hat nämlich 1897 zu Fichtes 100. Geburtstag einen kurzen Gedenkaufsatz in der Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik veröffentlicht, in welchem er die »Unbill« zu berichtigen versucht, unter welcher die damalige Würdigung Fichtes gelitten habe. Achtzehn Jahre nach dem Tod Fichtes erinnert Eucken (1903) nämlich durch »einen Blick auf die Hauptzüge seines Strebens und das Ganze seines intellektuellen Wesens« an die »unermüdliche und fruchtbare Lebensarbeit des Mannes« (S. 103). Insbesondere weist Eucken (1903) darauf hin, dass Fichte »zu den Geistern [gehörte], die nicht ausschließen, sondern zusammenfassen möchten« (S. 103). In dieser Hinsicht hebt Eucken (1903) Fichtes fundamentales »Streben nach einer universalen, alle Gegensätze ausgleichenden philosophischen Weltanschauung« hervor, welches gerade in einer »Zeit der scharf ausgeprägten und mächtig fortreißenden spekulativen Systeme« (S. 103) in der Form einer unermüdlichen Arbeit daran zum Ausdruck gekommen sei, »einen bleibenden Ertrag der Spekulation für die höchsten Aufgaben des menschlichen Daseins aus dem Kampf und Streit herauszuheben und zugleich alle Systeme als Mitarbeiter an einem gemeinsamen Werke zu würdigen« (S. 104). Unter Berücksichtigung der imponierenden Macht der »zusammentreffenden Gedankenmassen« der damaligen spekulativen Systeme, an welchen Fichte seine »umfassende und versöhnende Art« übte, zögert Eucken (1903) nicht, ihm trotz der Klippen und Gefahren, vor welchen eine solche Arbeit steht, »die Selbstständigkeit einer philosophischen Grundüberzeugung entschieden zuzuerkennen« (S. 104). Nun konnte Eucken an der Wende zum 20. Jahrhundert nicht so viel Interesse an den Spätidealisten wecken, sodass jene »Unbill« trotzt der seitdem sporadisch erschienenen Arbeiten zu Fichte bis Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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heute fortbestehen würde. Wie es anschließend zu betrachten gilt, haben die wenigen Arbeiten zu Fichte zwar wichtige Aspekte seines Denkens emporgehoben und es vermieden, dass er ganz der Vergessenheit anheimfällt, jedoch hat sich trotz dieses sporadisch auftauchenden Interesses an seiner Philosophie im Endeffekt keine eigentliche Forschung zum philosophischen Werk Fichtes durchgesetzt.

1.2 Lage des Forschungsmaterials Was zunächst die Lage des Forschungsmaterials betrifft, so ist die Forschung zu Fichte auf einen prekären Zustand angewiesen, insofern es weder eine Gesamtausgabe noch eine historisch-kritische Ausgabe seines Werkes und seines Nachlasses gibt. Schon 1958 und 1966 berichtete Hermann Ehret in der Zeitschrift für philosophische Forschung über die Resultate seiner langjährigen Bearbeitung des Nachlasses Fichtes, in der Hoffnung, dass dieses Material einer Gesamtausgabe des Philosophen dienen würde. 2 Diese Hoffnung ist jedoch bis heute noch nicht erfüllt worden. Statt einer historisch-kritischen Ausgabe muss sich die Forschung demnach nur auf die Originaltexte stützen, welche heute außer mancher antiquarischen Bücher praktischerweise in Digitalform und als Print-on-Demand zugänglich sind. Als öffentlich zugängliche PDF-Dateien kann man nämlich sowohl seine Hauptwerke als auch alle Bände der Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik finden, welche er herausgab und in welchen er seine Aufsätze veröffentlichte. In Bezug auf den Nachlass Fichtes steht der Forschung kein ediertes und veröffentlichtes Material zur Verfügung. Stattdessen liegen Manuskripte und Dokumente sowohl im Nachlass von Hermann Ehret in der Rudolf Steiner Bibliothek in Stuttgart als auch im Nachlass von Immanuel Hermann Fichte in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Dabei sind nämlich Vorlesungen, Briefe und Tagebücher zu finden. 3 Es bleibt demnach eine immer noch anstehende Aufgabe, eine historisch-kritische Ausgabe des Werkes und des

Vgl. Ehret (1958, 1966). Vgl. beispielsweise Fichte (o. J.-a, o. J.-b, o. J.-c, o. J.-d, 1836b, 1837a, 1837b, 1838a) und Ehret (o. J.-a, o. J.-b, o. J.-c, o. J.-d, o. J.-e). Vgl. auch die Abbildung 1 im Anhang für einen Auszug aus Fichtes Tagbüchern.

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Forschungsstand

Nachlasses Fichtes zu bearbeiten, welche die Forschung zu Fichte antreiben und zur Deutung seiner Philosophie dienen könnte. Letztlich ist die Lage bei der Sekundärliteratur genauso prekär. Die meisten älteren Monographien sind in wenigen deutschen Bibliotheken verteilt. Obwohl man einige dieser Monographien im Antiquariat finden kann, kann man heute nur drei dieser neunzehn Monographien in einem zeitgenössischen Verlag erwerben. 4 Daneben ist heute ein weiteres Buch auch leicht verfügbar, in welchem ein Kapitel zu Fichte vorkommt. 5 Die vierte leicht zugängliche Monographie wurde nämlich von der Ruhr-Universität Bochum, an welcher der Autor mit dieser Arbeit promovierte, als PDF-Datei zur Verfügung gestellt. 6 Darüber hinaus sind einige Artikel 7 und ein Sammelbandbeitrag 8 in Digitalform zugänglich. Diese Lage des Forschungsmaterials macht einen Forschungsaufenthalt in Deutschland notwendig, um einerseits die Sekundärliteratur zu sammeln sowie andererseits den Nachlass zu besuchen und vor Ort die entsprechenden Quellen nachzuschlagen und zu kopieren.

1.3 Forschungsstand 1.3.1 Thematische Schwerpunkte der Forschung zu Immanuel Hermann Fichte 9 Auch wenn zu Immanuel Hermann Fichte keine ausgiebige und umfangreiche Sekundärliteratur zu finden ist, lassen sich bei den doch vorhandenen Arbeiten einige thematische Schwerpunkte erkennen, welche zur Orientierung an Fichtes Philosophie dienen können. Da eine Diskussion aller Arbeiten zu Fichte an dieser Stelle weder nötig noch angemessen ist, wird die Sekundärliteratur lediglich nach ihren thematischen Schwerpunkten eingeordnet, um anschließend dieVgl. Koslowski (1994), Schneider (2001) und Schmitz (2014). Vgl. Schwaetzer (2006). 6 Vgl. Hellmuth (2009). 7 Vgl. Oeing-Hanhoff (1982), Amati (1967, 1968), Schreiber (2013) und Zolotukhin (2018). 8 Vgl. Koch (2010). 9 Ein chronologischer Überblick über die Sekundärliteratur findet sich in der Abbildung 2 im Anhang. 4 5

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jenigen Schriften zu diskutieren, welche die vorliegende Arbeit direkt betreffen. Ausführlichere Zusammenfassungen haben sich jedoch Najdanović (1940, S. 7–26), Amati (1968), De Vitiis (1978, S. 17–59) und Schneider (2001, S. 126–128, Fn. 418) vorgenommen, auf welche hier nur verwiesen werden kann. An erster Stelle bildet Fichtes Philosophie des Geistes, Anthropologie und Psychologie einen wichtigen Schwerpunkt der Forschung. In diesem Zusammenhang sind Spiegel (1927), Echternach (1928), Mehlich (1935), Stern (1967), Schwaetzer (2006) und Hellmuth (2009) zu erwähnen, dessen Schriften im folgenden Abschnitt diskutiert werden, da sich diese Arbeit auf diesen thematischen Schwerpunkt fokussiert. An zweiter Stelle sind zwei systematische Untersuchungen zu bestimmten Aspekten der Metaphysik und Ontologie Fichtes zu finden. Erstens zieht Serwe (1959) die Raum- und Zeittheorie Fichtes in Betracht und zielt darauf ab, »durch die Interpretation dieser Lehre Fichtes de[n] Seinsgrund« transparent zu machen, »aus dem heraus Raum und Zeit nur verstanden werden können« (S. 7). In seiner Untersuchung versucht Serwe (1959), die These zu untermauern, dass Fichtes Raum- und Zeittheorie die »Gewißheit« übermitteln könne, dass sich schon in der vergänglichen Welt »die Bedingung unserer Freiheit und der Überwindung dieser Nichtigkeit« finden lasse (S. 109). Dabei handele es sich nämlich um »unser wahres und geistiges Wesen«, welches er als »die absolute Vernunft in uns selbst« betrachtet (Serwe, 1959, S. 109). Letztlich geht Udert (1963) Fichtes Begriff des Apriori einerseits unter einem ideengeschichtlichen und andererseits unter einem systematischen Gesichtspunkt an. Während er im ersten Fall den Begriff des Apriori unter dem Aspekt der philosophiegeschichtlichen Anknüpfungspunkte Fichtes untersucht, verfolgt er im zweiten Fall Fichtes Anwendung dieses Begriffs in seiner Anthropologie und Psychologie. Hierbei argumentiert Udert (1963) dafür, dass es im Vergleich zum formellen Begriff des Apriori sich bei Fichte vielmehr ein »ins Inhaltliche verwandelten AprioriBegriff[]« finden lasse (S. 72), welcher demnach nicht nur »die ›Ideen‹ als die alle Vorstellungsbildung regulierenden, bei allen Individuen abstrakt uniformen Maßstäbe der Vernunft« bezeichne, sondern auch und vor allem »den Menschengeist selbst, als apriorisches, vorempirisches Wesen und individuierendes Prinzip der Vernunft« (S. 71). An dritter Stelle lässt sich ein Interesse an Fichtes Stellung in der nachhegelschen Philosophie und an seine Kritik an Hegel und den 28

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Pantheismus beobachten. In diesem Zusammenhang findet sich erstens die Arbeit von Herrmann, die sich den Versuch vornimmt, die Philosophie Fichtes als Beitrag zur Geschichte der nachhegelschen Spekulation darzustellen. Herrmann (1928) ist der Auffassung, dass, auch wenn die Philosophie Fichtes als »Bewahrerin der idealistischen Tradition« gelte, Fichte die methodischen Ansprüche seines Theismus »dem Gehalt seiner Philosophie niemals völlig anzupassen vermag« (S. 127). Zweitens soll auch in diesem Rahmen auf Leeses (1929b) Schrift zum Spätidealismus unter Berücksichtigung von Fichte und Weiße verwiesen werden, welche jedoch im ersten Teil dieser Arbeit diskutiert wird. Drittens ist die Monographie Hartmanns (1968) zu erwähnen, der Fichtes und Weißes Kritik an Hegels Gottesbegriff unter dem Aspekt der Dialektik betrachtet und dafür argumentiert, dass Fichte im Gegensatz zu Hegel die »Dialektik des Geistes« nicht sofort für Gott halte, sondern »die Möglichkeit einer Erkenntnis des Unbedingten aus der Welt als seiner Offenbarung« auf einem anthropozentrischen Standpunkt begründe (S. 186–187). Viertens soll die Arbeit von De Vitiis (1978) berücksichtigt werden, der auf die Frage eingeht, ob Fichte den Pantheismus Hegels tatsächlich aufgehoben habe. Dabei fokussiert er sich nur auf Fichtes Schriften bis zum Jahr 1846 und vertritt die These, dass Fichtes vermeintliche Aufhebung des Pantheismus eine äußerliche Verbindung des von Hegel und Schelling beeinflussten Begriffs der göttlichen Person mit dem aposteriorischen Beweis für das Dasein Gottes ausmache. 10 Diese Aufhebung sei Fichte jedoch nicht gelungen. In Anknüpfung an Schellings Kritik an Hegel, dass Hegel die Möglichkeit eines dem Begriff unzugänglichen transzendenten Wesens verkenne, behauptet De Vitiis (1978), dass auch Fichte diese Möglichkeit verkannt habe, sodass seine Philosophie im Endeffekt auf einer hegelianischen Grundlage beruhe. 11 Letztlich ist auf den aktuellsten Aufsatz von Zolotuk»A causa die questo contrasto fra metodo e contenuto, ciò che Fichte presenta come Aufhebung del panteismo hegeliano è, a nostro avviso, l’accostamento estrinseco di un concetto della persona divina influenzato da Hegel – alterità in Dio – e da Schelling – natura in Dio – con le tradizionali prove a posteriori dell’esistenza di Dio« (De Vitiis, 1978, S. 276). 11 »La critica di Schelling a Hegel, nel suo nucleo piú profondo, consiste nel rilevare che Hegel non sa nulla di un ›essere che è assolutamente indipendente da ogni pensiero, che precede ogni pensiero‹, cioè di un essere trascendente, inattingibile al concetto. Potremmo dire, da parte nostra, che nemmeno Fichte sa nulla di tale essere, e che quindi la matrice del suo pensiero è fondamentalmente hegeliana« (De Vitiis, 1978, S. 280). 10

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hin (2018) zu verweisen, in welchem er den Pantheismusstreit zwischen Fichte und von Hartmann in Betracht zieht und dafür argumentiert, dass trotz bestimmter Gemeinsamkeiten kein Eintracht zwischen beiden Standpunkten stattgefunden habe. An vierter Stelle hat sich die Forschung auf Fichtes theologische Ansichten fokussiert, insbesondere auf seinen Theismus und die damit zusammenhängende Frage nach der Persönlichkeit. In diesem Zusammenhang ist erstens die die Forschung zu Fichte im 20. Jahrhundert inaugurierende Monographie von Scherer (1902) zu berücksichtigen, der Fichtes Gotteslehre »in systematisch-kritischer Form zur gedanklichen Entwickelung zu bringen« versucht (S. XI). Dabei schreibt Scherer (1902) der »Gedankenarbeit« Fichtes »einen großen Wert« zu, insofern sie den Versuch eines »selbständige[n] und vorurtheilsfreie[n] Denker[s]« bilde, die »Grundüberzeugung der theistischen Weltanschauung« zu begründen (S. 198). Neben Scherer ist zweitens Amatis (1967) Aufsatz zu Fichtes Sätze zur Vorschule der Theologie und drittens Oeing-Hanhoffs (1982) Gedenkaufsatz zu einigen theologischen Aspekten seiner Philosophie im Verhältnis zur Tübinger Theologie zu erwähnen. Unter dem Aspekt des Begriffs der Persönlichkeit betrachtet viertens Horstmeier (1930) die Philosophie Fichtes und Weißes. Was Fichte betrifft, so stellt Horstmeier (1930) fest, dass sein Theismus als eine »Persönlichkeitsphilosophie« zu verstehen sei, da gerade »[d]ie Idee der Persönlichkeit … das Hauptmittel zu einer konkreten und realen Auffassung des Absoluten und einer Würdigung des Endlichen« sei, welche über sein bloß »logische[s] Wesen« hinausgehe, um durch die Anerkennung »seiner Zeiträumlichkeit, Individualität und Freiheit« seinen »ewigen Sinn und Wert« deutlich zum Ausdruck zu bringen (S. 17). An dieselbe Thematik anknüpfend, jedoch einen anderen methodischen Standpunkt einnehmend, geht fünftens Schneider (2001) die SchellingRezeption Fichtes und Weißes unter dem Aspekt der Begriffe der Persönlichkeit und der Wirklichkeit an. Zu diesem Zweck versucht Schneider (2001), Fichtes Theismus »vor dem Hintergrund des nachidealistischen Problemkreises« zu betrachten, in dessen Zentrum nämlich das »Verhältnis[] von Vernunft und Wirklichkeit, von Rationalität und Empirie« stehe (S. 131). Neben Schellings Unterscheidung zwischen negativer und positiver Philosophie verweist Schneider (2001) auf die zentrale Stellung der Schrift Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, welche er als Fichtes »Inspirationsquelle für die Gotteskonzeption und die 30

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Geschichtsphilosophie« betrachtet (S. 211). Schneider argumentiert dafür, dass sich Fichte eine Rehabilitierung der Individualität und der Wirklichkeit vorgenommen habe. Letztlich ist die Deutung Koslowskis (1994) zu berücksichtigen, welche insofern eine lockere Zugehörigkeit zu diesem Schwerpunkt der Forschung darstellt, als er »de[n] systematische[n] Ort« der Philosophie Fichtes »zwischen theosophischer Mystik und idealistischer Philosophie« findet (S. 20). Koslowski (1994) vertritt die These, dass die theoretische Philosophie Fichtes »von einer intensiven Wechseldurchdringung von Metaphysik und Glauben« lebe (S. 21). In dieser Hinsicht trete Fichtes »Glaubensgewißheit« in Konflikt mit seiner »Abhängigkeit von den wechselnden Wissenschaftskonventionen im 19. Jahrhundert« (Koslowski, 1994, S. 21). Trotz seines Vermittlungsversuches, bei welchem »sich die unterschiedlichsten Philosopheme [brechen], ohne daß es zu neuen Synthesen kommt« (Koslowski, 1994, S. 331), bleibe der Theismus Fichtes jedoch »zu sehr Privatglaube, als daß er theologischen oder philosophischen Anforderungen genügen könnte« (Koslowski, 1994, S. 329). In diesem Sinne bezeichnet Koslowski (1994) Fichte als »Vorläufer einer theistischen Esoterik«, insofern er »das religiöse Wissen nicht spekulativ entfaltet, sondern als Wissenschaft positivistisch« darstelle (S. 329). Im Endeffekt komme dem Werk Fichtes jedoch »eine tragische Bedeutung zu«, insofern sein Versuch, die »Religionsphilosophie dem Mysterium des Glaubens im Gewand wechselnder Wissenschaftskonventionen beizukommen« auf eine doppelte Weise gescheitert habe (Koslowski, 1994, S. 333). Fichte verfehle nämlich sowohl »die Grundbedingungen wissenschaftlicher Objektivität« als auch die Grundbedingungen »religiöser Demut« (Koslowski, 1994, S. 333). 12 An fünfter Stelle lässt sich ein Schwerpunkt der Forschung erkennen, welcher mit dem vorher dargestellten Interesse an theologische Aspekte der Philosophie Fichtes verwandt ist. Dabei handelt es sich nämlich um die Fichte-Rezeption bei Kierkegaard, welche vor allem in der Kierkegaard-Forschung ausgearbeitet worden ist. Insbesondere werden Fichtes Kritik an Hegel und seine damit zusammenhängenden theologischen Ansichten hervorgehoben. In Hinsicht auf diesen Schwerpunkt der Forschung ist nämlich auf Hirsch (1931) und Schreiber (2013) zu verweisen. Während Hirsch einen Überblick

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Diese esoterisierende Deutung Koslowskis kritisiert Hellmuth (2009).

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über die Fichte-Rezeption bei Kierkegaard bietet, fokussiert sich Schreiber in seinem Aufsatz auf den Glaubensbegriff. An sechster Stelle hat Fichtes umfangreiche Ethik das Interesse mancher Forscher geweckt. In diesem Zusammenhang soll erstens auf die Schrift von Beckedorf (1912) verwiesen werden, der sich die Aufgabe vornimmt, »in aller Kürze einen Einblick in die Grundgedanken der Fichteschen Ethik zu verschaffen« (S. 6). Dabei fokussiert er sich vor allem auf den zweiten Band des Systems der Ethik, um eine »möglichst objektive Wiedergabe« der »allgemeinen ethischen Begriffe[]« und der »Tugend- und Pflichtenlehre« Fichtes zu bieten (Beckedorf, 1912, S. 6–7). In ihrer Beschränkung stellt diese Arbeit eine orientierende Einleitung in wichtige Begriffe der Ethik Fichtes dar. Zweitens ist die kurze Charakteristik Rekates (1915) zu erwähnen, der Fichtes Ethik unter dem Aspekt von vier Eigenschaften betrachtet. In Hinsicht auf das methodische Anliegen der Ethik Fichtes weist Rekate (1915) einerseits auf das ihr zugrunde liegende »Streben nach geschichtlicher Begründung« (S. 13) im Sinne einer »Geschichte der praktischen Ideen« bzw. einer »Ideenentwicklung« (S. 26) und andererseits auf ihr »Streben nach Universalität« hin (S. 27). Was den Inhalt der Ethik betrifft, so hebt Rekate einerseits ihren sozialen Charakter und andererseits ihren Versuch einer Vereinigung von Ethik und Religion hervor. Laut Rekate (1915) habe Fichte jedoch »nicht ganz ans Ziel gekommen«, obwohl er immerhin die »Notwendigkeit des großen Problemes« zum Ausdruck gebracht habe, »wie eine absolute Ethik mit den geschichtlich-gesellschaftlichen Wertungen zu vereinigen sei« (S. 54). Drittens soll die Deutung von Ebert (1938) berücksichtigt werden, der auf die Frage eingeht, inwiefern die Ethik Fichtes als Resultat einer Vermittlung »zwischen Spekulation und geschichtlicher Wirklichkeit« (S. 14) die Grundlage für eine personalistische Existenzphilosophie bieten kann. Ebert (1938) argumentiert dafür, dass der »Mittelpunkt für alle ethischen Fragen« bei Fichte insofern der Geniusbegriff sei, als dieser Begriff »für ihn zum Organ einer wahrhaft personalen und christlichen Ethik ward« (S. 89). Der Geniusbegriff werde »dem existentiellen Denken« gerecht, insofern er »den Menschen in seinem Eingespanntsein zwischen Sein und Sollen, in seinem geschichtlichen, einmaligen und sittlich bedeutsamen Leben« begreife (Ebert, 1938, S. 146). Interessant ist auch Eberts Bezugnahme auf Hirsch und die KierkegaardForschung. Dabei legt Ebert (1938) nahe, dass Fichte »unabhängig von Kierkegaard« auf der Grundlage eines Begriffs der Wirklichkeit 32

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»einen tiefen Existentialismus des sittlichen Menschen« begründet habe, »der mit dem des Dänen nicht nur vermöge derselben Grundlagen große Verwandtschaft zeigt« (S. 136). Abgesehen von den »Unterschiede[n] der Terminologie, des Temperaments« (S. 136) deutet Ebert (1938) darauf hin, dass ein systematischer Vergleich unter dem Aspekt des Geniusbegriffs möglich sei, insofern er dem Begriff des »Selbst« bei Kierkegaard entspreche (S. 137). Im Vergleich zu Ebert, der zu sehr »auf die das Individuum betreffenden Ansichten Fichtes beschränkt« bleibe und hierbei seiner »politik- und sozialreformerischen Überlegungen« keine Beachtung geschenkt habe, fokussiert sich letztlich Schmitz (2014) »vor allem auf die praxisbezogene Seite« der Philosophie Fichtes (S. 18). 13 Dabei nimmt sich Schmitz (2014) die Aufgabe vor, »die Bedingungen« darzustellen, »derer die Einzelnen bedürfen, um sich in den mannigfaltigen Bereichen der menschlichen Kultur als zur sittlichen Freiheit bestimmte Wesen zu verwirklichen« (S. 19). Bei solchen sozialen und politischen Bestimmungen handele sich nämlich um Institutionen und Strukturen, welche »den Schutz allgemeingültiger Rechte« gewährleisten und »der personalen Freiheit in den verschiedenen gesellschaftlichen Sphären Anerkennung« verleihen können (Schmitz, 2014, S. 237). Schmitz (2014) argumentiert dafür, dass Fichte die Grundlagen für eine Gesellschaftsreform lege, welche zu einem »christlichen Staat []« führe (S. 25). An siebter Stelle lässt sich in der Sekundärliteratur auch ein Interesse in der Philosophie der Geschichte Fichtes beobachten, obwohl nur eine einzige Monographie zu finden ist. Najdanović (1940) nimmt sich die Aufgabe vor, »eine Lücke in der gegenwärtigen Fichteforschung aus[zu]füllen« (S. 27). Für Najdanović (1940) ist es »sehr merkwürdig, fast befremdend, auf einen Ideenkreis Fichtes die Aufmerksamkeit nicht gerichtet zu sehen, welcher den eigentlichen Schlüssel zur Welt-, Gott- und Menschenauffassung unseres Philosophen darstellt« (S. 27). In diesem Sinne zieht er Fichtes Philosophie der Geschichte in Betracht und argumentiert dafür, dass Fichtes »Metaphysik der Persönlichkeit« insofern die Grundbedingung seiner »Metaphysik der Geschichte« bilde, als sie »ihm zwei selbständige, distanzierte, personale Zentren, die Gottes und des Menschen [sichert], wodurch eine positive, reale Ich-Du-Dialektik im GeGenauso wie bei Hellmuth wurde die Dissertation Schmitz’ vom Prof. em. Dr. Gunter Scholtz von der Ruhr-Universität Bochum betreut.

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schichtsprozeß erst möglich wird« (S. 30). Mit anderen Worten: »Die Geschichte ist der Begegnungsort des sich in ihr offenbarenden Gottes und des sich in ihr gebärenden Menschen« (Najdanović, 1940, S. 34). Fichte mit Hegel kontrastierend, weist Najdanović (1940) darauf hin, dass der Mensch für Fichte insofern »der Mittelpunkt der Geschichte« sei, als er als »Geschichtsleiter, Geschichtsträger, Geschichtserzeuger, Geschichtsschöpfer und Selbstschöpfer« gelte (S. 33). In diesem Sinne sei die »Grundtendenz« Fichtes, die »Würde des Menschen aus der vollständigen Verneinung seiner individuellen Selbständigkeit, aus der Erniedrigung des Menschen zur ›Substanzlosigkeit‹, aus der Momentanität im Prozesse des Allgeistes, aus dem Opferzustand der ›List der Vernunft‹« wiederherzustellen (Najdanović, 1940, S. 33). Gleichzeitig sei die Geschichte jedoch nur durch die »Durchdringung des Göttlichen und Menschlichen« möglich (Najdanović, 1940, S. 34). Die Geschichte sei für Fichte demnach keine »Monolektik« im Sinne des »sich ›hindurchprozessierende[n] Geist [es]‹« Hegels, sondern ein »Dialog« und insofern »die echte, wahre Dialektik« (Najdanović, 1940, S. 34). Trotz diesen zutreffenden Einsichten in Fichtes Philosophie der Geschichte stellt Najdanović (1940) fest, dass die »Denkkraft« Fichtes »nie die Höhe seines aufrichtigen Philosophieenthusiasmus« erreicht habe (S. 205). Die »wichtige Mission« bzw. die »vom Schicksal gestellte Aufgabe« Fichtes habe lediglich darin bestanden, »die großen Ströme des Idealismus bei ihrem damaligen Sinken aufzufangen« (Najdanović, 1940, S. 205). Eigentlich bilde seine Philosophie einen »Eklektizismus«, insofern »sein Werk … sozusagen ›Walpurgisnacht‹ verschiedener Geistesströmungen« sei (Najdanović, 1940, S. 205). Dabei habe ihm »der Scharfsinn und der Tiefsinn« gefehlt (Najdanović, 1940, S. 205). In diesem Sinne sei Fichte »ein Denker von kleinerem Format« und gehöre im Endeffekt »in die Gruppe der minores, der ›Epigonen‹« (Najdanović, 1940, S. 8). Schließlich ist erstens auf die Fichte-Biographie Ehrets (1986) und zweitens auf Kochs (2010) Miszelle vom biographischen und philologischen Wert über die Vorlesungen Fichtes in Bonn, an welchen die Prinzen Ernst und Albert zu Sachsen-Coburg und Gotha 1837– 1838 teilgenommen haben, zu verweisen.

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1.3.2 Die Sekundärliteratur zur Philosophie des Geistes, Anthropologie und Psychologie Immanuel Hermann Fichtes Nachdem die wichtigsten Schwerpunkte der Forschung zu Immanuel Hermann Fichte dargestellt wurden, gilt es, die Arbeiten wieder aufzunehmen, welche Fichtes Philosophie des Geistes, Anthropologie und Psychologie betreffen. Spiegel (1927) fokussiert sich auf Fichtes Lehre des Genius und argumentiert dafür, dass der Begriff des Genius »das gesamte sowohl seelisch als geistig reale Menschenwesen« (S. 4) umfasse. Spiegel nimmt sich demnach vor, erstens Fichtes Begriff des apriorischen Wesens des Genius und zweitens das bewusste Leben des Genius darzustellen. Was das Wesen des Genius betrifft, so fokussiert er sich auf drei Bestimmungen, nämlich auf den Begriff des Genius als eines raumzeitlichen Realwesens, als eines organischen Seelenwesens und als eines vorbewussten Geisteswesens. In Bezug auf das bewusste Leben des Genius argumentiert Spiegel dafür, dass der Genius ein Doppelleben führe, indem es ihm außer dem sinnlich-reflexiven Bewusstsein noch höhere Bewusstseinsformen zukomme, welche ohne die Vermittlung der Sinnlichkeit aus dem Geist entspringen. Für Spiegel (1927) bildet die Lehre des menschlichen Genius »den Grund für die Naturlehre, wie für die Gotteslehre Fichtes« (S. 2). Echternach (1928) zieht Fichtes Begriff des Geistes in Betracht und vertritt die These, dass seine Philosophie insofern eine »Geistesmetaphyisk« sei, als sich sein ganzes System in dem Begriff des Geistes zusammenfassen lasse (S. 5). Nachdem Echternach den Begriff des Geistes unter dem Aspekt seiner ontologischen Bestimmungen und seines Verhältnisses zur Seele und zum Leib betrachtet, weist er darauf hin, dass Fichte den Geist als ein dynamisches und übersinnliches Wesen verstehe, welches durch sein Verhältnis zum Ideengehalt zugleich individualisiert sei. Fichte lege seiner »Geistlehre« nämlich »das substantielle und individuelle Realwesen ›Geist‹ zugrunde« (Echternach, 1928, S. 24). Dabei stellt Echternach (1928) richtig fest, dass Fichte einen »Individualismus des Geistes, der Person« vertrete und insofern er eigentlich als ein »Personalismus« zu betrachten sei (S. 13). Insofern die Persönlichkeit »der sich seiner bewusst gewordene, für sich gewordene Geist« sei, stellt Echternach (1928) fest, dass sich der Begriff des Geistes im Begriff der Persönlichkeit vollende (S. 31). In diesem Sinne behauptet Echternach (1928), dass der Begriff der Persönlichkeit den »Gipfel« und den »Zielpunkt« Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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seines personalistischen Systems ausmache (S. 31). Nun ist es zu bemerken, dass Echternachs Schrift weniger die Form einer argumentierten Arbeit, als vielmehr die Form einer Sammlung von zusammenfassenden Notizen und thetischen Behauptungen hat, was darauf hinausläuft, dass seine sehr kurze Arbeit keine wissenschaftliche Bedeutung für die Forschung zu Fichte hat. Mehlich (1935) nimmt sich vor, die analytische Psychologie Carl Gustav Jungs mit der Seelenlehre Immanuel Hermann Fichtes zu vergleichen. Mit diesem Vergleich versucht Mehlich (1935), »Analogien« zwischen beiden Theorien zu finden, insbesondere in Hinsicht auf die »Grundanschauungen vom Wesen der Seele« (S. 14). Die »Gemeinsamkeiten« zwischen diesen Theorien versucht sie sodann »auf philosophische Grundvoraussetzungen zurückzuführen« (S. 16). Das beiden Theorien gemeinsame Prinzip bezeichnet Mehlich (1935) als den »Typus der romantischen Psychologie« (S. 31). Laut Mehlich (1935) sei eine Psychologie insofern als romantisch zu bezeichnen, als sie »das Wesen des Seelischen nicht vorwiegend in intellektuellen Vorgängen, in den Akten des Bewußtseins, sondern vielmehr in der irrationalen Seite des Seelischen sieht« (S. 31). In dieser Hinsicht geht Mehlich (1935) schon am Ausgangspunkt ihrer Untersuchung von einer falschen Prämisse aus, insofern ihr Begriff des Romantischen als eine »Neigung zum Irrationalen« (S. 42) keineswegs auf Fichtes Seelenlehre angewandt werden darf. Auch wenn Fichtes Seelenbegriff die organisch-unbewussten Funktionen umfasst, schreibt er ihnen – wie es noch in dieser Arbeit darzustellen ist – keine Irrationalität zu, sondern ganz im Gegenteil argumentiert er für die ihnen immanente Idealität. 14 Was Mehlichs Darstellung von Fichtes psychologischen Grundgedanken betrifft, so gibt sie ihrer Arbeit die Form einer Sammlung von enzyklopädischen Einträgen zu wichtigen Begriffen und Problemen seiner Seelenlehre. Auch wenn Mehlich tatsächlich zentrale Aspekte der Anthropologie und Psychologie Fichtes emporhebt, begnügt sie sich bei der Darstellung bloß mit Allgemeinheiten und sie geht auch mit manchen Etikettierungen ganz locker und oberflächlich um, wie beispielsweise in Hinsicht auf Fichtes angeblichen »Romantizismus« oder »Platonismus«. Darüber hinaus stellt Mehlich schlichtweg inkorrekte Behauptungen zu Fichtes Seelenlehre auf, unter denen an dieser Stelle zwei Beispiele eingeVgl. das entsprechende Kapitel dieser Arbeit über die wesentlichen Eigenschaften der organischen Tätigkeit (4.2.3.2).

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führt werden können. An erster Stelle behauptet Mehlich (1935), dass Fichte eine »Ätherleibtheorie« vertreten habe, welche deutlich zeige, dass er »von dem reinen Idealismus seines Vaters weit entfernt [ist], wenn er die Seele materialisiert, sie konkretistisch mit einem – wenn auch noch so feinen Stoff – versieht« (S. 97). Diesbezüglich muss bemerkt werden, dass Fichte zwar den Begriff des inneren Leibes bzw. der organischen Seele entwickelt und dabei an eine jahrhundertelange Tradition anknüpft, jedoch bezeichnet er seine Theorie in keinem Fall als eine Ätherleibtheorie. Bei der Darstellung dieser »Ätherleibtheorie« Fichtes legt Mehlich auch noch eine falsche Deutung seines Seelenbegriffs vor, insofern er in keinem Fall, wie Mehlich nahelegt, den inneren Leib bzw. die organische Seele als einen »feinen Stoff« verstanden wissen will. Er behauptet sogar explizit, dass die Raumzeitlichkeit der Seele nicht in dem Sinne zu verstehen ist, als wäre die Seele »ein (fein- oder grobsinnlich) stoffliches, im Raume theilbares« Wesen (Fichte, 1876a, S. 200, § 85). 15 An zweiter Stelle behauptet Mehlich (1935) in Hinsicht auf Fichtes Verständnis des Verhältnisses des Menschen zum Ideengehalt, dass er »den Widerspruch der beiden Auffassungen von Idee, die Diskrepanz zwischen ihrer Verhaftung an das Individuelle und ihrem allgemeingültigen Charakter nicht überbrückt« (S. 113). Dabei bezieht sich Mehlich auf Fichtes Behauptung, dass die Ideen kraft ihrer Allgemeinheit einerseits eine »entselbstende« und andererseits eine individualisierende Wirkung auf den menschlichen Geist haben. Nun legt Fichte gegen Mehlichs Meinung in der Tat eine Erklärung dieses scheinbaren Widerspruchs vor und belegt die individualisierende Wirkung der Gegenwart der Ideen im menschlichen Geist anhand psychologischer Tatsachen – was hier selbstverständlich nicht weiter erklärt werden kann. 16 Mehlich (1935) führt Fichtes Metaphysik sodann auf den Begriff der Ursprünglichkeit zurück, welcher sich im Begriff der apriorischen Anlagen, im Begriff der Seele als »bewirkende[r] Ursache ihres Leibes« (S. 115) und im Begriff der präexistenten Individualität ausdrücke. Nachdem Mehlich dieses philosophische Prinzip Fichtes feststellt, vergleicht sie schließlich ganz kurz die ana-

Vgl. das entsprechende Kapitel dieser Arbeit über den Leib als die raumzeitliche Wirklichkeit der Seele (4.2.1.1.3). 16 Vgl. das entsprechende Kapitel dieser Arbeit über das Verhältnis des Menschen zum Ideengehalt (4.2.2.3.3). 15

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lytische Psychologie Jungs mit der Seelenlehre Fichtes unter dem Aspekt der Ursprünglichkeit, der Weite und der Individualität der Seele. Stern (1967) betrachtet Fichtes Anthropologie und Psychologie unter dem Aspekt des Leib-Seele-Problems und nimmt sich eine textnahe Analyse dieses Problemkomplexes vor. Mit der Charakterisierung der Einstellung Fichtes zu diesem Problem versucht er, eine allgemeine Idee seiner Philosophie zu gewinnen. Nachdem Stern (1967) Fichtes philosophisches Anliegen als den Versuch bezeichnet, »eine Erklärung des menschlichen Geistes in seiner Ganzheit [zu] liefern und durch den Hinweis auf die transzendentale, alles Zeitliche überschreitende Natur desselben, aus der Bestimmung des Menschen zur Idee Gottes [zu] führen« (S. 21), geht er auf die Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele ein. Zur Beantwortung dieser Frage zieht Stern zunächst die theologischen, metaphysischen, naturphilosophischen und naturwissenschaftlichen Voraussetzungen in Betracht, welche der Auffassung Fichtes zum Verhältnis von Leib und Seele zugrunde liegen. Dabei weist Stern unter anderem auf den Begriff der Urposition, auf den Begriff der Raumzeitlichkeit der Seele, auf die Vermittlung von Atomismus und Dynamismus, auf den Begriff der Präexistenz, auf den Begriff der Schöpfung und auf die damit zusammenhängenden Begriffe der Verzeitlichung, Verräumlichung und Verleiblichung hin. Was die Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele betrifft, so charakterisiert Stern die Auffassung Fichtes in Hinsicht auf seine Ausführungen zum Organisationsprozess, zur Unsterblichkeit der Seele und zu bestimmten Ausnahmezuständen des Bewusstseins. Bei dieser Charakterisierung bleibt Stern den Texten nah und treu, sodass sie die Form einer ausführlichen und thematisch geordneten Zusammenfassung der Texte einnimmt. In diesem Sinne macht die Arbeit Sterns eine gute Einführung in Fichtes Anthropologie und Psychologie aus. Als »Kerngedanken der Fichteschen LeibSeele-Theorie« betrachtet Stern (1967) nämlich die Ansicht, dass die präexistente Seele durch ihr »Gestaltungsvermögen« die Stoffe derart organisiere, dass sie ihren »äußeren Leib als ein äußeres Gleichnis des Geistes hervor[bringt]« (S. 219). Dieser Grundgedanke habe sodann Implikationen auf Fichtes Unsterblichkeits- und Bewusstseinstheorie, welche Stern beim Abschluss seiner Arbeit darlegt. Im Verlauf seiner Darstellung macht Stern (1967) die These geltend, dass Fichte den »Menschen … als überzeitliches Wesen in den Mittelpunkt seines Denkens [stellt]«, um »von ihm aus, mit einer erkenntnistheoretischen Selbstorientierung beginnend, auf das Sein des ab38

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soluten Grundes und die Gottheit« zu reflektieren (S. 213). Gerade diesen Akzent auf die Menschenfrage hebt die vorliegende Arbeit, mit Stern übereinstimmend, als den systematischen Mittelpunkt der Philosophie Fichtes hervor. Insofern die Schilderung Sterns die Form einer Wiedergabe hat, lässt er sich mit seiner Deutung nicht zu weit gehen, außer vielleicht gelegentlichen kritischen Anmerkungen zu einigen methodischen Schwierigkeiten bei Fichtes Auseinandersetzung mit den Ausnahmezuständen des Bewusstseins. 17 Demungeachtet hebt Stern die Hauptgedanken der Anthropologie und Psychologie Fichtes richtig hervor. Seine Zusammenfassung greift jedoch zu kurz, insofern sie nicht die innere Einheit des Argumentes Fichtes aufzeigt. Stattdessen geht er Fichtes Philosophie mit einer vorherbestimmten Fragestellung an und stellt die wichtigen Aspekte zu ihrer Beantwortung zusammen. Im formellen Unterschied dazu nimmt sich diese Arbeit eine immanente Systematisierung von Fichtes Auffassung über die Wesensapriorität und die Unvergänglichkeit der menschlichen Seele vor, um einerseits die innere Einheit des ganzen Argumentes und andererseits dessen Hauptmomente deutlicher aufzuzeigen. In diesem Sinne wird die Struktur dieser Arbeit aus der immanenten Zwecksetzung der Philosophie Fichtes entwickelt. Schwaetzer (2006) zieht im Rahmen seiner Untersuchung zur Philosophie Gideon Spickers den historisch-ethischen Unsterblichkeitsbeweis Fichtes in Betracht. Dabei argumentiert Schwaetzer (2006) dafür, dass »Fichtes Unsterblichkeitsgedanken mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit die systematische wie genetische Folie bildet, von der her sich Gideon Spickers autobiographischer Unsterblichkeitsbeweis verstehen läßt« (S. 155). Als Voraussetzungen des historischethischen Unsterblichkeitsbeweises Fichtes betrachtet Schwaetzer die Begriffe der Individualität, der Präexistenz und der Teleologie. Gemäß diesen Begriffen lasse sich die »Geschichte der Natur« von der Geschichte des Menschen unterscheiden. Während es in der Natur eine »Einheit von Mechanismus und Teleologie auf der Basis einer intelligenten Weltursache« sowie eine Präformation bei den organischen Wesen festzustellen sei, erhebe sich der Mensch aus der Natur »als Träger von Zwecken«, was ihm das Vermögen zur Geschichtsbildung verleihe (Schwaetzer, 2006, S. 173). In dieser Hinsicht sei der Mensch als »Genius« zu betrachten, welcher die Natur insofern Vgl. das entsprechende Kapitel dieser Arbeit über die Frage nach der Fortdauer der Bewusstseinsquelle (4.2.4.2.2).

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transzendiere, als er »einem Ziel zustrebt, welches er im Rahmen seines natürlichen und irdischen Lebens nicht zu erlangen vermag« (Schwaetzer, 2006, S. 160). Daraus ergebe sich für Fichte, dass sich der Mensch in der Geschichte als ein »übernatürliches Wesen« erweise (Schwaetzer, 2006, S. 174). Nun weist Schwaetzer darauf hin, dass Fichte bei diesem Unsterblichkeitsbeweis eine Lücke hinterlassen habe, welche später Spicker mit seinem Unsterblichkeitsbeweis aus der Autobiographie auszufüllen versucht habe. Während Fichte seine Schlussfolgerungen aus der »Geschichts- und Kulturbildung der Menschheit« ziehe, fokussiere sich Spicker auf »die Biographie mit ihren Schicksalswegen«, um daraus auf die persönliche Unsterblichkeit zu schließen (Schwaetzer, 2006, S. 161). Nun sind bei Schwaetzers Charakterisierung des Unsterblichkeitsbeweises Fichtes und bei seiner Feststellung einer Lücke zwei unzutreffende Unterstellungen zu finden, welche sich daraus ergeben mögen, dass er zu sehr am Schema Platonismus-Aristotelismus festhält und es zu seinem Unterscheidungskriterium macht, dem gemäß er bei der Würdigung einer These entweder eine Einseitigkeit oder einen Ausgleich zwischen beiden Figuren feststellt. Diese Unterstellungen werden an den entsprechenden Stellen dieser Arbeit diskutiert. 18 Abgesehen von diesen Problemen legt Schwaetzer jedoch die wichtigsten Aspekte des historisch-ethischen Unsterblichkeitsbeweises Fichtes dar. Da es sich bei seiner Arbeit jedoch nur um die Fichte-Rezeption Spickers handelt, beschränkt er sich methodisch auf den historisch-ethischen Beweis der Fortdauer der menschlichen Seele. In diesem Sinne baut die vorliegende Arbeit auf der Arbeit Schwaetzers auf, insofern sie sich vornimmt, den ganzen Beweis Fichtes zu rekonstruieren, zu welchem der historisch-ethische Beweis nur eins seiner Momente ausmacht. Hellmuth (2009) nimmt sich die Aufgabe vor, eine systematische Rekonstruktion der Bewusstseinstheorie Fichtes zu erarbeiten, welche er als eine Metaphysik des Geistes bezeichnet. Zu diesem Zweck zieht Hellmuth (2009) Fichtes metaphysische Anthropologie in Betracht, welche er nicht bloß für ein »einzelnes, abgesondertes Forschungsgebiet«, sondern vielmehr für den »systematischen Kern[]« In Bezug auf Schwaetzers (2006) Unterstellung einer »platonische[n] Abwertung des Phänomenalen« bei Fichte (S. 181) vgl. das entsprechende Kapitel dieser Arbeit über den Begriff der Präexistenz (4.2.3.3). In Bezug auf Schwaetzers (2006) Unterstellung eines »platonischen« Entwicklungsbegriffs bei Fichte (S. 189) vgl. das entsprechende Kapitel dieser Arbeit über den Begriff der individuellen Lebenssumme (4.2.4.3.2.1).

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Forschungsstand

der Philosophie Fichtes hält (S. 181). Seine Untersuchung gliedert Hellmuth in die drei von ihm unterschiedenen »Grundlehren« der Metaphysik des menschlichen Geistes, nämlich die Lehren des Seins, der Entwicklung und der Fortdauer des Geistes. In Bezug auf die Lehre des Seins des Geistes argumentiert Hellmuth (2009) dafür, dass Fichte seine Bewusstseinstheorie auf der Idee des »präexistentiellapriorisch[en]« Geistes fundiert (S. 182), sodass das Bewusstsein für Fichte kein hypostasiertes Sein, sondern die Eigenschaft des substantiellen Geistes sei, welche im Vermögen zur »Beleuchtung der apriorisch-vorbewussten Realität des Geistes« bestehe (S. 177). Was zweitens die Lehre der Entwicklung des Geistes betrifft, so stellt Hellmuth (2009) fest, dass die »Ausdrucksformen der Bewusstheit« nämlich das Denken, das Wollen und das Fühlen seien (S. 177). In diesem Sinne schildert er die parallele Entwicklung, welche der Geist in jeder dieser Richtungen durchlaufe. Dabei handele es sich um eine »Steigerung der Bewusstheit auf seinen apriorisch angelegten Wesenszweck hin« (Hellmuth, 2009, S. 182). Während der Geist im Denken die Entwicklung des »Wahrheitsbewusstseins« und im Wollen die Entwicklung des »Freiheitsbewusstseins« durchlaufe (Hellmuth, 2009, S. 58) und sich hierbei zu den metaphysischen und ethischen Ideen erhebe (Hellmuth, 2009, S. 96), erreiche die Entwicklung des Geistes ihre Vollendung im Religionsgefühl, welches die ganze Entwicklung des Geistes zu einer Einheit bringe (Hellmuth, 2009, S. 102). Der Geist öffne sich demnach auf der höchsten Stufe seiner Bewusstseinsentwicklung zur »Einwirkung des Ewigen auf seinen Willen und auf sein Erkennen« (Hellmuth, 2009, S. 102), um durch die Integration seines Denkens und Wollens das Religionsbewusstsein zu entwickeln, bei welchem er sich »von der Weisheit zur Frömmigkeit erhebt« und hierbei im Selbstgefühl auf das absolute Wesen bezogen sei (Hellmuth, 2009, S. 106). Insofern die Entwicklung des menschlichen Geistes zum Bewusstsein der Gegenwart des absoluten Wesens im Denken, im Wollen und im Fühlen gelange, betrachtet Hellmuth (2009) die metaphysische Anthropologie Fichtes als die Grundlage und den »Kerngehalt« seiner theistischen Philosophie (S. 26). Schließlich kulminiere die metaphysische Anthropologie Fichtes laut Hellmuth in der Lehre der Fortdauer des Geistes. Dabei argumentiere Fichte – so Hellmuth (2009) – dafür, dass »die perfektible Entwicklung des Geistes im Bewusstsein« nicht mit dem Tod abbreche, sondern dass sie »eine nachtodliche Fortsetzung finde« (S. 125). Hellmuth bietet eine kurze Schilderung einiger wichtigen Aspekte des Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Einleitung

Beweises Fichtes für die Fortdauer der Seele hervor, wie unter anderem der Begriffe der Verleiblichung, des inneren Leibes und der Phantasie. Fichte sei der Auffassung, dass der menschliche Geist in seiner nachtodlichen Existenz »die Eigenschaft der Bewusstheit und die Eigenart seiner Persönlichkeit« nicht verliere (Hellmuth, 2009, S. 180). Insgesamt bietet Hellmuths wohlwollende, adäquate und gerechte Arbeit einen sehr guten Überblick über die philosophische Anthropologie Fichtes. Seine Gliederung in die Grundlehren des Seins, der Entwicklung und der Fortdauer des Geistes bildet eine aufschlussreiche Deutung seiner Philosophie. Die vorliegende Arbeit knüpft an die Grundidee an, dass die Menschenfrage den systematischen Mittelpunkt der Philosophie Fichtes bildet, und versucht sie weiterhin aus der Betrachtung der frühen intellektuellen Entwicklung Fichtes zu untermauern. Im Vergleich zum Ansatz Hellmuths nimmt diese Arbeit jedoch einen anderen methodischen Standpunkt ein, insofern sie die innere Einheit und logische Entfaltung von Fichtes Argument für die Wesensapriorität und die Unvergänglichkeit des menschlichen Geistes in seinen Hauptmomenten zu systematisieren versucht. Auf diese Weise fokussiert sich diese Arbeit weniger auf die »Grundlehren«, als vielmehr auf die Bestimmungen des menschlichen Geistes, welche bei Hellmuth zwar partiell erörtert, jedoch nicht gründlich genug begründet werden. Die vorliegende Arbeit nimmt sich demnach eine systematische Rekonstruktion des Beweises für die Substantialität, die Individualität, die Präexistenz und die Fortdauer des menschlichen Geistes vor.

1.4 Fragestellung und Relevanz Aus der Schilderung des Forschungsstandes zur anthropologischen und psychologischen Ansicht Fichtes soll es deutlich geworden sein, was das Anliegen dieser Arbeit ist. Ihr allgemeines Ziel besteht nämlich darin, Fichtes Konzeption des Wesens des Menschen und sein Argument für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele systematisch zu rekonstruieren. Nun ist zur Frage nach der Unsterblichkeit der Seele zunächst darauf hinzuweisen, dass für die schon erwähnte Vernachlässigung Fichtes in der Geschichte der Philosophie nämlich die Tatsache symptomatisch ist, dass Wittwer (2009) in seinem Büchlein über die Philosophie des Todes, in welchem er die Thematik der Unsterblichkeit 42

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Fragestellung und Relevanz

der Seele einführt, die eigentlich historisch unzutreffende Behauptung aufstellt, dass es »[n]ach Kant … in der philosophischen Debatte über die Unsterblichkeit der Seele keine nennenswerten Neuerungen mehr zu registrieren« seien (S. 39). »Erwähnenswert« findet er nur den Säkularisierungsprozess und die Entwicklungen der Physiologie und der Neurowissenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts (S. 39). Dabei vernachlässigt er jedoch nicht nur die Bemühungen Fichtes um jene Frage, sondern auch den ganzen Unsterblichkeitsstreit, welcher in den 1830er Jahren innerhalb der hegelschen Schule stattfand. 19 Hätte Wittwer der Philosophie Fichtes Aufmerksamkeit geschenkt, so hätte er nicht nur jene historisch unzutreffende, sondern auch die darauffolgende systematisch ungenaue Behauptung nicht aufgestellt. Als das negative Resultat der Debatte um die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele seit Kant stellt Wittwer (2009) nämlich fest, »dass weder begriffliche noch empirische Gründe für die Existenz und die Unsterblichkeit der Seele sprechen« (S. 39–40). Aus diesem skeptischen Resultat weist Wittwer (2009) darauf hin, dass »die Beweislast nicht bei den Kritikern der Unsterblichkeitslehre, sondern bei ihren Verfechtern liegt« (S. 40). Was die Verfechter der Unsterblichkeit der Seele beweisen sollten, führt er sodann auf drei Fragen zurück: 1. Wie kann eine immaterielle Substanz an einem bestimmten Ort im Raum sein? Nur wenn sie dies kann, lässt sich verständlich machen, dass jeweils eine Seele mit einem Körper verbunden ist. 2. Wie können zwei Substanzen, die wesentlich verschieden sind, die nichts miteinander gemein haben und verschiedenartigen Gesetzmäßigkeiten unterstehen, aufeinander einwirken? Wie also lässt sich erklären, dass der Körper auf die Seele wirken kann und diese auf jenen, obwohl der eine materiell und die andere immateriell ist? 3. Was spricht dafür, dass die Seele, die nach dem Tod fortexistieren würde, mit dem Menschen, der vor dem Tod aus Seele und Körper bestünde, personal identisch wäre? Nur wenn dies gewährleistet wäre, könnte man sinnvollerweise von personaler Unsterblichkeit sprechen. – Ob die Vertreter der Unsterblichkeitslehre in der Zukunft überzeugende Antworten auf diese schwierigen Fragen geben werden, bleibt abzuwarten. Bisher ist es ihnen nicht gelungen (Wittwer, 2009, S. 40).

Nicht nur geht Wittwer bei diesen Fragestellungen von einem zugrundeliegenden Substanzdualismus aus, sondern er legt nahe, dass es in der Vergangenheit überhaupt keine befriedigende Antwort auf 19

Vgl. das entsprechende Kapitel dieser Arbeit (3.1.6).

Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Einleitung

die von ihm aufgeworfenen Fragen gegeben wurde. Eine solche Annahme ist jedoch sachlich inkorrekt. Fichte hat nämlich explizite Antworten auf die Frage nach dem Substanzdualismus, nach dem Verhältnis der Seele zum Raum, nach dem Einfachheitsbegriff und nach der persönlichen Fortdauer der menschlichen Seele gegeben – er veröffentlichte doch 1834 ein Buch mit dem Titel Die Idee der Persönlichkeit und der individuellen Fortdauer. Den Fragen, dessen Antworten für Wittwer vielleicht nur in der Zukunft vorkommen mögen, ging nämlich Fichte schon im 19. Jahrhundert nach, und zwar im Rahmen einer epistemologisch und methodologisch fundierten Philosophie des menschlichen Geistes. In diesem Sinne befasst sich diese Arbeit mit der schon antizipierten Frage, worin Fichtes Konzeption des Wesens und der Unvergänglichkeit der menschlichen Seele besteht. Zur Beantwortung dieser Frage soll die Untersuchung jedoch zuvor weiteren, eng damit zusammenhängenden Fragen nachgehen, welche anschließend präzisiert werden. Da sich diese Arbeit auf einen von der Philosophie und der Philosophiegeschichte vernachlässigten Philosophen fokussiert, soll an erster Stelle die Frage beantwortet werden, welche philosophiegeschichtliche Stellung Fichte einzuräumen ist. Unter Berücksichtigung des möglichen Vorurteils, dass diese Vernachlässigung eigentlich den Beleg für die Bedeutungslosigkeit seines Denkens ausmacht, soll zunächst der defizitäre Zustand der philosophiegeschichtlichen Forschung betrachtet werden, um nämlich die Frage beantworten zu können, wie, wenn sein Denken beachtenswert sein sollte, es zu erklären ist, dass er weder rezipiert wurde noch eine besondere und bleibende Wirkung auf die Entwicklung der Philosophie hatte. Nachdem die Gründe seiner Vernachlässigung begriffen worden sind, soll sein philosophischer Ansatz im Rahmen der nachidealistischen Philosophie kontextualisiert werden. Diese Kontextualisierung soll insbesondere von der Frage geleitet werden, in welcher intellektuellen Situation Fichte sein philosophisches Werk entwickelt und an welche zeitgenössischen Debatten und Kontroversen er anknüpft. Dadurch soll ein philosophiegeschichtliches Bild entstehen, welches es ermöglichen soll, Fichte seine Stellung einzuräumen sowie seinen Beitrag zu den wichtigsten Debatten seiner Zeit adäquat zu würdigen. Nach der philosophiegeschichtlichen Kontextualisierung des philosophischen Ansatzes Fichtes soll sich die Untersuchung mit der zweiten Hauptfrage befassen, wie Fichte die Möglichkeit einer phi44

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Fragestellung und Relevanz

losophischen Anthropologie, welche die Frage nach dem Wesen und der Unvergänglichkeit der menschlichen Seele zu ihrem Untersuchungsgegenstand macht, disziplinär, epistemologisch und methodologisch rechtfertigt. Von besonderem Interesse ist nämlich die Frage, inwiefern Fichte in einer nachkantischen Zeit dazu berechtigt ist, jene Frage für die Philosophie zurückzufordern und, statt einer dogmatischen Metaphysik zurück zu erliegen, überhaupt Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu erheben. Wenn Fichte die Seelenfrage gerade in der Zeit ins Zentrum einer philosophischen Disziplin zieht, in welcher mit dem Fortschritt der Naturwissenschaften und dem Vormarsch des Materialismus der Seelenbegriff überhaupt preisgegeben wurde, scheint es umso mehr interessant, einerseits sein Beharren auf ein solches Projekt zu verstehen und andererseits die wissenschaftstheoretische Grundlegung dieses Projektes genau zu betrachten. Auf diese Weise soll die Bedeutung zutage treten, welche Fichtes philosophischer Standpunkt für die Gegenwart hat, vor allem in Hinsicht auf seinen Anspruch darauf, dass die unvermeidlichen Fragen der Vernunft doch zur Philosophie gehören und auf einem erfahrungsmäßigen Weg untersucht werden können. Nachdem die existentielle, disziplinäre, epistemologische und methodologische Rechtfertigung der philosophischen Anthropologie Fichtes deutlich konturiert wird, soll sich die Untersuchung letztlich der dritten Hauptfrage wenden, was die wesentlichen Resultate seiner philosophischen Anthropologie sind. Zur Beantwortung dieser Frage soll erstens seine Selbstpositionierung in der modernen Geschichte der Seelenlehre anhand seiner doxographischen und kritischen Würdigung der psychologischen Haupttheorien betrachtet werden, um zweitens sein Argument für die Wesensapriorität und die Unvergänglichkeit der menschlichen Seele in seinen Hauptmomenten zu rekonstruieren. Da Fichte sein Argument in die Teilbeweise für die Substantialität, die Individualität, die Präexistenz und die Fortdauer der menschlichen Seele untergliedert, soll eine systematisch ausdifferenzierte Rekonstruktion durchgeführt werden, bei welcher einerseits jedes der Hauptmomente des Argumentes anhand der entsprechenden Belegstücke deutlich dargestellt sind und andererseits die innere Einheit des Argumentes deutlich zutage tritt. Auf diese Weise soll eine Antwort auf die Frage gegeben werden, in welchem Sinne es sich für Fichte feststellen lässt, dass die menschliche Seele ein reales und substantielles Wesen ist, welchem einerseits eine Präexistenz zukommt, welche im Modus der Idealität und der Latenz seine UrSubstantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Einleitung

anlagen und seine Individualität einschließt, und welches andererseits nach dem natürlichen Tod als eine Persönlichkeit mit einer Existenzund einer Bewusstseinsform fortdauern kann. Diese Arbeit ist nämlich sowohl in historischer als auch in systematischer Hinsicht relevant. Sie stellt erstens insofern einen Beitrag zur philosophiegeschichtlichen Forschung dar, als sie die philosophische Bedeutung eines vergessenen Denkers der nachidealistischen Philosophie zu erschließen versucht. Auf diese Weise kann diese Arbeit mindestens teilweise zur Behebung des defizitären Zustandes der Forschung zu Fichte beitragen. Da diese Arbeit dabei wesentliche Aspekte seiner ganzen Philosophie emporhebt, öffnen sich neue und weiterreichende Forschungsperspektiven, sodass sie auch einen Beitrag zur Konturierung eines neuen Forschungsfeldes ausmacht. Darüber hinaus wird durch die Deutung seines Denkens nicht nur das historische Urteil berichtigt, nach welchem Fichte von der Philosophie und der Philosophiegeschichte vergessen wurde, sondern es werden auch neue rezeptions- und ideengeschichtlich relevante Zusammenhänge sowohl im Kontext des deutschen Idealismus als auch im Kontext der nachidealistischen Philosophie aufgedeckt. Von besonderem Interesse ist die von dieser Arbeit vorgeschlagene Definition einer ebenso vernachlässigten Strömung der Philosophie, nämlich des Spätidealismus. Dabei werden die Hauptvertreter und die wesentlichen Motive dieser Strömung bestimmt, was im Endeffekt ebenso neue Forschungsperspektiven und ein neues Forschungsfeld öffnet. Nun kommt dieser Arbeit zweitens auch und vor allem systematische Relevanz zu, insofern sie durch eine systematische Rekonstruktion des anthropologischen Denkens Fichtes einen Beitrag zur Forschung über eine der wichtigsten Fragen nicht nur der Philosophie, sondern vor allem der menschlichen Existenz leistet, nämlich über die Frage nach dem Wesen und der Unvergänglichkeit der menschlichen Seele. Im Kontext einer durchaus materialistischen Kultur versucht diese Arbeit, aus der Vertiefung in die philosophische Anthropologie Fichtes Anhaltspunkte für eine der Zeit angemessene Philosophie des Geistes zu gewinnen. Der Beitrag dieser Arbeit besteht demnach darin, dass sie Fichtes epistemologisch und methodologisch fundierten Standpunkt rekonstruiert, auf welchem die gegenwärtige Philosophie des Geistes jene Frage für sich zurückfordern und neue Einsichten in die geistige Existenz des Menschen gewinnen kann. Auf diese Weise kann diese Arbeit nicht nur zur akademischen Forschung über jene Frage, sondern auch durch die Berichtigung des 46

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Methode und Struktur

neurowissenschaftlichen, informatischen und darwinistischen Menschenbildes der Gegenwart zu einem umfassenderen Selbstverständnis des heutigen Menschen beitragen. Zu diesem Selbstverständnis gehört nämlich – wie Fichte sagen würde – eine theoretische Einsicht und eine praktische Überwindung der eigenen Zeitlichkeit dazu, wodurch sich der Mensch schon in diesem Leben seiner inneren Ewigkeit inne werden kann.

1.5 Methode und Struktur Zur Erfüllung der skizzierten Ziele dieser Arbeit soll eine wohlwollende und textnahe Interpretation des philosophischen Denkens Fichtes durchgeführt werden. Da es kaum philologische und historiographische Vorarbeiten gibt, muss die Untersuchung mit diesem Defizit der Forschung rechnen und es innerhalb ihrer Grenzen abzuhelfen versuchen. Methodisch bedeutet diese Tatsache, dass auch biographische, philologische und historische Zusammenhänge untersucht und aufgedeckt werden sollen, welche diese Arbeit jedoch, sich auf philosophische Zusammenhänge einschränkend, nur lückenhaft und unzureichend ausarbeiten und nur als Voraussetzung der im Vordergrund stehenden Interpretation zugrunde legen kann. In diesem Zusammenhang wird diese Arbeit angesichts des Forschungsstandes und des Mangels an einer eigentlichen Debatte um die Philosophie Fichtes weniger eine polemische Diskussion mit der Sekundärliteratur führen, als vielmehr eine eigene Interpretation seines Denkens priorisieren, welche aus direkter Betrachtung der Primärliteratur entwickelt wird. Zur Durchführung dieser Interpretation stützt sich diese Arbeit demnach vor allem auf die veröffentlichten Werke und auf Teile des unveröffentlichten Nachlasses Fichtes, der aus Vorlesungen, Briefen und Tagebüchern besteht. Insofern der Akzent auf Fichtes systematisches Denken gelegt wird, wird es in dieser Arbeit trotzt der notwendigen Archivarbeit weniger philologisch und historiographisch als vielmehr hermeneutisch verfährt. In diesem Sinne geht die vorliegende Arbeit nach den hermeneutischen Maximen des Verstehens und der Auslegung vor, die einer nicht auszuschließenden Kritik vorangehen sollen. Wegen des prekären Forschungszustandes räumt diese Arbeit demnach weniger der Kritik, als vielmehr dem Verständnis und der Rekonstruktion des philosophischen Denkens Fichtes die Priorität ein. Wenn infolge dieser Prioritätensetzung diese Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Einleitung

Arbeit keine destruktive oder dekonstruktive Kritik bietet, was übrigens in der Gegenwart zum Vorbild der philosophischen Wissenschaftlichkeit sich erhoben hat, so bietet sie stattdessen eine nicht weniger wissenschaftliche Rekonstruktion, welche gemäß den Prinzipien der wohlwollenden Interpretation (principle of charity) und der textnahen Lektüre (close reading) darauf abzielt, durch Textarbeit und Textanalyse ein Verständnis der philosophischen Anthropologie Fichtes in ihrer bestmöglichen Form in Hinsicht auf Intention, Kohärenz, Intelligibilität und Überzeugungskraft zu erlangen. Gegen diese Verfahrensweise kann man den Einwand erheben, dass der Interpret dem Interpretierten ein einheitliches Denken unterstelle und infolgedessen dem Bestätigungsfehler anheimfalle, insofern er Stellen des philosophischen Werkes des interpretierten Philosophen auswählen würde, die seine Interpretation bestätigen, während er zugleich andere Stellen ausschließen würde, die seine Interpretation problematisieren oder ihr widersprechen. Dieses methodologische Risiko erfordert eine interpretative Besonnenheit bei der angestrebten Rekonstruktion. In diesem Sinne versucht diese Arbeit, zunächst einmal die fundamentalen Intentionen und Gedanken der philosophischen Anthropologie Fichtes zu identifizieren, die sich durch sein ganzes Werk konsequent und konsistent durchziehen, um auf dieser Grundlage die Interpretation aufzubauen. Wenn dementsprechend Stellen aus verschiedenen Stadien des philosophischen Werkes Fichtes verwendet werden, so wird diese Verfahrensweise nicht aus Willkürlichkeit durchgeführt, sondern aus der inneren Notwendigkeit der an einer bestimmten Stelle der Rekonstruktion in Betracht kommenden systematischen Gedanken. Die hier angedeutete innere Notwendigkeit wird, wie die Entfaltung der Rekonstruktion zeigen sollte, durch diejenigen Intentionen und Gedanken gerechtfertigt, die sich im philosophischen Werk Fichtes als fundamental, konsequent und konsistent erweisen. Gerade im Verhältnis zu solchen Grundintentionen und -gedanken sind die möglichen Unzulänglichkeiten, Berichtigungen und Ergänzungen des interpretierten Philosophen bei bestimmten Argumenten einzuschätzen. Auf diese Weise wird der Interpret zudem davon abgehalten, angebliche Brüche, Inkonsistenzen oder Widersprüche übereilter- und irrtümlicherweise zu unterstellen. Es ist folglich das Anliegen dieser Arbeit, eine immanente und systematische Rekonstruktion der philosophischen Anthropologie Fichtes durchzuführen, die zuvörderst ein Verständnis seines Denkens ermöglichen soll und die erst danach die Grund48

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Methode und Struktur

lage für eine problematisierende und kritische Untersuchung bieten kann. Aus den im vorigen Unterkapitel aufgeworfenen Fragen ergibt sich die entsprechende Struktur dieser Arbeit, die methodisch in drei Hauptteile gegliedert wird. Im ersten Teil wird das philosophische Denken Fichtes im Kontext der nachidealistischen Philosophie charakterisiert und verortet. Zu diesem Zweck wird es in zwei Schritten vorgegangen. An erster Stelle wird der defizitäre Zustand der historiographischen Forschung zur nachidealistischen Philosophie analysiert, um sodann an zweiter Stelle durch eine Betrachtung der Hauptkontroversen und der vergessenen philosophischen Strömungen dieser Periode deren historisches Bild in groben Zügen neuzugestalten. Die für diese Arbeit besonders relevanten Kontroversen sind nämlich die Kontroverse um die göttlichen Dinge, die Kontroverse um die Identität der Philosophie, die Materialismus-Kontroverse und die Darwinismus-Kontroverse. Außerdem hat die philosophische Strömung des Spätidealismus eine zentrale Stellung, welcher konturiert und definiert wird. Das aus dieser Betrachtung entstehende historische Bild wird es ermöglichen, erstens einen Blick auf den intellektuellen Kontext zu werfen, in welchem Fichte sein philosophisches Werk entwickelt, und zweitens seinen philosophischen Ansatz ins direkte Verhältnis mit jenen Kontroversen zu setzen, insofern er explizit Stellung zu ihnen nimmt und einen wichtigen Beitrag zur Reflexion und Lösung jener philosophischen Probleme leistet. Durch die Charakterisierung seiner Stellungnahme zu den genannten Kontroversen werden wesentliche Motive seines Denkens aufgedeckt, was es ermöglichen wird, Fichte als einen exemplarischen Spätidealisten zu bezeichnen. Im zweiten Teil wird Fichtes wissenschaftstheoretische Grundlegung seiner philosophischen Anthropologie rekonstruiert. Zu diesem Zweck wird es in vier Schritten vorgegangen. An erster Stelle wird Fichtes frühe intellektuelle Entwicklung in Betracht gezogen, um aus genetischer Sicht die systematische Stellung zu ermitteln, welche die Menschenfrage in seinem Denken und seinem philosophischen Projekt einnimmt. Anschließend wird es an zweiter Stelle Fichtes Begriff der philosophischen Anthropologie erörtert, wobei erstens ihre existentielle und zweitens ihre disziplinäre Bestimmung aufgezeigt werden. Nachdem Fichtes Bestimmung der Aufgabe der philosophischen Anthropologie aufgefasst wird, wird die Untersuchung an dritter Stelle mit der Ermittlung von Fichtes epistemologischer Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Einleitung

Rechtfertigung dieser Disziplin fortfahren. Dabei ist Fichtes genetische Epistemologie von besonderem Interesse, bei welcher er eine postkritische Begründung der Möglichkeit eines spekulativ-anschauenden Erkennens zu liefern versucht. Auf diese Weise wird es verständlich, in welchem Sinne Fichtes philosophische Anthropologie als eine aposteriorisch-spekulative Betrachtung des Menschen bezeichnet werden soll. Als letzter Schritt dieses Teiles werden die methodologischen Richtlinien und Einschränkungen einer aposteriorisch-spekulativen Wissenschaft der menschlichen Seele geschildert, woraus es ersichtlich wird, was Fichtes philosophische Anthropologie leisten und nicht leisten kann. Im dritten Teil dieser Arbeit werden schließlich die wesentlichen Resultate der philosophischen Anthropologie Fichtes dargelegt. Zu diesem Zweck wird es in zwei Schritten vorgegangen. An erster Stelle wird es auf Fichtes doxographische und kritische Würdigung der paradigmatischen psychologischen Theorien eingegangen, bei welcher nämlich der dualistische Spiritualismus, der monistische Materialismus, der identitätsphilosophische Monismus und der realistische Individualismus in Betracht kommen. Diese Schilderung wird sowohl die relative Geltung als auch die entsprechende Unzulänglichkeit aufzeigen, welche Fichte an jener der gewürdigten Theorien feststellt. Als Resultat seiner historisch-kritischen Würdigung wird der allgemeine Seelenbegriff dargestellt, welchen Fichte zu dem heuristischen Prinzip seiner eigenen Untersuchung macht. An zweiter Stelle wird schließlich Fichtes Beweis für die Wesensapriorität und die Unvergänglichkeit der menschlichen Seele rekonstruiert. Zu diesem Zweck wird der Beweis in dessen Hauptmomenten entfaltet, ohne dabei seine Einheit und Entwicklung außer Acht zu lassen. In diesem Sinne wird Fichtes allmähliche und steigernde Beweisführung systematisch in den Teilbeweisen für die Substantialität, die Individualität, die Präexistenz und die Fortdauer der menschlichen Seele gegliedert.

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2 Immanuel Hermann Fichte im Kontext der nachidealistischen Philosophie

Immanuel Hermann Fichte (1796–1879) ist einer derjenigen deutschen Philosophen des 19. Jahrhunderts, dessen Werk von der sowohl historisch als auch systematisch orientierten philosophischen Forschung vernachlässigt worden ist, auch wenn es beinahe alle Hauptbereiche der Philosophie umfasst: Epistemologie, Ontologie Metaphysik, Theologie, Religionsphilosophie, Anthropologie, Psychologie, Geschichtsphilosophie, Ethik und Gesellschaftstheorie. Die geringe Aufmerksamkeit, die sein philosophisches Denken erlangt hat, gehört zu einem allgemeinen Desinteresse an der Epoche der Geschichte der Philosophie, in welcher es sich befindet, d. h. an der nachidealistischen Philosophie der mittleren Periode des 19. Jahrhunderts. Da sowohl der Philosoph als auch die Epoche der Geschichte der Philosophie, welche in dieser Arbeit in Betracht kommen, immer noch ein Desiderat der philosophischen und historiographischen Forschung bleiben, besteht das erste Ziel dieser Arbeit darin, das philosophische Denken Fichtes im Kontext der nachidealistischen Philosophie ansatzweise zu situieren. Zu diesem Zweck gilt es erstens, die Gründe des mangelhaften Zustandes der Historiographie der nachidealistischen Philosophie zu begreifen, um den Horizont der historiographischen Forschung dieser Epoche erweitern zu können. Zweitens soll das historische Bild dieser Periode, auf aktuellen Arbeiten über ihre Hauptkontroversen basierend, neu gestaltet und hierbei Fichtes Denken und Werk mit jenen Diskussionen in Zusammenhang gebracht werden, wobei es in diesem Teil lediglich darum geht, aufzuzeigen, dass Fichte den Hauptproblemen seiner Zeit Rechnung trägt und dass er einen beachtenswerten Beitrag zur Reflexion und Diskussion über jene Probleme leistet. In diesem Sinne wird sein Denken kontextualisiert und in einen aktuellen und zeitgenössischen Diskurs miteinbezogen. Schließlich wird es ferner das historische Bild der nachidealistischen Philosophie durch die Betrachtung von zwei vergessenen philosophischen Strömungen zu bereichern versucht, Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Immanuel Hermann Fichte im Kontext der nachidealistischen Philosophie

was es erlauben wird, Fichtes Denken innerhalb einer besonderen philosophischen Konstellation genauer zu situieren.

2.1 Der defizitäre Zustand der Historiographie der nachidealistischen Philosophie Der gegenwärtige Zustand der Historiographie der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts, insbesondere der nachidealistischen Philosophie, hat sich seit der in den 1980er Jahren von Lehmann (1980), Schnädelbach (2013) und Köhnke (1993) gestellten Diagnose nicht so viel geändert. 20 In ihren jeweiligen Arbeiten mussten diese Autoren konstatieren, dass diese Periode der Philosophie immer noch ein von der akademischen Historiographie unbekanntes und vernachlässigtes Gebiet war, weil sie grundsätzlich als eine Zeit des Niedergangs der Philosophie betrachtet worden sei. Nach dem Ende der klassischen Periode des Idealismus um 1830 »kommt das dunkle Gebiet, in das sich niemand mit allzu großer Erwartung und Freude hineinbegibt« (Leese, 1929b, S. 4). In diesem Sinne verschiebt sich das Interesse der philosophischen und historiographischen Forschung vom ersten zum letzten Drittel des Jahrhunderts, sodass die interessanten philosophischen Diskussionen der mittleren Periode unberücksichtigt blieben und außerdem die Mehrheit ihrer Philosophen, wenn nicht durchaus vergessen, entweder als Epigonen oder als Vorläufer betrachtet worden seien, ihren originellen Fragen und Beiträgen verachtend und verkennend (Schnädelbach, 2013, S. 13). Folglich hat man heutzutage ein mangelhaftes und verarmtes Bild der nachidealistischen Philosophie. Neulich mussten sowohl Bayertz, Gerhard und Jaeschke (2007a, 2007b, 2007c) als auch Beiser (2013, 2014a, 2014b) dieselbe Diagnose bestätigen und gleichzeitig haben sie sich an die Bemühungen der zuvor erwähnten Autoren angeschlossen, die Mängel der Historiographie der nachidealistischen Philosophie zu berichtigen. Obwohl es möglich sei, zu behaupten, dass das 19. Jahrhundert eine der am gründlichsten geforschten Epochen der Geschichte der deutschen Philosophie ist, sei diese Behauptung jedoch nur für das erste und das letzte Drittel des Jahrhunderts gültig (Bayertz et al., 2007c, S. 7– 8). In diesem Sinne bemerkt Beiser (2014a), dass die historiographi20

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Die ursprünglichen Veröffentlichungsjahre sind respektive 1980, 1984 und 1986.

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Der defizitäre Zustand der Historiographie der nachidealistischen Philosophie

sche Forschung den verschiedenen und bedeutungsvollen Entwicklungen der mittleren Periode nicht gerecht werden habe, und er stellt fest, dass der Grund ihres gegenwärtigen Defizits in der Hegemonie von zwei Narrativen sich befindet, »which have imposed a rigid canon about which thinkers of the nineteenth century deserve examination« (S. 7). Insbesondere weist Beiser auf die Narrativen von Hegel und Löwith hin, welchen, obwohl sie in beachtliche Unterlassungen geraten, eine unbestreitbare Autorität verliehen worden sei, insofern sie sowohl in Texten der Philosophiegeschichte als auch in Studienplänen der Philosophie reproduziert und aufrechterhalten worden seien. Eine solche blinde und konformistische Reproduktion des Kanons entspricht Beiser zufolge nicht der Aufgabe der Philosophiegeschichte, da sie auf diese Weise das Vorurteil begünstige, dass solcher Kanon die vergangenen Philosophen erschöpft, denen philosophisches Interesse und philosophischer Wert beizumessen sei: One of the worst mistakes in the history of philosophy is to assume that what exists in the standard curriculum, or what is accepted in the canon of major thinkers, exhausts what is of philosophical merit from the past. We inherit a scholarly tradition and assume in good faith that it has brought us all that is of interest and merit from the past. We think that the »major thinkers« are those we study and that everyone else is a »minor thinker,« either deservedly forgotten or only »a transitional figure.« In this way we foster prejudice. (Beiser, 2014a, S. 13–14).

Beisers Arbeit in diesem Bereich hat demnach darin bestanden, die Autorität der zuvor erwähnten Narrativen infrage zu stellen und vergessene Denker und unberücksichtigte Kontroversen in die historische Darstellung der nachidealistischen Philosophie einzubeziehen, um ein historisch genaueres und philosophisch reicheres Bild der Philosophie dieser Periode zu konfigurieren. Beiser zufolge kann diese Aufgabe nur dann erfüllt werden, wenn die herrschenden Vorurteile über die Geschichte der nachidealistischen Philosophie überwunden werden. Erstens solle man Hegels historische Darstellung überwinden, der zufolge die idealistische Philosophie in seinem eigenen philosophischen System gipfele, welches er als »the grand synthesis of all that came before it« betrachte, »leaving out nothing of philosophical merit« (Beiser, 2014a, S. 9). Zweitens solle man Löwiths historische Darstellung überwinden, der zufolge die Philosophie des 19. Jahrhunderts in einer Verwandlung von Hegels Philosophie bestanden habe, deren Ergebnis und intellektuelle Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Immanuel Hermann Fichte im Kontext der nachidealistischen Philosophie

Erbschaft die Entstehung von Autoren wie Marx, Kierkegaard und Nietzsche, mithin der Traditionen des Marxismus und Existentialismus gewesen seien (Beiser, 2014a, S. 7–8, 2014b, S. 9). 21 Man könne demnach nur dann das historische Bild der nachidealistischen Philosophie bereichern, wenn man mit der Erblast beider Autoren bricht und ihre noch aktuellen Kontroversen und noch unbekannten Protagonisten berücksichtigt (Beiser, 2014a, S. 12–13). Diesen zwei von Beiser identifizierten Vorurteilen kann man noch ein drittes Problem hinzufügen. In seiner Rekonstruktion der historischen Entwicklung des Neukantianismus tritt Köhne (1993) einerseits der Unterschätzung und der historischen Abwertung dieser Strömung seitens ihrer Kritiker und andererseits den »Mystifikationen« des eigenen Neukantianismus über seine Vorgeschichte entgegen. In beiden Fällen gäbe es eine Nachlässigkeit der genuin historischen Frage, was letztendlich zu einem verfälschten Bild dieser Periode der Philosophie geführt habe. In diesem Zusammenhang solle man demnach den Mangel an historische Strenge überwinden, welcher einen Hiatus zwischen der idealistischen Philosophie des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts und den verschiedenen philosophischen Entwicklungen sowohl des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts als auch des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts schaffte (Köhnke, 1993, S. 9–15). Wenn der Horizont der historiographischen Forschung der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts in dem zuvor angedeuteten Sinne erweitert wird, dann eröffnet sich ein noch unbekanntes Gebiet für den Philosophiehistoriker, dessen eigentliche Aufgabe die Entdeckung von noch »verborgenen Schätzen« sei. Statt »travelers who never venture deep into the wilderness« sollten alle Philosophiehistoriker »explorers« sein, denn »only when they venture for themselves into the greater expanses and deeper recesses of the past will they see the many treasures that await them« (Beiser, 2014a, S. 14). Aus dieser Perspektive erscheint die Philosophie des 19. Jahrhunderts in einer ganz anderen Form als die des von den Texten der Philosophiegeschichte und den Studienplänen der Philosophie übermittelten Bildes.

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Vgl. Löwith (1995).

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2.2 Konturen einer Neugestaltung des historischen Bildes der nachidealistischen Philosophie Ausgehend von verschiedenen Zielen und methodischen Richtungen gelingt es den Arbeiten von Schnädelbach (2013), Köhnke (1993), Jaeschke (1990, 1993b, 1994b, 1995c), Bayertz et al. (2007a, 2007b, 2007c) und Beiser (2013, 2014a, 2014b), ein reiches und komplexes Bild der Philosophie des 19. Jahrhunderts zu konfigurieren. Gemäß diesem Bild handelt es sich um eine spannende und dynamische Periode, die durch Krisen, Verwandlungen, Problemen und Kontroversen sowie durch eine beachtenswerte philosophische Produktivität charakterisiert sei (Beiser, 2014a, S. 2–3), welche nichtsdestoweniger von den nachfolgenden philosophischen Entwicklungen, wie beispielsweise von dem Neukantianismus, dem Positivismus, der Phänomenologie und dem Existentialismus, überschattet worden sei (Beiser, 2013, S. 2).

2.2.1 Einige allgemeinen Tendenzen der nachidealistischen Philosophie Da die Arbeiten von Schnädelbach und Köhnke einerseits einen allgemeineren Einblick bieten als es hier erforderlich ist, andererseits von vorliegender Arbeit methodisch abweichen – beim ersten handelt es sich um eine Problemgeschichte, beim zweiten um eine Geschichte einer besonderen philosophischen Bewegung –, werden ihre Ansätze an diesem Punkt um der Vollständigkeit willen nur unter dem Aspekt ihrer jeweiligen Absichten und allgemeineren Argumentationsgänge charakterisiert. Durch diese Skizzierung sollte ein Überblick über die von diesen Autoren identifizierten geschichtlichen Tendenzen der nachidealistischen Philosophie gegeben werden. Im Gegensatz zu einer Geschichte entweder »großer Denker« oder »Schulen« nimmt sich Schnädelbach (2013) vor, eine historische Darstellung der philosophischen Probleme der betreffenden Epoche vorzulegen (S. 16–17). In diesem Sinne identifiziert Schnädelbach charakteristische Motive der nachidealistischen Philosophie, um die sich die philosophischen Diskussionen jener Zeit gedreht hätten: Geschichte, Wissenschaft, Verstehen, Leben, Werte, Sein und Mensch. In wenigen Worten sei die Situation der nachidealistischen Philosophie durch tiefgreifende Veränderungen im Geschichts- und WisSubstantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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senschaftskonzept gekennzeichnet. Aufgrund dieser Veränderungen entstehe »das Problem der erkenntnismäßigen Zugänglichkeit des Historischen«, d. h. des Verstehens bzw. der Hermeneutik (Schnädelbach, 2013, S. 22). Außerdem sei während dieses Jahrhunderts das Verhältnis von Wissenschaft und Leben zu einem Problem geworden, insofern die Wissenschaft »keine systematische Gesamtdeutung der Wirklichkeit« (Schnädelbach, 2013, S. 23) mehr bieten könne, aufgrund dessen die Weltanschauungen an die Stelle der Wissenschaft getreten wären, die Bedürfnisse befriedigend, die diese nicht mehr befriedigen konnte. Gleichzeitig habe sich die Einheit der Begriffe des Wahren und Guten sowie des Seins und Sollens gespaltet, welche zuvor vom absoluten Idealismus gewährleitstet war, sodass sich die nachidealistischen Philosophen dem Problem der Ethik und der Werte entgegengetreten wären. Insofern die Einzelwissenschaften der Forschung der besonderen Formen des Seins Rechnung trugen, habe sich eine Diskussion um das Problem der philosophischen Erkenntnis des Seins im Allgemeinen ausgelöst, was demnach das Problem der Metaphysik in einem nachidealistischen Kontext erneuert habe. Schließlich hätten alle erwähnten philosophischen Veränderungen tiefgreifende Folgen auf das Menschenbild gehabt. Die nachidealistische Philosophie sei demnach einer Krise des Menschenbildes entgegengetreten, sodass verschiedene Überwindungsversuche aus der Perspektive einer philosophischen Anthropologie entstanden hätten (Schnädelbach, 2013, S. 22–24). Köhnke (1993) nimmt sich seinerseits vor, die historische Entwicklung des Neukantianismus aus der Perspektive einer synchronisch orientierten philosophischen Historiographie zu betrachten, welche zudem als ein »Teilaspekt allgemeiner Geschichte« zu verstehen sei (S. 9). Den Untersuchungsgengestand beschränkt Köhnke auf die Vorgeschichte des Neukantianismus, d. h. auf die Jahre (1830– 1881) vor der späteren Differenzierung dieser Bewegung in Schulen und sucht die verschiedenen Gründe, weshalb in dieser Zeit das Bedürfnis entstand, auf die Philosophie Kants zurückzukehren. In diesem Zusammenhang beschreibt Köhnke wichtige philosophische Tendenzen, die einen Einfluss auf die Entwicklung des neukantianischen Programms gehabt hätten. Wenn man bedenkt, dass die Philosophie während dieser Zeit ihren Vorrang vor den Einzelwissenschaften verliert (Lehmann, 1980, S. 221), seien die wichtigsten Antezedenzien des neukantianischen Programms und der wissenschaftlichen Philosophie des 20. Jahrhunderts laut Köhnke nämlich 56

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(1) die Neugründung der Philosophie als Wissenschaftstheorie, (2) die Rückkehr zur Erkenntnisfrage als der ersten und grundlegenden Frage der Philosophie, (3) die Aufwertung des empirischen Elements für die Philosophie und (4) die Krise und Überwindung der systematischen Philosophie. Dabei bereichert Köhnke das Bild der Geschichte der nachidealistischen Philosophie, insofern er Denker wie Erich von Berger, Friedrich Adolf Trendelenburg, Friedrich Eduard Beneke, Immanuel Hermann Fichte, Christian Hermann Weiße und Hermann Ulrici aus der Vergessenheit rettet. Die von Schnädelbach und Köhnke dargestellten allgemeinen Tendenzen der nachidealistischen Philosophie, die einerseits zu bestimmten philosophischen Problemen und andererseits zur Konturierung eines bestimmten philosophischen Programms geführt haben, lassen sich auf mindestens zwei Hauptereignisse zurückführen, nämlich auf den Niedergang des absoluten Idealismus und auf die Ausbreitung und die Spezialisierung der empirischen Wissenschaften. Auch wenn der Fokus auf die allgemeinen Probleme der nachidealistischen Philosophie und auf die Folien einer philosophischen Schule gute Erträge zum Verständnis der intellektuellen Situation der nachidealistischen Philosophie bringt, scheint es für die vorliegende Arbeit methodisch sinnvoller zu sein, diese intellektuelle Situation unter dem Aspekt der Hauptkontroversen dieser Periode zu betrachten. Gerade die zwei erwähnten Hauptereignisse der nachidealistischen Philosophie, die den von Schnädelbach und Köhnke beschriebenen Veränderungen und Entwicklungen zugrunde liegen, haben das Feld für eine Reihe von philosophischen Kontroversen vorbereitet, die nicht nur ein lebhafteres Bild der intellektuellen Situation dieser Periode bieten, sondern auch besonders geeignet zur Kontextualisierung der Philosophie Immanuel Hermann Fichtes sind. In diesem Sinne sollen anschließend die Hauptkontroversen der nachidealistischen Philosophie unter besonderer Berücksichtigung der Beiträge Fichtes dargestellt werden.

2.2.2 Die Kontroversen der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts Im Vergleich zu den Arbeiten von Schnädelbach und Köhnke bieten die Arbeiten von Jaescke, Bayertz et al. und Beiser aus einer anderen Perspektive gewisse Anhaltspunkte, welche es erlauben, das philosoSubstantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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phische Denken Fichtes einerseits im Kontext der nachidealistischen Philosophie deutlicher zu situieren und andererseits es in einen aktuellen Diskurs miteinzubeziehen, weil sie methodisch bestimmte Kontroversen identifizieren, die Anspruch sowohl auf Historizität als auch auf Aktualität haben. Um das Dilemma zwischen einer antiquarischen und einer anachronistischen Philosophiegeschichte zu überwinden, nimmt sich Beiser vor, seine historische Darstellung der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts nach Kontroversen zu strukturieren, statt es nach Themen, Problemen oder Denkern zu tun. Die Kontroversen beziehen sich Beiser zufolge auf bestimmte Angelegenheiten, welche sowohl für die damaligen Zeitgenossen – das Risiko des Anachronismus vermeidend – als auch für die heutigen Zeitgenossen – das Risiko des »Antiquarismus« vermeidend – von Interesse und Wichtigkeit seien (Beiser, 2014a, S. 13). In diesem Sinne kommt Beisers Arbeit das Verdienst zu, die wichtigsten vergessenen Kontroversen und Strömungen der hier in Betracht kommenden Epoche in einer zusammenhängenden Darstellung integriert zu haben, welche demnach eine Reihe von Anhaltspunkten bietet, um sowohl das historische Bild der nachidealistischen Philosophie neu zu gestalten als auch die aktuelle Reflexion über jene Angelegenheiten zu bereichern. Beiser (2014a) identifiziert fünf Hauptkontroversen der deutschen Philosophie zwischen 1840 und 1900, nämlich die Identitätskrise der Philosophie 22, die Materialismus-Kontroverse, die Ignorabimus-Kontroverse, die Historizismus-Kontroverse und die Pessimismus-Kontroverse. Seinerseits identifiziert Jaeschke (1990, 1993b, 1994b, 1995c) 23 vier Kontroversen zwischen 1795 und 1854, nämlich die Kontroversen um die Grundlagen der Ästhetik (1795–1805), um die Gestalt einer Ersten Philosophie (1799–1807), um die göttlichen Dinge (1799–1812) und um die Romantik (1820–1854). Von diesen vier Kontroversen gehören die zwei ersten zur klassischen Periode des Idealismus, während sich die zwei letzten in die unmittelbar nachfolgende Periode erstrecken. Letztendlich identifizieren Bayertz et al. (2007a, 2007b, 2007c) 24 drei Kontroversen zwischen 1850 und 1870,

Beiser nimmt diesen Ausdruck von Schnädelbach (2013) auf. Außer den vier zitierten Sammelbänden zu den erwähnten Kontroversen, hat Jaeschke (1993a, 1994a, 1995a, 1995b) respektive vier komplementäre Anthologien mit Quellentexten veröffentlicht. 24 Außer den drei zitierten Sammelbänden zu den erwähnten Kontroversen, haben 22 23

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nämlich die Materialismus-Kontroverse (1850), die DarwinismusKontroverse (1860) und die Ignorabimus-Kontroverse (1870). Von diesen insgesamt zehn Kontroversen entsprechen diejenigen, welche im Kontext dieser Arbeit am relevantesten sind, den Kontroversen um die göttlichen Dinge, um die Identität der Philosophie, um den Materialismus und um den Darwinismus, da Fichte explizit zu ihnen Stellung nimmt. Die Auswahl dieser vier Kontroversen im Rahmen vorliegender Arbeit ergibt sich demnach aus der Tatsache, dass die Philosophie Fichtes die im Zentrum jener Kontroversen stehenden Probleme zur Kenntnis nimmt und eine entsprechende Antwort bietet. Anschließend gilt es, eine kurze Schilderung dieser Kontroversen unter besonderer Berücksichtigung der entsprechenden Beiträge Fichtes vorzulegen.

2.2.2.1 Die Kontroverse um die göttlichen Dinge 25

Obwohl die Kontroverse um die göttlichen Dinge im engeren Sinne mit der Veröffentlichung von Jacobis Buch Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung (1811) beginne und mit der Veröffentlichung von Schellings Replik F. W. J. Schelling’s Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen (1812) ende, könne ihr Zeitrahmen um einige Jahrzehnte erweitert werden, wenn sowohl ihre Antezedenzien als auch ihre Nachwirkungen miteinbezogen werden. In diesem Sinne seien als Antezedenzien die Kontroversen um den Pantheismus (1785) und um den Atheismus (1799) sowie als Nachwirkungen die Diskussionen um den spekulativen Theismus (1830–1850) miteinzubeziehen (Jaeschke, 1994b, S. VII–VIII).

Bayertz et al. (2012a, 2012b, 2012c) respektive drei komplementäre Anthologien mit Quellentexten veröffentlicht. 25 Zu diesem Thema vgl. Fichtes Werke (1826, 1829, 1832a, 1835, 1836a, 1841a, 1846b, 1873b) und Zeitschriftenartikeln (1837c, 1838c, 1839a, 1839c, 1840a, 1840b, 1840c, 1840d, 1841b, 1841c, 1842b, 1842c, 1843a, 1843b, 1843e, 1844d, 1846c, 1856c, 1857, 1865a, 1865b, 1868, 1870c). Zu Fichtes Auseinandersetzung mit Hegel und insbesondere zu seiner Kritik am Pantheismus vgl. Hartmann (1968), De Vitiis (1978) und Zolotukhin (2018). Zu Fichtes theologischen Ansichten und Gottesbegriff vgl. Scherer (1902), Amati (1967) und Oeing-Hanhoff (1982). Zur damit zusammenhängenden Frage nach der Persönlichkeit vgl. Horstmeier (1930) und Schneider (2001). Zu Fichtes Auseinandersetzung mit der Mystik und insbesondere mit Baader vgl. Koslowski (1994). Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Dasjenige, was diesen philosophischen und theologischen Diskussionen zwischen 1785 und 1850 zugrunde liegt und ihnen Kontinuität verleiht und was folglich die Kontroverse um die göttlichen Dinge definiert, entspricht der Frage nach der Möglichkeit und dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit der philosophischen Erkenntnis Gottes sowie der Frage nach dem Inhalt des Gottesbegriffs (Jaeschke, 1994b, S. VII). In seinen ersten Arbeiten 26 knüpft Fichte an die Tradition des Idealismus an und versucht, dem Problem des Absoluten, d. h. der Erkenntnis Gottes, Rechnung zu tragen. Fichtes Verhältnis mit der idealistischen Tradition ist sowohl affirmativ als auch kritisch, indem er, selbst wenn an ihr teilhabend, beispielsweise eine Kritik an der unpersönlichen Konzeption des absoluten Wesens übt, die aus den pantheistischen und panlogistischen Systemen hervorgeht. Im Gegensatz zu diesen Systemen argumentiert Fichte für das Prinzip der Persönlichkeit des absoluten Wesens im Rahmen eines Panentheismus (Fichte, 1855a, S. 10, 1869e, S. XXII). 27 Fichte (1843d) betrachtet den absoluten Idealismus Schellings und Hegels als das Gesamtresultat und den Kulminationspunkt der damaligen Philosophie und stellt fest, dass dieser Standpunkt eigentlich keine Vollendung, sondern erst den Anfang einer »neuen, weitverzweigten und weitaussehenden Entwicklung« (S. 10) ausmache. Nach einer Würdigung und Kritik des absoluten Idealismus betrachtet Fichte die Abstraktheit und Negativität dessen Begriffs des Absoluten als eine Unzulänglichkeit, welche zu überwinden gilt, wenn überhaupt ein Fortschritt in der Philosophie möglich sein soll. Das »Gebrechen derzeitiger Philosophie« bestehe darin, in den »Bestimmungen Gottes, als der absoluten Idee, der unendlichen Subjektivität, des absoluten Geistes … ein universalisirtes Weltabstraktum zum Range des Absoluten« erhoben zu haben (Fichte, 1843d, S. 27–28). Diese »Definitionen des Absoluten« sind für Fichte (1843d) »Halbbegriffe«, bei denen »schlechthin nicht stehen geblieben werden« kann (S. 28). Die Perspektive einer Entwicklung für die Philosophie sieht Fichte (1843d) an der sich mit wissenschaftlicher Notwendigkeit ergebenden Aufgabe, »den absoluten Idealismus von jenen widersprechenden Halbheiten zum entschieden theistischen Begriffe des absoluten Ursubjekts zu erheben, zu der Idee, in welcher die Abstrak26 27

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Vgl. Fichte (1826, 1829, 1832, 1833, 1834, 1835, 1836, 1841a, 1843, 1846, 1847b). Zur Gotteslehre Fichtes vgl. Scherer (1902).

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tion und die Unverständlichkeit zugleich ein Ende hat« (S. 28). Dieser »theistische Begriff des Absoluten« sei »nicht nur der dialektisch vermittelnde Abschluss aller vorhergehenden Bestimmungen desselben«, sondern auch und vor allem erkläre er »wirklich, was jene nicht vermochten, das Weltproblem, die absolute Zweckverknüpfung im Universum« (Fichte, 1843d, S. 28). Laut Fichte (1843d) ist die Idee der Persönlichkeit Gottes »das wahre Princip, der Anfang der Dinge, und darum das Ende des denkenden, den Grund der Welt suchenden Aufsteigens« (S. 35). Nur in dieser Idee fänden das Denken »seinen klar befriedigten Abschluss« und das Gemüt »die Ruhe für seine ein Verwandtes im All suchenden Bewegung« (Fichte, 1843d, S. 35). 28 Dieser Argumentation stellt Fichte jedoch eine epistemologische Untersuchung voran, da er feststellt, dass der Grundfehler des absoluten Idealismus in der aus einem epistemologischen Defizit hervorgehenden Täuschung bestehe, vom theozentrischen Standpunkt aus »ein ›absolutes‹ Wissen von Gott und den göttlichen Dingen zu besitzen« (Fichte, 1869b, S. 21) und »den theogonisch-kosmogonischen Proceß nachconstruiren zu können« (Fichte, 1859, S. 196, § 109). Dieser intellektuellen Übereilung gegenüber macht Fichte das »Princip der Besonnenheit« (Fichte, 1869b, S. 21) geltend, welches anfordert, dass die Philosophie »von der Lösung des Erkenntnissproblems« ausgehen sollte, »ehe die Begründung irgend eines metaphysischen Princips mit Sicherheit erwartet werden könne« (Fichte, 1847b, S. 20). An einer anderen Stelle weist Fichte (1869e) darauf hin, dass »die Philosophie, als systematische Wissenschaft, nur von einer erkenntnistheoretischen Selbstorientirung beginnen könne, um so auf regressivem Wege, in der Tiefe der Selbsterkenntnis, die Gewissheit des höchsten Princips erst zu finden« (S. XV). 29 Auf diese Weise schreite Gegen Fichtes Anliegen kann man den Einwand erheben, dass die Behauptung eines theistischen Begriffs des Absoluten eigentlich einen Rückfall in die dogmatische Philosophie ausmache. Bei näherer Betrachtung ergibt sich jedoch, dass das Interessante und Progressive beim Anliegen Fichtes gerade sein bewusster Versuch ist, nicht in die dogmatische Philosophie zurückzufallen, sondern die negative Philosophie des Absoluten zu überwinden und die Idee der Persönlichkeit Gottes als das Ergebnis einer positiven Philosophie des absoluten Wesens zu begründen, die sich aus einer immanenten Kritik und Entwicklung der negativen Philosophie ergebe. Wie es noch zu zeigen ist, stellt Fichte dieser These eine epistemologische Untersuchung voran, die die Möglichkeit einer solchen positiven Philosophie des absoluten Wesens rechtfertigen soll. 29 Diese Idee liegt seinem Werk Grundzüge zum Systeme der Philosophie zugrunde, welches in drei Bänden gegliedert ist: Das Erkennen als Selbsterkennen (1833), Die 28

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das Bewusstsein von seinem Selbsterkennen zum Gotterkennen fort (Fichte, 1832a, S. XVI–XVII). Eine solche Erkenntnis basiert jedoch auf dem anthropozentrischen Standpunkt, aus dem hervorgeht, dass die Perspektive menschlicher Auffassung bzw. der Kreis menschlicher Erfahrung nicht überschritten werden könne (Fichte, 1859, S. 183– 184, § 102, 1869b, S. 23). Dieses epistemologische Prinzip wird – wie oben angedeutet – in der Behandlung der Frage nach dem Absoluten eingehalten, sodass es sich dabei nicht um eine »Deduktion des Endlichen aus dem Ewigen« handele, weil »das Bewußtsein, mithin die Philosophie, nicht in Gott, sondern im Geschaffenen ihren Augpunkt hat« (Fichte, 1832a, S. XVIII). Stattdessen handelt es sich bei der philosophischen Behandlung der Frage nach dem Absoluten um eine aus der Erfahrung aufsteigende Erkenntnis Gottes. Seine spekulative Theologie sollte dem Vorhergehenden zufolge von einer abstrakten und negativen Erkenntnis der Form des Absoluten zu einer konkreten und positiven Erkenntnis des Inhalts des Gottesbegriffs avancieren. Eine solche Erkenntnis könne jedoch nicht in der Form eines Verhältnisses von Subjekt und Objekt gewonnen werden, da das Absolute dem menschlichen Bewusstsein nicht als ein äußerliches Objekt gegeben werden könne. Folglich sei das Wesen Gottes für den Menschen in dieser Form unerkennbar. Fichte zufolge ist Gott vielmehr indirekt erkennbar, d. h. »aus seiner Selbstsoffenbarung in die Welt und an den Menschen« (1855a, S. 26) bzw. »in seinen Wirkungen auf das Bewusstsein und in die Welt, so gewiss diese Wirkungen allerdings in den Bereich des Gegebenen fallen« (1869e, S. XIX). Die Aufgabe einer spekulativen Theologie sollte demnach darin bestehen, durch einen Rückschluss aus dem Gegebenen, d. h. aus der Gesamtheit der natürlichen und geistigen Tatsachen, auf die Ursachen einen Beweis für das Dasein und Wesen Gottes zu liefern (Fichte, 1869e, S. XX). In einem solchen Rückschluss »von der Beschaffenheit des Universums auf das reale Wesen ihres Urgrundes« sei die der dialektischen Methode innewohnende »Form des synthetischen Beweises a priori« unangemessen, denn es handele sich eher um »reales Erkennen«, d. h. um einen auf Erfahrung beruhenden Erkenntnisweg, in welchem sich stattdessen »die Form des synthetischen Denkens a posteriori« geltend mache (Fichte, 1855a, S. 8–9). Gemäß den Ontologie (1836) und Die speculative Theologie oder allgemeine Religionslehre (1846).

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»Principien der Induction, der Analogie und der Hypothese« erhebe sich das Denken »von der Erfahrung aus zu demjenigen Realen, welches nicht mehr Gegenstand unmittelbarer Erfahrung ist« (Fichte, 1855a, S. 9). Dabei handelt es sich jedoch nicht um ein bloßes Abstrahieren aus der Erfahrung, denn der von Fichte vorgeschlagene Erkenntnisweg beruht vielmehr auf dem panentheistischen Prinzip der Immanenz der Welt in Gott, aus welchem epistemologisch folgt, dass aufgrund der Immanenz der menschlichen Vernunft in der göttlichen Vernunft »der menschliche Geist, ohne seine Gränzen jemals überfliegen zu können oder zu wollen, dennoch innerhalb derselben, durch das Vermögen jener reinen Vernunft in ihm, des Eindringens in die objectiven Gründe der Erscheinung fähig ist« (Fichte, 1855a, S. 27). Dabei besteht der Grundgedanke darin, dass man aus dem »Theomorphischen« der Erscheinungen auf das Wesen Gottes schließen könne (Fichte, 1846b, S. 56, § 12), wie aus den folgenden Worten zu entnehmen ist: Denn alle Universalthatsachen der Welt erweisen sich als Selbstbethätigungen (Offenbarungen) des göttlichen Princips in die Welt; – und die höchste Weltthatsache, – wir weisen sie in der Gottesliebe nach, – erzeugt auch die höchste, wahrste, rechste Definition Gottes. Die ganze Metaphysik kann daher als eine zusammenhangende Reihe von »Beweisen für das Dasein Gottes« angesehen werden, welche vom abstractesten Beweise beginnt, – wir können ihn dem kosmologischen gleichstellen, indem er aus dem allgemeinsten Begriffe des Universums, als geschlossene Totalität, auf die Einheit des Absoluten zurückschliesst, – und bis zum ethisch-religiösen Beweise des als heiligen Willen und ewige Liebe am Menschen sich offenbarenden göttlichen Geistes sich erhebt (Fichte, 1855a, S. 31).

Der Gesamtbeweis besteht somit in einer Entwicklungsreihe von Begriffs- und Realitätsbeweisen und steigt von der Abstraktheit und Negativität bis zur Konkretheit und Positivität des Begriffs des Absoluten auf. Auf spezifischere Weise weist Fichte darauf hin, dass dieser Gesamtbeweis in den Hauptmomenten eines ontologischen, kosmologischen, teleologischen, moralischen, intellektuellen, ästhetischen und religiösen Beweises gegliedert sei (Fichte, 1846b, S. 47–56, § 12, 1869e, S. XXI). Ein solcher Beweis biete somit eine wissenschaftliche »Erkenntnis Gottes an der Welt und mittels der Welt« (Fichte, 1855a, S. 27). Fichtes Versuch, ausgehend vom Idealismus einen Fortschritt in der Philosophie – hier in Bezug auf die Frage nach dem Absoluten – zu machen, d. h. eine idealistische Tradition beizubehalten, fand im Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Kontext einer Krise der Philosophie statt. Fichte war sich des Niedergangs und der Diskreditierung des Idealismus sowie der Entwicklung der Naturwissenschaften bewusst und stellte fest, dass sich die Philosophie an einem Wendepunkt befunden habe, an dem sie einer Neubestimmung und Rechtfertigung ihrer Aufgabe bedurfte. Fichtes kühner Versuch, in einem solchen Kontext die »Gegenstände des höchsten und gemeinsamsten Interesse für den Menschen« (Fichte, 1826, S. IV) im Rahmen der Philosophie zurückzufordern, ist demnach kein beliebiger oder eigensinniger, sondern er ergebe sich mit wissenschaftlicher Notwendigkeit aus einer Analyse und Kritik der damaligen Philosophie. Fichtes Auseinandersetzung mit der Philosophie seiner Zeit und Rechtfertigung seines eigenen Standpunktes finden im Rahmen einer Kontroverse um die Identität der Philosophie statt, welche anschließend zu betrachten gilt.

2.2.2.2 Die Kontroverse um die Identität der Philosophie 30

In den 1830er Jahren werde die Frage nach der Identität der Philosophie zu einem besonders dringenden Problem aufgrund der Verbindung zweier Faktoren, nämlich des Niedergangs des absoluten Idealismus und der Ausbreitung und Spezialisierung der empirischen Wissenschaften. Folglich musste die Philosophie ihre eigene Rolle revidieren und sich in Bezug sowohl auf ihre Methode als auch auf ihren Gegenstand neu bestimmen. An erster Stelle – die Methode betreffend – habe das fundamentistische, systematisch-enzyklopädische und aprioristische Programm des absoluten Idealismus, dem zufolge die Aufgabe der Philosophie darin bestehe, den Einzelwissenschaften durch deduktive Methoden eine feste Grundlage zu bieten und einen Platz im allgemeinen System des Wissens zuzuteilen, eine vielseitige Kritik bekommen, die demgegenüber das Prinzip der Erfahrung und der Induktion als Bedingung für den Erwerb einer sicheren wissenschaftlichen Erkenntnis geltend gemacht habe. An zweiter Stelle – den Gegenstand betreffend – seien die empirischen Wissenschaften, zuversichtlich, dass die naturwissenschaftliche Methode die einzige sichere und zuverlässige Methode für das Erkennen sei und Zu diesem Thema vgl. Fichtes Werke (1829, 1832a, 1833b, 1841a, 1843d, 1846b, 1847b, 1876b) und Zeitschriftenartikeln (1837d, 1838b, 1838c, 1839b, 1846d, 1847a, 1852c).

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dass sie keine Grundlegung, Gliederung und Orientierung seitens der Philosophie bedürfen, von dieser unabhängig geworden, sodass sie den besonderen Formen des Seins selbstständig Rechnung getragen und die Philosophie ohne einen eigenen Gegenstand gelassen hätten (Beiser, 2014a, S. 15–17, 2014b, S. 188–189). 31 Als Antwort auf diese Krise hätten verschiedene Versuche entstanden, die Rolle und das Ziel der Philosophie in einem von den empirischen Wissenschaften allmählich beherrschten intellektuellen und kulturellen Kontext neu zu bestimmen. Aus Beisers Perspektive kann man mindestens vier Antworten auf die Identitätskrise der Philosophie zwischen 1840 und 1860 beobachten, nämlich die Abschaffung der Philosophie, die Philosophie als Kritik, die Philosophie als auf einer Sprachphilosophie basierte Logik und die Philosophie als Wissenschaftstheorie. Erstens werde vom Materialismus, dem zufolge die naturwissenschaftliche Methode die einzige adäquate Methode für das Erkennen sei, die Abschaffung bzw. die Verwandlung der Philosophie in empirische Wissenschaft vorgeschlagen. Zweitens werde vom Hegelianismus, spezifisch vom sogenannten Linkshegelianismus, die Neubestimmung der Philosophie als Kritik der den verschiedenen politischen, religiösen und philosophischen Systemen zugrunde liegenden Voraussetzungen vorgeschlagen. Drittens habe Otto Friedrich Gruppe, ausgehend von einer Kritik der spekulativen Methode in Hinsicht auf ihre Tendenz zur Verdinglichung und Hypostasierung der Begriffe, auf die Abhängigkeit deren Bedeutung vom Gebrauch und Kontext aufmerksam gemacht und dementsprechend vorgeschlagen, dass die Philosophie in einer auf einer Sprachphilosophie basierten Logik bestehen sollte. 32 Viertens habe Trendelenburg vorgeschlagen, dass die Philosophie die Autonomie der Wissenschaften in Hinsicht auf ihre Methode anerkennen und zur Wissenschaftstheorie werden müsse, deren Aufgabe in einer Analyse der Logik der Wissenschaften bestehen sollte (Beiser, 2014b, S. 189–191). »Instead of prescribing the methods and principles of the natural sciences, philosophy should investigate the methods and principles developed by the natural sciences themselves« (Beiser, 2014b, S. 191). Zum »Funktions- und Strukturwandel der Wissenschaft nach dem Idealismus« vgl. Schnädelbach (2013, S. 88–137) 32 Laut Beiser (2014b) nehme Gruppe die durch Wittgenstein herbeigeführte linguistische Wende der Philosophie vorweg (S. 190, Fn. 32). 31

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Die ersten Arbeiten Fichtes 33 bieten genau eine historisch-kritische Analyse des Wendepunktes der Philosophie jener Zeit sowie einen systematischen Vorschlag bezüglich ihrer Aufgabe und ihres Ziels, sodass sie einen der ersten Versuche ausmacht, die Identitätskrise der Philosophie in Angriff zu nehmen. Obwohl Beiser Recht hat, wenn er behauptet, Trendelenburg sei mit seiner 1833 gehaltenen Antrittsvorlesung in Berlin 34 und mit seinem 1840 veröffentlichten Buch Logische Untersuchungen »[o]ne of the first philosophers« gewesen, »to respond to the identity crisis, and to offer a new and original conception of philosophy« (Beiser, 2014a, S. 19), lässt er die Tatsache jedoch aus, dass Fichte bereits 1826, 1829 und 1832 35 eine Antwort auf diese Krise gab. 36 Die wenig verheißungsvolle Situation der Philosophie beobachtet Fichte in erster Instanz an dem »Zwiespalt der Ansichten« und dem »Streit persönlicher Ueberzeugungen« (Fichte, 1841a, S. XII). Aus Fichtes (1832a) Perspektive bestehen die Verhandlungen der Philosophen nur in Schulkämpfen, welche sich in einer Literatur abspiegeln, die in Wiederholungen, Nachahmungen und Variationen der großen philosophischen Systeme sich zersplittert habe (S. 5). Laut Fichte (1832a) zeigt sich in dieser Sachlage das Zeichen des »beschränkten Treibens« und der »unerfreulichen Verwirrung« der damaligen Philosophie (S. 6). Angesichts des Mangels an Wechselver-

Vgl. Fichte (1826, 1829, 1832a, 1833b, 1836a, 1841a, 1846b). Vgl. Bratuscheck (1873, S. 77–78). 35 Es handelt sich um seine Werke Sätze zur Vorschule der Theologie (1826), Beiträge zur Charakteristik der neueren Philosophie, zu Vermittlung ihrer Gegensätze (1829) und Über Gegensatz, Wendepunkt und Ziel heutiger Philosophie (1832). Was Fichte dem Pantheismus und Panlogismus gegenüber in Sätze zur Vorschule der Theologie programmatisch als Theismus vorlegt, unterzieht er später in Beiträge zur Charakteristik der neueren Philosophie und in Über Gegensatz, Wendepunkt und Ziel heutiger Philosophie einer historisch-kritischen Rechtfertigung, um danach in Grundzüge zum Systeme der Philosophie (1833, 1836 und 1846) eine systematische Darstellung seines Denkens vorzulegen. Als Forum für die kritische Auseinandersetzung mit dem absoluten Idealismus und für die Weiterentwicklung und den »Wiederaufbau der Philosophie auf dem Boden des Theismus« (Fichte, 1869b, S. 59–60) gründete Fichte 1837 die Zeitschrift für Philosophie und spekulative Theologie, 1847 in Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik umbenannt. 36 Neben Fichte ist auch Christian Hermann Weiße mit seinem Buch Ueber den gegenwärtigen Standpunct der philosophischen Wissenschaft, in besonderer Beziehung auf das System Hegels (1829) einer der ersten Philosophen, die eine Kritik am absoluten Idealismus üben (vgl. Weiße (1829)). 33 34

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ständnis und der »Unversöhnbarkeit der Philosophirenden« 37 (S. 19) stellt Fichte (1841a) fest, dass »die Verwirrung immer unheilbarer, der Streit immer verwickelter, aber auch leerer und langweiliger« werde (S. 20). Laut Fichte (1841a) ist diese Sachlage der Ausdruck eines Wendepunktes der Philosophie, welcher ihr eine historische Bewusstwerdung ihrer gegenwärtigen Situation anfordert, um aus einem solchen »wissenschaftlichen Bewusstsein« über sich selbst eine »Einsicht über die Berechtigung, wie über die gegenseitige Ausgleichung ihrer Gegensätze« gewinnen zu können (S. 13). In diesem Sinne stellt sich Fichte (1841a) die Aufgabe, diese Zwietracht der Philosophie im Rahmen einer vergleichenden Untersuchung der verschiedenen philosophischen Ansichten näher zu betrachten, um »die Schale ihres äussern Widerstreites zu durchdringen, und aus ihnen selbst ihre organisch beziehende Einheit zu entwickeln« (S. XIII). Eine solche kritische Bemühung bildet die erste notwendige Aufgabe der Philosophie und besteht dementsprechend darin, die Gegensätze der Philosophie in ihrer historischen Entwicklung systematisch zu begreifen und zu versöhnen, um dadurch die Notwendigkeit des gewonnenen Standpunktes und die Möglichkeit eines Fortschritts in der Philosophie zu rechtfertigen. Aus Fichtes historisch-kritischer Analyse der Philosophie ergibt sich, dass ihrer Zwietracht der systematische Gegensatz zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven, d. h. zwischen einer objektivkonstruierenden und einer subjektiv-reflektierenden Richtung zugrunde liege. Trotz der Ausgleichungsversuche der damaligen Philosophie stellt Fichte fest, dass diese eigentlich nicht über die Behauptung der Identität des Subjektiven und Objektiven hinausgekommen sei. Dieser Gegensatz könne jedoch als der Ausdruck eines noch umfassenderen Gegensatzes betrachtet werden, nämlich auf den zwischen dem apriorischen und dem aposteriorischen Erkennen, »wel-

»[M]ehr als andere Forscher haben gerade sie die üble Sitte, unbekümmert um Einwand oder Zuspruch, ihre Rede fortzusetzen, und des eigenen Weges zu gehen, so dass Jeder zuletzt sich einsam findet, und sein Wort fast nur noch an sich selbst richten kann« (Fichte, 1841a, S. 19). Angesichtes dieser Situation organisierte Fichte den ersten Philosophen-Kongress Deutschlands, welcher vom 23. bis 25. September 1847 in Gotha stattfand. Diesbezüglich vgl. Fichtes Vorschlag (Fichte, 1846d) und Eröffnungsvortrag (Fichte, 1847b) sowie den anonymen Bericht über die Vorträge des Kongresses (»Bericht«, 1847).

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cher die gesammten Wissenschaften in zwei entgegengeseßte Hälften sonderte« (Fichte, 1832a, S. IX). Die systematische Versöhnung dieses Gegensatzes findet man laut Fichte in einem überlegeneren Erfahrungsbegriff, dem zufolge das apriorische Begreifen mit dem aposteriorischen Erfahren im »Durcherleben« eines Gegenstandes bzw. eines Phänomens übereinstimmen. Der »Schulgegensaß eines Apriori und Aposteriori« sei eine bloße Abstraktion und verliere seine Bedeutung, wenn bedacht wird, dass »die einzige Quelle alles Erkennens« nur die tiefgründige und vernunftmäßige Erfahrung des Wesens eines Gegenstandes sei (Fichte, 1832a, S. IX). Dieser überlegenere Erfahrungsbegriff löse ebenso den Gegensatz zwischen empirischer Wissenschaft und spekulativer Philosophie auf, weil die Aufgabe beider Disziplinen im Wesentlichen dieselbe sei und darin bestehe, »Theoria zu sein in eigenster und ältester Bedeutung dieses Wortes: Betrachtung der göttlichen in die Welt ausgesprochenen Gedanken« (Fichte, 1843d, S. 35). Die Philosophie habe demnach eine relative Vollendung erreicht und sei in eine Krise geraten, welche sie anfordere, sich neu zu bestimmen und nach der »tiefen, mächtigen Wurzel« des »Weltgeist[es] der Spekulation« zu greifen, um daraus »die Keime neuer Gestaltungen« zu treiben (Fichte, 1843d, S. 3). In diesem Sinne behauptet Fichte (1843d), dass sich die Philosophie eigentlich »am Anfang ihrer Laufbahn« befinde, wo sie »in der Ergründung und Befestigung ihrer Principien begriffen« sei (S. 3). Erst nachdem die Philosophie eine historische Bewusstwerdung und systematische Überwindung ihrer Krise vollzogen hat, könne sie einen Fortschritt machen und den Anforderungen der Zeit entsprechen. Mitten in dieser Entwicklung, welche durch die Diskreditierung des Idealismus und die Spezialisierung der Wissenschaften charakterisiert ist, nimmt Fichte frühzeitig die Anforderungen wahr, welche das Bewusstsein jener Zeit der Philosophie für ihre Fortentwicklung stellt. Solche Anforderungen sind methodologischer, wissenschaftlicher, historischer und religiöser Natur. 38 Erstens weist Fichte (1832a) den Überschreitungen der Spekulation gegenüber auf »das Bedürfniß der strengen Methode« hin, wel»Zugleich haben sich aber auch die Anforderungen des religiösen Bewußtseins, wie die Richtung auf Naturbetrachtung und Geschichte so entschieden unter uns geltend gemacht, daß die Philosophie sich nicht mehr entziehen kann, jene anzuerkennen, und die Resultate dieser in sich aufzunehmen« (Fichte, 1832a, S. 19).

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ches man »[m]ehr als je empfindet« (S. 6). Dementsprechend müsse sich auf einer epistemologischen und methodologischen Ebene – wie oben erwähnt – das Prinzip der Besonnenheit in der Philosophie durchsetzen. Zweitens verweist Fichte angesichts der Ausbreitung der Naturwissenschaften und der Vermehrung ihrer Resultate auf den Bedarf, das Verhältnis der Philosophie mit den Naturwissenschaften zu verstärken und zu intensivieren. Unter der Voraussetzung ihrer gemeinsamen Aufgabe sollte die Philosophie die Resultate der Naturwissenschaften anerkennen und in sich aufnehmen, um »alles Gegebene und Erfahrene in jene Einheit, in die Idee des Universums, der begriffsmässig geschlossenen, aber verwirklichten Vernunfteinheit« zusammenzufassen (Fichte, 1843d, S. 4). Drittens betrachtet Fichte neben den Tatsachen der Natur die Tatsachen der Geschichte als eine der wichtigen Erfahrungsquellen der Philosophie. In diesem Sinne sollte die Philosophie die Resultate der Geschichtsforschung auch in sich aufnehmen, da die Geschichte einen ideellen und ethischen Gehalt zeige, der das erfahrungsmäßige Material für die Behandlung anthropologischer, religionsphilosophischer und geschichtsphilosophischer Fragen ausmacht. Außerdem spielt die Geschichte laut Fichte eine selbstkritische Rolle für die Philosophie, insofern das historische Bewusstsein, welches sich in dieser Zeit entwickelt (Beiser, 2014a, S. 133; Schnädelbach, 2013, S. 54–55), ihr anfordere, sich selbst in ihrer eigenen historischen Entwicklung zu begreifen, um sich ihrer gegenwärtigen Situation kritisch bewusst zu werden und ihre eigene Existenz und Aufgabe rechtfertigen zu können (Fichte, 1832a, S. 14). Die Natur- und Geschichtsbetrachtung seien folglich »die beiden großen, sie selbst ernährenden Absenker der Philosophie« (Fichte, 1832a, S. 23). In diesem Sinne bedürfe die Philosophie »auf jedem ihrer Schritte des Erfahrungswissens« (Fichte, 1843d, S. 4), um auf einem festen Fundament beruhend ihre Aufgabe erfüllen zu können. Laut Fichte (1843d) bieten die Erfahrungswissenschaften genau das Fundament, auf welchem die Philosophie »über das Allgemeine, bloss Metaphysische ihrer Principien« hinauskommen und »ein Begreifen der Natur und des Geistes in ihrer Eigentlichkeit« werden kann (S. 7). Außer der zuvor erwähnten kritischen Aufgabe der Philosophie, kommt ihr demnach eine zweite, konstruktive Aufgabe zu, die darin besteht, »die noch unsichern, nur sehr allgemein umschriebenen Grundzüge einer Philosophie der Natur und des Geistes auf objektive Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Weise tiefer zu gliedern und innerlich auszuweiten« (Fichte, 1843d, S. 7). Eine solche Philosophie der Natur und des Geistes ziele darauf ab, den »zum Systeme der Welt verwirklichten Gedanken Gottes« zu erkennen (Fichte, 1843d, S. 7). Die Möglichkeit dieser Erkenntnis liegt in dem oben erwähnten Erfahrungsbegriff, denn laut Fichte (1832a) ist »die wahre Erfahrung zugleich nur die Anschauung des göttlichen Schaffens und Waltens in den Dingen, ein Erkennen Gottes in der Abspiegelung seiner Werke« (S. X). In diesem Sinne habe die Philosophie viertens – und letztlich – den Anforderungen des religiösen Bewusstseins dadurch zu entsprechen, dass sie »die völlige Restitution des ursprünglichen religiösen Bewußtseins im Menschen« hervorbringe (Fichte, 1832a, S. 21). Folglich ist die Philosophie für Fichte »kein oberflächliches, kalt lassendes Räsonnement« (Fichte, 1847b, S. 14), sondern ihr kommt eine dritte, ethisch-religiöse Aufgabe zu, die darin besteht, das Bewusstsein von seiner Selbsterkenntnis zur Gotterkenntnis zu bringen. Die Philosophie sei demnach »die Selbsterziehung des Bewußtseins« zu einer solchen Erfahrung (Fichte, 1832a, S. X), was letztendlich bedeutet, dass durch die Erfüllung dieser Aufgabe dem Menschen die Möglichkeit gegeben sei, »die innerste Zuversicht seines Geistes, seine Einheit und seinen Frieden« zu erlangen (Fichte, 1847b, S. 14). Aus dem Gesagten wird deutlich, dass Fichte ganz früh einen kühnen Versuch unternimmt, die Krise der Philosophie in Angriff zu nehmen und der Philosophie dem Bewusstsein und den Anforderungen der Zeit entsprechend eine Identität für die Gegenwart und die Zukunft zu verleihen. Bemerkenswert ist seine unermüdliche Bemühung, zwischen Gegensätzen zu vermitteln, um jede Einseitigkeit vermeidend einen Fortschritt in der Philosophie zu machen. Die gleichzeitigen Überwindungsversuche dieser Krise scheinen weder dieselbe umfassende Einsicht in die Gegensätze der Philosophie noch dieselbe Bemühung um Vermittlung und Versöhnung zu zeigen, sodass diese in jenen Ansätzen systematisch ungelöst bleiben, was sonach zu einer einseitigen Entwicklung der Philosophie und der Wissenschaft beiträgt. Evident wird dieser Umstand in der resolut materialistischen Richtung, welche die Wissenschaft bis zur Gegenwart einschlug. In jener Zeit war der Materialismus im Zentrum einer heftigen Kontroverse, welche anschließend betrachtet wird.

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2.2.2.3 Die Materialismus-Kontroverse 39

Der Anfang der Materialismus-Kontroverse kann in der 31. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Göttingen am 18. September 1854 verortet werden, wo der Physiologe Rudolph Wagner seinen Vortrag Menschenschöpfung und Seelensubstanz hielt und mit seiner Kritik am Materialismus die Polemik auslöste, indem Carl Vogt mit seiner 1855 veröffentlichten Schrift Köhlerglaube und Wissenschaft unmittelbar darauf reagierte (Bayertz et al., 2007c, S. 11; Beiser, 2014a, S. 56–62). 40 Obwohl es vor 1854 bereits Diskussionen um den Materialismus gab, war dieser der Anfang der Kontroverse als öffentlicher Kulturkampf, der Wissenschaftler, Ärzte, Philosophen und Theologen hineinzieht und der außer der philosophischen noch andere Facetten enthält (Bayertz et al., 2012c, S. IX). Aus diesem Grund scheint es zum Verständnis der Materialismus-Kontroverse erforderlich, zwei Dimensionen zu unterscheiden, nämlich einerseits die strikt philosophischen Diskussionen um seine epistemologischen und methodologischen Voraussetzungen sowie um die Probleme, die mit den aus seinen methodologischen Begrenzungen hergeleiteten ontologischen Aussagen zusammenhängen, und andererseits die Faktoren, die dazu beitragen, dass sich solche Diskussionen während der 1850er Jahre in Deutschland in einen kulturellen und sogar politischen Kampf um die allmähliche Hegemonie der modernen Wissenschaft in der Kultur und auch um die Gefahr verwandeln, die der Materialismus als weltanschauliches Reformprogramm auf der Basis der Naturwissenschaft dem geistigen, religiösen, ethischen und politischen Leben, mithin den Grundlagen der sozialen Ordnung stelle (Bayertz et al., 2007c, S. 9–10, 2012c, S. X). An erster Stelle ist es demnach möglich zu behaupten, dass der philosophische Kern der Materialismus-Kontroverse im Problem der

Zu diesem Thema vgl. Fichtes Werke (1834, 1855a, 1856a, 1860, 1876a) und Zeitschriftenartikeln (1844a, 1844b, 1846a, 1854a, 1854b, 1854c, 1861, 1862, 1869d, 1870b). 40 Vgl. Wagner (1854) und Vogt (1855). Bereits in der ersten Auflage seiner Anthropologie von 1856 nimmt Fichte (1856a) Kenntnis von diesem »neuerdings ausgebrochenen Vogt-Wagner’schen Streit« (S. XVIII, Fn.), sodass man annehmen kann, dass seine in diesem Werk enthaltene Kritik am Materialismus eine Stellungnahme und eine Antwort auf die Materialismus-Kontroverse ausmacht. 39

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Legitimität des Materialismus als philosophische und wissenschaftliche Position sowie in der Frage nach seinen ontologischen Implikationen in den Ideen der Zweckmäßigkeit, der Seele und von Gott besteht, welche angesichts der wissenschaftlichen Entwicklungen immer obsoleter zu sein schienen (Bayertz et al., 2012c, S. XIX). Im säkularen Kontext des 19. Jahrhunderts hätten die Naturwissenschaften autonom ihre Erkenntnisinteressen verfolgt und ihre Methoden befolgt, ohne den Anspruch, ihre Resultate mit solchen metaphysischen und theologischen Dogmen zu kompatibilisieren, denn der Erfolg der naturwissenschaftlichen Methode hänge eben von einer solchen Begrenzung der Forschung auf das wissenschaftlich Zugängliche ab, d. h. auf das Materielle (Bayertz et al., 2012c, S. XXVIII–XXIX). Nichtsdestoweniger gebe dieser methodische Materialismus neben dem darauffolgenden methodischen Atheismus Anlass zu ontologischen Aussagen, denen zufolge die Wirklichkeit da ende, wo die wissenschaftliche Forschung endet (Bayertz et al., 2012c, S. XXVIII– XXIX). Diese Art von Aussagen hätten denjenigen besonders problematisch geschienen, die die Autonomie des seelischen und geistigen Bereichs verteidigten, da man aus der Unfähigkeit der Wissenschaft, eine Entität wie die Seele oder Gott zu finden, ihre Inexistenz dogmatisch behauptete, eine selbst auferlegte methodologische Grenze auf das ontologische Gebiet extrapolierend (Bayertz et al., 2012c, S. XXIX). Von den drei möglichen ontologischen Positionen – Dualismus, materialistischer Monismus und spiritualistischer Monismus – sei der spiritualistische Monismus diskreditiert und nicht als eine seriöse Alternative betrachtet gewesen, sodass sich in dieser Diskussion eigentlich der Dualismus und der materialistische Monismus konfrontiert hätten (Bayertz et al., 2012c, S. XVIII–XIX). An zweiter Stelle muss man erstens die allgemeine expansionistische Tendenz der Wissenschaft betrachten, sich neben der Philosophie und der Religion als eine Macht von »normative[r] Relevanz für die Orientierung in der Welt und für die Gestaltung der kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse« zu etablieren (Bayertz et al., 2007c, S. 9), und zweitens die Radikalisierung dieser Tendenz im Rahmen eines weltanschaulichen Reformprogramms seitens derjenigen, die den inspirierenden Ideen der Märzrevolution von 1848 – nationale Einigung und politische Demokratisierung – nahe gewesen seien und die nach ihrem Scheitern in den Naturwissenschaften einen Bündnispartner gegen die regierenden Kreise gefunden hätten, die ihre repressiven und restaurativen Maßnahmen auf 72

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der Religion stützten (Bayertz et al., 2007c, S. 10, 14–15). 41 Unter diesen politischen und gesellschaftlichen Umständen habe sich der philosophische und wissenschaftliche Materialismus in einen kulturellen Materialismus verwandelt, welcher als eine Macht wahrgenommen worden sei, die im Namen der Wissenschaft die religiösen und sittlichen Grundlagen der sozialen Ordnung drohte, sodass sich die strikt akademische Diskussion um den materialistischen Standpunkt in dasjenige verwandelt, was heute als die Materialismus-Kontroverse bekannt ist (Bayertz et al., 2012c, S. XV). Abgesehen von der postrevolutionären Beladung der Kontroverse lassen sich immerhin strikt philosophische Probleme erkennen, welche sowohl die theoretischen Grundlagen als auch die praktischen Implikationen des Materialismus betreffen. Es handelt sich um die Frage nach der Legitimität und den Grenzen des Materialismus als methodologischen Ansatzes und ontologischer Position sowie nach seinen Risiken für die Gesellschaft und die Kultur als ideologisches und normatives Prinzip. Der alles durchdringenden Entwicklung des Materialismus gegenüber, welche der Ausschluss der Idee Gottes, der Seele und der Freiheit aus dem Gebiet des Wissenschaftlichen mit sich brachte, seien die Philosophie, die Theologie und die Religion einer erneuerten Version des Konfliktes zwischen Vernunft und Glauben entgegengetreten (Beiser, 2014a, S. 53). In diesem Sinne habe sich die Philosophie dazu genötigt gesehen, die Wissenschaftlichkeit von Ideen zu beweisen, die als obsolet zu scheinen anfingen, wie beispielsweise der Idee der Teleologie, sowie dazu, die Möglichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis von Entitäten wie der Seele und Gott zu rechtfertigen. Bereits 1834 hatte Fichte »die Frage über die Persönlichkeit Gottes und über das unvergängliche Wesen des menschlichen Geistes« (Fichte, 1855a, S. 3) zu Hauptgegenständen seiner Schrift Die Idee der Persönlichkeit und der individuellen Fortdauer gemacht. Diese Fragen schienen ihm 1854/1855, als er kurz nach dem Anfang der Kontroverse die zweite Auflage der Schrift veröffentlichte 42, Diese politische Dimension ist im Streit zwischen Rudolph Wagner und Carl Vogt besonders ersichtlich: »Wagner wanted to uphold the beliefs in providence and immortality to legitimate the monarchy and to control ›the dechristianized masses‹ ; Vogt intended to undermine these beliefs for just that reason: they were an ideological weapon to control the people, a veil of deception to prevent them from taking control over their own lives in a new democratic order« (Beiser, 2014b, S. 187). 42 Fichte schrieb die Vorrede zur zweiten Auflage der Schrift im Spätherbst 1854 41

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noch immer, ja jetzt gerade besonders, zur Tagesordnung zu gehören, wo lauter als je eine atheistische und materialistische Philosophie jenen Wahrheiten das Garaus gemacht zu haben behauptet und zu betheuern nicht müde wird, dass mit dem Verschwinden jenes doppelten Wahnglaubens erst die Menschheit zur Mündigkeit, und damit zu ihrem wahrhaften Frieden gelangen könne (Fichte, 1855a, S. 3).

Nachdem die Angriffe des Materialismus auf diese Gegenstände virulent geworden waren, schien Fichte somit die Schrift »noch zeitgemässer als damals, wo sie zuerst erschien«, denn einer solchen »naiven Dreistigkeit« der materialistischen Behauptungen gegenüber sei nicht zu schweigen (Fichte, 1855a, S. 3). Fichtes Worte zeigen demnach seinen eisernen philosophischen Willen, die erwähnten Fragen für die Philosophie zurückzufordern und ihnen den Anforderungen des Bewusstseins der Zeit entsprechend einen Raum für deren wissenschaftliche Behandlung zu schaffen. In diesem Zusammenhang versucht Fichte, die Einseitigkeiten zu überwinden, welche auf der Seite der Spekulation aus dem Pantheismus und auf der Seite der Wissenschaft aus dem Materialismus hervorgehen und aus denen sich eine Fälschung des Gottes- und Seelenbegriffs ergibt. Eine kritische Auseinandersetzung mit solchen Ansichten befindet sich insbesondere im Rahmen seiner anthropologischen und psychologischen Arbeiten 43, in welchen er in Hinsicht auf die Seelenfrage eine Kritik der Haupttheorien der Psychologie in der Form einer »kritischen Geschichte der Seelenlehre« (Fichte, 1876a, S. 1–190) unternimmt. In dieser genetisch ausgeführten historisch-kritischen Betrachtung der Psychologie identifiziert Fichte zwei Hauptgegensätze, welche zu versöhnen seien, wenn ein Fortschritt in der Psychologie möglich sein soll. Es handelt sich nämlich um den Gegensatz zwischen Spiritualismus und Materialismus und um den Gegensatz zwischen Pantheismus und Individualismus. Nach einem Abwägen des Zutreffenden und Unzutreffenden bei jenen (Fichte, 1855a, S. 42), also vermutlich um Dezember, d. h. zwei oder drei Monate nach Wagners Vortrag, welchen er am 18. September 1854 hielt und für dessen Veröffentlichung er am 25. September 1854 ein kurzes Vorwort schrieb (Wagner, 1854, S. VI), und mindestens vier oder fünf Monate vor der Veröffentlichung der Replik Vogts an Wagner – das Vorwort schrieb Vogt am 5. April 1855 (Vogt, 1855, S. XXXIV). In diesem Kontext erschienen auch 1854 Fichtes Aufsätze zur »Seelenlehre des Materialismus« (Fichte, 1854a, 1854b) und zur Atomlehre (Fichte, 1854c) sowie 1856 die erste Auflage seiner Anthropologie (Fichte, 1856a). 43 Vgl. Fichte (1844a, 1844b, 1854a, 1854b, 1855b, 1856a, 1856b, 1860, 1876a).

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Theorien sollte aus dieser Kritik letztendlich ein allgemeiner Seelenbegriff gewonnen werden, der als heuristisches Prinzip Fichtes eigene Untersuchung einleiten sollte. 44 Was den Materialismus betrifft, so hat er für Fichte nur den negativen Wert, »jeder dualistischen Lehre gegenüber auf die innere Einheit der menschlichen Natur hinzuweisen« (Fichte, 1876a, S. 56, § 29). Als einer »mit dem oberflächlichen Anscheine der Erfahrung sich begnügende Monismus« (Fichte, 1876a, S. 55, § 29) sei jedoch der Grundirrtum des Materialismus, »den Grund dieser Einheit, an einer ganz falschen Stelle«, nämlich im Leibe zu suchen (Fichte, 1876a, S. 56, § 29). Daraus ergeben sich seine charakteristischen Erklärungsmuster, denen zufolge die Seele – die Einheit des Bewusstseins – als »Effekt der Hirntätigkeit« und das Leben – die Einheit des Organismus – als »Resultat der Stoffmischung« zu betrachten seien. Der Materialismus werde jedoch von den Tatsachen des Lebens, des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins widerlegt, weil ihr Charakteristikum aus den Prinzipien der Materie und der Bewegung unerklärlich bleibe und auf höhere Einheitsprinzipien hinweise (Fichte, 1876a, S. 99, § 45). Der Materialismus begehe den Irrtum, »die Wirkung für die Ursache« und »die Theile für das Frühere« zu halten, sodass angenommen wird, dass die materiellen Elemente und mechanischen Prozesse es sind, was »unwillkürlich« – d. h. aus Zufall und Notwendigkeit – die Einheit des Organismus und des Bewusstseins verursache, ohne zu bedenken, dass diesen Erscheinungen ein Apriorisches zugrunde liege, welches ihnen Zweckmäßigkeit und Einheit verleiht (Fichte, 1876a, S. 64, § 35). Der Materialismus ende »an der Grenze des Chemischen« und genüge demnach prinzipiell bloß für die Erklärung »eine[r] todte[n], bewusstlose[n] Natur« (Fichte, 1876a, S. 99, § 45). Fichtes Kritik zufolge hat der Materialismus eine relative Gültigkeit, insofern dieser, auf die Einheit des Menschen verweisend, die Unzulänglichkeit der dualistischen Annahme der Raum- und Zeitlosigkeit der Seele zeige (Fichte, 1876a, S. 81, § 40). Aus Fichtes Kritik geht jedoch hervor, dass trotz dieses Verdienstes die Erscheinungen des Lebens, des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins ohne die Annahme eines ihnen Einheit verleihenden apriorischen Prinzips unerklärlich bleiben. Um nicht dennoch durch die Annahme dieses Zu Fichtes hier nur angedeuteter historisch-kritischer Würdigung der Haupttheorien der Psychologie vgl. den dritten Teil vorliegender Arbeit (4.1).

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apriorischen Prinzips dem Dualismus wieder zu erliegen, stellt Fichte (1876a) fest, dass der »Rest der Wahrheit« des Materialismus im Satz bestehe, dass die Bedingung der Möglichkeit des Verhältnisses von Leib und Seele in der Annahme einer realen Beziehung der Seele zum Raum besteht (S. 100, § 45). Auf diese Weise zeige die Kritik am Materialismus die Notwendigkeit eines neuen Realismus (Fichte, 1876a, S. 81, § 40), welcher auf einer revidierten – weder subjektivistischen noch empiristischen – Raum- und Zeittheorie begründet werden sollte. Die Einzelheiten dieser Ansicht und deren Implikationen für die Seelenlehre sollen im dritten Teil vorliegender Arbeit betrachtet und bearbeitet werden, jedoch sei es an diesem Punkt nur darauf hinzuweisen, dass der Schlüssel zum Verständnis dieses Ansatzes das Gesetz der »Quantisierung des Qualitativen« sei, dem zufolge sich ein qualitatives Wesen quantisieren, d. h. sich raumzeitliche Existenz geben muss, um in Wechselwirkung mit anderen Wesen treten zu können (Fichte, 1859, S. XIV, 1876a, S. 193–196, § 84). Dieser »neue [], höher[e] Realismus« (Fichte, 1859, S. XXII) ergebe sich als der einzig mögliche Standpunkt, welcher eine adäquate Auffassung der Wechselwirkung qualitativ verschiedener Substanzen sowie des Verhältnisses von Leib und Seele bieten könne, ohne dualistischen oder materialistischen Erklärungsmustern zu erliegen. Der Vormarsch des Materialismus bleibt trotz der Kritik allerdings nicht vor den Phänomenen des Lebens, des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins stehen, sondern ganz im Gegenteil erweitert er sogar insofern mehr den Umfang seines Untersuchungsgebietes, als er versucht, eine naturalistische Erklärung der Natur- und Menschengeschichte zu bieten. Dieser Erklärungsversuch war vom Darwinismus unternommen und löste somit eine Kontroverse aus, welche nun zu betrachten gilt.

2.2.2.4 Die Darwinismus-Kontroverse 45

Im engen Zusammenhang und sogar in Kontinuität mit der Materialismus-Kontroverse der 1850er Jahre stehe die Darwinismus-Kontroverse der 1860er Jahre (Bayertz et al., 2012a, S. VII), welche von der

Zu diesem Thema vgl. Fichtes Werke (1867, 1876a) und Zeitschriftenartikeln (1865a, 1865b, 1875, 1877).

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Veröffentlichung von Charles Darwins Werk On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life im Jahr 1859 ausgelöst wurde. Der Darwinismus sei erstens insofern als eine Fortsetzung des Materialismus wahrgenommen worden, als er das »Rätsel der Schöpfung« aus naturalistischen Prinzipien zu erklären versprach. Darwins Theorie der Entstehung und Evolution der Arten biete eine wissenschaftliche Erklärung der »Schöpfung« und emanzipiere sie hierbei aus dem religiösen und theologischen Gebiet, ihre übernatürlichen und wundertätigen Konnotationen abschaffend und sie in ein rein natürliches Phänomen verwandelnd (Bayertz et al., 2012a, S. VII). Aus der Perspektive des Darwinismus sei zweitens die Naturordnung nicht von einer auf ein göttliches und schöpferisches Wesen bezogenen Zweckursache gewährleistet und geleitet, sondern sie wird lediglich durch den Zufall und die Notwendigkeit bestimmt, sodass die frühere theologische Theorie der Schöpfung durch eine natürliche Geschichte der Entstehung und der Evolution ersetzt worden sei (Bayertz et al., 2012a, S. XII). In diesem Zusammenhang war demnach der Begriff der Kausalität auf nur eine seiner Bedeutungen reduziert, nämlich auf den Begriff der Wirkursache, welcher nun der einzige Träger der Wissenschaftlichkeit war. Auf diese Weise wurde der Begriff der Zweckursache als eines auf ein göttliches Wesen bezogenen Intelligibilitätsprinzips der Natur, mithin der Evolution der Arten obsolet und die Teleologie konnte keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit mehr erheben. Drittens sei der Darwinismus als eine Bestätigung und Konsolidierung der szientistischen und naturalistischen Weltansicht in allen Bereichen getreten (Bayertz et al., 2012a, S. X), insofern das darwinistische Erklärungsmuster – Evolution, Deszendenz und natürliche Selektion – nicht nur auf die natürliche Geschichte des Menschen, sondern auch auf seine geistige, kulturelle und soziale Geschichte angewandt worden sei, was tiefgreifende Konsequenzen für das Verständnis und die Gestaltung von Moral, Gesellschaft und Kultur habe (Bayertz et al., 2012a, S. XVIII). Insofern der Mensch auf dem Standpunkt des Darwinismus als ein natürliches Produkt betrachtet wird, welches denselben Gesetzen und Bedingungen als der Rest der Natur unterliegen ist, und in diesem Sinne seine moralische, kulturelle und soziale Entwicklung als ein bloßer natürlicher Prozess in Bezug auf die Prinzipien der Evolution, der Deszendenz und der natürlichen Selektion erklärt wird, würde man der Ansicht der Gegner des DarwiSubstantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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nismus zufolge die Autonomie der geistigen Natur des Menschen bedrohen. Aus dem Gesagten wird deutlich, dass dasjenige, was dieser Kontroverse Kontinuität mit den Diskussionen um den Materialismus gibt, die Tatsache ist, dass der Darwinismus letztendlich die Stellung des Menschen in der Welt infrage stellte. Dem Menschen sei seine Stellung als »Geisteswesen« abgeschafft und er sei »zu einem Tier unter Tieren« gemacht worden (Bayertz et al., 2012a, S. XVIII). Diesem Angriff gegenüber seien die Gegenangriffe auf den Darwinismus allerdings nicht auf die Evolutionstheorie gerichtet gewesen, der zufolge sich die Naturformen in einem Entwicklungsprozess befänden, sondern vielmehr auf den mechanistischen Charakter des Prinzips der Selektion und auf dessen Verallgemeinerung als einzigen Mechanismus der Evolution. 46 In diesem Sinne sei die Theorie der natürlichen Selektion einer der kritischen Punkte, welcher die Darwinisten von den Anti-Darwinisten trennt (Bayertz et al., 2012a, S. VIII, XVI). Mit einem solchen Erklärungsmuster erweise sich der Darwinismus für Fichte (1876a) als eine Fortsetzung des Materialismus, wie aus seiner Behauptung hervorgeht, dass »der neueste Standpunkt« der materialistischen Verhandlungen »in der Dawin’schen Lehre seinen kürzesten und consequentesten Ausdruck« finde (S. 81, § 41). Fichte befindet sich demnach unter denjenigen, die einerseits den »allgemeinen Gedanken der stetigen und lückenlosen Entwicklung der organischen Welt« 47 (Fichte, 1876a, S. 85, § 41) anerkennen und andererseits die materialistischen Prinzipien des Darwinismus kritisieren. In diesem Sinne sei die Absicht, »die Entwicklung des Höhern aus dem Niedern in lückenloser Stetigkeit nachzuweisen«, zwar einwandfrei, jedoch scheint Fichte (1876a) die Annahme problematisch, »dass das Leben und die Organismen auf der Erde aus rein mechanischer Wirksamkeit der physikalischen und chemischen Kräfte mit Ausschluss aller Plan- und Zweckmässigkeit entstanden« sein sollten (S. 81, § 41).

Bayertz et al. (2012a) unterscheiden vier selbständige Theorien, die aufeinander verweisend dasjenige bilden, was unter Darwins Evolutionstheorie verstanden wird: (1) die grundlegende Theorie der Evolution, (2) die Theorie der graduellen Evolution, (3) die Deszendenztheorie und (4) die Selektionstheorie (S. XV). 47 Zu diesem Gedanken »wird sich jeder Naturforscher und auch jeder speculative Denker seit Leibniz mit Entschiedenheit bekennen« (Fichte, 1876a, S. 85, § 41) 46

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Die ganze Kontroverse lässt sich laut Fichte (1867) auf den Konflikt zwischen zwei Gesichtspunkten zurückführen, nämlich zwischen der Permutations- und der Präformationstheorie, welche jeweils auf Maximen beruhen, die jedenfalls gleichberechtigt »durch die Beschaffenheit des Thatsächlichen sich geltend machen« (S. 186– 187, § 195). Der Permutationstheorie liege die Maxime zugrunde, »jede transscendente (›hyperphysische‹) Einwirkung bei Erklärung der Naturerscheinungen abzuweisen und nur die Geltung natürlicher Ursachen zuzulassen«, während der Präformationstheorie die Maxime zugrunde liege, »den letzten Grund, die höchste Ursache« der Naturerscheinungen »in der planvollen Anordnung einer schöpferischen Intelligenz« zu suchen (Fichte, 1867, S. 186, § 194). Es handele sich demnach kurz um den im Gebiet der Natur- und Menschengeschichte aktualisierten »Kampf zwischen naturalistischer und teleologisch-idealistischer Naturerklärung« (Fichte, 1865a, S. 215), sodass es bei dieser Kontroverse letztendlich darauf ankomme, »ob Naturalismus, ob Theismus das leitende Prinzip in den Naturwissenschaften« (Fichte, 1865b, 1865a) – um es mit einem Aufsatztitel Fichtes auszudrücken – sein sollte. Fichtes (1867) Kritik an der Permutationstheorie (S. 182–220, §§ 192–219) richtet sich hauptsächlich auf die Inkonsequenz zwischen ihren Prämissen und Resultaten sowie auf die Unzulänglichkeit der naturalistischen Erklärungsprinzipien der Stoffmischung, des Zufalls und der Länge der Zeit, um die innere Beschaffenheit der Welt zu erklären. 48 Fichte weist insbesondere auf drei Inkonsequenzen der Permutationstheorie hin, welche ihre Überzeugungskraft und Haltbarkeit beträchtlich reduzieren, indem sie ihre Abgrenzung von der Präformationstheorie und ihre Aussagen stillschweigend auf Prämissen der »In Summa: Wie man auch sich wende, zu welchen gewaltsamen Mitteln naturalistischer Erklärung man auch seine Zuflucht nehme, immer von neuem ergibt sich, und die Bestätigung wächst mit jedem misglückten Versuche – und Darwin’s Theorie ist sicherlich ein höchst belehrendes Beispiel solchen Verfehlens, denn sie ist mit reichster Sachkenntnis und mit unverkennbarer Umsicht unternommen –, es bestätigt sich die Unmöglichkeit, in blos naturalistischen Ursachen den letzten verständlichen Grund des Weltganzen zu finden. Die drei Erklärungsprincipien des Naturalismus: Zufall, Stoffmischung und Länge der Zeit sind durchaus unzulänglich, um die innere Beschaffenheit des Weltzusammenhangs auch nur annähernd zu erklären: sie können höchstens als beiläufig mitwirkende äussere Nebenursachen, und zwar im beschränkten Kreise der phänomenalen Dinge, nicht im Reiche der realen Gründe in Rechnung gebracht werden« (Fichte, 1867, S. 219, § 218).

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Präformationstheorie begründe, deren Anerkennung und Geständnis jedoch sie selbst letztendlich aufhebe. Erstens sollte die auf dem Naturalismus beruhende und exemplarisch von Darwin vertretene Permutationstheorie einerseits die Entstehung der Arten aus dem Prinzip der Stoffmischung und andererseits die Evolution der Arten aus dem Prinzip der Selektion erklären. In beiden Fällen handelt es sich um Mechanismen, denen Naturgesetze innewohnen, welche ohne Zweckmäßigkeit, sondern aus Zufall und Notwendigkeit ihre Wirkungen hervorbringen. Gemäß dem Prinzip der Stoffmischung sollten die Arten, d. h. »etwas Anderes und Neues«, aus einer zufällig und notwendig hervorgebrachten »Composition von Elementen« entstehen (Fichte, 1876a, S. 82, § 41). Gemäß dem Prinzip der Selektion sollte die Verwandlung der Organismen von niederen zu höheren Formen durch äußere Einwirkungen und die Länge der Zeit zufällig und notwendig verursacht werden (Fichte, 1867, S. 185, § 194, S. 200–201, § 205). Die Permutationstheorie sollte demnach eine innere Zweckmäßigkeit ausschließen und stattdessen die Evolution der Arten durch das auf dem Begriff einer blinden Wirkursache beruhende Selektionsprinzip erklären. Laut Fichte kann jedoch die Permutationstheorie den Erfolg der natürlichen Selektion nur durch die stillschweigende Annahme einer Zweckmäßigkeit verständlich machen (1867, S. 201–204, §§ 206–207, 1876a, S. 85, § 41). 49 Der Erfolg der natürlichen Selektion impliziere demnach ein intelligentes Prinzip in der Natur, welches dazu fähig sei, die Evolution der Arten durch die Anpassung und die hereditäre Erhaltung der das Überleben ermöglichenden und begünstigenden Eigenschaften zu leiten. Die Evolution der Organismen durch Anpassung, Selektion und Deszendenz sollte somit einen blinden Mechanismus ausmachen, jedoch werde dabei halbwegs eine Zweckursache vorausgesetzt, welche gleich einer »weisheitsvolle[n] Assistenz« bzw. einer »providentielle[n] Leitung« auf die Erhaltung und die Evolution der Arten orientiert sei, indem sie »das ›Schädliche‹ der Veränderun-

Bereits 1867 weist Fichte in Die Seelenfortdauer und die Weltstellung des Menschen auf diesen Widerspruch hin. 1874 veröffentlichte der Botaniker Albert Wigand den ersten Band seines dreibändigen Werkes Der Darwinismus und die Naturforschung Newtons und Cuviers, in welchem er denselben Widerspruch identifiziert. 1876 bezieht sich Fichte in der dritten Auflage seiner Anthropologie auf Wigands umfangreiche Darwinismus-Kritik und hebt dabei besonders diesen auch von ihm erkannten »Cirkelschluss« hervor.

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gen zurückwirft, das ›Nützliche‹ derselben fördert und bestätigt« (Fichte, 1867, S. 201–202, § 206) und diese Abweichungen »von den ersten Generationen auf die Nachkommenschaft ›vererben‹ lässt« (Fichte, 1867, S. 200, § 205). Außer dieser »halbe[n] Anerkennung des grossen Gedankens eines teleologischen Princips« (Fichte, 1867, S. 202, § 207) weist Fichte zweitens darauf hin, dass die Permutationstheorie bei ihrem Versuch, die Verwandlung und Vervollkommnung der Organismen nur aus äußeren Einwirkungen zu erklären, den Organismen immerhin das Vermögen der »Modificabilität« zuschreiben müsse – einen Begriff, welcher folgerichtig auf eine »präformirte Grundanlage« im Inneren des Organismus verweise (Fichte, 1867, S. 204–205, § 208). Fichte (1867) deutet darauf hin, dass die verschiedenartigen Reaktionen der verschiedenen Organismen auf dieselben äußeren Ursachen nur kraft einer »ursprüngliche[n], ihre Verschiedenheit bedingende [n] Präformation« erklärt werden können (S. 204, § 208). Auf diese Weise setzte die Permutationstheorie stillschweigend den Begriff der Präformation voraus. Die Disjunktion, vor welcher demgemäß die Permutationstheorie stehe, drückt Fichte (1867) folgendermaßen aus: Entweder er [Darwin] leugnet standhaft und entschieden jede Art von Modificabilität organischer Wesen, welche von Innen stammt und auf innerlich bedingten Verschiedenheiten derselben beruht, was er nicht kann noch darf, weil er sonst seiner eignen Begründung den factischen Boden entziehen würde; – oder er erkennt dem Princip nach die Verschiedenheit ursprünglicher Anlagen an: so hat er damit das Grundbedenken aufgegeben, welchem zu Gefallen er jene waghalsigen Erklärungsexperimente in Gang setzte. Seine Theorie im ganzen ist dadurch unnöthig und überflüssig geworden (S. 205, § 208).

Laut Fichte bedient sich demnach die Permutationstheorie bei diesem Theoriestück noch einmal einer Prämisse, welche nur im Rahmen der Präformationstheorie Geltung habe. Sie nehme sich vor, die Anpassung und die Veränderungen der Arten ohne expliziten und anerkannten Bezug auf innere Anlagen nur aus äußeren Ursachen zu erklären, aber sie setzte eine innere Anlage implizit voraus, um diesem Gedanken Plausibilität zu verleihen. In diesem Sinne habe die Leugnung der »Modifikabilität« oder die Annahme der Präformation dieselbe Konsequenz für die Permutationstheorie. Schließlich macht Fichte auf eine dritte Unzulänglichkeit der Permutationstheorie aufmerksam, nämlich auf ihre Berufung auf Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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die »Länge der Zeit« als ein Erklärungsprinzip der Umbildung der Arten. Die Permutationstheorie nehme sich die Aufgabe vor, die Entstehung und Entwicklung aller Arten aus einer oder wenigen Urformen zu erklären, nehme jedoch hierbei »als Ursache blos äussere Einwirkungen und Länge der Zeit« an (Fichte, 1867, S. 217, § 216). Das Problem dabei ist Fichte zufolge, dass die Berufung auf die Wirkung der Zeit nur den Schein einer Erklärung gebe. Die Permutationstheorie nehme eine subjektive Zeitvorstellung an, welche durch Abstraktion der objektiven Ursachen, die innerhalb der Zeit die Entstehung und Entwicklung der Arten hervorgebracht haben sollten, sich verselbständigt und objektiviert (Fichte, 1867, S. 211, § 212). Auf diese Weise enthebe die vage Berufung auf die Wirkung der Zeit »jeder eigentlichen Erklärung« und die Permutationstheorie setze jene objektivierte und leere Zeitvorstellung als »ein Unbekanntes, aber Imponirendes« ein, »dessen Leere Jeder nach eignem Ermessen sich ausfüllen kann« (Fichte, 1867, S. 210, § 212). Laut Fichte (1867) macht somit die Berufung auf die Wirkung der Zeit eine Flucht in ein asylum ignorantiae aus (S. 210, § 212), d. h. sie »gleicht einer schlechten Ausflucht, um die Unkunde oder die Unmöglichkeit der eigentlich anzunehmenden Ursachen zu verdecken« (S. 211, § 213). Ohne imstande zu sein, ihrem Axiom der Transmutation »der organischen Grundtypen« (Fichte, 1867, S. 212, § 214), dem zufolge sich eine Art in eine neue Art verwandle, eine erfahrungsgemäße Grundlage zu schaffen, versuche die Permutationstheorie, durch die Berufung auf die Wirkung der Zeit »das an sich Unglaubliche glaublich« zu machen (Fichte, 1867, S. 210, § 212). Laut Fichte (1867) ist die Zeit jedoch »die an sich leere Form des Nacheinander«, sodass ihre Länge eigentlich nichts bewirken und folglich nicht »durch sich allein einen besonderen Erklärungsgrund bilden« könne (S. 211, § 212). Nachdem Fichte (1867) diese Inkonsequenzen und Unzulänglichkeiten der Permutationstheorie erörtert, schließt er, dass die Permutationstheorie »in Wahrheit selbst nur der auf halbem Wege stehen gebliebene Versuch einer Präformationslehre« sei (S. 217, § 216). Jene bedürfe »ihrer vermeintlichen Gegnerin, um selbst nur zu Stande zu kommen« (Fichte, 1867, S. 217, § 216) und hebe bei Anerkennung der stillschweigenden Prinzipien sich selbst ab. Fichte (1867) sieht demnach keinen Gegensatz zwischen beiden Theorien, sondern nur eine durch Selbstwiderspruch indirekte Bestätigung der Präformationstheorie seitens der Permutationstheorie (S. 217, § 216). Der Permutationstheorie gegenüber argumentiert Fichte für 82

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eine auf dem Theismus beruhende und exemplarisch von Agassiz 50 vertretene Präformationstheorie. Angesichts morphologischer, organischer und bewusster Prozesse schließt die Präformationstheorie auf die Bedingungen ihrer Entfaltung zurück. Dabei ist die immanente Zweckmäßigkeit solcher Prozesse das Entscheidende, da sie auf den Vorstellungscharakter ihrer Bedingungen hinweise. Aus der »Thatsache innerer Zweckmässigkeit« schließe die Präformationstheorie demnach auf »ein genau gegliedertes System realisirbarer Zwecke (›Ideen‹)« (Fichte, 1867, S. 245, § 237) bzw. auf »das Vorhandensein eines Systems urbildlicher, in allem Wechsel der Erscheinungen beharrlicher Gestaltungsformen der Schöpfung« (Fichte, 1867, S. 246, In seinem Werk Die Seelenfortdauer und die Weltstellung des Menschen (1867) bezieht sich Fichte im Rahmen seiner Begründung des Prinzips der Unveränderlichkeit der Grundtypen der Organismen noch auf die von Cuvier und Agassiz vertretene Theorie der durch Umwälzungen unterbrochenen geologischen Entwicklung und der abgesonderten Schöpfungsperioden – d. h. nach heutiger Terminologie auf den Katastrophismus. Er erkannte diese Theorie aufgrund seiner Annahme des Prinzips der Stetigkeit nur mit Bedenken an und es schien ihm bereits damals, dass die Einzelheiten des Streits um diese Theorie im Endeffekt den Präformationsbegriff, d. h. »die Annahme gewisser fester und unveränderlicher Grundtypen der Organisation« nicht berühren (Fichte, 1867, S. 244, § 236). In der dritten Auflage seiner Anthropologie bezieht sich Fichte (1876a) auf Lyells Widerlegung jener Theorie und schreibt folgende berichtigende Worte bezüglich seiner früheren Ansicht: »Ich kann mich auch jetzt noch zu den dort aufgestellten Hauptinstanzen gegen dieselbe [Darwins Theorie] bekennen. Aber sie sind, was übrigens ihre für sich bestehende Bedeutung nicht beeinträchtigt, von einer jetzt aufgegebenen geologischen Theorie ausgegangen, welcher ich damals als der vorzugsweise herrschenden Vertrauen schenkte, indem sie noch von einem so bewährten Forscher, wie Agassiz, vertreten war. Es war die Annahme von einer Unterbrechung der geologischen Entwickelung durch grosse, die Erdoberfläche verändernde Umwälzungen, daher von geschiedenen aufeinanderfolgenden Schöpfungsperioden, deren jede eine neue und eigenthümliche, aber höhere Stufe der Lebenswelt zeigt. Für den Philosophen, als solchen, namentlich für den, welcher sich zu theistischen Principien bekennt, konnte diese Annahme nur für unwahrscheinlich, ja bedenklich gelten, weil sie der universalen Thatsache innerer Gesetzmässigkeit und stetiger Folgerichtigkeit in der Natur widerspricht. Aber er konnte darum das factische Ergebniss deshalb nicht in Abrede ziehen. Er musste es anerkennen, wenn es einmal feststand. Es gehört daher zu den für die Philosophie befriedigendsten Erfolgen, dass durch den grossen Geologen Lyell jener Hypothese ein Ende gemacht worden, indem nach seiner Begründung eine ununterbrochene Stetigkeit der geologischen Entwickelung jetzt als das Wahrscheinlichere angenommen werden darf, und Darwin hat auf dieser Grundanschauung nur weiter fortgebaut. Somit habe ich in meiner frühern kritischen Erörterung über Darwin’s Lehre alles zurückzunehmen, was sich auf die Gültigkeit jener damals herrschenden Ansicht bezieht« (S. 86– 87, § 41). Wie oben erwähnt, berührt diese Zurücknahme jedoch nicht den Präformationsbegriff.

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§ 237). Bei der Präformationstheorie ist somit der Grundgedanke, dass der Entwicklung der Naturformen ein ideales und zugleich wirksames System von Zwecken und Uranlagen innewohnt, welches in einer apriorischen Intelligenz seinen Grund habe. »Der Begriff der Teleologie ist hiermit festgestellt« (Fichte, 1875, S. 226). In diesem Sinne sei der Zusammenhang und die Ordnung der Natur letztendlich nur »durch den Begriff einer intelligenten Weltursache und eines idealen Schöpfungsactes am Anfange der Dinge« intelligible (Fichte, 1867, S. 219–220, § 218). Fichte (1867) weist jedenfalls darauf hin, dass diese »schöpferisch-erhaltene Intelligenz« nicht »ausser der Welt« bzw. »in einem idealen ›Jenseits‹« liege, sondern sie sei der Welt immanent, insofern sie »gerade mit ihren vorbildlichen Gedanken als innerlich treibendes und ausgestaltendes Princip in den Dingen selbst wirksam sein« müsse (S. 249, § 241). Dieses Prinzip sollte durch den Begriff der Präformation zum Ausdruck gebracht werden. Wichtig in diesem Zusammenhang sind drei Bestimmungen des Präformationsbegriffs, welche Fichte der Permutationstheorie gegenüber erläutert. Erstens setzt Fichte dem Axiom der Transmutation der Arten den Präformationsbegriff entgegen. Gemäß diesem Axiom der Permutationstheorie gebe es nur allmähliche Veränderungen und keine festen Unterschiede zwischen den Gattungen und den Arten. Im Laufe der Evolution seien durch Anpassung, Selektion und Deszendenz Varietäten der Urformen entstanden, unter denen die schwächeren untergegangen seien und die stärkeren fortbestanden hätten. Auf diese Weise seien durch das Aussterben der Übergangsvarietäten Lücken zwischen den fortbestehenden Varietäten entstanden, die den Eindruck erwecken, dass es feste Grenzen zwischen den Gattungen und Arten gebe. In Wahrheit handele es sich jedoch um eine durch das Selektionsgesetz unterbrochene Abstufung der auf Transmutation beruhenden Evolution der Arten (Fichte, 1867, S. 196–198, § 203). Gegen diese These argumentiert Fichte für die Ursprünglichkeit und Unveränderlichkeit der Grundtypen der Organismen. Gemäß dem Präformationsbegriff erkläre sich die Entwicklung der Organismen aus einem apriorischen System von Uranlagen, welches einem Wesen typisch und spezifisch sei. Der Präformationsbegriff bezeichne demnach ein ideales, wirksames und unveränderliches Formprinzip, welches einem Wesen seine Eigentümlichkeit und damit seinen Unterschied verleihe. Darauf basiere der Artbegriff, denn das System der präformierten Anlagen eines Wesens »gleich ist dem 84

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Unterschied (der differentia specifica), durch welchen dies Wesen von andern Wesen abweicht« (Fichte, 1867, S. 224, § 223). Aus diesem Grund sei die Annahme »von einer unbedingten Verwandlungsfähigkeit der Arten ineinander« und »von einer Entstehung aller Gattungen und Arten aus einer einfachen Urform« zu verwerfen (Fichte, 1867, S. 191, § 199). Diesem Gedanken liege ein Entwicklungsbegriff zugrunde, dem zufolge man »eine einzige Entwicklungsreihe der organischen Wesen« anzunehmen habe, was Fichte jedoch für eine »schiefe« und »naturwidrige« Ausdehnung des Entwicklungsbegriffs hält, denn naturgemäß sei »[j]ede organische Anlage … eine durchaus eigenthümliche, eng begränzte und unüberschreitbar in diese Gränze eingeschlossen« (Fichte, 1875, S. 226–227). Ein Formprinzip könne sich nicht aus äußeren Ursachen in ein anderes Formprinzip verwandeln. In diesem Sinne behauptet die Präformationstheorie das Prinzip der Unveränderlichkeit der Grundtypen der Organismen. Dieses Prinzip sei jedoch mit dem »Gesetz der Stetigkeit und der Uebergangsformen« zu vereinbaren (Fichte, 1867, S. 191, § 199). Diese Anforderung ergebe sich aus einer Berichtigung seitens der Permutationstheorie, welche immerhin den negativen Wert habe, der Präformationstheorie »vor der unkritischen Vervielfältigung der ›Arten‹ und vor der unbehutsamen Behauptung ihrer Unveränderlichkeit« zu warnen (Fichte, 1867, S. 188–189, § 197). Obwohl Fichte für die Unveränderlichkeit der Grundtypen argumentiert, weist er darauf hin, dass der »allzustarre Begriff einer Unveränderlichkeit der Arten« bei Berichtigung seitens der auf dem »Gesetz der Stetigkeit« beruhenden Permutationstheorie näher bestimmt und ergänzt werden sollte. In diesem Sinne sollte die Präformationstheorie dem Prinzip der Präformation getreu bleibend dieses Gesetz beachten und anerkennen. Laut Fichte (1867) können somit die äußeren Einwirkungen »das Innere eines Wesens zwar zu eigenthümlichen Gegenwirkungen veranlassen, niemals aber es umändern« (S. 190, § 198). Dementsprechend behauptet Fichte sowohl die Ursprünglichkeit und Unveränderlichkeit der Grundtypen der Organismen als auch die Möglichkeit von Modifikationen und Varietäten innerhalb der sich vom Grundtypus bestimmten Grenzen. »Innerhalb jeder Arteigenthümlichkeit können zwar Varietäten sich ausbilden, aber deren innere Begrenzung nie überschreiten« (Fichte, 1875, S. 227). Zweitens setzt Fichte dem Axiom der Urzeugung den Präformationsbegriff entgegen. Gemäß diesem Axiom der Permutationstheorie seien die Lebewesen das Resultat einer mechanischen KombinaSubstantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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tion von materiellen Elementen. Dieser materialistischen These gegenüber argumentiert Fichte mit dem Präformationsbegriff für die Präexistenz der Lebewesen. Gemäß dem Entwicklungsbegriff der Präformationstheorie sei das faktisch Erste nicht mit dem wesenhaft Ersten zu verwechseln – was die Permutationstheorie mit ihrem Axiom der Urzeugung tue –, sodass die faktische Erscheinung eines Wesens nicht als eine erste Entstehung, sondern als die raumzeitliche Verwirklichung eines präexistenten Wesens zu betrachten sei. Die Frage nach dem Modus dieser Präexistenz beantwortet Fichte dahingehend, dass die Präexistenz »in keinem Sinne als vollkommnes, ausdrückliches Dasein« (Fichte, 1867, S. 192, § 200), sondern im Modus der »Virtualität«, der »Latenz« oder der »Keimhaftigkeit« zu verstehen sei. Aus dieser vorempirischen Form der Existenz entfalten sich sodann die Grundanlagen eines Wesens, welche ihm zur raumzeitlichen Erscheinung bringen, wie Fichte (1867) es mit folgenden Worten ausdrückt: Alles Reale bis ins Kleinste und Unscheinbarste herab trägt den Charakter jener Idealität, des Präformirt- und Eingeordnetseins des Einzelnen in die Weltordnung des Ganzen. Das ideal Präformirte erweist sich als das eigentlich und einzig Wirksame, als der innerlich gestaltende Wesenskeim in allen Dingen, die nur durch seine, von innenher treibende Wirkung der zeitlichen Erscheinung nach werden können, was sie schon präformirter Weise ewig sind (S. 255, § 247).

Laut Fichte ist somit die Entwicklung eines Lebewesens nur kraft eines solchen auf ideale und vorbildliche Weise präexistenten Wesenskeims möglich, welcher als wirksames Formprinzip die zur Verwirklichung und Verleiblichung herbeiführenden Grundanlagen enthält. Schließlich deute der Präformationsbegriff auf die Idee einer in ihrer Idealität und Keimhaftigkeit vollendeten Weltordnung hin, welche in einer stetigen Stufenfolge von besonderen Zwecksystemen gegliedert sei, die jedoch in sich geschlossen und vollendet seien (Fichte, 1867, S. 179–180, §§ 189–190). Laut Fichte (1867) sei »[d]ie gegenwärtige Lebenswelt … in gewisse feste Grundtypen unveränderlich eingeschlossen« (S. 192, § 200), was jedoch nicht jede Dynamik ausschließe. In der Tat weist Fichte (1867) darauf hin, dass der berichtigte Präformationsbegriff die Möglichkeit einschließt, dass neue Varietäten erscheinen und dass diese Varietäten »sogar zu neuen ›Arten‹ sich fixiren …, oder auch in die ursprüngliche Bildung 86

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wieder zurückkehren« können (S. 192–193, § 200). Gemäß der Idee der Vollendung der Zwecksysteme können jedoch »neue Grundtypen der Bildung … nicht mehr entstehen« (Fichte, 1867, S. 193, § 200), denn die Annahme einer solchen Entstehung würde bedeuten, dass materielle Verhältnisse neue Formprinzipien hervorbringen können, was der Präformationstheorie zufolge unmöglich ist. Ferner legt Fichte in Bezug auf das wechselseitige Verhältnis der Zwecksysteme miteinander aus, dass jedes dieser Zwecksysteme zugleich Selbstzweck und Mittel für das folgende Zwecksystem sei. Die Stufenfolge der besonderen Zwecksysteme bzw. Naturreiche sei demnach nicht so zu verstehen, dass eine niedere Stufe eine höhere Stufe aus sich hervorbringe, sondern dass die niedere Stufe die »Bedingung zur Verwirklichung einer höhern Stufe von Existenzen« ausmache (Fichte, 1867, S. 179, § 190). 51 Die Reihe dieser Zwecksysteme steige allerdings nicht ins Unendliche, sondern bis zu dem absoluten Weltwesen auf, welches den »Endzweck« bzw. »den letzten Abschluss und das eigentliche Ziel der gesammten Weltentwicklung« ausmache (Fichte, 1867, S. 180, § 190). Die vorausgehende Schilderung zeigt Fichtes Bemühungen auf, dem Vormarsch des Materialismus und des Darwinismus ins Gebiet der Natur- und Menschengeschichte, welcher der Ausschluss der Prinzipien der Präformation und der Teleologie sowie die Destabilisierung der Weltstellung des Menschen mit sich brachte, eine alternative Konzeption von Naturwissenschaft und Naturphilosophie entgegenzusetzen. Bei der Behandlung der speziellen Frage nach der Entstehung und Evolution der Arten zeigt Fichte exemplarisch seine Vorstellung des anzustrebenden Verhältnisses zwischen den Naturwissenschaften und der Philosophie. Auf dem Prinzip des »Zweckzusammenhangs im Universum« (Fichte, 1867, S. 184, § 193) basierend sei das Ziel der Naturphilosophie, die Resultate der verschiedenen EinzelwissenDie »Materialisierung« dieser ideellen Stufenfolge der besonderen Zwecksysteme hält Fichte (1867) für einen Irrtum, welchen beispielsweise Saint-Hilaire auf der Seite der Präformationstheorie begangen sei, »indem er einen thatsächlichen Uebergang der verschiedenen Gattungen ineinander annehmen zu dürfen glaubte« (S. 229, § 225). Wenn sich bei der Permutationstheorie eine unberechtigte Ausdehnung des Entwicklungsbegriffs finden ließ, insofern eine einzige Entwicklungsreihe der Gattungen und Arten angenommen wird, tritt hier eine analoge Ausdehnung des Entwicklungsbegriffs zutage, welche zur Annahme einer der ideellen entsprechenden materiellen Stetigkeit der Zwecksysteme, mithin auch zur Annahme einer einzigen Entwicklungsreihe der Gattungen und Arten führt.

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schaften in eine organische Einheit zusammenzufassen. Im gegenwärtigen Fall weist Fichte darauf hin, dass die von demselben Prinzip geleiteten Einzelwissenschaften, welche die Natur- und Menschengeschichte untersuchen 52, auf dieselbe Aufgabe gerichtet seien. »[J]ede für sich und dennoch in ergänzender Zusammenwirkung« zielen sie nämlich Fichte (1867) zufolge darauf ab, »nicht blos ein äusseres Bild des Weltganzen compilatorisch zusammenzufügen«, sondern den »innerlich leitenden Grundgedanken« bzw. »den ewigen Weltplan, welcher der ›innern Geschichte der Schöpfung‹ zu Grunde liegt«, zu entdecken und darzustellen (S. 184, § 193). Auf diese Weise versucht Fichte, einerseits den Materialismus und andererseits die Fragmentierung der Naturwissenschaften durch eine idealistische Konzeption von Wissenschaft und Philosophie zu berichtigen – inwiefern sie als eine spätidealistische Konzeption zu betrachten sei, wird anschließend erläutert werden.

2.2.3 Vergessene Strömungen der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts Die vorausgehende Charakterisierung der Hauptkontroversen der mittleren Periode des 19. Jahrhunderts sollte es erlaubt haben, einerseits eine allgemeine Idee der intellektuellen Situation dieser Epoche zu gewinnen und andererseits Fichtes Denken philosophiegeschichtlich zu situieren. Diese philosophiegeschichtliche Kontextualisierung wurde methodisch unter dem Aspekt von bestimmten philosophischen Kontroversen deswegen durchgeführt, weil sie auf diese Weise – wie schon angedeutet – Anspruch sowohl auf Historizität als auch auf Aktualität erheben kann. Indem durch diese methodische Strategie das Risiko einer antiquarischen und einer anachronistischen philosophiegeschichtlichen Schilderung vermieden wird, entsteht ein lebhafteres Bild nicht nur der intellektuellen Situation jener Epoche, sondern auch des philosophischen Denkens Fichtes. In diesem Sinne sollte die Schilderung seiner Auseinandersetzung mit jeder dieser

»Das Erfahrungsgebiet, welches wir hiermit betreten, ist an verschiedene Zweige der Naturforschung vertheilt: Geologie und Paläontologie, beschreibende Thier- und Pflanzenkunde, ferner vergleichende Biologie und Entwicklungsgeschichte der Thierund Pflanzenformen; endlich Anthropologie und vergleichende Sprach- und Völkerkunde« (Fichte, 1867, S. 183–184, § 193).

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Kontroversen deutlich gemacht haben, nicht nur dass er einen beachtenswerten Beitrag zur Reflexion über die wichtigsten Probleme der nachidealistischen Philosophie leistet, sondern auch dass seinem philosophischen Denken gerade kraft der Aktualität jener Kontroversen ebenso Aktualität im systematischen Sinne zukommt. Nun scheint es zugunsten einer noch genaueren Kontextualisierung Fichtes erforderlich, sein Denken im Rahmen einer philosophischen Konstellation zu verorten. Dies wurde in der Tat in verschiedenen älteren philosophiegeschichtlichen Werken getan, welche Fichtes Denken jedoch vorwiegend unter dem Aspekt des Theismus betrachten und infolgedessen es hauptsächlich im Rahmen der Geschichte der Theologie und der Religionsphilosophie einordnen bzw. seine philosophische Leistung auf einen theologischen Zusammenhang reduzieren. 53 Auch wenn der Theismus ein Hauptmotiv von Fichtes Denken ist, wird durch die Hervorhebung dieses Moments dasjenige verkannt, was Fichte für den Mittelpunkt seines Denkens hält und wodurch der Theismus systematisch erst erklärlich wird. 54 Laut seinen eigenen Worten war das Anliegen Fichtes, eine »Grundansicht vom Wesen des Menschen, nach seiner allgemeinen Weltstellung wie nach seinem Verhältniss zum absoluten Wesen« (Fichte, 1869e, S. XV) zu begründen, sodass sich der Theismus eigentlich aus einem »Anthropologismus« – dem anthropozentrischen Standpunkt – ergebe. Dies sei hier nur vorübergehend festgestellt, um darauf hinzuweisen, dass die Etikettierung unter der Bezeichnung des »Theismus« seinem Denken nur partiell gerecht wird, was jedoch letztendlich zur Vernachlässigung seines Werkes in der Philosophie und in der Psychologie beigetragen hat. Aus diesem Grund ist eine angemessenere philosophiegeschichtliche Kontextualisierung seines Denkens erforderlich, nicht bloß um der Etikettierung willen, sondern – aus reiner historischer Strenge – Vgl. Pfleiderer (1878, S. 234–236), Pünjer (1883, S. 165–177), Erdmann (1896, S. 648–654, 773–778), von Hartmann (1900, S. 367–379) und Überweg (1923, S. 231–242). 54 »Aber erlaubt ist es, wenigstens darauf hinzuweisen, dass ich das Bleibende meiner wissenschaftlichen Leistung – sei dies nun wenig oder viel – eben in jenen anthropologisch-psychologischen Ergebnissen finden muss, von welchen, wie von einem gemeinsam orientirenden Mittelpunkte aus, ich meine Untersuchungen nach Oben hin – zum Versuche einer ›Metaphysik‹ und ›speculativen Theologie‹, wie nach Unten oder zur Seite, zu den Anfängen einer Naturphilosophie erstreckt habe. Dies Ganze ist nur von jenem Mittelpunkte aus zu beurtheilen oder erklärlich zu finden« (Fichte, 1869b, S. 31). 53

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um sein Denken in einem näheren Zusammenhang besser zu verstehen und ihm philosophiegeschichtlich gerecht zu werden. Hierbei stellt sich jedoch die Schwierigkeit, dass es immer noch an philosophischen und philologischen Arbeiten über die Konstellationen der nachidealistischen Philosophie mangelt, welche einerseits eine systematische Deutung des Denkens ihrer Hauptfiguren vorlegen und andererseits ihre intertextuellen und persönlichen Beziehungen genau bestimmen. Eine solche Aufgabe würde allerdings die Grenzen vorliegender Arbeit weit überschreiten, sodass hier lediglich Beisers Versuch berücksichtigt wird, das historische Bild der nachidealistischen Philosophie durch die Bestimmung von zwei Denkströmungen, welche neben den oben dargestellten Kontroversen auch von der akademischen Historiographie vernachlässigt wurden, noch mehr zu bereichern und zu ergänzen. Auf diese Weise wird sich die Möglichkeit ergeben, Fichtes Denken innerhalb einer bestimmten Denkströmung zu situieren. Die wichtigsten vergessenen Strömungen dieser Epoche seien laut Beiser (2013, 2014b) nämlich der empiristisch-psychologische Idealismus und der deutsche Spätidealismus, welche anschließend zu betrachten gelten.

2.2.3.1 Der empiristisch-psychologische Idealismus

Obwohl die erste der hier in Betracht kommenden Strömungen nicht von primärer Bedeutung für den Zweck dieser Arbeit ist, sei sie hier immerhin um der Vollständigkeit willen kurz dargestellt. Der deutsche Idealismus werde gemeinhin für die einzige Form des Idealismus um 1800 gehalten (Beiser, 2014b, S. 11), jedoch sei während dieser Zeit eine zeitgenössische idealistische Strömung entstanden, welche im Gegensatz zum deutschen Idealismus ein empiristisch-psychologisches Programm durchzusetzen versucht habe. Zu dieser Form des Idealismus gehören Beiser zufolge Jakob Friedrich Fries (1773–1843), Johann Friedrich Herbart 55 (1776–1841) und Friedrich Eduard Beneke (1798–1854). In diesem Sinne habe es in Wirklichkeit zwei Formen des Idealismus in dieser Zeit gegeben, Fichte (1844b, 1845, 1855b, 1856b, 1876a) knüpft an Herbart im Rahmen seiner anthropologischen und psychologischen Schriften an, insbesondere in Bezug auf das Prinzip der Individualität der Menschenseele und auf seine Bedeutung für die Psychologie.

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nämlich »the rationalist-speculative tradition of Reinhold, Fichte, Schelling and Hegel, and the empiricist-psychological tradition of Fries, Herbart and Beneke« (Beiser, 2014b, S. 12). Das Interessante der Entgegensetzung von beiden Traditionen bestehe in der Tatsache, dass sich beide als Nachfolger und Erbe der Philosophie Kants verstehen konnten 56, insofern jede für sich eine ihrer Facetten einseitig hervorgehoben habe, nämlich einerseits ihre rationalistische und andererseits ihre empiristische Facette. 57 Dieser Form des Idealismus komme eine besondere Bedeutung im Kontext der Vorgeschichte des Neukantianismus zu. 58 Laut Beiser »It is a striking and perplexing fact that both these traditions, despite all the conflicts between them, would invoke the name an authority of Kant to justify themselves. Both claimed to represent ›the spirit of the Kantian philosophy‹, which pushed them in opposing directions« (Beiser, 2014b, S. 13). 57 »Reinhold, Fichte, Schelling and Hegel had taken hold of Kant’s rationalist side, namely, the value he placed on systematic unity, on a dogmatic method of demonstration, on a priori principles and reasoning. Fries, Herbart and Beneke, however, had grasped the empiricist side, namely, his insistence that the content of knowledge be given by the senses, that metaphysics should not transcend the limits of experience, that analysis of concepts cannot provide substantive knowledge« (Beiser, 2014b, S. 14). 58 Außer dem Neukantianismus haben Fries, Herbart und Beneke eine Bedeutung für die Entwicklung der modernen Psychologie. Diesbezüglich nimmt sich Leary (1978) die Aufgabe vor, diese drei Philosophen in die Geschichte der modernen Psychologie miteinzubeziehen. Er macht darauf aufmerksam, dass der Beitrag der deutschen Philosophie zur Entwicklung der modernen Psychologie von der Psychologiegeschichte vernachlässigt worden ist, sodass er die Beiträge von Fries, Herbart und Beneke zur Reflexion über die Natur und die Methode der Psychologie in Betracht zieht. Insbesondere fokussiert sich Leary (1978) auf den Übergang von einer philosophischen zu einer wissenschaftlichen Konzeption der Psychologie und argumentiert dafür, dass »Fries, Herbart, and Beneke, largely on the basis of Kant’s critical analysis of psychology and independent of developments within physiology, elaborated the conception and the philosophical justification of psychology as a natural science« (S. 114). Außer der Bedeutung von Fries, Herbart und Beneke für die Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie versucht Leary (1980), die Geschichte der Psychologie des 19. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung des Beitrags der idealistischen Philosophie zu vervollständigen. In diesem Zusammenhang verfolgt er bestimmte Entwicklungslinien, die aus den Philosophien von Fichte, Schelling und Hegel hervorgehen, und bietet einen Überblick über die nachfolgende idealistische Psychologie. Diese Schilderung ist insofern wichtig, als sie eine Reihe von Psychologen aus der Vergessenheit rettet, die zu einer umfassenden Geschichte der Psychologie des 19. Jahrhunderts gehören, nämlich Johann Christian August Heinroth (1773–1843), Henrik Steffens (1773–1845), Karl Friedrich Burdach (1776–1847), Gotthilf Heinrich Schubert (1780–1860), Carl Gustav Carus (1789–1869), Karl Ludwig Michelet (1801–1893), Gustav Theodor Fechner (1801–1887), Johann Karl Friedrich Rosenkranz (1804– 56

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(2014b) sind Fries, Herbart und Beneke »[t]he founding fathers of the movement«, insofern sie »defining doctrines of later Neo-Kantianism« antizipiert und festgelegt hätten (S. 3). Obwohl sie keine »organized and self-conscious movement« gebildet hätten, sei es trotzdem berechtigt, sie als eine eigenständige Tradition zu betrachten, weil sie »many attitudes, values and beliefs« geteilt hätten, welche sich in einer einheitlichen Denkströmung konsolidieren und hierbei diese Form des Idealismus scharf vom absoluten Idealismus unterscheiden (Beiser, 2014b, S. 11–12). Im Gegensatz zum absoluten Idealismus charakterisiere sich diese Denkströmung durch (1) die auf dem Gegensatz von Erscheinung und Ding an sich basierende Annahme der Einschränkung des Erkennens auf die Erscheinungen, (2) die Verpflichtung zur naturwissenschaftlichen Methode und zum Prinzip der Erfahrung, (3) die Verwurzelung im subjektiven Idealismus, (4) die Aufrechterhaltung wichtiger Dualismen der Philosophie Kants (Verstand und Sinnlichkeit, Form und Inhalt), und (5) die Beibehaltung der Trennung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft (Beiser, 2014b, S. 12–13).

2.2.3.2 Der deutsche Spätidealismus

Nach der vorausgehenden kurzen Darstellung gilt es nun, die zweite philosophische Strömung zu betrachten, die Beiser aus der Vergessenheit zu retten versucht hat. Es handelt sich nämlich um eine weitere Form des Idealismus, welche in der nachidealistischen Periode entstanden sei. Durch ein zugleich affirmatives und kritisches Verhältnis zum klassischen Idealismus charakterisiert, wird diese Strömung als Spätidealismus bezeichnet. Der Begriff des Spätidealismus war von Kurt Leese (1929b) eingeführt und geprägt, der ihn hauptsächlich aus dem Denken Christian Hermann Weißes bestimmte und auf die thematische Konstellation von Christentum und Idealismus beschränkte. Für Leese ist der Spätidealismus »eine Phase der idealistischen Denkbewegung selber« (Leese, 1929b, S. 35), was sich an seiner Anknüpfung an Hauptmoti1879), Johann Eduard Erdmann (1805–1892), Karl Fortlage (1806–1881), Franz Vorländer (1806–1867), Leopold George (1811–1873), Chajim Heymann Steinthal (1823–1899) und Moritz Lazarus (1824–1903). Für eine ausführlichere Schilderung einiger der Beiträge der erwähnten Autoren vgl. Leary (1980).

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ven des Idealismus zeige. Erstens stehe der Spätidealismus in einem sowohl kritischen als auch affirmativen Verhältnis zum Identitätsprinzip, denn dieses sei zwar eingeschränkt, jedoch nicht aufgehoben, was Leese (1929b) zufolge es erlaubt, von Spätidealismus zu sprechen (S. 29–30). Zweitens weist Leese (1929b) darauf hin, dass sich der Spätidealismus »die erste bewußte Rückwendung zu Kant« vorgenommen habe, was sein kritisches Verhältnis zu den »Stürmen der idealistischen Spekulation« zeige (S. 24). Drittens lassen sich Leese (1929b) zufolge Hauptfragen des Idealismus als aufgenommene »Denkprobleme« des Spätidealismus erkennen, wie beispielsweise die Frage nach dem Gegensatz und der Schlichtung von Freiheit und Notwendigkeit (S. 35) und die Frage nach dem Absoluten, welche jedoch in der Form eines »denkerische[n] Bemühen um den wahren Gott« auftauche (S. 30). Auch wenn der Spätidealismus eine Phase des Idealismus ausmache, stellt Leese fest (1929b), dass der Spätidealismus »in dem außerordentlich stark durchlebten und durchdachten Spannungsverhältnis eines entschiedenen Ja und eines entschlossenen Nein« zum Idealismus stehe (S. 8). Diese »dialektische Dynamik« (S. 33) leitet Leese (1929b) von Weißes eigener Erklärung seines widersprechenden Verhältnisses zur Philosophie Hegels her. Weiße (1835) nimmt nämlich einerseits ihre formale und methodologische Facette an und lehnt andererseits ihre materiale und resultative Facette ab: Ich fand mich von einem bekannten philosophischen Systeme zugleich mächtig angezogen und hart zurückgestoßen. Die formale Wahrheit und die materiale Unwahrheit der Philosophie Hegels, die gediegene Trefflichkeit ihrer Methode und die trostlose Kahlheit ihrer Resultate drangen sich mit gleicher Evidenz meinem Geiste auf, und spornten denselben an, mit Anstrengung aller seiner Kraft die Lösung dieses Widerspruches zu suchen (S. IV).

Weißes systematischer Versuch, diesen Widerspruch im Rahmen einer theologischen und philosophischen Konstellation zu lösen, scheint Leese der Prototyp des Spätidealismus zu sein. 59 In der Tat behauptet Leese, dass das Programm des Spätidealismus bereits in der Zwecksetzung der Erstausgabe der Zeitschrift für Philosophie und spekulative Theologie dargestellt sei. Dabei handelt es sich um (1) die Vertretung und wissenschaftliche Fortentwicklung der InteDer Hauptteil seiner Schrift trägt folgenden Titel: »Das System Chr. H. Weißes als Typus für die Problematik des Spätidealismus (1855–62)« (Leese, 1929b, S. 61–256).

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ressen der christlichen Spekulation und (2) die philosophische Behandlung von Fragen der Dogmatik und der praktischen Theologie (Fichte, 1837e, S. I; Leese, 1929b, S. 43). Diese Hauptmotive erkennt Leese an Weiße und sollten das Programm des Spätidealismus ausmachen. 60 Auf diese Weise bleibt jedoch der Begriff des Spätidealismus hauptsächlich auf das systematische Verhältnis von Idealismus und christlicher Theologie beschränkt. Gemäß diesem Begriff seien für Leese die Vertreter des Spätidealismus nämlich Schelling – in seiner Spätphase –, Christian Hermann Weiße und Immanuel Hermann Fichte. Beiser (2013) unterscheidet drei Phasen des deutschen Idealismus, nämlich die klassische (1781–1831), die späte (1831–1881) und die neukantianische (1881–1945) Phase (S. 1, Fn. 1). Mit einer solchen Periodisierung des deutschen Idealismus will Beiser den Gemeinplatz berichtigen, dem zufolge der deutsche Idealismus mit Hegel geendet habe. Auf diese Weise sollte der Spätidealismus eine späte Phase des deutschen Idealismus ausmachen. Angesichts des Denkens Friedrich Adolf Trendelenburgs und Rudolf Hermann Lotzes deutet Beiser darauf hin, dass der Spätidealismus durch eine Ablehnung der Methoden und eine Annahme der Inhalte des absoluten Idealismus sowie durch eine Aufnahme der Methode der Naturwissenschaften charakterisiert sei. 61 Ferner lasse sich dabei ein starkes Anliegen, die Erkenntnisgrenzen zwecks eines epistemischen Zugangs zum Absoluten zu überwinden, was somit Beiser (2014b) als ein wesentliches Merkmal dieser philosophischen Strömung betrachDiesbezüglich weist Schulz darauf hin, dass die Beteiligung an dieser Zeitschrift ein bloßes äußerliches Merkmal ausmache, welches nur auf »Interessenvertretung«, nicht aber auf eine eigentümliche Problematik hinweise, sodass der Begriff des Spätidealismus letztendlich einen bloßen Sammelbegriff ohne philosophisches Recht ausmache. Mit Schulz’ Worten: »Wesentlich bleibt aber, aufs ganze gesehen, daß der Begriff Spätidealismus in keiner Weise mit demselben philosophischen Recht wie der des Idealismus auftreten kann: es ist von ›Interessenvertretung‹ die Rede, das ist ganz im Sinne des 19. Jahrhunderts gesprochen und weist nicht mehr auf ein gemeinsames Problem, wie es dem Idealismus eigentümlich war, dem es um die Frage nach der reinen Subjektivität ging« (Schulz, 1975, S. 169). Zur Einschätzung der Kritik von Schulz im Vergleich zu Leese vgl. Hellmuth (2009, S. 169–172). 61 »What came to an end in the late 1840s was speculative idealism, the attempt to justify metaphysics through a priori methods, but not idealism as such. Lotze and Trendelenburg rejected the methods of absolute idealism, though they attempted to preserve its content, which they tried to justify by more empirical means« (Beiser, 2014b, S. 193). 60

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tet (S. 194). Aus Beisers Perspektive sind demnach die Hauptvertreter des Spätidealismus Trendelenburg und Lotze, die in einem von den empirischen Wissenschaften allmählich beherrschten intellektuellen Kontext es versucht hätten, eine idealistische Tradition in der akademischen Philosophie beizubehalten, epistemologische und metaphysische Fragen in ihrem Denken integrierend. In diesem Sinne hätten diese Philosophen eine Widerstandsquelle »against the growing intellectual forces of their age: historicism, naturalism, positivism, and materialism« gebildet und als »reminder to the next generation« fungiert, »that there is an alternative to these doctrines, that there was once a glorious tradition that stood against them« (Beiser, 2013, S. 2). Außer Trendelenburg und Lotzte legt Beiser nahe, ohne jedoch ausführlich darauf einzugehen, dass auch Christian Hermann Weiße, Immanuel Hermann Fichte und Heinrich Moritz Chalybäus (2013, S. 1, Fn. 1) sowie Eduard von Hartmann 62 (2014a, S. 10) zu dieser Strömung gehören würden. Trotz des Verdienstes dieser Bemühungen, welche einige Merkmale des Spätidealismus treffend identifizieren, ist es möglich zu beobachten, dass der Begriff des Spätidealismus als historiographische Kategorie noch nicht in Hinsicht auf seinen philosophischen Inhalt scharf bestimmt ist. In diesem Sinne behauptet Schwaetzer (2006), dass »eine Aufarbeitung des Spätidealismus noch immer ein uneingelöstes Desiderat« bleibe (S. 33). Obwohl Schwaetzer (2006) die Philosophie Gideon Spickers »im Kontext von Neukantianismus und Spätidealismus« historisch und systematisch verortet, stellt er klar, dass der Begriff des Spätidealismus eine Strömung bezeichne, »die nicht primär von Hegel abhängig ist, sondern eigenständig ihren Weg geht« (S. 21). Ferner weist Schwaetzer (2006) darauf hin, dass der Spätidealismus »noch so wenig untersucht ist, daß hier als Kriterium nur gemeint ist, der Spätidealismus sei, anders als der Name suggeriere, nicht vom Idealismus abhängig« (S. 21, Fn. 35). In der Tat sei die Sachlage insofern komplizierter, als »die erste entscheidende Opposition gegen den Idealismus gerade aus den Reihen des sogenannten Spätidealismus kam« (Schwaetzer, 2006, S. 21, Fn. 35). Ein solches kritisches Moment des Spätidealismus soll demnach eins seiner Merkmale ausmachen. Außer diesem historisch-kritischen Moment sei der Spätidealismus dadurch gekennzeichnet, dass er ausEduard von Hartmann ist von Schwaetzer (2002, S. IX–XIII, 2006, S. 19–20) auch als eine Figur des metaphysischen Neukantianismus betrachtet worden.

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gehend von einer erkenntniskritischen Reflexion auf eine Synthese zwischen Naturwissenschaft und Metaphysik abziele, d. h. zwischen den »Ansprüche[n], die aus dem Siegeszug der Naturwissenschaften, den positiven Wissenschaften, erwachsen«, und dem »Streben nach einer metaphysischen Sinngebung des Weltganzen« (Schwaetzer, 2006, S. 20). Prototypisch findet Schwaetzer (2006) diesen spätidealistischen Versuch bei Spicker (S. 21). Außer Spicker gehören zum Spätidealismus laut Schwaetzer (2006) auch noch Immanuel Hermann Fichte, Moriz Carrière und Johannes Huber (S. 141). Angesichts dieses Überblicks, aus dem der prekäre Zustand der Forschung zum Spätidealismus deutlich zutage tritt, scheint es erforderlich, den Begriff des Spätidealismus zumindest versuchsweise etwas schärfer zu bestimmen. Ein solcher Versuch steht jedoch vor dem gravierenden Problem, dass es an philosophischen und philologischen Arbeiten – geschweige denn die editorischen Arbeiten – fehlt, die auf systematische Weise das Denken der einzelnen Philosophen, die Verhältnisse zwischen ihren Ansätzen und die implizite und explizite Intertextualität zwischen ihren Werken herausarbeiten und erschließen. Nur auf einer solchen Grundlage wäre es möglich, einen quellenmäßigen, wohlbegründeten und genaueren Begriff des Spätidealismus zu bestimmen. 63 Eine solche Aufgabe gehört jedoch zu einem umfangreichen Forschungsprogramm, das weit über die Grenzen vorliegender Untersuchung hinausreichen. Abgesehen von diesem Problem lässt sich aus den vorhandenen Beiträgen gewisse Prinzipien herauslesen, die dazu berechtigen, der Spätidealismus, auch wenn er keine Schule mit einem Grundvater ausmacht, immerhin als eine eigenständige philosophische Strömung zu betrachten. Vor dem dargestellten Hintergrund wird eine vorläufige Definition des Spätidealismus vorgeschlagen, die demnach der Berichtigung und der Ergänzung ausgesetzt bleibt. Zu einer solchen Bestimmung gehört auch eine schärfere begriffliche Abgrenzung des Spätidealismus von der romantischen Naturphilosophie. Manche Philosophen, die man auch in den Spätidealismus miteinbeziehen könnte, wie beispielsweise Henrik Steffens (1773–1845), Gotthilf Heinrich Schubert (1780–1860) oder Carl Gustav Carus (1789–1869), können mit demselben Recht als romantische Naturphilosophen bezeichnet werden. In diesem Zusammenhang kann man beispielsweise auf Manfred Engel hinweisen, der im Rahmen seines Forschungsprojekts zur romantischen Anthropologie die erwähnten Philosophen eben unter der Kategorie der romantischen Anthropologie zusammengefasst hat. Zum Begriff der romantischen Anthropologie vgl. Engel (2000).

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Wie lässt sich der Spätidealismus idealtypisch charakterisieren? Der Begriff des Spätidealismus bezeichnet eine philosophische Strömung des 19. Jahrhunderts, welche durch eine innere Spannung zwischen Epistemologie, Metaphysik, Religion und Naturwissenschaft gekennzeichnet ist. Der Spätidealismus nimmt sich den synthetischen Versuch vor, den gleichberechtigten Anforderungen des Bewusstseins jener Zeit gerecht zu werden. In historisch-systematischer Kontinuität mit dem Idealismus steht der Spätidealismus auf der Grundlage des objektiven Idealismus, dem zufolge dem Universum eine Vernunfteinheit zugrunde liegt. Durch die Voraussetzung dieser Einheit von Sein und Denken wird einerseits den ideellen Zusammenhang der Welt und andererseits das epistemische Verhältnis des menschlichen Geistes zur Welt gerechtfertigt. In diesem Sinne ist das Anliegen des Spätidealismus, eine Philosophie der Natur und des Geistes – eine Metaphysik – aufzubauen, welche die Vernunfteinheit des Universums erkennt und darstellt. Im Gegensatz zum Idealismus geht der Spätidealismus jedoch von einer Erkenntniskritik aus, welche die Grenzen und den Umfang des menschlichen Erkennens bestimmt. Auf diese Weise wird der Spätidealismus, sowohl den absoluten als auch den subjektiven Idealismus entgehend, auf den anthropozentrischen Standpunkt begründet, dem zufolge der Kreis menschlicher Erfahrung zwar nicht überschritten werden kann, aber immerhin – objektiv idealistisch bleibend – eine Wissenschaft und eine Metaphysik möglich sind. In diesem Sinne versucht der Spätidealismus, über eine abstrakte und negative Metaphysik hinauszugehen und stattdessen eine positive und objektive Metaphysik vorzulegen. In diesem Zusammenhang sind die Erfahrungswissenschaften das Fundament. Der Spätidealismus bewahrt sich von jeder Überschreitung der Spekulation und fordert demgegenüber die besonnene und strenge Methode der Naturwissenschaften, welche auf dem Prinzip der Erfahrung und der Induktion beruht. Dementsprechend besteht die Erkenntnisform des Spätidealismus in der aus der Erfahrung aufsteigenden Erkenntnis des Universums. Gleichzeitig ist dem Spätidealismus von ausschlaggebender Bedeutung, die Resultate der Naturwissenschaften in sich aufzunehmen. Die Verstärkung des Verhältnisses der Philosophie zu den Naturwissenschaften beruht auf der ihnen gemeinsamen Annahme der innewohnenden Vernunfteinheit des Universums. Ferner versucht der Spätidealismus, durch diese aufsteigende Erkenntnisart den Anforderungen des religiösen Bewusstseins gerecht zu werden. Das Bewusstsein wird auf diesem Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Weg von seiner Selbsterkenntnis zur Gotterkenntnis gebracht. Eine solche Versöhnung verleiht dem menschlichen Geist innere Zuversicht und Frieden. Dies zeigt auf, dass die Menschenfrage im Zentrum des Interesses des Spätidealismus steht. Die philosophischen Bemühungen des Spätidealismus beginnen mit einer anthropozentrischen epistemologischen Positionierung und enden mit einer auf der Erfahrung beruhenden Metaphysik des Menschen im Verhältnis zur Welt und zu Gott. Außer Fichte seien folgende Denker als Kandidaten für den Spätidealismus 64 vorzuschlagen: Ignaz Paul Vital Troxler (1780–1866) 65, Heinrich Moritz Chalybäus (1796–1862) 66, Christian Hermann Weiße (1801–1866) 67, Friedrich Adolf Trendelenburg (1802–1872) 68, Karl Fortlage (1806–1881) 69, Hermann Ulrici (1806–1884) 70, Rudolph

Viele der spätidealistischen Philosophen waren nicht nur miteinander befreundet, sondern sie kannten und besprachen auch ihre jeweiligen Werke in verschiedenen Publikationen und Zeitschriften. Vgl. beispielsweise einige Veröffentlichungen und Buchbesprechungen zu Fichte von Carrière (1849a, 1849b, 1866, 1869, 1876, 1879a, 1879b, 1879c, 1879d), Fortlage (1856, 1865), Huber (1861a, 1861b, 1865b, 1865c), Lotze (1857) und Weiße (1842). Außer den erhaltenen Briefen im Nachlass von Hermann Ehret in der Rudolf Steiner Bibliothek in Stuttgart und im Nachlass von Immanuel Hermann Fichte in der Württembergische Landesbibliothek Stuttgart machen diese Texte mit intertextuellen Bezügen ein geeignetes Material für eine Konstellationsforschung zum Spätidealismus aus. An dieser Stelle soll jedenfalls auf eine Begrenzung vorliegender Arbeit hingewiesen werden. Vor dem Hintergrund des methodischen Anliegens dieser Untersuchung, eine systematische und immanente Rekonstruktion der philosophischen Anthropologie Fichtes durchzuführen, sowie des schon angedeuteten prekären Zustandes der Forschung zum Spätidealismus konnten nicht alle intertextuellen Verhältnisse zwischen den spätidealistischen Philosophen in einem historisch-kritischen Apparat herausgearbeitet werden. Eine solche Aufgabe hätte nicht nur eine umfassende und tiefe Vertrautheit mit dem Gesamtwerk aller immer noch weitgehend unbekannten und wenig geforschten spätidealistischen Philosophen erfordert, sondern sie hätte auch viel Zeit in Anspruch genommen, die im Rahmen einer thematisch, methodisch und zeitlich eng begrenzter Dissertation nicht verfügbar war. Freilich bietet diese Arbeit an bestimmten Stellen einen Blick auf den Kontext und auf wichtige Verhältnisse, aber es bleiben immer noch aufzudeckende und zu untersuchende Verhältnisse bestehen. Ihre Herausarbeitung und Erschließung wären sicher ein sehr wichtiger Beitrag zur Spätidealismus-Forschung. 65 Vgl. Troxler (1807a, 1807b, 1812, 1828, 1829a, 1829b, 1830a, 1830b, 1842). 66 Vgl. Chalybäus (1840, 1842, 1846, 1850a, 1850b, 1853, 1860, 1861). 67 Vgl. Weiße (1829, 1833b, 1834, 1835, 1842). 68 Vgl. Trendelenburg (1843, 1846, 1855, 1867, 1868, 1869, 1870a, 1870b). 69 Vgl. Fortlage (1840, 1852, 1855a, 1855b, 1872, 1874, 1875). 70 Vgl. Ulrici (1841, 1845, 1846, 1873, 1874a, 1874b, 1875). 64

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Immanuel Hermann Fichte als spätidealistischer Philosoph

Hermann Lotze (1817–1881) 71, Moriz Philipp Carrière (1817– 1895) 72, Jakob Frohschammer (1821–1893) 73, Johannes Nepomuk Huber (1830–1879) 74 und Gideon Spicker (1840–1912) 75.

2.3 Immanuel Hermann Fichte als spätidealistischer Philosoph Vom defizitären Zustand des historischen Bildes der nachidealistischen Philosophie ausgehend, wurde es in den vorhergehenden Ausführungen versucht, dieses Bild durch die Betrachtung von vergessenen Kontroversen und Strömungen neu zu gestalten. Auf diese Weise wurde ein Bild der intellektuellen Situation der mittleren Periode des 19. Jahrhunderts gewonnen, das es erlaubte, Fichtes philosophisches Anliegen im Kontext zu verstehen. Fichtes einzelne Stellungnahmen zu den philosophischen Kontroversen dieser Zeit fanden ihren Ursprung im inneren Streben danach, den gleichberechtigten Anforderungen des Bewusstseins der Zeit gerecht zu werden. Das philosophische Streben nach einer Synthese von epistemologischen, metaphysischen, wissenschaftlichen und religiösen Anforderungen erwies sich als Wesenskern einer bestimmten Geistesströmung, welche als Spätidealismus bezeichnet wurde. In diesem Sinne ergab sich, dass das Denken Immanuel Hermann Fichtes innerhalb einer spätidealistischen Konstellation zu situieren und hierbei er als ein exemplarischer spätidealistischer Philosoph zu betrachten ist. Bis zu diesem Punkt wurde Fichtes Denken jedoch lediglich aus verschiedenen Perspektiven und durch die Linse bestimmter Kontroversen betrachtet, sodass folglich sein Denken in der ungenügenden Form von vereinzelten Ansichten dargelegt wurde, ohne wirklich seinen Kern durchdrungen zu haben. Diese spiralförmige Annäherung an Fichtes Denken erlaubte es zwar, einige seiner Leitmotive zu erkennen und jenen einheitsverleihenden Kern zu ahnen, jedoch ist diese Vorstellung noch nicht deutlich und differenziert genug. Aus diesem Grund ist es nun erforderlich, den Fokus auf das Zentrum seines Denkens zu richten und hierbei der Hauptfrage vorliegender Ar-

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Vgl. Lotze (1851, 1852, 1856, 1857, 1858, 1864, 1874, 1879). Vgl. Carrière (1859a, 1859b, 1886, 1891). Vgl. Frohschammer (1855, 1858, 1868, 1877, 1879, 1883). Vgl. Huber (1853, 1858, 1865a, 1871, 1875a, 1875b, 1877). Vgl. Spicker (1892, 1998, 2006, 2007, 2012) und Schwaetzer (2004).

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beit nachzugehen. Wie es in der Darstellung der Sekundärliteratur antizipiert wurde, argumentiert diese Arbeit dafür, dass ein systematisches Verständnis des philosophischen Werkes Fichtes von einer Betrachtung seiner Ansicht über die Menschenfrage anfangen sollte. In diesem Sinne gilt es nun, seine anthropologischen Schriften in Betracht zu ziehen.

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3 Immanuel Hermann Fichtes wissenschaftstheoretische Grundlegung der philosophischen Anthropologie

3.1 Die Menschenfrage als systematischer Mittelpunkt der Philosophie Immanuel Hermann Fichtes 3.1.1 Retrospektive Würdigung der eigenen philosophischen Leistung Die Annahme, dass Fichtes philosophische Anthropologie den systematischen Mittelpunkt seines Denkens ausmacht, geht aus Fichtes eigenen Äußerungen über sein philosophisches Projekt hervor. Obwohl er sich von dem systematisch-enzyklopädischen Programm des absoluten Idealismus distanziert, indem er feststellt, dass die Totalität seines Werkes weder ein System 76 noch eine Enzyklopädie zu sein vorgebe, weist er jedoch darauf hin, dass seinem Werk eine bestimmte Idee zugrunde liege, die ihm Einheit und Struktur verleiht (Fichte, 1869e, S. XIV). Als Spätidealist steht nämlich die Frage nach dem Menschen und nach dessen Stellung in Bezug auf die Welt und auf Gott im Zentrum seines philosophischen Interesses. Seine Hauptwerke »bieten eine sicher begründete und allseitig durchgeführte Grundansicht vom Wesen des Menschen, nach seiner allgemeinen Weltstellung wie nach seinem Verhältniss zum absoluten Wesen« (Fichte, 1869e, S. XIV–XV). Diese sei »die eigentliche und einzig mögliche Aufgabe der Philosophie« (Fichte, 1869e, S. XV). In diesem Sinne darf man als heuristisches Prinzip annehmen, dass seine philosophische In einem unveröffentlichten Brief an Charlotte von Kalb vom 19. November 1831 deutet Fichte selbstironisch auf die Lächerlichkeit und die Pedanterie des Ausdrucks: »Ich habe mit inniger Seelenlust mich wieder spekulativen Arbeiten zugewendet. Die Darstellung meines Systems (lachen Sie nur über den pedantisch großhansigen Ausdruck; aber solange eben die Grundvorstellung von der Philosophie im Ganzen nicht berichtigt ist, wird man immer noch lächerlicher Weise von einzelnen Systemen reden und reden hören), also dieses Systems Darstellung beschäftigt mich mit aller, leider nur durch Amtsgeschäfte sehr unterbrochener Geistesneigung« (Ehret, o. J.-d, S. 64).

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Behandlung der Frage nach dem Wesen des Menschen das Fundament seiner Philosophie ausmacht. In der Tat behauptet Fichte (1869b), dass er sich insgesamt als »Naturforscher« des Menschen verstanden und beurteilt wissen wolle, nämlich in dem Sinne, dass sein Hauptanliegen es war, »die Natur des menschlichen Geistes, die Tiefe zugleich und die Fülle des darin gegebenen Inhalts zu erforschen, bis in seine innern Gründe und Bedingungen vorzudringen« (S. 22). Die Ergebnisse dieser Bemühungen bilden für Fichte das bleibende Fundament seiner philosophischen Leistung, aus welchem sich seine Untersuchungen in die Richtung einer Metaphysik und einer Theologie sowie einer Naturphilosophie entfalten. Fichte (1869b) formuliert diesen Zusammenhang folgendermaßen: Aber erlaubt ist es, wenigstens darauf hinzuweisen, dass ich das Bleibende meiner wissenschaftlichen Leistung – sei dies nun wenig oder viel – eben in jenen anthropologisch-psychologischen Ergebnissen finden muss, von welchen, wie von einem gemeinsam orientirenden Mittelpunkte aus, ich meine Untersuchungen nach Oben hin – zum Versuche einer »Metaphysik« und »speculativen Theologie«, wie nach Unten oder zur Seite, zu den Anfängen einer Naturphilosophie erstreckt habe. Dies Ganze ist nur von jenem Mittelpunkte aus zu beurtheilen oder erklärlich zu finden (S. 31).

3.1.2 Die neuplatonische Präexistenzlehre im Kontext von Immanuel Hermann Fichtes Dissertation über den Ursprung des Neuplatonismus Diese freilich retrospektiven Äußerungen lassen sich bestätigen, indem man Fichtes anthropologisches Interesse durch seine Werke verfolgt. Zwar erscheinen seine Hauptwerke zur Menschenfrage, nämlich die Anthropologie (1856) und die Psychologie (1864), ziemlich spät in seinem Leben 77, jedoch geht er bereits in seiner 1818 veröffentlichten Dissertation über den Ursprung des Neuplatonismus 78 – eine freilich philologische Arbeit – unter anderem die neuplatonische Lehre der Präexistenz und der Verleiblichung der Seele an. Im Kontext dieser philologischen Untersuchung hebt Fichte beispielsVgl. Tabelle 1 im Anhang. Die unveröffentlichte Übersetzung der Dissertation Fichtes vom Lateinischen ins Deutsche gehört Alfons Scholz und Judith Ritterbusch. Die von Hermann Ehret maschinell transkribierte und ebenso unveröffentlichte Version dieser Übersetzung liegt im Nachlass von Hermann Ehret an der Rudolf Steiner Bibliothek in Stuttgart.

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weise Plotins Bedeutung für die Seelen- und Unsterblichkeitslehre 79 hervor und bietet eine zusammengefasste Darlegung der neuplatonischen Lehre. Fichte war demnach die neuplatonische Lehre der Präexistenz und der Verleiblichung der Seele sowie deren geschichtlichen Entwicklung schon früh bekannt, wie folgende – ausführlich zitierte – Worte belegen, wobei es an dieser Stelle lediglich darum geht, festzustellen, dass schon der zweiundzwanzigjährige Promovierende ein philologisch-philosophisches Interesse für anthropologische Fragen zeigt: Die anscheinend uralte Lehre von der Präexistenz der Seele und von ihrem Abstieg aus oberen Regionen in die Leiber wurde schon von früheren Philosophen [Pythagoras, Zeno, Kleanthes, Cicero] und Dichtern [Euripides, Marcus Pacuvius] häufig erwähnt, und auch von besagter Schule, nach dem Vorgange Platons, übernommen. Jene Philosophen erweiterten sie durch viele neue Thesen und Meinungen und erfanden eine lange Geschichte vom unterschiedlichen Zustande der Seelen vor ihrem Abstieg in den Leib. Die Menschenseele, aus der Ideenwelt (νοητῷ) stammend oder vielmehr ein Teil Gottes selbst (s. Plotin »Vom Wesen der Seele« Enn. IV, I, S. 360) wird dem göttlichen Vater, in welchem sie wie ein Keim ruhte, untreu, angelockt vom trügerischen Glanze der Materie, den sie heiß begehrt, wie auch aus anderen Gründen (vgl. Plotin »Vom Abstieg der Seele in den Leib«). Über mannigfache Zwischenstadien gerät sie in diese Körperwelt; sie zieht den dichten und dunklen Leib wie ein Kleid an, und nun bindet sie die Fessel der Materie und hindert sie an der Rückkehr in die Äthergefilde (vgl. dazu nur eine Stelle aus vielen: Plotin IV, III Kap. 15). – Daher kommen die mannigfachen platonischen Namen für den Leib, die immer auf ihre Lehre Bezug haben (das Leder-, Fleisch-, Erdgewand etc. und dergleichen mehr; bei Synesius, De insomn. S. 137 ff.). Deshalb erdachten sie eine ganze Hierarchie der Körperwelt. Während die Seele bei ihrem Abstieg aus der Höhe in unsere Sphäre die mannigfachen Bezirke durchstreift, nimmt sie jeweils die der Art des Bezirkes entsprechenden Leiber an; »Die Gotteslehre verdankt ihm [Plotin] viel, nicht weniger die rationelle Psychologie, da er bei der Frage ›ob die Seele körperlich sei oder nicht‹ als erster jene gewichtigen Argumente aufstellte, mit welchen die Geistnatur der Seele bis heute verteidigt wird. Ob man ihn gleich nicht selten auch um diese Ehre bringt, hat er sich ebenfalls um den Beweis der Unsterblichkeit der Seele scharfsinnig bemüht« (Fichte, 1818b, S. 3). Die originell auf Lateinisch geschriebene Stelle sei hier zum Vergleich angeführt: »Multa ei debet doctrina de Deo, haud minora psychologia rationalis, cum in quaestione, utrum corporea sit anima, annon, ille primus auctor sit gravissimorum argumentorum, quibus natura animæ incorporea adhuc defenditur; quamquam et hac palma haud raro ille defraudatur: neque minus acute in probanda animae immortalitate versatus est« (Fichte, 1818a, S. 8).

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ὡς γὰρ, in den Worten von Porphyrius selbst (in sententt. ad intell. duc. § 32 S. 283): »… (Zitat nebenstehend)«. Daher reden sie häufig von »geistigen, luftigen, lichtförmigen, ätherischen Leibern« (Fichte, 1818b, S. 8). 80

Von diesen »frühern halbphilologischen Studien Plotin’s und des Neuplatonismus nach seinem Ursprunge und spätern Verlaufe« sagt Fichte später, dass sie ihn »mit der Theosophie in Verbindung« gebracht hätten und weist außerdem auf die Wichtigkeit der Beschäftigung seiner Mutter, Johanna Fichte, mit der christlichen Mystik für seine eigene intellektuelle Entwicklung hin (Fichte, 1859, S. 186–187, § 103). 81 Was insbesondere die neuplatonische Lehre der Präexistenz Die originell auf Lateinisch geschriebene Stelle sei hier zum Vergleich angeführt: »Doctrina illa, ut videtur, perantiqua de praeexistentia animae, deque eius descensu ex regionibus superioribus in corpora, iam a prioribns et philosophis et poetis celebrata ab hac quoque secta, Platone praeeunte, recepta, innumerisque novis aucta est placitis et opinionibus, ita ut longam fabulam de vario animorum statu ante descensum in corpora sibi fingerent illi philosophi. Anima humana, ex mundo intelligibili (νοητῷ) oriunda, vel potius summi ipsius Dei pars (lege Plotinum in libro: de essentia animae, Enn. IV. I. p. 360. 61.) falso materiae splendore allecta et eius libidine elata aliisque de causis (quas vide apud Plotinum: de descensu animae in corp.) a summo patre, in quo, veluti germen, quieverat, nunc desciscit et, per varios gradus in corporeum hunc mundum delapsa, denso et opaco corpore, quasi vestimento, induta, materiae iam compedibns alligatur, et a regressu in aetherias regiones arcetur. – Confer, ut unum ex multis laudem, Plotinum IV. L. III. c. 15. p. 383. – Hinc varia nomina corpori a Platonicis tributa semperque ad illud dogma spectantia, (χίτων δερμάτινος, παχύς γεῶδες, ὀστρεῶδες περιβλῆμα, γἠἲνον κέλυφος et similia; apud Synesium de Insomn. p. 137. 140. passim). Hinc multos corporum ordines et genera sibi fingebant: varias enim dum peragrat anima regiones, ex superiore loco in nostrum mundum descendens, in singulis corpora naturae regionis illius similia accipit; ὡς γὰρ, ut Porphyrii utar verbis (in sententt. ad intell. duc. §. 32. p. 283.) ἂν διατεθῇ ῆ ψυχὴ, εὑρίσκει σῶμα τάξει καὶ τοῖς οἰκείοις διωρισμένον. Hinc corpora πνευματικὰ, ἀέρια, αὐγοείδη, αἰθεριώδη, quorum crebra apud Platonicos mentio« (Fichte, 1818a, S. 29–31). 81 Man mag an diesem Punkt aus Fichtes ausdrücklichem Hinweis auf seine frühe Auseinandersetzung mit der Theosophie und der Mystik die Vermutung nahelegen, dass er Geheimlehren und Geheimbünden geneigt gewesen sei. Seine eigentliche Einstellung zu solchen Lehren und Bünden ist jedoch mit aller Deutlichkeit in einem unveröffentlichten Brief an Charlotte von Kalb vom 3. Mai 1823 ausgesprochen. Die Rede ist von Franz Joseph Molitor, Freimaurer und Kabbalist, und Johann Georg Göntgen, Privatsekretär des Chiliasten Bernhard Müller (»Count Leon« in Germantown, Louisiana) (vgl. Bernet (2006, S. 163–165) und United States Department of the Interior (1979)): »Mit Molitor und Göntgens Gesundheit war es noch immer beim Alten. Es kam mir ein verflogenes Gerücht zu Ohren, daß beide ihre kabbalistischen Forschungen und die Bearbeitung eines dahingehendes [sic] Werkes – aufgegeben haben. Ich hatte mit beiden zahlreiche Unterredungen über die Offenbarung der Bibel und die geheimen Traditionen in deren Besitz sie zu sein glauben: aber so sehr ich mich freute, in allen lebendigen Ideen ihre Beistimmung zu erhalten, so wenig, ge80

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und der Verleiblichung der Seele betrifft, so weist Fichte (1876a) darauf hin, dass sie in »noch dunkeln und paradoxen Andeutungen nach langer Vergessenheit zuerst wieder bei Schelling« (S. 118, § 54), näm-

stehe ich aufrichtig, befriedigte mich, was sie mir aus dem Heiligtum mitteilen mochten. Ebendeswegen habe ich auch den Plan fallen lassen, Logenmitglied zu werden. Das war der erste Punkt, worin sich unsere Ansichten deutlich schieden, daß sie die höchste Erkenntnis und den letzten Aufschluß über die Rätsel unseres Daseins als Mysterium, auch in äußerlicher Verborgenheit fortgepflanzt wissen wollten, während es mir die begeisterndste Aufgabe meines Strebens ist, es deutlich und anspruchslos Jedem hinzustellen, der es fassen mag, und den es ergreifen könnte. Die wahren Mysterien des Gemüts sind wahrlich nicht solche, die profaniert werden könnten; dem durch seine geistige Beschränktheit Uneingeweihten bleiben sie doch verborgen, man mag sie scheinbar noch so sehr an das Tageslicht bloßgestellt haben. Und so halte ich die Sucht nach Geheimlehren für ein entschiedenes, aber höchst charakteristisches Krankheitssymptom unserer Zeit, wo man eben klar und rücksichtslos das Erkannte verkündigen sollte. Nur moralische Schwäche oder Geistesbeschränktheit kann entschieden die Tendenz einer ganzen Generation, eines Jahrhunderts verdammen. Der Gläubige wie der Erkennende gibt sich ruhig der Gemeinschaft mit den andern Geistern hin, in ihrer Ergänzung erst seine eigene Bestimmung und seinen Wert als notwendiges Glied erkennend; auch so verläßt ihn nie die ungetrübte Harmonie des Lebens, die ebenso sehr Gottvertrauen als Menschenliebe ist« (Ehret, o. J.-d, S. 15). Falls nun aus Fichtes Bekanntschaft mit Johann Georg Göntgen eine vermeintliche Annahme der Lehren des Chiliasmus nahegelegt werden sollte, sei es hier erlaubt, noch eine interessante Briefstelle von Fichte an Charlotte von Kalb vom 2. Juli 1825 anzuführen, in welcher Fichtes Befremdung dem Verhältnis von Johann Georg Göntgen zu dem Chiliasten Bernhard Müller gegenüber zutage tritt: »Jetzt noch einiges von Göntgen, das Sie interessieren, aber auch betrüben wird. Er opfert jetzt seit 2 Jahren seine ganze Kraft einem einzigen rätselhaften Manne, namens Bernhard Müller, den er für den Vorläufer des wiederkommenden Christus oder für diesen selbst hält (denn über diesen Punkt ist er höchst zurückhaltend). Mit mir selbst hat er nie von jenem Mann gesprochen, sondern immer nur andeutend mitgeteilt, es werde ein Zeitpunkt kommen, wo er mir mehr sagen könne. Dieser Mann ist ihm vom Landgrafen Karl aus Holstein vor 2 Jahren zugewiesen worden, und seitdem ist er auf das Demütigste ihm dienstbar gewesen. Er hat in Offenbach seinen Sitz aufgeschlagen und ist wegen seines Benehmens schon zweimal in Untersuchung gewesen: das erste Mal gelang es Göntgen ihn zu befreien; jetzt ist er wiederum verhaftet und verhört worden, und zwar sind die Eltern seiner Braut die Ankläger geworden; jetzt sollen sich bei dem Verhöre handgreifliche Lügen herausgestellt haben. Ohne Zweifel ist es ein (schwärmerischer, aber verschmitzter) Betrüger; und wehe dem armen Göntgen, wenn er den fallen lassen muß, auf welchen er in Zeit und Ewigkeit gleichsam seinen Glauben gegründet hat. Aber ebendeswegen ist mir das Phänomen so äußerst merkwürdig und ich werde jede seiner Entwicklungen beobachten, weil hier das edelste, frommste, kraftvollste Gemüt aus den edelsten Gründen sich selbst zu verblenden scheint« (Ehret, o. J.-d, S. 26). Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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lich in seinen Aphorismen über Naturphilosophie, auftaucht. 82 Dabei gehe es um den Grundgedanken, dass die Seele als ein ewiges und beharrliches Wesen durch ihren Verleiblichungsakt Zeit und Raum zur Erscheinung bringe, was als eine uralte, wissenschaftlich zu begründende Lehre gelte (Fichte, 1876a, S. 118, § 54). Fichte zieht demnach einen ideengeschichtlichen Faden vom Platonismus über den Neuplatonismus und Schelling bis hin zu seiner eigenen Präexistenzlehre. 83, 84 Zu Fichtes Auseinandersetzung mit den Aphorismen über Naturphilosophie unter dem Aspekt bestimmter Ansichten Schellings zum Selbstbejahungsakt und zum Verhältnis von Leib und Seele vgl. das entsprechende Kapitel vorliegender Arbeit (4.1.3.2). 83 »Diese Lehre, welcher wir im Folgenden die streng wissenschaftliche Begründung zu geben hoffen, findet sich in jenen ersten, freilich noch dunkeln und paradoxen Andeutungen nach langer Vergessenheit zuerst wieder bei Schelling. Nach langer Vergessenheit, fügen wir hinzu; denn allerdings kann behauptet werden, dass schon in der Platonischen Philosophie Aehnliches gelehrt wurde: die Seele wird hier als das Prinzip bezeichnet, welches durch seine Losreissung von der ewigen Einheit dem Nichts zugewendet, die Scheinwelt eines Entstehens und Vergehens erzeugt und so sich in einen Sinnenleib hineinimaginirt, was von Plotin und seinen Nachfolgern sogar zu einer sehr ausgebildeten Seelenwanderungshypothese durchgeführt wurde, indem nach dem Tode sich jeder Seele das zu ihrem Leibe gestalten soll, was in ihrem Gemüthe als Grundneigung vorhanden war; freilich eine willkürliche Ausführung des ebenso wahren als tiefen Grundgedankens, dass die Verleiblichung ein Act der Seele, in keinem Sinne etwas von aussen ihr Angefügtes sei. Hat indess doch auch Schelling nicht verschmäht, die neuplatonische Lehre vom Abfalle der Seele und von ihrem Erzeugen der sinnlichen Scheinwelt in seinem Werke ›Philosophie und Religion‹ ausdrücklich zu adoptiren und in ähnlichem Sinne auszuführen« (Fichte, 1876a, S. 118, § 54). In Philosophie und Religion bezeichnet Schelling (1804) die Lehre des Abfalls als »die wahrhaft Platonische« (S. 35). Im Anschluss an diese Lehre weist Schelling (1804) darauf hin, dass der Grund und der Ursprung der endlichen und sinnlichen Welt nicht in einem »Hervorgehen« aus, sondern in einem »Abfall« vom Absoluten liegen (S. 35). »Nur durch den Abfall vom Urbild lässt Plato die Seele von ihrer ersten Seligkeit herabsinken, und in das zeitliche Universum gebohren werden, durch das sie von dem wahren losgerissen ist« (Schelling, 1804, S. 35). Bei diesem Abfall führe sich »das Gefallene unmittelbar … in das Nichts« ein (Schelling, 1804, S. 40) und diese gefallene Seele finde sich sodann »an den Leib, wie an einen Kerker, … gefesselt« (Schelling, 1804, S. 49). Nun verhalte sich die Seele zu ihrem Leib unmittelbar als »das Producirende desselben«, wobei sie, insofern sie abgefallen ist, in diesem Verhältnis als eine »bloss erscheinende[] Seele« zu verstehen sei, deren »wahre[s] An-sich oder Wesen« nämlich die »Idee« sei (Schelling, 1804, S. 68). 84 Das Verhältnis des Idealismus zum Platonismus und Neuplatonismus ist gut geforscht. Dazu vgl. beispielsweise Mojsisch und Summerell (2003), Beierwaltes (2004) und Halfwassen (2018). Was das Verhältnis von Schelling zum Neuplatonismus betrifft, so hat die Forschung sowohl Affinitäten als auch Einflüsse festgestellt. Eins 82

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3.1.3 »Gemütserschütterung« und »Begeisterung für das Edle und Tiefe«: Die geistig-existentielle Bestimmung der Philosophie An diesem Punkt lässt sich feststellen, dass Fichtes frühere Beschäftigung mit dem Neuplatonismus ein Motiv zeigt, das sich später durch sein ganzes Werk als dessen Mittelpunkt hindurchziehen wird, nämlich die Frage nach dem Wesen des Menschen und seinem Verhältnis zum Geist und zur Natur. Gerade die »Forschung des Menschen über sich selbst bzw. über die eigene Seele« stehe im Zentrum des »philosophische[n] Programm[s] des Neuplatonismus«, insofern sie »sowohl der Ausgangs- als auch der Zielpunkt des Philosophierens« sei, »das getragen wird von der Überzeugung, dass das Nachdenken nicht nur ein Weg zur theoretischen Erkenntnis, sondern auch zur Vervollkommnung als Mensch ist« (Perkams, 2008, S. 1). Dieses Grundanliegen ist an der Philosophie Fichtes deutlich spürbar. Zwar scheint es zunächst ein philologisches Interesse gewesen zu sein, jedoch kurz nach seiner Promotion begann diese Frage allmählich an existentiellen Ernst und philosophische Bedeutung zu gewinnen. In seinen reifen Jahren war Fichte (1869b) der Überzeugung, dass »die Bedeutung dieser hohen [philosophischen] Fragen … erst dann empfunden werden« könne, »wenn der Ernst des Lebens selbst in tiefgreifenden Gemüthserschütterungen an uns herantritt« (S. 32). Eben eine solche Gemütserschütterung erlebte Fichte ein Jahr nach seiner Promotion 85, als seine Mutter, Johanna Fichte, am 24. Januar 1819 starb. Der Vater, Johann Gottlieb Fichte, war zwar schon fünf Jahre zuvor, am 29. Januar 1814, gestorben, jedoch hatte der Tod der Mutter für Immanuel Hermann eine besonders tiefgreifende Bedeutung, welche er seiner mütterlichen Freundin, Charlotte von Kalb, in einem unveröffentlichten Brief vom 7. Februar 1819 offenherzig und bildhaft beschreibt:

dieser systematischen Verhältnisse sei nämlich »the doctrine of the falling-away or the proceeding of the non-one from the One« (Leinkauf, 2019, S. 186). Mehr zum Verhältnis von Schelling zum Neuplatonismus vgl. Beierwaltes (2002), Asmuth (2008) und Leinkauf (2019). 85 In einem unveröffentlichten Brief vom 11. Januar 1818 berichtet Johanna Fichte ihrer Freundin, Charlotte von Kalb, dass Immanuel Hermann »nun Doktor der Philosophie« sei, »so daß er seiner künftigen Bestimmung sich nähert und Gott wird weiter helfen« (Ehret, o. J.-d, S. 4). Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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War es Ahnung, verehrteste Frau, oder nur freundschaftliche Besorgnis, die in Ihrem letzten Brief die Änglichkeit [sic] für die Gesundheit meiner teuren Mutter erregte: kurz das Schreckliche für uns ist eingetreten, die schlimmsten Ahnungen sind fürchterlich verwirklicht. Wild ergreift der schwere Zahn des Schmerzes mein Gemüt und hört noch nicht auf, es zu zerreißen. Sie kannten meine Mutter, kannten unser Verhältnis, Sie wissen daher welch ein Riß durch mein Leben geschah, welch ein Erdfall mein Glück verwüstete. O meine Verehrte, ich scheine den Leuten gefaßt; sie gratulieren mir oft wegen meiner Sammlung, und dann gerade am ehesten, wenn ich am stärksten ringe, mich aus dem Abgrund der Beklemmung emporzuarbeiten. Doch fürchten Sie nicht, daß dumpfe Verzweiflung mich ganz einhülle, daß ich ganz im Schmerz versinke: ich weiß, daß auch diese größte Prüfung mir bildend sei und belehrend – ja ich fühle und erfahre es jetzt schon an meiner neu emporflammenden Begeisterung für das Edle und Tiefe, an der Aufregung aller Ideen, die vor kurzem noch ungewiß und halbgeboren in mir schlummerten. Ich habe die letzten Wochen gefühlt und erfahren, was kaum Jahre mich hätten lehren können; und gerade diese Zeit wird gewiß noch fruchtbringend für meine spätesten Jahre hier auf Erden! (Ehret, o. J.-d, S. 10).

Mit zweiundzwanzig Jahren hatte Fichte demnach schon beide Eltern verloren. 86 Aus dieser Briefstelle geht hervor, dass Fichte mitten im zerrissenen Schmerz zugleich eine Begeisterung erlebte, die ihm eine bestimmte Richtung für sein zukünftiges Leben geschenkt zu haben scheint. Dies mag mit der Bedeutung seiner Mutter in seiner Erziehung zu tun haben. Retrospektiv erinnert sich Fichte (1869b) außer der schon erwähnten Beschäftigung der Mutter mit der christlichen Mystik vor allem daran, dass die »geistige Pflege« (S. 32), die er von Immanuel Hermann Fichte wird sich später in seinem Leben noch mit dem Tod konfrontieren: 1840 stirbt der sechszehnjährige Sohn, Johann Hermann; 1857 wird sein dreißigjähriger Sohn, Ernst Max, in den Vereinigten Staaten ermordet; und 1862 stirbt seine Frau, Wilhelmine (vgl. Tabelle 1 im Anhang). Zu dem Mord von Max Ernst erzählt Immanuel Hermann seiner Freundin, Maria Schneeburg, in einem unveröffentlichten Brief vom 18. August 1857: »Unser geliebter jüngerer Sohn, den wir aus Amerika zurückerwarteten und dessen Ihr letzter Brief so freundlich erwähnt, ist nicht in unsere Arme gelangt: Raubmörder haben ihn in New-York, kurz bevor er das schon gemietete Schiff besteigen wollte, beraubt und umgebracht; wie, wo und in welchem zusammenhange [sic], ist uns gänzlich unbekannt. Nur an seinem Tode ist nicht zu zweifeln und man schreibt uns aus jener Mordstadt, daß allein im Monat Februar (der Zeit, in der mein armer Sohn umkam) 10 Fremde dort wie spurlos verschwunden sind. Statt seiner kamen sein Koffer und Effekten an, mit Geschenken und liebvollen Überraschungen, die er uns zugedacht, und die wir nicht mehr aus seiner teuren Hand empfangen sollten!« (Ehret, o. J.-e, S. 40).

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ihr empfang, tiefgreifende und weitreichende Konsequenzen für die Richtung seines Denkens gehabt hätte. Er weist darauf hin, dass ihm »[i]m Vater die unbezwingliche Kraft theoretischer Ueberzeugung, in der Mutter die Macht und Wirkung eines religiösen Lebens als gegenwärtige Thatsache vor Augen« getreten sei (Fichte, 1869b, S. 35). In diesem Sinne sei das »unauslöschliche Bedürfniss« in ihn gelegt worden, eine Harmonie zwischen dem Religiösen und dem Begrifflichen zu erreichen bzw. »jenes ethisch Religiöse auch durch den Begriff mir zum Verständniss gebracht, gerechtfertigt zu sehen« (Fichte, 1869b, S. 32). Auf diese Weise wird die Tendenz in seiner Philosophie zutage treten, »Denken, Gemüt und Spekulation vollkommen zu versöhnen« (Ehret, o. J.-d, S. 18), wie er am 20. März 1824 an Charlotte von Kalb schreibt. Noch deutlicher drückt er diese Grundrichtung seines Denkens zwei Monate später aus, als er am 19. Mai 1824 wieder an Charlotte von Kalb über dasjenige schreibt, was ihm »in Forschung wie im Leben letztes, gemeinsames Ziel ist« (Ehret, o. J.-d, S. 21). In diesem unveröffentlichten Brief schreibt Fichte, dass er »eigentlich nicht sagen« könne, »daß es mir um Erkenntnis dieser oder jener Seite der Dinge oder des Lebens zu tun sei, sondern wirklich nur, mich selbst und alle Dinge in dieser göttlichen Einheit des Daseins zu schauen« (Ehret, o. J.-d, S. 21). Leben und Wissenschaft haben für Fichte demnach das gemeinsame Ziel, durch Selbsterkenntnis sich der Gegenwart des Göttlichen im Menschen und in der Welt bewusst zu werden und hierbei die Einheit von Menschen, Welt und Gott wiederherzustellen. Hier zeigt sich jene »emporflammende[] Begeisterung für das Edle und Tiefe« (Ehret, o. J.-d, S. 10), welche er in den Wochen nach dem Tod seiner Mutter so stark erfuhr und welche sich konstant im Leben und Werk behaupten wird.

3.1.4 Die »Mysterien« der Seele und die »Psychologische Briefe« In den nächsten Jahren, in denen er in Saarbrücken und Düsseldorf als Gymnasiallehrer 87 tätig war und es mehrmals erfolglos versuchte, sich eine akademische Karriere zu eröffnen 88, konkretisierte sich sein Aufgrund der Karlsbader Beschlüsse im Jahr 1819 wurde Fichte der Rat gegeben, sich um eine Stelle an einem Gymnasium zu bewerben, und hierdurch 1822 aus der Universität Berlin verbannt (vgl. Ehret (1986)). 88 In diesem Zusammenhang schreibt Fichte beispielsweise am 13. November 1829 an 87

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anthropologisches Interesse weiter, indem die Seelenfrage wieder in den Vordergrund trat. Der erste Beleg dafür ist ein unveröffentlichter Brief vom 25. März 1830 an Charlotte von Kalb, in welchem er ihr erzählt, wie er Klarheit über die Fragen nach der Seele und der Verleiblichung gewinnt: Der Mensch ergrübelt sich nicht, macht sich nicht die Wahrheit, sondern sie entfaltet sich still in ihm, und eine äußere Gelegenheit, ein Buch oder ein Wort, hebt sie aus diesem stillsten Innern uns selbst plötzlich ans Licht. So sind mir auch in der letzten Zeit, während ich gar nicht philosophierte, sondern an der Biographie 89 schrieb, durch seltsame Veranlassung 90 merkwürdige Aufschlüsse über die Seele und ihre Korporisation geworden, die meine philosophische Ansicht erst abrunden, und durch die ich auch über die Tiefen der Geisterwelt ein eindringendes Licht erhalten zu haben glaube. Da sich nun die Veröffentlichung solcher Mysterien an dem, der es auch wohlmeinend versucht, in der Regel fürchterlich rächt bei der eigennützigen Frivolität der herrschenden Meinungen, so werde ich mich hüten, öffentlich anders als mit der größten Behutsamkeit darüber zu reden (Ehret, o. J.-d, S. 46).

Aus dieser Stelle geht hervor, einerseits dass die Seelenfrage bei Fichte definitiv an existentielles Gewicht gewann, andererseits dass bereits Anfang 1830 er der Überzeugung ist, dass jene Frage im Zentrum einer philosophischen Untersuchung stehen soll, jedoch darin nur mit wissenschaftlicher Behutsamkeit bzw. Besonnenheit behandelt werden solle. Auf diese Weise beginnt die Seelenfrage, eine zentrale Stellung in seiner Philosophie einzunehmen, bis er fast zwei Jahre später in einem Brief vom 29. November 1831 an Charlotte Charlotte von Kalb: »Jetzt erwarte ich eigentlich auch von Preußen wenig oder nichts, wenn ich meine kalte Überlegung frage; denn alle Stellen der Philosophie auf den Universitäten sind fast dreifach besetzt mit jungen Hegelianern und täglich sind die Ansprüche von neuen Kandidaten zu befriedigen. Schreiben sie auch unbrauchbares Zeug, so sind sie doch protegiert und empfohlen, und mich kann man immer mit der Weisung beschwichtigen, daß kein Platz für mich offen sei. Erregt dies nun meinen Ingrimm, so suche demungeachtet meine Pflicht zu tun, um es selbst durch Klugheit und besonnenes Handeln an nichts fehlen zu lassen; nur dadurch kann ich übrigens ruhig sein und mein weiteres Schicksal einer höheren Leitung überlassen« (Ehret, o. J.-d, S. 44). 89 Gemeint ist die Biographie Johann Gottlieb Fichtes. 90 Hermann Ehret legt in seinem Manuskript nahe, dass es sich dabei um Justinus Kerners Die Seherin von Prevorst geht, denn in einem Postskriptum zu einem Brief vom 13. November 1829 macht Fichte Charlotte von Kalb auf jenes Buch aufmerksam (vgl. Ehret (o. J.-d, S. 45–47)).

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von Kalb bündig behauptet, dass »[d]as tiefste Gehiemnis [sic] der Philosophie und die letzte Lösung« es sei, »den Tod zu verstehen, d. h. die Bedeutund [sic] der Korporisation der Seele« (Ehret, o. J.-d, S. 63). Eben durch die Lösung dieses Geheimnisses würde die Philosophie die Aufgabe erfüllen, welche Fichte schon als die Grundrichtung seines Denkens identifiziert hatte, nämlich, »die Harmonie geistigen Daseins« (Fichte, 1869b, S. 33). Das erste öffentliche Ergebnis seiner damaligen Beschäftigung mit solchen »Mysterien« über die Seele ist in seinen 1832 in der Zeitschrift Morgenblatt für gebildete Stände veröffentlichten »Psychologische[n] Briefe[n]« dargestellt. 91 Ohne in die Einzelheiten einzugehen, kann man feststellen, dass Fichte in diesen fünf Briefen zentrale Thesen seiner erst später entwickelten anthropologischen und psychologischen Ansicht konturiert, nämlich (1) die Anwendung der genetischen Methode in der Psychologie 92; (2) Raum und Zeit als Urformen des Realen, mithin die Seele als raumsetzendes und -erfüllendes sowie zeitsetzendes und -erfüllendes Wesen 93; (3) die Individualität des menschlichen Geistes 94; (4) die Verleiblichung der Seele Vgl. die im Morgenblatt für gebildete Stände getrennt veröffentlichten Briefe (Fichte, 1832b, 1832c, 1832d, 1832e, 1832f, 1832g) sowie deren Sammlung als Anhang zu der zweiten Auflage der Schrift Die Idee der Persönlichkeit und der individuellen Fortdauer (Fichte, 1855a). 92 »Im Vorliegenden gibt der Verfasser Bruchstücke einer nächstens erscheinenden Schrift über Psychologie, worin er den Versuch gemacht hat, die evolvirende Methode, welche sich in der Naturbetrachtung als besonders fruchtbar bewährt, auch dieser Wissenschaft zu vindiciren« (Fichte, 1832b, S. 33, Fn.). 93 »Noch müssen wir vorübergehend eines andern Vorurtheils gedenken, das in Philosophie und psychologische Fragen gleichfalls nicht wenig Verwirrung gebracht hat. Es ist die falsche Voraussetzung, dass das Unsichtbare (Immaterielle), dass also auch Seele und Geist unräumlich sei, d. h. dass es nicht in den Formen der Ausdehnung wirke. Raum jedoch und Dauer – die von den dauernden Existenzen abgelöste Vorstellung der letztern nennen wir Zeit – sind vielmehr die Urformen schlechthin jedes Realen, deren Wirkung unmittelbar nur als eine sich expandirende (raumschaffende wie füllende) und bestehende, fortfliessende, (zeitschaffende und füllende – was in beiderlei Hinsicht wahrhaft dasselbe –) gedacht werden kann. Alles Wirkliche ist schlechthin ein räumlich-zeitliches, indem es ein in sich Wirksames ist« (Fichte, 1832g, S. 63, 1855a, S. 213–214). 94 »Nach solcher Einsicht nämlich ist die Wurzel der unendlichen Wesen vielmehr selbst ihre Individualität aus Gott. Und wie nach dieser Lehre Gott nur ein geistig selbstbewusstes Princip sein kann, – nicht mehr ein abstracter Weltgeist, der sich etwa durch die individuellen Iche zu eigenem Bewusstsein nur hindurchprocessirt – so ist auch der Mensch eine unvergängliche Persönlichkeit, weil gerade in dem, wodurch er Eigenes, nur sich selbst Gleichendes ist, das Siegel des Göttlichen ihm aufgedrückt 91

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aus ihrem präexistenten Zustand 95; und (5) die individuelle Fortdauer der menschlichen Seele 96.

3.1.5 Eine Entwicklungsgeschichte der Seele als Projekt für das Hauptwerk Nach der Konturierung dieser Hauptthesen, welche – wie sich zeigen wird – durch sein ganzes Werk hindurch konstant und konsequent bleiben, bildet sich bei Fichte die Vorstellung desjenigen, was sein Hauptwerk sein soll. In einem unveröffentlichten Brief vom 26. Dezember 1832 an Charlotte von Kalb stellt Fichte deutlich dar, was der Argumentationsgang seines Hauptwerkes sein soll: Mein eigentliches Hauptwerk soll nämlich, wie ich Ihnen schon früher geschrieben, eine Entwicklungsgeschichte der Seele 97 werden, in der gezeigt worden. Sein Selbst ist unvertilgbare Wurzel und Quelle seines Daseins« (Fichte, 1832f, S. 60, 1855a, S. 212–213). 95 »Die Seele ist unabtrennlich von ihrer körperlichen Erscheinung, weil sie nur darin ihre Wirklichkeit hat. Sie wächst, entwickelt sich aus sich selbst; aber diese Seelenentfaltung ist unmittelbar ein Heraustreten in die Sichtbarkeit. Sie zieht die niedern Kräfte der Natur (den ›Stoff‹) an sich, um sich mit demselben zu umkleiden: aber sie hat daran zugleich den nothwendigen Träger ihrer eigenen Wirklichkeit, und diese plastische, den Körper sich erbauende Kraft der Seele, von der auch neuerdings hier und da wieder die Rede gegangen, kann doch nur gefasst werden als die sich selbst erbauende und verwirklichende« (Fichte, 1832g, S. 63, 1855a, S. 215). 96 »Eben so möchte sich ergeben, dass aus dieser Grundansicht auch über die dunkeln und zweifelhaften Partieen unseres Seelenlebens, über alles Ahnungsvolle und Vorbedeutende ihrer gegenwärtigen Existenz, selbst über Tod und individuelle Fortdauer ein neues Licht sich verbreitet« (Fichte, 1832d, S. 42, 1855a, S. 205). 97 Auffallend ist an dieser Stelle, dass Fichte schon 1832 das Projekt einer »Entwicklungsgeschichte der Seele« im Sinn hatte, d. h. vierzehn Jahre früher als Carl Gustav Carus 1846 sein Werk Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele veröffentlicht, welches man auf den ersten Blick als die Quelle seines psychologischen Projektes ansehen könnte. Angesichts der Hauptthesen der »Psychologische[n] Briefe« sowie des Jahres und der Terminologie der angeführten Briefstelle liegt es nahe, dass Fichte weniger auf Carus’ Psyche als vielmehr vielleicht auf dessen Vorlesungen über Psychologie anspielt. Abgesehen von der zeitlichen Nähe und der terminologischen Übereinstimmung fehlen jedoch konkrete Belege, dass Fichte sein Projekt aus den Vorlesungen über Psychologie konzipiert und entwickelt habe. In diesem Zusammenhang ist auch auf Schuberts Geschichte der Seele vom Jahr 1830 hinzuweisen. Dazu vgl. Schubert (1830a, 1830b) und Carus (1831, 1846). Der Akzent auf die Begriffe der Entwicklung und der Geschichte im Kontext der Philosophie des Geistes ist ein Charakteristikum der Zeit, das nicht zuletzt mit der Naturwissenschaft Goethes eng zu-

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wird, ungefähr wie ich solches in den »Psychologischen Briefen« angedeutet habe, wie die Seele sich mit einem Körper bekleidend, darin nur die Entwicklung ihrer inneren Kräfte, Anlagen und Energien vollzieht, in denen sich die ewige unvertigbare [sic] Persönlichkeit eines jeden Wesens darstellt und ausprägt. Die weiteren Folgerungen dieser Grundansicht werden Sie selbst leicht sich entwickeln können: erst dadurch wird der Tod besiegt, und ihm sein Stachel genommen (Ehret, o. J.-d, S. 69).

Das hier umrissene Projekt einer Psychologie als Entwicklungsgeschichte der Seele wird Fichte erst 1864 veröffentlichen. 98 Diese Worte unterstützen seine in der Vorrede jenes Werkes vorangestellten Anmerkungen über das innere Verhältnis und die chronologische Folge der Anthropologie (1856) und der Psychologie (1864): Die »Psychologie« ist ihrem Entwurfe und ihrer Abfassung nach älter als das anthropologische Werk, welches ursprünglich blos als »Einleitung« der erstern vorangestellt werden sollte. Aber die Wichtigkeit der anthropologisammenhängt. Nachdem sich die genetische Methode in den Naturwissenschaften als erfolgreich und ertragsfähig erwiesen hatte, wurde sie auch auf die Gegenstände der Philosophie des Geistes angewandt. Fichte bezeichnet Schellings sich in seinem System des transcendentalen Idealismus befindende »Geschichte des Selbstbewusstseins« als »den ersten, ausgeführtesten Versuch einer solchen genetischen Geschichte des Selbstbewußtseins« (Fichte, 1844a, S. 89). Schelling (1800) behauptet in jenem Werk, dass die Philosophie »eine Geschichte des Selbstbewusstseyns« sei, »die verschiedene Epochen hat, und durch welche jene Eine absolute Synthesis successiv zusammengesetzt wird« (S. 98–99). Nach Schelling wurde der Versuch unternommen, die genetische Methode auch auf den Gegenstand der Psychologie anzuwenden. Gerade in diesem Zusammenhang befindet sich Fichte, der schon 1832 »die evolvirende Methode« für die Psychologie vindiziert (Fichte, 1832b, S. 33, Fn.) sowie 1833 sich in seinem Das Erkennen als Selbsterkennen eine »›Kritik‹ des Erkennens, jedoch in der Methode der Entwicklung« (Fichte, 1833b, S. IX) vornimmt. Neben Fichte haben auch andere Autoren die genetische Methode in der Philosophie und der Psychologie angewandt, wie Fichte selbst in seinem Aufsatz »Der bisherige Zustand der Anthropologie und Psychologie. Eine kritische Uebersicht« zur Kenntnis nimmt. Insbesondere weist er auf folgende Werke hin: Carl Gustav Carus’ Vorlesungen über Psychologie (1831), Franz Vorländers Grundlinien einer organischen Wissenschaft der Seele (1841), Friedrich Adolf Trendelenburgs Logische Untersuchungen (1840) und Karl Weinholtz’ Die speculative Methode und die natürliche Entwicklungsweise (1843) (Fichte, 1844a, S. 87). Diese Konstellation bleibt immer noch ein Desiderat der Forschung. 98 Im Jahr 1833 veröffentlichte Fichte jedoch seine epistemologische Schrift Das Erkennen als Selbsterkennen, welche im Sinne einer genetischen Epistemologie eine Entwicklungsgesichte des erkennenden Bewusstseins bietet (vgl. Fichte (1833b)). Diese Schrift, der erste Teil seines dreibändigen Werkes Grundzüge zum Systeme der Philosophie, fokussiert sich demnach nur auf einen Aspekt der Seele, deren ganze Entwicklungsgeschichte eben die Psychologie darstellen wird. Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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schen Fragen errang sich ein selbständiges Interesse; der Stoff der Untersuchung erweiterte sich, und so trat die »Anthropologie« als eigenes Werk hervor, wiewol sie ausdrücklich darauf hinwies, nur als Einleitung für die »Psychologie« betrachtet werden zu wollen (Fichte, 1864a, S. V).

Die Hauptthese der Psychologie konzipierte Fichte demnach spätestens im Jahr 1832 und unterzog ihr sodann eines Reifungsprozesses unter der Vorstellung, dass er über solche »Mysterien« öffentlich nur mit der höchsten Besonnenheit – wie schon erwähnt – sprechen würde. 99 Während der Zeit zwischen der Konzipierung der Hauptidee und der Veröffentlichung der Psychologie verselbständigte sich eine Untersuchung über anthropologische Fragen, welche die Grundlage und die Einleitung zur Psychologie bieten sollte und welche er in der Anthropologie darstellt. Fichte hielt es demnach für wichtig, vor der Darstellung seiner Entwicklungsgeschichte der Seele zuerst einen organisch-metaphysischen Begriff der menschlichen Seele wissenschaftlich zu begründen, welcher eben die Voraussetzung seiner Psychologie – aber auch jeder künftigen philosophischen Psychologie – ausmacht.

3.1.6 Der »Ausbruch« innerster Einsichten im Kontext des Unsterblichkeitsstreits In dieser früheren Phase 100 entwickelte sich bei Fichte demnach seit seinen philologischen Untersuchungen über den Neuplatonismus – immer deutlicher zutage tretend – ein existentiell-philosophisches Interesse an der Seelenfrage, deren wissenschaftliche Behandlung eben zur angestrebten Versöhnung von »Philosophie, Religion und Erfahrung« (Ehret, o. J.-d, S. 69–70) beitragen sollte. Als Schluss dieser Phase kann man Fichtes Schrift Die Idee der Persönlichkeit und der individuellen Fortdauer betrachten, welche 1834 anlässlich des in der hegelschen Schule ausgelösten Unsterblichkeitsstreits 101 erschieEs gab auch noch andere Gründe für die Verzögerung der Veröffentlichung der Psychologie, nämlich – wie in deren Vorrede hingewiesen – die Arbeit an der Biographie Johann Gottlieb Fichtes, der Tod seiner Frau, Wilhelmine, und eine Krankheit (Fichte, 1864a, S. VI). 100 Parallel beschäftigte sich Fichte mit theologischen (1826) und philosophiegeschichtlichen (1829, 1832a) Fragen sowie mit den Anfängen seines Systems (1833b, 1836a). 101 Zum Überblick über den Unsterblichkeitsstreit vgl. Stähler (1928) und Leese 99

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nen ist. Die Veröffentlichung der Schriften Die Lehre von den leßten Dingen (1833) und Die neue Unsterblichkeitslehre (1833) von Friedrich Richter, in denen er die individuelle Fortdauer ablehnt, löste einen Streit über die Frage nach der Möglichkeit einer Begründung der individuellen Fortdauer aus hegelschen Prinzipien aus. Auf diese Schriften reagieren unmittelbar mit kritischen Rezensionen Fichte (1833a), Göschel (1834a, 1834b, 1834c, 1834d, 1834e, 1834f) und Weiße (1833a). Göschel versucht in seiner kritischen Besprechung, die Idee der individuellen Fortdauer aus hegelschen Prinzipien herzuleiten. Eben dieser Versuch macht den Anlass für Fichtes Veröffentlichung der Schrift Die Idee der Persönlichkeit und der individuellen Fortdauer aus, in welchem er trotzt der Übereinstimmung mit Göschel in der Idee der individuellen Fortdauer die von Göschel verwandte apriorische Methode kritisiert, denn – es wird noch Anlass für die Darstellung der methodologischen Ansichten Fichtes geben – es erweise sich als unzulänglich, durch Allgemeinbegriffe, Negativität, Dialektik und Deduktion irgendeinen Beweis für die Fortdauer der menschlichen Seele leisten zu wollen. Die Frage nach der Fortdauer umfasse die weiteren Fragen nach der Verleiblichung, nach der Zeugung und nach dem Tod, was darauf hinausläuft, dass sie eigentlich kein metaphysisches, sondern ein physiologisches – und insofern aus der Erfahrung zu lösendes – Problem sei. Auf diese Weise thematisiert Fichte im Kontext des Unsterblichkeitsstreits die Frage, worum es ihm seit einigen Jahren geht, nämlich die Frage nach dem Tod und der Bedeutung der Verleiblichung, deren Lösung er für die Hauptaufgabe der Philosophie hält. In der erwähnten Schrift, in der es hauptsächlich um die Frage nach der Persönlichkeit Gottes und die Frage nach der individuellen Fortdauer geht, kristallisieren sich Fichtes Ansichten über diese Problematik, sodass er beispielsweise am 17. August 1834 an Charlotte von Kalb schreibt, dass diese Schrift »halbverschleiert viele meiner geheimsten Überzeugungen« enthalte (Ehret, o. J.-d, S. 74). Er schreibt weiter an seine Freundin: (1929a). Dazu vgl. auch die beteiligte Konstellation von Autoren: Feuerbach (1830), Blasche (1831), Richter (1833a, 1833b), Fichte (1833a, 1834), Weiße (1833a, 1833c, 1834), Göschel (1834a, 1834b, 1834c, 1834d, 1834e, 1834f, 1835), Beckers (1836) und Conradi (1837). Der Unsterblichkeitsstreit der 1830er Jahren macht ein Desiderat der Forschung aus und es bedarf einer historischen und philologischen Bearbeitung der Quellen sowie einer thematischen und philosophischen Deutung der Hauptpositionen, wie dies exemplarisch von Bayertz et al. für den Materialismus-, den Darwinismus- und den Ignorabimus-Streit geleistet wurde. Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Keine meiner Schriften ist so unwillkürlich aus mir hervorgeflossen, eben weil sie fast nur Berichterstattung, ja Ausbruch meiner innersten Einsichten war; und so mag sie denn hingehen, wiewohl ich ihrer Wirkung keineswegs gewiß bin, und sie ebensoviel Widerwillen als Beistimmung mir veranlassen kann (Ehret, o. J.-d, S. 74).

Dieser »Ausbruch« markiert demnach eine Art von Kulminationspunkt der früheren Entwicklung seiner anthropologisch-psychologischen Ansichten, was als ein weiterer Beleg dafür gilt, einerseits dass die Menschenfrage im Zentrum seines intellektuellen Interesses steht, andererseits dass sie für Fichte eine existentielle Bedeutung hat.

3.1.7 Die zentrale Stellung der Menschen- und Seelenfrage Aus dem Vorhergehenden ist letztendlich zu entnehmen, dass die Menschen- und die Seelenfrage von Anbeginn an den systematischen Mittelpunkt von Fichtes Philosophie ausmacht. Die Aufmerksamkeit wurde auf Fichtes frühe Phase gerichtet, um seine retrospektiven Äußerungen über die Stellung der Menschenfrage in seiner Philosophie zu unterstützen. Diese Untersuchung rechtfertigt demnach die Annahme, dass sich eine Betrachtung seiner anthropologischen und psychologischen Schriften als eine grundlegende Aufgabe zum systematischen Verständnis des philosophischen Ansatzes Fichtes erweist. In diesen Schriften legt Fichte die Ergebnisse seiner Erforschung des Wesens des Menschen dar, welche insgesamt ein Menschenbild bieten, das im Zentrum seiner theologischen, naturphilosophischen und ethischen Ansichten steht.

3.2 Begriff und Aufgabe der philosophischen Anthropologie 3.2.1 Existentielle Bestimmung der philosophischen Anthropologie Die Entwicklung der existentiellen Bedeutung der Seelenfrage bei Fichte wurde deshalb verfolgt und hervorgehoben, weil seine Anthropologie mit dem Hinweis auf den existentiellen Ursprung jener Frage und auf die darauffolgende praktisch-ethische Bestimmung ihrer wissenschaftlichen Lösung anfängt. Um demnach diesen Hinweis verstehen und belegen zu können, wurde Fichtes biographisch-intellektuelle Entwicklung unter dem Aspekt eben seines anthropologischen 116

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Interesses betrachtet. Dabei wurde deutlich, wie sich in dem besonderen Fall von Fichte eine allgemeinmenschliche Frage aus einem existentiellen Substrat mit einer gewissen Notwendigkeit stellt und wie Fichte, statt diese Frage aus der Wissenschaft und der Philosophie auf das Gebiet des Privaten und Subjektiven zu verbannen, sie ins Zentrum der Philosophie rückt und hierbei der Philosophie eine hohe Bestimmung verleiht, nämlich, den Weg von Selbsterkenntnis zur Bewusstwerdung der Gegenwart des Göttlichen im Menschlichen und im Weltlichen bzw. des Ewigen im Zeitlichen zu bahnen. Zu diesem Zweck nimmt die Seelenfrage eine prominente Stellung ein, denn ihre Lösung könne Licht auf die »Mysterien« der Verleiblichung und des Todes werfen, auf dasjenige also, was der natürlichen Überzeugung des Menschen zähen, ja sogar schmerzlichen Widerstand und Widerspruch leistet. Weder aus der Notwendigkeit einer binnensystematischen Problematik der Schule noch aus der Willkürlichkeit eines künstlichen Gewebes von hochtrabenden Spitzfindigkeiten entsteht diese Frage bei Fichte, sondern sie stellt sich ganz notwendig und naturgemäß in und aus einer bestimmten Einstellung und Stimmung der Seele, welche Fichte mit folgenden Worten beschreibt: Der Mittelpunkt aller Räthsel daher, die ihn [den Menschen] drücken, ist seine Zeitlichkeit, die unablässige Flucht und der Untergang alles Erscheinenden für ihn und in ihm. Erst dann hätte er das Geheimniss seines Innern gelöst, wenn ihm gelungen wäre, jene Zeitlichkeit theoretisch zu verstehen, praktisch zu überwinden, d. h. wenn er, von der innigsten Gewissheit eigener Ewigkeit durchdrungen, welche nur als Begeisterung, Enthusiasmus an ihm hervorbrechen kann, nun auch ewige Thaten des Geistes vollbringt, oder durch den Schein der Vergänglichkeit hindurch wenigstens im Glauben die ewige Welt zu ergreifen wagt, welcher er eigentlich doch angehört (Fichte, 1876a, S. 6–7, § 2).

Mit diesen Worten thematisiert Fichte demnach in einem wissenschaftlichen Kontext dasjenige allgemeinmenschliche »Rätsel«, welches im Mittelpunk der problematischen Existenz des Menschen stehe. Dieses Zitat ist insofern wichtig, als es nicht nur den existentiellen Ursprung, sondern auch den existentiellen Zweck der philosophischen Anthropologie Fichtes deutlich zeigt. Dieser Bestimmung der philosophischen Anthropologie liegt eine bestimmte vortheoretische Ansicht des Menschen als Voraussetzung zugrunde. Fichte betrachtet den Menschen nicht bloß als einen »metaphysische[n] Begriff« oder als ein transzendentales Subjekt,

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dessen Wesen sich im metaphysischen Allgemeinbegriff des Geistes oder aber in der formalen Identität des Ich bzw. in der transzendentalen Einheit der Apperzeption des Selbstbewusstseins erschöpfen lasse, sondern primär als »ein lebendiges Erfahrungsobject« (Fichte, 1876a, S. 8, § 2). Fichte grenzt sich von der zeitgenössischen Philosophie des Geistes dadurch ab, dass er statt eines Abstraktums eben den lebendigen Menschen zum Gegenstand seiner philosophischen Anthropologie macht. An dem so verstandenen Menschen diagnostiziert Fichte eine innere »Zerrissenheit«, welche sich nicht nur stechend in seinem individuellen Bewusstsein, sondern auch trennend in der gesamten Kultur ausdrücke (Fichte, 1876a, S. 7, § 2). Seiner natürlichen Überzeugung von der eigenen inneren Ewigkeit widersprechend biete dem Menschen die Erfahrung nur die Tatsache der Vergänglichkeit der Dinge und der eigenen Existenz. Aus einem solchen erlebten Widerspruch zwischen dem, »[w]as wir glauben möchten«, jedoch nirgendwo »finden und erkennen«, und dem, »was wir zu wissen meinen«, jedoch »nicht im mindesten dem Bedürfnisse des Glaubens« genüge (Fichte, 1876a, S. 7, § 2), entzünde sich die existentielle und philosophische Perplexität. Der Mensch muss demnach die eigene Zeitlichkeit, mithin die Möglichkeit des Todes konstatieren, und zwar nicht nur des eigenen, sondern auch des der geliebten Menschen. Dieses existentielle Substrat macht den Quell der anthropologischen Fragestellung nach dem Wesen und der Existenzweise der menschlichen Seele aus, welche Fichte eben ins Zentrum seiner philosophischen Anthropologie rückt. Insofern einerseits der Gegenstand der Anthropologie ein lebendiges Erfahrungsobjekt, andererseits der Ursprung ihrer Hauptfrage existentieller Natur sei, nimmt sich Fichte nicht bloß eine theoretische, sondern auch eine praktisch-ethische Aufgabe vor. Es handelt sich nämlich – wie im obigen Zitat angedeutet – um »eine theoretisch-praktische[] Ueberwindung« der Zeitlichkeit (Fichte, 1876a, S. 7, § 2). Indem der Mensch in die Zeitlichkeit herabgesunken sei, was Fichte als die Verzeitlichung des Menschen bezeichnet, habe sich bei ihm »statt jenes Bewusstseins innerer Ewigkeit die Liebe des Zeitlichen und die Todesfurcht« entwickelt (Fichte, 1876a, S. 7, § 2). In diesem Sinne besteht für Fichte die theoretisch-praktische Aufgabe der Anthropologie darin, jenes Bewusstsein innerer Ewigkeit wiederherzustellen und hierbei den »Stachel« des Todes zu exstirpieren. Eine solche Bewusstwerdung impliziert letztendlich Selbsterkennt118

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nis. In diesem Sinne fordert Fichte (1876a) »als das letzte Ziel und die eigentliche Bestimmung« der philosophischen Anthropologie die »definitive Verständigung des Menschen über sich selbst« (S. 7–8, § 2). Diese »Selbstverständigung« des Menschen könne jedoch nicht auf dem Weg einer abstrakten und negativen Metaphysik erfüllt werden, sondern nur auf dem Weg einer auf der Erfahrung basierten spekulativen Wissenschaft des Menschen. »Wir müssen in der zeitlichen Erscheinung des Menschen selbst seine innere Ewigkeit aufzuweisen im Stande sein: erst die Thatsache gewährt die Unerschütterlichkeit der Ueberzeugung« (Fichte, 1876a, S. 8, § 2). Was jener Weg der Selbstverständigung leistet, widerspreche jedoch demjenigen, was für das gewöhnliche Bewusstsein als die Quelle seiner Gewissheit gelte (Fichte, 1876a, S. XVII), woraus dennoch zugleich die »Liebe des Zeitlichen« und die »Todesfurcht« entstehen. Aus dem Beweis der philosophischen Anthropologie sollte sich nämlich ergeben, einerseits dass die Sinnenwelt – als Quelle der Gewissheit des gewöhnlichen Bewusstseins – eigentlich nur von »phänomenalem Charakter« sei, andererseits dass das der phänomenalen Sinnenwelt innewohnende Reale von »unsinnlicher Beschaffenheit« sei (Fichte, 1876a, S. XVII). Was aus diesem zunächst paradoxen, noch zu begründenden Gedanken für den individuellen Menschen folgt, sei die folgenreiche Einsicht, dass seine Seele ein jenseitiges Leben »gerade innerhalb ihrer gegenwärtigen, diesseitigen Lebensform« führe (Fichte, 1876a, S. XVII). Durch eine solche Einsicht in die Übersinnlichkeit und die Ewigkeit des eigenen individuellen Wesens mitten in der Sinnlichkeit und der Zeitlichkeit, d. h. durch diese Gewissheit der geistigen Existenz, wird folglich sowohl die Sinnlichkeit als auch die Zeitlichkeit überwunden, weil dasjenige, was als vergänglich erscheint, sich als »ein objectives Phänomen« erweise, »das dieser Zusammenhang des Realen mit unserm Geiste in unser Bewusstsein hineinwirft« (Fichte, 1876a, S. XXXI). Wenn dementsprechend die Sinnenwelt und die dazugehörige Vergänglichkeit ein dem sinnlichen Bewusstsein spezifisches Phänomen ist, welches durch die Tätigkeit realer Wesen hervorgebracht wird, so ergebe sich, dass die Sinnenwelt »keine wahrhafte Vergänglichkeit in sich schliesst«, weil das die zeitliche Leiblichkeit und das sinnliche Bewusstsein hervorbringende substantielle Wesen eben nicht durch ein von ihm selbst hervorgebrachtes Phänomen vergehen kann (Fichte, 1876a, S. XXXI). Bei Fichte darf jedoch die Leistung der philosophischen Anthropologie nicht bloß bei einer theoretischen Konklusion ohne weitere Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Folgen für das Leben stehen bleiben, sondern aus ihr sollte sich ein Ethos ergeben, welches den Menschen zu einem mit der unerschütterlichen Überzeugung innerer Ewigkeit korrespondierenden Handeln veranlasst. Aus einer solchen »Begeisterung« könne der Mensch nun »ewige Thaten des Geistes« vollbringen (Fichte, 1876a, S. 7, § 2).

3.2.2 Disziplinäre Bestimmung der philosophischen Anthropologie Wie lässt sich nun dieses aus einem solchen existentiellen Substrat entstehende philosophische Streben disziplinär bestimmen?

3.2.2.1 Die Preisgabe des Seelenbegriffs im 19. Jahrhundert

Um Fichtes Vorschlag adäquat zu verstehen und einzuschätzen, ist es wichtig, sich die geschichtliche Situation der damaligen Psychologie zu vergegenwärtigen, welche hauptsächlich im 19. Jahrhundert eine ausschlaggebende Wende in Bezug auf ihre Gegenstandsbestimmung nahm. Eine tausendjährige Tradition, in welcher die Psychologie vornehmlich als Lehre von der Seele galt 102 – selbstverständlich gab es parallel materialistische Ansichten und Theorien, jedoch nahm der Seelenbegriff immerhin eine zentrale Stellung ein –, sei zu dem Wendepunkt gekommen, in welchem durch die Verwissenschaftlichung der Psychologie die Seele als ihr Gegenstand aufgegeben wurde. Diese »Preisgabe des Seelenbegriffes«, welche mit der Preisgabe des Substanzbegriffs gekoppelt war, habe eine Veränderungsreihe von Gegenstandsbestimmungen eingeführt (Pongratz, 1984, S. 15), welche der Psychologie ihren ständigen – bis heute erkennbaren – krisenhaften Charakter verleiht. In diesem Sinne bemerkt Pongratz (1984), dass »[k]aum eine andere Wissenschaft … im Laufe ihrer Geschichte so sehr um ihren Gegenstand gerungen und ihn so häufig gewechselt« habe »wie die Psychologie« (S. 14). 103 In der jetzt betrachteten »Plato und Aristoteles, Augustin und Thomas, Descartes und Leibniz, die großen Schöpfer und Gestalter der abendländischen Wissenschaft, haben die Psychologie als Lehre von der Seele begründet« (Pongratz, 1984, S. 38). Zur Entwicklung des Seelenbegriffs in der griechischen Literatur und Philosophie aus einer philologischen Perspektive vgl. Furley (1956). 103 Pongratz unterscheidet sechs Gegenstandbestimmungen der Psychologie, nämlich Seelenwesen, Seelenleben, Bewusstsein, Unbewusstes, Erleben und Verhalten. »Der 102

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Periode sei spezifisch der substantielle Seelenbegriff aufgegeben worden, sodass »[d]ie alte Seele« nun »als Fabelwesen, als Gespenst, als scholastischer Spuk, als poetisches Phantasiegebilde« und »die Seelenlehre als Mythos und Aberglaube betitelt« wurden (Pongratz, 1984, S. 40). Auf diese folgenreichen Veränderungen macht Fichte synchron aufmerksam, indem er beispielsweise darstellt, wie die Psychologie zur Gleichsetzung von Seele und Bewusstsein kommt – was noch weiter unten ausführlich zu betrachten gilt – und wie im Jahr 1864 104 die Seele bzw. die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele als Gegenstand der Wissenschaft bereits obsolet geworden sei: Vielleicht wird es manchen, vom Lichte »neuester Wissenschaft« hell angestrahlten Leser höchlich überraschen, in d. Bl. sich eingeladen zu sehen zu Betrachtungen über einen Gegenstand, der nach der herrschenden Bildung für diese »Wissenden« zu den gänzlich obsoleten Gegenständen gehört, der aber zugleich so viel des Verfänglichen enthält, dass es anständiger erscheint, seiner gar nicht Erwähnung zu thun. Seit der »epochemachenden« Entdeckung heutiger Naturwissenschaft nämlich, dass der Stoff das einzig Unsterbliche sei, ingleichen, dass Geist, Seele, Bewusstsein lediglich als das Product gewisser Stoffverbindungen sich »erwiesen« habe, muss die Vorstellung einer Unsterblichkeit des Menschengeistes zu den Märchen eines abgelebten Aberglaubens geworfen werden. Nur in den Kreisen der Theologen, die dergleichen amtlich zu lehren und öffentlich zu bekennen haben, gleichviel, wie sie persönlich darüber denken, oder in den Conventikeln abergläubischer »Spiritualisten« hängt man noch an diesen Vorstellungen einer kindlichen, jetzt kindisch gewordenen Fabelwelt (Fichte, 1869c, S. 225).

Wechsel in der Auffassung des Gegenstandes der Psychologie ist durch die Abfolge Seele und Seelenleben, Bewußtsein und Unbewußtes, Erleben und Verhalten gekennzeichnet. Am Leitfaden dieser Begriffe entsteht, wie ich gezeigt habe, eine Geschichte der Psychologie, die primär nicht vom zeitlichen Nacheinander, sondern von der Entwicklung eines Problems geleitet ist, was ihr Einheit und Geschlossenheit verleiht. Spätere Historiker werden dann noch über Entstehung und Schicksal von Kognition und Handeln, zwei gegenwärtig hoffähige Gegenstandsbestimmungen, zu schreiben haben« (Pongratz, 1984, S. 6). 104 1864 ist das ursprüngliche Veröffentlichungsjahr des Aufsatzes, in welchem Fichte die Schriften Clara oder Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Die Idee der Unsterblichkeit von Johannes Huber rezensiert und bespricht (vgl. Fichte (1864b, 1864c)). Im Jahr 1869 lässt Fichte denselben Aufsatz mit einer zusätzlichen Rezension des Buches Unsterblichkeit von Heinrich Ritter und einer Anzeige seines eigenen Buches Die Seelenfortdauer und die Weltstellung des Menschen in seiner Sammlung Vermischte Schriften zur Philosophie, Theologie und Ethik wieder erscheinen (vgl. Fichte (1869c)). Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Von dieser Richtung, welche die Psychologie durch die Preisgabe des Seelenbegriffs einschlug und welche mit dem Schlagwort »Psychologie ohne Seele«, welches Friedrich Albert Lange knapp zwei Jahre nach der obigen Diagnose in seiner Geschichte des Materialismus (1866) prägte 105, als etabliert galt, divergiert Fichte und fordert im Gegensatz dazu die Seele als Gegenstand der Wissenschaft und der Philosophie zurück. 106 »›Aber heisst denn Psychologie nicht Lehre von der Seele? Wie ist denn überhaupt eine Wissenschaft denkbar, welche es zweifelhaft lässt, ob sie überhaupt ein Objekt hat?‹ Nun, da haben wir wieder ein schönes Problem der Verwechslung von Namen und Sache! Wie haben einen überlieferten Namen für eine grosse, aber keineswegs genau abgegrenzte Gruppe von Erscheinungen. Dieser Name ist überliefert aus einer Zeit, in welcher man die gegenwärtigen Anforderungen strenger Wissenschaft noch nicht kannte. Soll man ihn verwerfen, weil das Objekt der Wissenschaft sich geändert hat? Das wäre unpraktische Pedanterei. Also nur ruhig eine Psychologie ohne Seele angenommen! Es ist doch der Name noch brauchbar, so lange es hier irgend etwas zu thun giebt, was nicht von einer andern Wissenschaft vollständig mit besorgt wird« (Lange, 1866, S. 464–465). 106 Vor diesem Hintergrund ist auf eine ganze Strömung idealistischer und romantischer Psychologien hinzuweisen, die gerade von der aus Fries, Herbart und Beneke hervorgehenden empiristischen Richtung der Psychologie abweicht und dennoch in der Geschichte der Psychologie durchaus vernachlässigt worden ist (vgl. Fn. 58 sowie Leary (1978, 1980) und Engel (2000)). Gerade in diesem Kontext ist Fichtes anthropologischer und psychologischer Ansatz zu situieren. Freilich kommen Kant und Leibniz gemäß seinem eigenen Bericht eine zentrale Bedeutung bei der Entwicklung seiner anthropologischen und psychologischen Ansichten zu (vgl. Fichte (1869b)). Gleichzeitig führt er einen impliziten oder expliziten intertextuellen Dialog zumeist mit den zeitgenössischen Anthropologien und Psychologien von Steffens (1822a, 1822b), Herbart (1808, 1824, 1825, 1839, 1840, 1850), Carus (1831, 1846), Fechner (1860a, 1860b), Fortlage (1855a, 1855b, 1856, 1865, 1872, 1874, 1875) und Lotze (1851, 1852, 1856, 1857, 1858, 1864, 1879). Als Beispiel von direkten Bezügen Fichtes auf manche dieser Autoren vgl. Fichte (1845, 1855b, 1856b, 1859, 1861, 1862, 1869d, 1870b). An dieser Stelle sei nur auf manche systematischen Verknüpfungspunkte mit Steffens, Herbart und Fortlage zu verweisen, nämlich auf die Begriffe des Genius, der Individualität und des inneren Leibes. Erstens kommt Steffens die Bedeutung zu, dass er in seiner Anthropologie die für Fichte zentrale »Lehre vom ›Genius‹ … angebahnt [hat], und zuerst mit Entschiedenheit es ausgesprochen, daß sie die maßgebende für die ganze Geistesphilosophie werden müsse« (Fichte, 1859, S. 191, § 106). Zweitens komme Herbart trotzt der Unzulänglichkeit seines Einfachheitsbegriffs die Bedeutung zu, dass er »für die Psychologie das Princip des Individualismus für immer gesichert« habe (Fichte, 1876a, S. 153, § 68), das ebenso eine zentrale Stellung in der Psychologie Fichtes hat. Beim Verhältnis zwischen Fichte und Fortlage spielen letztlich unter anderem die Begriffe des inneren Leibes und des Triebes eine besondere Rolle. Fichte (1864a, S. 14–15, § 16, 1876a, S. 298–230, § 127) bezieht sich an verschiedenen Stellen auf Fortlages Begriff des Empfindungs- bzw. Seelenleibes. Im selben Zusammenhang gibt Fichte (1864a) zu, dass Fortlage ihn auf eine »Lücke« in seiner 105

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3.2.2.2 Postkritische Zurückforderung der Seele als Gegenstand der Anthropologie und der Psychologie

Die Zurückforderung der Seele als Gegenstand der Wissenschaft und der Philosophie macht Fichte geltend dem Kritizismus und dem Empirismus zum Trotz. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Vernachlässigung der epistemologischen Kritik zugunsten einer übereilten Flucht in eine nebelhafte Spekulation, sondern um die immanente Überwindung des kritischen Standpunktes. 107 Was aus diesem Standpunkt für Fichte immerhin sich entnehmen lässt, ist das von ihm so bezeichnete Prinzip der Besonnenheit. Fichte (1869b) behauptet ausdrücklich, dass Kant für ihn »wissenschaftliches Vorbild im allgemeinsten Sinne«, ja einer der »grossen philosophischen Dioskuren der neuern Zeit« war – der zweite sei Leibniz gewesen – und dass er »von Anfang an bei allen eignen Untersuchungen auf Kant zurück [ging], als den Ausgangspunkt sicherer Orientirung« (S. 22). 108 Fichte »Theorie von der Seele als dem Formprincip ihres Leibes« aufmerksam gemacht habe (S. 15, § 17). Dabei handelt es sich nämlich um die Frage nach einem »nicht hypotetisch[en], sondern erfahrungsmässig[en]« leibgestaltenden und bewusstseinserzeugenden Grundvermögen der Seele, das Fichte zunächst in der Phantasie gefunden und es dann mit Fortlages Begriffs des Triebes ergänzt hatte (Fichte, 1864a, S. 10, § 23–24). Interessant sind in diesem Zusammenhang auch Fortlages lobende Rezensionen von Fichtes Anthropologie und Psychologie, bei denen Fortlage vor allem Fichtes Theorie des inneren Leibes hervorhebt. Fichtes Anthropologie sei ein »Ereigniß in unserer Literatur« (Fortlage, 1856, S. 633) und in der »Theorie des inwendigen Seelenleibes« sei »ein fröhlicher Sproß der psychologischen Wissenschaft ins Grünen gekommen, welcher umsomehr Aussichten für die Zukunft verspricht, als schon seit geraumer Zeit nach ganz verschiedenen Methoden und von ganz verschiedenen Seiten her die philosophische Forschung sich gerade diesem Punkte ahnungsvoll und schwankend genähert hat« (Fortlage, 1856, S. 639). Fortlages Rezension zur Psychologie Fichtes ist eigentlich ein Aufsatz eben zum Begriff des inneren Leibes. Dabei weist Fortlage (1865) darauf hin, dass das »wissenschaftliche Verbindungsglied zwischen innerer und äußerer Erfahrung« bzw. »[d]iesen anschaulichen Mittelbegriff … zuerst die Fichte’sche Anthropologie auf[stellte] als den Begriff des inwendigen Seelenleibes« (S. 65). 107 Zur Charakteristik und Überwindung des kritischen Standpunktes im Rahmen der Entwicklung des epistemologischen Bewusstseins zum spekulativen Erkennen vgl. Fichte (1833b, S. 261–274, §§ 190–199). 108 Fichte ist in der Tat einer der ersten Philosophen, die behaupten, dass die Philosophie auf Kant zurück- und über ihn hinausgehen sollte. Schon im Jahr 1832 schreibt Fichte (1832a) in seinem Werk Über Gegensatz, Wendepunkt und Ziel heutiger Philosophie Folgendes: »Kurz, nach allen versuchten Inklinationen und Deklinationen dialektischer Systematik muß man jeßt vorerst wieder, um an einen klassischen Autor der entgegengeseßten Betrachtungsweise zu erinnern, auf den ehrlichen Weg Kant’s Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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(1869b) machte sich dabei die wissenschaftliche Maxime zu eigen, »bei Erforschung der Gründe der Dinge die Grenzen und Analogien des Thatsächlichen niemals zu überschreiten« (S. 22). 109 Bei aller Verehrung und allem Einfluss hat Fichte jedoch ein differenziertes Urteil über Kant, vor allem was seine Wirkung auf die Psychologie betrifft. 110 In diesem Zusammenhang hebt Fichte (1844a) beispielsweise hervor, dass Kant zwar den »epochemachend[en]« Beitrag zur Psychologie geleistet habe, »den Beweis der Apriorität und Vernunftursprünglichkeit für die Ideen« geliefert »und so erst das Wesen der Vernunft, des Geistes, gefunden« zu haben, aber er habe letztendlich »lähmend und desorientirend« auf die Entwicklung der Psychologie gewirkt (S. 83). Durch seine Vernunftkritik habe sich nämlich die Vorstellung verallgemeinert und etabliert, daß das Wesen der Seele an sich unerkennbar sei, und daß wir nur von ihrer Erscheinung wissen, daß es somit gänzlich den Horizont unsers Erkennens übersteige, jene Frage lösen zu wollen, wie und ob die an sich seiende Einheit der Seele zu einem an sich Mannigfaltigen werde? (Fichte, 1844a, S. 83).

Diese Vorstellung hatte sodann die doppelte Konsequenz, einerseits dass »der Seelenbegriff dem Agnostizismus zum Opfer« gefallen sei (Pongratz, 1984, S. 71), andererseits dass der Weg für eine empiristische Psychologie freigemacht worden sei, wie Fichte (1844a) an folgender Stelle behauptet: Um so mehr konnte man sich daher empirischen Analysen zuwenden, und in der That hat – wir dürfen nur an die Psychologieen aus der KantischFriesischen Schule erinnern – das Zergliedern des Bewußtseins in die mannigfachsten Ober- und Untervermögen erst jeßt seine ganze Geltung erhalten (S. 83).

zurückkommen, der von der Frage nach der Möglichkeit spekulativen Erkennens anhebend, im Bewußtsein den leitenden Einschritt in die Philosophie entdeckte, mag auch die auf jene Frage gebaute Theorie des Erkennens selbst sich als irrig erweisen« (S. 88, § 27). Vor diesem Hintergrund betrachtet Köhnke Fichte zusammen mit Trendelenburg, Beneke und Weiße als frühe Folien des Neukantianismus, vor allem unter dem Aspekt des Problems der Voraussetzungslosigkeit sowie des Programms einer Erkenntnistheorie (vgl. Köhnke (1993)). 109 Zu Fichtes eigener Würdigung des Einflusses Kants auf seine philosophische Bildung vgl. Fichte (1869b, S. 3–31). 110 Zu Fichtes historisch-kritischer Würdigung der Philosophie Kants vgl. Fichte (1829, S. 113–181, 1841a, S. 177–248).

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Was aus diesem Umstand folgt, ist schon bekannt. Auch wenn es um diese Zeit »Forscher mit Rang und Namen« gegeben habe, die die Psychologie noch »als Lehre von der Seele definierten« (Pongratz, 1984, S. 40), habe immerhin eine »Ambivalenz« geherrscht, »die einerseits um die Notwendigkeit eines Substrates der seelischen Tatsachen weiß, andererseits von der Angst beherrscht wird, aus der Empirie in die Metaphysik zu geraten« (Pongratz, 1984, S. 41). 111 Trotz jener Ausnahmen ergab sich letztendlich aus dieser Metaphysikangst, ja sogar Metaphysikfeindlichkeit, dass innerhalb einiger Jahrzehnte die Annahme sich verwurzelte, dass die Psychologie nicht mit einer substantiellen Seele, sondern – im besten Fall – bloß mit den Tatsachen des Bewusstseins zu tun habe. 112 Auf diese Weise nahm die ganze materialistische Weltansicht eine deutlichere und festere Gestalt an. Diesbezüglich weist Fichte (1876a) in der Vorrede zur dritten Auflage seiner Anthropologie auf »das oft wiederholte, ja fast zum ›Glaubensbekenntniss‹ erhobene Motto der herrschenden Tagesmeinung« hin, welches folgendermaßen laute: [N]ur das Sinnliche, sinnlich erfasst, ist das Reale, zugleich das einzig Gewisse; der »Stoff« mit seinen Kräften die einzig wirkende Ursache in Allem. Geist, Seele, Bewusstsein sind von phänomenaler Natur, Erzeugnisse der Stoffmischung; die Einheit des Bewusstseins »Summationsphänomen« aus den Atomen, denen man deshalb ein gewisses »Empfindungsvermögen« beilegen muss. Gleicherweise gibt es keine Zweckbeziehung, kein innerliches Entsprechen und einander Zugebildetsein zwischen den Dingen, was »Teleologie« genannt worden, sondern eine äusserlich verkettende Causalität bringt mit mechanischer Nothwendigkeit die end- und zwecklose Reihe der Veränderungen hervor, deren Summe man bisher »Welt«, sogar »Schöpfung« zu nennen pflegte (S. XII).

Dieser ganzen Entwicklung von einer kritischen Verleugnung der Erkennbarkeit bis zur empiristischen Verleugnung der Existenz der substantiellen Seele setzt Fichte eine divergente Ansicht entgegen, welche, ebenfalls von einer epistemologischen Untersuchung ausgehend und den methodologischen Ansprüchen der Naturwissenschaft entsprechend, die Möglichkeit einer Wissenschaft der Seele be-

Pongratz weist auf die unterschiedlichen Seelenbegriffe von Lotze, Fechner, Külpe, Geyser, Driesch und Krueger hin, jedoch nimmt er keine Notiz von Fichte (vgl. Pongratz (1984, S. 40–44)). 112 Zur gegenwärtigen Diskussion um die Frage, ob die Psychologie einen Seelenbegriff braucht, vgl. beispielsweise Mack (2007). 111

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gründet. Die eigentliche Begründung dieser Ansicht führt Fichte einerseits in seiner Epistemologie und Methodologie durch, welche die Objektivität des Denkens und der Denkbestimmungen, mithin die prinzipielle Erkennbarkeit der menschlichen Seele sowie die Bedingungen und Einschränkungen einer solchen Erkenntnis respektive beweisen und darstellen sollten, andererseits in der philosophischen Anthropologie und Psychologie selbst, welche insgesamt die Existenz und Entwicklung der menschlichen Seele wissenschaftlich beweisen sollten. Fichtes postkritische Begründung der philosophischen Anthropologie und Psychologie soll weiter unten an den entsprechenden Stellen dargelegt werden. An diesem Punkt ist es lediglich hervorzuheben, dass er an den obigen Stellen negativ behauptet, dass die kritische Annahme der Unerkennbarkeit und die empiristische Annahme der Inexistenz oder aber der Epiphänomenalität der menschlichen Seele unberechtigte Vorurteile seien, die einer postkritischen Prüfung zu unterwerfen sind. Indem Fichte auf diese Weise die Seele als Gegenstand der Anthropologie und der Psychologie zurückfordert, macht er einen ersten Schritt in die Richtung deren disziplinären Bestimmung. Ein zweiter Schritt wird durch die nun anschließende Verortung beider Disziplinen in der Philosophie des Geistes vollzogen.

3.2.2.3 Einteilung der Philosophie des Geistes in Anthropologie und Psychologie

Es gilt, erst einmal daran zu erinnern, dass Fichte bereits im Jahr 1832 das Leitmotiv seines »eigentliche[n] Hauptwerk[es]« konzipiert hatte (Ehret, o. J.-d, S. 69). Dieses solle im Rahmen einer Entwicklungsgeschichte der Seele die Verleiblichung und die Entwicklung der persönlichen Seele aus ihren ursprünglichen Anlagen aufzeigen. Die Prämissen eines solchen Argumentes selbst müssen jedoch vorher begründet sein, sodass sich Fichte dieser vorbereitenden und grundlegenden Untersuchung widmete, bis sie sich so verselbständigte, dass sie letztendlich die Form seiner Anthropologie nahm. Was diese Untersuchung leisten sollte, ist nämlich der für die Psychologie notwendige Seelenbegriff, und zwar – wie noch zu zeigen ist – nicht auf apriorische, sondern auf aposteriorische Weise. Für diese Untersuchung, welche sich auf den menschlichen Geist in seiner natür126

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lichen Gegebenheit fokussiere und dementsprechend darauf abziele, das apriorische Wesen des menschlichen Geistes aus der Erfahrung zu beweisen, hielt Fichte die Bezeichnung »Anthropologie« für angemessen. Diese Wahl rechtfertigt er geschichtlich und sachlich. Erstens, was die geschichtliche Rechtfertigung der Bezeichnung »Anthropologie« betrifft, knüpft Fichte unmittelbar an Hegel an, der bekanntlich seine Lehre des subjektiven Geistes in Anthropologie, Phänomenologie und Psychologie einteilt. 113 In diesem Zusammenhang hält es Fichte für sachlich adäquat, dass Hegel »den entscheidenden Schritt that«, die »organischen Vorbedingungen des Geistes« zum Gegenstand seiner Anthropologie zu machen, denn eine solche Gegenstandsbestimmung die »Grundthatsache« anerkennt, »wie eng und unauflöslich der Geist an die organischen Mittel seiner Verwirklichung gebunden sei, wie er nur durch sie hindurch wirksam werde, und nur in dieser vermittelten Gestalt sich selbst und Andern zur Erscheinung komme« (Fichte, 1844a, S. 67). Auch wenn Fichte einsieht, dass die wörtliche Bedeutung der Bezeichnung »Anthropologie« ihrer Allgemeinheit nach »das ganze Gebiet dieser Untersuchungen« und nicht bloß einen bestimmten Teil umfassen sollte, hält es immerhin für historisch berechtigt, jene Bezeichnung trotz ihrer Ungenauigkeit beizubehalten, denn der Inhalt sei »in der ältern, eigentlich sogenannten, Anthropologie« berücksichtigt gewesen (Fichte, 1844a, S. 67–68). 114 Problematisch findet Fichte dennoch die dreigliedrige Architektonik, vor allem in Bezug auf die Trennung zwischen Phänomenologie und Psychologie, weil sie in Hinsicht auf den Gegenstand nicht sachlich adäquat sei. Laut Fichte (1844a) sei »dem objektiven Wesen ihres Gegenstandes« entsprechend »die Lehre vom menschlichen Geiste nur in zwei Theile« einzuteilen, nämlich in die Anthropologie »als die Lehre von der Naturbestimmtheit des Geistes nach ihrem ganzen Umfange« und die Psychologie »als die Lehre vom Geiste in seiner Entwicklung zum Bewußtsein und im Bewußtsein« (S. 71). Fichte weist darauf hin, dass diese zwei letzten Momente eben nicht – wie es bei Hegel der Fall sei – als getrennt zu Zu Fichtes historisch-kritischer Würdigung der Philosophie des Geistes Hegels vgl. Fichte (1841a, S. 949–1016). 114 Wahrscheinlich denkt Fichte hier unter anderem an Otto Casmann, der 1594 und 1596 sein zweibändiges Werk Psychologia anthropologica veröffentlichte (vgl. Casmann (1594, 1596)) und den Fichte in seinen unveröffentlichten Vorlesungen zur Psychologie in Bonn und in Tübingen erwähnt, nämlich darauf hinweisend, dass Casmann den Begriff der Anthropologie eingeführt habe (Fichte, o. J.-a, S. 3, 1837b, S. 7). 113

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betrachten und zum Prinzip verschiedener Disziplinen zu machen seien. Der Grund dafür sei, dass das beiden gemeinsam zugrunde liegende Prinzip die »Immanenz der Ideen im Geiste« sei (Fichte, 1844a, S. 71). Insofern sich demnach die ganze Entwicklung des Bewusstseins aus diesem Prinzip erklären lässt, indem die Immanenz der Ideen den menschlichen Geist »ebenso sehr aus seiner Naturunmittelbarkeit in’s Bewusstsein erwachen, als im Bewusstsein selber seine volle Entwicklung vollenden läßt« (Fichte, 1844a, S. 71), sei es naturgemäß, eine solche Entwicklung im Rahmen nur einer Disziplin zu betrachten, nämlich der Psychologie. Auf diese Weise teilt Fichte – dem objektiven Wesen ihres Gegenstandes folgend – die Philosophie des Geistes in Anthropologie und Psychologie ein. Die erste soll den Geist in seiner natürlichen Unmittelbarkeit, die zweite dessen Entwicklung zum und im Bewusstsein betrachten. Zweitens, was die sachliche Rechtfertigung der Bezeichnung »Anthropologie« betrifft, weist Fichte (1844a) darauf hin, dass der spezifische Unterschied zwischen den Standpunkten der Anthropologie und der Physiologie – vorausgesetzt, sie hätten den menschlichen Organismus als ihr gemeinsames Untersuchungsgebiet – durch jene Bezeichnung treffend gekennzeichnet werde (S. 68). Unter diesem Gesichtspunkt sei demnach die Physiologie des Menschen als ein Teil der allgemeinen oder vergleichenden Biologie, mithin der Naturphilosophie zu verstehen (Fichte, 1844a, S. 68). Ihre Aufgabe sei, das Wesen und die Funktionen des menschlichen Organismus aus dem Begriff des Lebens ohne Bezug auf den Geist zu erkennen (Fichte, 1844a, S. 68). Indem dem Leben jedoch durch den Geist »eine eigenthümliche, völlig neue Stufe des Daseins hinzugefügt wird« (Fichte, 1844a, S. 68), sei die Anthropologie im Unterschied zur Physiologie als ein Teil der Philosophie des Geistes zu verstehen, sodass sie dasjenige Gebiet, welches sie gemeinsam mit der Physiologie hat, nämlich die Organe und Funktionen des menschlichen Organismus, eben aus dem Prinzip des Geistes, d. h. als die »organischen Vorbedingungen des Geistes« (Fichte, 1844a, S. 67) bzw. als »Werkzeuge oder Verwirklichungsmittel des Geistes und Bewußtseins« betrachte (Fichte, 1844a, S. 68). Die Physiologie reiche nur bis zur »höchste[n] Erscheinung« des Lebens, nämlich bis zur Sensibilität hin, jedoch kenne sie den Geist nicht (Fichte, 1844a, S. 68). In diesem Sinne sei sie der »Schlußpunkt der Naturphilosophie und Uebergangsmoment in die Lehre vom Geist« (Fichte, 1844a, S. 70). Die Bezeichnung »Anthropologie« sei demnach insofern gerechtfertigt, als sie zwischen 128

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einer naturphilosophischen und einer geistesphilosophischen Betrachtung des Menschen unterscheidet. Es lässt sich aus dem Vorhergehenden feststellen, dass Fichte eine Philosophie des menschlichen Geistes im Sinn hat, die den Menschen von seiner natürlichen Unmittelbarkeit bis hin zu seinen höchsten geistigen Betätigungen umfassen sollte. Zu diesem Zweck teilt Fichte diese Philosophie des menschlichen Geistes in eine philosophische Anthropologie und eine philosophische Psychologie ein. Die Eigentümlichkeit jeder dieser Disziplinen sollte anschließend betrachtet werden. 3.2.2.3.1 Die philosophische Anthropologie als Lehre der Wesensapriorität des menschlichen Geistes Nach den vorigen allgemeinen disziplinären Bestimmungen stellt sich nun die Frage, was es eigentlich bedeutet, dass die philosophische Anthropologie die Lehre des menschlichen Geistes in seiner natürlichen Unmittelbarkeit und Bestimmtheit sei. Es ist durch die oben erwähnte Abgrenzung von der Physiologie schon deutlich geworden, dass die Akzentsetzung der Anthropologie auf die Natur nicht eine empiristische Betrachtung des menschlichen Körpers impliziert, sondern eher den Standpunkt aufstellt, auf welchem jede Behauptung über den menschlichen Geist gebildet und untermauert wird. Jene Akzentsetzung bedeutet demnach, dass die philosophische Anthropologie als »eine naturwissenschaftliche Untersuchung über das menschliche Seelenwesen« zu verstehen sei (Fichte, 1876a, S. XV). Was dies nun wiederum bedeutet, verdeutlicht Fichte (1876a) daraufhin, indem er behauptet, dass sein Werk, nämlich die Anthropologie, keine allgemeinen Prinzipien voraussetze, sondern darauf abziele, »auf dem langsamen Wege analytischer, mit Kritik durchflochtener Erforschung der Thatsachen … dies alles erst festzustellen« (S. XV). Dementsprechend geht die philosophische Anthropologie von der Erfahrung aus und, unter der Annahme der Grundtatsache des engen Verhältnisses zwischen Geist und Organismus, betrachtet den menschlichen Geist in seinem natürlichen Dasein, um naturwissenschaftlich, d. h. aus dem Gegebenen urteilend und schließend, sich zur Erkenntnis seines ursprünglichen Wesens zu erheben. Konkret bedeutet dies, dass die Erkenntnis der Naturbestimmtheit des Geistes einerseits die Umwelt und den Organismus, andererseits sowohl die Gemüts- und Bewusstseinserscheinungen des Organismus als auch den Ausdruck und die Betätigungen des indiviSubstantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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duellen Geistes umfassen sollte. Fichte (1844a) demarkiert dieses Untersuchungsgebiet mit folgenden Worten: Der erste Theil der Lehre vom Geiste hätte demnach die Naturbestimmtheit desselben nach allen ihren Seiten zu erkennen: ebensowohl sein Preisgegebensein an eine äußere Natur 115, … wie die Präexistenz des Geistes in einer eigenen innern, damit zugleich subjektiv werdenden Natur, indem einestheils die organische Bestimmtheit in bleibenden oder wechselnden Gefühlsstimmungen in’s Bewußtsein tritt 116, … indem anderntheils aber auch der Geist in jedem Menschen nur auf individuelle Weise, nach angeborenem geistigen Unterschiede, als Genius gegenwärtig ist (S. 72–73).

Mit diesen Worten sind demnach die Tatsachen angegeben, mit denen es die philosophische Anthropologie bei ihrer Untersuchung des Wesens des menschlichen Geistes zu tun hat. Insbesondere durch den Hinweis auf die Präexistenz und auf die Gegenwart des Genius im leiblichen Menschen wird es deutlich, dass sich Fichte vornimmt, durch eine aposteriorische Untersuchung einen Beweis des apriorischen Wesens des Menschen zu leisten. Der aposteriorische Beweis der Wesensapriorität des menschlichen Geistes macht somit die Aufgabe der philosophischen Anthropologie aus. Solche Bestimmungen der Umwelt und des Organismus erstrecken sich »von den geographischen, klimatischen, lokalen Unterschieden an, bis zu den begünstigenden oder hemmenden Körperbedingungen, welche in den Racenunterschieden, wie überhaupt in allen ererbten leiblichen Anlagen gegeben sind« (Fichte, 1844a, S. 72). Fichtes Begriff des Genius, der den persönlichen Geist eines jeden Menschenwesens ohne Ausnahme bezeichnet und der die Grundlage seiner humanistischen Gemeinschaftstheorie bildet, ist das unzerstörbare Korrektiv jedes Versuches, aus solchen kontingenten Bestimmungen essenzielle Eigenschaften zu machen, sodann aus ihnen irgendwelche Werturteile zu bilden und irgendwelche rassistische »Ethik« zu begründen. Der scharfe Blick des zeitgenössischen Forschers ist dazu geschult, dem rassistischen Denken in allen ihren keimhaften Formen auf der Spur zu sein und so ist es berechtigt, wenn das Auftauchen des Wortes »Rasse« den Forscher in Alarmzustand versetzt. In dem ganzen Kontext der Philosophie Fichtes, der schon 1851 sogar für die Tierrechte bzw. für die Aufnahme der »Pflichten gegen die Tiere« in die Ethik plädiert hatte (vgl. Fichte (1851, S. 19–20, § 5)), verbietet jedoch ihr christlichhumanistischer Geist, sowohl aus ihr durch willkürliche List eine rassistische »Ethik« zu rechtfertigen als auch in sie durch voreingenommenen Blick den Keim des rassistischen Denkens hineinzudeuten. 116 Solche Gemüts- und Bewusstseinserscheinungen des Organismus sind beispielsweise »die leibliche Constitution als Temperament, die bleibenden Unterschiede des Geschlechts und die sich ablösenden der Lebensalter in charakteristischen Grundstimmungen der Individualität, endlich das allgemeine oder vorübergehende körperliche Befinden in bestimmten Lebensempfindungen« (Fichte, 1844a, S. 73). 115

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Zur Erläuterung dieser Zielsetzung ist es zunächst wichtig, darauf hinzuweisen, dass, wenn Fichte in diesem Zusammenhang von der Apriorität des Geistes spricht, er freilich ein von der logisch und formal geprägten Philosophie abweichendes Verständnis vom Apriorischen besitzt. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine dilettantische Verwendung jenes Begriffs, sondern eher um dessen ontologische Umwandlung. 117 »[W]as man sonst das Apriorische im Geiste genannt«, schreibt Fichte (1876a), »hat eine viel realere wie umfassendere Bedeutung« (S. 15, § 5). Fichte versteht die Apriorität des Geistes im Sinne seiner Präexistenz, d. h. im Sinne seiner latenten und vorempirischen Existenz. Dementsprechend sei »der Geist seiner Substanz nach … sich selbst seinem Sinnenleben nach ein Apriorisches, und zwar nicht blos als abstracte Dynamis leerer Geistesformen, Kategorien und Ideen genannt, sondern als real erfülltes, eigenthümlich schöpferisches Wesen, als Genius« (Fichte, 1876a, S. 15, § 5). Gerade dieser nicht mehr abstrakte, leere und negative Begriff des menschlichen Geistes, sondern der reale und positive Begriff des Genius sei »höchstes Resultat der Anthropologie« (Fichte, 1844a, S. 73). Durch den vorigen Hinweis wird demnach ein Teil jener Zielsetzung deutlich. Was den anderen Teil betrifft, nämlich den Anspruch auf einen aposteriorischen Beweis, so ist es zwar selbstverständlich, dass Fichte damit eine erfahrungsgemäße und naturwissenschaftliche Untersuchung meint, aber es scheint immerhin angemessen, hervorzuheben, dass Fichte insofern den Akzent auf diese methodische Maxime setzt, als dadurch der Begriff des Genius »nicht als der schmeichlerische Traum einer idealistischen Hypothese über den Menschen, sondern als Ergebniss nüchternster Forschung sich zeigen« werde (Fichte, 1876a, S. 15, § 5). Diese starke Betonung wird aus dem damaligen Kontext verständlich, zumal – wie schon dargestellt – die menschliche Seele aus der Wissenschaft und der Philosophie gerade im Namen der Wissenschaftlichkeit als ein Traum, ein Gespenst, eine Schimäre usw. verbannt wurde. In diesem Sinne ist das Interessante des Ansatzes Fichtes, dass er keinen die »unvermeidlichen« und »belästigenden« Fragen der Vernunft – wie Kant sagen würde – ausschließenden Wissenschaftsbegriff vertritt, sondern stattdessen sich von jener schon früh eingeschlagenen Grund-

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Zu Fichtes Begriff des Apriori vgl. Udert (1963).

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richtung seines Denkens leiten lässt, Wissenschaft, Philosophie und Religion zu versöhnen. Beachtet man nun, welche die besonderen Bestimmungen des Begriffs des Genius sind, so ergeben sich die Momente des anthropologischen Beweises Fichtes. Wenn Fichte (1876a) den menschlichen Geist als ein »real erfülltes«, »eigenthümlich schöpferisches« und »apriorisches« Wesen definiert (S. 15, § 5), so bedeutet dies aus einem systematischen Gesichtspunkt, »dass es hauptsächlich drei Begriffe sind, der der Substantialität, der Individualität, der Unvergänglichkeit, welche diesen Beweis ausmachen« (S. 17, § 6). Die Eigentümlichkeit dieses Beweises besteht jedoch darin, dass »es nicht dreierlei abgesonderte Argumentationen« seien, »welche jenen drei Begriffen entsprechen, sondern eine einzige ungetheilte, allmählich sich bildende und immer reicher sich ausführende Beweisführung« (Fichte, 1876a, S. 18, § 6). Es wird sich weiter unten zeigen, dass Fichte jenen dritten Begriff der Unvergänglichkeit wiederum in die Begriffe der Präexistenz und der Fortdauer unterscheidet, sodass sich insgesamt vier Momente des Beweises ergeben, nämlich die Substantialität, die Individualität, die Präexistenz und die Fortdauer. Diese drei/vier Momente des anthropologischen Beweises lassen sich so verstehen, dass das nachfolgende in dem vorhergehenden schon enthalten ist, sodass die Beweisführung eigentlich in einer allmählichen Entfaltung und Aufdeckung des Begriffs des Genius besteht. Gerade dieser Begriff, nämlich der Begriff des Genius als ein substantielles, individuelles, präexistentes und fortdauerndes Wesen, macht die Grundlage und die Voraussetzung der philosophischen Psychologie aus, die folglich aufzeigen soll, wie sich der so bestimmte Genius zum und im Bewusstsein entwickelt. Angesichts der Tatsache, dass sich die damalige Psychologie bloß mit den Tatsachen des Bewusstseins, d. h. »nur mit der einen Hälfte der Seelenexistenz sich beschäftigt« und begnügt habe (Fichte, 1859, S. 72, § 46), verleiht Fichte diesem grundlegenden Beweis großes Gewicht, denn er bietet einen Seelenbegriff, der sowohl die bewusstlose als auch die bewusste Existenz, sowohl die organischen als auch die geistigen Wirkungen der Seele umfasst. Nur aus diesem organisch-metaphysischen Seelenbegriff könne die Psychologie das Bewusstsein und seine Entwicklung erklären. 118 In diesem Zusammenhang ist auch auf Carus hinzuweisen, der sich ebenso eine Erweiterung des Seelenbegriffs vornimmt. Dazu vgl. Carus (1831, 1846).

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Aus dem Gesagten wird deutlich, dass, wenn Fichte die philosophische Anthropologie als die Lehre der Naturbestimmtheit des menschlichen Geistes definiert, er damit eine Lehre der Wesensapriorität des menschlichen Geistes aus der wissenschaftlichen Betrachtung seiner natürlichen Existenz meint. Was diese ganze Untersuchung leisten sollte, ist ein erfahrungsgemäßer Beweis der Substantialität, Individualität, Prëxistenz und Fortdauer des menschlichen Geistes. Dieses Resultat nimmt sodann die Psychologie auf, um die Entwicklungsgeschichte der Seele darstellen zu können. Was eine auf diesem Seelen- und Geistesbegriff beruhende philosophische Psychologie im Besonderen leisten sollte, wird anschließend betrachtet. 3.2.2.3.2 Die Psychologie als Lehre des bewusstwerdenden, bewussten und selbstbewussten menschlichen Geistes »Wer ein Werk wie die Psychologie hinterläßt, hat nicht vergeblich gelebt« (Ehret, o. J.-b, S. 21), schreibt der sechsundsechzigjährige Fichte am 27. Oktober 1862 in seinem Tagebuch nieder. 119 Einige Monate zuvor, am 16. Februar, war seine Frau, Wilhelmine, gestorben, sodass er am 16. März die tiefempfundene Tatsache konstatieren musste, dass ihm »[d]ie wahren Lieben und Geliebten … vorangegangen [sind]!« (Ehret, o. J.-b, S. 16). Außer der durch das ganze Jahr hindurch begleitenden Wehmut hatten Gesundheitsprobleme und eine am 14. August beim Spaziergang in Niedernau erlittene Knieverletzung dazu beigetragen, dass 1862 ein »verhängnisvolle[] Jahr[]« war (Ehret, o. J.-b, S. 22), wie Fichte am Silvester zurückblickend und abwägend in seinem Tagebuch notiert. Unter diesen Umständen musste er sich nur langsam zur Arbeit an der Psychologie zurückHermann Ehret transkribierte selektiv Stellen der Tagebücher von Immanuel Hermann Fichte, welche er nach den von Fichte darin erwähnten Personen zusammenstellte. Diese immerhin nützlichen Transkriptionen liegen im Nachlass von Hermann Ehret in der Rudolf Steiner Bibliothek in Stuttgart (vgl. Ehret (o. J.-a, o. J.-b, o. J.-c)). Im Nachlass von Immanuel Hermann Fichte, der in der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart liegt, sind jedoch drei voluminöse Handschriftenbände seiner Tagebücher zugänglich, welche insgesamt die Jahre von 1854 bis 1878 umfassen (vgl. Fichte (o. J.-b, o. J.-c, o. J.-d)). Diese für die Deutung und Erschließung von Fichtes Werk und Leben so wichtigen Dokumente sind erstaunlicherweise bis heute nicht ediert worden – dasselbe gilt beispielsweise für den Briefwechsel mit Charlotte von Kalb, Moriz Carrière und Christian Hermann Weiße –, was zu dem wegen des Mangels an einer Gesamtausgabe, geschweige denn einer historisch-kritischen Ausgabe, schon prekären Zustand der Forschung beiträgt. Zu den vergeblichen Bemühungen Ehrets um eine historisch-kritische Ausgabe der Schriften Fichtes vgl. Ehret (1966).

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wenden 120, zumal – an die Worte seiner Mutter sich erinnernd – »kein Gedeihen« stattgefunden habe (Ehret, o. J.-b, S. 22). Er habe das Jahr zwar »in trüber Stimmung« geschlossen, jedoch sich wünschend, »Gott erfrische in mir den Lebensmut und mache, daß ich noch in Seinem Dienste etwas zu leisten vermöge« (Ehret, o. J.-b, S. 22). Nach einigen Monaten schließt Fichte die Psychologie ab und bekennt sich am 18. Juli 1863, »noch immer mitten im Schaffen und Wirken« zu stehen (Ehret, o. J.-b, S. 25). 121 Genauso wie er nach dem Tod seiner Mutter mitten im Schmerz eine »emporflammende[] Begeisterung für das Edle und Tiefe« erfuhr, welche ihm einen Horizont für seine spätere Entwicklung eröffnet zu haben schien (Ehret, o. J.-d, S. 10), sucht Fichte nun, in einer ähnlichen Situation sich befindend 122, mitten in seiner »trüben« 123 und »wehmütigen« 124 Stimmung nach einem erneuerten Lebensmut, den er letztendlich in der »würdigen« Arbeit findet. Noch deutlicher drückt Fichte diese Entschlossenheit ungefähr ein halbes Jahr später aus, indem er am 16. Februar 1864 schreibt: »Zweiter Jahrestag des Todes meines geliebten Mütterleins. Ihr Verlust mir fühlbarer als je. Einzig und allein in würdiger Arbeit den höchsten Aufgaben der Menschheit zugewandt, finde ich Ersatz! Und so soll es bleiben« (Ehret, o. J.-b, S. 28). Und so blieb es, denn eben eine »den höchsten Aufgaben der Menschheit zugewandt[e]« Arbeit macht die Psychologie – aber auch sein ganzes Werk – aus, sonst könnte man nicht nachvollziehen, warum jemand, der so ein Werk hinterlässt, »nicht vergeblich gelebt« habe (Ehret, o. J.-b, S. 21). Deutlich wird durch diese kursorischen Blicke ins Innere von Das ganze Jahr zurückblickend schreibt Fichte am Silvester 1862: »An der Psychologie habe ich zu arbeiten wieder angefangen, und neuen Mut zur Vollendung dieses mir wenigstens wichtig erscheinenden Werkes erhalten« (Ehret, o. J.-b, S. 22). 121 »Ein würdiges Geisteswerk, die ›Psychologie‹, wird gerade gedruckt, und so darf ich mir bekennen, daß ich noch immer mitten im Schaffen und Wirken stehe« (Ehret, o. J.-b, S. 25). 122 Fichte selbst bringt beide Erfahrungen in Verbindung, indem er am 29. Januar 1863 schreibt: »Todestag meiner geliebten Mutter vor 44 Jahren. Weit ab verschlagen von diesen Erinnerungen. Doch wurzeln sie tief in mir und verbinden sich mit den Erinnerungen an meine geliebte Frau« (Ehret, o. J.-b, S. 23). 123 Beispielsweise schreibt Fichte am 31. Dezember 1862: »Letzter Tag dieses verhängnisvollen Jahres, welches ich in trüber Stimmung schließe« (Ehret, o. J.-b, S. 22). 124 Beispielsweise schreibt Fichte am 10. September 1862: »Wehmütige Stimmung, worin sich gewissermaßen mein ganzes voriges und künftiges Leben (wie lange wird letzteres noch dauern?) zusammendrängt. Wie lange noch werde ich hier das Grab meiner Teuren besuchen können!« (Ehret, o. J.-b, S. 20). 120

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Fichte, mindestens dass seine philosophischen Bemühungen beispielsweise um die Unsterblichkeit der Seele keine auf einem allwissenden und absoluten Standpunkt beruhende fertige Theorie, sondern Versuche eines suchenden und strebenden Menschen darstellen. In der Tat konstatiert Fichte gerade in jenem schweren Jahr, dass er sich beispielsweise um eine auf das Individuum gerichtete göttliche Vorsehung noch nicht habe überzeugen können, was er als eine vorübergehende, noch zu füllende Lücke in seiner Philosophie bezeichnet. 125 Abgesehen von der besonderen Frage nach der Vorsehung und von Fichtes philosophischer Antwort darauf zeigt dieser Moment des Zweifelns jedenfalls, dass Fichte über Fragen wie die nach der Persönlichkeit Gottes oder nach der Unvergänglichkeit der Seele nicht zu belehren und zu predigen beabsichtigt, als ob er, auf einem privilegierten Standpunkt stehend, im Besitz der absoluten Wahrheit sei, sondern dass er durch seine philosophische Tätigkeit nach der Untermauerung und Bekräftigung seiner eigenen Überzeugungen sucht bzw. für die Wahrheit »kämpft«: »[D]ie Wahrheit muss eine erkämpfte, dem Zweifel abgerungene bleiben. Ihre Burg kann nicht durch andere, mit den Leitern, die fremde Geister dazu uns herleihen, sondern nur durch eigene Kraft erkämpft werden« (Fichte, 1869b, S. 5). Inwiefern ist nun die Psychologie ein Werk, das zur Überzeugung in der Ewigkeit des menschlichen Geistes sowie »zum Nutzen und zur geistigen Erhebung der Menschen« 126 beiträgt (Ehret, o. J.-b, S. 27)? Seitdem Fichte um 1832 die Hauptidee einer Psychologie konzipierte, war es ihm klar, dass – jener existentiellen Bestimmung seines ganzen anthropologisch-psychologischen Projektes folgend – der Weg zur Bekräftigung der Überzeugung in der Ewigkeit des menschlichen Geistes, mithin zur theoretisch-praktischen Überwindung der Am 16. November 1862 schreibt Fichte: »Ich empfinde freilich als eine wichtige Lücke meiner religiösen Trostgründe, indem ich mich nicht von einer göttlichen Vorsehung überzeugen kann, welche in das Einzelne, Kleine, oft aber auch höchst Beschwerliche und Peinvolle des Individuums und seiner Schicksale eingreift. Mein Trost ist, daß die Ewigkeit unser ist, und daß in diesen überschwenglich großen Gedanken alle kleinen Erdensorgen untergehen« (Ehret, o. J.-b, S. 21). Zu seiner Ansicht über die Frage nach der individuellen und universalen Vorsehung vgl. beispielsweise Fichte (1859, S. 206–232, §§ 114–128, 1869a). 126 So lautet Fichtes am Silvester 1863 ausgesprochener Wunsch für das Jahr 1864: »Möge Gott mir meine Gesundheit und Geistesfrische erhalten, um noch Manches leisten zu können zur Ehre Gottes und zum Nutzen und zur geistigen Erhebung der Menschen!« (Ehret, o. J.-b, S. 27). 125

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Zeitlichkeit, ein erfahrungs- und entwicklungsgemäßer sein sollte. In diesem Sinne bestimmt Fichte die philosophische Psychologie disziplinär – wie oben erwähnt – als die Lehre des menschlichen Geistes in seiner Entwicklung zum und im Bewusstsein. Nur eine genetische Betrachtung der Entwicklung des Bewusstseins sei demnach imstande, schrittweise und überzeugungskräftig jene Bewusstwerdung der eigenen Ewigkeit aufzuzeigen. 127 Hier wird dasselbe neuplatonische Motiv spürbar, das man laut Beierwaltes bei Schellings Konzeption einer Geschichte des Selbstbewusstseins finden kann. Dabei handele es sich um die Entwicklung des Denkens durch verschiedene Epochen zum Selbstbewusstsein des Absoluten. Diese Konzeption Schellings zeige laut Beierwaltes eine »Affinität« mit Plotins Idee der Selbsterkenntnis durch die Umwandlung des dianoetischen ins noetische Denken. »In this act of noōthēnai—an immanent transcending of the soul into a higher, more intensive form of being and unity—the unconscious nous, operating in soul and ›not wholly fallen‹ (that is, absolutely remaining in itself), is made conscious of itself. Thereby the soul in itself is taken into the selfthinking of the absolute nous, in its self-illumination as the identity of thinker and thought, of thinking and being, unified with itself and these modes of thinking« (Beierwaltes, 2002, S. 395). Eine ähnliche Entwicklungsgeschichte des erkennenden Bewusstseins hatte sich Fichte – wie noch weiter unten dargestellt wird – schon 1833 in seinem Das Erkennen als Selbsterkennen vorgenommen. Nun setzt Fichte in seine Philosophie ein entscheidendes Korrektiv ein. In seinen Werken macht er nämlich mehrmals auf eine Übereilung aufmerksam, die oft bei anderen Versuchen einer Geschichte und einer Selbstbegründung des Bewusstseins zu finden ist. Dabei bestehe der Grundfehler in der Annahme, dass das subjektive Denken in seiner Entwicklung zum Selbstbewusstsein die Bedingtheit der Subjektivität völlig übersteigen und zum absoluten Denken werden könne. Gerade diese Annahme liege den pantheistischen und panlogistischen Systemen zugrunde, die vorgeben, auf einem »theozentrischen« Standpunkt zu stehen und im Besitz eines absoluten Wissens zu sein. In diesem Zusammenhang ist die Kritik Senglers an Fichte sehr interessant. Sengler – bei dem sich übrigens 1870 in Freiburg Gideon Spicker habilitiert (Schwaetzer, 2006, S. 102) – unterstellt Fichte nämlich eine »Confundirung« der Idee des menschlichen Geistes mit dem Absoluten. Laut Sengler (1837) habe Fichte den »Grundirrthum« begangen, dass er »von der Selbsterkenntniß des subjectiven Geistes zu Gott über[geht], statt zur Selbsterkenntniß des objectiven Geistes und durch die Selbsterkenntniß dieses zur Erkenntniß Gottes überzugehen« (S. 367). Insofern Fichte vorgegeben habe, in jenem Gott die Einheit von Denken und Sein, von Geist und Natur, erfasst zu haben, »mußte er ebenfalls dem Pantheismus anheimfallen und sollte es auch die sublimirteste und gesteigerste Form desselben seyn« (Sengler, 1837, S. 366). Gegen diese Unterstellung protestiert Fichte in einem »Sendschreiben« an Sengler dahingehend, dass sie im Endeffekt aus einer inkorrekten Auffassung seines Ansatzes hervorgehe. Fichte (1838c) identifiziert als Hauptargument der Polemik Senglers, dass sein System angeblich auf eine »Substitution des Logischen für das Wirkliche« hinauslaufe (S. 40). Nun weist Fichte (1838c) darauf hin, dass er schon vor Jahren als einer der ersten auf das »Verabsolutiren des Logischen« als den Grundfehler »der Hegelschen Lehre« aufmerksam gemacht habe, sodass er in Hinsicht auf Senglers Unterstellung eben desselben

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Um genauer verstehen zu können, worin diese Entwicklung des Bewusstseins besteht und was eigentlich die philosophische Psychologie leisten sollte, gilt es nun, kurz auf eine wesentliche Bestimmung des Entwicklungsbegriffs Fichtes hinzuweisen. Als ein fundamentales Resultat der Anthropologie für die Psychologie gilt der Beweis der Existenz einer vorbewussten Region der Seele, denn eben der Erfolg ihrer Aufgabe hängt von dieser Annahme ab. Angesichts des Zustandes der damaligen Psychologie, welche sich bloß auf das Sinnenleben und -bewusstsein beschränkt habe, hält es Fichte für einen »bedenklichen Umstand«, dass sie »nur mit der einen Hälfte der Seelenexistenz sich beschäftigt und von ihr Kunde genommen habe« (Fichte, 1859, S. 72, § 46). Aus diesem Grund ist es für Fichte ein Desiderat der Psychologie, den Seelenbegriff um ihre apriorische Hälfte zu erweitern, wenn überhaupt »das ganze Menschenwesen und die Gesammtheit seiner Bewusstseinsmöglichkeiten« (Fichte, 1864a, S. XII, § X) adäquat und befriedigend erklärt werGrundfehlers rhetorisch fragt: »Und ich sollte kecklich daherfahrend so unversehens in die eigene Schlinge gefallen sein?« (S. 41). Sollte die Kritik Senglers treffen, so müsste Fichte darin »die lahmste Halbheit und die verblendetste Inkonsequenz erkennen, für welche kein Wort des Tadels zu hart wäre« (Fichte, 1838c, S. 40). Nun wiederholt Sengler (1847) nach einigen Jahren dieselbe Unterstellung eines angeblichen »gesteigerte[n]« bzw. »de[s] gesteigertste[n] Pantheismus« (S. 72). Fichte (1846b) musste demnach in Die speculative Theologie oder allgemeine Religionslehre auf dieses Missverständnis eingehen: »Sengler, der den pantheistischen Gottesbegriff verwirft, spricht dennoch manchmal so, als wenn er in Gottes innerstem Wesen seinen Siß und sein Schauen zu haben vermeinte, nicht bloß seine Idee, durch die Weltgegebenheit vermittelt, zu denken vermöchte. Die Schuld dieser Unklarheit liegt darin, weil die Begründungen und Beweise für seine Säße bei ihm nicht aus objectiv realer Vermittlung, sondern aus der Kritik fremder Ansichten geschöpft sind, wie denn überhaupt seine bisherigen, übrigens sehr verdienstlichen, Leistungen sich nur in diesem Kreise bewegen. – Sobald dagegen der pantheistische Begriff Gottes aufgehoben ist, so entstehen ganz neue Fragen über das Verhältniß der verschiedenen Stufen des Erkennens zu ihm, und hier hätte Sengler im Interesse der eigenen Weltansicht wohlgethan, unserer Lehre von der absoluten Unanschaubarkeit und Unvorstellbarkeit des realen Wesens Gottes (dessen Wirkungen freilich anschaubar und das einzig wahrhaft Anschaubare sind) im Unterschiede vom Denken der Idee Gottes, einige Beachtung zuzuwenden. So viel ich selbst urtheilen kann, besteht in der Sache selbst keine wesentliche Differenz zwischen ihm und mir, wohl aber in der Weise ihrer Begründung, und hier hat er sich über die meinige noch nicht klar genug verständigt« (S. XXIV, Fn.). Obwohl das Erscheinungsjahr des Buches Die speculative Theologie oder allgemeine Religionslehre 1846 ist, zitiert Fichte darin das 1847 erschienene Buch Senglers. Die Polemik zwischen Fichte und Sengler findet vor dem Hintergrund der von Schelling durch seine Cousin-Vorrede ausgelösten Debatte um die negative und die positive Philosophie statt (vgl. Fn. 162). Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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den sollten. Fichte legt so großes Gewicht auf den Begriff der Apriorität der Seele, weil er der Auffassung ist, dass Entwicklung nur aus vorempirischen Anlagen möglich und erklärbar sei. Diesem Entwicklungsbegriff zufolge sei das empirisch Erste nicht dem wesenhaft Ersten gleich, d. h. nicht Ursache der weiteren Entwicklung, sondern schon Wirkung eines sich verwirklichenden apriorischen Wesens. Von diesem Entwicklungsbegriff ausgehend, welcher auf der durch die philosophische Anthropologie begründeten Annahme der Wesensapriorität des menschlichen Geistes beruht, lässt sich Fichtes Behauptung genauer verstehen, dass sich der menschliche Geist aus seinen vorempirischen Anlagen entwickele, bis er letztendlich sich selbst bewusst wird. Damit ist ein Entwicklungsprozess angedeutet, welchen Fichte summarisch mit folgenden Worten beschreibt: Was in der Einheit seines vorbewussten Wesens als blose Anlage ungesondert ruhte, tritt durch den Bewusstseinsact unterschieden und als ein besonders Wirkendes hervor, wird aber damit zugleich in die bewusste Macht des Geistes gegeben. Und dieser Process, den wir die »Entwicklungsgeschichte« des Bewusstseins nennen, hat sich zu vollenden, bis alle Anlagen des Geistes in den bewussten Besitz des »Ich« gelangt sind, sein blindes Sichauswirken zur freibewussten Selbstbestimmung sich erhoben hat (Fichte, 1864a, S. XIII–XIV, § XIII).

Bewusstseinsentwicklung setzt laut Fichte immer vorempirische Anlagen voraus und bringt diese vom Zustand der Idealität in den Zustand der Wirklichkeit. Die Möglichkeit eines solchen Selbstverwirklichungs- und Selbstbewusstwerdungssprozesses liegt demnach in jener Idealität und Potenzialität des Geistes, der laut Fichte die »reichste[] und am vielseitigsten ausgestattete[] Potenzialität« sei (Fichte, 1864a, S. 226, § 113). Aus diesem Grund behauptet Fichte, dass die Bewusstseinsentwicklung letztlich im »Hervortreten seiner Potenzialität in dies Bewusstsein« (Fichte, 1864a, S. 226, § 113) bzw. »in der vollkommenen Verwirklichung der idealen Anlagen« bestehe (Fichte, 1864a, S. 232, § 115). Angesichts dieser Grundeigenschaft des betrachteten Gegenstandes müsse die philosophische Psychologie laut Fichte eben als eine wissenschaftliche Entwicklungsgeschichte des Bewusstseins betrachtet werden. Methodische Maxime sowie Kanon der Kritik Fichtes ist – wie schon hingewiesen – das Prinzip, dass jede Einteilung, jede Gliederung, jeder Schematismus, sodann jede Kritik der Psychologie »nur aus dem Wesen und der eigenen Gliederung des betrachteten Gegen138

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standes hervorgehen kann« (Fichte, 1864a, S. 227, § 114). »[D]ie echte Speculation und Methode« solle »sich nur hineinverständigen in die objective Natur des Gegenstandes und diese für sich selber sprechen lassen« (Fichte, 1864a, S. 228, § 114). Was spricht nun laut Fichte die objektive Natur des menschlichen Geistes in Bezug auf seine Bewusstseinsentwicklung aus? Sie sagt, dass die Entwicklung der bewussten Tätigkeit des menschlichen Geistes »an der Wechselwirkung mit dem Andern, Realen« ausgelöst werde und dadurch er als »Subjekt« ins Verhältnis mit einem ihm gegenüberstehenden »Objekt« trete (Fichte, 1864a, S. XXIV, § XXV). Dieses Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt könne verschiedene Formen annehmen, welche sich in drei »Grundunterschiede bewusster Thätigkeit« unterscheiden lassen, nämlich das Erkennen, das Fühlen und das Wollen (Fichte, 1864a, S. XXIV, § XXV). 128 Diese Hauptgebiete der seelischen Tätigkeit des menschlichen Geistes laufen nun laut Fichte (1864a) eine parallele Entwicklung durch, indem jede derselben »sich über die Form jener Unmittelbarkeit hinaus zum eigentlichen (bewussten) Erkennen, Fühlen und Wollen« entwickele (S. 229, § 115). In jedem dieser drei Gebiete mache sich demnach dieselbe »Grundeigenschaft des Geistes« geltend, die darin besteht, »seine eigenen Zustände zu durchleuchten, d. h. seiner bewusst zu werden und so seinen Inhalt vor sich auszulegen und dadurch allmählich immer tiefer seiner inne und mächtig zu werden« (Fichte, 1864a, S. 231, § 115). Insofern der Bewusstseinsprozess, welchen der Geist in den drei Gebieten seelischer Tätigkeit durchläuft, strukturell eben derselbe ist, lässt sich eine gleichmäßige Stufenfolge der Bewusstseinsentwicklung feststellen. »Dieser Parallelismus einer dreifachen Entwicklungsreihe ist das Eigenthümliche unsers methodischen PrinFichte (1864a) grenzt sich ausdrücklich von der Vermögenslehre der »KantischFries’schen Schule« ab, der zufolge die Seele drei nebeneinanderstehende Grundvermögen besitze, nämlich das »Erkenntniss-, Gefühls- und Begehrungs- (Bestrebungs-) Vermögen« (S. 225, § 112). Laut Fichte (1864a) sei es berechtigt, vom Vermögen – als Potenzialität – des Geistes zu sprechen, sofern dies nicht impliziert, »eine Mehrheit fertiger Vermögen anzunehmen, welche gleich festen Formen nebeneinander in Bereitschaft stehen und unabhängig von einander in Thätigkeit gerathen können« (S. 226, § 113). Demgegenüber ist Fichte der Auffassung, Erkennen, Fühlen und Wollen seien »unabtrennliche Erfolge von der Grundeigenschaft (dem Grundvermögen) des Geistes, jenen Lichtzustand in sich zu erzeugen, den wir ›Bewusstsein‹ nennen« (Fichte, 1864a, S. 227, § 113). In diesem Sinne sei der Geist »nur als erkennender, fühlender, wollender in untheilbarer Einheit dieses Dreifachen« und jene »Vermögen« seien eher als »Thätigkeitsweisen« zu verstehen (Fichte, 1864a, S. 227, § 113).

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cips« (S. 229, § 115), schreibt Fichte (1864a) in seiner Psychologie und macht damit auf die Originalität seines Ansatzes aufmerksam. 129 Diese zieht demnach die allgemeine Bewusstseinsentwicklung in Betracht und unterscheidet darin »die drei Stufen des Bewusstwerdens, des Bewusstseins, des Selbstbewusstseins« (Fichte, 1864a, S. 231, § 115). 130 Die Frage, worin jede dieser Stufen besteht, beantwortet Fichte (1864a) summarisch mit folgenden Worten: Auf der ersten Stufe erwacht er [Geist] zu sich selbst und ergreift sich in seiner (sinnlichen) Unmittelbarkeit. Auf der zweiten gibt er sich unwillkürlich den Gestaltungen der eigenen subjectiven Welt hin, die sich vor seinem Bewusstsein entfaltet. Auf der dritten endlich gewinnt er die Form des freien, in seinen Gegensätzen waltenden Selbst, wird er Geist als solcher, indem er jenen zunächst nur unmittelbaren Inhalt des Bewusstseins wieder zum Gegenstande seiner Beherrschung und Durchbildung macht. Er objectivirt denselben, verhält sich frei zu ihm, geht also, formell ausgedrückt, aus der Stufe des (blosen) Bewusstseins in die des Selbstbewusstseins über (S. 231, § 115).

Die weiterführende Aufgabe der philosophischen Psychologie besteht darin, aufzuzeigen, wie diese – abstrakt und schematisch aufgefasst an sich unwahre – Bewusstseinsentwicklung konkret am Erkennen, am Fühlen und am Wollen nach ihren jeweiligen »eigenthümlichen Wesen« sich vollzieht und modifiziert (Fichte, 1864a, S. 232, § 115). Schon 1844 schreibt Fichte (1844a): »So kann der ächt wissenschaftliche, d. h. der objektiven Natur und Entwicklung des Geistes sich anschließende methodische Gang der Psychologie nur darin bestehen, das Erkennen, Fühlen und Wollen für sich selbst darzustellen, aber, weil jedes die gleichmäßige Stufenfolge durchläuft, und auf jeder einen dem andern entsprechenden Ausdruck gewinnt, sie in einer dreitheiligen, parallelen Reihe durchzuführen« (S. 75). Die Idee der parallelen Entwicklungsreihen wurde interessanteweise in England von John Daniel Morell, einem Studenten von Fichte in Bonn, aufgenommen. Morell, der in seinen Elements of Psychology die hier angeführte Stelle auch zitiert (vgl. Morell (1853, S. 64–65, Fn.)), wird von Fichte (1864a) in seiner Psychologie erwähnt: »Uebrigens hat sich diesen Gedanken einer parallelen Entwickelungsreihe für die methodische Behandlung der Psychologie ein englischer Denker, J. D. Morell, bereits angeeignet und mit Selbständigkeit ausgeführt in seinen ›Elements of Psychology, part. I.‹ (London 1853)« (S. 231, § 115). 130 Fichte ist selbstverständlich nicht historisch naiv und so ist es ihm klar, dass er an eine bestimmte Strömung anknüpft: »Die allgemeine Idee einer solchen objektiven Entwicklungsgeschichte des Geistes wurde bestimmter zuerst angeregt durch den allgemeinen von Fichte’s Wissenschaftslehre und von der Naturphilosophie ausgehenden Impuls, und Schelling’s ›System des transcendentalen Idealismus‹ (1800) können wir als den ersten, ausgeführtesten Versuch einer solchen genetischen Geschichte des Selbstbewußtseins betrachten« (Fichte, 1844a, S. 89). 129

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An dieser Stelle ist es weder notwendig noch möglich, diese Entwicklungsreihen darzustellen, jedoch gilt es nur noch hervorzuheben, was das allgemeine Resultat ist, nämlich, dass auf der Stufe des Selbstbewusstseins die apriorischen und idealen Anlagen des menschlichen Geistes vollkommen verwirklicht seien, mithin dass sein Wesen selbstbewusste Individualität werde. In diesem Sinne bezeichnet Fichte (1864a) die Entwicklungsgeschichte des Bewusstseins auch als die »Selbstauslegung des Genius« (S. 232, § 115). Indem darin aufgezeigt wird, »wie jener ewige, ideale Gehalt nun auch zu einem zeitlichen und die Zeit erfüllenden (geschichtserzeugenden) zu werden vermöge« (Fichte, 1864a, S. 232–233, § 115), beweise die philosophische Psychologie die Individualität und Ewigkeit des menschlichen Genius. 131 Ein wesentliches Charakteristikum der philosophischen Psychologie Fichtes ist jedoch bisher noch nicht thematisiert worden. Im Vorhergehenden handelte es sich lediglich um Fichtes Ansicht über die Entwicklung des Bewusstseins, sofern sich diese aus der Wechselwirkung zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven vollzieht. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand demnach nur die eigene Potenzialität des menschlichen Geistes sowie die Entwicklung, welche der Geist aus eben dieser Potenzialität im Verhältnis zur Welt hervorbringt und durchläuft. Es handelte sich um den psychologischen Nachweis dessen, »was der Menschengeist aus seinem eigenen apriorischen Vermögen, in Wechselwirkung mit dem Objectiven der Aussenwelt, in seinem Bewusstsein hervorzubringen vermöge« (Fichte, 1864a, S. XXIV, § XXIV). Dieser Nachweis lief darauf hinaus, dass das apriorische Wesen des menschlichen Geistes im Erkennen, Fühlen und Wollen zur selbstbewussten Individualität werde. Was in dieser summarischen Darstellung der Bewusstseinsentwicklung jedoch außer Acht gelassen wurde, ist die von Fichte betonte Tatsache, dass jenes »Erklärungsprincip« nicht für alle Bewusstseinszustände ausreiche (Fichte, 1864a, S. XXIV, § XXIV). Eine nähere Betrachtung der Bewusstseinsentwicklung zeige, dass in bestimmten Fällen »ein neues, aus dem bisherigen Causalnexus der Vorstellungsverkettung nicht mehr erklärbares Element … in dies Bewusstsein« hineintrete (Fichte, 1864a, S. XXIV, § XXIV). Wie ist nun laut Fichte dieses neue Element zu verstehen, wenn es weder aus der Potenzialität des GeisWie es schon angedeutet wurde, betrachtet Fichte die Anthropologie Steffens als eine Folie seiner Theorie des Genius. Dazu vgl. Steffens (1822a, 1822b).

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tes noch aus der Wechselwirkung zwischen Geist und Welt erklärlich sei? Die Beantwortung dieser Frage eröffnet für Fichte ein ganzes Gebiet für die Psychologie, welches bis heute – wenn überhaupt – mit Bedenklichkeit und Verdacht betrachtet wird. Zu jener Frage hat Fichte (1864a) Folgendes zu sagen: Nun aber kann eine eindringende psychologische Beobachtung sich nicht verbergen, dass innerhalb des Rahmens jener allgemeinen und unaufhebbaren Grundverhältnisse es bestimmte Bewusstseinszustände gibt, welche sich durchaus nicht erklären lassen aus der blosen Wechselwirkung von Subject und Object, von Geist und Aussenwelt, bei denen wir vielmehr ein von Innenher auf den Geist und sein Bewusstsein einwirkendes Princip anzunehmen genöthigt sind, wenn wir dem Charakteristischen dieser psychischen Thatsachen gerecht werden wollen; – ein Verhältniss daher, in welchem der Geist nicht mehr als Subject einem Objecte gegenüber sich befindet, sondern nach welchem ein Höheres in ihn eingeht, Eins mit ihm wird und durch ihn sich offenbart (S. XXV, § XXVI).

An dieser Stelle weist Fichte auf bestimmte Bewusstseinszustände des Erkennens, des Fühlens und des Wollens hin, deren Form und Inhalt weder aus der empirischen Natur des Subjekts noch aus dem sinnlichen Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt hervorgehen. Vielmehr verweisen sie laut Fichte auf einen übersinnlichen Ursprung. Das Kriterium für die Anerkennung dieses übersinnlichen Faktors in jenen Bewusstseinszuständen sei die besondere Wirkung, die das Auftreten jedes Inhalts ins Bewusstsein in dessen ganzen Beschaffenheit hat. Die vom Bewusstsein dadurch angenommene Form, welche eben das erwähnte Kriterium ausmacht, sei die allgemeine Form der »Begeisterung« bzw. des »Enthusiasmus« (Fichte, 1864a, S. XXVIII, § XXIX). Damit meint Fichte (1864a) eine Bewusstseinsform, bei welcher sich der menschliche Geist durch die Erfüllung seines Bewusstseins mit einem »aus der übersinnlichen Welt stammenden Inhalt« (S. 736, § 390), mit einer höheren »Geistesmacht«, über sich selbst und die »endlichen Schranken« seiner Existenz erhebe (S. 714, § 368). Bei der Betrachtung solcher Bewusstseinszustände könne man demnach laut Fichte (1864a) ein einwirkendes Prinzip konstatieren, welches er negativ als einen »mehr als menschliche[n] Factor«, positiv als »das göttliche Element« bezeichnet (S. XXVI, § XXVII). Indem die philosophische Psychologie die Entwicklungsgeschichte des Geistes von seinem Sinnenbewusstsein bis zu jener Bewusstseinsstufe des »Hineinwirken[s] des Ewigen ins Bewusstsein« und des begleitenden »Innewerden[s] dieses Verhältnisses« verfolgt (Fichte, 1864a, S. 713, 142

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Begriff und Aufgabe der philosophischen Anthropologie

§ 368), erreiche sie ihren eigentlichen Zweck. In der Tat behauptet Fichte (1864a), dass »die eigentlich entscheidende Leistung der Psychologie« darin bestehe, »[d]ie Stätte der Ueberführung … zu finden, worin der Einschlag des Ewigen ins menschliche Bewusstsein geschieht« (S. 742, § 395). Was die Psychologie dadurch aufzeigt, sei im Endeffekt die Gegenwart des Göttlichen im Menschlichen: Durch die Erkenntniss des eigenen Wesens in ihrem Abschlusse wird der Geist zugleich seines Befasstseins im ewigen, unendlichen Wesen inne: die Anthroposophie wird zur Theosophie. Denn Alles, was in unserm Bewusstsein, in Erkenntniss, Gefühl oder Willen, das Gepräge des Ewigen, unerschütterlich Gewissen und an sich Unveränderlichen trägt, kurz, was sich als das »Mehr als Menschliche« in uns ankündigt, indem es zugleich den menschlichen Geist über sich selbst, über die eigenen endlichen Schranken »begeisternd« erhebt: das ist die mit sich zu Ende gekommene, der »Grenzen der Menschheit« innegewordene Selbsterkenntniss befugt, als Gegenwart und Wirkung eines Göttlichen in uns zu bezeichnen (Fichte, 1864a, S. 714, § 369).

Mit dieser aus Selbsterkenntnis gewonnenen Einsicht über die Gegenwart und Wirkung von göttlichen Kräften im Erkennen, Fühlen und Wollen sei im Gegensatz zu den Resultaten pantheistischer und panlogistischer Theorien die Ewigkeit und Unvergänglichkeit des menschlichen Geistes als Persönlichkeit bzw. Genius erwiesen. Laut Fichte sei demnach diese Bewusstwerdung der Gegenwart des Göttlichen im individuellen Bewusstsein nicht als eine Aufhebung der Individualität durch die Allgemeinheit zu verstehen, als wäre damit die Unwahrheit der Selbstgewissheit erwiesen, sondern vielmehr als eine Bestätigung und Intensivierung des individuellen Wesens, denn »je inniger er sein Selbst ergriffen fühlt von der göttlichen Macht, desto freudiger und zuversichtlicher er dieses Selbstes gewiss wird« (Fichte, 1864a, S. 744, § 396). 132 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Aufgabe der philosophischen Psychologie Fichtes darin besteht, die Entwicklung des menschlichen Geistes durch alle ihre im Erkennen, Fühlen und Wollen parallel laufenden Stufen des Bewusstwerdens, Bewusstseins und Selbstbewusstseins hindurch bis zur Anerkennung der Gegenwart und Wirkung des göttlichen Geistes in der Immanenz des individuellen Bewusstseins aufzuzeigen, mithin auf diesem immanenten Hier wird das schon thematisierte Korrektiv deutlich, das Fichte in seine Entwicklungsgeschichte der Seele einsetzt (vgl. Fn. 127).

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Weg der Selbsterkenntnis die innere Ewigkeit des menschlichen Geistes zu beweisen und die Zeitlichkeit theoretisch-praktisch zu überwinden.

3.3 Die epistemologische Rechtfertigung einer spekulativen Wissenschaft der menschlichen Seele 133 Das charakterisierte anthropologisch-psychologisches Projekt Fichtes mag demjenigen, der nach starren Kategorien und Schablonen allzu schnell denkt und beurteilt, zwar als eine edle und wohlmeinende Absichtserklärung, jedoch letztendlich als ein nostalgischer und unausführbarer Rückfall in die dogmatische Metaphysik erscheinen. Diese Denkweise basiert jedoch auf der Annahme, dass nach Kant der Dogmatismus der einzig mögliche Weg für die Metaphysik sei. Ist es demnach – so könnte man fragen – nicht altmodisch und unkritisch, ja schwärmerisch, im Forum der Philosophie und der Wissenschaft nicht nur die Frage nach der Unsterblichkeit der menschlichen Seele aufzuwerfen, sondern auch den Anspruch zu erheben, dass die menschliche Vernunft diesbezüglich irgendeine allgemeingültige Antwort, eine Einsicht in das Unerkennbare, zu gewinnen und zu geben imstande sei? Man sieht deutlich, dass dieser Einwand aus dem Kritizismus hervorgeht, und zwar mit der festen Überzeugung, dass dieser der höchste Standpunkt der Philosophie sei. Interessanterweise ist Fichte eben einer der ersten Philosophen, die »nach allen versuchten Inklinationen und Deklinationen dialektischer Systematik« eine Rückkehr »auf den ehrlichen Weg Kant’s« forderten (Fichte, 1832a, S. 88, § 27). Angesichts seines aus dem dargestellten Projekt ersichtlichen spekulativen Interesses stellt sich folglich die Frage, wie es überhaupt möglich ist, einerseits auf Kritik, andererseits auf Metaphysik Anspruch zu erheben, ohne sich in einen eindeutigen Widerspruch zu verwickeln. Diese Frage soll epistemologisch beantwortet werden, um bewusstseinsimmanent aufzuzeigen, dass der Kritizismus und dessen metaphysikfeindlichen Pathos nur ein Moment der Entwicklung des erkennenden Bewusstseins ausmacht, sodann dass ein auf Erfahrung beruhendes spekulatives Erkennen, mithin eine epistemologisch orientierte und metaphysisch strebende Wissenschaft möglich ist. Im 133

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Für eine Skizzierung der Epistemologie Fichtes vgl. auch Scherer (1902, S. 21–40).

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Die epistemologische Rechtfertigung …

Folgenden gilt es demnach, Fichtes epistemologische Rechtfertigung seiner spekulativen Wissenschaft der menschlichen Seele zu betrachten.

3.3.1 Die Rückkehr zum »ehrlichen Weg Kants« Bevor Fichtes epistemologische Rechtfertigung der Möglichkeit eines spekulativen Erkennens näher betrachtet werden kann, ist es zunächst wichtig, zu verstehen, wie er den Standpunkt seines Denkens einnimmt und sich sowohl von der vorkantischen dogmatischen Metaphysik als auch von dem nachkantischen absoluten Idealismus unterscheidet. Dies tut Fichte nicht bloß aus romantischer Sehnsucht oder revolutionärem Aufstand, sondern aus einem sehr entwickelten historisch-kritischen Bewusstsein. 134 Angesichts der Entwicklung, welche die Philosophie nach Kant nahm, unterscheidet Fichte (1855a) zwei epistemologisch entgegengesetzte Formen des Idealismus: »Kants Idealismus bleibt ›reflectirender‹ Art, [Johann Gottlieb] Fichtes und seiner Nachfolger ist der ›deducirende‹ oder ›producirende‹« (S. 18). 135 Aus diesem Unterschied ergeben sich zwei mögliche Standpunkte der Philosophie. Der reflektierende Idealismus stehe auf dem »kosmo- oder anthropocentrisch[en]« Standpunkt, während der produzierende Idealismus auf dem »central[en] oder theocentrisch[en]« Standpunkt stehe (Fichte, 1855a, S. 19). Jeder dieser Standpunkte habe sehr unterschiedliche Forderungen und Erwartungen für die Philosophie. Während sich der anthropozentrische Standpunkt an den Umfang »des Gegebenen« und an »die Gränze bedingter Erkenntnis« halte, um durch »Selbstbeobachtung (Reflexion) die Spuren der absoluten Vernunft und Wahrheit im menschlichen Geiste« zu erforschen, lehne der theozentrische Standpunkt solche vermeintlichen Grenzen ab und halte es für möglich, »die endliche Natur und Bedingtheit« des subjektiven Erkenntnisvermögens zu übersteigen und sich hierbei »eines ›absoluten Wissens‹

Vgl. Fichte (1829, 1832a, 1841a). Mehr zur Unterscheidung zwischen der »objektiven« (einerseits »konstruierenddialektischen«, andererseits »mystischen«) und der »subjektiven« bzw. »reflektierenden« Richtungen der Philosophie sowie zur Vermittlung und Überwindung dieses Gegensatzes vgl. Fichte (1832a).

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der Dinge« zu erwerben (Fichte, 1855a, S. 19). Diese Form des Idealismus gehe davon aus, dass sich die menschliche Vernunft in die Perspektive der absoluten Vernunft hineinversetzen und sich eine zentrale Erkenntnis der Welt erwerben kann, aus der es sodann möglich sei, »den theogonisch-kosmogonischen Proceß nach[zu]construiren« (Fichte, 1859, S. 196, § 109). Fichte kritisiert diesen konstruierenden Idealismus scharf und betrachtet dessen absolutistischen Forderung als »rein illusorisch« (Fichte, 1859, S. 196, § 109). Laut Fichte sei diese prätendierte Überwindung der menschlichen Perspektive schlechterdings nicht möglich, sodass die Behauptungen eines solchen Idealismus im Endeffekt »kein Resultat echter Philosophie« seien, »sondern eine trübe, täuschende Gnose, die von je an selbst die Mutter sehr verderblicher Irrthümer, weil eines bloßen Scheinwissens, geworden« seien (Fichte, 1859, S. 196, § 109). Diese Selbsttäuschung der spekulativen Systeme des Idealismus beruhe auf einem Grundfehler, der letztendlich epistemologischer Natur sei. Übertrieben auf Kants einseitigen »Subjektivismus« reagierend seien jene Systeme ins andere Extrem gefallen und hätten die Subjektivität minimierend genauso einseitig den entgegengesetzten Fehler begangen, wie aus den folgenden Worten Fichtes (1855a) hervorgeht: Der Eifer gegen die blosse Subjectivität und nur endliche Eigenschaft der Vernunft überstürzte sich in den entgegengesetzten Irrthum, den Antheil des Subjects am Processe der Vernunfterkenntniss und die subjectiven Schranken dabei ganz zu verneinen oder ausser Acht zu lassen (S. 22).

Angedeutet ist in diesem Zitat zugleich ein Irrtum Kants, welcher noch zu betrachten gilt. An dieser Stelle ist es jedoch zunächst hervorzuheben, dass der nachkantische Idealismus im Gegensatz zu Kants einschränkender und beengender Philosophie die vermeintlichen epistemologischen Bedingungen des subjektiven Erkenntnisvermögens ganz vernachlässigt und hierbei einen Zufluchtsort für seine spekulativen Interessen in den charakterisierten theozentrischen Standpunkt gefunden habe. Gerade dieser Sprung macht für Fichte den Grundfehler des nachkantischen Idealismus aus, sodass er, auch wenn nach seiner differenzierten und vermittelnden Würdigung sich Positives aus diesen spekulativen Systemen entnehmen lässt 136, feststellt, dass – wie schon antizipiert – »nach allen versuch136

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Vgl. Fichte (1829, 1832a, 1841a, 1843d).

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ten Inklinationen und Deklinationen dialektischer Systematik« (Fichte, 1832a, S. 88, § 27) eine epistemologische Neuorientierung im Anschluss an Kant notwendig sei. Der nach Immanuel Kant benannte Immanuel Hermann Fichte fordert demnach im Kontext der nachidealistischen Philosophie eine Rückkehr »auf den ehrlichen Weg Kant’s« (Fichte, 1832a, S. 88, § 27). 137 Worin besteht nun dieser Weg und was bedeutet eigentlich eine solche Rückkehr? Wenn Fichte (1855a) behauptet, dass »[w]ir … noch einmal zu Kant zurückkehren« müssen, »um das richtige, aber auch das ganze Ergebniss seiner Entdeckung zu gewinnen« (S. 21), meint er natürlich nicht ein bloßes dogmatisches und sektiererisches Studium der Lehre des Masters, um diese sodann in zahlreichen Variationen zu wiederholen und nachzuahmen, sondern eher eine Wiederaufnahme und eine Neubetrachtung der Frage nach der Möglichkeit des spekulativen Erkennens, »mag auch die auf jene Frage gebaute Theorie des Erkennens selbst sich als irrig erweisen« (Fichte, 1832a, S. 88, § 27). Gerade diese Reflexion auf das Subjekt und dessen Erkenntnisvermögen, welche bei Kant in Hinsicht auf den Dogmatismus gefordert wurde und welche nun bei Fichte in Hinsicht auf den »Absolutismus« gefordert wird, macht für Fichte (1869b) das bedeutende Verdienst Kants aus: Das Epochemachende, weithintragend Folgenreiche der Kant’schen Forschungsweise ist, dass er ihr die Richtung auf das Subjektive, auf den anthropologischen Standpunkt der Selbsterkenntnis gab, dass er dazu aufforderte, die tiefen Schätze, die potentialer Weise im menschlichen Geiste niedergelegt sind, ins Bewusstsein zu erheben und als sichere Ausgangspunkte aller weitern Forschung zu Grunde zu legen. Er hat den »anthropocentrischen« Standpunkt als den einzig festbegründeten, allein sichere Ergebnisse versprechenden, stetigen Fortschritt zulassenden für die Speculation bezeichnet (S. 23).

Die Rückkehr auf Kant bedeutet zunächst einmal eine Rückkehr auf die Subjektivität, was jedoch nicht mit dem Subjektivismus identisch ist. Dem Überschuss der Spekulation gegenüber macht Fichte einen Schritt zurück und, ohne die Interessen der Spekulation aufzugeben, ruft im Anschluss an Kant nach epistemologischer Besonnenheit, was wiederum nicht mit Ernüchterung und Resignation vor den unüberwindbaren Erkenntnisgrenzen identisch ist, als sei der Mensch zur 137

Vgl. Fn. 108.

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Erkenntnis seiner eigenen Vorstellungen verdammt. Auf dem ehrlichen Weg Kants sucht Fichte demnach epistemologische Orientierung, nicht um nach vollständiger metaphysischer Abstinenz oder nach dogmatischem Glauben zu rufen, sondern ganz im Gegenteil gerade um einen sicheren Ausgangspunkt zur Erforschung der »unvermeidlichen« Fragen der Vernunft zu finden. Bliebe Fichte jedoch nur bei dieser Reflexion auf die subjektive Vernunft, so wäre er nicht ganz gegen den kritisierten Überschuss der Spekulation immun, denn nichts könnte es vermeiden, dass er, »die von Kant entdeckte Quelle in Fluss setzend und in’s Unbedingte steigernd« (Fichte, 1855a, S. 19), genauso wie die Idealisten übereilt und selbsttäuschend sich einbildet, auf dem Standpunkt des Absoluten zu stehen. Zu der geforderten epistemologischen Neuorientierung auf die Subjektivität muss folglich auch eine Mäßigung des spekulativen Strebens gehören. Diese Mäßigung entspricht jedoch nicht – wie schon gesagt – einem resignierten Verzicht auf die spekulativen Interessen, sondern sie ergibt sich aus der epistemologischen Feststellung, dass das menschliche Erkennen auf die Erfahrung angewiesen sei und dass nur aus ihr ein Rückschluss auf das Wesen des betrachteten Gegenstandes möglich sei. Auf diese Weise macht sich bei der Wissenschaft und der Spekulation das sogenannte Prinzip der Besonnenheit geltend, welches Fichte (1859) eben aus Kant entnimmt und als das mäßigende Heilmittel gegen den »Hochmut« der Spekulation betrachtet: Zu lange geschult vom Geiste der Kant’schen Lehre, bin ich tief durchdrungen von der Erwägung, die freilich den Hochmuth speculativen Erkennens herabzustimmen geeignet wäre: daß wir über alle jene Fragen a priori und aus innerer Vernunftnothwendigkeit schlechthin nichts wissen können, daß wir damit auf den bescheidenern Weg einer von der allein uns bekannten Beschaffenheit der Weltthatsachen auf das Wesen ihres Grundes und seiner Wirkungen zurückschließenden Hypothese angewiesen sind (S. 195–196, § 109).

Die Rückkehr auf Kant bedeutet demnach neben der Rückkehr auf die Subjektivität noch eine Rückkehr auf die Erfahrung und das Gegebene, was jedoch nicht mit dem Empirismus identisch ist. Die epistemologische Anerkennung, dass das menschliche Erkennen auf die Erfahrung angewiesen sei, impliziert keine ontologische Extrapolation, die zur empiristischen Aussage nötigt, dass die sinnliche Erfahrung das einzig Reale sei. Jene Anerkennung entspricht vielmehr einem Akt 148

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der Bescheidenheit und einer Selbstpositionierung auf dem von der gegebenen Erfahrung zum schöpferischen Grund aufsteigenden Erkenntnisweg, welcher für Fichte eben der menschliche sei. 138 Aus dem Vorhergehenden wird ersichtlich, einerseits was die Rückkehr auf Kant bedeutet, andererseits dass Fichte an einem ganz wichtigen Punkt von Kant abweicht. Er stellt nämlich klar, dass der an Kant sich anschließende anthropozentrische Standpunkt zwar epistemologische Sicherheit und Orientierung verschaffe, jedoch »durchaus nicht« dazu verpflichte, »gewisse, etwa Kant’sche, Resultate mit in den Kauf zu nehmen« (Fichte, 1869b, S. 23). Zu solchen Resultaten gehört nämlich der folgenreiche »Irrtum«, auf welchen oben hingewiesen wurde und auf welchen der Idealismus auf die bezeichnete Weise reagiert habe: Dass diese Vernunft, »das Vermögen der transscendentalen Ideen«, andrerseits bei Kant dennoch nur für das Subject und für die Erscheinungswelt gelten, nicht aber im Stande sein soll, jenes über die blosse Erscheinung zum wahrhaften Grunde derselben zu erheben: mit dieser offenbaren Inconsequenz hat der grosse Denker allerdings der Möglichkeit menschlichen Irrthums seinen Tribut bezahlt (Fichte, 1855a, S. 21).

Gerade an dem Punkt, an dem Kant den transzendentalen Ideen konstitutive Realität abspricht und stattdessen regulative Funktion für den Verstandesgebrauch zuschreibt, weil die theoretische Vernunft zwar von der praktischen Vernunft sie anzunehmen genötigt sei, jedoch nicht das Wesen der entsprechenden transzendentalen Gegenstände erkennen könne; gerade an dem Punkt, an dem Kant jeden theoretischen Bezug der transzendentalen Ideen auf vermeintliche entsprechende Gegenstände als einen Widerspruch deutet, insofern die Ideen apriorisch selbstgeschaffte heuristische Prinzipien der subjektiven Vernunft seien und folglich jener Bezug im Endeffekt einem Selbstbezug entspräche; gerade an diesem Punkt – am Übergang in den subjektiven Idealismus – warnt Fichte vor einer Einseitigkeit und vor der »Verwechslung nämlich des Begriffs des Apriorischen mit dem Begriffe des blos Subjectiven« (Fichte, 1855a, S. 22). Ein solches Resultat müsse demnach – so Fichte – nicht in Kauf genommen werden. Stattdessen sollte man einerseits den epistemologischen, andererseits den metaphysischen Ansprüchen des philoHier wird Fichtes Antwort auf die Kontroverse um die Identität der Philosophie deutlich. Mehr zu dieser Kontroverse vgl. das entsprechende Kapitel dieser Arbeit (2.2.2.2).

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sophischen Bewusstseins gerecht werden, d. h. es sollte ein Vermittlungspunkt gefunden werden. In diesem Sinne gilt es nun, der Frage nachzugehen, inwiefern der von Fichte vertretene anthropozentrische Standpunkt eben jenen gesuchten Vermittlungspunkt ausmacht.

3.3.2 Der anthropozentrische Standpunkt als Vermittlungspunkt »›Anthropocentrisch‹ sonach ist und bleibt alles menschliche Erkennen« (Fichte, 1867, S. 18, § 26), stellt Fichte prägnant fest. Mit diesem epistemologischen »Anthropozentrismus« ist jedoch keine Verabsolutierung bzw. Selbstvergötterung des Menschen gemeint, als sei der Mensch »das höchste Wesen, welches der Mensch glauben, fühlen und denken kann« (Fichte, 1842a, S. 126). Nach dieser Art von Anthropozentrismus wäre sogar die Gottesvorstellung bloß die Projektion der Unendlichkeit des menschlichen Gefühls – wie Fichte in Hinsicht auf Feuerbach und die »Radikalen der Spekulation« bemerkt. 139 Ganz im Gegenteil zu dieser Menschenvergötterung ist Fichtes »Anthropozentrismus« an dieser Stelle lediglich epistemologisch. Dies bedeutet, dass der Mensch nur aus menschlicher Perspektive und unter den Bedingungen seiner menschlichen Existenz den Erkenntnisprozess vollbringen könne. »Keine Wissenschaft, am wenigsten die Philosophie«, behauptet Fichte (1859), »kann den Augpunkt menschlicher Auffassung überschreiten« (S. 183, § 102). Ganz im Sinne Kants weist Fichte (1859) ferner darauf hin, dass »[u]eber den Gesichtskreis seiner Erfahrung hinaus … überhaupt nichts mehr sicher erreichbar für sein Bewußtsein« sei (S. 183, § 102). Diese Perspektivität des menschlichen Erkennens mag als eine dem Menschen unwürdige Behauptung erscheinen. Für Fichte (1867) ist sie jedoch lediglich eine zu konstatierende Tatsache und »bei tieferm Erwägen« sogar ein »dauernder Gewinn« (S. 18, § 26). Diese Wendung in der Vorstellung der epistemologischen Situation des Menschen bringt Fichte in Hinsicht auf den Idealismus zum Ausdruck. Jener den Idealisten als »Verlust« und als »beschränkender Mangel« erscheinende Umstand, welchen »man einst mit einem kühnen Sprunge in das vermeintlich Absolute aufzuheben gedachte, aber nicht aufheben kann«, macht für Fichte (1867) insofern einen Gewinn aus, als man durch die Zentrierung und Positionierung in die 139

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Vgl. Fichte (1842a, 1844c).

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menschliche Perspektive sich von der Illusion eines »Scheinwissens«, welches eigentlich »über seine Principien und Quellen« unklar sei, lösen und stattdessen der Erkenntnis »einen festen Besitz und ein gesichertes Fortschreiten« gewähren könne (S. 18, § 26). Die Feststellung der Bedingtheit des menschlichen Erkenntnisvermögens könnte zum einseitigen Subjektivismus führen, wenn nicht die Einsicht über die Möglichkeit eines epistemischen Zugangs des subjektiven Denkens zum Wesen dessen Gegenstände das Verhältnis zur Objektivität wiederherstellen und hierbei diese Theorie des Erkennens ausbalancieren würde. Angesichts der damaligen Situation der Philosophie scheint Fichte demnach die Gründung einer »erschöpfende[n] Erkenntnißlehre« als ein Desiderat der Zeit, welchem er resolut nachgeht (Fichte, 1846b, S. 7, § 4). Dieser komme zunächst die negative Aufgabe zu, die gleichmäßige Einseitigkeit und Unzulänglichkeit der zwei konkurrierenden entgegengesetzten Ansichten aufzuzeigen, dass »Erkenntniß und Wissenschaft« entweder »ein subjectiv menschliches Hervorbringen« oder »der zum Selbstbewußtsein gelangende absolute Weltbegriff selber« sei (Fichte, 1846b, S. 7, § 4). Die sich daran anschließende positive Aufgabe besteht nun darin, sowohl die »Nichtabsolutheit« bzw. das »Bedingtsein durch die Schranken der Erfahrung« des menschlichen Erkenntnisvermögens »unwiderruflich« nachzuweisen als auch bei diesem Beweis »das Element der Vernunft« gründlich zu beachten, denn eben dieses sei das, was »dem Geiste das Vermögen verleiht, innerhalb der Erfahrung und mittels derselben auch über sie hinaus ein in sich vollendetes und gewisses Wissen zu erlangen« (Fichte, 1855a, S. 20). Auf diese Weise wird ersichtlich, dass Fichte im Gegensatz zwischen der »subjektiv-reflektierenden« und der »objektiv-konstruierenden« Strömungen der Philosophie auf einer epistemologischen Ebene zu vermitteln versucht. 140 Mit anderen Worten: Es handelt sich bei dieser Vermittlung um »die völlige Ausgleichung von AprioriAndere Vermittlungsversuche der Zeit, welche Fichte in seinem Werk Über Gegensatz, Wendepunkt und Ziel heutiger Philosophie bespricht (vgl. Fichte (1832a, S. 203–300, §§ 58–87)), sind diejenigen von Johann Erich von Berger (1772–1833), David Theodor August Suabedissen (1773–1835), Joseph Hillebrand (1788–1871), Ignaz Paul Vital Troxler (1780–1866), Karl Christian Friedrich Krause (1781–1832), Johann Friedrich Herbart (1776–1841) und Albert Leopold Julius Ohlert (1799–1839). Vgl. Berger (1817, 1821, 1824, 1827), Suabedissen (1831), Hillebrand (1830), Troxler (1828, 1829a, 1829b, 1830a, 1830b), Krause (1825, 1828, 1829), Herbart (1808, 1824, 1825, 1828, 1829, 1834) und Ohlert (1830).

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schem und Aposteriorischem, von Denken und Anschauung auf eine neue und lebendige Weise« (Fichte, 1855a, S. 58). Durch diese epistemologische Vermittlung des im Kern der Philosophie liegenden und nur Verwirrung, Zwiespalt, Streit und Schulkämpfe im kulturellen Forum hervorbringenden Gegensatzes sollte nichts Geringeres als »eine höhere Umgestaltung aller Wissenschaft und Bildung« ermöglicht werden (Fichte, 1855a, S. 58) – wie schon weiter oben im Kontext der Kontroverse um die Identität der Philosophie antizipiert wurde. Wenn die »Schale« des »äussern Widerstreites« der Philosophie durchdrungen und »ihre organisch beziehende Einheit« gefunden werden könnte (Fichte, 1841a, S. XIII), so wäre es möglich, zu erkennen, dass der »Schulgegensaß eines Apriori und Aposteriori« letztendlich eine bloße Abstraktion sei, denn das wahre und lebendige Verhältnis beider vermeintlichen Extreme bestehe darin, einerseits dass »[d]as rechte Apriori … die tiefste, reinste Selbsterfahrung des erkannten Gegenstandes« sei, andererseits dass »das rechte Erfahren (Anschauen, Durcherleben und Verfolgen desselben durch seinen ganzen Lebenslauf) … zugleich den rechten Begriff desselben« darstelle (Fichte, 1832a, S. IX). Sollte der Epistemologie der Beweis dieser These gelingen, welchen Fichte – wie noch weiter unten erläutert wird – auf genetische Weise ausführt, so wäre für ihn das feste Fundament für das ganze menschliche Erkennen geschafft, sei dieses ein empirisches oder ein spekulatives. In beiden Fällen handele es sich laut Fichte (1843d) eben um dieselbe Tätigkeit, nämlich um Theorie »in eigenster und ältester Bedeutung dieses Wortes« (S. 35). Auf diese Weise wird mit der Aussöhnung des Gegensatzes zwischen dem Apriorischen und Aposteriorischem zugleich der Gegensatz zwischen Empirie und Spekulation ausgesöhnt, sodass die Philosophie bzw. die Wissenschaft letztendlich in der »Betrachtung der göttlichen in die Welt ausgesprochenen Gedanken« bestehe (Fichte, 1843d, S. 35). Wie lässt sich nun nach einer solchen Vermittlung der Epistemologie – zwischen Subjektivismus und Absolutismus, Apriorischem und Aposteriorischem, Denken und Anschauung, Empirie und Spekulation – der neue Standpunkt des erkennenden Bewusstseins charakterisieren? Laut Fichte sei die epistemologische Situation des menschlichen Geistes nämlich so zu charakterisieren, dass dieser »ohne seine Gränzen jemals überfliegen zu können oder zu wollen« und »unmittelbar auf die Welt der sinnlichen Erscheinungen angewiesen«, trotzdem »das Vermögen jener reinen Vernunft« besitze, 152

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welches ihm innerhalb jener Grenzen zum »Eindringen[] in die objectiven Gründe der Erscheinungen« befähige (Fichte, 1855a, S. 27). Aus dieser Perspektive ist demnach die menschliche Erkenntnis nicht als ein bloßes Abstraktum zu betrachten, sondern eben als ein Konkretes. Den konkreten Inhalt einer solchen Erkenntnis bezeichnet Fichte als einen ewigen und göttlichen Inhalt, wie aus diesen Worten folgt: [W]o auf diesem Wege ein Ewiges, als unbedingt und ursprünglich sich Ankündigendes entdeckt ist, da steht er [Mensch] auf heiligem Boden, da muss er die Selbstoffenbarung eines Göttlichen anerkennen, deren Inhalt er nun mit wissenschaftlichem Rechte zu einer objectiven Erkenntnis Gottes an der Welt und mittels der Welt zu verarbeiten vermag (Fichte, 1855a, S. 27).

An diesem Punkt wird ersichtlich, dass diesem Gedankengang die Voraussetzung einer ursprünglichen Harmonie – nicht jedoch einer pantheistischen oder panlogistischen Identität – zwischen der menschlichen und der göttlichen Vernunft zugrunde liegt, welche es dem Menschen ermögliche, durch sein subjektives Denken in das objektive Wesen der Erscheinungen einzudringen. Da diese Voraussetzung der Erklärung bedarf, wird anschließend Fichtes allgemeine Idee des Erkennens betrachtet werden, um unmittelbar danach die eigentliche Rechtfertigung dieser Idee darzulegen.

3.3.3 Die Idee des menschlichen Erkennens Nachdem bei der Darstellung von Fichtes Versuch einer epistemologischen Vermittlung seine Ansicht über die Möglichkeit eines epistemischen Verhältnisses der Subjektivität zur Objektivität deutlich zutage trat, soll nun näher betrachtet werden, einerseits worin der Erkenntnisakt besteht, andererseits was der Grund sowohl der Erkennbarkeit der Objektivität als auch des Vermögens der Subjektivität zum Erkennen ist. Was Fichtes Verständnis des Erkennens betrifft, so ist darauf hinzuweisen, dass er den Erkenntnisakt als einen »Geistesprocess« betrachtet, bei welchem sich das menschliche Denken zum göttlichen Denken erhebe und so sich die Subjektivität mit der Objektivität vereinige (Fichte, 1851, S. 25, § 7). Diese Vereinigung bzw. dieses »Einswerden« des Erkennenden mit dem Seienden, des menschlichen GeisSubstantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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tes mit dem »Ursysteme der Dinge im göttlichen Denken, dem Quell der Wahrheit« (Fichte, 1851, S. 25, § 7), macht für Fichte »das wahre Erkennen« aus (1832c, S. 39, 1855a, S. 202), welches er in seinen »Psychologischen Briefen« in metaphorischer Sprache auch als ein »sympathetisch sich ergänzende[s] Wechselgespräch[] zwischen Geist und Welt« verbildlicht (1832c, S. 39, 1855a, S. 202). In einem solchen »Gespräch« errate, »wie zwischen Liebenden, Jeder schon den halbangedeuteten Gedanken des Andern« (Fichte, 1832c, S. 39, 1855a, S. 202). Abgesehen von der vielleicht romantisch klingenden Metaphorik sowie von den Grenzen dieses Bildes bzw. dessen Erörterung – denn nichts ist darüber gesagt, ob und was der Mensch in diesem »Wechselgespräch« außer vielleicht nur Fragen zur Welt sprechen würde – bringt Fichte durch dieses Bild immerhin eine wesentliche Annahme seiner Idee des Erkennens zum Ausdruck. Diese epistemische »Kommunikation« kann nämlich nicht unter der Voraussetzung einer dualistischen Trennung zwischen Menschen und Welt, zwischen Bewusstsein und Sein, stattfinden, sondern nur unter der Bedingung einer – noch zu bestimmenden – Einheit. Wenn Fichte behauptet, »dass im betrachtenden Geiste das Wesen der Dinge, das Urwort des Phänomens schon niedergelegt sei«, sodass es beim Erkenntnisprozess »wie entzündet an der einzelnen Erscheinung, aus der Tiefe des Geistes plötzlich zum Bewusstsein komme«, deutet er darauf hin, dass die Bedingung der Möglichkeit des Erkennens »eine tiefliegende Harmonie von Welt und Bewusstsein« sei (1832c, S. 39, 1855a, S. 202). Sieht man durch die Bildlichkeit der Sprache durch, so kann man feststellen, dass diese Harmonie, aus welcher jenes »Urwort« dem menschlichen Denken verständlich wird, eben von vernunftgemäßem Charakter sein muss. Gerade diese Qualität der zugrunde liegenden Einheit zwischen Bewusstsein und Sein macht für Fichte den Grund sowohl der Erkennbarkeit der objektiven Welt als auch des Vermögens des subjektiven Geistes zum Erkennen aus – was nun zur zweiten Frage führt. Diese zweite, nun zu behandelnde Frage lautet, einerseits »[w]ie überhaupt die Objectivität der Dinge schlechthin erkennbar und durchdringlich sei dem menschlichen Denken«, andererseits »wie umgekehrt dies Denken aller Erfahrung voraus, durch eine Art von Vernunftprophezeiung das Wesen und die Möglichkeiten der Dinge zu erschöpfen vermöge« (Fichte, 1846b, S. 4, § 4). Von der Bejahung der Möglichkeit des Erkennens ausgehend, fragt Fichte nun nach dem metaphysischen Grund dieser Möglichkeit. Seine Antwort wurde be154

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reits im Vorhergehenden mit dem Hinweis auf die vernünftige Qualität der ursprünglichen Einheit zwischen Bewusstsein und Sein nur halbwegs gegeben, denn die bloße Behauptung dieser Vernünftigkeit bleibt für Fichte ebenso erklärungsbedürftig. Die »gründliche und abschließende Erklärung« dieser vernünftigen Einheit und der auf dieser Einheit basierenden Erkennbarkeit der Objektivität sowie des Vermögens der Subjektivität zum Erkennen findet Fichte (1846b) jedoch in der Idee, »daß die Dinge ihren Daseinsgrund in einem intellectuellen Acte haben, in welchem Anschauung und Denken schlechthin sich durchdringen« (S. 4, § 4). Aus diesem ursprünglichen intellektuellen Akt gehe demnach die »wechseldurchdringende[] Uebereinstimmung« (Fichte, 1846b, S. 5, § 4) von Sein und Bewusstsein hervor, weil »das schöpferische Seßen des Anschaubaren sein ewiges Gedachtsein vorausseßt« (Fichte, 1846b, S. 4, § 4). Indem das Universum vom absoluten Geist in jenem schöpferischen Akt urgedacht worden sei, woraus die »ursprüngliche[] Rationalität des Universums« hervorgehe, könne der menschliche Geist durch sein Denkvermögen dieses Universum nachdenken (Fichte, 1846b, S. 5, § 4). Die Unteilbarkeit jenes Aktes garantiert demnach für Fichte die Einheit von Bewusstsein und Sein, Denken und Welt, sowie die Möglichkeit des Erkennens. 141

Genauso wie vorher in Hinsicht auf die Idee einer Entwicklungsgeschichte des Geistes, sei jetzt darauf hinzuweisen, dass Fichte in Hinsicht auf die Idee einer ursprünglichen Rationalität des Universums und einer ursprünglichen Einheit von Denken und Sein keinen aus historischer Naivität hervorgehenden Anspruch auf Originalität erhebt. Ganz im Gegenteil stellt Fichte (1846b) klar, dass »diese Wahrheit mit allen Unbestimmtheiten, die zunächst noch in ihr liegen«, nämlich die Idee einer ursprünglichen Übereinstimmung zwischen dem nacherkennenden menschlichen Geist und dem urerkennenden göttlichen Geist, »nur die Erneuerung eines Gedankens ältester Speculation« sei (S. 6, § 4). Unmittelbar danach zieht Fichte (1846b) einen langen philosophiegeschichtlichen Faden: »Dies ist die ächt Platonische, wie Aristotelische Lehre, welche durch den Neuplatonismus auch in die patristische und scholastische Philosophie übergegangen ist, die Scotus Erigena und die Mystik des Mittelalters in ihrer ganzen Fülle und Tiefe festzuhalten wußte, während auch in der exoterischen Philosophie jener Zeit dies eigentlich der große Gedanke war, welchen, wiewohl halb unverstanden, der Realismus in seinem Kampfe mit dem Nominalismus vor seinem Gegner zu bewähren suchte. An der Spiße der neueren Philosophie hat nun eben Jacob Böhme jenen Saß in seiner innerlichsten Tiefe und seinem noch ungeschiedenen Reichthume ausgesprochen, der Folgezeit zur wissenschaftlichen Ausbeute ihn überliefernd, während schon Leibniß eigentlich aus dieser Wahrheit schöpfte, als er dem nominalistischen Sensualismus Locke’s berichtigend und ergänzend

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Das dargestellte metaphysische Prinzip ist für Fichte jedoch kein axiomatisches, sondern ein erst zu begründendes Prinzip. Diese Begründung der allem Erkennen zugrunde liegenden Annahme der »Harmonie« von Bewusstsein und Sein soll bei Fichte ferner kein apriorischer, sondern ein erfahrungsmäßiger und genetischer Beweis sein. Dieser Anforderung könne die Epistemologie insofern gerecht werden, als sie das unmittelbare Bewusstsein als den Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen nimmt und die Entfaltung dieses Bewusstseins begleitet. Die »Begründung« der Möglichkeit des spekulativen Erkennens entspricht folglich der Entwicklung des Bewusstseins von dessen Unmittelbarkeit zum spekulativen Denken. Diese genetische Epistemologie soll im Folgenden betrachtet werden.

3.3.4 Genetische Epistemologie: Entfaltung des erkennenden Bewusstseins zum spekulativen Erkennen »Möchte Ihnen darin das Bild jener sehnsuchtslosen, ruhig in sich befriedigten Erkenntnis entgegentreten, welche in allem die Fülle der göttlichen Offenbarung erblickt und sich mit unendlichem unzerstörbarem Frieden darin befaßt weiß« (Ehret, o. J.-d, S. 71), schreibt Fichte am 28. Juli 1833 an Charlotte von Kalb in Bezug auf das neulich erschienene und dem Brief beiliegende Buch Das Erkennen als Selbsterkennen, den ersten Band von Grundzüge zum Systeme der Philosophie. Mit jenen Worten ist Fichtes Standpunkt im Wesentlichen charakterisiert. Dieser spekulative Standpunkt muss jedoch theoretisch begründet und entwickelt werden, was Fichte, nachdem er in seinen früheren Schriften aus historisch-kritischer Sicht die Notwendigkeit eines höheren, die Gegensätze der Philosophie versöhnenden, Standpunktes gerechtfertigt hatte 142, nun auf systematische Weise mit der in jenem Buch enthaltenen epistemologischen Untersuchung versucht. Anschließend soll demnach das Charakteristische und Wesentliche dieser Untersuchung geschildert werden.

entgegentrat« (S. 6–7, § 4). Ganz bewusst schließt sich Fichte demnach an diese idealrealistische Strömung an. 142 Vgl. Fichte (1829, 1832a, 1841a).

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3.3.4.1 Anfang der Philosophie und Methode der Epistemologie

Die Frage nach der Möglichkeit des spekulativen Erkennens wiederaufnehmend und neubetrachtend, sucht Fichte zunächst den Anfang und die Methode seiner epistemologischen Untersuchung. Der Idee des Anfangs der Philosophie inhäriere jedoch laut Fichte (1833b) ein Widerspruch, der darin besteht, dass jeder Anfang einerseits absolut und unbeweisbar sein solle, insofern er sich auf keinen weiteren Grund zurückführen lassen solle, andererseits begründungsbedürftig sei, insofern die Notwendigkeit dessen Wahl und Annahme eben mit Gründen gerechtfertigt werden solle (S. IV) – die bekannte Aporie einer Letztbegründung, welche zum Trilemma des infiniten Regresses, des Zirkelschlusses und des Dogmatismus führt. 143 Angesichts der Versuche, das System der Philosophie auf ein absolutes Prinzip zu gründen 144, weist Fichte darauf hin, dass ein solches Prinzip nicht durch axiomatische Schlussfolgerungen bestimmt werden darf, denn ein solches Prinzip wäre durch dieses Verfahren ein Resultat der Reflexion. In diesem Sinne stellt Fichte fest, dass Das Systemproblem, mithin das Problem des Anfangs des Systems der Philosophie, macht bekanntlich eins der Hauptprobleme des deutschen Idealismus aus. Wie interessant die Einbeziehung Fichtes in diese Problemkonstellation auch sein mag, liegt eine solche Aufgabe außerhalb der Grenzen dieser Arbeit. Mehr zum Systemproblem vgl. Krijnen (2008), Sandkühler (2005), Jaeschke und Arndt (2012), Danz und Stolzenberg (2011), Waibel, Danz und Stolzenberg (2018) und Danz, Stolzenberg und Waibel (2018). 144 Spezifisch bezieht sich Fichte auf Johann Gottlieb Fichtes Ich, Schellings Identität und Hegels Sein: »Die meisten bisherigen Systemanfänge sind durchaus subjektiver Natur, hervorgegangen aus den historischen Bedingungen, wie sie spekulative Vorbildung und vorausbestimmte Richtung des philosophirenden Individuums wählen ließen. Es genügt hierbei nicht, überhaupt nur ein an sich richtiges Axiom, einen einfachen Begriff, eine evidente Thatsache an die Spiße zu stellen, um von da aus seine Philosophie in Bewegung zu seßen; – denn auf einen partikulären oder willkührlichen Anfang gegründet, muß das ganze System dies Gepräge behalten. Er kann nämlich als Ausgangspunkt eines einzelnen Standpunktes (Systemes) der Philosophie seine volle Gültigkeit haben, – so ist er damit Anfang einer einzelnen Philosophie, nicht aber des Gesammtsystemes der Wissenschaft, und gewiß bezieht er sich dann auf rückwärtsliegende, bewußtlos vorausgeseßte Annahmen oder Untersuchungen, auf einen bestimmten historischen Horizont, unter welchem die Philosophie sich gerade befindet. Solcher Art sind die Anfänge vom Ich, von der Identität des Subjektiven und Objektiven, vom Sein als dem Nichts u. s. w.; es sind Anfänge einzelner Standpunkte, vorbereitet durch den ganzen Complex des vorhergehenden Philosophirens; nicht aber der Anfang der Philosophie schlechthin« (Fichte, 1833b, S. 6, § 4). 143

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»[j]eder bestimmtere Anfang … ein willkürlicher, hervorgesuchter [wäre]; er wäre Resultat vorläufiger Überlegungen oder Reflexionen, die in den offen bewußten Gang des Denkens mit hineingezogen werden müssen« (Fichte, 1833b, S. 16, § 13). Dementsprechend liege das Problematische bei solchen Systemanfängen, sei der Anfang ein Satz, ein Begriff oder eine Tatsache, darin, dass sie insofern willkürlich seien, als die zu ihnen führende Hervorsuchung von einer vorgefassten Idee des zu findenden Prinzips vorbestimmt sei. Nur so wird Fichtes Akzent auf dem problematischen Charakter der Hervorsuchung dieser Prinzipien verständlich, denn jener Hervorsuchung stellt er eine Suche gegenüber. Fichte (1833b) weist nämlich darauf hin, dass sich der Widerspruch des Anfangs einer »allbegründende[n] Wissenschaft« nur dadurch lösen lasse, dass »der Anfang nicht zwar begründet wird, sonst wäre er nicht mehr Anfang – wohl aber, daß er gesucht, daß zu ihm aufgestiegen werde durch kunstmäßige Untersuchung, die ihn herausfindet in dem mannigfachen Geflechte der Gedanken und Begriffe« (S. 7, § 5). Eine solche »kunstmäßige« und methodische Suche unterscheide sich demnach dadurch von einer »willkürlichen« Hervorsuchung, dass sie eher durch eine Offenheit für das zu Entdeckende charakterisiert sei. Jene Untersuchung halte sich auf die Regeln der »Kunst« des aufsteigenden Denkens, um dadurch »auf das Ursprünglich-Gegebene« zurückzugehen (Fichte, 1833b, S. 7, § 5). Auf diese Weise kann man laut Fichte die Aporie der Letztbegründung entgehen, weil der durch jene Untersuchung hervorgebrachte Beweis des Anfangs eigentlich »keine Begründung« sei, »sondern nur ein Besinnen auf den schlechthin ersten Gedanken«, welcher laut Fichte (1833b) »[d]er wahre Anfang der Philosophie« sei (S. 7, § 5). Das herauszufindende »Ursprünglich-Gegebene« entspricht eben der stillschweigenden Voraussetzung, aus welcher alles Philosophieren und jedes System entstehe. Dieser »bewußtlose Anfang aller Systeme« solle folglich »nur ausdrücklich hervorgehoben und zum bewußten Ausgangspunkte gemacht werden« (Fichte, 1833b, S. VIII). Fichte fordert demnach keine Voraussetzungslosigkeit für die Epistemologie, sondern lediglich die Bewusstwerdung einer realen und unverzichtbaren Vorbedingung alles Philosophierens. 145 Das Problem der Voraussetzungslosigkeit wird im Neukantianismus eine zentrale Stellung haben. Dieses Problem führt Köhnke unter anderem auf Fichte, Trendelenburg, Beneke und Weiße zurück (vgl. Fn. 108 sowie Köhnke (1993)).

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Der von Fichte gemeinte Anfang der Philosophie ist dadurch charakterisiert, dass er kein axiomatischer Satz, kein einfacher Begriff und keine evidente Tatsache ist, sondern eine reale Entwicklung. Laut Fichte (1833b) setze alles Philosophieren und jedes System die »thatkräftige Entwicklung« (S. VIII) des erkennenden Bewusstseins zu dem philosophischen Standpunkt voraus, aus welchem das entsprechende System hervorgebracht wird. »Das Bewußtsein muß sich entwickeln zum spekulativen Denken« (Fichte, 1833b, S. VIII), stellt Fichte (1833b) fest und weist darauf hin, dass folglich das philosophische Bewusstsein »nur von Sich Selbst … in seiner unmittelbaren Selbstgegebenheit« anfangen könne, »aus dieser zum Denken, endlich zum spekulativen Denken sich emporentwickelnd« (S. VIII). Das Bewusstsein in seiner Entwicklung mache demnach den Anfang des Philosophierens aus, »weil es allein sich das schlechthin Gewisse (das Nichtabstrahirbare) ist« (Fichte, 1833b, S. IX). Indem dies anerkannt wird, werde zugleich »der Widerspruch des Anfangs vollständig überwunden« (Fichte, 1833b, S. IX), denn als das schlechthin Gegebene ist das Bewusstsein in seiner Entwicklung kein Abstraktum, dessen logische Unbedingtheit mit Gründen unter der Gefahr des erwähnten Trilemmas bewiesen werden sollte, sondern der reale Anfang aller philosophischen Tätigkeit, der nur durch Besinnung herausgefunden werden sollte. Für Fichte reicht es jedoch nicht, diesen Anfang bloß zu postulieren, sondern der ganze durchgelaufene Weg soll wissenschaftlich dargestellt werden. In diesem Sinne sei die Aufgabe der Epistemologie, »die wissenschaftliche Entwicklungsgeschichte des Bewußtseins zum und im Denken« darzustellen, was zugleich die Selbstbegründung der Philosophie biete (Fichte, 1833b, S. IX). Der Anfang alles Philosophierens ist das reale Bewusstsein in seiner Entwicklung und der Anfang aller Philosophie ist die wissenschaftliche Geschichte dieser Entwicklung. Indem Fichte die Epistemologie als Entwicklungsgeschichte des erkennenden Bewusstseins bestimmt, lässt er die genetische Qualität des Bewusstseins die Methode der wissenschaftlichen Betrachtung jener Entwicklung bestimmen, denn die Methode sollte sich an das Wesen des betrachteten Gegenstandes anpassen, um eben jenes Wesen für sich selbst sprechen zu lassen. Da das Bewusstsein »nur als das sich Entwickelnde wirklich« sei (Fichte, 1833b, S. X), sollte für Fichte eine Untersuchung des Erkenntnisvermögens dieser wesentlichen Qualität des Bewusstseins gerecht werden. In Anspielung auf Kant Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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nimmt Fichte die prioritäre Stellung einer solchen Untersuchung wieder auf, jedoch unter der Bedingung einer neuen methodologischen Bestimmung, sodass die Epistemologie für Fichte (1833b) zwar »[e]ine solche Logik oder ›Kritik‹ des Erkennens, jedoch in der Methode der Entwicklung« sein solle (S. IX). Das Eigentümliche der Epistemologie Fichtes bestehe demnach in der genetischen Methode. Diese Methode beruht auf dem Prinzip, dass allen Zuständen und Stufen der Entwicklung des Bewusstseins die Einheit und Unteilbarkeit dieses Bewusstseins zugrunde liegen, sodass das einheitliche und unteilbare Wesen des Bewusstseins in allen Zuständen und Stufen gegenwärtig sei. Dies bedeutet näher für die wissenschaftliche Darstellung einer solchen Entwicklung, dass »die höhern Zustände, wie sie aus den niedern hervorgehen, so doch anderntheils wieder die Erklärung oder, noch eigentlicher zu reden, die Auslegung der vorhergehenden« seien, »weil in ihnen Dasselbige, aber enthüllter und entwickelter, wieder hervortritt« (Fichte, 1833b, S. 50, § 40, Anm.). Was die Epistemologie demnach als die höchste Stufe des Bewusstseins darstellt, sei eigentlich »das Allgegenwärtige in demselben« (Fichte, 1833b, S. X). Dies bedeutet, dass die methodische Betrachtung der Entwicklung des erkennenden Bewusstseins zum spekulativen Erkennen einerseits »seine Vertiefung und Einkehr in sich selbst: die Besinnung auf sein ursprüngliches Wesen«, andererseits die Entfaltung und Auslegung jenes durch alle seine Stufen hindurch allgegenwärtigen Wesens sei (Fichte, 1833b, S. X). Es lässt sich folglich feststellen, dass die genetische Epistemologie in der Selbsterkenntnis des Bewusstseins 146, in der Selbsterziehung zum Philosophieren und in der Selbstbegründung der Philosophie besteht.

3.3.4.2 Die Entwicklungsgeschichte des erkennenden Bewusstseins

Nachdem das Charakteristische des epistemologischen Ansatzes Fichtes deutlich wurde, scheint es angebracht, einen Überblick über die Entwicklung des erkennenden Bewusstseins zu skizzieren, um daHier wird diese Selbsterkenntnis nur unter dem Aspekt des Denkens und Erkennens betrachtet. Die vollständige Selbsterkenntnis des denkenden, fühlenden und wollenden Bewusstseins, wie dies weiter oben dargestellt wurde, stellt Fichte in seiner Psychologie und seinem System der Ethik dar.

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durch verstehen zu können, was die Grundtendenz und die Grundbestimmung dieses Bewusstseins sind. Es versteht sich, dass ein solcher Überblick an dieser Stelle lückenhaft stehen bleiben muss, weil dessen Zweck nicht eine akribische und detaillierte Darstellung aller Stufen und Übergänge der Entwicklung des Bewusstseins ist, sondern lediglich eine Hervorhebung deren Leitidee. Diese leitmotivische Schilderung soll demnach nur zur Orientierung und Vorbereitung für ein besseres Verständnis des spekulativen Standpunktes dienen, auf welchem Fichtes aposteriorisch-spekulative Anthropologie beruht und welcher unmittelbar danach charakterisiert wird. 3.3.4.2.1 Die Grundbestimmung des erkennenden Bewusstseins Eine mit den oben genannten Ansprüchen auftretende Epistemologie ist auf die Unmittelbarkeit des Bewusstseins verwiesen. Sie muss nämlich mit der inneren Bewegung des Bewusstseins sich selbst in Bewegung setzten, die Entwicklung des Bewusstseins auf dieser Ebene aus der Sicht des philosophierenden Bewusstseins begleitend. Die Epistemologie selbst setzt demnach die Entwicklung voraus, welche sie als ihre eigene Geschichte darstellen wird. Gerade in diesem Sinne behauptet Fichte, dass die Epistemologie die Besinnung des Bewusstseins auf sein ursprüngliches Wesen sei. Wenn die Epistemologie in dieser Selbstbesinnung den unmittelbaren Zustand des Bewusstseins als ihren Anfangspunkt einnimmt, so muss sie schon an diesem Anfangspunkt eine Qualität des unmittelbaren Bewusstseins aufzeigen, welche sich als die Grundtendenz seiner späteren Entwicklung erweisen wird. Fichte (1833b) weist darauf hin, dass das unmittelbare Bewusstsein von einem »durchaus wandelbare[n], stets anders sich gestaltende[n]« Inhalt erfüllt sei (S. 8, § 7), welcher durch seine stete Veränderung und Vernichtung dem Bewusstsein keine »Ruhe« und keinen »Abschluss« biete. Dem steten Wechsel des Inhalts gegenüber mache sich die eigentümliche Qualität des Bewusstseins geltend, indem die Ruhe dieses Bewusstseins erst durch einen wissenden Abschluss des wechselnden Inhalts bedingt sei. Das Bewusstsein suche nämlich ein »bleibendes, nicht mehr in sich selbst sich vernichtendes« Wissen (Fichte, 1833b, S. 9, § 7), was darauf hinausläuft, dass seine Vollendung von der Qualität jenes Wissens abhänge. Indem nun ein solches Wissen nicht unmittelbar gegeben ist, sondern vom Bewusstsein selbst durch seine eigene Tätigkeit des Denkens »erst erreicht, erworben werden« müsse (Fichte, 1833b, S. 9, § 8), wird ersichtlich, dass sich das Bewusstsein Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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»aus dem Nichtdenken … zum Denken« entwickeln müsse (Fichte, 1833b, S. 12, § 11). Damit sind der Anfang, die Richtung und das Ziel der Entwicklung des erkennenden Bewusstseins, mithin der Epistemologie bezeichnet. Aus einer näheren Betrachtung des unmittelbaren Zustandes des Bewusstseins ergibt sich, dass jener negativ als Nichtdenken bezeichnete Zustand sich positiv als eine Wechselwirkung unterschiedlicher Tätigkeiten bestimmen lasse und dass jene Negation des Denkens eigentlich nur die Negation des bewussten Denkens ist, denn an jener ursprünglichen Wechselwirkung sei schon das Denken im latenten und keimhaften Zustand gegenwärtig. Aus dieser Potentialität muss sich das Bewusstsein zum bewussten und selbstbewussten Denken erst entwickeln. Der »weckende Reiz« (Fichte, 1833b, S. 35, § 29) zu dieser Entwicklung üben laut Fichte die Sinnesempfindungen aus 147, durch deren Wirkung und Anregung das unmittelbare, zunächst nur wahrnehmende Bewusstsein »geweckt« und zu seiner Entwicklung zum und im Denken veranlasst werde. Auf diese Weise beginnt eine allmähliche Entwicklung, deren Hauptmomente nämlich die Empfindung, die Selbstempfindung, das Bewusstsein und das Selbstbewusstsein seien. 148 Die Wechselwirkung, welche im unmittelbaren Zustand des noch nicht denkenden Bewusstseins stattfindet, bestehe laut Fichte aus drei Tendenzen bzw. Richtungen der seelischen Tätigkeit.

Gegen den übereilten Einwand, Fichte verfalle durch diese Äußerungen in den Sensualismus, sei hier darauf hinzuweisen, dass Fichte nicht zufällig die Metapher des Erwachens wählt und dass er sich ganz bewusst dieser Gefahr ist. Im Gegensatz zum Sensualismus, welcher hierin die Erzeugung des Bewusstseins finden würde, behauptet Fichte, dass die Empfindung die Entwicklung eines vorempirischen Wesens lediglich auslöse. Fichte (1833b) drückt diesen Unterschied mit folgenden Worten aus: »Alle Erkenntniß beginnt und wurzelt in der sinnlichen Anschauung. Dies ist die Seite, wonach die Sensualisten älterer und neuerer Zeit ihr Recht behalten; Unrecht aber gerade in der Hauptsache haben, indem sie den Begriff der Entwicklung mit dem der Erzeugung verwechseln, und die absolute Innerlichkeit und schöpferische Selbstthätigkeit des Bewußtseins übersehen, kraft dessen es erst assimilirt und neu sich aneignet, was der Sinn bloß Stoffliches ihm darbietet« (S. 69, § 53). 148 Die Stufen der Empfindung und der Selbstempfindung wird Fichte später in seiner Psychologie – wie schon erwähnt – im Begriff des Bewusstwerdens zusammenfassen, sodass die Entwicklungsreihe, welche das Bewusstsein parallel im Erkennen, Fühlen und Wollen durchläuft, letztlich aus den drei Momenten des Bewusstwerdens, Bewusstseins und Selbstbewusstseins bestehen wird. 147

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Indem das Bewusstsein zunächst den Sinnesempfindungen hingegeben sei, befinde es sich unmittelbar in einem leidenden und rezeptiven Zustand. Laut Fichte impliziere diese Rezeptivität jedoch bereits eine Aktivität bzw. Gegenwirkung des Bewusstseins, welche sich als Aneignung des Gegebenen ausdrücke. Auf diese Weise unterscheidet Fichte am unmittelbaren Zustand des Bewusstseins zunächst zwei in Wechselwirkung stehende Tendenzen des bewussten Lebens. Es handelt sich nämlich – so Fichte – einerseits um die Richtung von außen nach innen, nach welcher das Bewusstsein im Zustand der Empfindung kraft der Leiblichkeit als absoluten Sinnes sich dem Gegebenen gegenüber rezeptiv und leidend verhalte, andererseits um die Richtung von innen nach außen, nach welcher das Bewusstsein im Zustand des Wollens kraft der Leiblichkeit als absoluten Werkzeuges sich dem Gegebenen gegenüber gegenwirkend und aneignend verhalte (Fichte, 1833b, S. 36, § 30). Indem das Gegebene das Bewusstsein hemme, trete »an dem Bewußtsein dieser Hemmung« die eigene Tätigkeit des Bewusstseins hervor, »welche das Fremde, Hemmende sich anzueignen strebt« (Fichte, 1833b, S. 36, § 30). Diese Tätigkeit, welche aus dem Inneren entspringe, bezeichnet Fichte als Willen, der sich im unmittelbaren Zustand des Bewusstseins zunächst als Naturwille (Trieb) kundgebe. 149 Aus dieser Unterscheidung folgt, dass im unmittelbaren Zustand des Bewusstseins eine Wechselwirkung zwischen Empfindung und Willen, Passivität und Aktivität, Rezeptivität und Produktivität stattfindet. Der dargestellte »Gegensaß« mag jedoch auf den ersten Blick »schroff und hart« erscheinen (Fichte, 1833b, S. 37, § 30), denn er kann der oberflächlichen Beobachtung eine mechanistische Bewusstseins- und Wahrnehmungstheorie nahelegen. Die Wechselwirkung zwischen Empfindung und Willen sei laut Fichte jedoch nur kraft einer dritten Instanz möglich, welche erst das Wesen des erkennenden Bewusstseins zum Ausdruck bringt. Fichte (1833b) macht darauf aufmerksam, dass der Erfolg jener Wechselwirkung davon abhänge, einerseits dass das Empfundene angeeignet und bewahrt werde, damit der Wille in Tätigkeit treten kann, andererseits dass dem Willen sein vorgebildetes Ziel zugeleitet werde (S. 37, § 30). Diese Leistung Hier eröffnet sich für den Willen eine zum Denken und Fühlen parallele Entwicklungsreihe, welche in der Epistemologie jedoch nicht betrachtet wird. Die Entwicklung des menschlichen Willens stellt Fichte in seiner Psychologie und seinem System der Ethik dar (vgl. Fichte (1850, 1851, 1853b, 1864a, 1873a)).

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setzte »eine neutrale, beide vermittelnde, weder als Empfinden noch als Wille zu bestimmende Innerlichkeit des Bewußtseins« voraus (Fichte, 1833b, S. 37, § 30). Da das Bewahren und das Vorbilden mehr als bloße Empfindung voraussetzen, insofern es sich dabei um Vorstellungen handelt, welche vom Bewusstsein bewahrt, erneuert und gebildet werden, bestimmt Fichte (1833b) diese Innerlichkeit des Bewusstseins als »absolut vorstellende Thätigkeit« (S. 38, § 31). Durch diese Bestimmung sei demnach der »Mittelpunkt« und der »Grundbegriff des gesammten Bewußtseins« (Fichte, 1833b, S. 38, § 31) zum Ausdruck gebracht, denn nur kraft dieser Tätigkeit seien Empfindung und Wille möglich. Indem Fichte diese drei Tätigkeitsweisen des Bewusstseins – Empfinden, Vorstellen und Wollen – unterscheidet, könnte man den Verdacht hegen, dass er der Vermögenspsychologie folgend die Existenz von drei unterschiedlichen, nebeneinanderstehenden Vermögen postuliere. Fichte (1833b) weist jedoch ausdrücklich darauf hin, dass diese Ansicht auf der falschen Annahme einer »Abscheidung im Bewußtsein« beruhe, »als ob es nicht in jeder seiner einzelnen Richtungen und Äußerungen ganz und ungetheilt Eins wäre« (S. 41, § 32). Im Gegensatz zur Vermögenspsychologie steht bei Fichte die Einheit des Bewusstseins im Vordergrund, sodass jede disjunktive Bestimmung des Bewusstseins aus dessen einheitlichen Wesen zu verstehen sei. »[I]m wirklichen Leben des Geistes«, behauptet Fichte (1833b), seien die Tätigkeitsweisen des Bewusstseins »unabtrennlich mit einander verbunden« und sie gehen »unablässig und fast ununterscheidbar in einander über« (S. 40, § 32). Theoretisch seien sie demnach nicht als vereinzelte und unabhängige Vermögen, sondern als »Modifikationen« der einheitlichen Vorstellungstätigkeit des Bewusstseins zu verstehen: »Nur die Modifikation und die höhere oder niedere Entwicklung dieses Vorstellens macht dasjenige aus, was man bisher als entgegengeseßte Zustände oder Vermögen im Bewusstsein sich gedacht hat« (Fichte, 1833b, S. 41, § 32). Auf diese Weise hebt Fichte die Einheit des Bewusstseins hervor, dessen Differenzierung in Tätigkeitsweisen auf sein ursprüngliches Wesen zurückführend, welches sodann von dieser frühen, noch unentwickelten und unbewussten Vorstellungstätigkeit ausgehend durch seine ganze aufkommende Entwicklung hindurch noch weitere Spezifizierungen zeigen wird. Am unmittelbaren Zustand des Bewusstseins findet Fichte in der Vorstellungstätigkeit die »Grundbestimmung der bewußten Seele«, aus welcher sich die weiteren Zustände entwickeln werden (Fichte, 164

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1833b, S. 64, § 48). Diese höheren Zustände seien Fichtes genetischer Methode gemäß schon in den niederen Zuständen gegenwärtig, sodass diese ihre »Erklärung« bzw. »Auslegung« erst in den höheren Zuständen fänden (Fichte, 1833b, S. 50, § 40, Anm.). Dementsprechend wird sich dasjenige, was sich im unmittelbaren Zustand des Bewusstseins als an die Empfindung und den Willen gebundene vorstellende Tätigkeit kundgibt, später als Denken erweisen. »Denken ist ursprüngliche Thätigkeit des Geistes« (S. 47, § 37, Anm.), stellt Fichte (1833b) fest, die spätere Selbstbewusstwerdung des Denkens antizipierend. Obwohl diese Behauptung erst durch die allmähliche Entfaltung dieser Tätigkeit durch alle ihre Stufen und Übergänge verständlich wird, stellt sich hier die Frage, was es eigentlich bedeutet, dass das Denken die ursprüngliche Tätigkeit des Geistes sei. 3.3.4.2.2 Das Streben und die Hauptmomente der Entwicklungsgeschichte des Denkens Nach der vorausgehenden höchst simplifizierten Darstellung des unmittelbaren Zustandes des Bewusstseins, aus welcher es nur deutlich geworden sein sollte, worin für Fichte das Wesen des erkennenden Bewusstseins besteht und in welcher Form es sich in seinem unmittelbaren Zustand ausdrückt, sollte nun jene ursprüngliche Tätigkeit des menschlichen Geistes näher bestimmt werden, um eben das Grundmotiv der Entwicklung des erkennenden Bewusstseins deutlich zu konturieren und hierbei seine weitere Entwicklungsgeschichte verständlich zu machen. Das Denken bestehe laut Fichte im »Abstreifen und Überwinden des Endlichen und Zufälligen im unmittelbaren Bewußtsein, um nur das Ewige als das wahrhaft Wirkliche, als seine Wahrheit, darin zu erkennen und in ihm übrig zu behalten« (Fichte, 1833b, S. 88, § 70). 150 Diese Denktätigkeit sei nicht nur bewusste, sondern ursprüngliche Tätigkeit des Geistes, was bedeutet, dass das Denken eine apriorische Wenn hier das Wesen des Denkens in dessen Reinheit und Isolierung betrachtet wird, soll man berücksichtigen, dass dadurch eine wesentliche Qualität der genetischen Darstellung Fichtes verloren geht, nämlich die die Besinnung des denkenden Bewusstseins auf sein ursprüngliches Wesen spiegelnde allmähliche Entfaltung jeder Stufe aus der vorhergehenden Stufe mit besonderer Aufmerksamkeit auf die Übergänge. Gerade darin liegt die Stärke der Begründung, sodass es beachtet werden soll, dass Fichte diese Grundbestimmung des Denkens allmählich zum Ausdruck bringt und dass sie an dieser Stelle nur antizipierend zur heuristischen Orientierung hervorgehoben wird.

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Anlage des menschlichen Geistes sei, welche sich zum Bewusstsein entwickeln müsse. Dementsprechend sei sein Streben nach dem Ewigen und Wahren die antreibende Kraft der ganzen Entwicklung des denkenden Bewusstseins. Alle »Epochen« und Stufen der Entwicklungsgeschichte des denkenden Bewusstseins, welche – beiläufig gesagt – natürlicherweise nicht enden und nicht hinter sich gelassen werden, sondern, einmal erreicht, verflochten im bewussten Leben laufen und dieses erst ausmachen, sind eben Entwicklungsformen bzw. Gestaltungen, die das Bewusstsein durch jene Denktätigkeit annimmt. Diese Gestaltungen lassen sich nun, nachdem das Grundmotiv dieser Entwicklung beleuchtet wurde, im Schema 1 skizzieren (S. 168–169). Dieses Schema zeigt die vier von Fichte unterschiedenen »Epochen« der Entwicklungsgeschichte des erkennenden Bewusstseins, welche – so der Vorschlag dieser Arbeit – in einer spiralförmigen Bewegung zu begreifen sind. Das Bewusstsein fängt seine Entwicklung von der unmittelbaren Erfahrung an und, nachdem es sich im Verlaufe dieser Besinnung allmählich durch die antreibende Denktätigkeit vom empirischen Inhalt emanzipiert, erreicht die höchste bzw. tiefste Stufe seiner Entwicklung, auf der es sich der Gegenwart des Ewigen im Zeitlichen, des Allgemeinen im Besonderen, des Bleibenden im Wechselnden, des Ideellen im Empirischen, inne werde. Auf diese Weise kehre dieser Besinnungsprozess, nachdem das Bewusstsein das spekulative Denken erreicht hat, auf die Erfahrung zurück, jedoch nun mit der durch seine Entwicklung eroberte Einsicht, dass das »Unmittelbare … die Offenbarung des Ewigen, als schlechthin Gegenwärtigen« sei (Fichte, 1833b, S. 210, § 158) bzw. – um Fichtes Worte an Charlotte von Kalb hier zu wiederholen – dass »in allem die Fülle der göttlichen Offenbarung« gegenwärtig sei (Ehret, o. J.-d, S. 71). Das Bewusstsein kehrt mit der spekulativen Gewissheit, dass der Erfahrung die Idee innewohnt, auf seinen Anfangspunkt zurück, an dem es »sich mit unendlichem unzerstörbarem Frieden darin befaßt weiß« (Ehret, o. J.-d, S. 71). In eben diesem Sinne ist für Fichte eine Versöhnung von Empirie und Spekulation, von Anschauung und Denken, möglich, auf welcher eine spekulative Naturbetrachtung beruht. Indem das Denken das durch diese ganze Bewusstseinsentwicklung hindurch allgegenwärtige Prinzip sei (Fichte, 1833b, S. 135, § 105), sei eben sein Streben diejenige Kraft, die die Entwicklung durch die Epochen der Wahrnehmung, der Vorstellung, des Denkens 166

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und des Erkennens in Bewegung setzt und zustande bringt. Diese Epochen und deren entsprechende Stufen machen eben die »Versuche« des Denkens aus, sich aus dem Endlichen und Zufälligen zum Unendlichen und Notwendigen zu erheben. Alle Gestaltungen des wahrnehmenden, vorstellenden, denkenden und erkennenden Bewusstseins sind demnach als eine Reihe von steigernden Versuchen zu betrachten, sich an die Wahrheit anzunähern. Das Interessante des Ansatzes Fichtes ist die Ansicht, dass sich diese steigernde Annäherung an die Wahrheit durch die ganze Entwicklungsgeschichte des erkennenden Bewusstseins verfolgen lasse, sodass sie nicht nur Eigentum des bewussten Denkens sei, sondern schon unbewusst in den niederen Stufen der Bewusstseinsentwicklung sich geltend mache und den Übergang von einer zur nächsten Epoche erst verständlich mache. Auch wenn an diesem Ort nicht alle Epochen, Stufen und Übergänge charakterisiert werden können, scheint es immerhin angebracht, mindestens Licht auf die Hauptübergänge zwischen den Epochen zu werfen. Hierbei sollte lediglich ersichtlich werden, inwiefern die oben angeführte Grundbestimmung des Denkens das Bewusstsein von einer in die nächste Epoche übergehen lässt. Im wahrnehmenden Zustand des Bewusstseins, bei welchem die Empfindungen an Unterscheidung, Verknüpfung und Anerkennung gewinnen, um Anschauungen und Wahrnehmungen zu werden, lasse sich in aufkeimender Form die Wirkung einer unbewussten vorstellenden Tätigkeit erkennen. Am Prozess, in dem die Sinnesempfindungen unterschieden und verknüpft werden sollen, sei laut Fichte eine Tätigkeit des Bewusstseins beteiligt, welche später als analytische und synthetische Denktätigkeit zum Ausdruck kommen wird. 151 Auf dieser Stufe, wo sich die undifferenzierten Empfindungen allDie unbewusste Denktätigkeit des wahrnehmenden Bewussteins lasse sich laut Fichte (1833b) noch auf eine »Syllogistik« im leiblichen Dasein zurückführen, in welchem sich die Seele als »der kunstreichste Äquilibrist, Meß- und Scheidekünstler« verhalte (S. 47, § 37, Anm.). Auf diese Weise wird ein Kontinuum von Leben (organischer Tätigkeit) und Denken (geistiger Tätigkeit) anerkannt. Gerade den Beweis eines solchen organisch-metaphysischen Seelenbegriffs nimmt sich Fichte in seiner Anthropologie vor. »[U]m unsere Meinung auf die Spiße zu stellen«, schreibt Fichte (1833b) schon in Das Erkennen als Selbsterkennen, sei »die Seele eben so wesentlich in den organischen Funktionen des Blutumlaufs oder der Verdauung thätig, als in den geistigen des Fühlens und Denkens; nur reichen jene nicht an die bewußte Seite der Seele hinan, welche der Gipfel, nicht aber die ganze Wirklichkeit derselben ist« (S. 30, § 26, Anm.).

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Empirisches Erk.

1.1 Anschauendes Erk. 1.2 Aposteriorisches Erk. 1.3 Erfahrungsphilosophie: Sensualismus (Locke)

Vierte Epoche: Erkennen

1 Empfindung: vernehmendes Bew. 2 Anschauung: gewahrendes Bew. 3 Wahrnehmung: anerkennendes Bew.

Erste Epoche: Wahrnehmung

Zweite Epoche: Vorstellung

1

⟵ Begriff

1.1 Bestimmter Begriff 1.2 Begriff im Verhältnis 1.3 Urbegriff

Dritte Epoche: Denken

1 Erinnerung: reproduktives Bew. 2 Einbildungskraft: produktives Bew. 3 Sprachdarstellung: darstellendes/ ausdrückendes Bew.



Schema 1. Epochen und Stufen der Entwicklungsgeschichte des erkennenden Bewusstseins







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2.1 Skeptizismus (Hume, Antike) 2 Reflektierendes 2.2 Kritizismus (Kant) Erk. 2.3 Subjektiver Idealismus (J. G. Fichte) 3.1 Absolute Vernunftanschauung (Jacobi) 3 Spekulatives 3.2 Spekulativ-dialektisches Erk. Denken (Hegel) 3.3 Spekulativ-anschauendes Erk. Urteil

2.2 Zusammenfassung

2.2.1 Singuläres U.

2.1.4 Identisches U.

2.1.2 Negatives U. 2.1.3 Unendliches U.

2.1.1 Positives U.

2.2.2 Partikuläres U. 2.2.3 Universelles U. 2.3 Allgemeinheit 2.3.1 Kategorisches U. 2.3.2 Hypothetisches U. 2.3.3 Disjunktives U. 2.4 Begründung 2.4.1 Problematisches U. 2.4.2 Assertorisches U. 2.4.3 Apodiktisches U. 3.1 Unmittelbarkeit 3.1.1 Positiver Schl. 3.1.2 Partikulärer Schl. 3.1.3 Unendlicher Schl. 3.2 Zusammenfassung 3.2.1 Universeller Schl. 3.2.2 Induktiver Schl. 3 Schluss 3.2.3 Analogischer Schl. 3.3 Allgemeinheit 3.3.1 Kategorischer Schl. 3.3.2 Hypothetischer Schl. 3.3.3 Disjunktiver Schl. 4 Kategorien: Bestimmungen des Anschauens und Denkens

2

2.1 Unmittelbarkeit

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mählich zu einem besonderen »Ding« konfigurieren, sei die daran beteiligte Tätigkeit jedoch noch nicht reines Denken, sondern Vorstellungstätigkeit. Nachdem Fichte die Abstufung von Empfindung, Anschauung und Wahrnehmung erläutert, kommt er zu dem Punkt, an dem sich die Bedingung dieser Abstufung des wahrnehmenden Bewusstseins erkennen lässt. Damit das Bewusstsein ein Ding eben als Ding wahrnehmen und anerkennen kann, sei erforderlich, dass das Bewusstsein den »Stoff« der Sinne auf eine bestimmte Weise verarbeitet. In diesem Sinne behauptet Fichte (1833b), dass die Bedingung der Möglichkeit der Wahrnehmung nicht nur bloße Rezeptivität, sondern auch die »Kraft der Bewahrung« bzw. des »Verinnerns« sei (S. 52, § 44). Bei der Verarbeitung des Stoffes der Sinne zu eigentlichen Anschauungen und Wahrnehmungen sei demnach eine Tätigkeit notwendig, welche jenen äußerlichen Stoff unterscheidet, verknüpft und verinnerlicht – die Kraft des Bildens und der Verinnerlichung. Indem die Besinnung des erkennenden Bewusstseins auf diesen Punkt kommt, gehe das Bewusstsein von der Wahrnehmung in die Erinnerung, d. h. von der Epoche der Wahrnehmung in die Epoche der Vorstellung über. Auf diese Weise wird ersichtlich, wie auf dieser Stufe das unbewusste Streben des Denkens, sich vom Wechselnden zum Bleibenden zu erheben, das Bewusstsein vom wahrnehmenden in den vorstellenden Zustand übergehen lässt, in welchem das Bewusstsein sich vom bloß Gegebenen emanzipiert und sich einen ersten »Besitz« schafft, welcher sodann erinnert, vorgestellt, neugebildet und dargestellt werden kann. In seinem vorstellenden Zustand könne das Bewusstsein nun seine gebildeten Vorstellungen reproduzieren, neue Vorstellungen produzieren und diese Vorstellungswelt sowohl künstlerisch als auch sprachlich darstellen. Nachdem Fichte diese Abstufung erläutert, kommt er wieder zu einem Punkt, an dem sich eine neue Epoche des Bewusstseins eröffnet. Die Entwicklung der Vorstellung erreiche eine Stufe, auf welcher die Vorstellungen und Vorstellungsreihen ihren »unmittelbare[n] Ausdruck« im »Sprachorganismus« finden (Fichte, 1833b, S. 79, § 63). Auf diese Weise wird die Bedingung der Möglichkeit dieses sprachlichen Ausdrucks der Vorstellungen und der Gedanken deutlich. Laut Fichte (1833b) sei das »Sprechen« nämlich als »unmittelbares Denken« (S. 74, § 59) bzw. die Sprache als »Darstellung der Denkformen (Kategorien)« (S. 76, § 61) zu betrachten. Damit die Vorstellungen zueinander ins Verhältnis gesetzt und diese Vorstellungen und Gedanken sprachlich ausgedruckt werden können, 170

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sei eine Tätigkeit erforderlich, die die Vorstellungen analysiert, synthetisiert und ordnet. In diesem Sinne zeige sich laut Fichte (1833b) im sprachlichen Ausdruck, d. h. »in Flexion und Rektion, in Zeit- und Modalitätsbestimmung, in Saß- und Perioden-Verhältniß, besonders in der Ausbildung ihrer Conjunktionen und Partikeln«, nämlich »das Denken und seine ursprünglichen Formen (die Kategorien) auf äußerlich unmittelbare Weise« (S. 78, § 62). Durch die Bewusstwerdung dieser schon auf der Ebene der Vorstellung unbewusst gegenwärtigen Denktätigkeit gehe das Bewusstsein nun in die Epoche des Denkens über. Bei der Abstufung der Epoche der Vorstellung wird auch die emanzipatorische Bewegung der unbewussten Denktätigkeit ersichtlich, insofern diese, nach einem Bleibenden und Allgemeinen strebend, nicht mehr nur an den empirischen Inhalt gebunden ist, um bloß unbewusst das Gegebene zu verarbeiten, sondern auch frei zur analytischen und synthetischen Verarbeitung des eigenen Eigentumes des menschlichen Geistes werde (Fichte, 1833b, S. 81, § 64). Im denkenden Zustand des Bewusstseins sei das Denken vom Gegebenen emanzipiert und begreifend, urteilend und schließend komme es letztendlich zur reinen Betrachtung des formellen Wesens des Denkens. Die Abstufung von Begriff, Urteil und Schluss macht eine Steigerung der Denktätigkeit in ihrem Streben nach dem Ewigen und Wahren aus und der Übergang von einer in die nächste Stufe sei durch die Mangelhaftigkeit jedes Versuches veranlasst, das Allgemeine aufzufassen. Nach einer Erkenntnis des Allgemeinen strebend, erweise sich nämlich der Begriff, sodann jede Urteils- und Schlussform aufgrund der Leerheit des Begriffs und der Unerschöpflichkeit der Erfahrung als prekär, bis letztendlich das denkende Bewusstsein auf der höchsten Stufe des Schlusses zur Einsicht komme, einerseits dass »[d]as Allgemeine … nur als sich besonderndes und in seiner einzelnen Selbstgestaltung wirklich« sei, andererseits dass umgekehrt »das Einzelne nichts mehr und nichts Anderes, als die Selbstverwirklichung des Allgemeinen« sei (Fichte, 1833b, S. 201, § 150). Diese »Einheit … innerer Wechselbeziehungen und in gegenseitiger Abhängigkeit stehender Besonderheiten« (Fichte, 1833b, S. 180, § 137) bzw. »das zur Einzelnheit sich unendlich fortbestimmende Allgemeine« (Fichte, 1833b, S. 200, § 149) bezeichnet Fichte – an seine idealistische Tradition sich anschließend – die Idee. Nachdem Fichte (1833b) diese Abstufung des denkenden Bewusstseins erläutert, beschreibt er endlich das Moment, in dem das Denken zu seiner formellen Vollendung gelange (S. 197, § 148). Indem die ganze Entwicklung des BeSubstantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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wusstseins und alle dazugehörigen unbewussten und bewussten Anschauungs- und Denkoperationen nach allgemeinen Formen bzw. Gesetzen vollgebracht werden, werde sich das Bewusstsein auf der Stufe seiner Vollendung eben dieser Formen bewusst. Da es sich bei der Epistemologie um die Entwicklung des Bewusstseins handelt, werden diese Formen als Kategorien »des anschauenden und denkenden Bewußtseins« betrachtet (Fichte, 1833b, S. 182, § 139) – noch nicht als Kategorien des Seins. 152 Die Kategorien bilden für Fichte (1833b) das formelle und abstrakte »Abbild« der »innern Entwicklung des Bewußtseins« (S. 183, § 139), sodass sie nur in Bezug auf diese Entwicklung Wert besitzen (S. 183, § 140). Sie seien demnach als einzelne Abstraktionen wertlos, jedoch als »Resultate der einzelnen Stufen dieser Entwicklung« (Fichte, 1833b, S. 197, § 148) erlangen sie erst Zusammenhang, Ordnung und Ergänzung. Dabei schließt sich Fichte (1833b) an Hegel an, indem er wie dieser der Auffassung ist, dass bei der Kategorienlehre das Prinzip behalten werden solle, dass »die Kategorien in einander übergehen« (S. 184, § 140). 153 Diese Entfaltung der Kategorien als Abbild der durchgelaufenen Entwicklung macht demnach die formelle Vollendung des Denkens aus. Aus dieser nur formellen Selbstbewusstwerdung des Denkens müsse das denkende Bewusstsein nun in eine neue Epoche seiner Entwicklung übergehen, in welcher das Anschauen und Denken »mit einem bestimmten Inhalte und Resultate« erfüllt werden (Fichte, 1833b, S. 205, § 153). Bei der neuen Epoche des Erkennens handele es sich demnach nicht

Eine genetische Betrachtung der Kategorien als Grundbestimmungen des Seins nimmt sich Fichte in Die Ontologie vor (vgl. Fichte (1836a)). 153 Gleichzeitig kritisiert Fichte Hegels Kategorienlehre. Im Allgemeinen gilt für Fichte (1833b), dass die Kategorien nicht als »Tafel fertiger Denkbestimmungen« oder als »ein abgeschlossenes Schema wissenschaftlicher Behandlung« betrachtet werden dürfen (S. 183–184, § 140). Im Besonderen lasse sich bei manchen Kategorienlehren den Umstand erkennen, dass die darin behandelten Kategorien »oft nicht einmal Kategorien sind, sondern sinnbildliche Vorstellungen eines Denkverhältnisses« (Fichte, 1833b, S. 184, § 140). Gerade dieses Problem diagnostiziert Fichte (1833b) an der Kategorienlehre Hegels und dessen Schule, indem er als Beispiel solcher Vorstellungen »das Umschlagen der Begriffe, die dialektische Aufhebung der Aufhebung, selbst die dialektische Bewegung« nennt, »welche in der Hegel’schen Schule oft den ganzen Apparat ausmachen, mit welchem man die Gedanken vorwärts bringt« (S. 184, § 140). Dementsprechend sei das Problematische bei dieser Art von Kategorienlehre sowohl der abstrakte Schematismus als auch der methodische Zwang durch ein fertiges und starres Denkmuster. Zu Fichtes historisch-kritischer Würdigung von Hegels Wissenschaft der Logik vgl. Fichte (1841a, S. 842–928). 152

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mehr um die Potentialität, sondern um die »Wirklichkeit« des Anschauens und Denkens (Fichte, 1833b, S. 205, § 153). Bisher wurden die drei Hauptübergänge der Entwicklung des Bewusstseins dargestellt. Dabei sollte es lediglich deutlich geworden sein, inwiefern das Streben des Denkens diese Entwicklung in Bewegung setzt und sich als das allgegenwärtige Prinzip dieser Entwicklung erweist. Wie aus dem Vorschlag, die Entwicklung des erkennenden Bewusstseins als eine spiralförmige Bewegung zu begreifen, hervorgeht, soll noch ein Übergang, nämlich die Rückkehr vom spekulativen Erkennen in die unmittelbare Anschauung, stattfinden. Dieser Übergang wird jedoch erst im Folgenden berücksichtigt, denn nun gilt es, sich auf die Epoche des Erkennens fokussierend, das eigentliche Erkenntnisproblem und den epistemologischen Standpunkt Fichtes näher zu betrachten.

3.3.4.3 Der Standpunkt des spekulativ-anschauenden Erkennens

Bis zum Übergang in die Epoche des Erkennens habe sich »alles Bewusstsein« schon »als Denken« erwiesen (Fichte, 1833b, S. X). Die Bedeutung dieser Behauptung sollte aus dem Vorhergehenden deutlich geworden sein. In der Epoche des Erkennens werden nun die »möglichen Verhältnisse« des denkenden Bewusstseins »zur Wahrheit« betrachtet, welche zugleich »die möglichen philosophischen Systeme« ausmachen (Fichte, 1833b, S. IX). Fichte lässt in seiner genetischen Epistemologie jeden dieser Standpunkte immanent ineinander übergehen, insofern sie Stufen der Entwicklung des erkennenden Bewusstseins entsprechen, bis sich das spekulativ-anschauende Erkennen letztendlich als der Empirie und Spekulation versöhnende Standpunkt erweist. Auch wenn an dieser Stelle die einzelnen Stufen der Epoche des Erkennens nicht ausführlich dargestellt werden können, sollen immerhin diejenigen Momente hervorgehoben werden, die für ein adäquates Verständnis jenes Standpunktes wichtig sind. Es gilt demnach, näher zu betrachten, wie das Bewusstsein zum Erkenntnisproblem gelangt und inwiefern der spekulativ-anschauende Standpunkt eine Lösung dieses Problems darstellt. 3.3.4.3.1 Die Entstehung des Erkenntnisproblems In allen unmethodischen wie methodischen Denkoperationen des Bewusstseins bis zur Stufe der Erfahrungsphilosophie, d. h. in allen seiSubstantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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nen Versuchen, im Bereich der Erfahrung zu begreifen, zu urteilen und zu schließen, habe das Bewusstsein unter einer stillschweigenden Annahme verfährt, welche erst in der Epoche des Erkennens zum bewussten Problem wird. Diese Annahme drückt sich als eine unbewusste Zuversicht in die Gültigkeit jener Denkoperationen und deren Resultate aus. Bei näherer Betrachtung ergibt sich, dass die dieser Zuversicht zugrunde liegende Annahme sich in drei Momente unterscheiden lässt. Das denkende Bewusstsein verfahre nämlich erstens unter der Annahme, dass das Einzelne »die Bewährung eines Allgemeinen« sei (Fichte, 1833b, S. 164, § 126), d. h. es nehme »die Nichtigkeit des Endlichen und den ewigen Sieg der Idee« unbewusst an (Fichte, 1833b, S. 173, § 132, Anm.). Ohne diese Annahme würde das Denken schlechthin nicht in Tätigkeit treten. Zweitens nehme das denkende Bewusstsein unbefangen an, dass »die Denkformen das Wesen der Objektivität ausdrücken« (Fichte, 1833b, S. 240, § 175), d. h. dass die Denk- mit den Seinsformen übereinstimmen. Hierin ist schon die dritte Annahme enthalten, welche darin besteht, dass Subjektivität und Objektivität eine Einheit bilden. Aus eben dieser Einheit seien die zwei vorigen Annahmen möglich, indem sie sowohl die Annahme einer Rationalität im Empirischen als auch die Annahme einer formellen Übereinstimmung bzw. einer rationellen Verwandtschaft zwischen Denken und Sein begründet. Da Subjektivität und Objektivität eine Einheit bilden – so lässt sich die ganze stillschweigende Annahme und unbewusste Zuversicht zusammenfassen –, stimmen die durch das subjektive Denken hervorgebrachten Begriffe, Urteile und Schlüsse mit dem objektiven Wesen des betrachteten Gegenstandes, d. h. mit dem im wandelbaren und vergänglichen Einzelnen bleibenden und ewigen Allgemeinen, überein. Von dieser Zuversicht ausgehend lasse das denkende Bewusstsein seiner Denktätigkeit und seinen Denkoperationen unbekümmert und unbefangen freien Lauf und halte seine Behauptungen für den Ausdruck des Seienden, sie objektive Gültigkeit verleihend. Diese unbefangene Verfahrungsweise des erkennenden Geistes verlaufe bis zur Stufe des empirischen Erkennens, wo das Erkenntnisproblem in seiner ersten Form in Erscheinung trete. Auf diese Weise deckt sich der skeptische Faden der Entwicklung des erkennenden Bewusstseins auf, welcher sich noch allmählich steigern wird, bis das Erkenntnisproblem zu seinem höchsten Ausdruck, nämlich zur »spekulative[n] Krisis« gelange (Fichte, 1833b, S. 257, § 188). 174

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Bei der am Übergang vom aposteriorischen Erkennen in die Erfahrungsphilosophie sich stellende Aufgabe, die empirischen Erkenntnisse in ein System zusammenzufassen, schreite das erkennende Bewusstsein von einer naiven Betrachtung »gegebener Gegenstände nach fertigen Denkformen« (Fichte, 1833b, S. 235, § 171) – d. h. von einer unkritischen Anwendung der Kategorien auf das Gegebene – zu einer kritischen Betrachtung eben dieser im empirischen Erkennen bloß vorausgesetzten Denkformen fort. An dieser zunächst nur äußerlichen Behandlung der durch das empirische Erkennen hervorgebrachten Abstraktionen lassen sich laut Fichte drei Annahmen identifizieren, welche die Emanzipation des Bewusstseins vom Gegebenen spiegeln und den Übergang zum reflektierenden Erkennen vorbereiten. Die Möglichkeit eines solchen erfahrungsphilosophischen Systems sei nämlich dadurch bedingt, dass erstens der Unterschied zwischen Inhalt und Form zum kategorialen Gegensatz wird (Fichte, 1833b, S. 236–237, § 173). Indem sich das Denken beim empirischen Erkennen durch das Reflexionsprinzip zu immer höheren Abstraktionsebenen erhebt, werde es ihm möglich, vom konkreten Inhalt der Erkenntnis so zu abstrahieren, dass ihm letztendlich die leere Form jener Erkenntnis übrig bleibt. Während im empirischen Erkennen die auf der Annahme der Einheit zwischen Subjektivität und Objektivität beruhende Übereinstimmung zwischen der allgemeinen Form und dem einzelnen Inhalt unbefangen und zuversichtlich angenommen werde, werde dieses Verhältnis auf der Stufe der Erfahrungsphilosophie stattdessen als das Verhältnis von zwei kategorial getrennten Instanzen des Erkennens angenommen. Beim Erkenntnisprozess – so das neue Verständnis dieses Verhältnisses – werde demnach eine an sich leere Denkform auf einen an sich unvernünftigen Inhalt nominalistisch angewandt (Fichte, 1833b, S. 237, § 173). Außer dem Gegensatz von Inhalt und Form nehme das Bewusstsein auf der Stufe der Erfahrungsphilosophie zweitens die Vereinzelung und Beziehungslosigkeit der Denkformen an. Da diese Denkformen »nicht in einander übergehende[] Bestimmungen« ausmachen (Fichte, 1833b, S. 237, § 174), stehen alle aus der Anwendung der Denkformen hervorgehenden Prädikate eines Subjekts genauso nebeneinander wie die Denkformen. Die Annahmen des Gegensatzes von Inhalt und Form und des »Nebeneinanderbleiben[s]« (Fichte, 1833b, S. 238, § 174) der Denkformen beruhen jedoch auf einer weiteren Annahme, welche die klasSubstantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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sische Formulierung des Erkenntnisproblems ausmacht. Da sich die Denkformen als subjektive Produkte des Denkens und die Anwendung jener Denkformen auf das Gegebene als eine subjektive Operation erweisen, entstehe im Bewusstsein der tiefgreifende Gegensatz zwischen Subjektivität und Objektivität. Aus der Behauptung dieser epistemischen Trennung ergibt sich, dass jeder vermeintlichen Erkenntnis der Objektivität letztendlich nur subjektive Gültigkeit zuzuschreiben sei (Fichte, 1833b, S. 240, § 175). Auf diese Weise wird das Erkennen zum ersten Mal zum Problem, wodurch »die unbefangene Harmonie des Bewußtseins gestört« werde (Fichte, 1833b, S. 240, § 175). In diesem Moment der Entwicklung des erkennenden Bewusstseins stellt sich die epistemologische Aufgabe, die Entsprechung oder die Nichtentsprechung von Subjektivität und Objektivität zu begründen, was die nächsten Stufen dieser Entwicklung bestimmt. 3.3.4.3.2 Die Steigerung des Erkenntnisproblems zur »spekulativen Krisis« des Denkens Mit diesem Problem geht das Bewusstsein in die nächste Stufe seiner Entwicklung über, ohne jedoch zuvor noch auf der Stufe der Erfahrungsphilosophie einen ersten Lösungsversuch zu unternehmen. Der erste, »roheste philosophische Versuch« (Fichte, 1833b, S. 241, § 176) ist laut Fichte der Sensualismus, welcher durch die Konsequenz seiner Ansicht das Erkenntnisproblem so steigert, dass das Bewusstsein in eine neue Stufe übergehen muss. Bei seinem Versuch, das Erkenntnisproblem in dessen schon dargestellten Formulierung zu lösen, verneine der Sensualismus die Spontaneität des Denkens, um nur die Rezeptivität geltend zu machen. Das Bewusstsein als absolute und leere Rezeptivität empfange bloße »Abbilder« der Dinge 154 (Fichte, 1833b, S. 242, § 177) und die »Geseßen und Bestimmungen« des Denkens, was vorher als die Form bezeichnet wurde, seien letztendlich auf die Empfindung zurückzuführen, mithin »als die aus wiederhohlter Beobachtung und äußerer Übereinstimmung zusammengefaßte, daraus abgekürzte Erfahrung« betrachtet (Fichte, 1833b, S. 241, § 176). Da das Formelle des Erkennens auf das Empirische zurückgeführt wird, sei die Konsequenz dieser Ansicht, dass sogar dasFichte hat John Locke im Sinn, durch welchen der Sensualismus seine »klassische Darstellung« erfahren habe. Zu Fichtes historisch-kritischer Würdigung der Philosophie Lockes in Entgegensetzung zu Leibniz vgl. Fichte (1829, S. 29–67, 1841a, S. 29–62).

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jenige, was als »allgemeine und nothwendige Erkenntniß« gelten sollte, nur »eine Annahme aus bloßer Gewöhnung« sei (Fichte, 1833b, S. 244, § 178). 155 Dementsprechend erweise sich eine solche Erkenntnis, den Charakter des Allgemeinen und Notwendigen verlierend, als ein Produkt einer subjektiven Verarbeitung eines an sich zufälligen empirischen Inhalts. Auf diese Weise verlieren das empirische Erkennen und die Erfahrungsphilosophie das Fundament, »indem beide in dem Denken der Dinge nach den Kategorien ihre Vorausseßung haben« (Fichte, 1833b, S. 246, § 179). Durch diese Steigerung des Erkenntnisproblems gehe der Sensualismus in den Skeptizismus über, welcher das erste Moment der Stufe des reflektierenden Erkennens ausmacht. Was die konsequente Zurückführung alles Erkennens auf das Empirische letztendlich bewirkt, sei die Rückkehr des Denkens auf sich selbst sowie dessen Bewusstwerdung der Kategorien. Das Denken »macht sich und seine Kategorien zum Gegenstande seines Denkens, objektivirt sich selbst« (Fichte, 1833b, S. 249, § 181). Durch diese Selbstobjektivierung des Denkens wird demnach die sensualistische Reduktion des Bewusstseins auf die bloße Rezeptivität aufgehoben und die Spontaneität des Denkens anerkannt. Auf diese Weise erneuert sich die Frage für die nächste Stufe der Entwicklung des Bewusstseins, worin das Verhältnis dieses Denkens zur Objektivität besteht. Indem der Sensualismus das Erkenntnisproblem zu lösen versucht, welches durch die Aufdeckung der Annahme der Erfahrungsphilosophie zutage tritt, nämlich, dass Subjektivität und Objektivität im Gegensatz stehen, sodass Form und Inhalt der Erkenntnis kategorial getrennte Faktoren seien und alle aus den Kategorien hervorgehenden Prädikate eines erkannten Gegenstandes unter der Gefahr des Widerspruches nebeneinanderstehen, gelange das Bewusstsein durch die Konsequenz der sensualistischen Ansicht zu skeptischen Resultaten, welche das skeptische Bewusstsein erst zur Klarheit bringt. Es hat sich nämlich ergeben, einerseits dass der Inhalt des Bewusstseins ein subjektives Abbild eines außerhalb des Bereichs des unmittelbar Erfahrbahren liegenden Objekts sei, andererseits dass die Denkformen und -bestimmungen insofern keine epistemische Fichte nimmt Bezug auf David Hume und dessen Kritik des Kausalitätsbegriffs. Zu Fichtes historisch-kritischer Würdigung der Philosophie Humes vgl. Fichte (1829, S. 88–108, 1841a, S. 84–108).

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Gültigkeit besitzen, als sie selbst ein subjektives Produkt der Gewöhnung und der Abstraktion aus der Erfahrung seien. Durch die Anerkennung der Spontaneität des Denkens – welche eigentlich für den Erfolg der Abstraktion im Sensualismus stillschweigend vorausgesetzt werden musste – steigert das skeptische Bewusstsein dieses Erkenntnisproblem noch weiter. Auf dem Standpunkt des Skeptizismus werde das sensualistische Resultat beibehalten, dass ein Objekt erst durch die Vermittlung der subjektiven Sinnlichkeit für das Bewusstsein entstehe, sodass dieses bewusste Objekt nur das Kompositum der Sinnesempfindungen sei, während das reale Objekt, welches diese Sinnesempfindungen verursacht, eigentlich nicht erfahren und erkannt werden könne (Fichte, 1833b, S. 250, § 183). Was der Skeptizismus durch die Anerkennung der Spontaneität des Denkens noch hinzufügt, sei die Behauptung, dass »der Begriff des Dinges zu den, dem Bewußtsein gegebenen, Empfindungen nur hinzugedacht« werde (Fichte, 1833b, S. 250–251, § 183). Es werde demnach aus dem Inhalt des Bewusstseins auf den Grund der Empfindung unbewusst geschlossen (Fichte, 1833b, S. 253, § 184). Indem jedoch diese aus einem subjektiven Schluss entstandene Denkbestimmung ein subjektives Produkt des Denkens sei, das kategorial mit dem Realen unterschieden sei bzw. das nicht »die ganz unbekannte Sphäre der Nichtbildlichkeit (Dingheit)« betreffe (Fichte, 1833b, S. 253, § 184), bleibe das reale Objekt trotzt dieser Zutat des Denkens unerkennbar. Zu diesem aus der Betrachtung des Verhältnisses des Objekts mit der Sinnlichkeit hervorgehenden skeptischen Resultat fügt Fichte noch ein zweites Resultat des Skeptizismus hinzu, welches aus einer Betrachtung des Denkens und der Kategorien hervorgeht. Fichte (1833b) weist nämlich darauf hin, dass der Skeptizismus aufgrund seiner eigentümlichen Auffassung der Kategorien als nebeneinanderstehender Bestimmungen die widersprechende Natur des Denkens dadurch zu erweisen glaubt, dass er behauptet, dass zwei widersprechende Bestimmungen – wie beispielsweise Eins und Vieles (NichtEins), Sein und Nichtsein usw. – eben von demselben Gegenstand prädiziert werden können (S. 253–254, § 185). Dies bedeutet, dass sich »jede einzelne Bestimmung« des Denkens »als unwahr« erweise und sich »in ihr Gegentheil« auflöse, denn einem Prädikat trete das gegensätzliche Prädikat »mit völlig gleichem Rechte« bzw. isosthenisch gegenüber, sodass sie sich gegenseitig aufheben (Fichte, 1833b, S. 255, § 186). 178

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Das ganze bisherige Resultat des Skeptizismus lässt sich in der Behauptung zusammenfassen, dass die Wahrheit weder durch die Sinnlichkeit, weil das Objekt hinter der Erscheinung bleibt, noch durch das Denken, weil die Denkformen im Widerspruch stehen, erkannt werden könne (Fichte, 1833b, S. 255, § 187). Indem jedoch der Skeptizismus die Unerkennbarkeit der Objektivität behauptet, habe er trotzdem die Objektivität negativ als etwas Unbestimmbares und Unerkennbares bestimmt. Wenn sich demnach die durch den Skeptizismus selbst behauptete widersprechende Natur des Denkens geltend macht, so würde es sich ergeben, dass der Bestimmung der Unbestimmbarkeit und Unerkennbarkeit die gegensätzliche Bestimmung gegenübertreten würde, sodass sich beide Bestimmungen wegen des entstandenen Widerspruches auflösen würden. Angesichts dieses Umstandes sei das letzte Resultat des Skeptizismus die »Unentschiedenheit« und die »absolute Vernichtung jedes Bestimmens überhaupt« (Fichte, 1833b, S. 256, § 187). Der konsequente Skeptizismus drehe sich demnach in einem selbstvernichtenden Kreis: »Nichts ist gewiß; nicht einmal dies, das Nichts gewiß ist« (Fichte, 1833b, S. 255, § 186). 156 Dieses Moment bezeichnet Fichte (1833b) als »de[n] erste[n] Höhenpunkt der Reflexion« und als »eine Art von spekulativer Krisis« (S. 257, § 188). Durch die allmähliche Entleerung des Denkens Im Kontext des Skeptizismus hebt Fichte (1833b) die Bedeutung des Skeptizismus der Antike – Dialektiker, Eleaten, Platon, Akademiker und Skeptiker – hervor, demgegenüber der Skeptizismus Humes »nur von sehr untergeordneter Bedeutung« sei (S. 257, § 187, Anm.). Im Vergleich zum Skeptizismus der Antike erhebe sich Hume nicht »zu der allgemeinen skeptischen Konsequenz, daß jede einzelne Gedankenbestimmung, eben weil sie die einzelne ist, mit dem nothwendigen Widerspruche ihres Gegentheils behaftet ist« (Fichte, 1833b, S. 257, § 187, Anm.). Zur Deutung von Fichtes Ansicht über die Philosophie der Antike gibt es außer seiner Dissertation zum Ursprung des Neuplatonismus leider keine veröffentlichte Schrift. Sein historisch-kritisches Werk, Beiträge zur Charakteristik der neueren Philosophie, oder kritische Geschichte derselben von Des Cartes und Locke bis auf Hegel, lässt er erst mit der Moderne anfangen. Nichtsdestoweniger hielt Fichte mindestens im Sommersemester 1838 in Bonn eine Vorlesung zur Geschichte der Philosophie von den Griechen bis zur kantischen Epoche. Diese Vorlesung wurde von Karl Gustav Wilmowski nachgeschrieben und heute liegt Ehrets Abschrift dieser Nachschrift im Nachlass von Hermann Ehret in der Rudolf Steiner Bibliothek in Stuttgart (vgl. Fichte (1838a)). Auch wenn Fichtes Darstellungen der einzelnen Philosophen und Schulen wegen des Kontextes knapp sind, erweist sich diese Nachschrift als ein wichtiges und aufschlussreiches Dokument für die Deutung des Denkens Fichtes. Eine Edition dieser Vorlesungen bleibt demnach noch ein Desiderat der Forschung.

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vom empirischen Inhalt und den Verzicht auf alle unkritischen Annahmen gelange das Bewusstsein zu einem Wendepunkt, an welchem das Denken »zum ersten Male allein mit sich selbst« sei (Fichte, 1833b, S. 258, § 188) und an welchem, nachdem es durch den Verlust aller Gewissheit zur lähmenden Unentschiedenheit kam, angesichts des Widerspruches seiner Situation eben eine Entscheidung treffen solle. Das denkende Bewusstsein gehe folglich insofern in die nächste Stufe seiner Entwicklung über, als das Denken in sich selbst »die Wurzel der Gewißheit und Eintracht« zu suchen beginne, um erst danach sich auf »ein Objektives« richten und »die Wissenschaft desselben« werden zu können (Fichte, 1833b, S. 258, § 188). »Das Denken denkt sich selbst: dies ist vorläufig als das Eigenthümliche des neuen Standpunktes zu bezeichnen« (Fichte, 1833b, S. 258, § 188). Bei dem Skeptizismus sei die Frage nach dem Verhältnis zwischen Subjektivität und Objektivität insofern unentschieden geblieben, als sich das Denken wegen der Möglichkeit des Widerspruches jeder Denkbestimmung enthalten habe (Fichte, 1833b, S. 261, § 190). Diese Frage nehme der Kritizismus wieder auf und solle nun bei der Selbstbetrachtung des Denkens beantwortet werden. Die Aufgabe, welche sich demnach das Denken auf dem Standpunkt des Kritizismus stellt, bestehe darin, »das eigene Thun ganz zu durchdringen und zum Selbstverständnisse zu erheben« (Fichte, 1833b, S. 258, § 189). Im Denken selbst suche das kritische Bewusstsein die Prinzipien des menschlichen Erkennens, um die objektive Gültigkeit seiner Erkenntnisse zu rechtfertigen. Was aus dieser Untersuchung und aus der Entwicklung des kritischen Bewusstseins sich jedoch ergebe, sei nicht nur eine Bestätigung, sondern auch eine Vertiefung und Weiterführung des »vorherigen[n], skeptisch negative[n] Standpunkt [es]« (Fichte, 1833b, S. 267, § 194). Auf diese Weise steigert sich das Erkenntnisproblem und die Krise des Denkens noch weiter. Wie entwickelt sich nun die Negativität im kritischen Bewusstsein? Bei dem Versuch, auf die oben gestellte Frage nach dem Verhältnis zwischen Subjektivität und Objektivität zu beantworten, unterscheide eine Kritik des Erkenntnisvermögens zunächst zwischen dem Apriorischen und Aposteriorischen. 157 Diese Unterscheidung entspreche der Unterscheidung zwischen Form und Inhalt, insofern Selbstverständlich bezieht sich Fichte in seiner Darstellung des Kritizismus auf Kant. Zu seiner historisch-kritischer Würdigung der Philosophie Kants vgl. Fichte (1829, S. 113–181, 1841a, S. 177–248).

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das Apriorische den reinen und formellen Faktor und das Aposteriorische den empirischen und inhaltlichen Faktor jeder Anschauung, Vorstellung und Erkenntnis bezeichnet. Nach dieser Ansicht bestehe das Erkennen in einer Synthese zwischen apriorischer Form und aposteriorischem Inhalt. Aus Fichtes Perspektive beginnt die Steigerung des Erkenntnisproblems und der Krise des Denkens schon an dieser Unterscheidung, denn ihr liege schon die »Verwechslung nämlich des Begriffs des Apriorischen mit dem Begriffe des blos Subjectiven« zugrunde (Fichte, 1855a, S. 22). Indem das Aposteriorische unter das Objektive und das Apriorische unter das Subjektive fällt, verwandele sich jede Anschauung, Vorstellung und Erkenntnis durch die »Aufnahme« des aposteriorischen, »erfüllende[n] Inhalt[es]« in die apriorische, »leere Form« in ein subjektives Produkt des Erkenntnisvermögens (Fichte, 1833b, S. 262, § 191). Der Inhalt bzw. der Stoff, »in der subjektiven Form erscheinend, wird … selbst damit durchaus subjektiv« (Fichte, 1833b, S. 262–263, § 191). Bekanntlich umfasst der Begriff der Form sowohl die Formen der Sinnlichkeit (Raum und Zeit) als auch die Formen des Verstandes (Kategorien), sodass die Subjektivität sowohl in der Anschauung als auch im Denken eingeprägt sei. Da einerseits die Anschauungen durch die Formen der Sinnlichkeit schon die Prägung der Subjektivität hätten und andererseits das Denken, unmittelbar auf die sinnlichen Anschauungen angewiesen, diesen schon subjektiv eingeprägten Anschauungen durch die Formen des Verstandes wieder die Prägung der Subjektivität verleihe, bleibe für den Kritizismus – genauso wie es bei dem Skeptizismus der Fall war – die Objektivität, das »jenem Erscheinen zu Grunde Liegende«, sowohl »durch das Denken und die Kategorienbestimmungen« als auch »durch das Anschauen und dessen Formen« gleicherweise »unerkannt und unerkennbar« (Fichte, 1833b, S. 267, § 194). Die apriorischen Bedingungen der Möglichkeit alles Erfahrens und Erkennens fallen demnach unter die Subjektivität, sodass die Wahrheit jenseitig und verborgen bleibe (Fichte, 1833b, S. 267, § 194). Nachdem der subjektive Charakter der Sinnlichkeit und des Verstandes erwiesen und hierbei die Unerkennbarkeit der Wahrheit behauptet wird, bleibe auf dem Standpunkt des Kritizismus nur noch eine Möglichkeit übrig, um eine Rechtfertigung der Erkennbarkeit der Objektivität zu versuchen. Fichte (1833b) weist nämlich darauf hin, dass am Streben des Denkens, im Bereich des Empirischen das »bedingte[] Erkennen« trotz der Bedingtheit und der Grenzen seines Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Vermögens »in’s Unendliche [zu] erweitern« (S. 267, § 195), sich die »Urbedingung« eben jenes Strebens unmittelbar, d. h. ohne Vermittlung der Sinnlichkeit und des Verstandes, erkennen lasse (S. 268, § 195). Es handelt sich nämlich um die Idee des Unbedingten als das »Ziel oder Princip alles Denkens oder Verstandesgebrauches im Einzelnen« (Fichte, 1833b, S. 268, § 195). Da alles Denken eben auf das Unbedingte abziele, sei die Idee des Unbedingten die allgegenwärtige Voraussetzung und Urbedingung jeder Denktätigkeit. Die Auffassung dieser Idee komme der Vernunft zu, denn sie sei weder aus noch in der Erfahrung zu erkennen, sondern in der Vernunft selbst. Auch wenn die Vernunft die Idee des Unbedingten unmittelbar auffassen könne, bleibe das Unbedingte an sich jedoch auch für die Vernunft unerkennbar. Jeder Versuch, das Unbedingte durch die Kategorien zu bestimmen, verwickele sich letztendlich in Paralogismen und Antinomien (Fichte, 1833b, S. 270, § 196). Auf diese Weise wird die Möglichkeit einer Rechtfertigung der Erkennbarkeit der Objektivität durch die Vernunft ebenso abgelehnt. Indem sich das Streben der Vernunft nach dem Unbedingten letztendlich als »ein leeres, unerfülltes Streben« erweise (Fichte, 1833b, S. 271, § 196), ergibt sich die Unmöglichkeit der Erkenntnis der Objektivität, wie aus folgenden, das Resultat dieses Standpunktes zusammenfassenden Worten hervorgeht: Und so bleibt als Gesammtresultat nur übrig das absolute Nichtwissen der Wahrheit, ja die Behauptung, daß die Form des theoretischen Wissens, alles Erkennen in den Kategorien, die Wahrheit unmittelbar in ein bloß Subjektives verwandelt: der leßte Abschluß und, wie es scheint, der höchste Sieg der Negativität (Fichte, 1833b, S. 271, § 196).

Durch diese Steigerung der Negativität und des Erkenntnisproblems erreicht das kritische Bewusstsein den Punkt seines Übergangs in die nächste Stufe seiner Entwicklung, nämlich in den subjektiven Idealismus. Der Übergang findet in dem Moment statt, in dem das Bewusstsein den Begriff der Objektivität problematisiert. Bis zu diesem Moment habe die epistemologische Aufgabe darin bestanden, das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität aufzuklären. Auf dem Standpunkt des Kritizismus ergibt sich jedoch eine widersprechende Lösung, denn einerseits hat sich die absolute Gültigkeit der Subjektivität, andererseits die absolute Setzung einer an sich seienden und unerkennbaren Objektivität ergeben. Das kritische Bewusstsein halte demnach trotzt des von ihm behaupteten Vorrangs 182

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der Subjektivität an den Begriff einer dem Bewusstsein äußerlichen und an sich seienden Objektivität hartnäckig fest, »weil sonst die subjektiven Formen [des Bewusstseins] völlig leer und nichtig bleiben würden« (Fichte, 1833b, S. 272, § 197), ohne jedoch zu bemerken, dass man aus dieser Annahme gleichzeitig sowohl die Erscheinung als auch die Verhüllung der Objektivität widersprechend behaupten müsse sowie dass der Begriff der Subjektivität selbst den Begriff einer an sich seienden Objektivität und eines äußerlichen Gegensatzes zwischen Subjektivität und Objektivität zunichte mache. Diesem Standpunkt gegenüber schließt das idealistische Bewusstsein aus dem Vorrang der Subjektivität, dass »nicht minder auch jener Begriff des Dinges an sich« ein Produkt der Subjektivität sei, insofern er sich notwendigerweise als »Resultat eines Schlusses nach der Kategorie des Grundes« ergebe (Fichte, 1833b, S. 272, § 198). Dieser Schluss war schon auf dem Standpunkt des Skeptizismus ersichtlich. Dabei wurde zwar der subjektive Ursprung des hinzugedachten Begriffs des Dinges anerkannt, jedoch immerhin an den Begriff des Realen festgehalten, insofern, die Objektivität trotzdem außerhalb des Bewusstseins setzend, dieser Subjektivismus nicht folgerichtig bis zur letzten Konsequenz geführt wurde. Demensprechend ergab sich aus dem subjektiven Charakter der Denkbestimmungen nur ein Nominalismus. Stattdessen ergibt sich im gegenwärtigen Fall ein Idealismus, insofern die Anerkennung der subjektiven Notwendigkeit des Schlusses auf die Objektivität als den Grund der subjektiven Erscheinung diesmal dazu führt, dass die Subjektivität selbst diese Setzung der Objektivität in sich aufnimmt. Indem folglich der Gegensatz von Subjektivität und Objektivität als eine Setzung der und in der Subjektivität selbst betrachtet wird, werde er »als Gegensaß völlig aufgehoben«, denn er »findet selbst nur in und für Bewußtsein statt« (Fichte, 1833b, S. 273, § 199). Daraus ergibt sich, dass der Begriff der Objektivität bzw. des Dinges an sich keine reale Entsprechung mehr hat, sodass er nun »als eine leere Stelle, als wesenlose Abstraktion und subjektiver Begriff des Denkens« betrachtet wird (Fichte, 1833b, S. 273, § 199). In die Stufe des subjektiven Idealismus übergehend, verstehe sich das Bewusstsein nun als »ein immanentes, nach eigenem Geseß sich entwickelndes Princip« (Fichte, 1833b, S. 274, § 199), welches wegen des immanenten Ursprungs des Begriffs der Objektivität nicht in Beziehung zu einer »fremde[n] Objektivität« stehe (Fichte, 1833b, S. 274, § 200). »Die Objektivität, indem sie als Gegensaß für das Bewußtsein besteht, ist eben darum in Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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demselben, ist Produkt seiner immanenten Theilung und Gegenseßung« (Fichte, 1833b, S. 274, § 200). Durch diese Aufhebung der Objektivität verliere alles Wissen seine Gültigkeit. Bisher habe das Wissen als das Abbild der Objektivität im Bewusstsein gegolten, jedoch verwandle es sich durch die Aufhebung der Objektivität insofern in ein bloßes Wissen der Subjektivität, als das Bewusstsein »im vermeintlichen Wissen des Anderen (Gegenständlichen) doch nur von seinem Wissen desselben weiß« (Fichte, 1833b, S. 275, § 201). Der einzige Inhalt des Bewusstseins seien Bilder bzw. Vorstellungen, jedoch bestehe das vermeintliche Wissen der Objektivität – insofern es keinen äußerlichen Gegenstand gäbe, den sie abbilden und vorstellen – bloß im Bewusstsein von Bildern von Bildern (Fichte, 1833b, S. 275, § 201). Durch diese Steigerung des Erkenntnisproblems gelange das reflektierende Bewusstsein zum »Gipfel der Reflexion« und zu ihrem »höchste[n] negative[n] Resultat« (Fichte, 1833b, S. 277, § 202), welches darin besteht, dass es sich auf dieser Stufe nicht bloß um Skepsis gegen die Möglichkeit der Erkenntnis der Objektivität, sondern um die »absolute Aufhebung« (Fichte, 1833b, S. 276, § 202) der Objektivität handelt. Mit anderen Worten: Das reflektierende Bewusstsein gelange zur Ansicht, dass es »nie über sich selbst hinausgelangen« könne (Fichte, 1833b, S. 275, § 201), sodass es, indem »das Wissen und Behaupten des Seins vielmehr das Sein selbst aufhebe, und zum bloß Vorgestellten mache« (Fichte, 1833b, S. 276, § 202), letztendlich im »abstrakte[n] Sichalleinwissen« bestehe (Fichte, 1833b, S. 277, § 202). 158 Nachdem sich das Denken durch die Reflexion von allem Inhalt und sogar von der Objektivität überhaupt entleert, erreicht das Bewusstsein einen der schwierigsten Wendepunkte seiner Entwicklung. Die Negativität der Reflexion führe das Bewusstsein zu einem »Abgrund« (Fichte, 1833b, S. 278, § 203, Anm.), an welchem das Bewusstsein selbst insofern in Zweifel gezogen werde, als seine eigene Selbstvorstellung bloß als eine unter vielen der schwebenden Vorstellungen ohne objektive Entsprechung erscheine. Es handelt sich demnach um das Moment des »Insichversunkensein[s] des Ich« und der »Selbst-

Fichte (1833b) bezieht sich selbstverständlich auf Johann Gottlieb Fichtes Wissenschaftslehre, welche »jenes Princip der Reflexion mit völliger Konsequenz durchgeführt, aber auch über sich selbst hinausgebracht und seinen Zirkel durchbrochen« habe (S. 278, § 203, Anm.). Zu seiner historisch-kritischen Würdigung der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes vgl. Fichte (1841a, S. 481–587).

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verzweiflung« (Fichte, 1833b, S. 278, § 203). Die Aufgabe, die nun vor dem Bewusstsein steht, bestehe darin, von diesem Moment »der absoluten Negativität der Reflexion zur tiefsten Erfüllung« fortzuschreiten (Fichte, 1833b, S. 277, § 203): »In deinem Nichts hoff’ ich das All zu finden« (Goethe, 1986, S. 192) – wie Goethe Faust deklamieren lässt. 3.3.4.3.3 Die spekulative Wiederherstellung der Objektivität Trotz seines Entschlusses scheint dem Bewusstsein jedoch unmöglich, sich in Bewegung zu setzen, weil sich jeder neue Versuch des Denkens, durch Reflexion seinen Zustand durchzubrechen, letztendlich als ein subjektives Spiel von Schimären erweist. Solange sich das Bewusstsein durch reflektierendes Denken von der Realität einer ihm äußerlichen Objektivität vergebens zu überzeugen versucht, bestätigt es immer wieder seinen Zustand, indem sich jeder neue Schluss letztendlich als das subjektive Produkt des in sich geschlossenen und sich in Vorstellungen von Vorstellungen bewegenden Bewusstseins erweist. Der erste Durchbruch dieser subjektiv-idealistischen Schale vollzieht die Reflexion jedoch durch ihre Selbstvernichtung. Die negative Reflexion könne die nächste Stufe der Entwicklung des Bewusstseins zwar nicht durch Begründung und Schließen hervorbringen, jedoch könne sie die Negativität so steigern, dass sie das Bewusstsein bis zu seinem Selbstwiderspruch bringt. Gerade in diesem Moment werde die Reflexion »genöthigt, sich aufzugeben und über das (formelle, leere) Bewußtsein hinauszugehen« (Fichte, 1833b, S. 282, § 205). Worin besteht nun der Selbstwiderspruch des Bewusstseins und die Überwindung der Reflexion? Als Resultat des Prozesses der Entleerung und Läuterung des Bewusstseins sowie der Aufhebung der Objektivität durch die negative Reflexion gelte, dass das Bewusstsein – seinem Begriff gemäß das Abbild bzw. Wissen eines Seins – nun ohne die Objektivität eigentlich Abbild des Nichts bzw. »Nichtbewusstsein« sein sollte (Fichte, 1833b, S. 280, § 204). Angesichts dieses Selbstwiderspruches muss das Bewusstsein entweder seinen Begriff aufgeben, um sich selbst fortan als ein in sich geschlossenes, den Begriff der Objektivität bloß immanent und selbsttäuschend sich einbildendes Prinzip zu verstehen – welches Selbstverständnis sich jedoch folgerichtig auch als eine leere Vorstellung ohne ein entsprechendes Sein erweisen würde –, oder die Reflexion aufgeben, um diesen Selbstwiderspruch zu überwinden und das wahre Sein auffinden zu können. Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Nachdem – der zweiten Option folgend – die Reflexion sich selbst vernichtet, erweist sie sich zugleich als ohnmächtig, um den Übergang in die nächste Stufe der Entwicklung des Bewusstseins zu vollziehen. Der Vollzug dieses Übergangs in das spekulative Erkennen bedarf demnach eines anderen Organs. Fichte weist nämlich darauf hin, dass das Bewusstsein in die Stufe des spekulativen Erkennens dadurch übergeht, dass es sich der Gegenwart eines absoluten Seins in sich selbst innewerde. Diese Besinnung auf das eigene Wesen, auf »die Grundbedingung des eigenen Seins als Wissen« (Fichte, 1833b, S. 280, § 204), sei jedoch kein durch die Reflexion vermitteltes Erkennen, sondern es handele sich dabei um unmittelbare »Anschauung eines reinen Gedankens« bzw. um »Vernunftanschauung« (Fichte, 1833b, S. 288, § 210). Durch diese Anschauung finde das Bewusstsein demnach das in ihm gegenwärtige und es erfüllende Sein auf, kraft dessen es überhaupt Bewusstsein ist. Dieses unmittelbar angeschaute und anerkannte Sein sei deshalb als absolut zu bezeichnen, weil es, indem es dem Bewusstsein weder objektiv-stofflich noch subjektiv-formell gegeben werde, weder durch die Sinnlichkeit noch durch den Verstand bedingt sei, sondern der Anschauung sich als die Grundbedingung des Bewusstseins überhaupt zeige. Auf diese Weise gelange das Bewusstsein zur ersten Stufe des spekulativen Erkennens, auf welcher die Vernunftanschauung die erste Auffassungsform des absoluten Seins ausmacht. Es handele sich um eine zwar unmittelbare und erfüllte Anschauung, jedoch sei sie noch nicht inhaltlich differenziert, d. h. sie schließe »unmittelbar noch keinen bestimmten Inhalt von Säßen, kein System von Wahrheit in sich« (Fichte, 1833b, S. 292–293, § 213). In diesem Sinne sei sie erst den »Anfang«, das »Princip«, den »Augpunkt für den weitern spekulativen Fortgang, der sie zu entwickeln hat« (Fichte, 1833b, S. 293, § 213). Auf dem Standpunkt der Vernunftanschauung macht der absolute Zweifel der unbegründeten Gewissheit Platz. Nachdem die Objektivität durch die Reflexion aufgehoben wurde, wird sie nun nicht durch ein dogmatisches Postulat, sondern durch die Anschauung wiederhergestellt. Insofern das Bewusstsein im eigenen Wesen die Bewährung eines absoluten Seins anschaue, sich der Gegenwart eines absoluten Seins im eigenen Wesen innewerde, überwinde es die Schranken der Subjektivität und der »Selbstigkeit« (Fichte, 1833b, S. 282, § 205), um nun zur Einsicht zu kommen, dass der Welt und dem Bewusstsein das absolute Sein als deren wahres und wahrmachendes Prinzip innewohne (Fichte, 1833b, S. 286, § 208). In die186

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sem Sinne sei das Bewusstsein durch die Gewissheit durchdrungen, dass die Einheit von Welt und Bewusstsein vom absoluten Sein gewährt sei, sodass sich seine Denkbestimmungen nicht mehr als bloße subjektive Produkte eines den Gegensatz von Objektivität und Subjektivität überhaupt sich einbildenden Prinzips erweisen, sondern als »Erkenntniß des Einen Inhalts, des einzig Realen, der göttlichen Offenbarung« (Fichte, 1833b, S. 287, § 209). Das vernunftanschauende Bewusstsein finde die Wahrheit jedoch ausschließlich im absoluten Sein, woran das »Ungenügende« dieses Standpunktes, mithin die Anregung zum Übergang in die nächste Stufe seiner Entwicklung ersichtlich werde (Fichte, 1833b, S. 295, § 214). Auch wenn die Einheit von Welt und Bewusstsein wiederhergestellt wurde, bleibe diese Einheit nur in abstrakter Form aufgefasst, denn der doch für das Bewusstsein evident zutage tretende Unterschied bleibe immerhin unerklärt und unvermittelt. Das Bewusstsein spalte sich nämlich in die Gewissheit über das absolute, ewige Sein und die Gewissheit über das bedingte, endliche Sein. Was das Bewusstsein aus der Vernunftanschauung als die Wahrheit anerkennen müsse, widerspreche dem ihm unmittelbar gegebenen Inhalt, welchen es aus seiner Faktizität zwar auch anerkennen müsse, welcher sich jedoch durch seine Endlichkeit und Vergänglichkeit bloß als ein Schein erweise. Auf diese Weise werde das »Ewige … zu einem jenseits des Endlichen« (Fichte, 1833b, S. 295, § 214), sodass die Zuversicht in das Ewige und die Anerkennung des Endlichen im Gegensatz stehen. Indem das Denken noch keine Gründe für jene Vernunftanschauung anführen könne, bleibe sie in der Form der Zuversicht bzw. des Glaubens, wobei es klargestellt werden soll, dass es sich dabei um keinen dogmatischen Glauben handelt, sondern eben um Zuversicht und Vertrauen in das zwar Angeschaute, aber Unbeweisbare. Diese Zuversicht stehe nun im Widerstreit mit der Anerkennung der Flüchtigkeit und Vergänglichkeit des Erscheinenden, insofern das Bewusstsein einerseits an ein jenseitiges ewiges Sein glauben muss, andererseits nur von einem diesseitigen vergänglichen Sein wissen kann, zwischen denen es demnach keine Vermittlung zu geben scheint. Gerade durch den Versuch, diesen Widerstreit zu lösen, geht das Bewusstsein in die nächste Stufe seiner Entwicklung über. Nach dem Durchbruch der in sich geschlossenen Subjektivität, habe das Bewusstsein kraft der Anschauung eines es erfüllenden allgemeinen Seins die Objektivität zwar aus deren totalen Aufhebung wiederhergestellt, jedoch habe diese Widerherstellung insofern unvollständig Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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geblieben, als die noch dunkle, undifferenzierte und unbegründete Vernunftanschauung keine Erklärung des endlichen Seins geleistet, sondern vielmehr einen Gegensatz zwischen Ewigem und Endlichem, Wahrheit und Schein, Glauben und Wissen, hervorgebracht habe. Indem das Bewusstsein eine Vermittlung dieses Gegensatzes durch die Begründung des Endlichen aus dem Ewigen zu leisten versuche (Fichte, 1833b, S. 297, § 216), gelange es zur zweiten Stufe des spekulativen Erkennens, nämlich zur dialektischen Spekulation. Auf dem Standpunkt der dialektischen Spekulation werde der Versuch unternommen, das Endliche aus dem Ewigen zu begründen, wobei, die Unbestimmtheiten des vorigen Standpunktes berichtigend, zunächst jener Begriff des absoluten Seins einer näheren Betrachtung unterzogen wird. Gerade dieses durch Vernunftanschauung im Bewusstsein aufgefundene Sein macht, indem es eben als das Absolute eingesehen wird, das Erklärungsprinzip des bedingten Seins aus. Da das Wesen und die Urbedingung alles bedingten Seins ein nur der Vernunftanschauung zugängliches Prinzip ist, könne eine Untersuchung des Verhältnisses vom Ewigen und Endlichen sowie eine Erklärung der Bestimmungen des bedingten Seins aus jenem bedingenden und bestimmenden Prinzip nur im reinen Denken ausgeführt werden. In diesem Sinne weist Fichte darauf hin, dass diese denkende Begründung des Endlichen aus dem Ewigen im »Entwickeln des Einen Begriffes aus dem andern« bestehe, »welche, da sie reine (nicht aus concreten Anschauungen abstrahirte) Begriffe sind, auch nur im reinen – spekulativen oder dialektischen – Denken entwickeln werden können« (Fichte, 1833b, S. 297–298, § 216). Zusammenfassend lässt sich behaupten, dass die hier charakterisierte Untersuchung in drei Hauptmomenten ausgeführt werde. Sie fange erstens mit dem näheren Begreifen des Ewigen, fahre zweitens mit der Deduktion des Endlichen aus dem Ewigen (Ontologie) fort, um drittens mit der Deduktion des Wesens des Endlichen (Natur- und Geistphilosophie) abzuschließen (Fichte, 1833b, S. 298, § 217). Insofern es festgehalten wird, dass das Bewusstsein durch das vernunftanschauende Denken das in ihm gegenwärtige absolute Sein auffindet, kann man behaupten, dass das subjektive Denken an jenem Punkt mit dem absoluten Sein übereinstimme (Fichte, 1833b, S. 299, § 218). Indem das Bewusstsein mit seinem Denken am Sein teilhabe, werde die in den vorausgehenden Epochen der Entwicklung des Bewusstseins bloß unbefangen angenommene Einheit von Denken und Sein nun bestätigt und gerechtfertigt (Fichte, 1833b, S. 300, § 218, 188

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Anm.). Auf dem vorigen Standpunkt der Vernunftanschauung blieb der Begriff des absoluten Seins zwar unbestimmt und undifferenziert, jedoch gewinnt er hier durch die Betrachtung jener Übereinstimmung einen bestimmten Inhalt. Wenn die Identität von Denken und Sein anerkannt wird, so impliziert die Behauptung der Identität für den gegenwärtigen Standpunkt, einerseits dass das absolute Sein eben als absolutes Denken gilt – es ist vom rationellen, logischen Charakter –, andererseits dass es dem subjektiven Denken möglich ist, auf dem Standpunkt des Absoluten zu stehen und am absoluten Denken teilzuhaben. Aus dem einseitigen Festhalten des subjektiven Denkens an einzelnen Kategorien habe sich zwar ergeben, dass sich das subjektive Denken in Widersprüche verwickele, jedoch werden diese Widersprüche durch die Erhebung des subjektiven Denkens zur Identität mit dem Absoluten aufgehoben. In diesem Sinne sei das Absolute zunächst als die Indifferenz und die Identität aller Denkbestimmungen zu bezeichnen, wobei die Unzulänglichkeit dieses Begriffs des Absoluten bald zutage tritt. Als absolute Möglichkeit (Indifferenz) und absolute Auflösung (Identität) aller Bestimmungen fehlt es diesem Begriff des Absoluten das Moment der Wirklichkeit und der Konkretheit. Dementsprechend weist Fichte (1833b) darauf hin, dass die Einheit von Denken und Sein auf diesem Standpunkt nicht nur als bloße Indifferenz und als bloße Identität betrachtet werde, sondern vielmehr als »der absolute Proceß« sowohl der Selbstbestimmung des Absoluten aus seiner stillen Indifferenz und Identität zum wirklichen und konkreten Sein als auch der Selbstaufhebung aller momentanen Bestimmungen und Gegensätze zum Absoluten (S. 302, § 219). »So ist das Absolute auf diesem Standpunkte ebenso sehr als die unendlich sich unterscheidende Einheit, wie der sich aufhebende Unterschied des Gegensaßes zu denken« (Fichte, 1833b, S. 302, § 219). Durch die vorausgehende Betrachtung der Identität von Denken und Sein gewinnt der Begriff des Absoluten demnach eine differenziertere Bestimmung, welche nun weitere Konsequenzen für die Begründung des Endlichen hat. Aus diesem logischen und prozessualen Begriff des Absoluten ergibt sich nämlich, dass (1) die Kategorien nicht bloß als die Formen des subjektiven Denkens, sondern als die Urformen des Seins gelten (Fichte, 1833b, S. 304, § 221); dass (2) die Kategorien nicht in ihrer Vereinzelung und ihrem Nebeneinanderstehen, sondern nur in ihrem Zusammenhang und ihrer dialektischen Entwicklung ihre Wahrheit haben (Fichte, 1833b, S. 303, § 220); und dass (3) der Widerspruch Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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nicht als Endpunkt des Denkens, sondern als Moment und Bewegungsprinzip der dialektischen Entwicklung der Kategorien gilt (Fichte, 1833b, S. 303, § 220). 159 »[D]ie ganze Wahrheit« sei folglich eben »diese Dialektik, welche sich aus ihren einzelnen Widersprüchen und einseitigen Gegensätßen immer von Neuem ergänzt und zum versöhnten Widerspruche wiederhergestellt, welcher allein das Resultat und die Wahrheit ist« (Fichte, 1833b, S. 303–304, § 220). Mit anderen Worten: Die Idee der Identität von Denken und Sein impliziert, dass die subjektiv durchgeführte Dialektik der Denkformen mit der objektiven Entwicklung und Vollendung des Absoluten im Endlichen identifiziert wird – die bekannte Identifizierung von Logik und Ontologie. Auf diese Weise könne das Endliche durch die dialektische Deduktion der Kategorien begründet werden (Fichte, 1833b, S. 306, § 222), denn eine solche vollständige Deduktion, welche identisch mit der objektiven Dialektik des Seins sei, würde zeigen, wie sich jede im endlichen Sein verwirklichte Kategorie aus der inneren Notwendigkeit des dialektischen Prozesses des Absoluten ergibt. In dieser Deduktion besteht demnach die Begründung des endlichen – natürlichen und geistigen – Seins. Unter diesem Gesichtspunkt wird jedoch das Endliche als der Widerspruch bzw. als die Negation des Absoluten und hierbei als »schlechte[] Endlichheit« (Fichte, 1833b, S. 309, § 223, Anm.) betrachtet, sodass die Vollendung des dialektischen Prozesses bzw. der dialektischen Deduktion erst durch die Negation der Negation stattfindet, wodurch das Absolute, wieder zu sich selbst kommend, den aus seiner Verwirklichung hervorgehenden Widerspruch aufhebe. Genau an diesem Punkt wird die Unzulänglichkeit dieses Standpunktes ersichtlich, durch deren Überwindung das Bewusstsein zur letzten von Fichte dargestellten Stufe seiner Entwicklung gelangt. Aus dem auf dem Standpunkt des absoluten Idealismus abstrakt gebliebenen Begriff der Identität von Bewusstsein und Sein habe sich nämlich die Ansicht ergeben, dass das durch den Unterschied und die Partikularität charakterisierte Endliche, wo sich eben das subjektive, »kreatürliche« (Fichte, 1833b, S. 302, § 218, Anm.) Bewusstsein befinde, bloß den Schein der Wahrheit ausmache, sodass sich jenes subjektive Bewusstsein durch seine dialektische Erhebung zum Absoluten letztSelbstverständlich bezieht sich Fichte in seiner Darstellung des Standpunktes der dialektischen Spekulation auf Hegel. Zu Fichtes historisch-kritischer Würdigung der Philosophie Hegels vgl. Fichte (1841a, S. 782–1033).

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endlich als subjektives Bewusstsein aufhebt und sich als identisch mit dem absoluten, »göttlichen« (Fichte, 1833b, S. 302, § 218, Anm.) Bewusstsein erweist, denn in Wahrheit sei eben das Absolute dasjenige Prinzip, welches sich hinter der Maske der Subjektivität dialektisch entwickelt. Im Kontrast zur Aufhebung der Objektivität auf dem Standpunkt des subjektiven Idealismus wird auf dem Standpunkt des absoluten Idealismus die Subjektivität in die absolute Objektivität aufgenommen und als Subjektivität aufgehoben, indem sie bloß als ein vorübergehendes, an sich substanzloses Moment der dialektischen Entwicklung des absoluten Bewusstseins betrachtet werde, durch welche dieses zu sich selbst komme. Nachdem das Bewusstsein diese Stufe des Erkennens erreicht, fasse es sich »als die einzige Form der Wahrheit« (Fichte, 1833b, S. 310, § 224), wobei sich die erwähnte »Einseitigkeit« dieses Standpunktes erkennen lasse (Fichte, 1833b, S. 309, § 224). Dieser Einseitigkeit liege noch ein Widerspruch zugrunde, durch dessen Aufhebung das Bewusstsein in die höchste Stufe seiner Entwicklung übergeht. Aus der Idee der Identität von Denken und Sein ergab sich nämlich die Ansicht, dass das Endliche, indem es eine bloß scheinbare und unvollständige Existenz ausmacht, im Widerspruch mit dem Absoluten stehe. Dieser Selbstwiderspruch des Absoluten hebe sich ferner durch die Negation der Negation auf, welche das Endliche für das Absolute darstellt. Nun deutet Fichte an, dass der Widerspruch trotz jener vermeintlichen Aufhebung durch die Negation der Negation immerhin ein konstitutives Prinzip des Seins – nicht nur des subjektiven Denkens – bleibe, insofern von der Idee der totalen Identität von Denken und Sein ausgehend der zunächst nur für das formelle Denken gültige Widerspruch in das Sein hineinprojiziert wird, als wohne er tatsächlich dem Sein inne. Dieses Festhalten am Widerspruch als einem konstitutiven Prinzip des Seins bringe zutage, dass »der Gegensaß zwischen dem apriori und aposteriori« für den Standpunkt des absoluten Idealismus immer noch »in ganzer Kraft« bleibe (Fichte, 1833b, S. 310, § 224), wobei das Endliche als Schein unter das Aposteriorische, während das Absolute als Wahrheit unter das Apriorische fallen würde. Laut Fichte gehe das Bewusstsein dadurch in die nächste Stufe seiner Entwicklung über, dass es die Aufhebung des Selbstwiderspruches des Absoluten bis zur letzten Konsequenz durchdenkt. Die letzte Konsequenz dieser Aufhebung bestehe nämlich nicht in einer unendlichen Negation, wobei – wie gesagt – der Gegensatz zwischen dem Apriorischen und Aposteriorischen weiterhin in Kraft wäre, sondern Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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vielmehr in der Befreiung vom Widerspruch als einem konstitutiven Prinzip des Seins überhaupt (Fichte, 1833b, S. 309, § 223, Anm.). Der Widerspruch erweist sich somit als ein bloß dem formellen und abstrakten Denken zugehöriges Element. Auf diese Weise komme das Bewusstsein zur Einsicht, dass das Endliche, indem es nun vom Widerspruch befreit sei, nicht bloß den Schein, sondern die unmittelbare Wirklichkeit und Offenbarung des Absoluten ausmache. Zusammen mit der Einsicht in die unmittelbare Gegenwart des Absoluten im Endlichen vergegenwärtige sich das Bewusstsein alle durchgelaufenen Epochen und Stufen seiner Entwicklung, um durch die Zusammenfassung dieser Entwicklung die Vollendung seiner Selbsterkenntnis zu erreichen. Bei dieser vollendeten Selbsterkenntnis, seine Isolierung im absoluten Idealismus durchbrechend, werde sich das Bewusstsein der Gegenwart des Absoluten in allen seinen Vorzuständen inne, woraus es hervorgeht, dass jener Gipfel der Spekulation nicht die einzige Form der Wahrheit sei, sondern dass schon die zur ersten Epoche seiner Entwicklung dazugehörige Anschauung »die unmittelbare Auffassung der Wirklichkeit jener Offenbarung, in ihrer absoluten Gegenwart und ewig neuen Lebendigkeit« sei (Fichte, 1833b, S. 310, § 224). In diesem Sinne stellen alle Gestaltungen des Bewusstseins nämlich unterschiedliche Formen der Auffassung des Absoluten und Ewigen dar, was darauf hinausläuft, dass Anschauen und Denken »Eins in der Wurzel« seien und »sich innerlich ergänzen« (Fichte, 1833b, S. 311, § 224), mithin dass das Anschauen als noch unentwickeltes und unbewusstes Denken zu bezeichnen sei. Nachdem das Bewusstsein durch diese Selbsterkenntnis zur Erfahrung zurückkehrt, stimmen nun das Anschauen und das Denken überein, wodurch das Bewusstsein zum denkenden Anschauen bzw. anschauenden Denken der Welt werde, welche ihrerseits insofern in »Harmonie« mit dem Bewusstsein stehe, als ihr selbst »das göttliche Urdenken« innewohne (Fichte, 1833b, S. 301, § 218, Anm.). In diesem Sinne sei das Verhältnis von Bewusstsein und Sein nicht als eine totale Identität, sondern als eine von jenem »höchste[n] Dritte[n]« ermöglichte »Einstimmung« oder »Harmonie« zu betrachten (Fichte, 1833b, S. 301, § 218, Anm.). Durch diese Wendung des Begriffs der Einheit von Bewusstsein und Sein komme das Bewusstsein zur Besonnenheit, denn dabei mache sich der Unterschied zwischen einem »kreatürlichen« und einem »göttlichen« Bewusstsein geltend (Fichte, 1833b, S. 301, § 218, Anm.). Auf diese Weise wird die absolutistische Prätention berichtigt, dass sich das menschliche Bewusstsein in die 192

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Perspektive des Absoluten hineinversetzen kann, um dadurch zum anthropozentrischen Standpunkt des spekulativ-anschauenden Erkennen zu gelangen. 3.3.4.3.4 Die Rückkehr der Spekulation zur Erfahrung Auf dem Standpunkt des spekulativ-anschauenden Erkennens überwinde das Bewusstsein seine »letzte[] Einseitigkeit« (Fichte, 1833b, S. 312, § 225), nämlich den noch bei der Spekulation in Kraft bleibenden Gegensatz zwischen dem Apriorischen und Aposteriorischen, mithin zwischen dem Denken und Anschauen. Durch diese Überwindung kehrt das Bewusstsein von der bloß formellen und dialektischen Spekulation zur konkreten und lebendigen Erfahrung zurück, sodass es letztlich den Gegensatz zwischen Spekulation und Empirie aufhebt. Während auf dem Standpunkt des absoluten Idealismus der Unterschied und die Partikularität in der Erfahrung bloß als vorübergehende Bestimmungen des für den Widerspruch gehaltenen Endlichen betrachtet worden seien, mache diese Rückkehr zur Erfahrung und zur Anschauung »das Princip der Individuation« geltend, es »zu seinem Rechte und zur Anerkenntniß« bringend (Fichte, 1833b, S. 311, § 225). In diesem Sinne erweist sich das Partikuläre und Individuelle nicht mehr als Schein und Maske eines an sich allgemeinen Absoluten, sondern als die unmittelbare Wirklichkeit eines ebenso individuellen bzw. persönlichen absoluten Wesens. 160 Die individuelle Erscheinung aller Weltwesen ergibt sich demnach nicht aus Zufälligkeit, sondern aus einer individualitätsverleihenden Uranlage, welche Fichte als »de[n] schöpferische[n] Gedanke[n] in Gott« auffasst (Fichte, 1833b, S. 312, § 226). Folglich gelte hier sowohl das Angeschaute als auch das Anschauende – das Bewusstsein – in ihrer individuellen Erscheinung als »das allgegenwärtig Wahre, die Offenbarung Gottes, wenigstens in irgend einer seiner Bethätigungen und Verwirklichungen« (Fichte, 1833b, S. 311, § 225).

Der negative Begriff des Absoluten verwandelt sich hier in den positiven Begriff Gottes, welcher »als die Urpersönlichkeit, – als Selbst- wie All-Bewusstsein erkannt« werde (Fichte, 1833b, S. 312, § 226). Die Frage nach der Persönlichkeit Gottes ist eine der Hauptfragen der Philosophie Fichtes, welcher er sich in mehreren Werken durch sein ganzes Leben hindurch widmet. Mehr zu seiner Ansicht und den entsprechenden Werken vgl. den Teil dieser Arbeit über die Kontroverse um die göttlichen Dinge (2.2.2.1).

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Da unter diesem Gesichtspunkt dennoch das mit Bewusstsein ausgestattete individuelle Wesen und das sein Urdenken in der Welt offenbarende persönliche absolute Wesen keine totale Identität bilden, stellt sich die Frage, wie denn – wenn nicht als Identität – das epistemische Verhältnis zu verstehen ist. Die Antwort auf diese Frage wurde schon antizipiert, indem es weiter oben behauptet wurde, dass Fichte das Verhältnis von Bewusstsein und Sein als eine Harmonie bezeichnet, welche durch das göttliche Urdenken als ein in beiden gegenwärtiges drittes Element ermöglicht werde. Dieses Urdenken im Bewusstsein und im Sein macht demnach die Grundbedingung alles Erkennens und Selbsterkennens aus. In diesem Sinne besteht das epistemische Verhältnis darin, dass das Bewusstsein nachdenken könne, was in der Welt »von Gott vor- oder urgedacht« wurde (Fichte, 1833b, S. 313, § 227). Es handelt sich nämlich um eine Teilhabe des menschlichen Denkens am göttlichen Urdenken, wobei der Unterschied zwischen menschlichem und göttlichem Denken in Kraft bleibt: »Wir erkennen die Dinge, weil sie Gottes Gedanken, in seinem Bewußtsein vorgedacht sind, wir jedoch selbst Bewußtsein, obgleich kreatürliches, sind« (Fichte, 1833b, S. 314, § 227). Aus dieser Auffassung des epistemischen Verhältnisses geht die Bejahung sowohl der Möglichkeit als auch der Einschränkung des Erkennens hervor, was demnach die Vermittlung zwischen Skepsis und Hybris ausmacht. Durch die Verwandtschaft mit dem göttlichen Bewusstsein sei dem menschlichen Bewusstsein zwar die Teilhabe an der Wahrheit möglich, jedoch sei das Erkennen durch die »Kreatürlichkeit« des Bewusstseins »an eine Entwicklung innerhalb gewisser … Schranken und Gegensäße« gebunden und nur in der »Form einer äußern Unendlichkeit des Untersuchens und Sichvervollkommens« möglich (Fichte, 1833b, S. 314, § 227). Durch die Vollendung seiner Selbsterkenntnis wird sich das Bewusstsein demnach sowohl des Vermögens als auch der Perspektivität des menschlichen Denkens inne, wie aus diesen Worten Fichtes (1832a) hervorgeht: Der Augpunkt unseres Bewußtseins von der Welt ist nicht der Augpunkt Gottes; unser Geisteshorizont vermag nie der göttliche zu werden: aber darum sind wir nicht durch eine absolute Schranke abgeschieden von der Realität. Der Geist des Menschen ist in der Wahrheit, weil er wirklich Geist, Bewußtsein ist, Vernehmen eines in ihm sich offenbarenden; und der (Kantische) Begriff der subjektiven Schranken unseres Wissens verwandelt sich in den einer bestimmten Umgränzung desselben innerhalb des allgegenwärtigen Reiches der Wahrheit; (wie wir im Lichte lebend, und mit geöff-

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netem Sinne für seine Offenbarungen, doch nicht alles Beleuchtete und den höchsten Glanz zu fassen vermögen) (S. 171, § 47).

Diese Ansicht über das menschliche Erkenntnisvermögen bezeichnet Fichte (1833b) als den anthropozentrischen Standpunkt, auf welchem das Bewusstsein »die höchste Stufe des Erkennens« erreiche (S. 206, § 153). Nachdem sich das Bewusstsein zum spekulativen Denken entwickelt, kehre dieses »Denken zur Unmittelbarkeit der Anschauung« zurück, um nun – in eine höhere Potenz seiner Entwicklung erhoben – »den Begriff in der Anschauung als gegenwärtig und wirklich« zu erblicken (Fichte, 1833b, S. 206, § 153). Da das Wahre auf diesem Standpunkt als die schöpferische und ideelle Uranlage des zu erkennenden Gegenstandes betrachtet wird, kann das Erkennen nicht in einem starren und abstrakten Begriff bestehen, sondern in der Auffassung seines Werdens aus jener Uranlage. Laut Fichte (1833b) besteht nämlich »[d]as wahre Erkennen« in der »immanente[n] Genesis und darstellende[n] Entfaltung des zu Erkennenden« bzw. in der »Erkenntniß seiner vor ihm sich entwickelnden Wahrheit« (S. 316, § 228). Indem der Entwicklung eines Gegenstandes das göttliche Urdenken innewohne, lässt sich behaupten, dass das Anschauen dieser Entwicklung ein konkretes Denken sei, denn jenes Anschauen verfolgt die urgedachte und verwirklichte Entwicklung des Gegenstandes, welche folglich als das der Anschauung Gegebene die »unmittelbar gegenwärtige Wahrheit« sei (Fichte, 1833b, S. 210, § 158). In diesem Sinne stimmt die aposteriorische Erfahrung in der vom spekulativ-anschauenden Bewusstsein hervorgebrachten genetischen Erkenntnis mit der apriorischen Idee überein. Diese aus seiner ultimativen Versöhnung hervorgehende Einsicht des Bewusstseins charakterisiert Fichte – um an seine Worte an Charlotte von Kalb vom 28. Juli 1833 zu erinnern – als eine »sehnsuchtslose[], ruhig in sich befriedigte[] Erkenntnis …, welche in allem die Fülle der göttlichen Offenbarung erblickt und sich mit unendlichem unzerstörbarem Frieden darin befaßt weiß« (Ehret, o. J.-d, S. 71).

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3.3.4.4 Die philosophische Anthropologie als aposteriorisch-spekulative Betrachtung des Menschen

Mit der im Vorhergehenden dargestellten Vollendung der Selbsterkenntnis des Bewusstseins kommt Fichtes genetische Epistemologie zum Abschluss. Ihr Resultat ist nämlich die »Begründung« der Möglichkeit des spekulativ-anschauenden Erkennens, auf welchem Fichtes philosophische Anthropologie beruht. Es wurde weiter oben festgestellt, dass die Aufgabe dieser Disziplin darin besteht, einen aposteriorischen Beweis der Wesensapriorität des menschlichen Geistes zu leisten. Indem die genetische Epistemologie durch die Versöhnung der epistemologischen Gegensätze die Annahme begründet hat, dass dem am göttlichen Urdenken teilhabenden subjektiven Bewusstsein möglich ist, kraft der Gegenwart desselben göttlichen Urdenkens im Sein aus der Erfahrung das Wesen der objektiven Welt zu erkennen, gewinnt das aposteriorische Erkennen eine höhere Bedeutung. Das aposteriorische Erkennen als bloßer Empirismus, bei welchem das noch im Selbstwiderspruch stehende Bewusstsein sein Verhältnis zum Sein und sein eigenes epistemisches Tun noch nicht adäquat versteht, verwandelt sich nämlich in ein aposteriorisches Erkennen als spekulative Wissenschaft, bei welcher das Bewusstsein den Selbstwiderspruch aufgehoben und durch die Vollendung seiner Selbsterkenntnis sein Verhältnis zum Sein und sein epistemisches Tun adäquat verstanden hat. In diesem Sinne ist die Annahme gerechtfertigt, dass die Erscheinung des Menschen der unmittelbaren Wirklichkeit und Offenbarung eines Geistigen entspricht, welches durch Rückschluss aus der Erfahrung erkannt werden kann. Aus dieser Ansicht folgt, dass die philosophische Anthropologie durch ihre Forderung, das Wesen des Menschen aus der Erfahrung zu erkennen, nicht als eine empiristische, sondern als eine aposteriorisch-spekulative Betrachtung des Menschen zu bezeichnen ist.

3.4 Die aposteriorische Methode einer spekulativen Wissenschaft der menschlichen Seele Nachdem die Möglichkeit der Erkenntnis des Wesens des Menschen gerechtfertigt wurde, gilt es nun, der Frage nachzugehen, unter welchen methodischen Vorgaben und Einschränkungen die philosophische Anthropologie verfahren sollte. 196

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3.4.1 Die Seelenfrage als empirisches Problem Gemäß der Zielsetzung der philosophischen Anthropologie Fichtes wird die Frage nach dem Wesen der menschlichen Seele auf das Gebiet der aposteriorischen Forschung gerückt. Durch diese Verlagerung gelte jene Frage nicht mehr als ein rein metaphysisches oder ethisches, sondern primär als ein empirisches, nämlich »physiologisch-anthropologisches Problem« (Fichte, 1844a, S. 104). Laut Fichte (1855a) ist die Frage nach der Existenz und der Unvergänglichkeit der menschlichen Seele insofern ein empirisches Problem, als die Seele »keine metaphysische Kategorie, sondern ein sehr reichhaltiges Erfahrungsobject« sei (S. 35). Als ein solches Erfahrungsobjekt hänge die Beantwortung jener Frage von der Aufklärung bestimmter physiologischen Probleme ab, nämlich des Problems der »Corporisation der Seele«, der »Zeugung« und des »Tod[es]« (Fichte, 1855a, S. 55). Diese Neuformulierung und Verlagerung des Problems lässt sich als Fichtes Antwort auf eine bestimmte philosophie- und wissenschaftsgeschichtliche Situation verstehen. Wie weiter oben in Hinsicht auf die Preisgabe des Seelenbegriffs schon angedeutet wurde, wird aus Fichtes Perspektive der Seelenbegriff in jener Zeit aus zwei feindlichen Stellungen angegriffen, wobei sich gleichzeitig alle philosophischen Verteidigungsstrategien als ohnmächtig erweisen, sodass der Seelenbegriff in der Tat preisgegeben wurde. Einerseits versucht nämlich der Pantheismus seitens der Spekulation, anhand metaphysischer Begriffe das individuelle Wesen der Seele in einen verblasenen allgemeinen Geist sich auflösen zu lassen. Andererseits versucht der Materialismus seitens der Naturwissenschaft, entweder die Nichtexistenz der Seele zu postulieren oder die Seele als ein bloßes Produkt bzw. Epiphänomen materieller und mechanischer Verhältnisse erscheinen zu lassen. Solchen Angriffen gegenüber versuchen letztlich die Verteidiger der Seele, auf apriorische Weise die Seele als ein substantielles, individuelles und unsterbliches Wesen vergebens aus den Aschen auferstehen zu lassen. Angesichts dieses ungünstigen dreigestaltigen Umstandes avanciert Fichte mit dem Vorschlag, den Standpunkt und die Strategie zu wechseln. Er ist nämlich der Auffassung, dass es nun angebracht ist, einerseits die Nichtigkeit solcher Angriffe nachzuweisen, andererseits der Frage nach der Existenz und Unvergänglichkeit der Seele auf aposteriorische Weise nachzugehen.

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3.4.2 Die Unzulänglichkeit der apriorischen Methode Im Kontext des Unsterblichkeitsstreites innerhalb der hegelschen Schule weist Fichte auf die Unzulänglichkeit aller Versuche hin, bloß anhand metaphysischer Begriffe und nach apriorischer Methode die Frage nach der Substantialität, Individualität und Unvergänglichkeit der Seele zu lösen. 161 Fichtes Hauptkritik richtet sich auf die Negativität der apriorischen Methode, indem es sich bei der Untersuchung über die menschliche Seele nicht um »formelle und abstract nothwendige Wahrheiten« handele, »deren Gegentheil unmöglich oder widersprechend wäre« (Fichte, 1855a, S. 6), sondern ganz im Gegenteil um sehr »inhalts- und beziehungsreiche[] Fragen« (Fichte, 1844a, S. 100). Mit anderen Worten: Die Behandlung dieser Fragen findet nicht im Gebiet des »Formellen, Abstracten, im wörtlichsten Sinne Unwirklichen«, sondern im Gebiet des »Concrete[n]« und »unendlich Wirkliche[n]« statt (Fichte, 1855a, S. 53). In diesem Sinne reiche es nicht aus, »metaphysische Gründe« für die »absolute Nothwendigkeit« einer Behauptung wie die der Unsterblichkeit der Seele sowie für die absolute Unmöglichkeit der entgegengesetzten Behauptung anzuführen, als wäre diese »ein logischer Widerspruch« (Fichte, 1855a, S. 35), denn in der Tat verhalte sich die Sachlage so, dass die eine wie die andere Behauptung »gleichfalls denkbar bleibt, ohne einen Widerspruch zu involviren« (Fichte, 1855a, S. 5). Um über die Plausibilität dieser Behauptungen zu entscheiden, sind nämlich andere, nicht bloß metaphysische Gründe in Erwägung zu ziehen, wie aus den folgenden Worten hervorgeht: [E]s liegt keineswegs im allgemeinen Begriffe des Geistes die Nothwendigkeit, dass, wenn er wirklich wäre, er auch als ein unvergänglicher gedacht werden müsse; denn es ist kein logischer Widerspruch, weder ihn als vergänglich, noch ihn als unvergänglich zu denken. Die Gründe, die für das Eine oder das Andere sprechen, können daher überhaupt nur in der Erfahrung gefunden werden, d. h. in den realen Eigenschaften, welche der Geist nicht als allgemeiner Begriff, sondern als Erfahrungsgegenstand am Menschen uns darbietet. Es kann somit nur von Erfahrungsbeweisen für oder gegen die Fortdauer die Rede sein (Fichte, 1869c, S. 276–277).

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Vgl. den entsprechenden Teil dieser Arbeit (3.1.6).

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Es folgt aus diesen Worten, dass die Unzulänglichkeit der apriorischen Methode für die Betrachtung des Wirklichen darin liegt, dass sie bestenfalls die Notwendigkeit eines Begriffs, jedoch nichts über das konkrete Wesen des betrachteten Gegenstandes nachweisen könne. In diesem Sinne behauptet Fichte, dass die apriorische Methode »nicht nur ungenügend«, sondern auch »täuschend und irreführend« sei (Fichte, 1855a, S. 5), sodass das hartnäckige Festhalten an dieser Methode bei der Behandlung solcher positiven Fragen gerade »das Unmethodische und die Unwissenschaftlichkeit« ausmache (Fichte, 1855a, S. 9). Da die Frage nach der Existenz und nach dem Existenzmodus der Seele unter das Gebiet des »Realen« falle und insofern »ein Mehr als das bloß Nothwendige in sich« schließe (Fichte, 1855a, S. 5), könne es laut Fichte (1844a) keinen apriorischen Beweis für oder gegen die Existenz und die Unvergänglichkeit der menschlichen Seele geben (S. 101). Jener Überschuss an Realität bei solchen Gegenständen könne demgegenüber nur in der Erfahrung aufgefasst werden, sodass es bei einer solchen Untersuchung »einer andern Methode« bedürfe, »als der rein aus sich selber sich entwickelnden Dialektik« (Fichte, 1855a, S. 51). Bei dieser anderen Methode könne es sich demnach nicht um eine Deduktion der Kategorie der Seele oder des Geistes handeln, sondern um die Erhebung des Denkens »von der Erfahrung aus zu demjenigen Realen, welches nicht mehr Gegenstand unmittelbarer Erfahrung ist« (Fichte, 1855a, S. 9). Mit anderen Worten: Die Aufgabe einer aposteriorisch-spekulativen Philosophie bestehe darin, die Idee in und aus der Erfahrung zu erkennen, d. h. »aus der Beschaffenheit der Folge auf das Wesen des noch unbekannten Grundes zurückzuschliessen« (Fichte, 1855a, S. 29). 162 Fichte fordert diese methodische Wendung der Philosophie seit Anbeginn seiner Karriere. In der 1834 veröffentlichten Cousin-Vorrede Schellings (vgl. Schelling (1834)) findet er jedoch sowohl eine Bestätigung seiner Ansicht als auch den Impuls für eine Reformation der Philosophie: »Er ist uns wissenschaftlicher Reformator der neuern Zeit, der den Keim einer unendlichen Bildung in die Gegenwart gelegt, von welcher schon jeßt alle höhere Impulse der Wissenschaft ausgegangen sind« (Fichte, 1835, S. 40). Diese Worte Fichtes über Schelling sind einer Schrift entnommen, welche er 1835 anlässlich der Cousin-Vorrede Schellings veröffentlichte. Fichte legt den Akzent seiner Rezension auf Schellings Erörterungen über die Notwendigkeit eines Fortschrittes von der negativen zur positiven Philosophie. Als Schellings »Fundamentalerklärung« bezeichnet Fichte (1835) die Idee, dass es »unmöglich« sei, »mit dem rein Rationalen (dem Apriorischen) an die Wirklichkeit heranzukommen« (S. 16). Dieser Hiatus solle demnach durch die methodische Wendung zur positiven Philo-

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3.4.3 Die Verfahrensweise des aposteriorisch-spekulativen Erkennens Wenn das menschliche Erkenntnisvermögen gemäß dem anthropozentrischen Standpunkt nicht über die Erfahrung hinausgehen kann, stellt sich nun die Frage, wie jene Erhebung des Denkens möglich ist und inwiefern der Mensch in Hinsicht auf seine Aussagen über Gegenstände, welche außerhalb der Grenzen des unmittelbar Gegebenen liegen, Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben kann. Da es bereits epistemologisch gerechtfertigt wurde, dass der Mensch nicht von der Realität absolut abgeschieden sei, sondern dass er, in der Wahrheit seiend, lediglich eine bestimmte Perspektive einnehme, hat diese Frage weder einen Subjektivismus noch einen Skeptizismus sophie überwunden werden. Fichte (1835) erklärt Schellings Ansicht weiter: »Es bedarf dazu des Empirischen, der lebendigen Auffassung der Wirklichkeit; also eines durch die Idee, das Spekulative, verklärten Empirismus« (S. 16). Dabei handele es sich um einen »Wendepunkt, durch welchen das rein Apriorische über sich hinausgetrieben wird zur positiven, oder spekulativ erfahrungsmäßigen Erkenntnißweise« (Fichte, 1835, S. 28). Gerade diesen Fortschritt der Philosophie hatte Fichte schon 1829 und 1832 in seinen historisch-kritischen Schriften sowie 1833 in Das Erkennen als Selbsterkennen und 1834 in Die Idee der Persönlichkeit und der individuellen Fortdauer gefordert, sodass er in seiner Rezension gestehen muss, dass »er selbst auf ganz anderm Wege und von einer andern Seite her, aus Durchführung des Princips der Reflexion und der streng sich begründenden philosophischen Form, die Spekulation derselben Umgestaltung und derselben Grundansicht zuzuleiten suche, welche auch Schelling ihr zugedacht hat« (Fichte, 1835, S. 42). Diese aus der Versöhnung zwischen Realismus und Idealismus, Rationalismus und Empirismus, hervorgehende methodische Wendung ist von größter Wichtigkeit für das Erkennen des Persönlichen: »Das Persönliche, welches sich als das allein wahrhaft Existirende gezeigt hat, kann nun nicht mehr apriori erkannt werden, weil es selbst keine bloß apriorische Form, sondern ein schlechthin alle Formen Ueberragendes ist. Hiermit wird Bewährung in der Wirklichkeit, empirische Bethätigung dieses persönlichen Gottes und der persönlichen Kräfte in den Dingen, kurz Anschauung gefordert, mit welcher bestimmt ausgesprochenen höhern Aufgabe auch ein anderer Umkreis des Philosophirens beginnt« (Fichte, 1835, S. 33). Folglich müssen sich sowohl die Theologie als auch die Anthropologie nach dieser methodischen Maxime richten, denn die Persönlichkeit sowohl des göttlichen als auch des menschlichen Geistes könne nur durch die spekulativanschauende Erkenntnisweise erkannt werden. Diese Diskussion um die negative und die positive Philosophie sowie um die Idee der Persönlichkeit macht ein sehr interessantes und aufschlussreiches Verhältnis zwischen dem deutschen Idealismus und dem Spätidealismus aus. Gerade vor diesem Hintergrund soll die schon eingeführte Polemik zwischen Fichte und Sengler verstanden werden (vgl. Fn. 127). Für die gemeinsame Lektüre und die sehr spannenden Gespräche über diese Schlüsseltexte möchte ich an dieser Stelle M.A. Johanna Hueck herzlich danken.

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zur Folge. Es handelt sich nämlich lediglich um ein methodologisches Problem, sodass es nicht mehr darum geht, die Möglichkeit der Erhebung des Denkens zur Idee, mithin der Erkenntnis überhaupt, zu rechtfertigen – diesen Beweis hat schon die genetische Epistemologie geleistet –, sondern darum, diejenigen methodischen Prinzipien aufzufinden und zu erörtern, welche »die Betrachtung auf wissenschaftliche Weise über die Gränzen des Gegebenen hinausführen« können (Fichte, 1855a, S. 139). Die methodischen Prinzipien des aposteriorischen Erkennens sind laut Fichte die Induktion, die Analogie und die Hypothese, sodass das aposteriorisch-spekulative Erkennen nach seiner Rückkehr zur Erfahrung auf dieselben Prinzipien des aposteriorisch-empiristischen Erkennens angewiesen ist. In diesem Sinne stellt sich die Frage, wie sich das aposteriorisch-spekulative vom aposteriorisch-empiristischen Erkennen unterscheidet. Bekanntlich gelten jene methodischen Prinzipien faktisch auch für die empiristische Naturwissenschaft, jedoch ist ihr spekulatives Potenzial auf dieser Stufe der Entwicklung des Bewusstseins noch nicht abgerufen worden. Da das Bewusstsein auf dem Standpunkt des empirischen Erkennens seine Selbsterkenntnis noch nicht vollendet hat, steht es noch insofern im Selbstwiderspruch, als es an einem bestimmten, nämlich empiristischen Begriff des Wirklichen festhält, dem zufolge das Sinnliche, Materielle und Messbare das einzig Wirkliche sei, während es gleichzeitig in Begriffen, Urteilen und Schlüssen das Wesen der Wirklichkeit auszudrücken glaubt, die objektive Gültigkeit solcher Denkformen stillschweigend annehmend. Von diesem Widerspruch ausgehend reduziert die empiristische Naturwissenschaft methodisch die Forschung auf das Erfahrbare und Experimentierbare, um daraus zwar induktiv verfahrend auf die zugrunde liegenden Gesetze zu schließen, jedoch diese durch Induktion gefolgerten Gesetzte bloß nominalistisch verstehend, als sei das Resultat der Induktion bloß ein subjektives Produkt der Abstraktion, welches nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Die Gegenwart der Idee in der Wirklichkeit ist demnach noch nicht anerkannt worden. Durch die Anerkennung der Gegenwart des Ideellen im Wirklichen, welche erst auf dem Standpunkt des spekulativen Erkennens stattfindet, wird die spekulative Bedeutung ans Licht gebracht, die der Induktion, der Analogie und der Hypothese tatsächlich zukomme. Das unbefangene Verfahren nach diesen methodischen Prinzipien beruhe nämlich auf der stillschweigenden Zuversicht, dass man durch Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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diese Methode auf den Grund des Erscheinenden schließen könne, d. h. es werde stillschweigend angenommen, dass das Ideelle, Ewige, Unsichtbare im Konkreten, Endlichen, Sichtbaren gegenwärtig sei. Durch die Anerkennung dieser Annahme wird die Grundlage für eine Philosophie geschafft, welche durch die spekulative Anwendung der methodischen Prinzipien des aposteriorischen Erkennens eben spekulative Resultate ergeben könne, ohne den anthropozentrischen Standpunkt und die wissenschaftliche Besonnenheit zu verlassen. Auf diesem Standpunkt gelte demnach das Prinzip, dass, indem das »einzig Wirkliche und einzig Erkennbare« in der Erfahrung nämlich die »Idee« sei, sie durch das »Sichversenken in die Tiefen der Erfahrung« erkannt werden könne (Fichte, 1869c, S. 248), wobei es daran zu erinnern ist, dass hier kein Dualismus zwischen Idee und Erfahrung besteht, indem die Erfahrung die Idee in ihrer Wirklichkeit darstellt. Es handelt sich nämlich um eine erweiterte Konzeption der »Empirie«, welche für Fichte die einzige Möglichkeit bietet, »uns von der hohlen Scholastik selbstersonnener Begriffe, wie von dem nutzlosen Streite über leere Hypothesen zu befreien …, welche lange genug philosophischer- und empirischerseits auf unserer Forschung gelastet haben« (Fichte, 1869c, S. 248–249). Aus dieser Konzeption der Empirie wird es verständlich, inwiefern Fichte die »Beschuldigung« für grundlos halten muss, der zufolge man bei der Behandlung der Seelenfrage sich »in ›transscendente‹ Regionen« verliere und »über ›unerforschliche‹ Dinge allerlei Hypothesen« ersinne (Fichte, 1873a, S. XIII). Fichte gesteht gerne zu, dass die philosophische Anthropologie und die philosophische Psychologie Tatsachen in Betracht ziehen, die sich »dem mathematischen Calcul und dem anatomischen Messer« entziehen, jedoch hält er es für eine kurzsichtige Ansicht, aus ihrer Immaterialität auf ihre Inexistenz zu schließen. Demgegenüber erlaubt es ihm sein Erfahrungsbegriff, zu behaupten, dass der philosophischen Anthropologie durch eine »empirische[] Untersuchung und Beweisführung, geschöpft aus dem erfahrungsmässigen Wesen der Seele selbst« (Fichte, 1855a, S. 35) und von den Prinzipien der Induktion, der Analogie und der Hypothese geleitet, die Erkenntnis der Wesensapriorität der menschliche Seele möglich sei. Die nun zu behandelnde Frage lautet, worin das von diesen Prinzipien geleitete Verfahren besteht und welche Bedingungen und Einschränkungen diese Methode dem Erkennen stellt.

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3.4.3.1 Spekulatives Erkennen durch Induktion, Analogie und Hypothese

Als allgemeine Erfahrungsquellen betrachtet Fichte die Beobachtung, das Experiment und das Zeugnis. Die Beobachtung – darunter falle auch die Selbstbeobachtung – charakterisiert er (1833b) als eine »besonnene, eben so freie als an das Objekt sich hingebende Anschauung« (S. 217, § 160) und weist darauf hin, dass eine adäquate Beobachtung das Objekt oder das Phänomen sowohl »in seiner völligen Reinheit« (S. 217, § 160) als auch »in seiner natürlichen Entwicklung und in dem ganzen Complex seiner begleitenden und umgebenden Erscheinungen« (S. 218, § 161) auffassen sollte. Demgemäß solle die Beobachtung eine adäquate Erfahrung eines Objekts oder eines Phänomens dadurch ermöglichen, einerseits dass sie sich von der Einmischung aller stillschweigenden Kategorien, Theorien oder Meinungen befreie, die durch ihr Hineinprojizieren in das Beobachtete zu einer selbstbestätigenden Erklärung oder Interpretation führen können (Fichte, 1833b, S. 217, § 160), andererseits dass sie das Objekt oder Phänomen nicht in Vereinzelung, sondern in seiner Genese und seinem Kontext auffasse, denn der »Grund« jenes Objekts oder Phänomens sei nämlich nicht in einem anderen Einzelnen oder in einem Jenseits, sondern »im Complexe zusammenwirkender Momente« zu finden (Fichte, 1833b, S. 219, § 161). Reinheit, Genese und Kontext seien somit die Bedingungen einer adäquaten Beobachtung. Wenn nun »das beobachtende Subjekt den Gegenstand seiner Beobachtung vor sich entstehen läßt«, handelt es sich um das Experiment, welches Fichte als die freie »Erzeugung eines bestimmten Phänomens durch Kunst« charakterisiert (Fichte, 1833b, S. 219, § 162). Von »der schärfsten Zuspißung der Frage« ausgehend, »welche man an die Natur richten will«, sollte das Experiment auf denjenigen Zusammenhang beschränkt werden, »wo das Problem angeht« (Fichte, 1833b, S. 220, § 162). Diese Schärfe und Zielgerichtetheit sind demnach die Bedingungen eines adäquaten Experiments. Nur diese Bedingungen erfüllend, d. h. nur dem »rechte[n] Geist des Experimentirens« folgend, könne der Bestätigungsfehler vermieden werden, dem zufolge das Experiment letztendlich zur Bestätigung einer »vorgefaßten, hineingetragenen Theorie« diene und die Natur »zur Sophistinn« herabsetze (Fichte, 1833b, S. 220, § 162). Da die Beobachtung und das Experiment auf einen einzelnen Beobachter beschränkt ist, weist Fichte auf das Zeugnis als die dritte Erfahrungsquelle hin, welches er als einen Bericht einer »fremde[n] ErSubstantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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fahrung« charakterisiert. In diesem Sinne ermögliche das Zeugnis einerseits »die Erweiterung des Erfahrens über die Schranken des bloß Einzelnen«, andererseits »die Verbindung der Erfahrungen Aller zu einem Gesammtresultate« (Fichte 1833b, S. 221, § 163). Als Zeugnis gelten demnach alle aktuellen und vergangenen Berichte von persönlichen, historischen und wissenschaftlichen Erfahrungen. Aus diesen drei Erfahrungsquellen sei die philosophische Anthropologie primär auf die Beobachtung und das Zeugnis angewiesen, denn »die Controle des Experiments« sei »im Gebiete anthropologisch-psychischer Thatsachen« unmöglich (Fichte, 1859, S. 123, § 72). In der Regel gelte es demnach, dass im »Psychischen … nicht experimentirt werden« könne (Fichte, 1859, S. 125, § 74), wobei es vorstellbar sei – wie aus der disziplinären Bestimmung der philosophischen Anthropologie Fichtes hervorgeht –, dass das Experiment in dem Fall gültig wäre, wenn physiologische Tatsachen gesammelt werden sollten 163, welche jedoch nicht als Einzelbeweise gelten, sondern als Glieder eines umfassenderen Erfahrungsbeweises aufgenommen werden sollten. Zur Durchführung des Erfahrungsbeweises der Wesensapriorität der menschlichen Seele ist es zunächst wichtig, eine möglichst vollständige Reihe der relevanten Tatsachen aufzustellen. Es bedürfe »einer kritisch gesichteten und logisch geordneten Aufstellung sämmtlicher charakteristischer Thatsachen des zu untersuchenden Gegenstandes« (Fichte, 1859, S. 127, § 76), um sodann aus dieser Erfahrungsgrundlage kraft der Induktion, der Analogie und der Hypothese auf das Wesen der menschlichen Seele zurückzuschließen. Induktion, Analogie und Hypothese sind Schlussformen, welche einerseits Stufen der Entwicklung des Bewusstseins, andererseits verflochten laufende und zusammenwirkende Erkenntnisweisen darstellen. Indem das Denken auf die Erkenntnis des Allgemeinen aus dem Einzelnen bzw. der Idee aus der Erfahrung abziele, jedoch das Einzelne und Empirische unerschöpflich sei und hierbei die Allheit unerreichbar bleibe, machen diese Erkenntnisweisen unterschiedliche »Strategien« aus, mit den Lücken in der aufgestellten Reihe der Tatsachen umzugehen.

»Wer gedächte nicht zuzugeben, daß in allen, äußerer Beobachtung sich darbietenden Escheinungen, also im Physischen und Physiologischen, nicht blos Beobachtung, sondern auch Experiment erforderlich sei, um den Thatbestand außer Zweifel zu stellen und in allen wesentlichen Bedingungen zu constatiren?« (Fichte, 1859, S. 125, § 74).

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Die idealtypische Induktion würde darin bestehen, aus der Allheit auf die Allgemeinheit zu schließen, jedoch erweise sich diese Allheit aufgrund der Unerschöpflichkeit des Empirischen nur als Vielheit, sodass das Denken durch Induktion aus der Gegenwart einer Eigenschaft in der Vielheit auf die Allgemeinheit jener Eigenschaft schließen müsse (Fichte, 1833b, S. 161–162, § 124). Da die aus Induktion hervorgehende Erkenntnis wegen der Unerreichbarkeit der Allheit prekär bleibe, kommen ihr noch andere Schlussformen hinzu, welche dieses Defizit kompensieren. Bei der Analogie werde der Anspruch auf Allheit aufgegeben, um stattdessen das Einzelne zum unmittelbaren Repräsentanten des Allgemeinen zu erheben und, indem dieses Einzelne zugleich das Allgemeine sei, aus der Ähnlichkeit bzw. Übereinstimmung anderer Einzelnen mit diesem Repräsentanten des Allgemeinen in wesentlichen Eigenschaften auf ihre völlige Übereinstimmung zu schließen. Fichte bezeichnet das das Allgemeine repräsentierende Einzelne nämlich als ein »Normaleinzelnes« – was Goethe das Urphänomen nennen würde –, sodass der Analogieschluss darin bestehe, dass ein Einzelnes mit dem Normaleinzelnen verglichen werde, um aus ihrer Ähnlichkeit in wesentlichen Eigenschaften auf die Zugehörigkeit des ersten unter derselben Allgemeinheit und auf ihre Übereinstimmung in allen übrigen Eigenschaften zu schließen (Fichte, 1833b, S. 162–163, § 125). Da sich jedoch die Allheit als unerreichbar erwiesen habe, bleibe die Analogie genauso prekär wie die Induktion. Die spekulative Gültigkeit beider Schlussformen beruhe jedoch auf der Hypothese, indem in beiden Fällen ein Grund hypothetisch angenommen werde, dessen Gegenwart die Lücken und die Unvollständigkeit des Empirischen kompensieren sollte. In beiden Fällen werde demnach angenommen, dass das Einzelne »nur die Bewährung eines Allgemeinen« ausmache (Fichte, 1833b, S. 164, § 126), sodass die Allheit übersprungen werden dürfe, um auf den das Fehlende ergänzenden Grund zu schließen. Bei der Hypothese handele es sich letztlich um die anerkannte Annahme eines im Einzelnen gegenwärtigen Allgemeinen, sodass die hypothetische Erkenntnisweise darin bestehe, dass es auf die Beschaffenheit dieses Grundes geschlossen werde. Laut Fichte solle sich die hypothetische Erkenntnisweise an die Regel halten, der zufolge »die hypothetische Annahme der Beschaffenheit des Grundes nicht über die Gränze hinausgehen darf, welche in den zu begründenden Erscheinungen selber liegt« (Fichte, 1833b, S. 233, § 169). Die Hypothese solle demnach einen »erschöpSubstantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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fenden Begriff« der Erscheinungen bieten, welcher somit nichts mehr zum Ausdruck bringen dürfe, als wozu die in Betracht kommenden Erscheinungen berechtigen (Fichte, 1833b, S. 233, § 169). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Denken durch die Induktion, die Analogie und die Hypothese in und aus der Erfahrung über das Empirische hinausgehen und hierbei die Erkenntnis erweitern könne. Indem das Denken auf der Erfahrung basiere, könne es auf wissenschaftliche Weise über die Grenzen des unmittelbar Gegebenen hinausgehen, um spekulativ-anschauende Resultate zu ergeben. Eben diese Verfahrensweise komme der philosophischen Anthropologie zu, welche neben der Induktion und der Hypothese durch die »Anwendung analogischer Reihen« (Fichte, 1859, S. 120, § 71) ihre spekulativen Erkenntnisse über die menschliche Seele hervorbringe. Dieses Verfahren bestehe darin, dass man eine Reihe von »factisch gewissen Thatsachen« aufstelle, um dann zu dieser Reihe diejenigen Tatsachen hinzufügen, »welche factisch weniger beglaubigt sein mögen, solange man sie für sich und außer Zusammenhang mit den übrigen betrachtet« (Fichte, 1859, S. 122, § 72). Die erste Reihe von unbezweifelbaren und beweisenden Tatsachen bilde das schon erwähnte Normaleinzelne und hierbei die erste Prämisse (Fichte, 1833b, S. 229, § 167). Die zweite Reihe von vergleichenden, dem Normaleinzelnen in bestimmten Eigenschaften ähnlichen Tatsachen bilde die analogische Reihe und hierbei die zweite Prämisse (Fichte, 1833b, S. 229, § 167). Durch die Aufstellung dieser Reihe werden die bisher unerklärlichen Tatsachen aus ihrer Vereinzelung genommen, um sie in einen Zusammenhang aufzunehmen, in welchem alle Tatsachen sich einander »unterstüßen und bestätigen«, weil es dabei »unerwartet und ungesucht eine gemeinsame Analogie hervortritt, welche auf einen gemeinschaftlichen Grund zurückschließen läßt« (Fichte, 1859, S. 123, § 72). 164 Mit anderen Worten: Aus diesen Prämissen werde Fichtes Darstellung des Analogie-Argumentes entspricht im Wesentlichen der heutigen Definition. Dabei handelt es sich um ein Argument, bei dem aus der Ähnlichkeit zwischen zwei Bereichen in gewissen Elementen mit einem bestimmten Grad der Wahrscheinlichkeit auf die Ähnlichkeit in ungewissen Elementen geschlossen wird. In diesem Sinne kann das Analogie-Argument als erweiterndes Denken (ampliative reasoning) bezeichnet werden, weil die »conclusions do not follow with certainty but are only supported with varying degrees of strength« (Bartha, 2019). In heutiger Terminologie unterscheidet Fichte bei seiner Darstellung des Analogie-Argumentes zwischen einem Herkunftsbereich (source domain) und einem Zielbereich

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letztlich die Schlussfolgerung gezogen, dass sich jenes analogische Einzelne dem im Normaleinzelnen manifestierten Allgemeinen subsumieren lässt. Dieser induktive Schluss auf das Wesen der Erscheinungen wird in der Form einer Hypothese gebildet, wobei es klargestellt werden sollte, dass Fichte (1859) eine solche Hypothese nicht als eine »willkürliche Vermuthung[]« versteht, »sondern als einen durch Induction und Analogie gesicherten Erfahrungsbegriff« (S. 129, § 77), dem ein bestimmter Grad der Wahrscheinlichkeit zukommt. Wenn der Mensch demnach bei der philosophischen Anthropologie unter dem Allgemeinbegriff der Seele als dessen Grund betrachtet wird und dieser Seele die Bestimmungen der Substantialität, der Individualität, der Präexistenz und der Fortdauer zugeschrieben werden, so ist eine solche Behauptung eine Hypothese, da man auf die Seele als den anzunehmenden Grund zurückschließt. Diese Hypothese ist jedoch nicht als eine anfängliche, erst zu bestätigende Vermutung, sondern als ein resultierender Erfahrungsbegriff zu betrachten. Aus dem Vorhergehenden wird ersichtlich, dass die aposteriorische Methode dem spekulativen Erkennen bestimmte Einschränkungen stellt. Aus der Unerschöpflichkeit des Empirischen ergeben sich nämlich einschränkende Implikationen für den Gewissheitsgrad und die Systematik der philosophischen Anthropologie, welche nun zu spezifizieren sind. (target domain), welche, jeweilig aus einer Reihe (set) von Gegenständen, Eigenschaften oder Verhältnissen bestehend, miteinander verglichen werden. Insofern der Herkunftsbereich mit einem hohen Grad der Gewissheit erkannt ist, wird aus der Ähnlichkeit in gewissen Elementen mit dem Zielbereich die Plausibilität einer weiteren Ähnlichkeit in noch unbeobachteten und ungewissen Elementen des Zielbereichs behauptet. Fichte (1833b) weist darauf hin, dass diesem Schluss »relative Wahrscheinlichkeit« zukomme, welche »unbestimmbare Grade und Abstufungen enthält« (S. 226, § 166). In diesem Sinne kann man feststellen, dass er sich der Problematizität des Analogie-Argumentes bewusst ist, die trotzt der Anerkennung der Ubiquität des analogischen Denkens noch heute besteht, nämlich seine Ungewissheit und der Mangel an allgemeinen Kriterien für die Gültigkeit analogischer Schlussfolgerungen (Bartha, 2019). Für Fichte – wie noch darzustellen ist – hängt die Stärke bzw. der Grad der Wahrscheinlichkeit des Analogie-Argumentes nämlich von (1) dem Grad der Gewissheit über die erkannten Tatsachen des Herkunftsbereichs, (2) der Vollständigkeit der analogischen Reihe bzw. der Zahl und der Vielzahl der aufgestellten Elemente, (3) dem Grad der Wesentlichkeit der als Ähnlichkeiten festgestellten Elementen in Bezug auf ihren jeweiligen Bereich, und (4) der Anwendung dieser Methode in Verbindung mit anderen Methoden wie der Induktion und der Hypothese. Für weiterführende Literatur zur Analogie und zum analogischen Denken vgl. Bartha (2019). Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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3.4.3.2 Die Einschränkungen der aposteriorischen Methode

Als aposteriorisch-spekulative Wissenschaft ist die philosophische Anthropologie zwar epistemologisch dazu berechtigt, den Seelenbegriff und die Seelenfrage zurückzufordern und die Möglichkeit der Erkenntnis der Wesensapriorität der menschlichen Seele zu bejahen, jedoch erkennt sie eben aus derselben epistemologischen Rechtfertigung zugleich die wissenschaftlichen Prinzipien der Besonnenheit und der Bescheidenheit an, sodass sie methodisch erstens auf den Anspruch auf apodiktische Gewissheit und zweitens auf den Anspruch auf systematische Geschlossenheit verzichtet, um stattdessen die Gewissheit ihrer Aussagen gemäß ihrer philosophischen Wahrscheinlichkeit einzuschätzen und die Forschung als eine unendliche und asymptotische Aufgabe offen zu halten. 3.4.3.2.1 Von der apodiktischen Gewissheit zur philosophischen Wahrscheinlichkeit In Hinsicht auf den Gewissheitsgrad der philosophischen Anthropologie zieht Fichte aus seinen epistemologischen und methodologischen Prämissen die Konsequenz, dass dem Schluss, welchen das Denken aufgrund der Unerschöpflichkeit des Empirischen statt der Allheit aus der Vielheit ziehen müsse, gerade wegen dieser Mangelhaftigkeit die Modalität der absoluten Gewissheit nicht zukommen könne. Stattdessen komme dem Analogieschluss die Modalität der »relative[n] Wahrscheinlichkeit« zu, welche je nach der Vollständigkeit der Reihe der entsprechenden Tatsachen und der darauf basierten Induktion »unbestimmbare Grade und Abstufungen enthält« (Fichte, 1833b, S. 226, § 166). Nun unterscheidet Fichte bezüglich des Ausdrucks des Grades der Wahrscheinlichkeit zwischen der mathematischen und der philosophischen Wahrscheinlichkeit. Bei der mathematischen Wahrscheinlichkeit handele es sich nämlich um den quantitativen Ausdruck ihres Grades. Laut Fichte sei die Anwendung der Wahrscheinlichkeitsberechnung zwar im Gebiet der »bloß quantitativen Verhältnisse[]« gültig, jedoch werde sie insofern ungültig und »werthloser«, als »qualitative[] Bestimmungen« in Betracht gezogen werden (Fichte, 1833b, S. 226, § 166). Fichte wendet sich gegen das Vorurteil, dass jede Untersuchung, sei sie philosophisch oder psychologisch, »bloß auf mathematische Verhältnisse« deshalb zurückgeführt werden solle, weil der »Grad der wissenschaftlichen Evidenz und Begriffsmäßig208

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keit« von seinem quantitativen Ausdruck abhängig sei (Fichte, 1833b, S. 227, § 166). Demgegenüber stellt Fichte (1859) fest, dass man »durch Berechnung und exacte Forschung nirgends auch nur um eines Haares Breite in die Erkenntniß des Wesens und der innern Ursachen eindringen« könne (S. 127, § 75). Anstelle der mathematischen Wahrscheinlichkeit fordert Fichte für die philosophische Anthropologie die philosophische Wahrscheinlichkeit, welche – wie schon angedeutet – »nach den Graden« abgestuft werde, »in welchen sich die Vollständigkeit oder Unvollständigkeit der Induktion halten muß« (Fichte, 1833b, S. 228, § 166). In diesem Sinne lassen sich vier Faktoren erkennen, von denen der allgemeine Grad der Wahrscheinlichkeit der Aussagen der philosophischen Anthropologie abhängen. Was den Analogieschluss betrifft, so weist Fichte (1869c) darauf hin, dass sein Grad der philosophischen Wahrscheinlichkeit von zwei Faktoren abhänge, nämlich erstens von der Gewissheit einer Tatsache in der unmittelbar zugänglichen und schon bekannten Erfahrung 165 und zweitens von dem Umfang der »Reihe einzelner Aehnlichkeiten zwischen gewissen Gegenständen« (S. 277). 166 Diese Faktoren machen demnach den Analogieschluss mehr oder minder wahrscheinlich, denn je nachdem, wie gültig und gewiss eine Tatsache ist und wie umfangreich eine analogische Reihe ist, sei es nämlich mehr oder minder wahrscheinlich, dass dem daraus gezogenen Schluss Gültigkeit im unbekannten Gebiet der Erfahrung zukomme (Fichte, 1869c, S. 277). Neben diesen zwei Faktoren, die Fichte ausdrücklich anführt, lassen sich noch zwei Faktoren erkennen. Insofern gemäß seiner Schilderung der Analogie eine Übereinstimmung zwischen dem Einzelnen und dem Normaleinzelnen nämlich in wesentlichen Eigenschaften festgestellt werden solle, kann man ferner behaupten, dass Selbstverständlich erreicht das Normaleinzelne, d. h. die Prämisse, welche als gewiss gelten und durch ihre Gewissheit den Analogieschluss wahrscheinlich machen sollte, auch nicht die Modalität der apodiktischen Gewissheit, da die Naturwissenschaft ihren Aussagen ebenfalls bestimmte Graden der Wahrscheinlichkeit zuschreibt. Die Prämisse muss demnach lediglich so gewiss sein, dass sie kraft der Analogie der unbekannten Sachlage ihre Gewissheit verleihen kann. Indem diese Einschränkung explizit von Fichte anerkannt wird, wäre der Einwand unberechtigt, dass die Analogie als Methode deswegen ungültig sei, weil dem Normaleinzelnen selbst prinzipiell keine apodiktische Gewissheit zukomme. 166 Diese zwei Faktoren entsprechen den zwei ersten Kriterien, die in der Fn. 164 aufgeführt werden. Im Vergleich zu diesen, die er ausdrücklich angibt, lassen sich – wie noch darzustellen ist – die zwei letzten Kriterien seinen Darstellungen zur Analogie entnehmen. 165

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der Grad der philosophischen Wahrscheinlichkeit des Analogieschlusses von einem dritten Faktor abhängt, nämlich vom Grad der Wesentlichkeit der als Ähnlichkeiten festgestellten Eigenschaften. Nun ist die Analogie nicht die einzige Methode der philosophischen Anthropologie, sodass man letztlich feststellen kann, dass der allgemeine Grad der Wahrscheinlichkeit der philosophischen Anthropologie von dem vierten Faktor abhängt, dass die Analogie in Verbindung mit der Induktion und der Hypothese angewandt wird. Trotzt diesen zur Stärke des ganzen Argumentes beitragenden Faktoren behauptet Fichte (1859), dass der »Wahrscheinlichkeitsschluss« immer »etwas Unfertiges, Nochnichtabgeschlossenes« behalte, indem die Frage offen bleibe, warum »es so sein [sollte], während es auch ganz anders sein könnte« (S. 167, § 94). Diese Umstände machen jedoch laut Fichte (1859) keinen Grund der Beschämung aus: Aus demselben Grunde darf die Philosophie des Bekenntnisses sich nicht schämen, vielmehr dient es zur klaren Orientirung über die Berechtigung dieses ihres Thuns, daß sie in dieser Sphäre auf strenge Gewißheit, auf den Beweis des »Nichtandersseinkönnens« keinen Anspruch mache, gerade weil der hier erforschte Inhalt die lediglich formale Begriffsnothwendigkeit überschreitet und ein specifisches Mehr enthält, welches in seiner Facticität nur empirisch erforscht, nach seinem innern Ursachen nur hypothetisch erklärt zu werden vermag (S. 204, § 112).

Gleichzeitig behauptet Fichte (1855a) jedoch, dass der Erfahrungsbeweis, welchen die philosophische Anthropologie gemäß den Prinzipien der Induktion, der Analogie und der Hypothese leistet, trotz seines formellen Mangels im Vergleich zur »apodiktische[n] Allgemeingültigkeit einer apriorischen Begriffsentwicklung« immerhin »innerlich eine ebenso vollständige Ueberzeugung gewähren kann« (S. 138). In diesem Sinne solle die philosophische Anthropologie mit ihrem Erfahrungsbeweis darauf abzielen, »die Wahrscheinlichkeit« ihrer Aussagen »auf den möglichst hohen Grad zu bringen« (Fichte, 1859, S. 122, § 71). Auf diese Weise solle die philosophische Anthropologie die Überzeugung von der Substantialität, der Individualität, der Präexistenz und der Fortdauer der menschlichen Seele begründen, sodass sie auf wissenschaftliche Weise ihre existentielle Bestimmung erfüllen könne. Fichtes Aufklärung dieser methodologischen Einschränkung ist insofern wichtig, als er damit zeigt, dass er als erster die mögliche Schwäche einer Analogie zugestehen würde. Sollte man demnach 210

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den Einwand erheben, dass der ganze Ansatz Fichtes abzulehnen sei, weil sein Erfahrungsbeweis nicht alle Tatsachen berücksichtige und nicht ausreichend untermauert sei, sodass ihm im Endeffekt nicht gelinge, die Wesensapriorität und die Unvergänglichkeit der menschlichen Seele zu beweisen, so wäre dies ein Fehlschluss. Aus der Unvollständigkeit der Erfahrungsgrundlage und aus der Unentschlossenheit des Beweises wird nämlich irrtümlicherweise auf die Ungültigkeit des ganzen Ansatzes geschlossen. Die Nichtigkeit dieses Einwandes liegt darin, dass er eigentlich dem methodischen Prinzip nicht widerspricht, sondern vom Anspruch auf Vollständigkeit und Allgemeingültigkeit ausgehend – d. h. die Methode verkennend – durch die Widerlegung des Resultates den ganzen Ansatz zu widerlegen vorgibt. Nichtsdestoweniger ist die Möglichkeit der Unvollständigkeit und der Unentschlossenheit des Beweises in der Methode enthalten, sodass die mögliche Schwäche eines Beweises nicht aus der Ungültigkeit der Methode, sondern eben aus dem Mangel an Erfahrungstatsachen hervorgeht. Dieser Mangel kann jedoch relativ ausgeglichen werden – natürlich nicht bis zur absoluten Vollständigkeit. In diesem Sinne bleibe die philosophische Anthropologie »eine precäre, der fortgeseßten Vervollkommnung bedürftige und der Berichtigung, d. h. möglicher Widerlegung, ausgeseßte Erforschung« (Fichte, 1833b, S. 164, § 126), was nun zur nächsten methodologischen Einschränkung führt. 3.4.3.2.2 Von der systematischen Geschlossenheit zur unendlichen Offenheit und Progression In Hinsicht auf die Systematik der philosophischen Anthropologie zieht Fichte (1859) aus seinen epistemologischen und methodologischen Prämissen letztlich die Konsequenz, dass sie im Vergleich zur »strenge[n] Geschlossenheit« und »dialektische[r] Gliederung« eines bloß formellen Systems von »reinen Vernunftwahrheiten« nämlich als Forschung »der unendlich reichen und eigenthümlichen Empirie« nicht zum Abschluss kommen könne (S. 202, § 112). Da das »Einzelne« in der Erfahrung »ein immer fort und neu sich entwickelndes« sei, mache das Erkennen der Erfahrung einen »nie vollendete[n] Versuch und eine unendliche Aufgabe« aus (Fichte, 1833b, S. 161, § 124). In diesem Sinne verstehe sich die philosophische Anthropologie als ein »endlose[s] Bestreben«, insofern sie die Möglichkeit der Widerlegung, der Berichtigung, der Vervollkommnung und der Progression in sich enthalte (Fichte, 1833b, S. 164, § 126). Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Gemäß diesem Selbstverständnis der philosophischen Anthropologie behauptet Fichte (1855a), dass sie nicht vorgebe, »diese tiefverschlungenen Fragen schon erschöpfen oder zum Abschlusse bringen zu wollen« (S. 140). Sie ziele demnach nicht darauf ab, die Frage nach der Substantialität, der Individualität, der Präexistenz und der Fortdauer der menschlichen Seele ein für alle Mal zu lösen und den Beweis dafür in einem geschlossenen System darzustellen. Stattdessen versuche sie, jene Frage in der Form einer Hypothese zu beantworten und diese bis zu ihrem höchsten Grad der Wahrscheinlichkeit zu bringen. Als eine »auf Analogie beruhende[] Forschung« liege in dem Begriff der philosophischen Anthropologie, dass sie »durch Heranziehung immer neuer Thatsachen für gesteigerte Evidenz und Ueberzeugung sich immer offen« halte (Fichte, 1855a, S. 140). Aus dem Vorhergehenden lässt sich feststellen, dass die philosophische Anthropologie Fichtes durch ihr epistemologisches und methodologisches Selbstverständnis in der Lage ist, einerseits sich ihrem Streben nach dem Unbedingten hinzugeben, ohne auf die unvermeidlichen Fragen der Vernunft zu verzichten, andererseits die Einschränkungen der menschlichen Perspektive anzuerkennen, ohne zum vermeintlichen absoluten Wissen fliehen zu müssen – Fichtes gesuchte Versöhnung von Wissenschaft, Philosophie und Religion.

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4 Immanuel Hermann Fichtes philosophische Anthropologie

Im Kontext der nachidealistischen Philosophie tritt Fichte als ein Philosoph auf, der von einer tiefen und artikulierten Auffassung der geistigen Situation seiner Zeit ausgehend zur Bildung eines philosophischen Standpunktes als dessen exemplarischer Vertreter beiträgt. Dieser philosophische Standpunkt, welcher aus heutiger Sicht als Spätidealismus bezeichnet wurde, erwies sich als ein Standpunkt der Vermittlung und der Versöhnung. Indem Fichte als der exemplarische Spätidealist zu betrachten ist, wurde der Begriff des Spätidealismus und die Bedeutung dessen Versöhnungsversuch systematisch in Hinsicht auf Fichtes epistemologische und methodologische Prinzipien substantiiert und erfüllt. In diesem Sinne darf man feststellen, dass eine Geschichte des deutschen Idealismus unvollständig bleiben würde, solange Immanuel Hermann Fichte außer Acht gelassen wird, zumal er einige der Hauptprobleme des klassischen Idealismus zu einer relativen systematischen Vollendung bringt, nämlich die Frage nach dem Absoluten, die Frage nach der Individualität, die Frage nach der Möglichkeit des spekulativen Erkennens und die Frage nach dem Übergang der negativen in die positive Philosophie. Im Zentrum der Philosophie Fichtes steht die Philosophie des menschlichen Geistes, welche er in die philosophische Anthropologie und die philosophische Psychologie einteilt. In diesem Teil vorliegender Arbeit wird nämlich Fichtes philosophische Anthropologie in Betracht gezogen, um sein Argument für die Substantialität, die Individualität, die Präexistenz und die Fortdauer der menschlichen Seele zu rekonstruieren. Zu diesem Zweck soll jedoch vorher Fichtes historisch-kritische Würdigung der Haupttheorien der Psychologie betrachtet werden, welche er seiner eigenen anthropologischen Untersuchung in der Form einer Doxographie und einer Kritik voranstellt, um dadurch einen Allgemeinbegriff der menschlichen Seele als heuristisches Prinzip für seine eigene anthropologische Untersuchung zu gewinnen. Anschließend gilt es demnach, erstens Fichtes DoxograSubstantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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phie und Kritik der Haupttheorien der Psychologie und zweitens sein Argument für die Wesensapriorität und Unvergänglichkeit der menschlichen Seele darzulegen.

4.1 Doxographie und Kritik der Haupttheorien der Psychologie Ganz im Sinne von Aristoteles 167 fängt Fichte seine anthropologischen Untersuchungen mit einer »kritischen Geschichte der bisherigen Seelenlehre« an (Fichte, 1876a, S. XIX). 168 Bei diesem »kritische [n] Eingehen auf die ältern Ansichten« (Fichte, 1876a, S. 19, § 7) handele es sich um eine »zwar nicht literarisch vollständig[e], aber wissenschaftlich erschöpfend[e]« Charakterisierung der »bisher herrschenden psychologischen Haupttheorien« (Fichte, 1876a, S. XIX). Diese Charakterisierung macht insofern eine Bedingung einer neuen Theorie aus, als sie die Hauptprobleme und Aporien des betrachteten Gegenstandes zum Vorschein bringe, welche aus der Einseitigkeit der gewürdigten Theorien hervorgehen und welche sodann die neue Theorie zu lösen hat, wenn überhaupt ein Fortschritt gemacht werden sollte. Mit anderen Worten: Fichtes historisch-kritische Würdigung der psychologischen Haupttheorien solle einerseits deren »relative Berechtigung«, andererseits deren »Grundmangel« aufzeigen (Fichte, Bekanntlich lässt Aristoteles (1994) sein Werk De anima mit einer doxographischen Untersuchung anfangen, welche er folgendermaßen rechtfertigt: »Bei unserer Betrachtung über die Seele müssen wir zugleich mit der Aufweisung der Weglosigkeit (Schwierigkeit), aus der wir im Fortgang den Ausweg finden sollen, die Ansichten der Früheren mitheranziehen, die sich über sie geäußert haben, um das Zutreffende zu übernehmen und dem Nichtzutreffenden zu entgehen« (S. 8, DA I.2 403b). 168 Diese Vorgehensweise ist für Fichte charakteristisch. Als Beispiel sei darauf hinzuweisen, dass er seinem dreibändigen Werk Grundzüge zum Systeme der Philosophie (1833, 1836, 1846) eine historisch-kritische Untersuchung voranstellt, welche in seinen Werken Beiträge zur Charakteristik der neueren Philosophie (1829/1841) und Über Gegensatz, Wendepunkt und Ziel heutiger Philosophie (1832) dargestellt ist. Diese historisch-kritische Untersuchung zielt darauf ab, die Gegensätze der Philosophie in ihrer historischen Entwicklung systematisch zu begreifen und zu versöhnen, um dadurch die Notwendigkeit des gewonnenen Standpunktes und die Möglichkeit eines Fortschritts in der Philosophie zu rechtfertigen. Ein weiteres Beispiel stellt sein dreibändiges Werk System der Ethik (1850, 1851, 1853) dar. Der erste Teil behandelt nämlich laut Untertitel »[d]ie philosophischen Lehren von Recht, Staat und Sitte in Deutschland, Frankreich und England von der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts bis zur Gegenwart«. 167

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1876a, S. XIX), um sodann die eigene Untersuchung zu orientieren. Aus dieser Doxographie und Kritik wird demnach nicht nur eine historische, sondern auch eine systematische Orientierung gewonnen, indem durch das Abwägen des Zutreffenden und Unzutreffenden jeder Theorie sich ein allgemeiner Seelenbegriff bilde, der als heuristisches Prinzip für die durchzuführende Untersuchung gelte. Der »immer wiederkehrender, in unzählbaren Schattirungen sich fortsetzender Kampf« (Fichte, 1876a, S. XX) in der Psychologie führt Fichte auf zwei Hauptgegensätze zurück, welche er sodann mit seiner eigenen Theorie zu versöhnen versucht. Als Achsenfragen dieser Hauptgegensätze lassen sich nämlich erstens die Frage nach dem Wesen und zweitens die Frage nach der Selbstheit der Seele identifizieren. Im ersten Fall handelt es sich folglich um den Gegensatz zwischen Spiritualismus und Materialismus, während es im zweiten Fall sich um den Gegensatz zwischen Pantheismus und Individualismus handele. Im Folgenden gilt es, Fichtes Kritik an diesen paradigmatischen psychologischen Theorien näher zu betrachten. 169

4.1.1 Kritik am dualistischen Spiritualismus Fichtes Kritik geht hauptsächlich drei Variationen des dualistischen Spiritualismus durch, nämlich die Influxustheorie, den Okkasionalismus und den Prästabilismus. Bei dieser Kritik lautet die leitende Frage, ob der Zusammenhang von Seele und Leib aus dualistischen Prämissen befriedigend erklärt werden könne. Indem der Spiritualismus einerseits die Tatsache der Identität des Selbstbewusstseins und andererseits die Tatsache der Zusammensetzung und des Wechsels des Leibes konstatiere, führe er diesen phänomenalen Unterschied auf einen ontologischen Gegensatz zwischen zwei Substanzen zurück (Fichte, 1876a, S. 23–24, § 9). Auf diese Weise bilde sich die Prämisse des Spiritualismus, dass der Mensch aus zwei entgegengesetzten Substanzen bestehe, nämlich einerseits aus einer einfachen, vorstellenden, immateriellen und unverweslichen Seele und andererseits aus einem zusammengesetzten, ausgedehnten, materiellen und verweslichen Leib (Fichte, 1876a, S. 24, § 9). 170 AngeFür eine Zusammenfassung der »kritischen Geschichte der Seelenlehre« Fichtes vgl. auch Stern (1967, S. 49–78). 170 Interessanterweise findet Fichte schon im Spiritualismus den Ursprung der in der 169

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sichts der immerhin evidenten Einheit der Erscheinung des Menschen stelle sich dem Spiritualismus jedoch die Frage, wie diese Einheit überhaupt möglich sei. Ihm bliebe es nämlich »unerklärlich, wie beide [Substanzen] überhaupt nur füreinander vorhanden sein, viel weniger wie sie bis zu dem Grade in Einheit und Harmonie miteinander treten könnten« (Fichte, 1876a, S. 27, § 12). In diesem Sinne mache der Spiritualismus den in unterschiedlichen Variationen sich gestaltenden Versuch aus, jene Kluft zu überbrücken und hierbei den Zusammenhang beider Substanzen zu erklären. Ausgehend von der Prämisse, dass Leib und Seele entgegengesetzte Substanzen seien, lasse sich deren Verhältnis entweder als ein wirkliches oder als ein scheinbares verstehen (Fichte, 1876a, S. 27–28, § 13). Im ersten Fall würde man die Ursache des Zusammenhangs im Diesseits suchen, während man im zweiten Fall jene Ursache im Jenseits suchen würde. Mit anderen Worten: Es besteht die Möglichkeit, das Verhältnis von Leib und Seele entweder aus einer direkten oder aus einer indirekten Kausalität zu erklären. In diesem Sinne bringe der Spiritualismus laut Fichte (1876a) hauptsächlich drei »künstliche Erfindungen« zur Erklärung des Verhältnisses von Leib und Seele vor (S. 27, § 13). Ausgehend von der ersten Annahme, dass es eine wirkliche und direkte Wechselwirkung zwischen Leib und Seele stattfinde, mache die Influxustheorie – welche man aus heutiger Sicht als einen interaktionistischen Substanzdualisdarauffolgenden Geschichte der Psychologie allmählich sich geltend machende Preisgabe des substantiellen Seelenbegriffs, mithin den Grundfehler der Bewusstseinspsychologie. Laut Fichte bestehe der Fehler des Spiritualismus darin, dass er durch die Hervorhebung der Tatsache des Selbstbewusstseins letztendlich die Seele mit dem Bewusstsein identifiziert habe. Aus dieser Prämisse der Identität von Seele und Bewusstsein, einem Fehler »der verhängnissvollsten Art« für die Psychologie (Fichte, 1876a, S. 25, § 10), habe sich ergeben, dass eine Eigenschaft der Seele zum Wesen der Seele erhoben geworden sei, sodass, den Substanzbegriff aufgebend, der Seelenbegriff durch den Ichbegriff ersetzt geworden sei, »als wenn dies blosse Accidens substanzlos in der Luft schweben könne« (Fichte, 1876a, S. 25, § 11). Fichte (1876a) erklärt die Entwicklung zur Bewusstseinspsychologie weiter: »Das Ich, welches nichts anderes ist als die Vorstellung, in der ein reales Wesen, die Seele, auf sich selbst sich zurückbezieht, wurde selbst substantiirt, in dem Grade, dass ein kühner Denker endlich sich getraute, es zum Realprincip der gesammten Philosophie zu machen« (S. 25, § 11). Durch ein solches »Hypostasiren allgemeiner Eigenschaften und Prädicamente« sei »dem Begriffe der menschlichen Seele« letztendlich »die reale, damit zugleich individuelle Grundlage entzogen« worden (Fichte, 1876a, S. 25, § 11), bis die Bewusstseinspsychologie stolz auf die Überwindung solcher scholastischen Voraussetzungen als die Wissenschaft der Tatsachen des Bewusstseins auftritt.

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mus bezeichnen würde – die Hypothese geltend, dass »beide Substanzen in einem dritten hypothetischen Mittelwesen in wirkliche Berührung und Wechselwirkung treten« (Fichte, 1876a, S. 28, § 13). Ausgehend von der zweiten Annahme, dass es hinter dem Schein des Verhältnisses von Leib und Seele eine indirekte Ursache gäbe, machen sich die Hypothesen des Okkasionalismus und des Prästabilismus geltend. Der Okkasionalismus bringe nämlich die Hypothese vor, dass die Harmonie von Leib und Seele durch Gott ermöglicht und erhalten werde, während der Prästabilismus – welchen man aus heutiger Sicht als einen psychophysischen Parallelismus bezeichnen würde – die Hypothese geltend mache, dass die Harmonie von Leib und Seele von Gott ursprünglich eingebildet worden sei (Fichte, 1876a, S. 28, § 13).

4.1.1.1 Influxustheorie

Die Kritik fängt mit der Influxustheorie an, welche hauptsächlich zwei Formen einnimmt, nämlich als Theorie des Seelenorgans 171 und als Theorie einer hybriden Vermittlungssubstanz. Was die Theorie des Seelenorgans betrifft, so weist Fichte (1876a) darauf hin, dass sie die Verbindung und die Wechselwirkung zwischen Leib und Seele »an einem einzigen Punkte« des Leibes, genauer des Gehirns suche (S. 30, § 15). Sollte demnach ein solcher Punkt des Gehirns, »in welchen alle Empfindungsnerven zurücklaufen und von dem alle motorischen ausgehen«, gefunden werden, so wäre nämlich der »Sitz der Seele« bzw. das »Seelenorgan« gefunden worden (Fichte, 1876b, S. 32, § 16). Nur mit dem Beweis der Existenz eines solchen Zentralorgans der Seele im Nervensystem sei für die Influxustheorie die Möglichkeit der Wechselwirkung zwischen der an sich einfachen und immateriellen Seelensubstanz mit der an sich zusammengesetzten und materiellen Körpersubstanz begründet (Fichte, 1876b, S. 32, § 16). Laut Fichte lasse sich die Lehre des Seelenorgans sowohl aus logischen als auch aus empirischen Gründen widerlegen. In Hinsicht auf die logischen Gründe weist Fichte (1876a) darauf hin, dass der Annahme des Seelenorgans der Widerspruch zugrunde liege, dass Mehr zu Fichtes Kritik an dieser Lehre, vor allem in Hinsicht auf Fechner vgl. Fichte (1861, 1862).

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ein solches Organ trotzt seiner Kleinigkeit immer noch »ausgedehnt, mithin theilbar« bleibe (S. 33, § 16). Folglich mache eine solche Hypothese nur den Schein einer Erklärung aus, indem sie lediglich das Problem auf ein kleineres Gebiet der Wirklichkeit verschiebe und im Endeffekt nicht erkläre, wie die immaterielle Seelensubstanz mit einem solchen zwar kleinen, jedoch immer noch ausgedehnten Organ in Verbindung treten könne. Die Lehre des Seelenorgans beruhe folglich auf der »Täuschung«, dass, »wenn man das Räumliche ins Unendliche verkleinere, … es irgendwo plötzlich auf[höre], räumlich zu sein«, und »gar ins Geistige« übergehe (Fichte, 1876a, S. 33, § 16). Eine wirkliche und direkte Wechselwirkung zwischen zwei entgegengesetzten Substanzen erweise sich im Endeffekt als unmöglich, sodass man entweder die dualistische Prämisse aufgeben oder die Unmöglichkeit des Verhältnisses zwischen Leib und Seele behaupten müsse (Fichte, 1876a, S. 33, § 16). In Hinsicht auf die empirischen Gründe weist Fichte darauf hin, dass die Annahme eines Zentralorgans im Nervensystem von der anatomischen, physiologischen und pathologischen Forschung nicht unterstützt sei. Gemäß der naturwissenschaftlichen Evidenz sei höchst unwahrscheinlich, dass die »sämmtlichen peripherischen Nervenenden in einem einzigen Punkte des Hirns« zusammenlaufen (Fichte, 1876a, S. 33, § 17). Demgegenüber lasse jene Evidenz »mit höchster Wahrscheinlichkeit« feststellen, »dass das gesammte Hirn mit Einschluss des verlängerten Markes als das Centralorgan (›Seelenorgan‹) anzunehmen sei, und zwar mit verschiedenen Functionen seiner einzelnen Theile« (Fichte, 1876a, S. 33–34, § 17). 172 Folglich sei aus logischen und empirischen GrünLaut Fichte widerlege diese empirische Evidenz zwar die dualistische Hypothese einer Wechselwirkung zwischen zwei entgegengesetzten Substanzen in einem einzigen leiblichen Organ, jedoch unterstütze sie stattdessen seine eigene Theorie der dynamischen Allgegenwart der Seele im Leib, welche nicht auf dualistischen Prämissen beruht. An dieser Stelle kann Fichtes Ansicht jedoch nicht dargestellt werden, da hier lediglich seine Kritik im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Die weitere Entwicklung der Kritik von der Influxustheorie zum Okkasionalismus wird nämlich aufzeigen, dass der Okkasionalismus dadurch aus der Influxustheorie hervorgehe, dass er als Ergebnis der Influxustheorie die Unmöglichkeit der direkten Wechselwirkung zwischen Leib und Seele feststelle, um stattdessen eine indirekte und äußerliche Ursache dieser Wechselwirkung zu suchen. Fichte deutet jedoch an, dass nicht die Idee der Wechselwirkung, sondern der Dualismus aufgegeben werden sollte. In diesem Sinne lege die empirische Evidenz nahe, »dass die Seele ausgedehnt sei, wenigstens in Form der Ausdehnung wirke, mit einem Worte das ganze Hirn durchwohne« (Fichte, 1876a, S. 34, § 17). Es wird sich weiter unten zeigen, dass Fichte durch eine Kritik

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den die Unmöglichkeit einer direkten Wechselwirkung zwischen Leib und Seele in einem einzigen leiblichen Organ bewiesen. Was nun die Theorie einer hybriden Vermittlungssubstanz betrifft, so weist Fichte darauf hin, dass sie eine »Art von Halbspiritualismus« sei, indem sie die Wechselwirkung zwischen Leib und Seele nicht – wie im vorigen Fall – in einem leiblichen Organ, sondern eher in einer hybriden Substanz für möglich halte, welche »weder nur materiell noch blos geistig« sei (Fichte, 1876a, S. 35, § 18). Solche Vermittlungssubstanz sei als »Nervengeist«, »Nervenäther« und als »elektrische Kraft« bezeichnet worden (Fichte, 1876a, S. 35–36, § 18). Laut Fichte (1876a) beruhe dieser Erklärungsversuch jedoch auf derselben Täuschung der Theorie des Seelenorgans, denn es bliebe »gleich widersprechend …, die ›immaterielle‹ Seele mit feinen und feinsten, wie mit groben und sinnenfälligen Materien in directe Verbindung zu setzen« (S. 36, § 18). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Gegensatz zwischen einer einfachen, vorstellenden, immateriellen und unverweslichen Seele und einem zusammengesetzten, ausgedehnten, materiellen und verweslichen Leib im Prinzip jede wirkliche und direkte Wechselwirkung unmöglich macht, möge der Erklärungsversuch der ausgeklügeltste sein.

4.1.1.2 Okkasionalismus

Nachdem Fichte durch seine Kritik an der Influxustheorie die Unmöglichkeit einer direkten Wechselwirkung zwischen Leib und Seele feststellt, geht er dem Okkasionalismus nach, welcher, diese Unmöglichkeit anerkennend, die Vermittlung von Leib und Seele »ausser beiden« suche (Fichte, 1876a, S. 40, § 20). Der Okkasionalismus halte demnach zwar an dem Gegensatz zwischen Leib und Seele fest, jedoch halte er eine Vermittlung zwischen beiden Substanzen in einem dritten Prinzip für möglich. Dieses Prinzip könne dennoch nicht eine leibliche oder eine hybride Substanz sein, sondern es müsse »der gemeinsame Daseinsgrund« beider »endlichen Substanzen« sein (Fichte, 1876a, S. 40, § 20). Diese Theorie läuft darauf hinaus, dass die Harmonie von Leib und Seele nur durch Gott ermöglicht und eran der dualistischen Prämisse der Unräumlichkeit der Seele die Grundlagen für die Ansicht einer unmittelbaren Verbindung von Leib und Seele zu legen versucht. Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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halten werden könne. Gott wirke nämlich einerseits »supplirend aus Veranlassung der Veränderung in der Seele die entsprechende Bewegung im Leibe«, andererseits errege er »die entsprechende Empfindung in der Seele, wenn eine veranlassende Bewegung im Leibe vorgeht« (Fichte, 1876a, S. 41, § 20). Das Interessante bei dem Okkasionalismus bestehe laut Fichte (1876a) darin, dass er im Endeffekt nur das »Geständniss der Unbegreiflichkeit oder Unlösbarkeit« der Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele ausmache (S. 43, § 22). Im Prinzip enthalte der Bezug auf Gott zwar »keinen philosophischen Widerspruch«, indem »ja überhaupt im Absoluten der letzte Grund aller Weltzusammenhänge anzunehmen ist«, jedoch biete dieser Erklärungsversuch in Hinsicht auf das »Wie jener Vermittlung« eigentlich »keine Erklärung, sondern das Bekenntnis der Unerklärbarkeit« (Fichte, 1876a, S. 43, § 22). Durch den Bezug auf Gott als ein asylum ignorantiae behaupte der Okkasionalismus bloß ein non liquet (Fichte, 1876a, S. 43, § 22).

4.1.1.3 Prästabilismus

Als letzte Form des Spiritualismus zieht Fichte den Prästabilismus in Betracht. Die Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele ergebe sich im Fall dieser Theorie aus dem Resultat der monadologischen Konzeption der Welt. Gemäß dieser Konzeption bestehe die Monade in einem einfachen Wesen, welches den wechselnden Erscheinungen als die bleibende und unvergängliche Substanz zugrunde liege (Fichte, 1876a, S. 44, § 24). Die Monade sei zwar eine einfache Substanz, jedoch sei sie nicht statisch, sondern spontan und unaufhörlich tätig (Fichte, 1876a, S. 44, § 24). Diese Tätigkeit beschränke sich jedoch nur »auf das Innere der Substanz«, sodass die Monade weder nach außen wirken noch von außen affiziert werden könne (Fichte, 1876a, S. 45, § 24). Indem Leib und Seele »eigenthümlich grundverschiedenen Gesetzen« folgen (Fichte, 1876a, S. 43, § 23), sei jede Wechselwirkung zwischen Monaden im Prinzip ausgeschlossen. Dementsprechend werden die Veränderungen der Monade nicht von einem äußeren Einfluss, sondern von ihrer inneren ideellen Tätigkeit hervorgebracht. Indem es sich bei diesen Veränderungen um stetige und »ideale Bestimmungen« handele, sei es durchaus kompatibel, einerseits eine »Mehrheit von Zuständen«, andererseits die Einfachheit und Unteilbarkeit der Monade festzustellen (Fichte, 1876a, S. 45, § 24). 220

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In Hinsicht auf den Unterschied der Monaden, weist Fichte (1876a) darauf hin, dass sie sich durch den Grad ihrer Vollkommenheit voneinander unterscheiden, welche wiederum vom Grad der Deutlichkeit ihrer Vorstellungen bestimmt werde (S. 47, § 25). In diesem Sinne machen die Monaden, die Seelen und die Geister eine in Hinsicht auf ihre Vollkommenheit aufsteigende Stufenfolge aus. Was den Menschen betrifft, so sei er als die Einheit einer Vielheit von Monaden zu betrachten. Da er sich durch die Vernunft von der Seele zum Geist erhebe, sei der Geist als die zentrale Monade des Menschen zu betrachten, mit welcher sich sodann peripherische Monaden verbinden, die seinen Körper ausmachen (Fichte, 1876a, S. 47, § 25). Wenn gemäß den dargestellten monadologischen Prinzipien die Monaden eigengesetzliche, selbstständige und geschlossene Substanzen seien, stellt sich naturgemäß die Frage, wie sie überhaupt im Zusammenhang stehen können. Die Antwort des Prästabilismus lautet, dass »die innere vorstellende Thätigkeit aller … von Gott, ihrem Urheber, füreinander passend eingerichtet« sei, sodass sie, die auf dieselbe göttliche Intelligenz zurückzuführenden Gesetzen folgend, in Harmonie stehen (Fichte, 1876a, S. 47, § 25). Der Prästabilismus mache somit den Versuch aus, den Zusammenhang zwischen den eigengesetzlichen und selbstständigen Weltsubstanzen zu erklären. Indem es für den Prästabilismus die Unmöglichkeit einer direkten Wechselwirkung gelte, stelle er die Hypothese auf, dass das als Wechselwirkung erscheinende Verhältnis von Leib und Seele eigentlich als die Entsprechung von zwei Substanzen zu betrachten sei, welche gemäß einer von Gott prästabilierten Harmonie parallel ihren eigenen Gesetzen folgen (Fichte, 1876a, S. 43, § 23). Laut Fichte stelle der Prästabilismus im Vergleich zu den anderen spiritualistischen Theorien insofern einen Fortschritt dar, als er den Substanzdualismus aufhebe. Leib und Seele werden nicht mehr als entgegengesetzte Substanzen betrachtet, sondern als »Wesen derselben Art, einfache, aber vorstellende Substanzen« (Fichte, 1876a, S. 48, § 26). Indem die Monade die grundlegende Substanz ausmache, sei der Unterschied aller Wesen nicht auf einen substantiellen Gegensatz, sondern auf die »stufenweise höher[e] oder niederer[e] Klarheit, zu welcher dies allgemeine Prinzip der Vorstellung in ihnen sich zu entwickeln vermag« (Fichte, 1876a, S. 48, § 26). 173 NichtsdestoweniIm Anschluss an die Idee der Stetigkeit von Leibniz bildet Fichte seinen Entwicklungs- und Evolutionsbegriff, welcher weiter oben im Kontext der Darwinismus-Kon-

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ger weist Fichte gleichzeitig darauf hin, dass die Theorie der vorausbestimmten Harmonie immerhin unzulänglich bleibe. Was er dabei als »entschieden falsch« bezeichnet, ist »die starre Vorstellung von dem blossen Neben- und Aussereinander der realen Wesen – die absolute Weigerung, ein wahres Ineinander derselben anzunehmen« (Fichte, 1876a, S. 52, § 27).

4.1.1.4 Die Unzulänglichkeit des substanzdualistischen Axioms

Beim Abschluss seiner Kritik an den einzelnen spiritualistischen Theorien fasst Fichte (1876a) den Argumentationsgang des allgemeinen Spiritualismus zusammen und weist auf das zugrunde liegende metaphysische Axiom hin, das die Seele zu einem »seltsame[n] utopische[n] Ding« mache (S. 39, § 19). Laut Fichte (1876a) sei die Folgerung des Spiritualismus richtig, aus der Tatsache der Identität des Selbstbewusstseins auf die Identität und Beharrlichkeit der Seele zu schließen und, indem sich der Körper als nicht identisch und nicht beharrlich erweise, den Unterschied zwischen Seele und Körper festzustellen (S. 53, § 28). Nun begehe der Spiritualismus den Irrtum, dass er »jenes Unterschiedensein übereilterweise bis zum directen Gegensatze hinaufschraubte« (Fichte, 1876a, S. 53–54, § 28). Was den Spiritualismus zu dieser Entgegensetzung führe, sei nämlich das metaphysische Axiom der Unräumlichkeit der Seele (Fichte, 1876a, S. 39, § 19). Unterstützt durch die transzendentalästhetische Ansicht, dass die Seele »nur durch den innern Sinn« angeschaut werden könne, dessen Form die Zeit sei, sei für den Spiritualismus »widersprechend, zugleich eine Existenz ihr beizulegen, die in den äussern Sinn hinabreichte«, dessen Form der Raum sei (Fichte, 1876a, S. 37, § 19). Auf diese Weise werde der Seele prinzipiell jede Raumexistenz und Raumbestimmung abgesprochen. Durch diese Verneinung der Raumexistenz der Seele sei sie laut Fichte (1876a) »uns fremd geworden, indem wir keinerlei räumliche Eigenschaft ihr zugestehen dürfen« (S. 39, § 19). Das Wesen der Seele troverse thematisiert wurde (vgl. 2.2.2.4). In der Nomenklatur von Leibniz spezifiziert Fichte (1876a) die Idee einer stetigen Stufenreihe der Weltwesen: »Die einzelnen Wesen können nicht selbst ineinander übergehen, ihre Monaden nicht selbst specifisch höhere Stufen des Daseins gewinnen; einem solchen directen Uebergange widerspricht vielmehr jede Erfahrung. Aber die Weltwesen bilden in ihren festen gegliederten Unterschieden eine stetige und lückenlose Stufenreihe« (S. 49, § 26).

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und alle ihre Verhältnisse seien somit »unfindbar und unausforschlich« geworden (Fichte, 1876a, S. 39, § 19) – ein Vorurteil, das sich bis zum heutigen Tag erstreckt hat. Solange man demnach an dem Axiom der Unräumlichkeit der Seele festhält, werde das Verhältnis von Leib und Seele unerklärlich bleiben. In diesem Sinne behauptet Fichte (1876a), dass dieses Axiom »nothwendig aufzugeben sei, wenn man den Gedanken einer unmittelbaren Verbindung von Leib und Seele nicht überhaupt für völlig unmöglich und gänzlich widersinnig erklären will« (S. 34–35, § 17). Aus der Kritik des Spiritualismus ergibt sich somit die Notwendigkeit, die Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele auf einer berichtigten Theorie von Raum und Zeit zu gründen, durch welche die dualistische Prämisse einer »ursprünglichen Trennung zwischen Seele und Organismus« aufgehoben wird (Fichte, 1876a, S. 54, § 28).

4.1.2 Kritik am monistischen Materialismus Nachdem sich das dualistische Erklärungsprinzip als unzulänglich für die Erklärung des Verhältnisses von Leib und Seele erwiesen hat, geht Fichtes Kritik in das monistische Erklärungsprinzip über. Als die erste, »roheste[] Gestalt« des Monismus trete nämlich der Materialismus auf (Fichte, 1876a, S. 54, § 28), welchen Fichte in dessen unterschiedlichen Formen in Betracht zieht. 174 Aus heutiger Sicht sind die von Fichte gewürdigten materialistischen Ansichten als ein Substanzmonismus und ein Eigenschaftsdualismus zu bezeichnen, insofern sie die nichtmateriellen Eigenschaften des Bewusstseins und des Lebens kausal auf materielle Substanzen zurückführen. In diesem Sinne darf man feststellen, dass insbesondere der epiphänomenalistische Materialismus im Zentrum der Kritik Fichtes steht. 175 Im ersten Teil dieser Arbeit wurde der Materialismus zwar schon thematisiert, jedoch genügte es bei der Schilderung von Fichtes Re-

Fichte veröffentlichte seine Kritik am Materialismus auch als Artikel in der Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik (vgl. Fichte (1854b, 1854a)). 175 Zur heutigen Debatte um das Leib-Seele-Problem im Rahmen der Philosophie des Geistes vgl. beispielsweise Tallis (1999, 2011), Crane und Patterson (2000), Stich und Warfield (2003), Beakley und Ludlow (2006), Beckermann, McLaughlin und Walter (2009), de Freitas Araujo (2012), Gabriel (2015), Fuchs (2017), Knaup (2018) und Swinburne (2019). 174

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aktion auf die Materialismus-Kontroverse, bloß die Grundgedanken seiner Kritik holzschnittartig zu entwerfen, um durch den Kontrast lediglich seine Stellung im Kontext jener Kontroverse aufzuzeigen. Auf die Gefahr hin, an dieser Stelle schon Bekanntes zu wiederholen, gilt es nun, jenen Entwurf zu ergänzen und seine Kritik am Materialismus besonders unter dem Aspekt der Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele näher zu betrachten. Angesichts der Tatsache der Abhängigkeit der Seele vom Leib stelle der Materialismus die »ungetheilte Einheit von Seele und Leib« als dessen Prämisse fest (Fichte, 1876a, S. 57, § 30), um sodann eine Erklärung dieser Einheit durch die Untersuchung der leiblichen Grundlage der seelischen Phänomene zu suchen. Mit anderen Worten: Der Materialismus schließe aus der Erfahrungstatsache, dass die seelischen Phänomene nicht ohne leibliches Substrat stattfinden können, auf die Einheit von Leib und Seele, welche den Ausgangspunkt seiner Untersuchungen ausmacht (Fichte, 1876a, S. 57, § 30). Nun weist Fichte (1876a) darauf hin, dass der Materialismus gleichwie der Spiritualismus den Seelenbegriff auf die Bewusstseinsphänomene reduziere, sodass letztendlich die Seele mit dem Bewusstsein identifiziert werde (S. 57, § 30). Erst durch eine solche Verringerung des Seelenbegriffs könne dem Materialismus ein »Ueberwiegen des Leibes über die Seele« als »unabweisbar« erscheinen (Fichte, 1876a, S. 58, § 31). Da die Seele als Bewusstsein verstanden wird, könne der Materialismus feststellen, dass es keinen Zustand und keine Wirkung der Seele ohne ein leibliches Organ geben könne, während es doch gleichzeitig Zustände und Wirkungen des Leibes ohne die Teilnahme der Seele gebe (Fichte, 1876a, S. 57, § 30). »Ohne Vermittelung des Leibes kann keine Seelenthätigkeit stattfinden, wohl aber umgekehrt kann der Leib ohne (bewusste) Seelenthätigkeit existiren und wirken« (Fichte, 1876a, S. 58, § 31). Die vom Materialismus angenommene Einheit von Leib und Seele ist demnach genauer als die Einheit von einem Teil des Leibes und dem Bewusstsein zu bezeichnen. Indem der Wirkungsbereich der Seele als Bewusstsein auf einen bestimmten Teil des Leibes beschränkt wird, werde die »Seele« bloß als »eine Thätigketisweise des Leibes« betrachtet, sei es nämlich als »die ausgebildetste Lebensfunction« oder als »die höchste Sinnenthätigkeit« (Fichte, 1876a, S. 58, § 31). Folglich werde der Begriff der Seele als substantiellen Wesens aufgegeben, um das Bewusstsein als »eine Eigenschaft des Organismus, näher des Gehirns« anzunehmen (Fichte, 1876a, S. 58, § 31). 224

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Doxographie und Kritik der Haupttheorien der Psychologie

Aus dem Gesagten wird ersichtlich, dass der Materialismus an dem Eigenschaftsdualismus zwischen bewussten und leiblichen Phänomenen festhält, während er die bewussten auf die leiblichen Phänomene kausal zurückführt. Da das Bewusstsein dementsprechend als Eigenschaft, Funktion oder Wirkung des Nervensystems betrachtet werde, welches jedoch gleichzeitig einen Teil eines lebendigen Organismus ausmacht, müsse der Materialismus das Leben dieses Organismus, aus welchem die organische Einheit und Leistung des Nervensystems hervorgeht, ebenso als Eigenschaft, Funktion oder Wirkung eines materiellen Substrats betrachten. Demgemäß laute die zweischrittige Hauptthese des Materialismus, einerseits dass das Bewusstsein die Wirkung des Nervensystems, andererseits dass das der organischen Einheit des Nervensystems innewohnende Leben die Wirkung der Stoffmischung sei. In diesem Sinne geht Fichtes Kritik zwei Formen des Materialismus durch, nämlich – in heutiger Terminologie – die epiphänomenalistische Psychologie und die epiphänomenalistische Biologie.

4.1.2.1 Epiphänomenalistische Psychologie

Eine auf dem Standpunkt des epiphänomenalistischen Materialismus beruhende Psychologie konstatiere zwar die Aktualität der Bewusstseinsphänomene und die Einheit des Bewusstseins, jedoch halte sie diese Einheit für das Produkt und den »Wiederschein von der Einheit des Organismus« (Fichte, 1876a, S. 60, § 33). Da demnach die materielle und kausale Grundlage des Bewusstseins das Nervensystem sei, versetzte sich der Materialismus in die schwierige Lage, die Entstehung des Bewusstseins aus materiellen Verhältnissen erklären zu müssen. Bei dem Versuch, neurophysiologische Prozesse das Bewusstsein und das Selbstbewusstsein hervorbringen zu lassen, erliege der Materialismus dem sensualistischen und dem atomistischen Erklärungsmuster. Im Fall der sensualistischen Erklärungsweise werde die Empfindung als das Erklärungsprinzip des Bewusstseins angenommen. Nun stelle der Sensualismus fest, dass nämlich das Gehirn »der Vereinigungspunkt aller Sensationen« sei, sodass er erstens das Bewusstsein als »die mehr oder minder lebhaften ›Einzelempfindungen‹ des Hirns« und zweitens das Selbstbewusstsein als »die intensivste Selbstempfindung« des Leibes oder genauer als die »höchst lebhafte Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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›Totalempfindung des Hirns‹ von seiner Einheit« betrachte (Fichte, 1876a, S. 60, § 33). In diesem Sinne seien Bewusstseinsphänomene wie das Denken auf dasselbe Erklärungsprinzip zurückgeführt, sodass das Denken unter dem sensualistischen Gesichtspunkt lediglich als »gesteigertes Empfinden eines Andern« zu erklären sei (Fichte, 1876a, S. 60, § 33). Im Fall der atomistischen Erklärungsweise, welche die sensualistische nicht ausschließe, sondern sich zu ihr durchaus komplementär verhalten könne, werden die »einzelnen Nervenverrichtungen und Empfindungen« als die letzten Bausteine des Bewusstseins, die durch ihre Summe bzw. Zusammensetzung die sogenannte Seele hervorbringen sollten (Fichte, 1876a, S. 63, § 35). Die als Tatsache konstatierte Einheit des Bewusstseins solle demnach das Produkt der Vereinigung und der Vereinfachung eines »Mannichfaltige[n] von Elementen« sein (Fichte, 1876a, S. 63, § 35). Gegen diesen sensualistisch-atomistischen Erklärungsversuch macht Fichte einen doppelten Einwand geltend. Im ersten Schritt weist er darauf hin, dass diese materialistische Theorie der Tatsache der »Selbstverdoppelung« des Bewusstseins nicht gerecht werden könne. Wenn es behauptet wird, dass das Selbstbewusstsein unmittelbar aus der Selbstempfindung hervorgehe, so handele es sich dabei um einen »ungerechtfertigte[n] Sprung«, der aus den sensualistischen Prämissen nicht folge (Fichte, 1876a, S. 60, § 33). Aus diesen Prämissen könne man höchstens »die Gesammtempfindung eines Andern« erklären, jedoch nicht die Empfindung des Selbst (Fichte, 1876a, S. 60, § 33). Zur Selbstempfindung und zum Selbstbewusstsein bedürfe es des Vermögens der Selbstunterscheidung und der Selbstbezüglichkeit, um eben innerhalb der undifferenzierten Mannigfaltigkeit der Empfindungen diejenigen unterscheiden zu können, welche auf das bleibende Subjekt jener Erfahrung bezogen sind (Fichte, 1876a, S. 61, § 34). Das Vermögen der »Selbstverdoppelung« verweise demnach auf ein höheres Prinzip, welches nicht aus den bloßen neurophysiologischen Prozessen des Empfindens hervorgehe. Im zweiten Schritt weist Fichte darauf hin, dass diese materialistische Theorie von einem falschen Einheitsbegriff ausgehe. Laut Fichte (1876a) könne die Einheit nicht bloß aus der Zusammensetzung von einzelnen Elementen entstehen (S. 63, § 35) – ein Prinzip, welches erst später die Gestaltpsychologie im Rahmen der Wahrnehmungstheorie popularisieren würde. Stattdessen sei die Bedingung der Einheit ein »einende[s] Princip« (Fichte, 1876a, S. 63, § 35) bzw. ein 226

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»einendes Reale« (Fichte, 1876a, S. 64, § 35), welches den Elementen und deren Vereinigung vorausgehe. Die Einheit des Bewusstseins bloß als Produkt einer zufälligen Vereinigung und Vereinfachung von einzelnen Elementen sei somit laut Fichte (1876a) »die grösste aller Ungereimtheiten« (S. 64, § 35). Dabei halte der Materialismus irrtümlicherweise »die Wirkung für die Ursache« bzw. »die Theile für das Frühere«, wenn umgekehrt »die feste, sich gleichbleibende Einheit der Seele« es sei, was eine solche Vereinigung ermögliche (Fichte, 1876a, S. 64, § 35).

4.1.2.2 Epiphänomenalistische Biologie

Indem die stillschweigende Annahme der vorigen Form des Materialismus die Einheit des organischen Leibes sei, welche die der Entstehung des Bewusstseins zugrunde liegenden organischen und neurophysiologischen Prozesse erst ermöglicht, hänge der Erfolg der materialistischen Erklärung nämlich von einer ebenso epiphänomenalistischen Erklärung des organischen Leibes ab. Bei dem Versuch, materielle Prozesse das Leben hervorbringen zu lassen, erliege der Materialismus dem physikalistischen und dem chemistischen Erklärungsmuster. Im Fall der physikalistischen Erklärungsweise werde der organische Körper des Menschen als das Produkt der Zusammensetzung von bestimmten Stoffen, welche nach den mechanischen Gesetzen der Bewegung, der Wechselwirkung und der Kombination von Körpern zustande komme (Fichte, 1876a, S. 65, § 36). Aus diesem mechanischen Prozess ergebe sich demnach ein »mehr oder minder enge[s] Beieinander« der elementaren Teilchen (Fichte, 1876a, S. 67, § 37), welches in einer bestimmten Kombination einen lebendigen und organischen Leib hervorbringen sollte. Im Fall der chemistischen Erklärungsweise werde nun in Ergänzung zu den mechanischen Gesetzen »ein innerlich Verbindendes, eine qualitativ ergänzende Wechselbeziehung zwischen den einfachen Stoffen«, angenommen (Fichte, 1876a, S. 67, § 37). Durch die chemische Anziehung, Reaktion und Bindung von bestimmten Elementen sollte demnach ein lebendiger und organischer Leib entstehen. Offensichtlich beruht dieser physikalistisch-chemistische Erklärungsversuch auf atomistischen Prinzipien, sodass Fichte denselben Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Einwand gegen den zugrunde liegenden Einheitsbegriff erhebt. Nun ergänzt Fichte (1876a) diese Kritik durch den Hinweis darauf, dass die »Stoffe nämlich, deren Combination man jenes Wunder zuschreibt«, ganz im Gegenteil »das Unstete und Wechselnde im Leibe« und sogar »das Einheitswidrige« seien (S. 69, § 37). In diesem Zusammenhang macht Fichte die Tatsache der Stofferneuerung geltend. Nicht nur tendiere die Materie zur Desorganisation, sondern es gelte auch als »physiologischer Erfahrungssatz«, dass der den Leib bildende Stoff im Laufe des Lebens »sich völlig erneuert« (Fichte, 1876a, S. 69, § 37). Indem die Elemente, deren Kombination die Einheit des Leibes und infolgedessen die Identität des Bewusstseins hervorbringen sollte, in einem späteren Zeitpunkt des Lebens nicht mehr die ursprünglichen seien, sollte man folgerichtig zugestehen müssen, dass die Einheit des Leibes und die Identität des Bewusstseins sich auflösen und ganz andere werden. In diesem Sinne würde sich der Materialismus in die unmögliche Lage versetzen, es behaupten zu müssen, dass die Person im Laufe ihres Lebens nicht mit sich identisch bleibe, sondern dass sie, nachdem sich die materielle und kausale Grundlage der Einheit ihres Leibes und Bewusstseins erneuert hat, eine ganz andere sei – wie aus folgender Stelle hervorgeht: Die Hirnpartikeln, aus deren Einheit unser Bewusstsein resultiren soll, wandeln sich unablässig; die Identität des Bewusstseins könnte daher nur so lange sich behaupten, als jene Elemente dieselben bleiben. Wäre daher die Einheit des Bewusstseins und der Persönlichkeit blos die Folge von der Einheit des Nervensystems, d. h. von der Summe und Vereinigung ihrer Stofftheile: so müsste mit deren vollständiger Erneuerung auch das Bewusstsein und die Persönlichkeit eine völlig andere werden (Fichte, 1876a, S. 95, § 45).

Gegen die atomistische, physikalistische, chemistische und sensualistische Ansicht macht Fichte (1876a) die These geltend, dass sich das Leben nicht auf materielle Elemente und Verhältnisse kausal zurückführen lasse, sondern dass das Leben eigentlich ein »stets aus sich selbst sich erneuernder Process« bzw. »der Kreislauf einer sich selbst voraussetzenden und doch zugleich sich hervorbringenden Einheit« sei (S. 67, § 37). In diesem Sinne müssen die, ungehindert gelassen, zur Desorganisation tendierenden Stoffe erst in einen »organischen Umkreis« eintreten, um den Leib bilden zu können (Fichte, 1876a, S. 69, § 37). Laut Fichte (1876a) sei die Bedingung der Bildung des Leibes eine die Stoffe »zusammenzwingende[], organisirende[], eben 228

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damit nicht stoffliche[] Kraft« (S. 69, § 37). Gerade diese Einheit verleihende Kraft halte die Stoffe von ihrer natürlichen Tendenz zur Desorganisation ab, um sie in den Lebensprozess aufzunehmen. Aus diesem Prinzip werde auch erklärlich, inwiefern sich die Identität des Bewusstseins und der Person durch die Stofferneuerung nicht auflöse. Eben diese Identität macht den »Hauptnerv unserer Widerlegung des Materialismus« aus, indem sie »keineswegs eine abstract gleichförmige in allen Individuen ist, sondern in jedem einen eigenthümlichen und beharrlichen Typus verräth« (Fichte, 1876a, S. 73, § 37, Anm.). Die Tatsache der individuellen Identität erweise sich demnach nicht als »ein Gesammteffect zufälliger, von aussen zusammentretender Wirkungen«, sondern als die Erscheinung eines »beharrliche[n] und eigenthümliche[n] Wesen[s]«, das sich »selbstständig an jenen ihm dargebotenen Elementen« entwickele (Fichte, 1876a, S. 73, § 37, Anm.).

4.1.2.3 Die Unzulänglichkeit des materialistischen Begriffs des Realen

Auch wenn Fichte (1876a) unter dem Aspekt der Tatsache der Selbstverdoppelung des Bewusstseins, der Tatsache der Stofferneuerung und der Missdeutung des Einheitsbegriffs die Ungereimtheit des Materialismus nachweist, verleiht er ihm trotzdem einen »polemischen oder negativen« Wert (S. 56, § 29). Im Vergleich zum dualistischen Spiritualismus, welcher die Seele in ein undenkbares Wesen verwandele (Fichte, 1876a, S. 81, § 40), verweise der Materialismus »auf die innere Einheit der menschlichen Natur« (Fichte, 1876a, S. 56, § 29), hierbei das monistische Prinzip geltend machend, dem zufolge die Bewusstseinsphänomene als Eigenschaften eines realen Substrates betrachtet werden sollten. Indem Fichte als das Resultat seiner Kritik und »die bleibende Wahrheit« des Materialismus die Behauptung betrachtet, dass »die ›Seele‹, d. h. der Complex bewusster Thätigkeit, notwendig eines realen Substrates bedürfe« (Fichte, 1876a, S. 87, § 42), erkennt er das monistische Prinzip an, wobei er grundsätzlich von der materialistischen Deutung des Begriffs des Realen abweicht. Gemäß den metaphysischen Prämissen des Materialismus werden die Materie und die Bewegung als das einzig Reale betrachtet, sodass jedes Phänomen auf solche Erklärungsprinzipien zurückgeführt werden solle (Fichte, 1876a, S. 90, § 43). Dementsprechend werden auch alle Phänomene und Funktionen des Bewusstseins als Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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die Wirkung der »zahllosen Moleculen der Materie und ihre[r] Bewegung« betrachtet (Fichte, 1876a, S. 90, § 43). Dieses Prinzip sei bis zu den höchsten geistigen und moralischen Funktionen des Bewusstseins gültig, wie beispielsweise dem Denken und dem Willen. Das Denken sei »nur die Gewahrung (perception) der Veränderungen, die unser Gehirn von aussen erhält, oder die es sich selbst gibt«, während der Wille »eine Veränderung unsers Hirns« sei, »durch die es zur Thätigkeit nach aussen bestimmt wird« (Fichte, 1876a, S. 92, § 43). Die zwangsläufige Implikation dieser metaphysischen Prämissen sei, dass die Moralität auf »Neigungen und Leidenschaften« zurückgeführt werde, welche letztendlich aus der sich als Temperament ausdrückenden »körperlichen Organisation« hervorgehen (Fichte, 1876a, S. 93, § 44). Aus »Liebe und Hass« bzw. aus »Neigung und Abneigung«, welche »nichts anderes als eine besondere Art von Anziehung und Abstossung« seien, »wie wir sie auch in den Körperwelt finden«, sollte ein ethischer Akt entstehen (Fichte, 1876a, S. 93, § 44). Auf diese Weise gehe aus dem Materialismus eine deterministische und fatalistische Ansicht über den menschlichen Willen und die menschliche Moralität hervor (Fichte, 1876a, S. 93, § 44). Im Gegensatz zum metaphysischen Standpunkt des Materialismus weist Fichte darauf hin, dass, auch wenn die Annahme eines den Eigenschaften zugrunde liegenden realen Substrates richtig sei, der materialistische Begriff des Realen berichtigt und vertieft werden sollte. Aus seiner Kritik am Materialismus ergibt sich demnach für Fichte die Notwendigkeit eines neuen Realismus, dem zufolge das Bewusstsein und das Selbstbewusstsein apriorische Eigenschaften eines realen Wesens seien, das vom materiellen Leib unterschiedlich sei (Fichte, 1876a, S. 96–97, § 45). Nun sei auf diesem idealrealistischen Standpunkt ein unmittelbares Verhältnis von Leib und Seele nur unter der Bedingung möglich, dass die Seele ein reales Verhältnis mit dem Raum habe, hierbei die unzulängliche dualistische Prämisse der Unräumlichkeit der Seele überwindend (Fichte, 1876a, S. 100, § 45). Die Seele sei demnach als ein reales Wesen zu betrachten, welchem ursprünglich die doppelte Eigenschaft zukomme, sowohl räumliche Verhältnisse als auch reflexive Zustände zu besitzen (Fichte, 1876a, S. 89, § 42). Aus dieser idealrealistischen Ansicht über die menschliche Seele sollte demnach erklärlich werden, einerseits wie die Seele aus ihren Uranlagen ihren Leib als die Setzung und Erfüllung des ausgedehnten Raumes hervorbringen und mit ihm im unmittelbaren Verhältnis stehen könne, andererseits wie sie aus denselben Ur230

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anlagen zum Bewusstsein und Selbstbewusstsein sich entwickeln und innere Zustände des Denkens, Fühlens und Wollens besitzen könne.

4.1.3 Kritik am identitätsphilosophischen Monismus Nachdem sich einerseits die Ungereimtheit des materialistischen Erklärungsprinzips, andererseits die Angemessenheit des monistischen Prinzips erwiesen hat, geht Fichtes Kritik von der epiphänomenalistischen in die identitätsphilosophische Konzeption der Einheit von Leib und Seele über. Fichtes Kritik geht sodann hauptsächlich drei Variationen des identitätsphilosophischen Monismus durch, nämlich den realistischen Monismus Spinozas, den idealistischen Monismus Schellings und den logischen Monismus Hegels. Bei dieser Kritik lautet die leitende Frage, ob es auf dem Standpunkt der Identitätsphilosophie eine objektive Psychologie möglich sei. Der Identitätsbegriff bietet sich als eine Alternative, das Verhältnis oder – genauer ausgedrückt – die Wesensgleichheit der scheinbaren Dualismen von Geist und Natur, Denken und Ausdehnung, Idealem und Realem usw. aufzufassen. Es wird demnach eine ursprüngliche Identität des Seienden angenommen, das durch einen Entfaltungsprozess die Vielheit und den Unterschied – sei es als Attribute und Modi der Substanz, Potenzen des Naturgeistes oder Begriffen, Urteilen und Schlüsse des Logos – hervorbringt. Fichtes Kritik dieser Formen des identitätsphilosophischen Monismus zielt darauf ab, die Frage zu beantworten, ob die psychologische Tatsache des individuellen Selbstbewusstseins aus dem metaphysischen Prinzip der Identität befriedigend erklärt werden kann.

4.1.3.1 Spinozas realistischer Monismus

Die Kritik fängt mit Spinozas realistischem Monismus an. Dieser beruhe auf der Annahme einer unterschiedslosen Identität von Denken und Ausdehnung. Indem Denken und Ausdehnung lediglich Attribute einer und derselben Substanz seien, existiere alles Reale sowohl in der Form des Denkens als auch in der Form der Ausdehnung. Im Menschen seien beide Daseinsformen präsent, nämlich als Seele und Körper. Nun betrachtet Spinoza die Seele als die Idee eines in der Wirklichkeit existierenden Einzeldinges, d. h. als den dem Attribut Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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des Denkens entsprechenden Ausdruck des Körpers. In diesem Sinne stehe die Seele unter dem Einfluss des Körpers, sodass alle Teile und Veränderungen des Körpers ihre Entsprechung als Affekte und Ideen in der Seele haben, welche demnach keine Einheit, sondern eine aus vielfachen Ideen zusammengesetzte Idee sei. Sie bestehe »lediglich in einer zusammengesetzten Reihe von Vorstellungen, welche den Theilen und Veränderungen ihres gleichfalls zusammengesetzten Körpers entsprechen« (Fichte, 1876a, S. 105, § 49). Angesichts der Tatsache des Selbstbewusstseins versuche Spinoza jedoch »das einende Bewusstsein« (Fichte, 1876a, S. 107, § 49) der sonst »einheitslose[n] Reihe der Vorstellungen« (Fichte, 1876a, S. 106, § 49) durch den Begriff der idea ideae bzw. der Reflexibilität der Ideen zu erklären. Der Träger der Zusammensetzung der Ideen, welche die Seele ausmacht, sei die unendliche Substanz oder Gott, in dessen Attribut des Denkens eine adäquate Idee der menschlichen Seele geben sollte. Diese Idee der Idee, d. h. die Idee der Seele als zusammengesetzte Idee des zusammengesetzten Körpers, sollte die Einheit des Selbstbewusstseins erklären. Laut Fichte (1876a) sei dies jedoch gemäß dem Prinzip von Spinozas Monismus nicht möglich, denn die »Folgerichtigkeit seiner Grundansicht« nur die Entsprechung der Modifikationen des Körpers im Attribut des Denkens fordere, nicht jedoch die Zusammenfassung solcher Ideen »in ein centralisirendes Bewusstsein« (S. 108, § 50). Auf diese Weise sei die Seele als Einzelseele substanzlos: »Die ›Seele‹, als ein beharrendes Reale, als vorstellendes Individuum, für welche eine solche höhere idea in Gott sein müsste, existirt ja gar nicht nach Spinoza, sondern nur ein Collectivum einzelner Vorstellungen von entsprechenden einzelnen Körperveränderungen« (Fichte, 1876a, S. 108, § 50). Laut Fichte könne Spinozas Monismus die Einzelseele und das individuelle Selbstbewusstsein letztendlich aus zwei Gründen nicht erklären. Erstens sei die Idee der Seele in Gott lediglich »ein Wissen von ihr, nicht ein Sichselbstwissen der Seele in ihr« (Fichte, 1876a, S. 109, § 51). Es handele sich demnach nicht um die »Selbstverdoppelung des in sich Einen Seelenwesens« (Fichte, 1876a, S. 109, § 51), sondern lediglich um eine Spiegelung einer Vorstellungsreihe. Demgegenüber behauptet Fichte, dass die Tatsache des Selbstbewusstseins bzw. des Einzelich »die behauptete Substanzlosigkeit der Einzelseele« widerlege (Fichte, 1876a, S. 110, § 51), denn das Selbstbewusstsein könne nur das Zeichen »eines sich selbst verdoppelnden Realen (Seele)« sein (Fichte, 1876a, S. 109, § 51). Indem der Monismus bzw. 232

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der Pantheismus »die Realität des Individuellen« leugne, leugne er zugleich »die Grundlage dessen, wodurch das Ich allein erklärlich wird« (Fichte, 1876a, S. 110, § 51). Zweitens stehe die Annahme, dass Gott »das eigentliche Subject in allen erscheinenden Subjecten oder Ichen« sei (Fichte, 1876a, S. 110, § 51), mit zwei Tatsachen im Widerspruch. Einerseits gebe sich kein Zeichen der Einheit jenes höchsten Subjekts »im unmittelbaren Bewusstsein des Individuums« kund und andererseits könne die Individuation »bis zum Hass und zur gegenseitigen Vernichtung« steigern, sodass diese »Rückfall in die Egoität« als Beweis der Realität der Individualität gelte, denn sonst müsste man annehmen, dass Gott sich selbst hasst und vernichtet (Fichte, 1876a, S. 110, § 51). Aus dieser Kritik ergibt sich, dass Spinozas realistischer Monismus nicht imstande sei, die Einheit des Selbstbewusstseins zu erklären, sodass eine objektive Psychologie auf dieser Grundlage unmöglich sei.

4.1.3.2 Schellings idealistischer Monismus

Fichtes Kritik wendet sich nun dem idealistischen Monismus Schellings zu. Bei Schelling erhalte der Identitätsbegriff dadurch einen tieferen Sinn, dass er auf dem Prinzip des objektiven Idealismus beruhe (Fichte, 1876a, S. 104, § 48, 111, § 52). Gemäß diesem Prinzip lasse sich der scheinbare Gegensatz von Geist und Natur als ein bloßer Gegensatz der Potenz des absolut mit sich selbst identischen Seienden verstehen. In Wahrheit seien Natur und Geist wesensgleich, obwohl diese Wesensgleichheit idealistisch auf dem Prinzip der Vernunft bzw. der Intelligenz beruhe. Dementsprechend sei die Natur als »erstarrte Intelligenz« bzw. als Geist in der Potenz der Bewusstlosigkeit verstanden. Die Natur stelle somit eine Potenzenreihe des Naturgeistes dar, welcher durch eine solche Stufenfolge auf sein Selbsterkennen »im Indifferenzpunkt des Ganzen«, d. h. »im Menschen«, abziele (Fichte, 1876a, S. 103, § 47, 111–112, § 52). Sofern dieses jedoch das Selbsterkennen eines Allgemeinen ausmacht, stellt sich hier die psychologische Frage, wie sich aus diesem Prinzip das individuelle Selbstbewusstsein erklären lässt. Laut Fichte (1876a) sind Schelling »die eigentlich psychologischen Fragen ganz fern geblieben« (S. 112, § 52), sodass man bei Schelling keine Lösung dieses psychologischen Problems finden könne. Fichte weist jedoch darauf hin, dass man bei Schelling trotzdem Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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den Versuch beobachten kann, das Individuelle aus dem Prinzip der Identität abzuleiten. Hierbei lassen sich Fichte (1876a) zufolge »unerhobene Schätze« für die Psychologie erkennen, welche in der Form von »Ideenkeimen« zu finden seien (S. 113, §§ 52–53). Außer der Annahme der Wesensgleichheit von Natur und Geist hebt Fichte hauptsächlich zwei Ansichten hervor, auf denen er seine eigene Verleiblichungstheorie aufbaut. Es handelt sich nämlich um den Begriff der Selbstbejahung und um die Ansicht über das Verhältnis von Leib und Seele. In Hinsicht auf den ersten Ideenkeim, deutet Fichte auf Schellings Versuch hin, durch den Begriff der Selbstbejahung des Absoluten ein Verständnis über das »wahre Verhältnis des Realen zum Raume und zur Zeit« zu gewinnen (Fichte, 1876a, S. 113, § 52). Bei diesem Versuch, der in den Aphorismen über Naturphilosophie zu finden sei, lasse sich »den hervorragendsten Punkt« beobachten, »bis zu welchem Schelling von den Grundsätzen der Identitätslehre und der Naturphilosophie aus zur Hervorbildung des Individualitätsprincips vorgedrungen ist« (Fichte, 1876a, S. 115, § 53). Durch den Begriff der Selbstbejahung wird versucht, den Übergang von der Unendlichkeit in die Endlichkeit zu erklären, indem er eine »Umgestaltung des Raum- und Zeitbegriffs« darstelle (Fichte, 1876a, S. 115, § 53). Eben aus dieser Umgestaltung des Raum- und Zeitbegriffs habe Schelling das Individuelle zu begründen versucht. »Als besonders bedeutungsvoll müssen wir finden, dass Schelling die Begründung des Individuellen innerhalb der absoluten Einheit des Universums, von der Umgestaltung des Raum- und Zeitbegriffs aus zu gewinnen suchte« (Fichte, 1876a, S. 115, § 53). Worin besteht nun diese Begründung des Individuellen? Fichte weist nämlich darauf hin, dass die Selbstbejahung des Absoluten in einem selbstverursachten Akt der Selbstrealisierung bzw. Selbstbekräftigung des Absoluten bestehe, dessen Folge die Bestimmungen der Dauer und der Ausdehnung sei. Dementsprechend seien Raum und Zeit weder subjektivistisch-rationalistisch als »allgemeine Formen« noch empiristisch als etwas »für sich Bestehendes« zu verstehen, sondern sie seien »lediglich die unmittelbare Folge … des sich selbst in seinem qualitativen Unterschiede behauptenden Realen, die unmittelbare Quantitirung alles Qualitativen« (Fichte, 1876a, S. 115, § 53). Nun sei die so entstandene raumzeitliche Existenz bzw. die Endlichkeit das Scheinbild der Unendlichkeit des Absoluten. Raum und Zeit erweisen sich demnach als für sich unwahre und unwirkliche Be234

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stimmungen des Realen. Wenn man jedoch die Einheit des Bejahenden und Bejahten auffasse, werden beide Bestimmungen negiert und die Unendlichkeit erkannt. Laut Fichte (1876a) erlaubt diese Ansicht, das Rätsel zu lösen, »wie im universalen Princip ein Individuelles sich gestalten könne, ebenso aber auch, warum gerade vom Individuellen aus die Harmonie und die Einheit des All behauptet werden müsse« (S. 115–116, § 53). Bis zu diesem Punkt ist es jedoch nicht eindeutig, inwiefern man aus dem Begriff der Selbstbejahung eine Erklärung der Individualseele begründen kann, sodass man einen zweiten Schritt machen muss. In Hinsicht auf den zweiten Ideenkeim weist Fichte darauf hin, dass Schelling sich den Versuch vorgenommen habe, die Sonderung der Individualseele aus der allgemeinen Substanz im Rahmen seiner Überlegungen zum Verhältnis von Leib und Seele zu erklären. Dabei betrachte Schelling das Verhältnis von Leib und Seele nämlich als das Verhältnis von Endlichkeit und Unendlichkeit, indem der Leib die endliche Seite der Seele und die Seele die ewige Seite des Leibes ausmache. Beide seien demnach die zwei Seiten einer und derselben Wesenheit. Wenn man nun ein Einzelding und dessen Beziehung mit anderen Einzeldingen betrachtet, so finde diese Betrachtung in Abstraktion der an sich mit sich selbst identischen Substanz statt, welche in Wahrheit das unteilbare Wesen aller Dinge sei. Aus dieser abstrakten Betrachtung ergebe sich die Ansicht, dass die »active Verknüpfung und lebendige Einheit der Dinge in einem Einzelnen« die Seele jenes Einzeldinges ausmache (Schelling, 1806, S. 25). Folglich bestehe die Seele in »eine[r] Kraft der Vergegenwärtigung des Vielen in Einem« (Schelling, 1806, S. 25). Indem man nun diese Einzelseele nicht mehr aus abstrakter, sondern aus absoluter Sicht betrachtet, müsse man feststellen, dass sie zugleich »in dem Gemüth der ewigen Natur« enthalten sei (Schelling, 1806, S. 27). Nun stellt sich die Frage, inwiefern die Seele als Individualseele, d. h. als Seele in Relation zu einem Einzelding, betrachtet werden kann. Schellings Antwort lautet, dass die Seele insofern als Individualseele betrachtet werden kann, als sie in unmittelbarer Beziehung zu anderen Dingen stehe und eine unmittelbare Empfindung jener Dinge habe. Fichte (1876a) weist darauf hin, dass Schellings Grund der Sonderung der Individualseele darin bestehe, »dass die Empfindung der andern Dinge in jedem einzelnen nur eine begrenzte sein könne« (S. 116– 117, § 54). Diesen Grund bezeichnet Fichte jedoch als einen bloß äußerlichen und empirischen Grund, sodass Schellings Erklärung unSubstantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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genügend bleibe. Bei dieser Erklärung bleibe nämlich »die principielle Frage« unbeantwortet, ob die Individualseele »ein substanzloses Phänomen« oder »eine dauernde Position« der allgemeinen Substanz ausmache (Fichte, 1876a, S. 117, § 54). Trotzt dieser Unzulänglichkeit der Erklärung Schellings macht für Fichte der Begriff der Selbstbejahung eben den richtigen Ausgangspunkt für die Begründung der Individualseele als dauernde und beständige Position aus. Es seien Schellings »Kühnheit und Sicherheit des Instinctes der Wahrheit« (Fichte, 1876a, S. 116, § 54), welche ihn zum »rechten Anfang« (Fichte, 1876a, S. 117, § 54) dieser Begründung geleitet hätten, sodass er, auch wenn in der Form von »dunklen« und »paradoxen« Andeutungen, die Grundlagen dieser Einsicht vorgelegt habe. Wie lässt sich im Endeffekt aus diesen Rudimenten die Individualität der Seele begründen? Wenn Fichte (1876a) die Tatsache betont, dass die Selbstbejahung einen Akt ausmacht, mittels dessen das Reale sich selbst »in seinem qualitativen Unterschiede« behaupte (S. 115, § 53), so lässt sich denken, dass Fichte hier die Annahme eines unterschiedsvollen Absoluten identifiziert haben musste, denn es seien ursprüngliche qualitative Unterschiede, welche durch den Selbstbejahungsakt in Erscheinung kommen. In diesem Sinne sei die Seele als Individualseele im Absoluten enthalten und ihre Verleiblichung sei die Folge ihres eigenen Selbstbejahungsaktes. 176 Unter diesem Gesichtspunkt könne es demnach verständlich werden, wie das Zeit- und Raumverhältnis der Seele eben das sie Verleiblichende sei, wie sie zugleich aber in ihren Lebens- oder Verleiblichungsacten die trennenden Raum- und Zeitunterschiede aufhebe und überwinde, wie die Seele daher ein an sich Ewiges und Urbeharrliches sei, welches, weit entfernt, in Zeit und Raum aufzugehen oder von ihnen gleichsam aufgezehrt zu werden, durch die eigene Verleiblichung vielmehr beide auf eigenthümliche Weise zur Erscheinung bringt (Fichte, 1876a, S. 118, § 54).

Bei Schellings idealistischem Monismus könne man in diesem Sinne eine »erfrischende Anregung« für die weitere Entwicklung der Psychologie beobachten (Fichte, 1876a, S. 119, § 55), welche nicht nur für Fichtes eigene Untersuchungen wichtig ist, sondern auch auf einige seiner Schüler eingewirkt habe, unter denen sich Henrik Steffens und

Hier wird das neuplatonische Motiv spürbar, das Fichte bei seiner eigenen Verleiblichungstheorie sowie bei Schelling erkennt (vgl. Fn. 83 und 84).

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Ignaz Paul Vital Troxler befinden, welche auch eine Begründung des Individuellen vorgelegt hätten. 177

4.1.3.3 Hegels logischer Monismus

Schließlich kommt bei Fichtes Kritik Hegels logischer Monismus in Betracht. Dabei erhält der Identitätsbegriff eine letzte Variation, indem die Einheit von Sein und Denken von einem logischen Urgrund gesichert sei. Der Urgrund aller Dinge sei der göttliche Logos. Durch einen Akt der Entäußerung trete der Logos aus sich heraus und bringe die Natur als sein Anderssein hervor. Dies mache den Anfang der dialektischen Entwicklung des Logos bzw. des Geistes aus, welcher durch unterschiedliche Gestaltungen und Übergänge durchgehe, um letztendlich zu sich selbst in seiner ursprünglichen Idealität zurückzukommen. Hegels Philosophie des Geistes beruht auf diesem Grundgedanken und zielt darauf ab, die Entwicklung des Geistes in allen ihren logischen Momenten darzustellen. Bekanntlich sind ihre systematischen Hauptmomente nämlich der subjektive, der objektive und der absolute Geist. Um die Erklärung zu rekonstruieren, welche dieser Standpunkt für die Frage nach dem individuellen Selbstbewusstsein zu bieten hat, zieht Fichte Hegels Lehre vom subjektiven Geist in Betracht. Hierbei weist Fichte (1876a) darauf hin, dass Hegels Ansicht bereits durch stillschweigende Voraussetzungen fertig und bestimmt sei, »noch ehe er zu einer unbefangenen Betrachtung des menschlichen Geistes an sich selbst gelangt« (S. 125, § 57). Angesichts der systematischen Stellung der Lehre vom subjektiven Geist stellt Fichte (1876a) fest, dass Hegel »mit dem schon fertigen metaphysischen Resultate von der Nichtsubstantialität alles Endlichen, mithin auch der Einzelseele, zu den psychologischen Untersuchungen herantritt« (S. 127, § 57). Auf der Voraussetzung beruhend, dass der Geist »ein allgemeines individualitätsloses Wesen« sei, mithin dass der individuelle Geist lediglich ein Moment der Entwicklung des allgemeinen Geistes ausmache, laute Hegels Frage, wie der »Schein eines Individuellen« zu verstehen sei (Fichte, 1876a, S. 127, § 57). In diesem Sinne sei die

Wie es schon weiter oben angedeutet wurde, entwickelt Fichte seine Theorie des Genius im Anschluss an Steffens, den er selbst als eine Folie seiner Theorie betrachtet.

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ganze Untersuchung »auf den Kopf gestellt« (Fichte, 1876a, S. 127, § 57). 178 Demgegenüber seien der Geist und die Seele laut Fichte (1876a) in der Form des Individuellen gegeben und »nur so Gegenstand der Erforschung« (S. 128, § 57). Die Untersuchung hätte demnach mit der Frage anfangen sollen, »was an den individuellen Geistern die Züge der Gemeinsamkeit und innern Uebereinstimmung sind, welche auf eine verborgene Einheit deuten« (Fichte, 1876a, S. 128, § 57). In diesem Sinne würde ein »Begriff einer innern Geistereinheit entstehen«, welcher nicht die Aufhebung der Individualitäten impliziere (Fichte, 1876a, S. 128, § 57). Trotz dieser Anfangsschwierigkeit fährt Fichte mit seiner Betrachtung der Ansicht Hegels über den subjektiven Geist fort. Auf dieser Stufe seiner Entwicklung, nämlich auf der Stufe des subjektiven Geistes, gehe der allgemeine Geist durch die Gestaltungen der Seele, des Bewusstseins und des Geistes hindurch, welche respektive Gegenstände der Anthropologie, der Phänomenologie und der Psychologie seien. Es ist jedoch nicht an diesem Punkt von primärer Bedeutung, auf die Einzelheiten von Hegels Darstellung einzugehen, sondern es gilt lediglich Fichtes Würdigung dieser Ansicht hervorzuheben. Fichte geht der Frage nach, was gemäß dieser Lehre der Grund des Individuellen sei. Nach seiner Betrachtung von Hegels Darstellung der Entwicklung des subjektiven Geistes von seiner Natürlichkeit bis zu seiner Idealität weist Fichte auf hauptsächlich drei Ergebnisse hin, die Hegels Antwort auf die Frage nach der Individualität zusammenfassen. Erstens sei »das individualisierende Moment am Geiste … lediglich seine Verflechtung mit der Natürlichkeit, welcher er sich einbildet und sie dadurch zu seinem Leibe erhebt« (Fichte, 1876a, S. 134, § 59). In diesem Sinne sei die Erscheinung der Individualität in Wahrheit nur ein Schein, was bedeutet, dass sich alle Individualitäten Zu diesem »Grundmangel« der Psychologie Hegels vgl. auch Fichte (1844a, S. 93– 95): »Aber noch ein tiefer greifender Grundmangel seiner Psychologie ist nachzuweisen. Hegel hat nur die metaphysische Kategorie des Geistes gefunden; und so sehr wir ihm dies so eben zum Verdienste angerechnet haben, so wird daraus doch zugleich erst das durchgreifende Versäumniß seiner Psychologie verständlich, welches freilich bisher weder von seinen Commentatoren, noch von den Gegnern, in seiner Eigentlichkeit erkannt worden ist, – daß er, auch in ihr mit der bloß metaphysischen Auffassung sich begnügend, nicht bis zum Begriffe des realen Geistes hindurchdrang, ja daß er diese Frage ganz unberührt stehen ließ, als ob dies Problem nicht ein anderes und besonders zu behandelndes sei!« (Fichte, 1844a, S. 93).

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durch die Aufhebung dieses Scheins als die mit sich selbst identische allgemeine Vernunft erweisen würden. Zweitens sei die Ichvorstellung eigentlich das Merkmal derselben sich an jedem individuellen Bewusstsein durchsetzenden allgemeinen Vernunft. Sie sei demnach kein Zeugnis eines individuellen Wesens, auf welches sie sich bezieht, sondern »das erste Zeichen und der Ausdruck dieser im endlichen Subjecte waltenden Allgemeinheit« (Fichte, 1876a, S. 140, § 62). Die Ichvorstellung sei allen Individuen gemeinsam, sodass diese Identität der Ichvorstellungen für Hegel »das Zeugniss und der Beweis von der Unwahrheit der Individualität, von der einzig wahrhaften Existenz des allgemeinen Geistes« sei (Fichte, 1876a, S. 135, § 59). Drittens – und letztlich – sei der endliche Geist insofern als ein Widerspruch zu betrachten, als er die endliche Erscheinung eines an sich unendlichen Geistes darstelle. In diesem Sinne sei seine Endlichkeit und Individualität ein unwahres Moment des sich entwickelnden allgemeinen Geistes. Diese Entwicklung fährt mit den Gestaltungen des objektiven und absoluten Geistes fort und erst in dieser letzten Gestaltung werde der Widerspruch des endlichen Geistes und die Unwahrheit seiner Individualität aufgehoben, indem die Identität mit dem Logos erkannt werde (Fichte, 1876a, S. 138–139, § 61). Was man somit dem logischen Monismus als Erklärung des individuellen Selbstbewusstseins entnehmen kann, formuliert Fichte (1876a) folgendermaßen: Du meinst du Selber zu sein und aus dem Mittelpunkte deines Selbst zu leben; dennoch existirst du in Wahrheit gar nicht, vielmehr lebt statt deiner in dir ein allgemeines Wesen, ein dir selbst unbekannter »Geist«, welcher in deine Scheinindividualität, wie in eine Maske hineintönt und das Phänomen einer Sonderexistenz dir selbst und andern nur vorspiegelt (S. 128, § 57).

Fichte (1876a) stellt allerdings klar, dass Hegel richtig »die Mitgegenwart eines geistig Allgemeinen, eines κοινός λόγος (der ›Vernunft‹) im Einzelgeiste und seinem Bewusstsein« erkannt habe, jedoch weist er gleichzeitig darauf hin, dass diese Erkenntnis »nicht zu der Unbehutsamkeit fortreissen [dürfe], diesen ganz in jenem verschwinden zu lassen, weil dies dem Ausdrucke der Thatsache schlechthin widersprechen würde« (S. 136, § 60). In diesem Zusammenhang weist Fichte auf die Tatsache des individuellen Selbstbewusstseins hin, welche im direkten Widerspruch mit jener Negation des Einzelgeistes und Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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mit der vermeintlichen Ersetzung des Einzelgeistes durch die Allgemeinheit stehe. In diesem Sinne erweise sich Hegels Ansicht über den Widerspruch des endlichen Geistes und die Unwahrheit der Individualität letztendlich als eine »unpsychologische Fiction« und als eine »metaphysische Grille« (Fichte, 1876a, S. 141, § 62). Fichte (1876a) weist nämlich darauf hin, dass die Entwicklung des subjektiven Geistes aus diesen panlogistischen Prämissen folgerichtig zur Aufhebung »der Gewissheit seiner Persönlichkeit« und des »Glauben[s] an ihre Realität« führen sollte, damit »die Allgemeinheit des Geistes« anstelle des subjektiven Geistes treten könne, jedoch zeige »die wirkliche Erfahrung« genau das Gegenteil (S. 142, § 63). Statt einer Ersetzung durch den allgemeinen Geist werde der subjektive Geist in den »höchsten Gestalten des Genius« in seiner Selbstgewissheit bekräftigt. Gerade in solchen Gestalten bzw. Manifestation des Genius, wie beispielsweise der »Begeisterung des künstlerischen, wissenschaftlichen, religiösen Schauens und Vollbringens«, bestätige sich »die Wahrheit, Ewigkeit und innere Unerschöpflichkeit des individuellen Geisteswesens« (Fichte, 1876a, S. 143, § 63).

4.1.3.4 Die Unzulänglichkeit des pantheistischen Identitätsprinzips

Beim Abschluss seiner Kritik am identitätsphilosophischen Monismus stellt Fichte (1876a) als negatives Resultat fest, dass das pantheistische Identitätsprinzip insofern unzulänglich für die Begründung »eine[r] dem Gegebenen entsprechende[n] Psychologie« sei, als jenem Prinzip der »Tatsache des menschlichen Selbstbewusstseins« nicht gerecht werden könne (S. 146–147, § 65). Stattdessen werde der »Ausdruck der psychologischen Thatsachen« verfälscht (Fichte, 1876a, S. 143, § 63) und hierbei das Individualitätsprinzip verleugnet (Fichte, 1876a, S. 146, § 65). Gegen den Standpunkt des identitätsphilosophischen Monismus behauptet Fichte (1876a) als positives Resultat seiner Kritik, dass die Ichvorstellung trotz ihrer Gemeinsamkeit nicht als der »Ausdruck eines Allgemeinen« zu bezeichnen sei, wodurch man die erwähnte Verfälschung begehen würde, sondern ganz im Gegenteil als »Merkmal und Erweis eines individualen, persönlichen Geistes« (S. 147, § 65). Die Tatsache des Selbstbewusstseins sei demnach der Beleg dafür, dass den Eigenschaften des Bewusstseins und Selbstbewusstseins ein reales, individuelles Wesen zugrunde liege. 240

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4.1.4 Kritik am realistischen Individualismus Angesichts der erwiesenen Unfähigkeit des identitätsphilosophischen Monismus, aus »abstracten Principien« die Tatsache des Selbstbewusstseins und das Verhältnis zwischen dem subjektiven und dem absoluten Geist befriedigend zu erklären (Fichte, 1876a, S. 147, § 65), stellt sich die Frage, wie die behauptete Individualität des menschlichen Geistes überhaupt verstanden werden kann. Als erste Antwort auf diese Frage befindet sich der psychologische Standpunkt, welchen Fichte als realistischen Individualismus bezeichnet und dessen Hauptvertreter nämlich Johann Friedrich Herbart sei. Aus diesem Grund schließt Fichte seine Kritik der psychologischen Haupttheorien mit einer Würdigung der Ansicht Herbarts über die Individualität der menschlichen Seele ab.179

4.1.4.1 Das Ich als Vorstellung eines realen Wesens

In einem Kontext, in welchem der Begriff des Ich im Zentrum der philosophischen Diskussion um das Problem des Selbstbewusstseins stehe und als Konsequenz der spiritualistischen Identifizierung von Seele und Bewusstsein den substantiellen Seelenbegriff ersetze, um sodann hypostasiert zu werden, gehe Herbart von einer Kritik an dem Begriff des reinen Ich aus, um dadurch aufzuzeigen, einerseits dass dieser Begriff einen Widerspruch darstelle, andererseits dass das unberechtigterweise hypostasierte Ich lediglich die Vorstellung ausmache, durch welche sich ein ihr zugrunde liegendes reales Wesen auf sich selbst beziehe. Herbarts Kritik richte sich hauptsächlich auf Johann Gottlieb Fichtes Begriff des reinen Ich, dem zufolge das Ich als die »Identität des Subjectiven und Objectiven« gelte (Fichte, 1876a, S. 149, § 66). Diese Definition stelle für Herbart insofern einen Widerspruch dar, als sie etwas zu bezeichnen vorgebe, während sie eigentlich nichts bezeichne. Der Widerspruch bestehe nämlich darin, dass sowohl das Subjekt als auch das Objekt, welche in ihrer Identität das Selbst ausVgl. die von Fichte berücksichtigten Werke Herbarts (1824, 1825, 1828, 1829, 1839, 1840, 1841, 1850). Zu Fichtes Würdigung der Philosophie und der Psychologie Herbarts vgl. Fichte (1832a, S. 234–293, §§ 67–85) sowie Fichte (1844b, 1845, 1855b, 1856b).

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machen sollen, sich letztendlich als »leere Bilder« erweisen (Fichte, 1876a, S. 149, § 66). Dieser Bezug auf die Inhaltslosigkeit der Vorstellungen des Subjekts und des Objekts wird dadurch verständlich, dass man sich die Implikationen des subjektiven Idealismus vergegenwärtigt. Gemäß den Prinzipien des subjektiven Idealismus – wie weiter oben schon ausführlich dargestellt – sei die Vorstellung einer dem Bewusstsein äußerlichen Objektivität bloß ein subjektives Produkt des in sich geschlossenen Bewusstseins. Infolge dieses Prinzips wird die Objektivität aufgehoben, sodass der Inhalt des Bewusstseins nichts mehr als leere Vorstellungen ohne objektive Entsprechung sei. In diesem Sinne sei die Setzung des Gegensatzes von Subjektivität und Objektivität die immanente Leistung des Bewusstseins. Wenn nun die Frage gestellt wird, was genau die objektive Entsprechung des reinen Ich sei, müsse man feststellen, dass die Glieder dieser Identität, nämlich Subjekt und Objekt, als subjektive Produkte des Bewusstseins keine objektive Entsprechung haben. Folglich bestehe das Ich in der Identität einer leeren Vorstellung mit einer anderen leeren Vorstellung. Gemäß der Aufhebung der Objektivität gebe es demnach kein objektives Selbst, dem die Vorstellung des Subjekts entspricht, sodass der Begriff des Ich, welcher das objektive Substrat des Bewusstseins bezeichnen sollte, noch ein weiteres immanentes Produkt des in sich geschlossenen Bewusstseins sei. Indem ferner dieser Begriff des Ich aus einem reflexiven Akt hervorgehe, bei welchem sich das Subjekt zu seinem Objekt macht, um eine Selbstvorstellung zu bilden, laufe die Definition des Ich darauf hinaus, dass das Ich in einem Akt der Selbstobjektivierung bestehe, welcher sich dennoch einerseits als »eine Abspiegelung in unendlicher Reihe der Reflexibilität« und andererseits als die Objektivierung des Nichts erweise (Fichte, 1876a, S. 149, § 66). Der Begriff des Ich sei demnach insofern einen Widerspruch, als das Ich »ein Subject-Objectiviren ins Unendliche« sei, »wobei jedes, Subject wie Object, auf die Frage: was es denn sei? verstummen muss« (Fichte, 1876a, S. 149, § 66). Folglich bestehe das Ich in einem Akt des unendlichen und leeren Selbstvorstellens. Im Gegensatz zum dargestellten Begriff des Ich mache Herbart die These geltend, dass dem Begriff des Ich, welchen »wir in jedem Augenblicke aussprechen, wenn wir uns bezeichnen«, nämlich »ein individuelles Reale« zugrunde liege (Fichte, 1876a, S. 150, § 66). Dieses reale und individuelle Substrat des Begriffs des Ich bezeichne Herbart als »die Einzelseele, die in ihren wechselnden Veränderungen als 242

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dieselbe beharrt und bei dem Wechsel ihrer Vorstellungsreihen dieses Beharrens allmählich immer entschiedener inne wird« (Fichte, 1876a, S. 150, § 66). Der in der Definition des Ich als Identität von Subjekt und Objekt enthaltene Widerspruch solle demnach durch den Beweis dieser These gelöst werden, welchen Herbart in der Form einer »psychologisch-pragmatischen Beschreibung des allmählichen Hervortretens der Ichvorstellung im wirklichen Leben« durchführe (Fichte, 1876a, S. 153, § 68).

4.1.4.2 Der Bildungsprozess der Ichvorstellung

Im wirklichen Leben bilde sich die Ichvorstellung allmählich vom »dumpfe[n] Gefühl der eigenen Einheit« (Fichte, 1876a, S. 151, § 67) bis zum »bewusste[n] Zustand, in dem die Seele sich als Ich prädicirt« und hierbei alle ihre Zustände »als die ihrigen zusammen[fasst]« (Fichte, 1876a, S. 150, § 67). Dementsprechend werde sich »das reale Seelenwesen« seiner substantiellen Ichheit allmählich bewusst, bis »die erste dunkle Vorstellung … von seinem Gleichbleiben während des Wechsels seiner Vorstellungen« zur eigentlichen Ichvorstellung werde (Fichte, 1876a, S. 151, § 67), durch welche es sich als das individuelle Subjekt und den Mittelpunkt jener Vorstellungen bezeichnet. In diesem Sinne erweise sich das Ich »als Resultat einer Complexion von Vorstellungen, in denen stets das Selbst mitgedacht werden muss« (Fichte, 1876a, S. 152, § 67). Auch wenn die zufälligen Vorstellungen dieses Komplexes wechseln können, ergebe sich das Selbst als das sich über alle Vorstellungen erstreckende Substrat des Bewusstseins. Folglich dürfe die Ichvorstellung nicht in ihrer Einzelheit gefasst werden, als komme ihr das ganze Sein des bewussten Wesens zu. Gerade aus einer solchen Schlussfolgerung ergebe sich der Begriff des reinen Ich, welcher im Endeffekt bloß »eine wissenschaftliche Abstraction« sei (Fichte, 1876a, S. 152, § 67). Durch den Verlust der wirklichen »Stützen« der Ichvorstellung werde demnach ein Abstraktum hypostasiert und der substantielle Seelenbegriff durch den formellen Ichbegriff ersetzt (Fichte, 1876a, S. 152, § 67). Mit seiner psychologischen Beschreibung der psychologischen Bildung der Ichvorstellung versuche Herbart diese Ansicht zu berichtigen. Angesichts dieser Sachlage stellt sich nun die nähere Frage, wie genau das Seelenwesen von seinem vorstellungslosen Zustand zu einem Zustand reich an Vorstellungen gelangt, unter denen nicht Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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nur Vorstellungen von Objekten, sondern auch die Vorstellung des eigenen Selbst sich befinden. Bezüglich dieser Frage weist Fichte darauf hin, dass Herbart von dem Prinzip der Einfachheit der Seele ausgehe. Gemäß diesem Prinzip sei die Seele »ein schlechthin einfaches Wesen«, welches folglich an sich keine »Vielheit qualitativer Bestimmungen« und keine »Prädicate, welche sich auf Raum und Zeit beziehen«, besitze (Fichte, 1876a, S. 158, § 70). Ursprünglich sei sie demnach ein raum- und zeitloses Wesen, welchem überhaupt keine Qualität und kein Vermögen zukomme. Aus diesem Begriff der Einfachheit folge es ferner, dass die Seele kein Vorstellungsvermögen besitze, sodass das Vorstellen »nicht aus ihrem Wesen hervor[gehe]«, sondern bloß an ihr vorgehe (Fichte, 1876a, S. 160, § 70). Nun bestehe der Versuch Herbarts darin, den komplexen Zustand des Selbstbewusstseins aus dem einfachen Wesen der Seele entstehen zu lassen. Zu diesem Zweck ziehe Herbart die Prozesse in Betracht, welche im Verhältnis zwischen den realen Wesen stattfinden. Da die Seele in ihrer Einfachheit kein Vorstellungsvermögen besitze, sollen unter diesem Gesichtspunkt die Vorstellungen nicht aus ihrer Spontaneität und Selbsttätigkeit, sondern aus ihrer Wechselwirkung mit anderen einfachen Wesen entstehen. In diesem intermediären Bereich finden nämlich »Störung« und »Selbsterhaltung« statt (Fichte, 1876a, S. 159, § 70). Auf die Störung, welche ein auf ein anderes Wesen ausübe, reagiere das gestörte Wesen derart, dass es gegen sie »seine einfache unzerstörbare Qualität« geltend mache, um sich unverändert zu erhalten (Fichte, 1876a, S. 159, § 70). Gerade aus einer solchen Selbsterhaltung, durch welche die Störung aufgehoben werde, gehen die Empfindungen und die Vorstellungen hervor. Indem die Seele demnach als ein leidendes Wesen betrachtet werde, welchem durch die »Verwickelung mit einem anderen Realen« unzählbare Selbsterhaltungen und hierbei Empfindungen und Vorstellungen wiederfahren, seien die Empfindungen und Vorstellungen nämlich als unwillkürliche Geschehnisse der Seele zu bezeichnen (Fichte, 1876a, S. 160, § 70). Nachdem sich die Vorstellungen bilden, bestehen sie in der Seele als aufeinander wirkende »Kräfte« fort (Fichte, 1876a, S. 161, § 71). Die Wechselwirkung zwischen den Vorstellungen in der Seele geschehe nämlich in der Form von »Verbindungen, Hemmungen, Verdunkelungen« (Fichte, 1876a, S. 161, § 71). Indem die Vorstellungen gehemmt, verdunkelt und hierbei »in den Zustand der Nichtvorstellung versetzt« werden können, finde die 244

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entsprechende Gegenwirkung seitens der gefährdeten Vorstellung statt, um eben im klaren Zustand der Vorstellung zu bleiben (Fichte, 1876a, S. 161, § 71). Als Kraft strebe somit jede Vorstellung nach ihrer Selbsterhaltung. 180 Nun stellt sich die Frage, wie aus diesem energetisch-dynamischen Komplex von aufeinander wirkenden Vorstellungen die Selbstvorstellung entsteht. Herbarts Antwort auf diese Frage laute, dass dieser Vorgang durch »Zusammenfassung« stattfinde (Fichte, 1876a, S. 162, § 71). Bevor die Seele jedoch zu ihrer zusammenfassenden Ichvorstellung gelange, müsse sich zunächst der Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt bilden. Dieser Gegensatz bilde sich nämlich dadurch, einerseits dass sich die Vorstellungen am »Mittelpunkt« der Seele sammeln, andererseits dass die Empfindungen zu dieser Sammlung von Vorstellungen hinzukommen (Fichte, 1876a, S. 163–164, § 71). Auf diese Weise erweise sich das Seelenwesen, zu welchem die Empfindungen und die Vorstellungen gravitieren, als die »Unterlage« des Bewusstseins, aus welcher das Subjekt hervorgehe (Fichte, 1876a, S. 164, § 71). Indem nun die Seele alle Vorstellungen in einer höheren Vorstellung zusammenfasse und ihre Einheit als Subjekt auffasse, sich von der ihr gegenüberstehenden wechselnden Objektivität sondernd, gelange sie zur Ichvorstellung, welcher demnach das reale Seelenwesen als das Substrat und der Mittelpunkt aller Bewusstseinszustände zugrunde liege (Fichte, 1876a, S. 165, § 71).

4.1.4.3 Die Unzulänglichkeit des Einfachheitsbegriffs

Der vorhergehenden Schilderung der Ansicht Herbarts entnimmt Fichte als positives Resultat das Prinzip der Individualität der menschlichen Seele. Dieses Prinzip werde einerseits dem Begriff des reinen Ich und andererseits dem Begriff des allgemeinen Geistes entgegengesetzt. Gegen den Begriff des reinen Ich behaupte Herbart, dass das Ich »nichts Reales, sondern lediglich Vorstellung eines Realen, des Seelenwesens« sei, während er gegen den Begriff des allgemeinen Geistes behaupte, dass die Ichvorstellung »nirgends als Vorstellung eines Allgemeinen, sondern lediglich als eines IndiviEs handelt sich demnach um eine energetisch-dynamische Ansicht über die seelischen Prozesse, welche später in der Geschichte der Psychologie an Boden gewinnen wird.

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duellen gegeben« werde (Fichte, 1876a, S. 154, § 68). Folglich sei die Ichvorstellung »Zeichen und Erweis seelischer Individualität« (Fichte, 1876a, S. 154, § 68). Das Prinzip des realistischen Individualismus erkennt Fichte zwar an, jedoch weicht er von der Deutung des diesem Prinzip zugrunde liegenden Begriffs des Realen ab. Im Besonderen weist Fichte (1876a) darauf hin, dass die wesentliche Unzulänglichkeit dieses Begriffs des Realen darin bestehe, dass er auf den Begriff der abstrakten Einfachheit beschränkt bleibe (S. 175, § 75). Aus diesem beschränkten Begriff des Realen gehe sodann hervor, dass der Seele, insofern sie als ein reales Wesen betrachtet wird, die Bestimmungen der Unveränderlichkeit und der Einfachheit zukommen sollten (Fichte, 1876a, S. 173, § 75). Dieser Seelenbegriff sei nämlich die Prämisse der Psychologie Herbarts. Die Kritik Fichtes richtet sich sodann einerseits auf den zu diesem Seelenbegriff führenden Fehlschluss und andererseits auf die aus diesem Seelenbegriff hervorgehenden problematischen Implikationen. In Hinsicht auf den zu diesem Seelenbegriff führenden Fehlschluss deutet Fichte (1876a) an, dass Herbart eine Verwechslung bzw. eine Missdeutung der Tatsachen begehe (S. 165, § 72). Aus der Tatsache, dass das Bewusstsein einen Entwicklungsprozess durchlaufe und die Ichvorstellung erst am Ende der Entwicklung der Seele auftauche, folgere Herbart zwar richtig, dass sich die Seele von einem einfachen zu einem komplexen Zustand entwickele, jedoch deute er diese Tatsache derart, dass er den einfachen Zustand der Seele am Anfang ihrer Entwicklung für einen Beleg der Einfachheit ihres Wesens halte, sodass der komplexe Zustand des Selbstbewusstseins nicht als Entfaltung ihres Wesens, sondern aus anderen Faktoren erklärt werden sollte (Fichte, 1876a, S. 165–166, § 72). Indem die Seele demnach am Anfang ihrer Entwicklung keine fertige Ichvorstellung besitze, müsse sie ursprünglich und wesentlich ein einfaches Wesen sein, während die Ichvorstellung nur das Produkt von bestimmten wirklichen Verhältnissen sein müsse. Bei diesem Schluss werde laut Fichte (1876a) die Frage übersprungen, woran es genau liegt, dass sich die menschliche Seele im Unterschied zu anderen einfachen Wesen eben zum Selbstbewusstsein entwickeln könne (S. 166, § 72). Die Möglichkeit einer solchen unterscheidenden Eigenschaft liegt für Fichte (1876a) im Gegensatz zu Herbart ursprünglich im Wesen der Seele – was noch weiter unten zu begründen gilt (S. 166, § 72). Indem Herbart an der Prämisse der Einfachheit der Seele fest246

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halte, müsse er die Entstehung des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins nämlich durch dynamische Prinzipien – wie beispielsweise durch die Begriffe der Störung und der Selbsterhaltung – erklären. In Hinsicht auf diesen Erklärungsversuch identifiziert Fichte hauptsächlich drei Probleme. Erstens behauptet Fichte (1876a), dass sich solche Erklärungsprinzipien als unzulänglich für die Erklärung des »Specifische[n]« sowohl der menschlichen Seele als auch des »Vorstellungszustandes« erweisen (S. 169–171, § 74). Mit anderen Worten: Die dynamische Wechselwirkung zwischen einfachen Wesen durch Störungen und Selbsterhaltungen erkläre, weder woran der Unterschied zwischen mechanischen, chemischen und seelischen Selbsterhaltungen liegt noch warum nur einige und nicht andere seelische Selbsterhaltungen zu Vorstellungen werden (Fichte, 1876a, S. 169–170, § 74). Zweitens erweisen sich jene Erklärungsprinzipien laut Fichte (1876a) genauso unzulänglich für die Erklärung der »qualitative[n] Verschiedenheit der Vorstellungen« (S. 172, § 75). Da es aus dem Prinzip der Einfachheit folge, dass das einfache Seelenwesen nicht »modifici[ert], entwickel[t] oder erweiter[t]« werden könne, mache das Seelenwesen durch alle seine Selbsterhaltungen immer wieder dieselbe gleichbleibende Qualität geltend, sodass die Vorstellungen, welche aus diesen »immer wiederholte[n] gleichartige[n] Selbsterhaltungen« entstehen, folgerichtig qualitativ gleich wären (Fichte, 1876a, S. 172, § 75). Folglich bleibe es »eine widersprechende Behauptung, dass ein qualitativ einfaches Seelenwesen wirklich verschiedenartige Vorstellungen aus sich erzeugen oder auch nur in sich hegen könne« (Fichte, 1876a, S. 175, § 75). Letztlich weist Fichte darauf hin, dass Herbarts Versuch, die Entwicklung eines an sich einfachen Wesens zum Bewusstsein und Selbstbewusstsein mittels dynamischer Prinzipien zu erklären, insofern unzulänglich und ohnmächtig bleibe, als es prinzipiell unmöglich sei, dass ein einfaches Wesen zu einem »ihm heterogen[en]« Zustand, nämlich »zur innern Duplicität des Bewusstseins«, gelangen könne (Fichte, 1876a, S. 166– 167, § 72). Trotz des Rekurses auf »Allmählichkeit« (Fichte, 1876a, S. 166–167, § 72) und auf »Vervielfältigung des Geschehens« (Fichte, 1876a, S. 169, § 73) bleibe die Seele ein unveränderliches und einfaches Wesen. Nun sei dieser Seelenbegriff nicht anders als der spiritualistische Seelenbegriff, dem zufolge die Seele ein einfaches, immaterielles, raumloses und zeitloses Wesen sei, sodass Herbart in Hinsicht auf die Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele zur spiritualistiSubstantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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schen Annahme eines »abstracten Neben- und Aussereinander[s] von Seele und Leib« und hierbei zu spiritualistischen Erklärungsmustern zurückkehre (Fichte, 1876a, S. 182–183, § 79). Angesichts der Unzulänglichkeit des Einfachheitsbegriffs schlägt Fichte eine Steigerung des Begriffs des Realen vor. Zu diesem Zweck gelte es nämlich, einerseits den Begriff der Unveränderlichkeit zum Begriff »der Beharrlichkeit im Wechsel« und andererseits den Begriff der Einfachheit zum Begriff »der Einheit und des Sichgleichbleibens (der ›Identität‹) in der Mannichfaltigkeit« zu erweitern (Fichte, 1876a, S. 173–174, § 75). Gemäß dieser Erweiterung enthalte die Seele in ihrer Einheit eine Mannigfaltigkeit von unentwickelten Anlagen. Nur durch einen solchen Seelenbegriff wird für Fichte die Sachlage erklärlich, dass die Seele mit sich identisch bleiben könne, während sich zugleich verschiedene Eigenschaften aus ihrem Wesen entfalten und sie ferner verschiedene und wechselnde Zustände haben könne. »Wenn die Seele auch in ihrem Anfange und Ausgangspunkte, einem organischen Keime vergleichbar, als einfaches, gleichartiges Wesen erscheint, so zeigt gerade die aus ihr selbst stammende, nur von aussen geweckte Entfaltung die Mannichfaltigkeit ihrer innern Anlagen« (Fichte, 1876a, S. 175–176, § 75).

4.1.5 Allgemeiner Seelenbegriff als heuristisches Prinzip Im Lauf seiner doxographischen und kritischen Darstellung der psychologischen Haupttheorien zeigt Fichte sowohl die Legitimität als auch die Unzulänglichkeiten jedes Standpunktes auf. Auf diese Weise bringt seine Charakterisierung dieser Theorien die Hauptprobleme der Seelenfrage zutage, während er zugleich bei der Anerkennung der legitimen und bei der Berichtigung der unzulänglichen Behauptungen, welche jeder Standpunkt in seiner Einseitigkeit geltend macht, die Bedingungen einer plausibleren und befriedigenderen Antwort auf jene Frage nahelegt. Seine historisch-kritische Würdigung der psychologischen Haupttheorien erreicht sodann ihren Endpunkt mit einem allgemeinen Seelenbegriff, welcher als ein vorläufiges und heuristisches Prinzip für seine anthropologischen Untersuchungen gilt. Im Besonderen zeigt Fichtes Kritik die Unzulänglichkeit (1) des substanzdualistischen Axioms, dem zufolge Leib und Seele gegensätzliche Substanzen seien; (2) des materialistischen Begriffs des Rea248

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Doxographie und Kritik der Haupttheorien der Psychologie

len, dem zufolge Materie und Bewegung die Grundbestimmungen bzw. Grundbestandteile alles Realen seien; (3) des pantheistischen Identitätsprinzips, dem zufolge die individuelle Erscheinung des menschlichen Seelenwesens bloß der Schein eines hinter ihm liegenden allgemeinen Geistes sei; und (4) des realistischen Einfachheitsbegriffs, dem zufolge die menschliche Seele ein unveränderliches und einfaches Wesen sei. Nun ergibt sich aus Fichtes Berichtigung dieser Unzulänglichkeiten die Notwendigkeit (1) des monistischen Prinzips, dem zufolge Leib und Seele eine Einheit bilden; (2) des idealrealistischen Prinzips, dem zufolge dem Seelenwesen die Möglichkeit zukomme, sowohl Raum- und Zeitverhältnisse als auch Bewusstseinszustände zu haben; (3) des Individualitätsprinzips, dem zufolge das menschliche Seelenwesen eine individuelle Substanz sei; und (4) des genetischen Prinzips, dem zufolge das menschliche Seelenwesen eine entwicklungsfähige monadische Einheit einer Mannigfaltigkeit von Anlagen und Zuständen sei. Aus Fichtes Kritik an den Gegensätzen zwischen Spiritualismus und Materialismus sowie zwischen Pantheismus und Individualismus ergibt sich im Endeffekt die Notwendigkeit eines differenzierteren Realismus und Individualismus. Nun stellt sich die Frage, wie Fichte diese Bestimmungen in einem Seelenbegriff artikuliert. Gemäß diesen Bestimmungen sei die Seele zunächst als ein reales und individuelles Wesen zu bezeichnen, welches ursprünglich die Einheit einer Mannigfaltigkeit von apriorischen Anlagen bilde. Aus dieser Potentialität entwickele sich die Seele »zu einem bewussten und mannichfaltige, theils bewusste, theils bewusstlos bleibende Zustände in sich vereinigenden Wesen« (Fichte, 1876a, S. 184, § 80). In dieser Entwicklung finde jedoch keine äußerliche Verbindung einer rein immateriellen Seele mit einem rein materiellen Leib, sondern ein Verleiblichungsprozess statt, bei welchem sich die Seele selbst »einen organischen Körper an[bildet]« (Fichte, 1876a, S. 184, § 80). Den Leib bezeichnet Fichte (1876a) demnach als die raumzeitliche Darstellung und den unmittelbaren Ausdruck der »eigenthümlichen Seelenhaftigkeit oder Eigenart« der Seele selbst (S. 184, § 80). Die Möglichkeit einer solchen Einheit von Leib und Seele und des Verleiblichungsprozesses der Seele liegt für Fichte (1876a) darin, dass dem Seelenwesen eine raumzeitliche Existenz zukomme, welche ihr zu räumlichen und zeitlichen Verhältnissen befähige (S. 185, § 81). Auf diese Weise überwindet Fichte (1876a) das spiritualistische Prinzip der Raum- und Zeitlosigkeit der Seele, ohne Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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jedoch dem empiristischen Prinzip einer räumlichen Lokalisierung der Seele im oder neben dem materiellen Leib zu erliegen (S. 185, § 81). »Wir werden daher ebenso ein der erscheinenden Körperlichkeit vergleichbares Sein der Seele im Raume und in der Zeit, wie andererseits eine Raum- und Zeitlosigkeit derselben verneinen müssen« (Fichte, 1876a, S. 185, § 81). Die Einheit von Leib und Seele zeige ferner, dass der Leib nicht mit der reinen Materie identisch sei, sodass Fichte eine nähere Unterscheidung geltend macht, der zufolge der Mensch nicht bloß aus den zwei Prinzipien des Geistes und des Leibes bestehe. Statt dieses Gegensatzes zeige der Mensch vielmehr ein »dreigliederige[s] Verhältnis[] von Geist, organischer Kraft und von leiblichen Stoffen« (Fichte, 1876a, S. 186, § 82). Dieser seelischorganischen Kraft komme trotz ihrer Bewusstlosigkeit nämlich »innere[] Zweckmässigkeit und vollkommene[] Vernunftgemässheit« zu (Fichte, 1876a, S. 187, § 82), sodass sie sich als ein »Mittleres« erweise, welches sowohl »de[n] »eigentliche[n] Grund alles Realen im organischen Dasein« ausmache als auch »das Gepräge der tiefsten und innigsten Idealität an sich trägt« (Fichte, 1876a, S. 189, § 83). Auf diesem idealrealistischen Prinzip beruht Fichtes Seelenbegriff, dessen Begründung er seiner eigentlichen Untersuchung überlässt.

4.2 Beweis der Wesensapriorität und der Unvergänglichkeit der menschlichen Seele 181 Bis zu diesem Punkt hat Fichtes Kritik der psychologischen Theorien die Hauptprobleme der Seelenfrage deutlich konturiert, welche zur Begründung des vorläufigen Seelenbegriffs gelöst werden sollten. Mithilfe dieser Orientierung strukturiert Fichte seine eigene Untersuchung über das Wesen der menschlichen Seele. In seiner Anthropologie weist er darauf hin – wie schon antizipiert –, dass der Beweis der Wesensapriorität der menschlichen Seele eine Lösung nämlich zu den Problemen der Substantialität, der Individualität und der UnverAus einer unveröffentlichten Nachschrift einer Vorlesung über »Die Beweise von der Unsterblichkeit der Seele«, welche Fichte 1836–1837 in Bonn hielt, geht hervor, dass er mit den Auffassungen von Plato, Aristoteles, Cicero, Plotin, der christlichen Epoche, Mendelssohn, Kant, Fichte, Schleiermacher, Schelling, Hegel und Göschel vertraut war. Dazu vgl. die von Ehret transkribierte Nachschrift von Paul von Scherff, welche im Nachlass von Hermann Ehret in der Rudolf Steiner Bibliothek in Stuttgart liegt (Fichte, 1837a).

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gänglichkeit anbieten sollte. In diesem Sinne strukturiert Fichte seinen Beweis zwar in diesen drei Momenten, jedoch stellt er zugleich klar, dass er »eine einzige ungetheilte, allmählich sich bildende und immer reicher sich ausführende Beweisführung« sei (Fichte, 1876a, S. 18, § 6). Nun unterscheidet Fichte später am Begriff der Unvergänglichkeit wiederum zwei Momente, nämlich den Begriff der Präexistenz und den Begriff der Fortdauer. Aus dieser Unterscheidung ergibt sich letztendlich ein aus vier Momenten bestehender, jedoch ungeteilter und allmählicher Beweis der Wesensapriorität der menschlichen Seele. Die systematische und logische Folge dieses Beweises skizziert Fichte in seinem Werk Die Seelenfortdauer und die Weltstellung des Menschen. Indem diese Erklärung die Einheit und die Entwicklung des Argumentes deutlich zutage bringt, wird sie anschließend als Einleitung zur eigentlichen Rekonstruktion des Argumentes kurz geschildert. Als Ausgangspunkt der Untersuchung nimmt Fichte die Frage nach der Substantialität der menschlichen Seele. Im Besonderen laute diese erst zu lösende Frage, ob der menschliche Geist zu den »unvergänglichen und unzerstörbaren Weltsubstanzen« (Fichte, 1867, S. 79, § 110) gehöre oder ob er umgekehrt bloß ein phänomenales und vergängliches Produkt ihm äußerlicher Ursachen ausmache (Fichte, 1867, S. 80–81, § 111). Sofern diese erste Untersuchung ausreichende Gründe für die Substantialität des menschlichen Geistes anführen kann, sollte es in einem zweiten Moment die Frage nach dem Modus seiner Substantialität behandelt werden. Im Besonderen handele es sich bei dieser Untersuchung darum, ob der menschliche Geist als eine allgemeine bzw. generische Substanz oder umgekehrt als eine individuelle Substanz zu betrachten sei. Falls sich die Substantialität des menschlichen Geistes als Allgemeinheit bzw. als Gattung erweist, so müsse man schließen, dass seine Erscheinung als Individuum bloß einen Schein ausmache. Falls sich jedoch seine Substantialität als Individualität erweise, so stehe man auf dem notwendigen Fundament, um in das nächste Moment des Argumentes überzugehen und den darauffolgenden Beweis der individuellen Fortdauer auszuführen (Fichte, 1867, S. 81, § 112). Unter der Bedingung, dass die Substantialität und die Individualität des menschlichen Geistes schon nachgewiesen sind, könne die Untersuchung in ihr drittes Moment übergehen, bei welchem die Frage nach der Unvergänglichkeit zu lösen gelte. Gemäß den schon Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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dargestellten methodologischen Richtlinien der philosophischen Anthropologie Fichtes stellt er in Hinsicht auf diese Frage klar, dass es keinen apriorischen Beweis der Unsterblichkeit der menschlichen Seele geben könne. Stattdessen sei nur ein aposteriorischer Erfahrungsbeweis möglich, welcher unter Berücksichtigung der entsprechenden Tatsachen die Wahrscheinlichkeit 182 der Annahme der Unvergänglichkeit der menschlichen Seele zu dem möglichst hohen Grad steigern sollte (Fichte, 1867, S. 81–83, § 113). Insbesondere müssen Fichte zufolge drei Fragen nachgegangen werden. Erstens soll das Verhältnis des Individuums zur Menschengattung betrachtet werden, wobei es insbesondere um die Frage sich handelt, ob der individuelle Mensch erst durch die Zeugung hervorgebracht wird oder ob er umgekehrt der Zeugung präexistiere. In diesem Fall sei die Zeugung nämlich als die Erzeugung eines organischen Mittels für die Verleiblichung eines individuellen Wesens zu verstehen, welchem eine Präexistenz im Modus der Idealität zukomme. Zweitens solle das Verhältnis von Leib und Seele unter dem Aspekt des Begriffs der Verleiblichung näher betrachtet werden. Letztlich solle die Konsequenz des leiblichen Todes für das individuelle Seelenwesen untersucht werden (Fichte, 1867, S. 83, § 114). Dementsprechend teile sich die Untersuchung der Unvergänglichkeit der menschlichen Seele in eine Untersuchung über die Präexistenz und in eine Untersuchung über die Fortdauer ein, wobei respektive einerseits die Phänomene der Zeugung und der Verleiblichung und andererseits die Phänomene des Todes und der Entleiblichung in Betracht gezogen werden. Auch wenn der anthropologische Beweis eine feste Grundlage für die Annahme der Fortdauer der Menschenseele biete, stellt Fichte (1867) fest, dass dieser Beweis noch insofern ungenügend bleibe, als er zwar diese Annahme zu einem hohen Grad der Wahrscheinlichkeit erhebe, jedoch den Menschen nur als ein Naturwesen betrachte (S. 313, § 300) und nur einen theoretischen und abstrakten Begriff der Unsterblichkeit biete, welcher als »ein Ausgangspunkt für die Wissenschaft«, nicht jedoch als ein »Standpunkt für das Leben« gel»Die ›Wahrscheinlichkeit‹, sagen wir mit Vorbedacht, indem es selbstverständlich von den künftigen factischen Zuständen unsers Wesens keinen directen und unmittelbaren Nachweis geben kann. Wol aber vermag ein auf Induction und Analogie gestützter Wahrscheinlichkeitsbeweis einen gewissen Grad von Ueberzeugung hervorzubringen, welche sich im Laufe der Untersuchung verstärken lässt, besonders wenn es gelingt, die gegen die persönliche Fortdauer sprechenden (Schein-) Gründe in ihrer Nichtigkeit aufzuweisen« (Fichte, 1867, S. 82, § 113).

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ten könne (S. 315, § 302). Damit die philosophische Anthropologie zu einem Standpunkt für das Leben wird und hierbei ihre existentielle Bestimmung erfüllen kann, müsse sie in ihrem Erfahrungsbeweis eine möglichst erschöpfende Reihe von Tatsachen berücksichtigen, wobei sie – wie schon klargestellt – immer eine unendliche Aufgabe bleibe. In diesem Sinne erweitert er beim Beweis der Fortdauer den Kreis der Tatsachen. Dabei werde der Mensch nun nicht nur als ein fertiges Naturwesen, sondern als ein Wesen »in geistiger Entwicklung« betrachtet (Fichte, 1867, S. 313–314, § 300). Im Besonderen sei nämlich die Menschengeschichte dasjenige Erfahrungsgebiet, welches die Tatsachen für die weitere Folge des Beweises bieten sollte. In diesem Sinne sollte der anthropologische Beweis durch einen ethischen und historischen Beweis ergänzt werden (Fichte, 1867, S. 340, § 321). Fichte (1867) weist nämlich auf das Ethische in der Menschengeschichte hin und hebt hauptsächlich zwei Prinzipien hervor, nämlich die ethische Perfektibilität (S. 427, § 364) und das geschichtsbildende Vermögen des Menschen (S. 22, § 34, S. 89, § 120, S. 313–314, § 300). Der ethische und historische Beweis der Fortdauer der menschlichen Seele berufe sich demnach auf die Tatsache, dass dem individuellen »Genius« die Fähigkeit zukomme, sich selbst geistig und ethisch zu entwickeln sowie den Kreislauf der Natur durch die schöpferische Einpflanzung eines ideellen Inhalts in die Kultur durchzubrechen (Fichte, 1867, S. 22, § 34). Laut Fichte (1867) sei die Bedingung der Möglichkeit der ethischen Perfektibilität und des geschichtsbildenden Vermögens des Menschen die Existenz und die Fortdauer eines zur geistigen Entwicklung fähigen individuellen Wesens (S. 319, § 305). Auf diese Weise wird die Fortdauer der Menschenseele aus der Tatsache der Menschengeschichte bewiesen und hierbei eine Bestätigung und Ergänzung des anthropologischen Beweises geliefert. Nachdem die Struktur und der Entwicklungsgang des Beweises der Wesensapriorität der menschlichen Seele konturiert wurden, gilt es nun, diesen Beweis ausführlich zu rekonstruieren. 183

Für einen Überblick über wichtige Aspekte der Idee der Unsterblichkeit Fichtes vgl. auch Hellmuth (2009, S. 125–162).

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4.2.1 Die Substantialität der menschlichen Seele Angesichts des historischen Umstandes, dass die Philosophie und die Psychologie sowohl den Substanz- als auch den Seelenbegriff preisgaben, hielt es Fichte für notwendig, diese metaphysische Frage wieder aufzunehmen und seine philosophische Anthropologie und Psychologie mit einem Beweis der Realität und Substantialität der menschlichen Seele anfangen zu lassen. Infolge der Identifizierung des Seelenbegriffs mit dem Bewusstseinsbegriff und der Reduktion des Bewusstseins auf das Gehirn verwandelte sich die Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele in die Frage nach dem Verhältnis von Bewusstsein und Gehirn. Dieser doppelten Reduktion gegenüber, nämlich einerseits der Seele auf nur eine ihrer Funktionen und andererseits dieser Funktion auf nur einen Teil des Organismus, unternimmt Fichte den Versuch, einen umfassenden Begriff der Seele wissenschaftlich zu begründen, dem zufolge die menschliche Seele das substantielle Einheitsprinzip aller organischen und geistigen Funktionen bildet. Zu diesem Zweck zieht Fichte die Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele in Betracht, welche er mit dem Beweis der Realität und der Substantialität zu beantworten anfängt. Auf dem Standpunkt eines neuen Realismus versucht Fichte an erster Stelle, die Möglichkeit der Wechselwirkung zwischen qualitativ unterschiedlichen Wesen zu begründen. Die Notwendigkeit dieses neuen Realismus ergab sich aus Fichtes Kritik an den paradigmatischen psychologischen Theorien, insbesondere aus der Kritik am dualistischen Spiritualismus und am monistischen Materialismus. Seine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele entwickelt Fichte demnach unter der Leitung des heuristischen Prinzips, dass einseitige dualistische und monistische Erklärungsmuster vermieden werden sollten. Gemäß den Ergebnissen seiner Kritik kann die falsche Dichotomie zwischen unüberbrückbarem Substanzdualismus und reduktionistischem Substanzmonismus nur dann überwunden werden, wenn auch die falsche Dichotomie zwischen subjektivistischer und empiristischer Raum- und Zeittheorie überwunden wird. Die evidente Tatsache der Korrelation zwischen seelischen und leiblichen Phänomenen, welche einerseits der Spiritualismus unter der Annahme der Unräumlichkeit der Seele durch die Vermittlung einer dritten Instanz erklärlich zu machen versucht und in welcher andererseits der Materialismus den Beleg einer kausalen Abhängigkeit der 254

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Seele vom Leib bzw. des Bewusstseins vom Gehirn sieht, wird für Fichte nur dann verständlich, wenn man die Möglichkeit erwägt, dass die Seele raumzeitliche Verhältnisse und Wirkungen haben kann, ohne dabei infolge einer empiristischen Konzeption von Raum und Zeit der Seele Materialität und Teilbarkeit zu verleihen. In diesem Sinne versucht Fichte, die Frage nach der Realität der Seele durch die Begründung der Annahme der Raumzeitlichkeit der Seele zu beantworten. Da sich der Begriff der Realität nur auf die Bedingungen der Existenz, Wirksamkeit und Wechselwirkung eines qualitativ bestimmten Wesens bezieht, muss in einem zweiten Moment die Frage behandelt werden, ob der Existenz des leibseelischen Organismus samt der Mannigfaltigkeit seiner Bestimmungen und Tätigkeiten ein beharrliches und einendes Substrat zugrunde liegt. Es soll demnach betrachtet werden, ob der Realität der Seele Substantialität oder Akzidentalität zukommt. Dieses Problem betrachtet Fichte unter dem Aspekt des Verhältnisses zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit in Hinsicht auf die entsprechenden psychologischen und physiologischen Tatsachen. Das Verhältnis von Leib und Seele wird für Fichte nur dann verständlich, wenn man den Begriff der dynamischen Allgegenwart der substantiellen Seele im Organismus wissenschaftlich plausibel macht. Im Folgenden gilt es, Fichtes Antwort auf diese doppelte Frage nach der Realität und Substantialität der menschlichen Seele näher zu betrachten.

4.2.1.1 Die Realität der Seele unter dem Aspekt der Raumzeitlichkeit

In welchem Sinne ist die Seele als ein reales Wesen zu bezeichnen? Da jede Antwort auf diese Frage einen bestimmten Begriff der Realität voraussetzt, ist es wichtig, zuallererst den allgemeinen Begriff der Realität im Rahmen einer ontologischen Untersuchung zu erläutern. Eine solche ontologische Untersuchung über die Kategorien liegt in der Tat der Auffassung Fichtes über die Realität der Seele zugrunde. 184 Im gegenwärtigen Zusammenhang kann jedoch seine ontologische Untersuchung nur vorausgesetzt werden, um den darin aus-

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Vgl. Fichte (1836a).

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führlich begründeten Begriff der Realität hier lediglich in groben Zügen zu skizzieren. Der Vorschlag Fichtes besteht nämlich darin, den Begriff der Realität ontologisch unter dem Aspekt des Kategorienverhältnisses zwischen Quantität und Qualität sowie realphilosophisch unter dem Aspekt der Raumzeitlichkeit zu analysieren, insofern der ontologische Begriff der Quantität realphilosophisch nämlich als Raum und Zeit zu verstehen sei. Diesen Vorschlag muss hier kurz skizziert werden, bevor Fichtes Ansicht über das Verhältnis von Leib und Seele dargestellt werden kann, der zufolge der Leib als der quantitative Ausdruck bzw. die raumzeitliche Wirklichkeit der Seele zu betrachten sei. 4.2.1.1.1 Allgemeiner Begriff der Realität als Quantitierung des Qualitativen Im Allgemeinen gilt es, dass sich die Realität als die Einheit bzw. Durchdringung von qualitativen und quantitativen Bestimmungen zeigt. Trotzdem besteht die Möglichkeit einer einseitigen Reduktion des Einen auf das Andere. Indem beispielsweise der Materialismus die Materie und die Bewegung für die Grundbestimmungen alles Realen hält, führt er alle qualitativen Bestimmungen und Unterschiede auf quantitative Verhältnisse zurück. Gemäß dieser Ansicht ist demnach das Quantitative die ultimative Realität, während das Qualitative die akzidentelle Folge des Quantitativen darstellt. Demgegenüber ist Fichte der Auffassung, dass weder die Quantität noch die Qualität allein die ganze Realität erfasst. Vielmehr sei das Qualitative, d. h. die »Washeit« einer Entität, an sich und ohne eine es ausdrückende quantitative Form eine abstrakte Denkbestimmung (Fichte, 1836a, S. 130–131, § 70), während das Quantitative, d. h. jede intensive und extensive Größe, ohne einen es bestimmenden qualitativen Inhalt ebenfalls nichts an sich sei (Fichte, 1836a, S. 126, § 67). Ein »Quale ist wirklich nur als Quantitatives« (Fichte, 1836a, S. 115, § 57, Anm.), behauptet Fichte in Hinsicht auf das innere Verhältnis beider Kategorien. Die Wirklichkeit besteht für Fichte in der Einheit von Qualität und Quantität, welche er im Begriff der Verwirklichung zusammenfasst. Gemäß diesem Begriff muss die Quantität als der aus der Qualität selbst hervorgehende Ausdruck ihrer selbst betrachtet werden. Der Begriff der Verwirklichung weist demnach auf die Unzertrennlichkeit beider Momente hin, insofern die intensive und extensive Größe einer Entität das Resultat ihrer Selbstquantitierung aus ihrer spezifischen Qualität bildet. 256

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Das allgemeine Verhältnis zwischen Qualität und Quantität erläutert und spezifiziert Fichte genauer anhand anderer Kategorienverhältnisse. An diesen Kategorienverhältnissen, wie beispielsweise an denen zwischen Grund und Folge, Innerem und Äußerem, Gehalt und Form, Vermögen und Vollziehung, Ding und Eigenschaft, Ganzem und Teilen, Monas und Totalität usw., lässt sich laut Fichte dasselbe Verhältnis erkennen. In allen diesen Kategorienverhältnissen bilde »das zweite Glied stets den quantitativen Ausdruck des ersten« (Fichte, 1876a, S. 195, § 84). Wenn man das Verhältnis zwischen Gehalt und Form als Beispiel berücksichtigt, ergibt sich aus diesem Prinzip, dass der Gehalt »die qualitative Seite« sei, welche sich selbst ihre Form als »ihre specifische Quantitätsbestimmtheit« gebe (Fichte, 1836a, S. 242, § 147). Dementsprechend kommt dem Gehalt eine spezifische qualitative Bestimmung zu, welche sich durch seine Selbstquantitierung unmittelbar in seiner entsprechenden Form darstellt. In der Form gebe sich der Gehalt »seine Extension und Intensität, als specifisches Quantum« (Fichte, 1836a, S. 255, § 155). Bei dieser Verwirklichung des Gehaltes in seiner Form trete nun die Kategorie des Werdens in Kraft, insofern er, identisch mit sich bleibend, dennoch zu einer Form werde, welche zugleich nicht identisch mit ihm sei. Aus dem Werden des Gehaltes zu seiner Form ergebe sich demnach, dass sich die Form als das Wechselnde und der Gehalt als das Beharrliche in diesem Verhältnis erweise: »Der Gehalt ist das Eine, mit sich Identische, Gleichbleibende, welcher in das Werden oder den Wechsel eingehend, eine Formverwandlung erleidet, oder durch seine wechselnden Formen sich hindurchwandelt« (Fichte, 1836a, S. 251, § 151). Das aus dem Gehalt hervorgehende »System seiner Formen« sei zwar der unmittelbare Ausdruck des Gehaltes und insofern nichts ihm Fremdes, jedoch komme diesem System unter einem anderen Gesichtspunkt zugleich die Bestimmung des Andersseins zu (Fichte, 1836a, S. 251–252, § 152). Mit anderen Worten: Der Gehalt bleibt im System seiner Formen in Hinsicht auf seine qualitative Bestimmtheit mit sich identisch, während er in Hinsicht auf dieses quantitative System seiner Formen ein Anderes geworden ist, welches dem Gehalt jedenfalls kein fremdes Element, sondern der eigentümliche Ausdruck seiner qualitativen Bestimmtheit ist. Indem nun der Gehalt beim Werden zu seiner Form sein eigenes Verwirklichungsprinzip ausmache (Fichte, 1836a, S. 265, § 162), sei es möglich, dieses Verhältnis auch unter dem Aspekt der Kategorien des Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Vermögens und der Vollziehung zu betrachten. Als Vermögen ist der Gehalt schon alles, was er erst werden muss. Der Gehalt bringe »nur zur Wirklichkeit, was in ihm selbst schon vorhanden, nur ruhend (demnach als wirklich und doch nicht wirklich) gedacht wird« (Fichte, 1836a, S. 270, § 167). Die qualitativ bestimmte Form setzt demnach den sie bestimmenden Gehalt voraus, jedoch ist die Wirklichkeit dieses noch nicht zur Form gewordenen Gehaltes als eine potenziale Wirklichkeit zu betrachten. Die Selbstverwirklichung des Gehaltes besteht darin, die potenziale zur aktualen Wirklichkeit zu bringen. Potenzial ist das sich verwirklichende Wesen inhaltsvoll, jedoch muss dieser innere und potenziale Gehalt erst eine quantitative Form annehmen, um wirklich zu werden. Durch eine solche Formung und Quantitierung behaupte und erfülle das Wesen seine Realität. Erst »diese inhaltvolle und damit schlechthin bestimmte, aber aus dem Wesen stammende Selbstbehauptung, nennen wir Wirklichkeit« (Fichte, 1836a, S. 291, § 173). Das durch alle Kategorien sich hindurchziehende Verhältnis zwischen dem Qualitativen und dem Quantitativen versteht Fichte im Endeffekt als das Verhältnis zwischen dem Idealen und dem Realen. Auf diese Weise begründet Fichte ontologisch einen Idealrealismus, dem zufolge das Reale der unmittelbare Ausdruck einer »sich selbst unendlich realisirende[n] Idealität« sei (Fichte, 1836a, S. 282, § 172, Anm. 1). Auf dem Standpunkt dieses Idealrealismus betrachtet Fichte das Verhältnis von Leib und Seele, bei welchem einerseits der Leib das Reale und Quantitative, andererseits die Seele das Ideale und Qualitative sei. Nun weist Fichte darauf hin, dass die ontologische Bestimmung der Quantität realphilosophisch als Raumzeitlichkeit zu verstehen sei. In diesem Sinne bedeute die ontologische Behauptung, dass die Realität die quantitative Form eines qualitativen Gehaltes sei, realphilosophisch, dass die Realität die raumzeitliche Erscheinung eines Wesens sei. Folglich sei ein Wesen nur als raumzeitlich wirklich, wobei der Begriff der Raumzeitlichkeit einer näheren Betrachtung bedarf. 4.2.1.1.2 Spezifischer Begriff der Realität als Setzung und Erfüllung von Raum und Zeit Die oben dargestellten ontologischen Bestimmungen lassen sich realphilosophisch in die Behauptung übersetzen, dass die Realität eines Wesens in der Setzung und Erfüllung seines Raumes und seiner Zeit bestehe. Dem übereilten Einwand, dass Fichte mit dieser Behauptung 258

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dem Materialismus erliege, liegt die stillschweigende Voraussetzung zugrunde, dass Raumzeitlichkeit nur eine Bestimmung der Materialität sei. Folglich nimmt sich Fichte vor, der subjektivistischen und der empiristischen Raum- und Zeittheorie eine vermittelnde Ansicht gegenüberzustellen. 185 Negativ stellt Fichte klar, dass Raum und Zeit weder subjektive Formen der Anschauung, nach welchen das Subjekt eine an sich raum- und zeitlose Realität für sich konfiguriert, noch selbstständige und leere Größen seien, in welche als in einen Behälter Dinge eintreten und Ereignisse geschehen. Im Unterschied zu beiden Ansichten sind Raum und Zeit für Fichte – wie aus seiner Ontologie folgt – die quantitativen Spezifikationsformen, durch die sich qualitativ bestimmte Wesen eine intensive und extensive Größe geben, welche es ihnen ermöglicht, »in wirkliche (oder wirksame) Beziehung zu einander zu treten« (Fichte, 1836a, S. 255, § 156). Laut Fichte gehen die »räumliche und zeitliche Extension und Intensität« eines Wesens aus seiner Selbstbehauptung hervor (Fichte, 1836a, S. 255, § 155). Diese Selbstbehauptung besteht demnach in der vom sich selbst verwirklichenden Wesen vollgezogenen Setzung und Erfüllung des eigenen Raumes und der eigenen Zeit. Aus seiner spezifischen Qualität setze und erfülle ein Wesen auf spezifische Weise seinen Raum und seine Zeit (Fichte, 1836a, S. 255, § 155). Indem nun die Wesen bei diesem Akt der Selbstsetzung bzw. Selbstverwirklichung aus eigener Kraft ihre spezifische Raumzeitlichkeit setzten und erfüllen, treten sie in eine »umfassende Daseins- und Wirkungssphäre« (Fichte, 1836a, S. 409, § 232), in welcher sie aufeinander wirken können. Demgemäß beruht die Möglichkeit der Wechselwirkung von qualitativ unterschiedlichen Wesen auf ihrer Raumzeitlichkeit. Indem jedes Wesen seine spezifische Raumzeitlichkeit setzt und erfüllt, erhält es raumzeitliche Intension und Extension, was eben die Wechselwirkung unter allen Weltwesen ermöglicht. Nun weist Fichte darauf hin, dass diese raumzeitliche Selbstverwirklichung und Wechselwirkung der realen Wesen wiederum nur unter der Bedingung eines ursprünglichen Raumes und einer ursprünglichen Zeit möglich seien. Dieser ursprüngliche Raum und diese ursprüngliche Zeit seien laut Fichte (1864a) die Wirkung des Aktes der Selbstsetzung und Selbstverwirklichung des »absoluten Urgrundes« (S. 30, § 37). In diesem Urgrund seien alle Weltwesen 185

Mehr zur Raum- und Zeittheorie Fichtes vgl. Serwe (1959).

Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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»in absoluter Zusammengehörigkeit und in unendlicher Wechselberührbarkeit unter einander« (Fichte, 1864a, S. 31, § 38), was in der Realität nur unter der Bedingung der allen Weltwesen gemeinsamen Raumzeitlichkeit möglich sein könne. Dieser »göttliche[] Raum[]« und diese »ewige[] Dauer« (S. 33, § 41) gehen laut Fichte (1864a) nämlich aus der »ursprünglichen Selbstschöpfungsthat« des absoluten Urgrundes hervor (S. 30, § 37). Der Urgrund setzte und erfülle jene göttliche und ewige Raumzeitlichkeit, von welcher alle Weltwesen »getragen« werden. In diesem Sinne behauptet Fichte, dass jene vom absoluten Urgrund gesetzte und erfüllte raumzeitliche Daseins- und Wirkungssphäre sich nicht bloß auf die Endlichkeit beschränkt. Vielmehr »leben« die endlichen Wesen schon in der endlichen Welt »mitten in der ewigen Welt« (Fichte, 1864a, S. 33, § 41). Folglich ist die Raumzeitlichkeit nicht bloß Bestimmung der Endlichkeit und der Materialität, sondern der Realität überhaupt – sei sie nämlich materiell oder geistig. In diesem Sinne beruhe die Möglichkeit jeglicher Wechselwirkung auf der raumzeitlichen Intension und Extension, welche aus der eigenen Selbstbehauptung hervorgehen und insofern den Weltwesen sowohl in der »endlichen« als auch in der »ewigen« Welt eigen seien. Zum besseren Verständnis dieser Ansicht gilt es nun, die von Fichte identifizierten Arten der Raumexistenz und der Raumerfüllung zu betrachten. Durch die Aufklärung dieser Sachlage soll die Frage beantwortet werden, wie die raumzeitliche Verwirklichung eines Wesens und seine gleichbleibende Gegenwart in der von ihm hervorgebrachten raumzeitlichen Form seiner selbst genauer zu verstehen ist. Bei dem Akt der Selbstverwirklichung gibt sich ein Wesen seine raumzeitliche Form. Als quantitative Form könne nun die Raumzeitlichkeit unter einem doppelten Gesichtspunkt betrachtet werden. Im Allgemeinen lasse sich die Quantität laut Fichte sowohl als stetige als auch als diskrete Größe bestimmen. Stetigkeit und Diskretion seien demnach »nur verschiedene Gesichtspunkte der Quantität überhaupt, und der quantitativen Größe insbesondere« (Fichte, 1836a, S. 86, § 31). Als stetig sei das Quantum insofern zu betrachten, als »nur die innere Ununterscheidbarkeit desselben gefaßt wird«, während es insofern als diskret zu betrachten sei, als »die Möglichkeit eines unendlichen Unterscheidens hervorgehoben« werde (Fichte, 1836a, S. 86, § 31). Die Stetigkeit weist demnach auf die Gleichartigkeit der formellen Unterschiede hin, sodass die Größe unter diesem 260

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Beweis der Wesensapriorität und der Unvergänglichkeit der menschlichen Seele

Gesichtspunkt als ununterschieden und unterscheidbar zugleich zu betrachten sei (Fichte, 1836a, S. 83–84, §§ 27–28). Die Diskretion weist ihrerseits auf die Vielheit der formellen Unterschiede hin, sodass die Größe unter diesem Gesichtspunkt nun als unterschieden und begrenzt zu betrachten sei (Fichte, 1836a, S. 85, § 29). Die Stetigkeit und die Diskretion einer Größe versteht Fichte (1836a) demnach nicht als inkompatible und sich widersprechende Bestimmungen, sondern als zwei Facetten derselben Einheit, wie aus den folgenden Worten folgt: Darauf, daß dieselbe Größe alternirend bald als continuirliche, bald als diskrete gefaßt werden kann, beruht die unendliche Theilbarkeit eines an sich dennoch begränzten Quantums in Raum, Zeit, Materie. Es ist einmal ein continuirliches, jede Unterscheidung innerhalb seines Umfangs ausdrücklich negirendes: hiermit wird es zum durchaus bestimmten, in sich festen Quantum. Aber indem die Unterscheidbarkeit wenigstens darin liegt, welche dennoch durch keine (qualitative) Unterscheidung beschränkt oder aufgehoben wird, muß die Unterscheidbarkeit selbst in’s innerlich Unbegränzte fortgehen (S. 86, § 31).

Aus dieser Stelle geht hervor, dass die Teilbarkeit des Raumes, der Zeit und der Materie auf der Möglichkeit der doppelten Auffassung der Kategorie der Größe beruhe. Keine dieser Auffassungen kann somit auf die andere Auffassung reduziert werden. Raum, Zeit und Materie können dementsprechend sowohl als stetige als auch als diskrete Größen betrachtet werden, je nachdem, ob man das Moment der Gleichartigkeit und Unbegrenztheit oder das Moment der Vielheit und Begrenztheit hervorhebt. Da Raum und Zeit die realphilosophische Entsprechung der ontologischen Kategorie der Quantität ausmachen, weist Fichte am Beispiel nur des Raumes auf zwei Arten der Raumexistenz und Raumerfüllung hin, welche er unter dem Aspekt der Stetigkeit und der Diskretion erläutert. Erstens könne ein Wesen seinen Raum derart setzten und erfüllen, dass »das Reale in die Theilbarkeit des Raumes völlig eingeht« (Fichte, 1876a, S. 196, § 85). Diese mechanische Art der Raumexistenz und Raumerfüllung lasse sich bei den unorganischen Körpern beobachten, welche sodann in Kohäsions- und Adhäsionszuständen vorhanden seien (Fichte, 1876a, S. 197, § 85). Zweitens könne ein Wesen seinen Raum derart setzten und erfüllen, dass das »Reale die trennende Bedeutung des Raumes überwindet und in jedem Theile seiner Raumexistenz mit gleicher und ganzer Wirkung Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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gegenwärtig ist« (Fichte, 1876a, S. 196–197, § 85). Diese dynamische Art der Raumexistenz und Raumerfüllung lasse sich bei den organischen Körpern beobachten, deren Teile nicht kohäsiv und adhäsiv nebeneinander, sondern »in innerm, die trennende Wirkung jenes Nebeneinander aufhebenden Verhältnisse zueinander stehen« (Fichte, 1876a, S. 198, § 85). Aus dem Unterschied zwischen mechanischer und dynamischer Raumexistenz und Raumerfüllung ergibt sich sodann der Gegensatz zwischen Atomismus und Dynamismus, welchen Fichte gemäß seinen ontologischen Prinzipien durch eine Kritik an beiden Standpunkten zu vermitteln versucht. Die Kritik zielt nämlich darauf ab, eine Versöhnung zwischen Atomismus und Dynamismus auf der Ansicht zu begründen, dass beide Arten der Raumexistenz und Raumerfüllung sowie die Erklärungen der Materie aus dem Atom oder aus der Kraft letztendlich nur die Facette der Quantität betreffen. Das diese doppelte Auffassung der Stetigkeit und der Diskretion zulassende Quantum ist für Fichte demgegenüber das Produkt von qualitativen Urelementen. Es sei demnach die Qualität dasjenige Prinzip, welches sich aus eigener Kraft durch Selbstbehauptung in quantitativer Form als Materie ausdrücke. Zu dieser Ansicht gelangt Fichte durch den Nachweis der immanenten Selbstaufhebung des Atomismus in den Dynamismus und durch den Nachweis der Unzulänglichkeit des Versuches einer dynamischen Konstruktion der Materie aus der Wechselwirkung substratloser Kräfte. Angesichts der Tatsache, dass sich die Körper als zusammengesetzte und teilbare Körper zeigen, schließt der Atomismus bei seinem Versuch, ihre »Dichtigkeit, Undurchdringlichkeit und Schwere« zu erklären (Fichte, 1876a, S. 219, § 94), dass sie aus unteilbaren und undurchdringlichen Atomen bestehen müssen, welche aufeinander wirken. Trotzdem sei die These der Atome allein unzulänglich, um die Kohäsion und die Ausdehnung der Körper zu erklären. Aus diesem Grund müsse der Atomismus, die These der actio in distans vermeidend, auf die Theorie der Molekularkräfte als Hilfshypothese rekurrieren, um überhaupt erklären zu können, warum die Atome in einem Kohäsionszustand verbunden bleiben und in unterschiedlichen Aggregatzuständen voneinander weichen können. Gerade durch die Annahme von Kräften hebe sich dennoch der Atomismus selbst auf. Wenn eine anziehende und zusammendrängende Kraft der Grund der Kohäsion und der Undurchdringlichkeit der Körper sein sollte, »so sind nunmehr die Atome völlig überflüssig geworden« (Fichte, 1876a, 262

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S. 221, § 95). Statt der Atome seien nun die Kräfte der Grund der Materie, sodass »[d]er mechanische Atomismus …, sich selbst widerlegend, in Dynamismus übergegangen« sei (Fichte, 1876a, S. 235, § 100). Der Dynamismus halte nun am Begriff der Kraft fest, um aus der Wechselwirkung zwischen unterschiedlichen Kräften die Materie zu erklären. Das Hauptproblem dieser Ansicht bestehe jedoch darin, dass die Kraft ein reales Substrat voraussetze, dem sie als seine Eigenschaft zukomme (Fichte, 1876a, S. 238, § 102). Da der Dynamismus nun auf den Begriff des Atoms und des leeren Raumes verzichtet, müsse er problematisch die Existenz reiner Kräfte behaupten, welche den Raum erfüllen und die Materie hervorbringen sollten. Die Annahme reiner Kräfte lasse jedoch laut Fichte (1876a) das Phänomen der Undurchdringlichkeit und des qualitativen Unterschiedes der Materien und Körper unerklärt (S. 239, § 102). Die Frage bleibe offen, was das reale Substrat der Kraft ist. Das idealistische Antwort, dass das Reale ein ideelles Subjekt sei, haltet Fichte (1876a) für eine »kühne Fiction eines Halbrealen«, welche im Endeffekt nichts über das spezielle Problem besage, sondern es vielmehr »nebulistisch verflüchtigt« (S. 246, § 105). Laut Fichte (1876a) lässt sich eine Erklärung der Kohäsion, der Undurchdringlichkeit und des Unterschiedes der Körper erst dann erwarten, wenn man den Begriff der qualitativen Affinität als den Grund der Wechseldurchdringung der Materien annimmt (S. 240, § 102). Nachdem Fichte den Dynamismus zu seiner Aufhebung bringt, versucht er, durch den Begriff der Qualität den Atomismus und den Dynamismus zu versöhnen. Diese Versöhnung ergebe sich aus der Erfüllung der Ansprüche beider Ansichten. Laut Fichte soll nämlich eine befriedigende Theorie sowohl die Kohäsion als auch die Teilbarkeit der Körper anerkennen und hierbei dem Begriff der Stetigkeit und dem Begriff der Diskretion gerecht werden. Der Atomismus kann jedoch ohne den Begriff der Kraft das Phänomen der Körperlichkeit nicht erklären, während der Dynamismus ohne den Begriff des Substrates ebenfalls keine Erklärung der Körperlichkeit bieten kann. Die Versöhnung beider Ansichten erreicht Fichte dadurch, dass er den Grund dieses die doppelte Auffassung der Stetigkeit und der Diskretion zulassenden Quantums in der Qualität findet. Er behauptet nämlich, dass der »letzte gemeinsame Grund aller qualitativen wie quantitativen Körperzustände und Körperveränderungen nur in dem innern Geschehen und den Verhältnissen qualitativ unterschiedener, Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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aber ursprünglich … aufeinander bezogener, raumsetzender und dadurch in Wechseldurchdringung eingehender Urelemente zu finden sei« (Fichte, 1876a, S. 213, § 91). Diese Urelemente bezeichnet Fichte als qualitative Urpositionen. Es seien demnach nicht die »gleichartige [], blos quantitativ einfache[], mechanische[] Atome« (Fichte, 1876a, S. 205–206, § 88), sondern diese qualitativen Urpositionen nämlich dasjenige Prinzip, welches in seiner Selbstverwirklichung sich quantisiert, d. h. sich seine raumzeitliche Form gebe. Sie »›werden‹ zu Kräften durch ihr qualitatives Wechselverhältniss miteinander«, je nachdem, ob sie sich innerlich und qualitativ ergänzen oder ausschließen (Fichte, 1876a, S. 207, § 88). Die Raumexistenz und Raumerfüllung ergeben sich demnach aus der qualitativen Eigentümlichkeit und dem qualitativen Verhältnis der Urpositionen. 186

Interessanterweise wirft Fichtes Ansicht Licht auf die gegenwärtige Debatte um die Quantenfeldtheorie. Im Vergleich zur im 19. Jahrhundert etablierten Ansicht der Physik, der zufolge die Materie aus Teilchen besteht und die Kräfte von den Raum erfüllenden Feldern getragen werden, sodass Teilchen und Kräfte aufeinander wirken, habe die Physik im 20. und 21. Jahrhundert zur Quantenfeldtheorie avanciert, der zufolge die Realität grundsätzlich aus Kraftfeldern bestehe und die sogenannten Teilchen eigentlich nicht mehr atomistisch, sondern dynamisch als konzentrierte Schwingungen bzw. Energiebündel jener Quantenfelder zu betrachten seien (Fermilab, 2013). Mit anderen Worten: Die Quantenfeldtheorie besagt, dass die Realität sowohl dynamisch-stetig (Kraftfelder) als auch mechanisch-diskret (Teilchen) betrachtet werden könne, wobei die Teilchen aus der Bewegung der Kraftfelder hervorgehen. Was für die Beobachtung bzw. die Messung als punktuelle Materieteilchen erscheint, sei im Wesentlichen stetige Kraftschwingungen. Angesichts der gegenwärtigen Situation der Physik darf man demnach vorschlagen, dass Fichte einen verheißungsvollen theoretischen Rahmen zum Verständnis des Verhältnisses zwischen Kraftfeldern und Teilchen sowie zum Fortschritt nicht nur der Philosophie der Physik, sondern auch der theoretischen Physik bietet, insofern er durch seine ontologische Begründung des Quantums die die dynamische und stetige Auffassungen zusammenbringende Quantenfeldtheorie in gewissem Sinne antizipiert hat. Der innovative Beitrag Fichtes zu dieser Debatte ist die Ansicht, dass das Quantum – sei es diskret als Teilchen oder dynamisch als Kraftfeld betrachtet – im Endeffekt das Produkt bzw. der Ausdruck der sich verwirklichenden qualitativen Urpositionen sei. Diese Innovation schlug Fichte in einem Kontext vor, in welchem der Begriff der Wissenschaftlichkeit eine Mathematisierung erfuhr. Fichte (1876a) beobachtete damals, dass »in Philosophie wie in Physik die Neigung herrscht, alle qualitativen Unterschiede, soweit möglich, auf blosse Quantitätsverschiedenheiten zurückzuführen, d. h. das Gebiet des Mechanismus möglichst auszudehnen, weil man darin den Sieg eines vermeintlich exacten Wissens erblickt« (S. 261, § 111).

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4.2.1.1.3 Der Leib als die raumzeitliche Wirklichkeit der Seele Ausgehend von dieser ontologischen Grundlage behandelt Fichte die Frage nach der Realität der Seele und nach dem Verhältnis von Leib und Seele. Aus Fichtes Kritik am dualistischen Spiritualismus, welcher am Begriff der Unräumlichkeit der Seele festhalte, hatte sich ergeben, dass es »ein logischer Widerspruch« sei, »überhaupt ein unräumliches Wesen mit einem räumlichen in directe und unmittelbare Wechselwirkung treten zu lassen« (Fichte, 1876a, S. 304, § 130). Demgegenüber muss man angesichts der evidenten Tatsache der Korrelation zwischen leiblichen und seelischen Phänomenen – so Fichte (1876a) – ein »gemeinsames Berührungsgebiet« konstatieren (S. 304, § 130). Dieses Berührungsgebiet betrachtet Fichte jedenfalls nicht als eine von zwei gegensätzlichen Substanzen unabhängige Instanz, welche auf hybride Weise die Eigenschaften beider besitzt und kraft dieser hybriden Vereinigung zwischen ihnen vermitteln kann. Stattdessen behauptet Fichte (1876a), dass die Bedingung der Möglichkeit der Wechselwirkung zwischen Leib und Seele »nur als Raum gedacht werden kann« (S. 304, § 130). Zu derselben Konklusion gelangt Fichte in seiner Kritik am Materialismus. Nachdem er die Unzulänglichkeit seines Begriffs des Realen nachweist, behauptet er, dass die Tatsache der Korrelation von leiblichen und seelischen Phänomenen immerhin feststehe 187, jedoch weicht Fichte grundsätzlich von der materialistischen Deutung dieser Tatsache ab. Statt die seelischen Phänomene kausal auf die Materie und die Bewegung zurückzuführen, weist Fichte darauf hin, dass eine solche Korrelation nur durch die Annahme eines realen Verhältnisses der Seele mit dem Raum verständlich werde. Laut Fichte nötige die Tatsache jener Korrelation dazu, »die Seele in irgendeiner Weise mit Raumbestimmungen auszustatten« (Fichte, 1876a, S. 303, § 129). Wie ist nun die Raumzeitlichkeit der Seele zu verstehen? Als Beispiel weist Fichte auf folgende Phänomene hin: »Ohne Integrität des Hirns können die Functionen des Bewusstseins nicht von statten gehen: der leiseste Druck auf jenes stürzt in Bewusstlosigkeit. Die Seele wächst und altert mit dem Körper: der grösste Geist wird altersschwach, ja Stimmung, Temperament, Charakter werden durch äussere Lebensweise, Nahrung, also durch den Chemismus der von aussen eingeführten Stoffe allmählich verändert, zum Theil völlig verwandelt. Langwierige physische Krankheiten schwächen den Geist, lähmen das Gedächtniss, berauben des Scharfsinns u. dgl. Opiumrausch, Gaben von Bilsenkraut erregen Seelenstörungen und periodische Verrücktheit u. s. w.« (Fichte, 1876a, S. 99, § 45).

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Gemäß dem im Vorhergehenden dargestellten Idealrealismus Fichtes seien Raum und Zeit nämlich die »Verwirklichungsformen schlechthin alles Realen« (Fichte, 1855a, S. 37), sodass der Leib als die raumzeitliche Form eines realen Wesens zu betrachten sei. In diesem Sinne sei die Seele »nur wirklich in dem Leibe, d. h. in der organischen Mannigfaltigkeit bewußtloser wie bewußter Thätigkeiten« (Fichte, 1833b, S. 31, § 26, Anm.). Demgemäß sind Leib und Seele unzertrennlich voneinander, insofern der Leib den unmittelbar aus sich selbst hervorgehenden Ausdruck der Seele bilde. Raumzeitlichkeit und Leiblichkeit seien demnach »recht eigentlich nur Producte des sie durch eigene Existentialkraft aus sich hervorbringenden Seelenwesens …, welches an sich selbst daher unantastbar ist von ihrer eingebildeten Scheingewalt« (Fichte, 1876a, S. 196, § 84). Die Raumzeitlichkeit der Seele ist allerdings nicht in dem Sinne zu verstehen, als wäre die Seele »ein (fein- oder grobsinnlich) stoffliches, im Raume theilbares« und in der Zeit vergängliches Wesen (Fichte, 1876a, S. 200, § 85). Vielmehr sei der Leib »nur das quantitative Raum- und Zeitbild« der »qualitativen Eigenthümlichkeit« der Seele (Fichte, 1864a, S. 13, § 15). Die Seele als eine qualitative Urposition gebe sich ihre quantitative Wirklichkeit in ihrem Leib, welcher demnach ihre raumzeitliche Form bilde. 188 Diese Selbstverwirklichung der Seele, in welcher sie ihren Raum und ihre Zeit setze und erfülle, bezeichnet Fichte als die Verleiblichung der Seele. 189 Zu Fichtes Begriff der Raumzeitlichkeit der Seele vgl. auch Stern (1967, S. 103– 114). 189 In diesem Zusammenhang ist die Einschätzung Fortlages von besonderem Interesse. Fortlage (1856) weist in seiner Rezension der Anthropologie Fichtes darauf hin, dass Fichtes Auffassung der »Existenzweise der Seele« die Bedeutung zukommt, dass sie »sowol von den gewöhnlichen Vorstellungen des Lebens, als auch von denen anderer philosophischer Systeme bedeutend und auf eine interessante Weise abweicht« (S. 633). Fortlage (1856) identifiziert nämlich als »[d]as Eigenthümliche der Fichte’schen Anthropologie« die »Auffassung des Verhältnisses, worin die Seele zu Raum und Zeit steht« (S. 634). Mit dieser Auffassung verwerfe Fichte zwei entgegengesetzte, aber gleichermaßen unzulängliche Ansichten. Erstens berichtige Fichte die »alte[], aber auch noch gegenwärtig vielfach herrschende[] Vorstellungsweise«, dass »Raum und Zeit lediglich dem materiellen Dasein … als seine Eigenschaften [angehören], sodaß es in einem Zustande, wo es keine Körper mehr gibt, auch unmöglich noch einen Raum und eine Zeit geben kann« (Fortlage, 1856, S. 634). Zweitens drehe Fichte die Ansicht völlig um, dass »Raum und Zeit die Hervorbringungen einer den Seelen vorausgehenden Ideenwelt sind« (Fortlage, 1856, S. 634). Im Gegensatz zu dieser Ansicht behaupte Fichte, dass die Seelen »[n]icht aus der Raum und Zeit hervorbringenden Idee entspringen«, sondern vielmehr seien die Seelen, »welche die ganze Ideen188

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In Hinsicht auf den Begriff der Verleiblichung sind nämlich drei Aspekte zu unterscheiden. Erstens geht es aus dem Gesagten hervor, dass die Verleiblichung darin bestehe, dass ein reales Wesen »seinen Raum und seine Zeit eigenthümlich setzt-erfüllt« (Fichte, 1876a, S. 273, § 117). Diese erste allgemeine Bedeutung der Verleiblichung bezieht sich demnach nur auf die Verwirklichung der Seele in einer raumzeitlichen Form. Bei näherer Betrachtung weist Fichte sodann noch auf zwei weitere Bestimmungen des Begriffs der Verleiblichung hin. Aus naturphilosophischer Sicht behauptet Fichte zweitens, dass die Verleiblichung darin bestehe, dass das sich verleiblichende Wesen »das specifisch ihm Verwandte an sich zieht und aus dieser Verbindung das Phänomen einer Körpereinheit hervorgehen lässt« (Fichte, 1876a, S. 273, § 117). Diese zweite Bedeutung der Verleiblichung bezieht sich nämlich auf die Organisationskraft der Seele, durch welche sie als ein höheres Prinzip die niederen Elemente der physikalischen und chemischen Stoffwelt räumlich »durchdringt und beherrscht« sowie in ihrer Natur »assimiliert« (Fichte, 1876a, S. 276, § 118). Indem das Wesen diese Elemente zu seinen »Verleiblichungsmitteln« macht, werden sie »vergeistigt«, d. h. über ihre »eigene Unmittelbarkeit erhoben und des höhern Wesens mittheilhaftig« (Fichte, 1876a, S. 276, § 118). In dieser Hinsicht ende die Verleiblichung der Seele nicht bloß bei der »Erbauung« ihres Organismus, sondern dauere sie unablässig »in allen Ernährungs-, Wiederherstellungs- und Selbstheilungsprocessen« fort (Fichte, 1876a, S. 279, § 120). Letztlich weist Fichte (1876a) darauf hin, dass der Organismus, welcher durch die Verleiblichung hervorgebracht wird, gemäß der »vorbildlichen Eigenthümlichkeit« des entsprechenden Wesens gebildet werde (S. 278, § 120). Diese dritte Bedeutung der Verleiblichung bezieht sich demnach auf die apriorische Spezifität der sich verleiblichenden Wesenheit. Durch die Darstellung dieser zwei letzten Bestimmungen des Begriffs der Verleiblichung ist die Argumentation jedoch vorschnell vorangegangen, insofern dabei die Begriffe der Substantialität, der Individualität und der Präexistenz der Seele mitenthalten sind, wel-

welt nebst Raum und Zeit aus sich selbst und zwar völlig unabhängig von der Materie erzeugen und hervorbringen« (Fortlage, 1856, S. 634). Durch diese Auffassung Fichtes »gelangt also die ursprüngliche Wissenschaftslehre hier aufs neue zu ihrem Rechte, und wir mögen es nicht verhehlen, daß unser Herz bei diesem Gedanken in frohe Bewegung kommt« (Fortlage, 1856, S. 634). Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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che erst im Laufe der nächsten Teile dieser Arbeit näher betrachtet werden sollen. Da die Substantialität eng verbunden mit der Realität der Seele ist, gilt es nun, die mit der Substantialität zusammenhängenden Bestimmungen darzustellen.

4.2.1.2 Die substantiellen Bestimmungen der Seele

Bei der Erörterung des Begriffs der Realität der Seele haben sich zusätzliche Bestimmungen ergeben, welche über den Begriff der reinen Realität hinausgehen. Der Begriff der Realität der Seele beschränkt sich strikt darauf, die Bedingungen ihrer Existenz unter dem Aspekt des Kategorienverhältnisses zwischen Qualität und Quantität nachzuweisen. In dieser Hinsicht ist der Seele insofern Realität zuzuschreiben, als sich der Leib als eine Entität erweist, welche, indem ihr quantitative Bestimmungen zukommen, nur als die raumzeitliche Form der sich unmittelbar in dieser Form ausdrückenden Seele zu betrachten ist. Dementsprechend besteht die Realität der Seele in der Setzung und Erfüllung ihrer Raumzeitlichkeit. Nun hat es sich ergeben, dass der Begriff der Realität der Seele einen Verwirklichungsprozess impliziert, bei welchem sich die Seele ihren raumzeitlichen Leib gemäß ihrer qualitativen Eigentümlichkeit bildet. Zur Erklärung dieses Verwirklichungsprozesses bedarf es jedoch anderer Bestimmungen, welche sich nicht nur auf das Verhältnis zwischen Qualität und Quantität beziehen und welche insofern mehr als die reine Realität der Seele erweisen. Bei der Erörterung des Begriffs der Verleiblichung wurde nämlich angedeutet, erstens dass die Mannigfaltigkeit von den Leib bildenden Elementen eine organisierende Einheit impliziert, zweitens dass dem ganzen System von Verwirklichungsformen ein beharrliches Substrat zugrunde liegt, und letztlich dass jener Verleiblichungsprozess nur durch eine selbstschöpferische und selbstverwirklichende Kraft zustande kommen kann. Die Bestimmungen der Einheit, des Substrates und der Kraft erweisen demnach nicht nur die Realität, sondern auch die Substantialität der Seele.

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4.2.1.2.1 Die Seele als einendes Prinzip 4.2.1.2.1.1 Einheit in der Mannigfaltigkeit Der Leib als die raumzeitliche Form der Seele zeigt nicht nur eine Mannigfaltigkeit von stofflichen Elementen, sondern auch eine Mannigfaltigkeit von leibseelischen Eigenschaften. Trotzdem zeigt sich diese Mannigfaltigkeit von Elementen und Eigenschaften als eine organisierte Einheit. Aus Fichtes Kritik des Materialismus hatte sich ergeben, dass eine solche Einheit nicht aus der zufälligen Zusammensetzung der einzelnen Elemente entstehen kann, sondern dass sie der Vereinigung jener Elemente vorangehen muss. Insofern diese Einheit nicht eine bloße Juxtaposition, sondern vielmehr eine Durchdringung und Verflechtung ihrer Teile impliziert, welche nur auf den Begriff der Substanz zurückzuführen sei, versucht Fichte, unter dem Aspekt des Verhältnisses von Einheit und Mannigfaltigkeit für die Substantialität der Seele zu argumentieren. Gemäß dem Argument Fichtes komme der Seele insofern Substantialität zu, als sie das einende Prinzip der sich in der leibseelischen Entität darstellenden Gegensätze und Unterschiede ausmache. Nun weist er darauf hin, dass die Einheit nicht als Einfachheit zu verstehen sei, als wäre die Seele in ihrer Einheit zugleich qualitativ unterschiedslos. Stattdessen behauptet Fichte, dass die sich in der leibseelischen Entität zeigenden Unterschiede in der Form einer Entfaltung qualitativer Urpositionen bzw. potenzieller Uranlagen aus der ursprünglichen Einheit hervorgehen. Einheit und Mannigfaltigkeit stehen demnach in keinem äußerlichen Verhältnis, sondern sie bedingen sich gegenseitig. Als das »Ur- und Grundwunder alles Daseins« bezeichnet Fichte nämlich die Sachlage, dass »das Eine zum Mannigfaltigen wird, und das Mannigfaltige wiederum doch nur Eines ist« (1832g, S. 63, 1855a, S. 214). Dementsprechend sei die Einheit »als solche, d. h. als wirksam vereinende, ihr Mannigfaltiges, indem sie, als Eine und ganze, allen ihren einzelnen Verwirklichungen gegenwärtig ist, und, jeder Bestimmtheit gegenüber, in welche sie sich verwirklichend eingeht, das real Mögliche des Gegensaßes bleibt« (Fichte, 1836a, S. 369–370, § 211). Wenn sich die Einheit des leibseelischen Organismus sodann nicht bloß als phänomenales »Product einer Verbindung anderweitiger Urqualitäten oder Stoffe« erweist (Fichte, 1876a, S. 272, § 116), sondern vielmehr aus einem die Mannigfaltigkeit hervorbringenden und einenden Prinzip hervorgeht, so ist dieses

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Einheitsprinzip einer substantiellen Urposition zuzuschreiben, welche in diesem Zusammenhang als die Seele zu bezeichnen ist. Aus dem Vorhergehenden wird der Begriff der Verleiblichung verständlicher. Die Realität der Seele wurde vorher als die Setzung und Erfüllung ihrer Raumzeitlichkeit definiert. In jenem Zusammenhang blieb es jedoch unerklärt, wie die Kohäsion und Verflechtung der stofflichen Teile des raumzeitlichen Leibes möglich sind. Es wurde nämlich nur auf die qualitative Affinität der sich als Materien verwirklichenden Urpositionen hingewiesen. Im gegenwärtigen Zusammenhang lässt es sich nun hinzufügen, dass diese Affinität eine ursprüngliche Einheit impliziert, welche im Begriff der Substanz begründet sei. Durch den Begriff der Substantialität wird demnach die Tatsache einer kohäsiven Verleiblichung verständlich, insofern die substantielle Seele bei ihrer Verleiblichung die Mannigfaltigkeit ihrer Uranlagen aus ihrer ursprünglichen Einheit hervorgehen lasse und außerdem die Mannigfaltigkeit von stofflichen Elementen, welche zu ihrer Verleiblichung dienen, in ihren organisierenden und einheitsstiftenden »Kreis« assimiliere. 4.2.1.2.1.2 Die dynamische Allgegenwart der Seele im Leib Für die Substantialität der Seele als eines einenden Prinzips sprechen für Fichte nicht nur logische und ontologische Gründe, sondern auch physiologische Tatsachen. Die organisierende und einheitsstiftende Funktion der Seele konzeptualisiert Fichte in seiner Theorie der dynamischen Allgegenwart der Seele im Leib. 190 Ausgehend von seiner idealrealistischen Konzeption des Verhältnisses von Leib und Seele steht für Fichte fest, dass die Seele dynamisch ihren Leib hervorbringt und durchdringt. Bei diesem Verhältnis kann es sich demnach nicht um die äußerliche Verbindung zweier gegensätzlichen Substanzen handeln, sondern vielmehr ist der Leib für Fichte eben die Seele in ihrer unmittelbaren raumzeitlichen Form. In diesem Sinne umfasst Fichtes Seelenbegriff sowohl die organischen als auch die geistigen Funktionen, sodass sich die Wirksamkeit der Seele durch den ganzen Leib hindurchzieht und insofern der ganze Leib als das Organ der Seele betrachtet werden muss. Um diese Ansicht plausibel zu machen, bring Fichte bestimmte physiologische Tatsachen in Betracht, welche nicht eine punktuelle, sonZu Fichtes Begriff der dynamischen Allgegenwart der Seele im Leib vgl. auch Stern (1967, S. 153–158).

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dern eine dynamische Immanenz der Seele im ganzen Organismus belegen. Insofern der Leib als ein System von Organen eine harmonische Einheit bildet, ist für Fichte die harmonisierende und einende Wirkung der Seele im ganzen Leib zu konstatieren. In dieser Hinsicht gilt die Seele als die »organische Kraft« (Fichte, 1876a, S. 307, § 132), welche jedem Element, jedem Organ und jeder Funktion des Organismus systemische Einheit und Harmonie verleiht. In diesem Sinne zeigt sich eine völlige Durchdringung dieser organischen Seele im Organismus, welcher sodann in seiner Ganzheit das Organ der Seele bilde. Nun weist Fichte (1876a) darauf hin, dass innerhalb des Organismus dem Nervensystem eine vermittelnde Funktion zukomme, indem die Seele »nur mittels der Nerven« im Leib wirken könne (S. 307, § 132). Als notwendige – nicht aber hinreichende – Bedingung sowohl der organisch-unbewussten als auch der geistig-bewussten Wirkungen der Seele bilde das ganze Nervensystem im engeren Sinne ihr Vermittlungsorgan. Da Fichte die organisch-unbewussten Funktionen auch als seelische Wirkungen betrachtet, impliziert seine Behauptung, dass das Nervensystem das Vermittlungsorgan der Seele sei, eben nicht, dass es das ausschließliche Zentralorgan der Seele sei. Gemäß dem Seelenbegriff Fichtes bilden demnach die organischunbewussten und die geistig-bewussten Funktionen der Seele ein Kontinuum, welches sich im ganzen Organismus widerspiegele: Vielmehr ist, um unsere Meinung auf die Spiße zu stellen, die Seele eben so wesentlich in den organischen Funktionen des Blutumlaufs oder der Verdauung thätig, als in den geistigen des Fühlens und Denkens; nur reichen jene nicht an die bewußte Seite der Seele hinan, welche der Gipfel, nicht aber die ganze Wirklichkeit derselben ist (Fichte, 1833b, S. 30, § 26, Anm.).

Auf diese Weise erweitert Fichte den Seelenbegriff der gewöhnlichen Psychologie, welche – wie weiter oben gesagt – den Begriff der Seele mit dem Begriff des Bewusstseins identifiziert hatte. Gemäß dieser Ansicht mache das Gehirn das ausschließliche Organ der Seele aus, denn sie ist nur als bewusste, nicht als organische Seele verstanden. Auch wenn Fichte zugibt, dass das Gehirn ein Vermittlungsorgan bei den Bewusstseinsfunktionen der Seele ausmache, lehnt er jedenfalls die influxustheoretische These eines »Sitzes« oder eines Zentralorgans der Seele ab, der zufolge sie in ihrer Ganzheit nur eine einzige Stelle des Gehirns bewohne. Demgegenüber zeigen der Organismus und das Nervensystem für Fichte keinen anatomischen Mittelpunkt Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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der seelischen Wirkungen. In der Tat stellt er aus physiologischen Resultaten die »Unwahrscheinlichkeit der Annahme« fest, »dass alle peripherisch erregten Empfindungen schliesslich an einer einzigen Stelle, als dem gemeinsamen Sensorium commune, zusammenlaufen, während zugleich aus demselben Brennpunkte aller Seelenwirkungen, als dem Motorium commune, alle Willenserregungen ausgehen sollen« (Fichte, 1864a, S. 44, § 52). Im Gegensatz zu dieser Ansicht konstatiert Fichte angesichts der strukturellen und funktionellen Beschaffenheit des menschlichen Nervensystems eine »Deszentralisation« seines organisierenden Prinzips. In diesem Sinne macht das Nervensystem für Fichte zwar das Vermittlungsorgan der Seele, jedoch zeigt seine strukturelle und funktionelle Beschaffenheit die Abwesenheit eines anatomischen Zentrums, was laut Fichte auf ein immanentes Einheitsprinzip hinweise. Die angedeutete Deszentralisation der Seele schließt Fichte nämlich aus den Phänomenen der funktionellen Verteilung und der strukturellen Stellvertretung im Nervensystem. In Hinsicht erstens auf den Begriff der funktionellen Verteilung weist Fichte auf die Tatsache hin, dass das Nervensystem aus verschiedenen Organen bestehe, welche bestimmte ihnen entsprechende Funktionen erfüllen. Unter diesem Gesichtspunkt bilde das Nervensystem ein »System verschiedener relativer Nervencentren« (Fichte, 1876a, S. 310, § 133). Keins dieser Zentren und Organe erhebe sich jedoch als das Zentralorgan überhaupt über die anderen. In diesem Sinne zeigt das Nervensystem nicht nur eine funktionelle Verteilung, sondern auch eine systemische Harmonie ohne ein anatomisches Zentrum – denn selbst das Gehirn, welches man vielleicht als das Zentralorgan zu bezeichnen geneigt wäre, zeigt eine funktionelle Verteilung. Die trotz der Abwesenheit eines anatomischen Zentrums immerhin evidente gegenseitige Ergänzung, Bedingung und Koordination aller Teile des Gehirns und des Nervensystems werden demnach von einem mechanisch deszentralisierten, aber in allen diesen Teilen dynamisch gegenwärtigen und wirksamen Einheitsprinzip, nämlich der Seele, verleiht. In Hinsicht zweitens auf den Begriff der strukturellen Stellvertretung weist Fichte auf die Tatsache hin, dass die an bestimmten anatomischen Teilen des Gehirns geknüpften Funktionen beispielsweise bei Verletzung dieser Teile von anderen Teilen stellvertretend erfüllt werden können. In Hinsicht auf pathologische und experimentelle Beobachtungen von »Degenerationen und Verletzungen wichtiger 272

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Beweis der Wesensapriorität und der Unvergänglichkeit der menschlichen Seele

Hirntheile« weist Fichte (1864a) auf die »merkwürdige Thatsache« hin, »dass bei der fast durchgängigen paarigen Beschaffenheit der Organe des Cerebrospinalsystemes, die eine Hälfte allein noch zu hinreichenden Leistungen befähigt sei« (S. 45, § 52). In solchen Fällen lasse sich beobachten, dass der Organismus »mit geschwächten oder verkürzten Apparaten doch noch der Gesundheit analoge Wirkungen hervorzubringen« vermöge (Fichte, 1864a, S. 45, § 52). Aus diesen Tatsachen folgert Fichte (1864a), dass der Organismus »nicht blos eine zu unveränderlichen Wirkungen und nur zu diesen eingerichtete fertige Maschine, sondern ein höchst modificables Werkzeug« sei (S. 45, § 52). Folglich scheint die Verknüpfung zwischen Funktion und Struktur nicht rigide zu sein. Stattdessen zeige die Plastizität des Gehirns, dass nicht die Struktur bzw. das Organ die Funktion verursacht und bestimmt, sondern vielmehr, dass die Einheit der Seele das organisierende und gestaltende Prinzip ausmache, welches sich an den modifizierten Bedingungen anpassend »die organischen Functionen fortzuführen weiss« (Fichte, 1864a, S. 45, § 52). Auch in diesem Zusammenhang lässt sich ein mechanisch deszentralisiertes, aber in allen Teilen des Organismus dynamisch gegenwärtiges und wirksames Einheitsprinzip konstatieren. Aus der Tatsache der Deszentralisation schließt Fichte sodann die dynamische Allgegenwart der Seele im Leib, welche darin besteht, dass die Seele, »als ganze harmonisirende Thätigkeit, … ebenso in jedem Theile ihres Leibes vollständig gegenwärtig« sei (Fichte, 1876a, S. 307, § 131). Diese Gegenwart der Seele im Leib ist jedenfalls nicht so zu verstehen, dass die Seele innerhalb des Leibes neben anderen Teilen ist, denn dieser Leib sei eben ihre Wirklichkeit und ihr Produkt. In dieser Hinsicht weist Fichte (1876a) darauf hin, dass die Seele sowohl »die Ausdehnung ihres Leibes« bewirke als auch »die trennende Bedeutung dieses Ausgedehntseins überwindet« (S. 307, § 131). Die dynamische Wirkung der Seele bestehe demnach darin, dass die Seele aus ihrem qualitativen Wesen ihren raumzeitlichen Leib tatkräftig hervorbringe und durchdringe, ohne dabei in der Teilbarkeit des Raumes und in der Endlichkeit der Zeit aufzugehen, sondern die Raumzeitlichkeit, da sie lediglich das unmittelbare Produkt ihrer Quantitierung ist, ständig hervorbringend und überwindend. Der Begriff der dynamischen Allgegenwart der Seele bezieht sich demnach auf die Sachlage, dass der Grund der Einheit und der Harmonie des Organismus nur in einer Organisationskraft liege, welche ihn hervorbringt und durchdringt. Diese Organisationskraft bestehe Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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jedoch nicht in einer feinstofflichen Materie, sondern sie sei nur als die Eigenschaft einer »reale[n] Substanz« zu betrachten (Fichte, 1876a, S. 310, § 133). Bis zu diesem Punkt lässt sich feststellen, dass das Einheitsprinzip als die erste Bestimmung des Begriffs der Substantialität der Seele gilt. Nun wurde es bei der vorhergehenden Erörterung eine zweite Bestimmung implizit angenommen. Indem die Einheit in der Mannigfaltigkeit identisch mit sich bleibt, lässt sich behaupten, dass dem Wechsel der Verwirklichungsformen ein beharrliches Substrat zugrunde liegt. 4.2.1.2.2 Die Seele als beharrliches Substrat Aus denselben Tatsachen, welche auf eine substantielle Einheit in der Mannigfaltigkeit hinwiesen, schließt Fichte eine substantielle Beharrlichkeit im Wechsel. Der Mannigfaltigkeit von Eigenschaften, welche dem Wechsel unterworfen ist, liege nämlich nicht nur ein Einheitsprinzip, sondern auch ein ihr gemeinsames und sie tragendes Substrat zugrunde. Während sich die leibseelischen Eigenschaften ständig verändern, bleibe die Seele als das zugrunde liegende Substrat in ihrer Substantialität unverändert. Unter diesem Gesichtspunkt gewinnt der Begriff der Wirklichkeit der Seele eine nähere Spezifizierung. Laut Fichte erschöpfe sich der Begriff der Wirklichkeit der Seele nicht nur im Begriff des raumzeitlichen Leibes, sondern er stehe in enger Verknüpfung mit dem Begriff der Möglichkeit. Das Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit fasst Fichte somit nicht als einen Gegensatz auf, als gehe die Möglichkeit nach der Verwirklichung völlig in der Wirklichkeit auf und als stehen sodann beide Begriffe gegensätzlich außer einander. Stattdessen weist Fichte darauf hin, dass Möglichkeit und Wirklichkeit im Begriff der Substantialität der Seele in enger Verknüpfung und Durchdringung stehen. In diesem Sinne behauptet er, dass die Seele in ihrer Wirklichkeit von der Möglichkeit ständig begleitet werden müsse, denn »[i]n der Wirklichkeit selbst ist die unendliche Möglichkeit des Grundes zugleich vorhanden« (Fichte, 1836a, S. 363, § 207). Der Seele sei demnach nur dann wahre Wirklichkeit zuzuschreiben, wenn sie »ein real Mögliches in sich zurückbehält«, welches als die innewohnende und begleitende »ideelle Totalität seines Wesens« (Fichte, 1836a, S. 354, § 202) die leibliche Wirklichkeit der Seele aus ihrer »unaufhörlich schöpferische[n] That« hervorbringe und zusammenhalte (Fichte, 1836a, S. 363, § 207). Nur durch die Ein274

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heit von Möglichkeit und Wirklichkeit lasse sich die dynamische Gegenwart und die substantielle Beharrlichkeit der Seele im Leib denken. Wenn erstens die Idealität und die Möglichkeit nur als Bestimmungen einer substantiellen Urposition zu betrachten seien und zweitens die Idealität und Möglichkeit die wechselnde Realität und Wirklichkeit der Seele in allen ihren Verwirklichungen und Umwandlungen begleiten, so sei der dem Wechsel unterworfene Mannigfaltigkeit von Eigenschaften eine substantielle Urposition als ihr unwandelbarer Grund zugrunde zu legen, welche folglich nicht nur das organisierende und einende Prinzip, sondern auch das tragende und beharrliche Substrat der Eigenschaften und Umwandlungen ausmache, welche jene Urposition – die Seele – bei ihrer Verleiblichung hervorbringt und in ihrer Existenz zusammenhält. In der vorhergehenden Erörterung der Begriffe der Realität und der Substantialität wurde es mehrmals auf den Begriff der Verleiblichung hingewiesen, dem zufolge sich die Seele durch Selbstbehauptung ihren Leib bildet und hierbei ihren Raum und ihre Zeit setzt und erfüllt. Gemäß des den Atomismus und den Dynamismus versöhnenden Idealrealismus Fichtes – wie weiter oben skizziert – impliziere die Selbstverwirklichung einer qualitativen Urposition eine sie verursachende Kraft. In dieser Hinsicht wurde es implizit angenommen, dass dem Begriff der Substantialität der Seele außer der Einheit und der Beharrlichkeit nämlich die Kraft als eine dritte Bestimmung zukomme. Diese wird nun in Betracht gezogen. 4.2.1.2.3 Die Seele als selbsterhaltende Kraft Da der Verleiblichungsprozess eine tatkräftige Verursachung impliziert, ist der Begriff der Kraft darin enthalten. In diesem Sinne wird der substantiellen Urposition das Vermögen zugeschrieben, die Verwirklichung ihres Wesens und die Entfaltung der darin latenten Uranlagen aus eigener Kraft hervorzubringen. Insofern jeder substantiellen Urposition eine spezifische qualitative Bestimmtheit zukomme, sei jeder eine entsprechende Selbständigkeit zuzuschreiben. Nun stehen alle qualitativ bestimmten und selbständigen Urpositionen in einem bestimmten – ergänzenden oder ausschließenden – Verhältnis zueinander. Durch die Art von Verhältnis, in welches die Urpositionen gemäß ihren jeweiligen Bestimmtheiten treten, werden sie laut Fichte zu Kräften. Indem sie sodann zu Kräften werden, treten sie zugleich in Wechselwirkung miteinander. Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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In diesem Sinne verleihe die Kraft den Urpositionen das Vermögen der »Wirksamkeit durch specifische Qualität in sein Anderes« (Fichte, 1836a, S. 436, § 249). Im Wechselspiel von Wirkung und Gegenwirkung unter den Wesen zeige sich laut Fichte eine bestimmte Grundkraft, welche in der Selbständigkeit aller Wesen zu wurzeln scheint und welche im Übrigen als eine längst konstatierte biologische Tatsache gilt. Dabei handele es sich nämlich um die Kraft, das eigene Wesen in seiner Integrität gegen die von einem anderen Wesen ausgeübte Irritation zu erhalten. Die Tatsache, dass die Wirkungen eines Wesens darauf abzielen, sich am Leben zu erhalten, legt für Fichte nahe, dass ein solches Streben nur der tatkräftige Ausdruck einer selbständigen Substanz sein müsse. In diesem Sinne sei die »Widerstands-, Selbsterhaltungskraft jedes Realen« für Fichte »unabtrennlich vom vollständig und gründlich gedachten Begriffe der Substantialität« (Fichte, 1864a, S. 78, § 7). Den Bestimmungen der Einheit in der Mannigfaltigkeit und der Beharrlichkeit im Wechsel schließt sich demnach die Bestimmung der Kraft als Grundbestimmung des Begriffs der Substantialität an. In diesem Sinne sei die Seele insofern als ein substantielles Wesen zu bezeichnen, als sie als ein die Mannigfaltigkeit einendes Prinzip, ein dem Wechsel zugrundeliegendes beharrliches Substrat und eine in der Wechselwirkung unter den Wesen selbsterhaltende Kraft zugleich sich erweist. Die bisher dargestellten substantiellen Bestimmungen teilt die menschliche Seele mit allen lebendigen Wesen, sodass sich die Frage stellt, wie sich die menschliche Seele in Hinsicht auf ihr substantielles Wesen von anderen Wesen unterscheidet. Diese Frage versucht Fichte unter dem Aspekt der »Progressivität« der menschlichen Seele zu beantworten. 4.2.1.2.4 Die Seele als progressives Wesen Laut Fichte bestehe die menschliche Seele nicht nur in einer selbsterhaltenden, sondern auch in einer progressiven Substanz. In Hinsicht auf die Selbsterhaltungskraft gelte der Mensch als ein Naturwesen, welches mit dem Grundtrieb ausgestattet sei, sowohl sein einzelnes als auch sein generisches Leben zu behaupten und zu erhalten. Das »leßte[] Ziel« dieses Grundtriebes bestehe demnach »in der Doppelerhaltung des Individuums und der Gattung« (Fichte, 1870a, S. 24). Insofern seine Substantialität nur auf diese Selbsterhaltungskraft beschränkt bleibt, gehe der Mensch nicht über den »Kreis276

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lauf der Natur« hinaus, welche in ihrer Vollkommenheit »keines Fortschreitens und keiner Nachbesserung« bedürfe und insofern sich selbst »ins Unendliche« wiederhole (Fichte, 1867, S. 22, § 34). Nun will Fichte mit dem Begriff der Progressivität der Seele auf die Sachlage hinweisen, dass der Mensch nicht nur ein im Kreislauf der Natur bleibendes und selbsterhaltendes Gattungswesen ist (Fichte, 1869c, S. 271), sondern auch und vor allem ein an der Idealität teilnehmendes Wesen, durch welche er den Kreislauf der Natur durchbreche und in den Prozess der Kultur eintrete. »Seine Substantialität, dürfen wir behaupten, ist ›progressiver‹ Natur« (Fichte, 1869c, S. 272). Die progressive Substantialität seiner Seele verleihe dem Menschen demnach einerseits das »Vermögen fortschreitender Selbstentwickelung«, wodurch er zu einem »kulturfähigen« und »perfektiblen« Wesen werde, und andererseits das Vermögen der ideellen Innovation und Kreativität, wodurch er zu einem »geschichtsbildenden« Wesen werde (Fichte, 1869c, S. 271–272). In Hinsicht auf sein perfektibles Wesen sei es dem Menschen möglich, seine Anlagen, Fähigkeiten, Werte und Sitten durch Bildung und Kultur zu kultivieren und zu entwickeln, während es ihm in Hinsicht auf sein geschichtsbildendes Wesen außerdem möglich sei, »Geistesschöpfungen« hervorzubringen (Fichte, 1876a, S. 599, § 260) und hierbei durch den damit in die Kultur eingefügten neuen ideellen Gehalt den Kreislauf der Natur durchzubrechen und Geschichte zu bilden (Fichte, 1867, S. 22, § 34). Fichte weist ferner darauf hin, dass diese »eigentlich menschliche Leistung«, durch welche er sich von der Natur zur Kultur erhebt, nicht aus der Gattung, sondern nur aus dem Individuum hervorgehen könne (Fichte, 1867, S. 34, § 52). Laut Fichte könne nur das Individuum ideell kreativ bzw. geistig schöpferisch sein und nur aus dem Individuum könne sich »die neue Geistesoffenbarung« auf die Gattung »verbreiten« (Fichte, 1867, S. 34, § 52). In diesem Sinne ist der Begriff der Individualität die im Vorhergehenden implizit angenommene Bedingung der Möglichkeit der Progressivität der menschlichen Seele. Die Individualität der Seele soll im Folgenden näher betrachtet werden.

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4.2.2 Die Individualität der menschlichen Seele 4.2.2.1 Ontologische Einzelheit

Der Begriff der Individualität lässt sich schon im Argument für die Realität und Substantialität der Seele finden. Bei der Erklärung des Begriffs der Verleiblichung, dem zufolge sich eine qualitative Urposition ihre quantitative Form gebe, wurde der Begriff der Individualität nämlich unter dem Namen der Eigentümlichkeit und Identität jener Urposition implizit angenommen. Insofern einer Urposition ein spezifischer, sich in seiner spezifischen Form verwirklichender Gehalt zukomme (Fichte, 1836a, S. 260, § 159), welcher ihr nämlich Eigentümlichkeit und Identität verleihe und sie von anderen Urpositionen unterscheidet, darf man der Urposition Einzelheit bzw. Individualität zuschreiben. In dieser Hinsicht sei die Urposition zugleich als Monas zu bezeichnen: Jene Urposition demnach, von der wir ausgingen, wie sie als Einheit in Mannigfaltigkeit, damit aber als Totalität ihrer Momente oder Monas sich ergab, wird dadurch zugleich ein schlechthin Individuelles, theils insofern sie ein durchaus Eigenthümliches und nur sich selbst Gleiches, theils insofern sie absolut sich behauptend und gleichbleibend in dieser Eigenthümlichkeit erfunden wird, weil ihre Mannigfaltigkeit, unabtrennlich von einander, selbst ihr inneres Band sind (Fichte, 1836a, S. 401, § 227).

Dieser rein ontologische und mithin negative Begriff der Individualität ist für Fichte zwar gültig, jedoch ungenügend, um die Individualität und Persönlichkeit der Seele gründlich zu verstehen und zu belegen. In diesem Sinne legt Fichte größeren Gewicht auf den erfahrungsmäßigen und mithin positiven Beweis erstens der natürlichen Individualität und zweitens der geistigen Persönlichkeit des Menschen. Fichtes Argument läuft im Endeffekt auf den Begriff der Persönlichkeit bzw. des Genius als des geistig individualisierten Grundes jedes Menschen hinaus.

4.2.2.2 Natürliche Individualität

Fichtes anthropologisches Argument für die Individualität der Seele nimmt als seinen Ausgangpunkt die »Naturseite« des Menschen und betrachtet ihn in erster Instanz »als seelisches Individuum« (Fichte, 278

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1851, S. 21, § 6). Als seelisches Individuum lässt sich nämlich jedes organische Wesen bezeichnen, insofern ein solches Individuum für Fichte die »Untheilbarkeit des seelisch-Leiblichen« ist, wie sie sich »in jeder abgeschlossenen Organisation von der Pflanze bis hinauf zu den höhern Thieren in Abstufung« zeige (Fichte, 1855a, S. 115). Indem der Mensch eben eine unteilbare Einheit von Leib und Seele darstellt, ist er folglich als ein Individuum zu bezeichnen. Nun weist Fichte darauf hin, dass der Mensch unter dem Aspekt seiner Naturseite als ein Sinnen- und Triebwesen erscheine. Der Mensch zeige nämlich eine Mannigfaltigkeit von »natürlichen Instincte[n] und unwillkürlichen Verrichtungen«, welche jedoch der »Ausdruck« eines Grundtriebes seien (Fichte, 1851, S. 21, § 6). Dieser Grundtrieb sei nämlich der Selbsterhaltungstrieb, welcher »in der Doppelerhaltung des Individuums und der Gattung ihr leßtes Ziel und ihre volle Bestimmung« finde (Fichte, 1870a, S. 24) – was weiter oben als Selbsterhaltungskraft bezeichnet wurde. »[D]ie vielartigen Instincte« des Menschen »beziehen sich lediglich auf seine Selbsterhaltung als Einzelner oder als Gattung« (Fichte, 1851, S. 22, § 6). Dieser Grundtrieb bzw. diese Grundkraft des Naturindividuums sei zwar in jedem Gattungsexemplar individualisiert, jedoch stellt Fichte bei näherer Beobachtung fest, dass im Vergleich zum »Individualitätstrieb« der »Geschlechtstrieb« sich »als die mächtigste und tiefgreifendste Gestalt des Selbsterhaltungstriebes« erweise, »weil in ihm nicht bloß das Individuum, sondern das Geschlecht sich bejaht« (Fichte, 1870a, S. 23). Die instinktive Natur des Menschen belege demnach die Existenz eines individualisierten Naturwillens. Auch wenn diese instinktive Natur in individueller Form erscheinen muss, sei der Mensch als Sinnen- und Triebwesen jedenfalls »noch nicht eigentlich individualisiert« (Fichte, 1870a, S. 24) – was auf eine höhere Bedeutung des Begriffs der Individualität hinweist. In dieser Hinsicht sei der Doppeltrieb, d. h. der Selbsterhaltungstrieb in seiner doppelten Richtung, das Individuum und die Gattung zu erhalten, nämlich »Allen ohne Unterschied gemeinsam« (Fichte, 1870a, S. 24). In diesem Sinne erscheint der Selbsterhaltungstrieb zwar in individueller Form, jedoch liege »[d]ie individuelle Verschiedenheit jenes Doppeltriebes« unter den Wesen »lediglich in der relativen, größern oder geringeren Stärke, mit der sie im Bewußtseyn der verschiedenen Individuen sich geltend machen« (Fichte, 1870a, S. 24). Der Selbsterhaltungstrieb belegt demnach zwar die Realität und Substantialität einer individuellen Urposition bzw. einer Monas Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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– wie weiter oben dargestellt –, jedoch reiche er nicht hin, um die eigentliche Individualität, wie sie sich im Menschen erweist, gründlich und befriedigend zu erklären. Selbst wenn andere anthropologische Bestimmungen der Individualität des Menschen berücksichtigt würden, bleibe ihr eigentlicher Grund verborgen. Unter solchen anthropologischen Bestimmungen, welche Hegel – wie weiter oben im Kontext von Fichtes Kritik am identitätsphilosophischen Monismus erwähnt – als das individualisierende Moment des Geistes bezeichnet, erwähnt Fichte einige Faktoren des Erbguts und der Umwelt, wie beispielsweise die »Geschlechtsdifferenz«, die »Racen- oder Volksabstammung«, das »Verhältniss zu Klima und Boden« und die »überlieferte Lebensweise und Beschäftigung« (Fichte, 1851, S. 22–23, § 6). Nun stellt Fichte (1851) fest, dass diese anthropologischen Bestimmungen zwar zur Individuation des Menschen beitragen, jedoch »nicht geistige Bestimmungen seiner Individualität seien« (S. 23, § 6). Die Individualität wird für Fichte (1876a) demnach nicht durch die Naturbestimmtheit des Menschen hervorgebracht, sondern es lasse sich in der Natur ein steigerndes »individualisirende[s] Princip« beobachten, welches sich desto kraftvoller zeige, »[j]e höher das organische Leben steigt«, bis es letztendlich im Menschen seinen Gipfel erreiche (S. 547, § 230). Bei der Vollendung dieses »Gesetz[es] der Individuation« im Menschen erscheine er nämlich nicht bloß als »gleichartiges Exemplar seiner Gattung« oder als »blosses Geschlechtsindividuum«, sondern als ein »geistig individualisirt[es]« Wesen (Fichte, 1876a, S. 547, § 230). Durch die geistigen Bestimmungen seiner Individualität erhebe sich der Mensch demnach von der natürlichen Individualität zur geistigen Persönlichkeit.

4.2.2.3 Geistige Persönlichkeit (Genius) 191

Nach der Betrachtung des Menschen unter dem Aspekt seiner Naturbestimmtheit erweitert Fichte (1864a) die Perspektive, um nun auch

Zu Fichtes Begriff der menschlichen Persönlichkeit vgl. auch Horstmeier (1930, S. 28–65). Dabei unterscheidet Horstmeier bestimmte »Wesenszüge der individuellen Persönlichkeit«, wie das Bewusstsein, die geistige Eigenart, die Freiheit, die sittlichreligiöse Entwicklung und die Unsterblichkeit. Zum »realphilosophischen Begriff vom Menschen« vgl. Ebert (1938, S. 43–82).

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seine »Geistes-, allgemeiner noch Seelenthätigkeiten« umzufassen (S. 72, § 2). Diesbezüglich weist Fichte (1864a) darauf hin, dass solche Tätigkeiten »durchaus geknüpft an den individuellen, völlig geschlossenen Mittelpunkt eines Realwesens« erscheinen (S. 72, § 2). Diese Beobachtung macht demnach den Anfangspunkt dieses Teiles der Betrachtung Fichtes aus. Angesichts dieser Tatsache fragt sich Fichte (1864a) sodann, ob die faktische Erscheinung des Individuums »nur von phänomenaler« oder »von realer Bedeutung« sei (S. 72, § 2). Diese Frage geht aus dem Bedenken hervor, dass die Erscheinung des Menschen in individueller Form sowie der Zentralität seines Selbstbewusstseins im Endeffekt lediglich das zufällige Produkt anderer Ursachen sein können. Gemäß diesem Bedenken können die Individuen nämlich das zufällige Produkt entweder materieller Verhältnisse oder eines allgemeinen Geistes sein, welcher sich durch die erwähnten anthropologischen Bestimmungen in einer Mannigfaltigkeit von Individuen instanziiert, welche an sich jedoch keine Substantialität hätten. In beiden Fällen könnte zwar eine Substantialität erwiesen werden, jedoch wäre die Individualität nur ein Schein. In diesem Sinne fragt sich Fichte, ob der Mensch schon in seiner Substantialität als ein individuelles Wesen gilt. Bis zu diesem Punkt gibt es zwar gute ontologische und natürliche Gründe, um die Plausibilität einer gewissen Individualität zu behaupten, jedoch bleibt die Frage noch unbeantwortet, ob der Mensch geistig individualisiert sei, d. h. ob er im Grund seines Wesens schon Persönlichkeit sei. Zur Beantwortung dieser Frage führt Fichte morphologische, physiognomische und psychologische Gründe an, welche nun näher zu betrachten gelten. 4.2.2.3.1 Der Leib als »Vollgeberde« der Seele Aus dem Beweis der Realität und der Substantialität der Seele steht für den Beweis der Individualität als Prämisse fest, dass sich jedes Wesen seinen raumzeitlichen Ausdruck in seinem Leib gibt. In dieser Hinsicht weist Fichte (1864a) darauf hin, dass »[k]ein Seelen- oder Geistwesen … ohne ein genau entsprechendes, alle seine Eigenschaften und Veränderungen darstellendes Gegenbild in Raum und Zeit, d. h. ohne Seine ›Leiblichkeit‹« gedacht werden könne (S. 75, § 5). Dementsprechend sieht Fichte den unmittelbarsten Ausdruck und mithin ein erstes Belegstück der Individualität der Seele in der individuellen leiblichen Form des Menschen, welche auf die dem Leib entsprechende seelische Eigentümlichkeit schließen lasse. Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Aus dieser morphologischen und physiognomischen Perspektive gilt somit als allgemeines Prinzip, dass der pflanzliche, tierische und menschliche Organismus »bis in die kleinste und eigenthümliche Ausbildung nur das äusserlich verwirklichte Bild der Seeleneigenthümlichkeit« bzw. die »körperlich symbolisirte« Seele des entsprechenden Wesens sei (Fichte, 1876a, S. 556, § 235). Fichte (1864a) bezeichnet den Leib insofern »als ›Vollgeberde‹ seiner Seele«, als er »bis in das Kleinste hin das Gepräge ihrer Individualität« trage (S. 75, § 5). Da nun die Individualität der Seele »in stetiger Folge und mit Beharrlichkeit durch die ganze Dauer seines Lebens sich behauptet« (Fichte, 1864a, S. 75, § 5), erschöpft sich ihre »expressive« Tätigkeit nicht bloß in der Leibgestaltung, sondern sie liegt – so darf man folgern – auch allen bewussten und kommunikativen Funktionen der Seele zugrunde. In diesem Sinne beschränkt sich die Organisationskraft der Seele nicht bloß auf die Gestaltung des Leibes, als höre damit ihre Wirkung auf, sondern sie präge »unsere Stimmung und unsern Charakter, unsere Affecte und Leidenschaften dem äussern Leibe in mannichfachstem Körperausdruck, in Physiognomie und Geberde unaufhörlich und unwillkürlich« ein (Fichte, 1876a, S. 364, § 163). Diese unaufhörliche expressive Tätigkeit der Seele in »Physiognomie, mimischer Ausdruck und all dergleichen« versteht Fichte (1876a) demnach als eine »fortgesetzte Corporisation der Seeleneigenthümlichkeit« (S. 499, § 209), sodass solche Phänomene im Endeffekt ein Zeichen der sich ausdrückenden Individualität ausmachen. Angesichts all dieser morphologischen und physiognomischen Tatsachen stellt Fichte (1864a) sodann fest, dass »das Phänomen der Leiblichkeit« überhaupt »die Wahrheit des Individualismus aufs Eindringlichste bestätigt« (S. 75, § 5). 4.2.2.3.2 Das Selbstbewusstsein als »die höchste Form der Persönlichkeit« Zum ersten und unmittelbarsten Belegstück der Individualität der Seele fügt Fichte ein zweites hinzu. Dabei handelt es sich um eine zentrale psychologische Tatsache, welche historisch und systematisch ein Hauptproblem der Philosophie und der Psychologie bleibt. Die Frage nämlich nach der Tatsache des Selbstbewusstseins war im Rahmen der Kritik Fichtes eben der Lackmustest für alle Versuche, eine objektive Psychologie auf dem Standpunkt des identitätsphilosophischen Monismus zu gründen. In diesem Zusammenhang war es für Fichte von entscheidender Wichtigkeit, jene Versuche unter dem As282

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pekt der Frage zu würdigen, ob sie die Tatsache des Selbstbewusstseins befriedigend erklären können. Diesen Lachmustest – wie schon dargestellt – haben jene Versuche jedoch laut Fichte nicht bestanden. Die Ansicht, dass das individuelle Selbstbewusstsein ein vorübergehendes Moment eines allgemeinen Geistes sei, hielt Fichte für eine Verfälschung der psychologischen Tatsachen. Stattdessen hält Fichte das Selbstbewusstsein für den Ausdruck und den Beleg eines individuellen Geistes. Das Selbstbewusstsein besteht für Fichte in einem Bewusstseinszustand, in welchem ein leibseelisches Individuum eben seine Individualität mit Bewusstsein durchleuchtet und alle seine Zustände auf diesen Mittelpunkt bezieht und in der Einheit seiner Individualität zusammenfasst. Gerade diese psychologische Tatsache konnte laut Fichte auf dem Standpunkt des identitätsphilosophischen Monismus nicht befriedigend erklärt werden. Die Eigentümlichkeit dieses Bewusstseinszustandes versucht Fichte demnach nicht aus dem Begriff eines allgemeinen Geistes zu erklären, sondern demgegenüber aus dem Begriff der Persönlichkeit. Im Vorhergehenden wurde ein bestimmter Begriff der Individualität erläutert, welcher für jedes Naturwesen gültig ist. In diesem Sinne ist der Mensch unter dem Aspekt seiner Naturbestimmtheit in erster Instanz ein Individuum. Nun weist Fichte darauf hin, dass die Tatsache des Selbstbewusstseins dem Phänomen des Menschen eine bestimmte Qualität hinzufügt, welche nicht mehr auf den bloßen Begriff der natürlichen Individualität zurückgeführt werden könne. Folglich könne das Selbstbewusstsein nicht die Eigenschaft eines bloßen Naturindividuums sein. Stattdessen unterscheide sich der Mensch von den anderen Naturwesen eben durch das Selbstbewusstsein. Dieser Unterschied besteht nämlich darin, dass das Vermögen, kraft dessen die »Einheit des Individuellen« (Fichte, 1855a, S. 117) – sich selbst verdoppelnd – auf sich selbst reflektiert und sich selbst durchleuchtet, auf ein höheres Prinzip hinweise. Den Akt des Selbstbezuges und des Selbstbewusstseins könne nämlich nur der Geist vollziehen, welchem eben die Form der Persönlichkeit zukomme und welcher sich im Selbstbewusstsein zu seinem höchsten formalen Ausdruck erhebe. In diesem Sinne komme im Zustand des Selbstbewusstseins nicht bloß die natürliche Individualität, sondern die Persönlichkeit des Menschen zum Ausdruck. Zur Persönlichkeit müsse der Mensch, welcher »auf der Anfangsstufe seiner Entwickelung lediglich Individuum« sei, jedenfalls Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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kraft des ihm innewohnenden »geistig Substantielle[n]« erst werden (Fichte, 1876a, S. 587, § 254). Auf diese Weise legt Fichte (1876a) Gewicht auf die Idee der Entwicklung, der zufolge der Mensch bei seiner Erhebung zur Persönlichkeit seine »vollmenschliche[] Existenz« erreiche (S. 588, § 255). Diese Entwicklung zur Persönlichkeit, bei welcher das »im Hintergrunde seines Wesens liegende Apriorische« sich entfalte und zu seinem bewussten und selbstbewussten Besitz gelange (S. 588, § 255), betrachtet Fichte (1876a) als den psychologischen Beleg der Idee der Persönlichkeit bzw. des Genius. Diese Entwicklung bestehe – wie schon weiter oben dargestellt – aus drei Stufen, welche die drei seelischen Tätigkeiten des Erkennens, des Fühlens und des Wollens parallel durchlaufen. 192 Der menschliche Geist laufe demnach in diesen drei seelischen Tätigkeiten dieselbe Entwicklungsreihe durch, welche aus den drei Stufen des Bewusstwerdens, des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins bestehe. Bei dieser Entwicklung verwirklichen sich die apriorischen und idealen Anlagen des menschlichen Geistes, welcher hierbei letztendlich zur selbstbewussten Persönlichkeit werde. Insofern der Akzent auf dem Selbstbewusstsein liegt, bezeichne der Begriff der Persönlichkeit in erster Instanz nur »die formale Eigenschaft des Geistes, durch die er allen seelischen wie geistigen Gehalt mit Bewusstsein durchdringen, als den seinigen in eins zusammenfassen und als sein Eigenthum sich (seinem ›Selbst‹) vindiciren kann« (Fichte, 1876a, S. 588, § 254). In diesem Zusammenhang weist Fichte (1876a) darauf hin, dass, insofern es sich bei der Persönlichkeit zunächst um eine formale Eigenschaft des Geistes handele, sie »als Form« nämlich »das absolut Gleichmachende und Gemeinsame« aller Geister ausmache (S. 588, § 254), wobei sich die Frage stellt, ob es nicht ein Widerspruch sei, mit dem Begriff der Persönlichkeit ein formales, allgemeines und gleichmachendes Prinzip zu bezeichnen. Diese Frage hätte bejaht werden sollen, wenn Fichte nicht auch die Frage berücksichtigt hätte, worin der Unterschied der Persönlichkeiten liege. Dieser Unterschied ergebe sich nämlich laut Fichte (1876a) aus »der Fülle des Geistesgehalts, wie nach der Klarheit und Intensität des Bewusstseins, mit welchem sie jenen Gehalt wissend durchleuchten und ordnend beherrschen« (S. 588, § 254). Mit diesem Bezug auf den Geistesgehalt geht Fichte in das dritte Belegstück der Persönlichkeit des menschlichen Geistes über. 192

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Vgl. Hellmuth (2009).

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4.2.2.3.3 Das Verhältnis zum Ideengehalt Die fundamentale Frage, um welche es sich bei diesem letzten Moment des Beweises der Persönlichkeit handelt, ist nämlich »die Frage nach dem Ursprunge menschlicher Individualität« (Fichte, 1864a, S. 109, § 28). Es soll demnach nachgewiesen werden, was der »letzte[] Grund« der »geistigen Unterschiede« zwischen den Menschen sei (Fichte, 1864a, S. 109, § 28). In diesem Zusammenhang muss beachtet werden, dass solche Unterschiede für Fichte aus dem Wesen der Persönlichkeit hervorgehen, welche ursprünglich nicht bloß eine allgemeine, sondern vor allem eine qualitativ bestimmte und inhaltlich erfüllte Form sei – nur in diesem Fall gelte sie als wahre Persönlichkeit. In diesem Sinne entspricht die Frage nach dem Grund der geistigen Unterschiede nämlich der Frage nach dem Ursprung der qualitativen Bestimmung und der inhaltlichen Erfüllung jedes Individuums. Insofern es einer qualitativen Bestimmung und einer inhaltlichen Erfüllung im Endeffekt Idealität zukomme, weist Fichte darauf hin, dass das individualisierende Prinzip des Menschen nämlich die Gegenwart der Ideen im menschlichen Geist sei, was für ihn die entscheidende Tatsache für den Beweis der Persönlichkeit ausmacht. Die Behauptung, dass die Gegenwart der Ideen im menschlichen Geist einen Beleg für die Idee der Persönlichkeit ausmache, könnte in erster Instanz sonderbar und widersprüchlich scheinen. In diesem Sinne trägt Fichte dem Bedenken Rechnung, dass die Ideen die gegensätzliche Wirkung auf den menschlichen Geist hätten. Gemäß diesem Bedenken haben die Ideen einen allgemeinen Charakter, durch welchen der Mensch »über die Schranken« seiner Persönlichkeit erhoben werde (Fichte, 1867, S. 336, § 320). Wenn das menschliche Bewusstsein demnach vom allgemeinen »Inhalt des Wahren, des Guten, des Schönen« oder der »Idee eines Unendlichen« erfüllt werde, wirke dieser Bewusstseinsinhalt auf den menschlichen Geist als »eine[] geistige[] Macht, vor der die Ansprüche und Strebungen der Persönlichkeit zunichte werden und unwillkürlich verstummen müssen« (Fichte, 1867, S. 336–337, § 320). Auf diese Weise vergesse sich das Individuum seiner selbst und gebe sich stattdessen einem allgemeinen Inhalt hin. Folglich sei gemäß diesem Bedenken keine individualisierende, sondern vielmehr eine »›entselbstend[e]‹« Wirkung der Ideen auf den menschlichen Geist festzustellen. Aus dieser Sachlage werfe jenes Bedenken letztendlich die Frage auf, ob es nicht eigentlich »ein tiefer Widerspruch« sei, »das Individualisirende in uns, den Grund Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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der Persönlichkeit gerade in dem Principe zu suchen, welches seiner Wirkung nach uns von den Schranken der Individualität befreit, welches allein uns stetig und stets gleich wirksam zu ›entselbsten‹ vermag« (Fichte, 1867, S. 337, § 320). Fichtes (1867) Antwort auf diese Frage ist klar: »Wir behaupten, dass das Individualisirende im Menschen gerade sein Verhältniss zu den Ideen sei« (S. 338, § 320). Wie ist nun diese Ansicht zu verstehen und wie lässt sich der Begriff der Persönlichkeit aus der Gegenwart der Ideen im menschlichen Geist erklären? Zur Beantwortung dieser Frage weist Fichte auf drei psychologische Tatsachen hin, welche die Idee der Persönlichkeit belegen sollen. An erster Stelle weist Fichte auf die Tatsache hin, dass die dem menschlichen Geist immanenten Ideen sich in jedem Menschen auf eigentümliche Weise verbinden. Gerade in dieser eigentümlichen Verbindung gewinnen die Ideen, denen an sich Universalität zukommt, eine individuelle Prägung. Nun könnte man laut Fichte (1864a) diese individuelle Verbindung der Ideen nämlich entweder »aus der Verschiedenheit [der] Anlagen« des Menschen oder aus den Wirkungen »von Aussen« auf »den an sich uniformen Geist des Menschen« erklären, wie beispielsweise die »Naturumgebung«, die »Lebenslage« und die »Erziehung« (S. 109, § 28). Der ersten Alternative folgend, behauptet Fichte (1864a), dass die eigentümliche Verbindung der Ideen in jedem Menschen aus »einer verschiedenartigen Aneignungsfähigkeit des Idealgehaltes unter den verschiedenen Individuen« hervorgehe, was darauf hinweise, dass der Grund der Unterschied zwischen den idealen Richtungen jeder Person in den »individuellen Anlagen und Prädispositionen« liege (S. 138–139, § 49). In diesem Sinne sei der menschliche Geist für Fichte nicht an sich »uniform«, sondern er sei mit einem ursprünglichen Inhalt in der Form von Anlagen ausgestattet. Folglich lautet Fichtes Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Individualität und der geistigen Unterschiede der Menschen, dass die Eigentümlichkeit jedes Menschen, kraft deren er kein »bloß gleichartiges Exemplar seiner Gattung«, sondern ein geistig individualisiertes Wesen sei, »ihm nicht von außen komme, sondern die allerursprünglichste Mitgift aus der vorbewußten Region seines Wesens sey« (Fichte, 1870a, S. 19). In dieser Hinsicht verhalte sich die Außenwelt sodann »als nur anregende Potenz«, welche das Individuelle aus dem Menschen nicht hervorbringe, sondern »hervorlocke« (Fichte, 1864a, S. 111, § 29). Mit dem Begriff der eigentümlichen Verbindung der Ideen, welche aus den indivi286

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duellen Anlagen des Menschen hervorgehe, bezieht sich Fichte auf die Konfiguration, welche die idealen – epistemische, ästhetische und ethische – und seelischen – denkende, fühlende und wollende – Richtungen in jeder Person annehmen. Für Fichte (1870a) sei der Mensch demnach nicht nur natürlich, sondern »zugleich geistig individualisirt …, durch eigengeartete Erkenntnis-, Gefühls- und Willensrichtung, in der Jeder vom Andern ursprünglich unterschieden ist« (S. 24). Diese Verbindung oder Konfiguration sei insofern individuell, als sie ein »stärker[es] Hervorschlagen der einen oder der andern idealen Richtung« zeige, was für Fichte (1864a) einerseits »die Geisteseigenheit, das ›Genialische‹« und andererseits das »unwillkürlich Einseitige[]« jedes Menschen zeige (S. 112, § 30). In dieser Einseitigkeit liegt für Fichte jedoch ein ethisches Moment. Die Einseitigkeit jeder »Person« bzw. jedes »Genius« weise diesen nämlich »auf Ergänzung mit den andern Genien« hin (Fichte, 1864a, S. 112, § 30), was im Zentrum von Fichtes Idee der Gemeinschaft steht. An zweiter Stelle weist Fichte auf die Tatsache hin, dass der Mensch epistemische, ästhetische und ethische Zwecke verfolgt. Diese Zweckverfolgung bezeichnet Fichte (1869c) als ein »ideale[s] Streben«, welches dementsprechend nach »intellectuelle[r]«, »künstlerische[r]« oder »sittliche[r] Vervollkommnung« sein könne (S. 227). Die feststellbare Existenz eines solchen Strebens lässt sich für Fichte nicht aus der Annahme eines allgemeinen und uniformen Geistes erklären. Stattdessen sei »der einzige und einzig denkbare Träger solchen Strebens nur der Einzelne, niemals die Gattung« (Fichte, 1869c, S. 228). Das ideale Streben des Menschen weist demnach auf eine Unvollkommenheit hin, welche der menschliche Geist aufzuheben sucht. Dieser Unvollkommenheit und diesem Streben nach Vervollkommnung in den erwähnten Richtungen kann für Fichte nur ein individueller Geist zugrunde liegen. Gerade diese Konzeption der idealen Strebungen des Menschen liegt im Zentrum von Fichtes Geschichtsphilosophie, insofern es daraus hervorgeht, dass »jeder geistige Fortschritt, jede Perfectibilität des Ganzen … nur vom Einzelnen aus[geht], und allein durch diesen hindurch verbreitet sie sich langsam und allmählich über die Gemeinschaft« (Fichte, 1869c, S. 228). In diesem Sinne gründet Fichte seine Geschichtsphilosophie auf seiner anthropologischen Theorie des Genius. 193

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Zu Fichtes Philosophie der Geschichte vgl. Najdanović (1940).

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Letztlich hebt Fichte die psychologische Tatsache der »Eingebung« und der »Begeisterung« hervor, um damit aufzuzeigen, dass der Mensch im Verhältnis zu den Ideen seine Individualität nicht verliere – wie der identitätsphilosophische Monismus behauptet. Laut Fichte hebe sich das Individuum bei seiner Erhebung zur Vernunft nicht auf, sondern vielmehr bekräftigt es sich. Die Tatsache der Eingebung, bei welcher der menschliche Geist »von einem Idealgehalte« ergriffen werde, zeige nämlich »die Wechselwirkung zweier Geistesfactoren, eines höhern, mittheilenden und eines niedern, aber selbständig empfangenden« (Fichte, 1859, S. 39, § 28). Wenn der menschliche Geist sodann von jenem Ideengehalt ergriffen werde, fühle er »sich erhoben und die Kraft seiner Individualität gesteigert, ja ins Ungemessene befeuert, nicht herabgestimmt oder ins dumpfe Gefühl eines Allgemeinen verschwommen« (Fichte, 1859, S. 39, § 28). Diese aus Begeisterung entstandene Steigerung des »Selbstgefühl[s] des Individuellen«, welche eben als psychologische Tatsache gelte, macht somit den dritten Beleg für die Persönlichkeit des menschlichen Geistes. 194 In der nun sich abschließenden Begründung der Idee der Persönlichkeit wurde nahegelegt, dass diese Idee ein ethisches Moment in sich schließe. In dieser Hinsicht sollen nun in der Form eines Exkurses ganz kurz die ethischen Implikationen des Individualismus Fichtes dargestellt werden.

4.2.2.4 Exkurs: Persönlichkeit und Gemeinschaft. Die ethischen Implikationen der philosophischen Anthropologie 195

4.2.2.4.1 Die wechselseitige Ergänzung der Genien Im Vorhergehenden wurde festgestellt, dass das individualisierende Prinzip des Menschen »die Gegenwart und eigenthümliche Verflechtung der Ideen« sei (Fichte, 1851, S. 23, § 6). Was nun das in jener Begründung angedeutete ethische Moment betrifft, so wurde insbesondere darauf hingewiesen, dass es auf dieser Tatsache einerseits Zum Begriff der geistigen Individualität des Menschen im Zusammenhang mit dem Begriff der Begeisterung vgl. auch Schwaetzer (2006, S. 163–169). 195 Zu ethischen, sozialen und gesellschaftstheoretischen Fragen vgl. Fichtes Werke (1848a, 1850, 1851, 1853b, 1870a) und Zeitschriftenartikeln (1843c, 1844c, 1848b, 1848c, 1848d, 1848e, 1852a, 1852b, 1853a). Vgl. auch die Monographien von Beckedorf (1912), Rekate (1915), Ebert (1938) und Schmitz (2014). 194

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die »Verschiedenheit des Genius«, andererseits aber »zugleich der eigentliche und tiefste Grund der wechselseitigen Ergänzung« aller Genien beruhe (Fichte, 1851, S. 24, § 6). Diese Idee läuft laut Fichte (1851) darauf hinaus, dass »[j]eder Geist … nur in der Gemeinschaft mit allen andern, Einfluss von ihnen empfangend und solchen zurückgebend, zur vollen Entfaltung gelangen« könne (S. 24, § 6). Laut Fichte (1851) sind die Menschen demnach »in ursprünglicher Wechselergänzung auf die andern Geister bezogen und mit ihnen zur Ganzheit sich vollendend« (S. 31, § 9). Der Urgrund dieser »wechselseitigen ethischen Ergänzung« der Menschen findet Fichte nämlich in Gott, insofern nur »[d]urch Gott … alle Weltwesen Eins, d. h. der Idee des Universums eingeordnet« seien (Fichte, 1851, S. 18, § 5). Die Einheit des Menschengeschlechts sei demnach in Gott begründet. 4.2.2.4.2 Die praktischen Ideen als Inhalt des Grundwillens des Menschen Aus der dargestellten Auffassung des Wesens des Menschen und dessen Verhältnis als Persönlichkeit zur Gemeinschaft entwickelt Fichte sein ethisches und gesellschaftstheoretisches Denken, was es im Endeffekt bedeutet, dass er seine Ethik auf seiner philosophischen Anthropologie gründet. Gemäß dieser philosophischen Anthropologie seien die Ideen dem menschlichen Geist immanent. In diesem Sinne versucht Fichte, die ethischen oder praktischen Ideen aus dem Wesen des Menschen entfalten zu lassen. Insbesondere steht der »Grundwille« des menschlichen Geistes im Zentrum der Betrachtung. Die Aufgabe der Ethik bestehe demnach in erster Instanz darin, den idealen Inhalt dieses Grundwillens zum Ausdruck zu bringen. Eine solche anthropologisch begründete Ethik bestehe nämlich in der Lehre vom Wesen des menschlichen Willens, – von demjenigen, was als Grundwille, als eigentlich Gewolltes und Angestrebtes, die unmittelbaren und darum unter sich widerstreitenden Wollungen der Einzelnen innerlich bestimmt, was zugleich daher als wahrhaft Einigendes und Gemeinschaftstiftendes im Menschengeschlechte sich wirksam zeigt (Fichte, 1851, S. 1, § 1).

Indem der Mensch als individueller Genius in ergänzendem Verhältnis zu den anderen Genien stehe und hierbei alle Genien ursprünglich eine Einheit in Gott bilden, ergeben sich laut Fichte drei praktische Ideen, welche als die drei Hauptäußerungen des menschlichen Grundwillens gelten. Dabei handelt es sich um die Idee des Rechts, die Idee der ergänzenden Gemeinschaft und die Idee der Gottinigkeit. Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Diese »praktischen Ideen in ihrer wechselseitigen Ergänzung und innern Steigerung« machen demnach den Inhalt des Grundwillens des Menschen aus (Fichte, 1850, S. 18, § 9). Wie lässt sich nun die Gliederung und die Einheit dieser praktischen Ideen genauer verstehen? Fichte (1851) geht nämlich von der psychologisch-anthropologischen Tatsache aus, dass sich die »Urüberzeugung« im menschlichen Bewusstsein kundgebe, dass der Mensch »mit allen andern Eines Wesens, ihnen gleich, zu ergänzender Gemeinschaft ihnen zugebildet sei« (S. 19, § 5). Gerade diese Urüberzeugung ist für Fichte eine apriorische Idee, welche nur die »Nachwirkung … der vorweltlichen Einheit des Menschengeschlechtes bis in sein [des Menschen] unmittelbares Bewusstsein hinab« sein könne (Fichte, 1851, S. 19, § 5). Insofern sich diese apriorische Einheit der Menschheit den apriorischen Inhalt des Grundwillens des Menschen ausmache, könne dieser Grundwille »nichts Anderes zu seinem Ziele haben, als die Hervorbildung dieser innern Wechselbeziehung und Einheit, durch welche das Menschengeschlecht in Gott umfasst ist« (Fichte, 1851, S. 19, § 5). Den Inhalt des Grundwillens artikuliert Fichte in drei praktischen Ideen. Erstens weist Fichte darauf hin, dass dem menschlichen Geist als Persönlichkeit nämlich Selbstbestimmung zukomme. Diese Grundeigenschaft des menschlichen Geistes ist für Fichte auch als Freiheit zu bezeichnen. Nun weist Fichte (1851) darauf hin, dass »[a]lle Genien (Menschen) … in jener Eigenschaft der Freiheit sich gleich, durch den Inhalt ihres Genius verschieden« seien (S. 35, § 10). Aus diesem Umstand ergebe sich sodann als erste ethische Bestimmung, dass jeder Mensch den »gleichen Anspruch auf die volle Entwicklung seiner ureignen Individualität, seines Genius« in der Gemeinschaft habe (Fichte, 1850, S. 19, § 9, 1851, S. 37, § 10). Dieser Anspruch kommt nämlich in der Idee des Rechts zum Ausdruck, welche in der »Darstellung der Bedingungen zur vollkommnen Existenz des Einzelnen in der Gemeinschaft« bestehe (Fichte, 1851, S. 38, § 10). Zweitens verlagert Fichte den Fokus von der Freiheit auf die Bedingungen ihrer Entwicklung. Er (1851) weist nämlich darauf hin, dass der Mensch »frei und Genius nur in der Gemeinschaft mit den andern« sein könne (S. 35, § 10). Aus diesem Umstand ergebe sich sodann als zweite ethische Bestimmung, dass das eigentliche Ziel der abgrenzenden Rechtsverhältnisse es sei, »die Ergänzung Aller durch Alle in jener innern austauschenden Gemeinschaft« (Fichte, 1850, S. 21, § 9) zu verwirklichen und hierbei »das Menschengeschlecht 290

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zum Bewusstsein dieses Verhältnisses, zur Menschheit hinaufzusteigen« (Fichte, 1851, S. 68, § 16). Auf diese Weise erweist sich die Idee des Rechts nur als Mittel zur Verwirklichung einer höheren praktischen Idee, nämlich der Idee der ergänzenden Gemeinschaft, deren zwei Hauptrichtungen das Wohlwollen und die Vervollkommnung seien (Fichte, 1850, S. 21, § 9). Insgesamt bestehe die Idee der ergänzenden Gemeinschaft in der »Darstellung der Bedingungen zur vollkommnen Existenz der Gemeinschaft selbst« (Fichte, 1851, S. 38, § 10). 196 Letztlich weist Fichte (1850) darauf hin, dass sich die sittliche Gesinnung, welche den Ideen des Rechts und der ergänzenden Gemeinschaft zugrunde liegt, nur durch »das Bewusstsein der Einheit Aller in Gott … zu einem stets wachen und sich bethätigenden Gefühle steigern« könne (S. 23, § 9). Aus diesem Umstand ergebe sich sodann als dritte ethische Bestimmung, dass der Grund alles Ethischen eben jene ursprüngliche Einheit des Menschengeschlechts in Gott sei. Diese Grundbedingung des Ethischen bringt nämlich die dritte praktische Idee zum Ausdruck, nämlich die Idee der Gottinigkeit, welche in der »Darstellung der Grundbedingung [bestehe], durch welche jener beiderseitigen Vollkommenheit [der Persönlichkeit und der Gemeinschaft] erst innere Dauer und unablässige Steigerung verbürgt wird« (Fichte, 1851, S. 38, § 10). Den engen Zusammenhang der drei praktischen Ideen fasst Fichte (1851) auf prägnante Weise mit folgenden Worten zusammen: Der gleiche Anspruch Aller auf freie Entwicklung ihrer Individualität in der Gemeinschaft ist die eigentliche Wurzel der Rechtsidee. Aber die Genien sind urbezogen, durch eine heilige Einheit umschlossen: diese lebt sich aus ihnen heraus zu wirksamer Gemeinschaft, zu ergänzenden Ineinandersein, Interessanterweise schließt Fichtes Idee der ergänzenden Gemeinschaft die Tierwelt ein, was die Anforderung stellt, in die Ethik die »Pflichten gegen die Tiere« aufzunehmen: »Wie diese innere solidarische Verwandtschaft des Menschen mit der Thierwelt der Wissenschaft vor Augen liegt, so ist auch das ursprüngliche Zeugniss davon in unserm unwillkürlichen Mitgefühle für dieselbe niedergelegt. Auch dies Verhältniss, weil es ein ursprüngliches ist, muss sich zum bewusst-ethischen ausbilden, d. h. jenes Mitgefühl für die Thiere muss gleichfalls allgemeine Norm unsers Willens werden. Eine vollständige Ethik wird auch die ›Pflichten gegen die Thiere‹, in anderer Weise und aus andern Gründen, als es bisher geschehen, in den Umfang ihrer Untersuchung aufnehmen, und in der vollkommnen ethischen Gemeinschaft, in welcher die Idee der Menschheit verwirklicht ist, wird auch die Thierwelt ihre erhöhtere Stelle einnehmen durch zweckmässige Pflege und Erziehung, und kein unnöthig Leidendes wird mehr sein!« (Fichte, 1851, S. 19–20, § 5).

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und kann einerseits nur als Drang des Wohlwollens, andrerseits als Wille steter Vervollkommnung in Allen sich kundgeben: die Idee ergänzender Gemeinschaft in ihrer ursprünglichsten Doppelgestalt. Aber jene innere und zugleich wirksame Einheit des Geistergeschlechts in Gott, welche höchster Grund alles Ethischen ist, muss zugleich im Bewusstsein Aller hervorbrechen, um die daraus quellende ethische Gesinnung zur gediegenen Ewigkeit zu steigern: als Gefühl Gottinigkeit, als Wille der Drang der Unterwerfung (Demuth), zuhöchst Vereinigung mit Gott. Erst in dieser Idee ist der Mensch und die Menschheit zum wahren Urpsrunge ihrer Gemeinschaft zurückgekehrt und dieselbe befestigt (S. 34, § 9).

4.2.2.4.3 Die menschliche Persönlichkeit als die leitende Idee der Zukunft Ausgehend von dieser Ansicht über die Persönlichkeit und die Gemeinschaft stellt sich Fichte (1844c) im historischen Kontext des Vormärz sowohl den »Radikalen der Spekulation« – wie er beispielsweise Friedrich Feuerbach und Bruno Bauer bezeichnet – als auch den politischen Parteien der Konservativen und der Revolutionären entgegen, welche für ihn »gleicherweise die Erzeugnisse und die Nachzügler ihrer Vergangenheit« und gleich unproduktiv seien (S. 300). Nirgendwo lasse sich laut Fichte (1844c) eine regeneratorische Idee finden, wie aus den folgenden Worten zu entnehmen ist: Welche Rathschläge, Plane, Entwürfe für Kirche und Staat begegnen sich nicht in dieser betriebsamen Zeit. Aber die meisten tragen nur das Gepräge eines beschränkten und augenblicklichen Bedürfnisses, sie sind bestimmt, einer zeitweis hervorgetretenen Uebertreibung zu begegnen; eine wahrhaft neue Erfindung, eine dauernd regeneratorische, höher gestaltende Idee will uns nirgends begegnen (S. 299).

In diesem Sinne sei die Aufgabe der Philosophie, der Frage nachzugehen, »was die leitende Idee« der Zukunft sei, »welche, dem gewöhnlichen Blicke vielleicht verborgen bleibend, dennoch selbst in den eigenthümlichen Irrthümern und Verkehrtheiten der Zeit, nur auf abnorme Weise, nach Gestaltung ringt« (Fichte, 1844c, S. 302). Fichtes (1844c) Antwort auf diese Frage lautet folgendermaßen: Wir glauben nicht zu irren, wenn wir, – wie es zunächst nur sein kann, in abstraktester Weise, – diese leitende Idee der Zukunft als die der menschlichen Persönlichkeit bezeichnen. Das nämlich halten wir eigentlich für das tiefste und berechtigtste Ringen unserer Weltepoche, welche nicht später anfängt, als mit dem Hervortreten des Christenthums, welches darin erst seine Erfüllung und Verwirklichung finden würde, – in Kirche und Staat, in

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jeder Form geistiger Gemeinschaft die Persönlichkeit, die geistige Individualität eines Jeden, seine in tiefster Ursprünglichkeit ihm angehörende, unvertauschbare Geistesanlage, seinen Genius, zur vollen, gesunden Entwicklung gelangen zu lassen, endlich in alle Rechte, in die ungeschmälerte Wirksamkeit einzusetzen, welche ihr zufolge ihrer innern, gottverliehenen Macht gebührt (S. 302).

Mit diesen Worten setzt sich Fichte der Ansicht über die natürliche Gleichheit der Anlagen des Menschen und über die Allmacht der Erziehung direkt entgegen. Laut Fichte besteht die Entwicklung des Menschen nicht bloß in der Entfaltung seiner natürlich-generischen Anlagen, sondern vielmehr darin, dem Genius genugzutun. Gleichzeitig sind die Menschen Fichte (1870a) zufolge – wie schon angedeutet – nicht primär von den äußeren Umständen gebildet, denn »[d]ie Erziehung kann im Zögling nichts erschaffen, von außen in ihn hineinbringen, ihm einbilden oder anlernen«, sondern die Erziehung könne nur die im Zögling »vorhandenen Anlagen ins Bewußtseyn entwickeln dadurch, daß sie seine Selbstthätigkeit erweckt« (S. 19). Aus dem Gesagten werden sodann die erziehungswissenschaftlichen und gesellschaftstheoretischen Implikationen von Fichtes anthropologischer Auffassung ersichtlich. Es sei nämlich Aufgabe der Gemeinschaft, die menschliche Persönlichkeit, die geistige Individualität, den Genius des Menschen zur vollen Entwicklung zu bringen. Eine solche Idee soll Fichte zufolge im Zentrum jeder Gemeinschaftsform stehen.

4.2.3 Die Präexistenz der menschlichen Seele Bei der Erörterung der Begriffe der Realität und der Substantialität der Seele wurde darauf hingewiesen, dass die Wirklichkeit der Seele im Leib nur dann wahre Wirklichkeit ist, wenn die Wirklichkeit die Möglichkeit in sich beibehält, welche folglich dem Wesen als seine Idealität innewohnt und es durch seine ganze Wirklichkeit begleitet. Diese Einheit von Möglichkeit und Wirklichkeit wurde dann im Begriff der dynamischen Allgegenwart der Seele im Leib zum Ausdruck gebracht. Was Fichte mit diesen Konzeptualisierungen versucht, ist es, die Existenzform der Seele unter einem idealrealistischen Standpunkt zu erklären, welcher – wie weiter oben ausführlich dargestellt – es vermeidet, weder dualistisch-spiritualistischen noch monistisch-mateSubstantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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rialistischen Erklärungsmustern zu erliegen. Insofern nämlich die Seele aus dieser nicht dualistischen Perspektive keine dem Leib entgegengesetzte Substanz ist, darf man der Seele eine selbständige Existenz nicht zuschreiben. Insofern die Seele aus dieser ebenfalls nicht materialistischen Perspektive auch kein Epiphänomen des Leibes ist, darf man der Seele ihre substantielle Existenz auch nicht absprechen. Wenn nun die Seele unter dem idealrealistischen Gesichtspunkt Fichtes ein substantielles und individuelles Wesen sein sollte, welches aus eigener Kraft seinen Leib hervorbringt und in diesem Leib seine qualitative Bestimmung und inhaltliche Erfüllung zum raumzeitlichen Ausdruck bringt, werden der Seele bestimmte Anlagen zugeschrieben, welche ihrer Verleiblichung, mithin ihrer Wirklichkeit vorangehen und welche dann während des Lebens gegenwärtig bleiben. Der Seele wird demnach scheinbar Wirklichkeit vor ihrer Wirklichkeit widersprüchlich zugeschrieben. Wie lässt sich nun dieser scheinbare Widerspruch verstehen? Wie kann nämlich die Seele vor ihrer Wirklichkeit überhaupt existieren? Dieses Problem versucht Fichte mit dem Begriff der Präexistenz bzw. der Präformation zu lösen. 197

4.2.3.1 Die Präexistenz als »Mittelzustand zwischen Nichtwirklichkeit und Wirklichkeit«

Wenn Fichte der Seele eine Existenzform vor ihrer leiblichen Wirklichkeit zuschreibt, stellt er klar, dass es sich bei dieser Existenzform im Unterschied zum Spiritualismus nicht um eine »starre[] Präexistenz« bzw. eine »eigentliche[] Vordauer« der Seele handele (Fichte, 1869c, S. 260), als hätte sie vor ihrer Verleiblichung ein vollkommenes Dasein. Vielmehr soll sein Begriff der Präexistenz die Sachlage zum Ausdruck bringen, dass die Seele als formgebendes Prinzip einerseits »absolut frei von« und andererseits »wirklich nur in« ihrer Form, nämlich dem Leib, sei (Fichte, 1836a, S. 412, § 234). Hier weist Fichte demnach auf den »doppelte[n] Sinne« des Begriffs der Wirklichkeit hin (Fichte, 1836a, S. 460, § 266). Dieser bezeichne nämlich einerseits die Wirksamkeit jenes formgebenden Prinzips und andererZu Fichtes Begriff der Präexistenz der Seele vgl. auch Stern (1967, S. 136–143). Zu Fichtes Begriff der Präexistenz und der Teleologie im Zusammenhang mit Kants Begriff einer virtuellen Präformation vgl. Schwaetzer (2006, S. 171–178).

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seits die dadurch hervorgebrachte und geformte Wirklichkeit. Im ersten Fall wird es auf die »faktische[] Nichtwirklichkeit« und dennoch »ideelle Gegenwart« der Seele hingewiesen, während es im zweiten Fall auf die faktische Leiblichkeit hingewiesen wird (Fichte, 1836a, S. 460, § 266). Gerade diesen »Mittelzustand[] zwischen Nichtwirklichkeit und Wirklichkeit« bringt der Begriff der Präexistenz zum Ausdruck (Fichte, 1869c, S. 259). Es handele sich nämlich um einen vorempirischen, jedoch »höchst reale[n]« Zustand, »weil er in präexistentieller Anlage Alles schon enthält, wozu das Weltwesen werden kann« (Fichte, 1869c, S. 259). Diese Existenzform der »Virtualität«, der »Latenz« oder der »Keimhaftigkeit« – wie Fichte sie auch bezeichnet – ist demnach als eine »ideale[] Präformation« zu verstehen (Fichte, 1869c, S. 260). 198 Nach diesen allgemeinen Bemerkungen über den Begriff der Präexistenz soll nun die Frage behandelt werden, wie sich jene ideelle Präexistenz und Gegenwart der Seele in der Wirklichkeit erfahrungsmäßig erkennen lässt. Zur Beantwortung dieser Frage werden erstens die wesentlichen Eigenschaften der organischen Tätigkeit identifiziert, welche auf eine darin gegenwärtige Idealität hinweisen, und zweitens die konkrete Form betrachtet, in welcher die präexistente Seele bestimmten Lebensvorgängen zugrunde liegt.

4.2.3.2 Die wesentlichen Eigenschaften der organischen Tätigkeit

Angesichts der organischen Tätigkeit, insbesondere der instinktiven, morphologischen, physiognomischen und psychologischen Vorgänge, unterscheidet Fichte drei wesentliche Eigenschaften, welche weder materialistisch noch subjektivistisch reduzierbar seien. Vielmehr weisen sie auf eine substantielle und wirksame Idealität hin, welche dem Verzeitlichungsprozess als seine Bedingung vorangehe und innewohne. An erster Stelle stellt Fichte an der organischen Tätigkeit eine innere Zweckmäßigkeit fest. Auch wenn sich das Leben als eine »Kette von Ursachen und Wirkungen« zeige, »die räumlich mit-, zeitlich hintereinander auftreten«, ziele dieser Lebensprozess auf »ein Vgl. das entsprechende Kapitel dieser Arbeit, in welchem Fichtes Auseinandersetzung mit der Permutations- und der Präformationstheorie im Kontext der Darwinismus-Kontroverse dargestellt wurde (2.2.2.4).

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einziges Gesammtresultat« ab, nämlich »die Erhaltung des Organismus durch sich selbst« (Fichte, 1876a, S. 471, § 197). Die Selbsterhaltungskraft wurde im Vorhergehenden als eine Grundbestimmung der Begriffe der Substantialität und der Individualität betrachtet. In diesem Zusammenhang wird sie nicht nur als eine Eigenschaft betrachtet, welche die Existenz eines substantiellen und individuellen Wesens voraussetzt, sondern vielmehr unter dem Aspekt der darin enthaltenen Zweckmäßigkeit angesehen. Die Erhaltung des Organismus wird demnach als ein innerer Zweck bezeichnet, welcher jedenfalls nur unter der Voraussetzung eines ideellen Vorbildes des Organismus erklärlich sei. In dieser Hinsicht versteht Fichte den Organismus als ein prozessuales System von Mitteln und Zwecken unter der Leitung eines zweckmäßigen Vorbildes. Laut Fichte (1836a) bestehe der Organismus demnach in einem Prozess, welcher »auf ein nicht seiendes, aber nur darin hervorzubringendes Ziel« gerichtet sei (S. 472, § 271). Dieses Ziel sei jedenfalls zugleich Anfang des Prozesses, insofern es allen Momenten als ihre ideelle Leitung gegenwärtig sei. Die »einzelnen Momente« des organischen Prozesses seien dementsprechend »als Mittel und Zweck gegeneinander geseßt, und was diese in ihrem Ablauf realisiren, ist nur ihr absoluter Zweck, eben jene ideelle Totalität, das Grundwesen der Monas oder ihre Individualität« (Fichte, 1836a, S. 474, § 272). Dabei handele es sich um einen »ideell geseßt[en], aber faktisch nicht verwirklicht[en]« Zweck (Fichte, 1836a, S. 472, § 271) – was zuvor als Mittelzustand zwischen Nichtwirklichkeit und Wirklichkeit beschrieben wurde. Dieser innere Zweck fungiere kraft seiner Idealität als eine individuelle Vorsehung, welche »alle Verhältnisse und Verwickelungen« des Lebens »mit ursprünglicher Weisheit und sicherm Erfolge« begleite (Fichte, 1876a, S. 472, § 197). Nun macht Fichte (1876a) in diesem Zusammenhang eine wichtige Unterscheidung, indem er behauptet, dass die organische Tätigkeit zwar »höchst zweckmässig«, jedoch »an sich absichtslos« sei (S. 572, § 244). Wenn Fichte der organischen Tätigkeit Zweckmäßigkeit zuschreibt, solle man demnach diese Zweckmäßigkeit von der Absichtlichkeit unterscheiden, welche eine Funktion des Selbstbewusstseins wäre. In diesem Sinne müsse man »als das verbindende Mittelglied zwischen Ursache und Wirkung« zwar »eine denkende Zwecksetzung annehmen«, jedoch sei diese Zweckmäßigkeit in ihrer organischen Form eben nicht als »bewusste Absicht« zu verstehen (Fichte, 1876a, S. 473, § 198). An zweiter Stelle stellt Fichte an der organischen Tätigkeit eine 296

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innere Vernunftgemäßheit fest. Mit dem Bezug auf die innere »Idealität« und »Weisheit« des Zweckes wurde nämlich die hier zum Ausdruck kommende Vernunftgemäßheit nahegelegt. Mit diesem Begriff bezeichnet Fichte die Sachlage, dass den Lebensvorgängen eine Zweckmäßigkeit nicht im Sinne einer allgemeinen Gesetzlichkeit zukomme, sondern vielmehr im Sinne einer individuell angepassten Intelligenz. Jene Lebensvorgänge seien nämlich »wie durch bewusste Wahl geleitet dem besondern Bedürfniss angepasst« (Fichte, 1876a, S. 472, § 198). Sie seien in der Tat »die zweckmässigsten für den bestimmten Fall« (Fichte, 1876a, S. 472, § 198), was letztendlich auf die bewusstlose »Mitwirkung eines Vorstellungsprocesses« hinweise (Fichte, 1859, S. 29, § 22). Dabei lasse sich somit eine »höchst complicirte aber untrügliche Syllogistik« erkennen, welche, insofern sie eine »ursprüngliche Thätigkeit des Geistes« sei, späterhin nach ihrer Entwicklung und Bewusstwerdung »als eigentliches Denken, als Begriff, Urtheil und Schluß« wiederauftauchen werde (Fichte, 1833b, S. 47, § 37, Anm.) – womit Fichte das »Gesetz der Kontinuität« geltend macht. Wenn sich der Organismus als »der kunstreichste Äquilibrist, Meß- und Scheidekünstler« zeige (Fichte, 1833b, S. 47, § 37, Anm.), so sei dieser Tätigkeit Vernunftgemäßheit zuzuschreiben. Letztlich stellt Fichte an der organischen Tätigkeit eine innere Kunstmäßigkeit fest. Angesichts morphologischer Phänomene weist Fichte (1876a) darauf hin, dass die schon festgestellte Vernunftgemäßheit der organischen Tätigkeit nicht in der Form einer abstrakten und reflexiven Rationalität, sondern in der Form einer »reale[n], plastisch-künstlerische[n] Macht« wirke (S. 483, § 203). In diesem Sinne liege allen Gestaltungs- und Erhaltungsprozessen eine organisierende Kraft zugrunde, welcher einerseits ein »orientirendes Urbild des Organismus« innewohnen und welche andererseits plastische Wirksamkeit besitzen solle (Fichte, 1876a, S. 481, § 202). Dementsprechend zeigen nämlich die Leibgestaltung und Leiberhaltung die Betätigung einer gemäß einem »Raumschema [des] Leibes« wirkenden »geometrisierenden« Kraft (Fichte, 1876a, S. 506, § 212). Gerade diese »geometrisierende« und »künstlerische« Tätigkeit werde – gemäß dem Gesetzt der Kontinuität – nach ihrer Entwicklung und Bewusstwerdung nämlich in der Traumbildung und in der freien Phantasie wiederauftauchen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die organische Tätigkeit durch Zweckmäßigkeit, Vernunftgemäßheit und Kunstmäßigkeit charakterisiert sei. Nun behauptet Fichte, dass die sich in diesen Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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drei Formen ausdrückende Idealität nur als seelische Eigenschaft zu bezeichnen sei. Alle »Lebensvorgänge sind Seelenverrichtungen« (S. 500, § 210), sagt Fichte (1876a) kurz und klar. In dieser Hinsicht gilt nämlich die Seele als das einzig mögliche Substrat jener drei Eigenschaften, welches kraft der darin immanenten Idealität nicht das aposteriorische Produkt materieller Verhältnisse sein könne, sondern die apriorische Bedingung des Lebensprozesses überhaupt. Der Seele sei folglich Präexistenz zuzuschreiben.

4.2.3.3 Die Präexistenz der Seele als Bedingung des Verzeitlichungsprozesses in Zeugung, Verleiblichung und Bewusstwerdung

Aus der Betrachtung der wesentlichen Eigenschaften der seelischen Tätigkeit ergibt sich die Allgemeingültigkeit des Begriffs der Präexistenz, welche von Fichte (1859) in der Behauptung zusammengefasst wird, dass »[j]edes in sich geschlossene (individualisirte) Naturwesen«, womit er sich einerseits auf die »Pflanzen- und Thiergattungen« und andererseits auf den »Einzelgeist des Menschen« bezieht, nämlich »ewig präexistiren [muß], wenn es möglich sein soll, daß es zeitlich seine Eigenthümlichkeit zur Erscheinung bringe« (S. 8, § 5). Folglich ist die präexistente, immanente und wirksame Idealität der Seele für Fichte die Bedingung der Möglichkeit ihrer raumzeitlichen Existenz. Nach dieser Feststellung stellt sich nun die Frage, in welcher konkreten Form sich die präexistente Idealität der Seele kundgibt. Zur Beantwortung dieser Frage zieht Fichte hauptsächlich drei Vorgänge in Betracht, welche als Momente der Verwirklichung der Seele die Notwendigkeit ihrer Präexistenz deutlich zeigen. Dabei handelt es sich nämlich um die Vorgänge der Zeugung, der Verleiblichung und der Bewusstwerdung. Bei der Erklärung dieser Vorgänge entwickelt Fichte eine Begrifflichkeit, welche die Idee der Präexistenz konkretisiert und hierbei ein neues Licht auf jene organischen und psychologischen Phänomene wirft. 199 Was die Zeugung betrifft, so stellt Fichte (1855a) klar, dass sich dieser Vorgang nicht bloß auf »die Fortpflanzung der organischen Wesen« beschränke (S. 149). Fichte (1855a) betrachtet die Zeugung Zu Fichtes Begriff der Beseelung und der Verleiblichung vgl. auch Stern (1967, S. 132–172).

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vielmehr als einen »durchaus universelle[n] Hergang«, welcher auch in der Form der »geistige[n] Production« stattfinde (S. 149). Unter diesem Gesichtspunkt gelte demnach »[j]edes Neuentstehen, wie jede wahrhafte Umbildung« als einen Fall der Zeugung (Fichte, 1855a, S. 149). Die Zeugung als universeller Vorgang bestehe folglich im »absolute[n] Setzen eines neuen Anfangs aus dem (ideellen) Nichts oder aus dem Unsichtbaren in’s Sichtbare« oder – kurz ausgedrückt – im »Eintritt eines Ideellen in’s Reale« (Fichte, 1855a, S. 149–150). Unter den Arten der organischen Zeugung – ungeschlechtliche (Teilung und Sprossen) und geschlechtliche Fortpflanzung – fokussiert sich Fichte insbesondere auf die geschlechtliche Fortpflanzung des Menschen. In diesem Zusammenhang ist nämlich hervorzuheben, dass Fichte die Zeugung nicht bloß als eine physikalisch-chemische Stoffmischung betrachtet, sondern in der Tat als einen »Seelenvorgang«. In einen solchen Akt gehe nämlich »das ganze ungetheilte Seelenwesen« jedes Erzeugers ein, und zwar so sehr, dass sich das Seelenwesen mancher Tiere jenem Akt »völlig … dahingibt und darin untergeht« (Fichte, 1876a, S. 528, § 224). Nun legt Fichte (1876a) großes Gewicht auf seinen Nachweis, dass das aus dem Akt der Zeugung hervorgehende Individuum nicht »lediglich das Product aus den beiden Factoren seiner Aeltern sei« (S. 534, § 226). Diese Ansicht lasse laut Fichte (1876a) gerade »das Neue, Nochniedagewesene« unerklärt (S. 534, § 226). Dabei handele es sich um »ein ›Anonymes‹« mit einer »anders geartete[n] Geisteseigenheit«, welche ihr Ursprung nicht in der Materie haben könne (Fichte, 1876a, S. 534, § 226). Durch die Zeugung werde vielmehr ein »Lebenstoff« geboten (Fichte, 1859, S. 9, § 5), welcher den »absolute[n] Einschlag eines vorher noch nicht Vorhandenen (Ideellen, Potentialen) in’s Sein« (Fichte, 1855a, S. 114) und hierbei den ganzen »Verzeitlichungsproceß« ermögliche (Fichte, 1859, S. 9, § 5). Die Zeugung, indem sie den zeitlichen Anfang der Verleiblichung darstellt, betrachtet Fichte (1876a) nicht als den wesenhaften Anfang der neuen »centrale[n] Einheit eines Individuallebens« (S. 522, § 221), sondern schon als Wirkung eben dieses individuellen Wesens. Der Zeugung muss demnach »ein schlechthin Präexistirendes, in potentialer Vorzeitlichkeit Wirkliches« notwendig vorangehen (Fichte, 1876a, S. 542, § 229). Durch die Zeugung wird sodann ein raumzeitlicher Verleiblichungsprozess ausgelöst, welcher laut Fichte ebenfalls ohne die Annahme der Präexistenz der Seele unerklärt bleiben würde. Die Verleiblichung versteht Fichte (1855a) nämlich als die »vollständige DarSubstantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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stellung der Seele aus ihrer Individualität« (S. 144). Demgemäß bringt sich die Seele in ihrer leiblichen Form zum Ausdruck, woraus es folgt, dass die ganze Leiblichkeit der unmittelbare Ausdruck der Seele ist. Als unmittelbarer Ausdruck der Seele könne die Leiblichkeit laut Fichte nicht bloß in der Gestalt, der Struktur und der Funktion bestehen. In diesem Sinne weist Fichte (1855a) darauf hin, dass der Begriff der Verleiblichung erweitert werden solle, um neben der »körperliche[n] Gestalt« und den Funktionen des »organische[n] Habitus« auch »die seelisch-geistigen Aeusserungen« des sich darin darstellenden Individuums umzufassen (S. 143). Was sich in dieser Leiblichkeit behauptet und ihre Einheit erhält, kann für Fichte nicht das zufällige Produkt einer Stoffmischung sein. Vielmehr sei die leiblich sich darstellende Eigentümlichkeit des Individuums auf ein präexistentes Prinzip zurückzuführen. Laut Fichte (1855a) wohne allen den Verleiblichungsprozess ausmachenden »Metamorphosen«, »Wandlungen« und Äußerungen (S. 125) nämlich »das ideelle Urbild des gesammten, untheilbar leiblich-geistigen Organismus« inne, »welches in unentwickelter Gegenwart oder der Möglichkeit nach Alles umfasst hält, was der Wirklichkeit nach erst in allmähliger Folge nach einander und deutlich gesondert hervortritt« (S. 145). Insofern das Urbild einer ideellen Präformation entspreche, könne es auch als »Idee« bezeichnet werden, wobei Fichte seinen Idealrealismus dadurch geltend macht, dass er bei dem Verhältnis zwischen Vorbild und Abbild oder zwischen Idee und Wirklichkeit keinen Dualismus annimmt – wie es schon weiter oben in Hinsicht auf alle Kategorienverhältnisse dargestellt wurde. Fichte (1855a) weist nämlich darauf hin, dass die »unmittelbare Wirklichkeit nicht blos ein todtes Nachbild oder eine unvollkommenere Darstellung der urbildlichen Idee« sei, »als ob diese, an sich unerreichbar, blos in’s Unendliche angestrebt werden könnte« (S. 146). Unter diesem Gesichtspunkt stehen Idee und Wirklichkeit demnach in keinem hierarchischen Verhältnis, welches eventuell eine Abwertung der Wirklichkeit und der Leiblichkeit ermöglichen könnte – wie beispielsweise bei der Theorie des Abfalls der Seele der Fall ist. 200 In eben diesem Sinne weist Fichte (1855a) darauf hin, dass die Wirklichkeit nicht »die in der Selbstdarstellung von sich abgefallene, an dem fremden Elemente verunreinigte und erniedrigte Idee« sei (S. 146). Auf diese Weise beseitigt Fichte die Möglichkeit von abwertenden Vorstellungen über die Natur der Leib200

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Vgl. Fn. 83.

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lichkeit, denen zufolge der Leib ein geringwertiges Element und hierbei die Stätte der Unreinheit ist. Demgegenüber sei der Leib aus Fichtes Perspektive nämlich der Seele nicht untergeordnet, sondern vielmehr mache er ihren unmittelbaren Ausdruck aus. Die Idee stehe demnach nicht im Gegensatz zur Wirklichkeit, sondern sie »erstarkt und vertieft sich … an ihrer Verwirklichung, und gewinnt erst hierin ihr volles, entwickeltes Dasein« (Fichte, 1855a, S. 146). Insofern die Idee bzw. die Seele durch ihre Verleiblichung ihr volles Dasein erreiche, bezeichnet Fichte (1855a) ihre Selbstdarstellung »in unmittelbarer Wirklichkeit« ebenfalls als »ihre Selbstoffenbarung« (S. 146). 201 Vor diesem Hintergrund ist Schwaetzers (2006) Unterstellung einer »platonische [n] Abwertung des Phänomenalen« bei Fichte zu würdigen (S. 181). Schwaetzer argumentiert dafür, dass Spicker den autobiographischen Unsterblichkeitsbeweis als die Ausfüllung einer Lücke entwickelt, welche Fichte bei seinem historisch-ethischen Unsterblichkeitsbeweis hinterlassen habe. In diesem Zusammenhang stellt sich Schwaetzer (2006) die Frage, warum Fichte »nicht an einen Unsterblichkeitsbeweis aus dem individuellen Schicksal des Menschen denkt« (S. 183). Den Grund dieser Lücke findet Schwaetzer (2006) nämlich in Fichtes »platonische[r] Abwertung des Phänomenalen« (S. 181), welche auf einem unbegründeten »Dualismus von Geist und Phänomen« beruhe (S. 183). Unter dem Gesichtspunkt dieses angeblichen Platonismus Fichtes falle »[d]ie persönliche Geschichte des Individuums, das persönliche Schicksal« unter den Bereich des Phänomenalen, sodass die Biographie folgerichtig abgewertet werde (Schwaetzer, 2006, S. 185). Insofern Fichte »das menschliche Geistwesen als Idee« denke und am »platonischen Teilhabegedanken« festhalte, verliere das Phänomenale, d. h. die individuelle Biographie, »jede verbindliche Bedeutung … für das Geistige« (Schwaetzer, 2006, S. 185). Wie diese Arbeit bis zu diesem Punkt aufgezeigt hat, trifft Schwaetzers Unterstellung keineswegs auf Fichte zu. Wenn Fichte zwischen Realem und Phänomenalem unterscheidet, so ist diese Unterscheidung im Sinne der dargestellten Unterscheidung zwischen Idee und Wirklichkeit zu verstehen. Dabei lehnt er explizit jeglichen »platonischen« Dualismus und jeglicher »platonischen« Hierarchie zwischen Idee und Wirklichkeit ab. In diesem Sinne steht das Wirkliche und Phänomenale (Leib, Biographie) nicht im Gegensatz zur Idee und zum Realen (Geist), als wäre das Wirkliche ein unvollkommenes und uneigentliches Abbild bzw. die »Schatten« der vollkommenen und eigentlichen Idee, welche eine eigenständige und übergeordnete Existenz führe. Fichte steht vielmehr auf dem Standpunkt eines Idealrealismus, dem gemäß die Idee ihre volle Existenz an ihrer Verwirklichung erreicht. Wenn Schwaetzer (2006) darauf hinweist, dass sich im Unterschied zu Fichte »der Fall denken« lasse, »daß sich das Geistige auch im Phänomenalen ausspricht« (S. 183), so ist ihm freilich recht zu geben, jedoch muss man zugleich klarstellen, dass er gerade die Ansicht Fichtes artikuliert. In Hinsicht auf Schwaetzers Frage dürfte man behaupten, dass Fichtes Ansicht darin besteht, dass der menschliche Geist erst in der Verwirklichung seines Leibes und seines individuellen Lebens seine volle Existenz erreiche, da er sich darin offenbart. Nun ist Schwaetzers Behauptung richtig, dass sich Fichte mit der Frage nach der Biographie nicht befasst, jedoch ist der Grund dafür weder ein Dualismus noch ein Platonismus.

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Die Verleiblichung wie vorher die Zeugung setzt folglich die Präexistenz der Seele voraus. Als drittes Moment der Verwirklichung der Seele bezieht sich Fichte letztlich auf die Bewusstwerdung. Dabei handelt es sich um die Entwicklung, durch welche sich die Seele von ihrer Bewusstlosigkeit zum Selbstbewusstsein erhebt. Das »seelisch-leibliche Individuum« werde zunächst von den Sinnesempfindungen angeregt und »innerlich erwacht« (Fichte, 1855a, S. 116), um dann die Stufen der Empfindung, der Selbstempfindung, des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins durchzulaufen. Wenn dieses Individuum einmal »zum festen Bewusstsein [seiner] Selbstigkeit« gelangt hat, werde die Seele »[z]um Geiste« (Fichte, 1855a, S. 116). Die Seele wird demnach dann zum Geist, wenn die beharrliche Einheit, welche dem ganzen Organismus und seinen Funktionen gestaltend und erhaltend gegenwärtig ist, sich auf sich selbst bezieht und sich eben als diese Einheit erkennt, wodurch nämlich die organische Identität zur selbstbewussten Identität wird. Angesichts dieser Entwicklung stellt Fichte (1859) fest, dass das Bewusstseinsvermögen nicht eine emergente und zufällige, sondern vielmehr eine ursprüngliche Eigenschaft des menschlichen Geistes sei (S. 23, § 16). Was demnach als letztes Moment der Entwicklung erscheint, ergibt sich als Resultat einer allmählichen Entfaltung einer ursprünglichen Anlage. In diesem Sinne erweise sich die Entwicklung des Bewusstseins – wie weiter oben dargestellt – als eine »Genesis des Bewußtseins aus den Bedingungen einer vorbewußten Existenz des Geistes« (Fichte, 1859, S. 20, § 13). In dieser vorbewussten Existenz des Geistes liege demnach das Bewusstseinsvermögen in potentialer Form. Nur durch diese Annahme lasse sich laut Fichte die Eigentümlichkeit des Selbstbewusstseins verstehen, welches – wie es sich aus Fichtes Kritik des Materialismus ergeben hatte – das nicht bloß aus Materie und Bewegung erklärbare Vermögen der Selbstverdoppelung impliziere. Die Tatsache des Selbstbewusstseins setze folglich nicht nur die Individualität, sondern auch die Präexistenz des menschlichen Geistes voraus. Aus dem Vorhergehenden ergibt sich, dass der ganze Verwirklichungsprozess der Seele für Fichte ohne die Annahme einer ideellen und wirksamen Präformation unerklärt bleiben würde. Zu einer befriedigenden Erklärung aller darin enthaltenen Vorgänge bedürfe es der Begriffe des Urbildes, der Uranlagen und der Schöpferkraft, welche nur in der Präexistenz der menschlichen Seele ihren Grund haben können. In diesem Sinne sei die Seele die Stätte des Urbildes, der Ur302

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anlagen und der Schöpferkraft der leiblich-seelisch-geistigen Entität. 202 Diese präexistente Idealität und immanente Wirksamkeit der Seele erklärt Fichte mittels der Begriffe des inneren Leibes und der Phantasietätigkeit der Seele. 4.2.3.3.1 Der innere Leib als vorbildliches Prinzip Mit dem Begriff des inneren Leibes präzisiert Fichte, was er vorher mit dem Begriff der organischen Seele bezeichnet hatte, nämlich die Wirksamkeit der Seele als immanentes Form- und Einheitsprinzip des Organismus. Beide Begriffe verwendet er demnach als Synonyme, insofern die Seele unter dem Aspekt ihrer organischen Tätigkeit betrachtet wird. Der Begriff des inneren Leibes bezeichnet »das Minimum dessen, was von der ›Seele‹ behauptet werden kann«, nämlich, dass sie »ein individuelles und beharrliches Realwesen [sei], ihre Eigenthümlichkeit darstellend in einem Systeme von Organen und Functionen« (Fichte, 1864a, S. 64, § 71). Diesen inneren Leib unterscheidet Fichte sodann von dem äußeren Leib, welcher hiergegen eine »blosse Summe gewisser chemischer Stoffelemente« bilde und dem Wechsel unterworfen sei (Fichte, 1864a, S. 63, § 71). 203, 204 Diese chemischen Elemente werden nämlich in den »Assimilationskreis« des Organismus »gezogen und zum Dienste der Organisation gezwungen«, wodurch sie »vorübergehend seine Natur annehmen« (Fichte, 1855a, S. 156). Diese chemischen Elemente scheiden jedoch aus jenem Assimilationskreis wieder aus, sodass der äußere Leib »nach Verlauf eines bestimmten Zeitraums« Für Fichte bildet der Mensch eine Einheit von Leib, Seele und Geist, wobei es klargestellt werden soll, dass es sich bei dieser Einheit um keine Kombination oder Kopplung handelt, sondern eben um eine Einheit. Insofern man diese Einheit als organische, innerliche oder selbstbewusste Einheit betrachtet, bezeichnet sie Fichte respektive als Leib, Seele und Geist. Mehr zum Unterschied und zur Einheit von Organismus, Seele und Geist vgl. Fichte (1836a, S. 472–518, §§ 271–299). In diesem Zusammenhang weist beispielsweise Spiegel (1927) darauf hin, dass die Begriffe der Seele und des Geistes »Seiten am realen Wesen des Menschen« bezeichnen (S. 4). Der Begriff der Seele bezeichne dieses reale Wesen nämlich »in bezug auf seine Leibgestaltung«, während der Begriff des Geistes es »in bezug auf seine Bewußtseinsentwicklung« bezeichne (Spiegel, 1927, S. 4). 203 Zum Begriff des inneren und des äußeren Leibes bei Fichte vgl. auch Stern (1967, S. 149–152). 204 In Hinsicht auf die Theorie des inneren und äußeren Leibes lässt sich ein systematisches Verhältnis zwischen Fichte und Fortlage feststellen, die sich gegenseitig rezipiert haben. Mehr dazu vgl. Fn. 106 sowie Fortlage (1856, 1865). 202

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eine vollständige Erneuerung durchgelaufen sei (Fichte, 1876a, S. 283, § 123). In diesem Sinne ist der äußere Leib für Fichte (1855a) »gar nicht der eigentliche Leib, noch weniger der Mensch, sondern die stets wechselnde und sich umbildende Erscheinung desselben« (S. 156). Was jedoch als die »organische Identität« oder »die Dauer des Individuums in jenem ununterbrochenen Stoffwechsel« erkannt werden kann, ist nämlich, was Fichte (1855a) als den eigentlichen Leib bezeichnet (S. 156). Dieser innere Leib sei folglich »[d]as Einende, das eigentliche ›Band‹ des äusseren Leibes« (Fichte, 1876a, S. 284, § 124). 205

In Hinsicht auf den Begriff des inneren Leibes knüpft Fichte an eine tausendjährige Tradition an. Er weist nämlich darauf hin, dass die »Lehre vom ›innern Leibe‹« bzw. vom »pneumatischen Organismus … uralt und zu allen Zeiten in den verschiedensten Vorstellungsweisen ausgebildet worden« sei (Fichte, 1876a, S. 285, § 124). Diese Tradition rekapitulierend, bezieht sich Fichte unter anderem auf die dem Volksglauben angehörenden Begriffe der εἴδωλα καμόντων, spectra, manes und lemures; auf Platons »halbmythisch[e]« Konzeption der »Fortexistenz«; auf Hippokrates’ Begriff des ἐνορμῶν; auf Aristoteles’ Begriff der ψυχή φυτική; auf die Lehre des »pneumatischen Leibes« des Nauplatonismus, der Kabbala, der christlichen Mystik und der theosophischen Naturforschung; auf den Begriff der Nephesch der Kabbala; auf Paracelsus’ Begriff des siderischen Leibes oder Astralleibes; auf Franz Mercurius van Helmonts Begriff des Zentralgeistes; auf Leibniz’ Begriff des vinculum substantiale; und auf Georg Ernst Stahls Seelenbegriff (vgl. Fichte (1876a, S. 285–290, § 124)). Nach einer Zeit der »Vergessenheit« habe diese Lehre im 19. Jahrhundert wiederaufgetaucht. In diesem Zusammenhang erwähnt Fichte nämlich Gottfried Reinhold Treviranus’ grundlegende Werke für die morphologische Naturforschung; Friedrich Groos’ Begriff des unverweslichen Leibes; Carl Gustav Carus’ Seelenlehre; Karl Christian Friedrich Krauses und Heinrich Simon Lindemanns Begriff des Urleibes oder Ätherleibes; Friedrich Fischers Begriff der Durchwohnung der Seele im Leib; Peter Volkmuths Unterscheidung zwischen Körper und Leib; Maximilian Pertys Lehre über das Verhältnis zwischen Leib und Seele; Jakob Senglers Begriff des subjektiv realen Ich; und Karl Fortlages grundlegende Werke für die Lehre des inneren Leibes, insbesondere seine Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Leib bzw. zwischen Empfindungsleib und Stoffleib (vgl. Fichte (1876a, S. 290–300, §§ 125–127)). An einer anderen Stelle knüpft Fichte an Schelling an. In seiner Rezension von Clara oder Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt. Ein Gespräch behauptet Fichte (1869c) Folgendes in Bezug auf Schellings Begriff des Leibes: »Also ist auch nach Schelling’s Meinung der Leib doch weit mehr noch und eigentlich ein ganz Anderes, als blos der ›materielle Träger‹ für Seele und Geist. Darin nun können wir nicht umhin, einen der geistvollsten und wichtigsten Vorblicke auf spätere Untersuchungen anzuerkennen. Das ›eigentlich‹ Leibliche ist auch für Schelling das innere Charakterbild der Seele, das versichtbarte Gleichniss ihrer Individualität, kurz dasjenige, was wir den ›innern Leib‹, zugleich die ›Vollgeberde‹ der Seele zu nennen gewohnt sind und dessen empirische Realität von uns erwiesen worden ist« (S. 238–239).

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Wenn die Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Leib feststeht, so stellt sich die Frage, wodurch es dem inneren Leib möglich ist, den äußeren Leib in seiner individuellen Form zu gestalten und zusammenzuhalten. Diese Frage beantwortet Fichte dahin gehend, dass er die Begriffe des Form- und Einheitsprinzips genauer und differenzierter erörtert. Es ist für ihn demnach nicht hinreichend, den inneren Leib bzw. die organische Seele bloß als das Form- und Einheitsprinzip des Organismus zu behaupten, sondern er versucht, die realen Bedingungen dieser Funktion der Seele näher nachzuweisen. In diesem Zusammenhang weist er konkret auf den Begriff des Urbildes des Organismus und auf den Begriff der Phantasietätigkeit hin. Er ist dementsprechend der Auffassung, dass der innere Leib nur kraft eines ihm immanenten Urbildes des Organismus und einer ihm eigenen Phantasietätigkeit den äußeren Leib gestalten und zusammenhalten könne. Was das Urbild des Organismus betrifft, so weist Fichte (1859) darauf hin, dass »allen morphologischen und organischen Processen« notwendig ein Vorbild des Organismus als »gemeinsame Vorbedingung« zugrunde liegen müsse, welches er genauer als »ein allgemeines Raumschema des Leibes« definiert (S. 58, § 38). Nur gemäß diesem »stets sich erzeugende[n] und stetig sich verändernde[n] schematische[n] Vorbild«, welches nämlich »alle Lagen und Größenverhältnisse genau ineinander berechnet und auch nach den kleinsten Beziehungen geordnet und vorgezeichnet« in sich einschließe, könne der innere Leib dem äußeren Leib ihre individuelle Form verleihen (Fichte, 1859, S. 58, § 38). Dem inneren Leib wohne demnach eine präformierte Idealität inne, welche sich einerseits als Zweck im zu erreichenden Vorbild und andererseits als Vernunft in der diesem Raumschema impliziten Geometrie ausdrücke. Der innere Leib gelte demnach als das vorbildliche Prinzip des ganzen Organismus. Nun würde diese Idealität jedoch ohne eine sie objektivierende und gestaltende Kraft bloße Idealität bleiben, sodass Fichte den inneren Leib ebenfalls als eine plastische und schöpferische Kraft betrachtet. Diese Kraft bezeichnet Fichte als die Phantasietätigkeit der Seele. 4.2.3.3.2 Die Phantasietätigkeit der Seele als schöpferische Kraft Angesichts der Lebens- und Bewusstseinsprozesse stellt Fichte die Gegenwart eines Formprinzips des Organismus fest – wie schon aufgezeigt. Bei näherer Betrachtung dieses Prinzips gelangt Fichte (1864a) zur Einsicht, dass es sich dabei um ein »real-ideale[s] VerSubstantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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mögen« handele (S. 21, § 25), welches gemäß dem ihm immanenten Urbild des Organismus als eine »geometrisirende[]« oder »raumconstruirende[]« Tätigkeit wirke, welche Fichte (1859) sodann als die Phantasietätigkeit des inneren Leibes bezeichnet (S. 61, § 40). 206 Nun mache diese leibgestaltende Wirkung der Phantasie nur eine ihrer Richtungen aus. Fichte weist nämlich darauf hin, dass die Phantasie in Hinsicht auf ihren bildhaften und formgebenden Charakter nicht nur an der Leibgestaltung, sondern auch – gefühlserzeugend 207, bilderzeugend 208, traumerzeugend 209 und somatisierend 210 – an der Vermittlung zwischen organischen und bewussten Zuständen sowie letztlich an der freien geistigen Produktivität beteiligt sei. In diesem Sinne erstrecke sich der Wirkungsbereich der Phantasie von »den organischen Processen«, bei welchen sie »bewusstlos vernunftvoll thätig« sei, »bis in die freiesten und doch unwillkurlichsten Schöpfungen

Zu Fichtes Begriff der Phantasie als leibbildendes Vermögen vgl. auch Stern (1967, S. 163–172). 207 Fichtes Ansicht über diese Vermittlungstätigkeit der Phantasie wirft ein neues Licht auf das Phänomen der sogenannten »Lebensgefühle«: »Ihre Annahme beruht auf der Beobachtung, dass organische Stimmungen und Verstimmungen entsprechende Gefühle im Bewusstsein erzeugen, und zwar desto lebhaftere und intensivere, je stärker und dauernder sie selbst auftreten. Das Wohlgefühl der Gesundheit, das Misgefühl der Krankheit oder der Schwäche, das Gefühl der Wachheit oder der Schläfrigkeit, die Empfindung des Hungers und Durstes oder der Sättigung, die Gefühle von Behaglichkeit oder Unbehaglichkeit, von Schmerz und alles Dahineinschlagende erklärt man – zunächst ohne Zweifel mit Recht – aus gewissen bleibenden Zuständen oder wechselnden Umstimmungen des Organismus, welche sich im Bewusstsein reflectiren und deren nächster Grund das Nervensystem im Ganzen oder gewisse Nerventheile (doch nicht eigentliche Sinnesnerven) sind« (Fichte, 1876a, S. 493–494, § 207). 208 »[B]ei intensiverer Umstimmung des Organismus steigern sich jene Gefühle auch zu höchst lebhaften Phantasiebildern, ja zu eigentlichen Visionen« (Fichte, 1876a, S. 494, § 207). 209 »Diese Umbildung und Steigerung finden zunächst besonders im Schlafe statt, d. h. in demjenigen Zustande, wo anerkanntermassen, mit Zurückdrängung der Reflexion und des bewussten Willens, die unwillkürlich bildende Macht der Phantasie vorwaltet« (Fichte, 1876a, S. 494, § 207). 210 Dieser Begriff weist auf die Vorgänge hin, bei welchen Fichte die erste Richtung der Phantasietätgikeit feststellt. Bei diesen Vorgängen spiegeln sich nicht die organischen Zustände in der Seele – wie in der zweiten Richtung der Fall ist –, sondern umgekehrt die seelischen Zustände – Phantasiebilder, Vorstellungen usw. – im Organismus, sei es pathologisch oder therapeutisch. Interessant ist auch Fichtes Hinweis darauf, dass die Wirkung der Placebos ebenfalls auf der Phantasietätigkeit beruhe (vgl Fichte (1876a, S. 484–487, §§ 204–205)). 206

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des bewussten Geistes« (Fichte, 1876a, S. 580, § 250). 211 In allen diesen Vorgängen sei die Phantasietätigkeit demnach als das Formprinzip des Organismus »allgegenwärtig« wirksam (Fichte, 1859, S. 62, § 40). Diese Wirkung der Phantasie sei nun, wie die von Fichte erwähnten Vorgänge zeigen, insofern bidirektional, als sie einerseits idealisierend die organischen Zustände in der Seele und andererseits realisierend die seelischen Zustände im Organismus spiegele. Auf diese Weise gebe sich die Phantasie »in vielseitigen Wirkungen auf allen Stufen des Lebens« kund, und zwar sowohl »in blos subjectiven (Traum-) Bildern« als auch »plastisch sich objectivirend im Organismus« (Fichte, 1859, S. 62, § 40). 212 Durch diesen Begriff der Phantasie begründet Fichte demnach auf differenziertere und konkretere Weise den vorher nur allgemein behaupteten »Begriff der sich selbst organisirenden und ihren Leib sich formenden Seelensubstanz« (Fichte, 1876a, S. 291, § 125). 213 Nachdem Fichte die positive Wirkung der Phantasie aufzeigt, geht er der Frage nach, was außerhalb ihres Macht- und Wirkungsbereichs steht. In diesem Zusammenhang stellt Fichte (1859) klar, In Hinsicht auf Fichtes Begriff eines leibgestaltenden und bewusstseinserzeugenden Vermögens der Seele, das nicht nur hypothetisch, sondern erfahrungsmäßig ist, ist auf Fortlage hinzuweisen. Fichte gibt nämlich zu, dass er mit Fortlages Begriff des Triebes eine Lücke in seiner Theorie erfüllt und seinen Begriff der Phantasie ergänzt habe (vgl. Fn. 106). 212 Die spätidealistische Theorie der Phantasie ist ein höchst interessantes Thema, welches jedoch immer noch ein Desiderat der Forschung bleibt. Eine vergleichende Studie der Theorien der Phantasie von Fichte und Frohschammer (vgl. Frohschammer (1877, 1879, 1883)) wäre ein großer Beitrag zur Forschung des Spätidealismus. Vgl. auch von Hartmann (1900, S. 355–385), der in seiner Geschichte der Metaphysik Weiße, Fichte und Frohschammer als »Vertreter der Phantasie« bezeichnet. Das systematische Denken über die Phantasie bzw. die Imagination in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts beschränkt sich nicht auf die enge Konstellation des deutschen Idealismus und der Frühromantik, sondern es setzt sich mindestens bis zum Spätidealismus fort. In diesem Sinne sollte eine Betrachtung der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts unter dem Aspekt der Phantasie die systematischen Versuche des Spätidealismus miteinbeziehen. Gerade eine solche Einbeziehung fehlt in einem immerhin wert- und verdienstvollen Band wie dem von Gentry und Pollok (2019). Nach dem Abschluss der vorliegenden Arbeit ist ein Aufsatz über Frohschammers Theorie der Phantasie erschienen, der einen wichtigen Beitrag zur Füllung dieser Forschungslücke darstellt (vgl. Schwaetzer (2020)). 213 In dieser Hinsicht weist Spiegel (1927) darauf hin, dass »[d]ie Phantasie, wenn sie nach ihrer leibgestaltenden Wirkung bezeichnet werden soll, … präziser als Trieb gefaßt warden [muss], den der Trieb steht mitten im Realen, kann zur ›physikalischen Kraft‹ werden« (S. 21). 211

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dass die Phantasie »nur als gestaltendes, formgebendes Princip … und als nichts weiter« betrachtet werden könne (S. 63, § 41). Die Grenze ihres Wirkungsbereichs liege somit nämlich da, wo die Gesetze der Materie ihre Geltung haben. Diejenigen Elemente, welche die Seele in ihren »Assimilationskreis« zieht und an welchen sie »ihre morphologische Thätigkeit vollzieht«, seien der Seele in Hinsicht auf ihre Gesetze »völlig fremd« (Fichte, 1859, S. 63, § 41). In diesem Sinne weist Fichte (1859) darauf hin, dass die Phantasie jene Elemente weder »erzeugen« noch dynamisch »herbeiziehen« noch »qualitativ verändern[]« könne (S. 63, § 41). Auch wenn die morphologische Tätigkeit der Phantasie bei der Leibgestaltung nur unter der Bedingung dieser materiellen Grundlage möglich sei, stehen die »Stoffbildung« und die »Stoffveränderung« außerhalb ihres Machtbereichs. Insofern der Phantasie Zweckmäßigkeit, Vernunftgemäßheit und Kunstmäßigkeit innewohne, definiert sie Fichte (1876a) als »die ›Vernunft‹ selber auf der niedersten Stufe, entweder als objectiv bewusstloses Wirken in der soeben von uns bezeichnete Weise, oder als unwillkürlich (künstlerisch) ins Bewusstsein eintretender Nous« (S. 580–581, § 250). Mit dem Beweis der Präexistenz der Seele kommt Fichtes Beweis der Wesensapriorität der menschlichen Seele zum Schluss. Diesen Beweis der Wesensapriorität – Substantialität, Individualität und Präexistenz – betrachtet Fichte als die grundlegende Eingabe für seinen Beweis der persönlichen Fortdauer der Seele, welche anschließend näher betrachtet werden soll.

4.2.4 Die Fortdauer der menschlichen Seele 214 Seinen Untersuchungen über die Fortdauer der menschlichen Seele stellt Fichte (1867) einerseits die Klarstellung voran, dass es sich dabei um einen Forschungsgegenstand handele, welcher »der Region des Zukünftigen, noch Unerlebten und unmittelbar gar nicht zu Erlebenden an[gehört]«, und andererseits die aus dieser Sachlage hervor-

Zu Fichtes Begriff der Unsterblichkeit vgl. auch Horstmeier (1930, S. 59–65). Sie unterscheidet richtig die wesentlichen Momente des Beweises, jedoch fehlt ihrer Skizzierung die Begründung, welche sich dieses Kapitel vornimmt. Neben Horstmeier vgl. auch Ebert (1938, S. 55–68) für eine Skizzierung des Begriffs der persönlichen Unsterblichkeit.

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gehende methodologische Maxime, dass es »offenbar« nur dann möglich sein werde, diesen Gegenstand »über den Bereich ungewissen Vermuthens und blos problematischer Hypothesen zu erheben«, wenn man nämlich »ihn in stetigen Zusammenhang setzt mit dem Gegenwärtigen, Erfahrbaren, sicherer Erforschung Standhaltenden« (S. 4, § 2). Diese Verfahrensweise bezeichnet Fichte – wie schon ausführlich erörtert – als die Anwendung analogischer Reihen. Im gegenwärtigen Fall läuft diese methodologische Maxime darauf hinaus, dass man »den künftigen Zustand aus der Analogie des gegenwärtigen zu begreifen versucht« (Fichte, 1867, S. 4, § 2). Folglich könne diese Frage nur dann befriedigend beantwortet werden, »wenn es gelänge, schon im gegenwärtigen Leben die Spuren unsers künftigen Daseins zu entdecken« (Fichte, 1876a, S. 342, § 143). Solche Erfahrungsanalogien findet Fichte in den physiologischen, psychologischen, historischen und ethischen Tatsachen, unter welchen sich diejenigen befinden, welche schon für den Beweis der Wesensapriorität der menschlichen Seele berücksichtigt wurden, aber auch noch andere, welche besonders für die Frage nach der Möglichkeit der Fortdauer des Bewusstseinsvermögens relevant sind. In dieser Hinsicht soll nun Fichtes Beweis für die persönliche Fortdauer der menschlichen Seele in ihren Hauptmomenten rekonstruiert werden.

4.2.4.1 Der physiologische Begriff der Seelenfortdauer

Im ersten Moment des Beweises für die Fortdauer der menschlichen Seele zieht Fichte den Menschen unter dem Aspekt der organischen Tätigkeit der Seele in Betracht und befasst sich mit der Frage nach der Bedeutung des Todes, insbesondere nach dessen Implikationen für das Wesen der Seele als Organisationskraft. Auf diese Weise entwickelt Fichte einen physiologischen Begriff der Seelenfortdauer, welcher ein erstes Glied des ganzen Beweises ausmacht. 215

Nach dem Abschluss der vorliegenden Arbeit ist ein Aufsatz von mir erschienen, der auf diesem Teil meiner Arbeit basiert und eine kurze Zusammenfassung des physiologischen Begriffs der Fortdauer der Seele darstellt (vgl. Hernández Maturana (2020)).

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4.2.4.1.1 Der Tod als Moment des Lebensprozesses Den Tod setzt Fichte in ein analogisches Verhältnis mit dem Vorgang, welchen er (1876a) als das »tägliche Sterben« bezeichnet (S. 323, § 136). Der Tod ist für Fichte demnach kein vom Leben isoliertes und losgelöstes Phänomen, als fände während des Lebens überhaupt kein Sterben statt und als trete der Tod das Leben verneinend und vernichtend nur einmal und definitiv ein. Dieser definitive Tod stehe vielmehr in Kontinuität mit dem Sterben, welches sich am Leben eines Organismus beobachten lasse. Aus der Feststellung dieser Kontinuität folgt es, dass der Tod »nicht der abstracte Gegensatz oder die Negation des Lebens« sei (Fichte, 1855a, S. 159), sondern er erweise sich vielmehr als »ein organischer Vorgang …, welchen der Lebensprocess selber aus sich erzeugt« (Fichte, 1876a, S. 322, § 136). Dieser Vorgang sei außerdem nicht nur keine Negation des Lebens, sondern er mache sogar insofern eine notwendige Bedingung des Lebens aus, als er regulativ die Stofferneuerung ermögliche, welche für die Existenz des Leibes notwendig ist. In diesem Sinne ist der Tod für Fichte ein notwendiges Moment des ganzen Lebensprozesses. Gemäß dieser Ansicht sei der Lebensprozess als die Durchdringung von »Entstehen und Vergehen, Sicherzeugen und Sterben« (Fichte, 1876a, S. 322, § 136) und hierbei als eine »ununterbrochene organische Erneuerung« zu betrachten (Fichte, 1876a, S. 323, § 136). Wenn es feststeht, dass der definitive mit dem täglichen Tod in Kontinuität steht, eröffnet sich eine neue Perspektive zum Verständnis des Todes. Der Tod sei aus dieser Perspektive nämlich nicht im direkten Gegensatz mit dem Leben, sondern in seinem graduellen Unterschied mit dem täglichen Sterben zu verstehen. In Hinsicht auf diese Kontinuität des Phänomens des Todes behauptet Fichte (1876a), dass das »unablässige Sterben« bzw. das »Wiederabstreifen der sinnlich-chemischen Stoffe«, welches schon während des Lebens geschehe, letztendlich »im ›Tode‹« zu seiner Vollendung komme (S. 324, § 136). Der Tod sei demnach im Vergleich zum täglichen Sterben »keine andere oder neue Erscheinung« (Fichte, 1876a, S. 324, § 136), sondern er mache nur das letzte Moment eines kontinuierlichen Vorgangs aus. Bei beiden Phänomenen lasse sich jedoch ein Unterschied konstatieren, welcher darin besteht, dass sich der definitive Tod als ein Vorgang zeige, bei welchem »die organische Seele« bzw. »der ›innere Leib‹ … vollständig die sinnlichen Medien fallen [lässt], gleichwie er es unvollständig in jedem Augenblicke seines Lebens that« (Fichte, 1876a, S. 324, § 136). Dieser Gradunterschied 310

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zwischen einer unvollständigen und einer vollständigen Abwendung vom äußeren Leib ergebe sich nämlich aus dem Grad, in welchem die organische Seele auf den Leib einwirken kann. Nun verändere sich dieser Grad während des Lebens gemäß dem »allmählichen ›Altwerden‹« des Organismus (Fichte, 1876a, S. 324–325, § 136). Beim Altwerden zeige sich sodann wegen einer immer »schwächere[n] Einwirkung der organischen Kraft« auf den äußeren Leib eine »immer unvollkommener[e] organische[] Bewältigung der chemischen Stoffe« (Fichte, 1876a, S. 324–325, § 136), bis diese Bewältigung nicht mehr möglich ist und sich die organische Seele von den Verleiblichungsmitteln vollständig abwende. Insofern es beim definitiven Tod keine organische Bewältigung der chemischen Elemente mehr möglich ist, gewinnen »die Gesetze des unorganischen Chemismus volles Recht an den Leib« und sie lassen »die allgemeinen Weltstoffe wieder selbständig aus ihm hervortreten …, welche höchst vorübergehend von der organischen Kraft zu ihrem Dienste gezwungen worden waren« (Fichte, 1876a, S. 329, § 138). Dieser Auffassung des Todes liegt die schon begründete Annahme zugrunde, dass die Seele das präexistente und immanente Formprinzip des Organismus sei und dass sie im Verleiblichungsprozess den äußeren Leib als ihre raumzeitliche Form hervorbringe. Wenn nun die Gesetze der unorganischen Natur bei dem natürlichen Tod sich am äußeren Leib geltend machen und folglich die in der Einheit des Organismus assimilierten Elemente diese Einheit verlassen und zur unorganischen Natur zurückkehren, stellt sich die Frage, ob der organischen Seele überhaupt eine neue Wirklichkeitsform zukommt, wenn ihr eigenes Produkt und ihre unmittelbare Form, nämlich der äußere Leib, vergangen ist. 4.2.4.1.2 Die Fortdauer der Organisationskraft Zur Beantwortung der Frage, ob der organischen Seele nach dem natürlichen Tod eine Wirklichkeitsform zukommt, weist Fichte (1876a) zunächst darauf hin, dass dasjenige, was im natürlichen Tod vergeht, nämlich das »zusammengesetzte Gebilde« des Organismus sei (S. 329, § 138). Es vergehe demnach lediglich eine »vorübergehend von der organischen Kraft« zusammengehaltene Form (Fichte, 1876a, S. 329, § 138). Da diese leibliche Form und der ganze Lebensprozess von der organischen Seele hervorgebracht und zusammengehalten werden, könne der Tod, insofern er ein Moment des Lebensprozesses ausmache, überhaupt keine Wirkung auf das Formprinzip haben, Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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welches ihn erst einmal hervorgebracht habe. Bei dem natürlichen Tod werde demnach lediglich »eine bestimmte Form der Sichtbarkeit abgestreift« (Fichte, 1876a, S. 330, § 138), während die Seele als die formgebende und organisierende Kraft jener Form unantastbar von ihrem eigenen Produkt bleibe. Laut Fichte (1876a) vergehen beim natürlichen Tod demnach »weder die Seelensubstanz, die ihn organisirt hat, noch die Stoffe, aus denen er gebildet wurde« (S. 329, § 138). Als erste Annäherung zum Phänomen des Todes fokussiert sich Fichte demnach auf den Begriff der Organisationskraft der Seele, weil gerade dieser Begriff die Grundlage für eine erste Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit der Fortdauer der menschlichen Seele bereitet. Wenn das Phänomen des Todes unter dem Aspekt der Organisationskraft der Seele betrachtet wird, dann muss man laut Fichte feststellen, dass der Tod »nichts Anderes sei, als eine organische Krise« (1833b, S. 32, § 26, Anm.), bei welcher die Seele trotz des Verlustes ihrer leiblichen Form immerhin »das Raum und Zeit setzend-erfüllende Wesen« bleibe, »das sie während des Sinnenlebens war« (1876a, S. 331, § 139). Die Seele könne ihre raumzeitliche Form setzen und erfüllen nämlich nur durch ihre formgebende und leibgestaltende Kraft, welche weiter oben als die Phantasietätigkeit der Seele bezeichnet wurde. Angesichts dieser apriorischen Kraft hält es Fichte (1876a) für eine »völlig willkürlich[e]« Behauptung, dass der Tod den Menschen seines »plastische[n] Vermögen[s]« berauben könnte (S. 364, § 153), zumal der Tod zum Lebensprozess angehöre, welchen eben die eigene plastisch organisierende Seele hervorbringe. Folglich dauere die Seele, wenn der äußere Leib beim natürlichen Tod vergehe, als das organisierende Prinzip fort. Es muss nun klargestellt werden, dass sich Fichte auf jenes Prinzip mit den synonym angewandten Begriffen der organischen Seele, des inneren Leibes und der leibgestaltenden Phantasie bezieht. Es handelt sich im Endeffekt um die Seele als Organisationskraft. Nun könnte man das Bedenken hegen, dass die Seele als Organisationskraft bloße Potentialität sei, sodass man ihr keine Wirklichkeitsform nach dem natürlichen Tod zuschreiben könne, zumal die Wirklichkeit für Fichte nur die quantitative Form eines Wesens bezeichnet. Gerade darin liegt das Interessante dieser Auffassung, denn sie eröffnet die Möglichkeit, im Rahmen einer besonnenen und naturgemäßen Reflexion die nun legitime Frage nach der »Erhaltung oder Wiedergewinnung der Corporisation nach dem Tode« aufzuwerfen (Fichte, 1855a, S. 139–140). In dieser Hinsicht geht aus der Be312

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hauptung, dass die Seele nach dem natürlichen Tod als Organisationskraft fortdauert, nämlich die Implikation hervor, dass die Seele nach dem natürlichen Tod nicht als ein einfaches Wesen in eine raumund zeitlose Sphäre eintrete, sondern dass sie ganz im Gegenteil als ein »Raum und Zeit setzend-erfüllende[s] Wesen« (Fichte, 1876a, S. 331, § 139) ihre quantitative Form bzw. »ihre Raumgestalt (ihr εἴδωλον)« zu behalten vermöge (Fichte, 1855a, S. 39) – wobei es nicht schadet, daran zu erinnern, dass Raumzeitlichkeit für Fichte keine ausschließliche Eigenschaft der bloßen Materialität sei. In diesem Sinne erlaubt der Begriff der Organisationskraft der Seele, die Behauptung mit einem hohen Grad der Wahrscheinlichkeit zu wagen, dass die Seele nach dem natürlichen Tod »einen geistigen Leib« (Fichte, 1855a, S. 39) bzw. einen »pneumatischen Organismus« (1876a, S. 348, § 146) behalte, welcher laut Fichte (1876a) »nicht erst im künftigen Leben« (S. 348, § 146) gewonnen werden solle, sondern »schon im gegenwärtigen« Leben »besessen« und »ausgebildet« werde (349, § 146). Zur Ausbildung dieses geistigen Leibes bedürfe es selbstverständlich eines »andere[n] Verleiblichungsmittel[s]« als die Materie (Fichte, 1876a, S. 331, § 139). Insofern die Seele nach dem natürlichen Tod als Organisationskraft fortdauere, dürfe man analogisch den Schluss ziehen, dass die Seele in jenem Zustand »neue, jetzt ihm [dem Menschen] homogene Elemente organisirend an sich heranzuziehen« vermöge, um die geistige Leiblichkeit zu bilden (Fichte, 1855a, S. 163). Diese geistige Leiblichkeit beginne der Mensch – wie angedeutet – schon in seinem gegenwärtigen Leben zu bilden – was weiter unten in Hinsicht auf den Begriff der Fortdauer des Genius aufgeklärt werden sollte. An dieser Stelle genügt die Andeutung, dass sich die Entwicklung des menschlichen Geistes auf den gegenwärtigen Leib derart auswirke, dass dieser innere, geistige Leib die »ganze einmal gewonnene Lebensstufe vollständig und rückhaltslos in die neue Existenz mit sich hinüber[nimmt]« (Fichte, 1855a, S. 163). In dieser Hinsicht habe es die »wiedergeborene Individualität« nicht mehr nötig, »den alten Process einzugehen, aus unentwickelten, leiblich-seelischen Anfängen erst allmählig sich aufzubauen, und wie in diesem Leben, so dort zu einer neuen Kindschaft zu erwachen« (Fichte, 1855a, S. 163). Vielmehr werde »das gegenwärtige Dasein, nur entschiedener und ausgeprägter, … in dem folgenden [fortgesetzt]« (Fichte, 1855a, S. 163). Diese Kontinuität zwischen gegenwärtigem und künftigem Leben wird demnach in Anbetracht der Organisationskraft der Seele verständlich. Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Mit dem Hinweis auf die Implikationen der Entwicklung des Geistes während des Lebens auf die Bildung seiner inneren Leiblichkeit ist die Argumentation jedoch streng genommen über die Grenzen hinausgegangen, welche der physiologische Begriff der Fortdauer setzt. In diesem Zusammenhang dürfe man laut Fichte nur den Begriff einer Seelenfortdauer beweisen, welcher gleichermaßen für die ganze organische Natur, insofern ihr eine Organisationskraft innewohne, gültig wäre. Folglich darf man unter dem Aspekt der Organisationskraft einen Begriff der Fortdauer der Seele entwickeln, dem zufolge die Möglichkeit einer geistigen Leiblichkeit nach dem natürlichen Tod mit einem hohen Grad der Wahrscheinlichkeit behauptet werden kann. Auch wenn aus diesem physiologischen Begriff der Fortdauer sogar die Individualität dieser Leiblichkeit hervorgeht, bleibt die Frage noch offen, ob der neuen Existenzform der Seele einerseits eine Bewusstseinsform und andererseits eine Persönlichkeitsform zukomme.

4.2.4.2 Der psychologische Begriff der Seelenfortdauer

Im zweiten Moment des Beweises für die Fortdauer der menschlichen Seele zieht Fichte den Menschen unter dem Aspekt der bewussten Tätigkeit der Seele in Betracht und befasst sich mit der Frage nach der Bedeutung der leibentbundenen Bewusstseinszustände, insbesondere in Hinsicht auf ihre antizipierende Aussagekraft zu einer möglichen Fortdauer der Bewusstseinsquelle und einer Bewusstseinsform ohne äußeren Leib nach dem natürlichen Tod. Auf diese Weise entwickelt Fichte einen psychologischen Begriff der Seelenfortdauer, welcher ein zweites Glied des ganzen Beweises ausmacht. 4.2.4.2.1 Der Haupteinwand gegen die Idee der Fortdauer mit Bewusstsein Der Haupteinwand gegen die Idee der Fortdauer der menschlichen Seele mit Bewusstsein gehe laut Fichte aus der zweistufigen materialistischen Ansicht hervor, dass erstens die Seele nichts weiter als Bewusstsein sei und dass zweitens das Bewusstsein von materiellen und mechanischen Verhältnissen kausal abhänge. Aus solchen Prämissen ergibt sich sodann zwangsläufig, dass das Bewusstsein nach dem natürlichen Tod des Leibes keineswegs fortdauern kann. Die gegensätzliche Behauptung der Fortdauer des Bewusstseins wäre unter diesem 314

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Gesichtspunkt einfach ein Widerspruch, denn eine Wirkung kann weder ohne ihre Ursache zustande kommen noch nach der Verwesung ihrer kausalen Bedingungen eine akausale Existenz führen. Mit dem natürlichen Tod vergehen die kausalen Bedingungen des Bewusstseins, sodass dieses mit dem Tod des Leibes einfach verschwindet. 4.2.4.2.2 Die Fortdauer der Bewusstseinsquelle Die Frage, ob der Seele nach dem natürlichen Tod neben einer Wirklichkeits- auch eine Bewusstseinsform zukommt, beantwortet Fichte unter dem Aspekt der Fortdauer der Bewusstseinsquelle. Zu diesem Zweck entwickelt Fichte einen zweischrittigen Beweis, durch welchen er dem dargestellten Haupteinwand gegen die Idee der Fortdauer Rechnung trägt. Die Fortdauer der Bewusstseinsquelle beweist Fichte nämlich in Hinsicht erstens auf die Apriorität des Bewusstseinsvermögens und zweitens auf die Entleibung bei bestimmten Bewusstseinszuständen. 4.2.4.2.2.1 Die Apriorität des Bewusstseinsvermögens Fichtes erstes Beweisstück wurde schon im Rahmen seines Beweises der Wesensapriorität der menschlichen Seele dargestellt, bei welchem er einerseits eine ausführliche Kritik der verschiedenen Formen des Materialismus übt und andererseits die Ursprünglichkeit bzw. Apriorität des Bewusstseinsvermögens nachweist. Ohne an dieser Stelle den ganzen Beweis wiederholen zu müssen, gilt es immerhin, zwei Resultate zu vergegenwärtigen. Als erstes Resultat dieses Beweises gilt es, dass das Bewusstsein zwar eine Eigenschaft der substantiellen Seele, jedoch nicht mit ihr identisch sei, als erschöpfe sich der Begriff der Seele im Begriff des Bewusstseins. Der Begriff der Seele umfasse vielmehr sowohl die organisch-unbewussten als auch die geistig-bewussten Prozesse, welche folglich in Kontinuität stehen. Letztlich gilt als zweites Resultat, dass der Leib zwar eine notwendige, jedoch nicht eine hinreichende Bedingung des Bewusstseins sei. Folglich könne das Bewusstsein als Eigenschaft der Seele nicht kausal auf den Leib reduziert, sondern es müsse schon als die Wirkung einer sich verwirklichenden und entwickelnden Uranlage betrachtet werden. Das Bewusstseinsvermögen hält Fichte demnach für eine apriorische Uranlage der menschlichen Seele, welche die Seele bei ihrem Verleiblichungsprozess aus ihrer ideellen Präexistenz zu ihrer Verwirklichung und Vollendung bringe. Mit Fichtes (1876a) Worten: Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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[S]o ist doch schon hier leicht ersichtlich, dass Bewusstsein keineswegs eine von aussen stammende, etwa durch die sinnliche Verleiblichung und die äussern Empfindungen uns eingegossene Wirkung sein könne, sondern in einem ursprünglichen Vermögen des realen Geistwesens seinen Grund haben müsse, welches unabhängig von aller Verleiblichung besteht, wenn es von dieser auch eine seiner bestimmten Formen empfängt (S. 354, § 147).

Aus diesem Begriff der Apriorität des Bewusstseinsvermögens folgt für Fichte der Begriff seiner Fortdauer. Fichte führt an dieser Stelle nämlich denselben Argumentationsgang wie bei dem Beweis der Fortdauer der Seele als Organisationskraft. Dabei liegt der Akzent auf der Unwirksamkeit des Todes auf die apriorischen Uranlagen der Seele, aus welchen der Leib und alle dessen Funktionen erst hervorgehen. Wenn sich der Leib einerseits als eine notwendige Bedingung des Bewusstseins und andererseits als das Produkt der formgebenden und zusammenhaltenden Organisationskraft der Seele erwiesen hat, so argumentiert Fichte in diesem Zusammenhang dafür, dass der Tod, welcher zum von der Seele selbst hervorgebrachten Lebensprozess gehöre und hierbei keine Wirkung auf die Organisationskraft haben könne, ebenso keine Wirkung auf die apriorische Quelle des Bewusstseins habe. Gemäß diesem Argument ist folglich die Fortdauer der Seele mit Bewusstsein insofern möglich, als das Bewusstseinsvermögen, welches sich aus seiner ideellen Präexistenz zum Selbstbewusstsein entwickelt, nicht durch die Verwesung des Leibes verschwinden könne, welcher laut der materialistischen Ansicht die kausale Bedingung des Bewusstseins sein sollte, jedoch sich laut Fichte als das Produkt der Organisationskraft der Seele erwiesen habe. Unter diesem Gesichtspunkt sei der Seele demnach eine Bewusstseinsform nach dem natürlichen Tod zuzuschreiben, insofern das apriorische Bewusstseinsvermögen fortdauere, wie aus den folgenden Worten folgt: In diesem Betrachte verbleibt uns mit unserer Geistigkeit auch die innere Bewusstseinsquelle, das ursprüngliche Vermögen, stets von neuem bewusste Zustände aus sich zu erzeugen, welches während des gegenwärtigen Lebens zwar in die uns bekannte sinnliche Form eingegrenzt ist, mitnichten aber durch sie hervorgebracht wird, sondern unabhängig von ihr besteht, als die aufs eigentlichste »apriorisch« zu nennende Voraussetzung derselben (Fichte, 1876a, S. 353, § 147).

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4.2.4.2.2.2 Leibentbundene Bewusstseinsphänomene als »Antizipationen des Todes« Auch wenn der Beweis der Apriorität des Bewusstseinsvermögens die Prämissen des Materialismus entkräftet, aus welchen die Unmöglichkeit der Fortdauer der Seele zwangsläufig folgte, und sich dieser Schluss nun als unbegründet erweist, hält es Fichte (1869c) für unzureichend, den Beweis der Fortdauer der menschlichen Seele »mit Bewusstsein« (S. 282) nur auf dem Begriff der Apriorität des Bewusstseinsvermögens zu basieren. Aus diesem Grund entwickelt er ein zweites, komplementäres Beweisstück für die Fortdauer der Bewusstseinsquelle. Seiner methodologischen Maxime treu bleibend, legt Fichte großes Gewicht auf die Erfahrung, sodass er im gegenwärtigen Leben die Erfahrungsanalogien sucht, welche Auskunft über die künftige Existenzform der Seele geben könnten. In dieser Hinsicht sind vor allem die Physiologie und die Psychologie die relevanten Disziplinen. Angesichts des damaligen Standes der physiologischen und psychologischen Forschung muss Fichte (1859) jedoch feststellen, dass beide Disziplinen »auf dem Saße [beharrten], daß kein Vorstellen, überhaupt kein Bewußtseinsproceß ohne Mitwirkung des Hirns möglich sei« (S. 130, § 78). In diesem Sinne hängen das Bestehen und die Leistung der Bewusstseinsprozesse – den erwähnten Haupteinwand gegen die Fortdauer wieder aufnehmend – von ihren leiblichen Organen ab, sodass »je mehr die Integrität dieses organischen Apparats verleßt sei«, desto mehr »verwirren, verdunkeln und endlich ganz verlöschen« sich die Bewusstseinsprozesse (Fichte, 1859, S. 130, § 78). Diese Bedingtheit der Bewusstseinsprozesse von den leiblichen Organen hält Fichte (1876a) innerhalb ihrer Grenzen zwar für einen richtigen, »längst anerkannten und in seiner Wahrheit gar nicht anzutastenden«, jedoch zugleich für einen einseitigen und unvollständigen »Satz der Physiologie« (S. 398, § 164). In diesem Zusammenhang macht Fichte (1876a) auf einen vernachlässigten Phänomenbereich aufmerksam, um neben jenen Satz »einen zweiten, noch nicht anerkannten zu fügen« (S. 398–399, § 164). Dabei handelt es sich um Bewusstseinsphänomene, welche nämlich die These möglich machen, »dass, unter gewissen, bisher freilich noch nicht festgestellten und weiterer Untersuchung zu unterwerfenden Bedingungen, die Seele auch ohne Vermittelung jener Organe Bewusstseinsacte vollziehen könne« (Fichte, 1876a, S. 399, § 164). Gerade diesen Phänomenen und den darauf basierten Analogien schreibt Fichte eine ausSubstantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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schlaggebende Wichtigkeit für seinen Beweis der Fortdauer der Seele zu. Der betreffende Phänomenbereich umfasst Bewusstseinsphänomene, »in welchen wir die sinnlichen Schranken und gewohnten Bedingungen desselben gelockert finden, in denen die Seele raum- und zeitschrankenfreier percipirt und wirkt« (Fichte, 1876a, S. 355–356, § 148). Insofern es an diesen Bewusstseinsphänomenen eine »relative Entleibung« festgestellt werden könne, welche schon während der leiblichen Existenz stattfinde, bezeichnet Fichte (1876a) jene Bewusstseinsphänomene als »Anticipationen des Todes« (S. 354, § 147). Ihre antizipierende Aussagekraft besteht nämlich darin, dass sie »einen fast an Gewissheit grenzenden Einblick in den Zustand nach dem Tode gewähren können« (Fichte, 1876a, S. 354–355, § 147). Da diese Tatsachen demnach einerseits der wissenschaftlichen Erfahrung und Forschung zugänglich sind und andererseits einen dem Tod ähnlichen Zustand darstellen, hält sie Fichte für die angemessene Erfahrungsanalogie für eine wissenschaftliche Behandlung der Frage nach der Möglichkeit der Fortdauer der Seele mit Bewusstsein. Insbesondere fokussiert sich Fichte bei dieser Untersuchung auf die Fragen, was der Leistungsunterschied zwischen den leibgebundenen und leibentbundenen Bewusstseinsprozessen ist und welche Auskunft sie über die eigentliche Wirkung des Leibes und über die Quelle des Bewusstseins zeigen. Den Bewusstseinsphänomenen, auf welche sich Fichte fokussiert, liegt eine Bewusstseinsform zugrunde, welche Fichte (1859) als Traumbewusstsein bezeichnet und welche zwei »Grundformen« umfasst, nämlich die Form des »Schlaftraums« und die Form des »Wachtraums« (S. 83–84, § 52). 216 Beide Grundformen weisen laut Fichte eine parallele Abstufung auf, welche aus den unterschiedlichen Quellen der Entstehung der entsprechenden Bewusstseinsinhalte sich ergebe und hierbei eine graduelle Steigerung des Wahrheitsgehaltes des Bewusstseinsinhalts zeige. Insbesondere unterscheidet Fichte (1864a) drei Quellen, nämlich die Nachwirkung von äußeren oder inneren Reizen; die Nachwirkung von inneren Zuständen, Stimmungen, Affekten und Rapporten; und die Nachwirkung von objektiven Verhältnissen und Eingebungen (S. 600, § 301). Gemäß dieser parallelen Abstufung beider Grundformen des Traumbewusstseins stellt Für eine Skizzierung dieser Bewusstseinsform bei Fichte vgl. Spiegel (1927, S. 39– 69).

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Fichte die relevanten Bewusstseinsphänomene auf. Bei der Bewusstseinsform des Schlaftraums berücksichtigt Fichte nämlich die verschiedenen Arten des Traums, welche sich vom gewöhnlichen Traum bis hin zum Hellsehen erstrecken 217, während er bei der Bewusstseinsform des Wachtraums eine Reihe von Phänomenen berücksichtigt, welche sich dem wachen Bewusstsein beimischen, wie beispielsweise die Halluzination, die Ahnung und die Ekstase, unter welche die Fernschau, die Vorschau, die Rückschau und die Fernwirkung fallen 218. Zur Anwendung des Begriffs des Traums bei den diese Bewusstseinsform betreffenden Bezeichnungen muss jedoch klargestellt werden, dass sich Fichte (1859) mit jenem Begriff im Allgemeinen auf alle »Bewußtseinszustände« bezieht, in welchen dem Bewusstsein »ohne jede unmittelbare Sinneserregung« ein Inhalt »in Form sinnlicher Anschaulichkeit« erscheint (S. 80, § 50). Es handelt sich demnach nicht nur um den gewöhnlichen Traum, sondern vielmehr um eine bildhafte Bewusstseinsform ohne die Vermittlung der Sinnlichkeit, unabhängig davon, ob jene »Bilder« vom subjektiven oder objektiven Ursprung sind (Fichte, 1859, S. 80, § 50). In diesem Sinne erschöpfe sich die allgemeine Bewusstseinsform des Traums nicht im Begriff des gewöhnlichen Traums, sondern dieser gehöre vielmehr zu jener, insbesondere zu ihrer Grundform des Schlaftraums. Die ganze Bewusstseinsform des Traums, sei es in Hinsicht auf die Phänomene des Schlaf- oder des Wachtraums, charakterisiert sich im Wesentlichen dadurch, dass ihr »eine andere, zuerst noch weiter zu untersuchende und unserm gewöhnlichen Bewußtsein unbekannte Art der Perception und der Wirkung« eigen sei (Fichte, 1859, S. 90, § 55). Der Inhalt dieser Bewusstseinszustände ist für Fichte demnach von sekundärer Bedeutung. Vielmehr steht im Zentrum seines Interesses die »Form« solcher Zustände »und die Existenz eines solchen Bewußtseins überhaupt« (Fichte, 1859, S. 82, § 51). 219 Vgl. Fichte (1864a, S. 528–580, §§ 256–289). Vgl. Fichte (1864a, S. 581–655, §§ 290–331). 219 Fichtes Thematisierung des Traums und der Traumphänomene im Rahmen seiner Phantasietheorie in seiner Psychologie lässt sich im Zusammenhang mit den Traumtheorien der sogenannten romantischen Anthropologie verstehen, unter denen sich laut Engel (2002) und Quintes (2018, 2019) die Traumtheorien von Schubert (1814), Troxler (1828) und Carus (1846) eine zentrale Stellung hätten. Für eine vergleichende Darstellung der Traumtheorien dieser drei Autoren vgl. Engel (2002) und Quintes (2018, 2019). 217 218

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Wie lassen sich nun die Bewusstseinszustände charakterisieren, welche durch diese andere »Art der Perception und Wirkung« der menschlichen Seele eintreten? In erster Linie kann man feststellen, dass der Gesamtheit der Zustände des Traumbewusstsein erstens die Bildform ohne die Vermittlung der Sinnlichkeit zukomme. In diesem Sinne erscheine dem Bewusstsein ein kohäsiver Inhalt in der Form der Sinnlichkeit, ohne dass die separaten Sinnesreize auf die entsprechenden Sinnesorgane und Sinnesnerven einwirken müssen, um sodann ein Gesamtbild durch die integrierende Tätigkeit des Gehirns hervorzubringen. Die Eigentümlichkeit eines solchen Bewusstseinszustandes bestehe demnach darin, dass »alle Sinnenvorstellungen beieinander sind …, sodass hier gar nicht mehr, wie im wachen Bewusstsein, ein Aggregat einzelner Sinne, sondern ein ›Allsinn‹ waltet« (Fichte, 1876a, S. 395, § 162). Selbst wenn auf der niedrigsten Stufe dieser Bewusstseinsphänomene die Quelle der Entstehung des Bewusstseinsinhalts die Nachwirkung eines äußeren oder inneren Reizes und hierbei das Gehirn in diesem Prozess beteiligt sei, lasse sich der kohäsive Inhalt in bildhafter Form keineswegs aus der Vermittlung der Sinnlichkeit erklären. Laut Fichte (1876a) zeigen diese Phänomene vielmehr die Wirkung des »Vermögen[s] der Seele …, aus sich selbst jene Sinnenvorstellungen zu erzeugen und zu einem Gesammtbilde der Wirklichkeit zu verarbeiten« (S. 395, § 162). Es trete »statt der Wahrnehmung eine andere Function des Bewusstseins vicarirend ein[]«, nämlich »die ›Phantasie‹« (Fichte, 1876a, S. 396, § 162). Wenn die Phantasie ohne die Vermittlung der Sinnlichkeit und hierbei ohne die Vermittlung des Leibes einen Bewusstseinszustand hervorbringen kann, dann lasse sich feststellen, dass die Seele ohne den Leib Bewusstseinszustände haben könne. Folglich dürfe man – so die Folgerung Fichtes – mit einem hohen Grad der Wahrscheinlichkeit die Behauptung aufstellen, dass die Phantasie nach dem natürlichen Tod ebenso Bewusstseinszustände erzeugen kann. Nun liegt die Stärke des methodischen Ansatzes Fichtes nicht nur in der akuten Beobachtung solcher Phänomene, sondern darin, dass diese Phänomene nicht in Vereinzelung, sondern in einer analogischen Reihe betrachtet werden. Dementsprechend reicht es Fichte nicht hin, nur auf die aus der Tätigkeit der Phantasie hervorgehenden Bewusstseinszustände hinzuweisen, welche zwar aufschlussreich sein mögen, jedoch in ihrer Vereinzelung keine konklusive Beweiskraft besitzen. Je mehr sich gegenseitig unterstützende Glieder die analo320

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gische Reihe hat, desto stärker ist die Beweiskraft der ganzen Reihe, ohne jedoch die Form eines apodiktischen Schlusses zu erreichen – wie schon ausführlich erörtert wurde. In diesem Sinne fügt Fichte seinem Beweis noch weitere Charakterisierungen der leibentbundenen Bewusstseinsphänomene hinzu, welche den Grad der philosophischen Wahrscheinlichkeit der Annahme einer nachtodlichen Bewusstseinsform der Seele erhöhen. Unter den Phänomenen, welche sich im Rahmen der Bewusstseinsform des Traums befinden, fokussiert sich Fichte insbesondere auf diejenigen, welche einen höheren Grad der »Lockerung« zwischen Leib und Seele und auch einen höheren Grad des Wahrheitsgehaltes zeigen, wie es der Fall bei dem Hellsehen und der Ekstase ist. In Hinsicht auf die Beteiligung und Mitwirkung des Leibes seien diese Phänomene dem Tod insofern am ähnlichsten, als es sich an ihnen eine verhältnismäßig vollkommenere Entleibung feststellen lasse. 220 Angesichts dieser dem Tod analogischen Phänomene stellt Fichte Stern (1967) weist richtig darauf hin, dass Fichtes »Nachweis einer verminderten Gehirnbeteiligung oder gar der Nachweis gewisser leibfreier Bewußtseinszustände ohne Gehirnbeteiligung schwerlich als gelungen anzusehen sein dürfte« (S. 186), insofern es sich »an den Zuständen des Traumbewußtseins« eigentlich die Beteiligung des Gehirns feststellen lasse (S. 192). Mit dem Hinweis auf diese Schwäche der Folgerung Fichtes relativiert Stern seinen psychologischen Begriff der Seelenfortdauer. In dieser Hinsicht sei jedoch zu bemerken, dass die Stärke des Verfahrens Fichtes nicht in den einzelnen Beweisstücken, sondern in der ganzen analogischen Reihe liegt. In diesem Sinne kann die Erfahrung eine vorher aufgestellte Hypothese zwar infrage stellen, jedoch nicht die ganze aus verschiedenen Belegstücken bestehende analogische Reihe zerstören. Die Möglichkeit der Widerlegung, der Berichtigung, der Vervollkommnung und der Progression der philosophischen Anthropologie hatte Fichte in seiner Methodologie schon berücksichtigt, sodass er freimütig eine Unzulänglichkeit seines Beweises eingestehen würde, wenn seine Hypothese nicht den Tatsachen entspricht. Nun ist Sterns Feststellung der Beteiligung des Gehirns jedoch genauso offen zu einer Widerlegung wie die Hypothese Fichtes, sodass die interessante Frage für die gegenwärtige Wissenschaft offenbleibt, ob die Nichtbeteiligung des Gehirns bei bestimmten Bewusstseinszuständen überhaupt untersucht werden kann. Als eine relativ bewiesene Tatsache gilt mindestens die Nichtbeteiligung der Sinnlichkeit beim Traum. Selbst wenn man in diesem Fall die Tätigkeit der Sinnesnerven und des Gehirns konstatieren und darin die Ursache der Traumbilder finden würde, wird dadurch nicht erklärt, wie jene Sinnesnerven mit Schließung der Sinnen – wie beispielsweise der Augen – und folglich ohne visuellen Reiz sich doch spontan aktivieren und ein Traumbild erzeugen können. Letztlich sei am Beispiel dieses Problems nahegelegt, dass Fichtes philosophische Anthropologie den Rahmen bietet, um eine Frage wie die Frage nach der Möglichkeit einer leibentbundenen Bewusstseinsform – als Teil der Frage nach der Fortdauer der Seele – zurückfordern und wissenschaftlich behandeln zu können.

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nicht nur das Fortbestehen des Bewusstseins überhaupt, sondern auch noch die Steigerung der Leistungsfähigkeit bestimmter Bewusstseinsprozesse fest. In Hinsicht auf diese Steigerung der Leistungsfähigkeit der Bewusstseinsprozesse bei den leibentbundenen Zuständen weist Fichte erstens auf die Luzidität, Intensivierung und Beschleunigung der kognitiven Prozesse, wie beispielsweise der Erinnerung und des Denkens, hin. Bezüglich der Erinnerung beobachtet Fichte (1876a), dass die »langsamen und dennoch unvollständig bleibenden« Gedächtnisprozesse des gewöhnlichen Bewusstseins zum »hellste[n] und intensivste[n] Gedächtniss« werden können, wenn sie im leibentbundenen Zustand stattfinden (S. 418, § 174). In diesem Zusammenhang weist Fichte (1876a) beispielsweise auf die Fälle hin, bei denen »längst vergessene Züge des bisherigen Daseins wieder hervortauchen«, sodass letztendlich »der gesammte eingelebte Besitz des Geistes … plötzlich und in engster causaler Verkettung vor [das] Bewusstsein« eintrete (S. 418, § 174). Die Erinnerung erhebe sich demnach von einem langsamen, lückenhaften, dunklen und linearen zu einem raschen, vollständigen, hellen und unmittelbaren Prozess, ohne dass dabei die Objektivität und Verbindung der erinnerten Geschehnisse verloren gehen. In seinem leibentbundenen Zustand trete dem Bewusstsein somit die Verkettung der Erinnerungen in ihrer Unmittelbarkeit und Einheit ein. Was nun die gesteigerten Denkprozesse betrifft, so vergleicht Fichte (1876a) die Gedankengänge, bei welchen »wir im gewöhnlichen Leben die Vorstellungen, oft sogar nur lückenhaft und sprungweise, aneinanderreihen« mit denjenigen, welche im leibentbundenen Zustand stattfinden und bei welchen, »die Gedanken … in einer für die Vorstellungsgesetze des Wachens unverhältnissmässig raschen Folge vor dem Bewusstsein vorüber[gehen], während doch die innere causale Verbindung, das Logische, bewahrt bleibt« (S. 418, § 174). Das Denken erhebe sich demnach von einem »peripherischen, sinnlich« und syllogistisch »vermittelten« zu einem »centralen, intuitiv ursprünglichen Bewusstsein[]« (Fichte, 1876a, S. 14, § 5), ohne dass dabei die Idealität verloren gehe. In seinem leibentbundenen Zustand trete dem Bewusstsein somit die ideelle bzw. logische Verbindung der Gedanken in ihrer Unmittelbarkeit und Einheit ein. Beide erwähnten Tatsachen zeigen für Fichte im Endeffekt, dass kognitive Prozesse wie die Erinnerung und das Denken nicht nur 322

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nicht kausal vom Gehirn abhängen, sondern dass sie ohne die Beteiligung des entsprechenden leiblichen Organs fortbestehen können und dass ihre Leistung sogar steigern könne. Neben der Luzidität, Intensivierung und Beschleunigung der kognitiven Prozesse weist Fichte als zweite Eigenschaft der Steigerung der leibentbundenen Bewusstseinsprozesse auf die Intensivierung, Verstärkung und Vertiefung des »Bewusstsein[s] der Identität [der] Persönlichkeit« hin (Fichte, 1876a, S. 418, § 173). »[D]ie Persönlichkeit« wird nämlich »inniger ihrer gewiß und tiefer mit Selbstbewußtsein sich durchleuchtend« (Fichte, 1859, S. 130, § 78). Insofern es sich in diesem Zusammenhang nicht um den Beweis der Fortdauer der Persönlichkeit handelt – was weiter unten betrachtet wird –, wird dieses Phänomen lediglich unter dem Aspekt der Steigerung eines Bewusstseinszustandes betrachtet. Selbstverständlich belegt die Fortdauer des Selbstbewusstseins indirekt die Fortdauer der Persönlichkeit, auf welche sich das Selbstbewusstsein bezieht – sodass sich hier der Übergang ins nächste Kapitel ankündigt –, jedoch werden noch weitere Betrachtungen berücksichtigt werden, welche spezifisch die Fortdauer der Persönlichkeit betreffen. An dieser Stelle sei es demnach nur hervorgehoben, dass Fichte sich auf leibentbundene Bewusstseinszustände bezieht, bei welchen sich das Selbstbewusstsein intensiviere und vertiefe. Gegen die pantheistische Ansicht einer Aufhebung bzw. Auflösung des individuellen Selbstbewusstseins in einen undifferenzierten und allgemeinen Geist und hierbei einer Fortdauer der bloßen Gattung belege diese Tatsache demnach, dass nicht nur die Fortdauer einer unpersönlichen und nur nach außen gerichteten, sondern einer selbstbezogenen Bewusstseinsform wahrscheinlich sei. Gerade wie es bei den kognitiven Prozessen der Fall war, ist das Interessante in diesem Fall nicht nur das Fortbestehen des Selbstbewusstseins, sondern vor allem die Steigerung dieses Zustandes, was folgerichtig impliziert, dass erst im leibentbundenen Zustand sich der Mensch seiner wahren Persönlichkeit bewusst wird. Nachdem die belegenden Tatsachen erbracht wurden, gilt es nun, die Folgerungen zusammenzufassen, welche Fichte aus ihnen zieht und welche die Frage beantworten, die vorher als die leitende Frage dieser Betrachtungen bezeichnet wurde, nämlich, welche Auskunft der festgestellte Leistungsunterschied zwischen den leibgebundenen und leibentbundenen Bewusstseinsprozessen über die eigentliche Wirkung des Leibes und über die Quelle des Bewusstseins zeigt. Erstens bieten die leibentbundenen Bewusstseinsphänomene für Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Fichte eine Bestätigung der Annahme der Apriorität des Bewusstseinsvermögens, insofern sie sich nicht kausal auf den Leib zurückzuführen lassen. »[D]er Leib, die Sinnennerven, das Hirn« erweisen sich demnach nicht als »das Hervorbringende, sondern [als] das Veranlassende der Bewusstseinsacte, welche allein in die Seele fallen« (Fichte, 1876a, S. 401, § 166). In diesem Sinne vermag die Seele, relativ unabhängig von dem von ihr selbst hervorgebrachten Leib, Bewusstseinsprozesse zu bewirken. Kraft des analogischen Verhältnisses dieser leibentbundenen Bewusstseinsprozesse mit dem Tod folgert Fichte sodann, dass die Seele, insofern ihr ein apriorisches Bewusstseinsvermögen zukomme, nach dem natürlichen Tod ebenso aus dieser Uranlage und Quelle eine Bewusstseinsform und Bewusstseinszustände haben könne. Zweitens stellt Fichte fest, dass die Steigerung der Leistungsfähigkeit der leibentbundenen Bewusstseinsphänomene ein neues Verständnis der Leiblichkeit bietet. Gegen die Ansicht, dass der Leib die kausale Bedingung des Geistes und der Geist folglich das Epiphänomen des Leibes sei, weist Fichte auf zwei Formen hin, in welchen der Leib als eine Bedingung des Geistes verstanden werden kann. Einerseits erweise sich der Leib nämlich als ein notwendiges Organ für bestimmte intersubjektive und psychologische Funktionen, insofern er sie erst ermögliche. Unter solchen Funktionen weist Fichte auf die Wechselwirkung zwischen Weltwesen, auf die Entwicklung zum Bewusstsein und letztlich auf die Entwicklung zum Selbstbewusstsein hin. Diese drei Funktionen erörternd, behauptet Fichte (1859), dass der Geist des Leibes bedürfe, »um überhaupt mit den anderen Weltwesen in Wechselverkehr zu treten, an den durch sie veranlaßten sinnlichen Perceptionen zum eigenen Bewußtsein zu erwachen und daran den nach innen gewendeten, das eigene Innere allmählich ins Bewußtsein seßenden Vorstellungsproceß zu entwickeln« (S. 114, § 68). Auch wenn der Leib eine notwendige Bedingung des Geistes sei, muss es daran erinnert werden, dass er laut Fichte erst von der Seele hervorgebracht werde. Nun weist Fichte darauf hin, dass sich der Leib andererseits als ein depotenzierendes Element für die Bewusstseinsprozesse erweise. Die Bewusstseinsprozesse werden nämlich durch ihre Verbindung mit dem Leib beschränkt, verdunkelt und retardiert, wie aus den folgenden Worten folgt: Das allgemeine Vermögen der Perception und des Wirkens auf Anderes, welches die Seele an sich schon und unabhängig von ihrer sinnlichen Leib-

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lichkeit in potentialer Weise besitzt, wird durch letztere lediglich in bestimmte Grenzen eingeschlossen, zugleich aber damit – was als Nebenfolge gar nicht auszuschliessen wäre – in seinem Gesammtbestande vermindert und beschränkt. Die Verbindung der Seele mit dem Stoffleibe wäre daher zugleich einer Depotenzirung ihres intelligenten Vermögens gleichzustellen, und zwar ebenso nach der Seite ihres Wahrnehmens wie ihres Wirkens hin (Fichte, 1876a, S. 355, § 148).

Diese depotenzierende Wirkung des Leibes auf das Bewusstseins- und Wirkungsvermögen der Seele werde dann nachweislich und evident, wenn sich diese Vermögen »in leibfreien Zuständen erst in voller Kraft und Eigentlichkeit« zeigen (Fichte, 1859, S. 130, § 78). Durch die »zeitweise Suspension« der Verbindung der Seele mit dem äußeren Leib überwinden jene Vermögen demnach ihre Schranken und kommen zu ihrem wahren und unbeschränkten Ausdruck (Fichte, 1876a, S. 404, § 167). In diesem Sinne erfahre der Geist durch seine »Entbindung« vom Leib, welcher auf ihn bisher hemmend gewirkt habe, nämlich eine »Verjüngung«, insofern jener Entbindung »ein tieferes Selbstgefühl, ein innigeres, unzerstreuteres Wachen des Bewusstseins« folge (Fichte, 1867, S. 327, § 312). Wenn es aus der Analogie zwischen dem vortodlichen Zustand der Entleibung und dem Tod hervorgeht, dass der Seele erstens ein apriorisches Bewusstseinsvermögen zukomme und dass zweitens der Leib ein notwendiges und ein depotenzierendes Organ für das Bewusstseins- und Wirkungsvermögen der Seele sei, so stellt Fichte schließlich fest, dass es philosophisch hoch wahrscheinlich sei, dass die Seele nach dem natürlichen Tod ihr Bewusstseins- und Wirkungsvermögen behält. Außer einer geistigen Leiblichkeit, welche sich die Seele in ihrer nachtodlichen Existenz durch ihre ebenso fortdauernde Organisationskraft geben werde, werde die Seele laut Fichte in ihrer künftigen Existenzform zugleich eine Bewusstseinsform haben. Die Erfahrungsanalogie erlaube sogar die Behauptung, dass alle geistigen Funktionen, deren die Seele in jener Existenz- und Bewusstseinsform fähig sein werde und worunter man gemäß derselben Analogie mindestens Kognition und Volition bzw. Denken und Willen rechnen dürfte, nämlich in einer im Vergleich zur leiblichen Existenz gesteigerten Potenz in Kraft treten werden. Bis zu diesem Punkt haben der physiologische und der psychologische Begriff der Fortdauer zwar die Möglichkeit einer nachtodlichen Existenz- und Bewusstseinsform der menschlichen Seele wahrscheinlich gemacht, jedoch hält Fichte diesen bisher entwickelten Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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anthropologischen Beweis der Fortdauer für unzureichend und unvollständig, insofern er immer noch abstrakt bleibe. In dieser Hinsicht lässt dieser Beweis für Fichte (1867) die Frage noch offen, ob die menschliche Seele nach dem natürlichen Tod eine »geisterfüllte []« Existenz besitzen werde (S. 315, § 302), d. h. ob es dabei um eine persönliche Fortdauer handelt. Gerade durch dieses letzte Moment seines Beweises versucht Fichte, der existentiellen Bestimmung der philosophischen Anthropologie gerecht zu werden. Den Begriff der Fortdauer, welchen Fichte durch seinen anthropologischen – physiologischen und psychologischen – Beweis bisher entwickelt hat, hält er (1867) in seiner abstrakten und »lediglich theoretische[n]« Form zwar für »ein[en] Ausgangspunkt für die Wissenschaft, welche von dort aus sich weiter zu orientiren vermag«, jedoch hält er ihn gleichzeitig insofern für unzureichend, als er »kein Standpunkt für das Leben« biete, »weil die volle Wahrheit ihm fehlt« (S. 315, § 302). Diese Unzulänglichkeit versucht Fichte mit einem historisch-ethischen Begriff der Fortdauer der menschlichen Seele zu berichtigen, welcher anschließend zu betrachten gilt.

4.2.4.3 Der historisch-ethische Begriff der Seelenfortdauer

Im letzten Moment des Beweises für die Fortdauer der menschlichen Seele zieht Fichte den Menschen unter dem Aspekt des idealen Strebens der Seele in Betracht und befasst sich mit der Frage nach der Bedeutung der ethischen Funktion des Menschen in der Geschichte, insbesondere in Hinsicht auf die Aussagekraft der ihr zugrunde liegenden Entwicklungsfähigkeit zu einer möglichen Fortdauer einer sich ethisch entwickelnden Persönlichkeit. Auf diese Weise entwickelt Fichte einen historisch-ethischen Begriff der Seelenfortdauer, welcher das dritte und letzte Glied des ganzen Beweises ausmacht. 4.2.4.3.1 Der Mensch in der Geschichte Bei seiner Betrachtung des Menschen als eines geschichtlichen Wesens steht Fichte – wie es schon evident sein muss – auf dem Standpunkt des Individualismus, welchen er im Gegensatz sowohl zur »pantheistischen« als auch zur »statistischen« Geschichtsauffassung geltend macht. Die »pantheistische« oder »spekulative« Geschichtsauffassung charakterisiere sich laut Fichte (1867) dadurch, dass sie »den Menschen und sein geschichtliches Wirken zum blossen Träger 326

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eines eigentlich fremden Vollbringens« mache, sodass er letztendlich als »das Werkzeug eines hinter ihm hindurch sich verwirklichenden geschichtlichen Processes« gelte (S. 384, § 345). 221 Was nun die »statistische« Geschichtsauffassung betrifft, welche Fichte (1867) damals als die »gegenwärtige« identifiziert, so weist er darauf hin, dass sie die »Geschichte ›menschlicher Civilisation‹« (S. 396, § 350) als ein »endlose[s] Spiel gewisser Grundtriebe des Menschen« betrachte, unter denen sich die zwei »Grundtriebe« der »›Selbsterhaltung‹« und der »›Socialität‹« befinden, »welche mannichfaltig einander einschränken, aber nie vertilgen« (S. 395, § 350). Im ersten Fall herrsche demnach die Notwendigkeit eines dialektischen Prozesses, während es im zweiten Fall kein notwendiger und lückenloser Fortschritt, sondern unwillkürliche Handlungen stattfinden (Fichte, 1867, S. 395, § 350). Beide Geschichtsauffassungen lehnt Fichte insofern ab, als sie gerade das Wesentliche der Geschichte verkennen, denn für Fichte (1867) sind nämlich »[n]ur die Individuen … das in der Geschichte Thätige« (S. 392, § 348). Statt eines notwendigen dialektischen Prozesses oder eines unwillkürlichen triebmäßigen Geschehens sei die Geschichte unter dem Gesichtspunkt Fichtes (1867) eine »durchaus menschliche Freiheitsthat« (S. 392, § 348). 222 Bei näherer Betrachtung zeige die Geschichte für Fichte einen Kulturprozess, in dessen Zentrum nämlich der individuelle Mensch stehe. Gemäß dem rezeptiven und produktiven Verhalten des Menschen zu jenem Kulturprozess gelte er einerseits als ein kulturfähiges und perfektibles, andererseits als ein geschichtsbildendes Wesen. Aus geschichtlicher Perspektive zeige der Mensch demnach die Vermögen zur Perfektibilität und zur Geschichtsbildung, welche für Fichte von ausschlaggebender Wichtigkeit für die Begründung des Begriffs der Seelenfortdauer sind. In diesem Zusammenhang soll nun der doppelten Frage nachgegangen werden, was das Verhältnis beider Vermögen zur begrenzten Zeit der irdischen Existenz ist und inwiefern jene Vermögen auf die innere Unendlichkeit der Persönlichkeit verweisen.

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Offensichtlich hat Fichte die Philosophie der Geschichte Hegels im Sinn. Mehr zur Philosophie der Geschichte Fichtes vgl. Najdanović (1940).

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4.2.4.3.1.1 Der Mensch als ein perfektibles und geschichtsbildendes Wesen Der geschichtliche Kulturprozess werde laut Fichte durch das Verhältnis des Menschen zum Ideengehalt getrieben. Aus diesem Verhältnis des menschlichen Geistes zum Ideengehalt wurde weiter oben die Idee der Persönlichkeit nachgewiesen, insofern jenes Verhältnis für Fichte gerade das individualisierende Prinzip ausmache. Im gegenwärtigen Zusammenhang handelt es sich weniger um die Frage nach dem Ursprung der Individualität – wie es dort der Fall war – als vielmehr um die Frage, inwiefern dieser ideell vermittelte Kulturprozess bestimmte Eigenschaften des Menschen in seinem Verhältnis zum Ideengehalt zeigt, denen die Unendlichkeit der Persönlichkeit als ihre Bedingung zugrunde liegen muss. An erster Stelle zeigt sich der Mensch als der Empfänger des Kulturprozesses, sodass seine Entwicklungs- bzw. Kulturfähigkeit in den Vordergrund tritt. In diesem Zusammenhang weist Fichte (1867) darauf hin, dass der Mensch »an die Gemeinschaft gewiesen und ihrer Beihülfe bedürftig« sei (S. 394, § 349). Diese Teilnahme an der Gemeinschaft ermögliche dem Menschen, sich »über seine natürliche Unmittelbarkeit« zu erheben und hierbei ein geschichtliches Wesen zu werden, insofern er »[n]ur durch Erziehung und Cultur«, welche ihm die Gemeinschaft zuteilwerden lässt, seine »menschliche Eigenschaften« entwickeln könne (Fichte, 1867, S. 394, § 349). Angesichts dieser ersten Ausdrucksform des Kulturprozesses stellt Fichte (1867) fest, dass die allgemeingültige Leistung der Geschichte nämlich die Bildung des »individuelle[n] Bewusstsein[s]« des Menschen sei (S. 352, § 329). Auch wenn Fichte (1867) klarstellt, dass diese Leistung zwar »nicht [die] definitive Bedeutung« der Geschichte sei, hebt er immerhin hervor, dass sie als »ihr hoher ethischer Werth« betrachtet werden darf (S. 352, § 329). Die Allgemeingültigkeit dieser Leistung der Geschichte belegt Fichte (1867) mit der Beobachtung, dass »dies, aber auch nur dies … von Allem erreicht« werde, »welche den irdischen Schauplatz durchwandern, wie verschieden auch sonst ihre Lebenslose fallen mögen« (S. 352, § 329). Die Entwicklung »zum Bewusstsein ihres Selbst und zur Beherrschung desselben« könne bei jedem Menschen zwar »stärker oder schwächer, glücklicher oder unglücklicher« sein, jedoch erweist sie sich für Fichte (1867) als eine allgemeinmenschliche Tatsache, welche nur innerhalb eines geschichtlichen Kulturprozesses stattfinden kann (S. 352, § 329). In diesem Sinne behauptet Fichte (1876a), dass »aller Sinn und alle Wirkung

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des Erddaseins darauf gerichtet sei, den Genius, unser Urpersönliches, überhaupt erst ins Dasein und Bewusstsein herauszubilden« (S. 334, § 140). Der geschichtlichen Entwicklung des Menschen wohne demnach der innere Zweck inne, seine »[e]thische Vollkommenheit« zu erreichen (Fichte, 1867, S. 440, § 371). Indem sich der Mensch als »ein ungenügsames, sehnsuchtsvolles, in die Zukunft hoffendes Wesen« zeige (Fichte, 1867, S. 441, § 371), lässt sich die Unvollkommenheit des Menschen feststellen. Nun wecken die zwei aus dieser Unvollkommenheit hervorgehenden Gefühle der »Sehnsucht und Hoffnung« sein ideales Streben nach ethischer Vollkommenheit, welche er sodann durch Erziehung und Kultur zu erreichen versucht. Diese Entwicklung zur ethischen Vollkommenheit bezeichnet Fichte (1867) als »die einzige Bestimmung menschlichen Daseins«, während er »ihr [en] Process und ihre Errungenschaften« als »de[n] einzige[n] Inhalt der Geschichte« betrachtet (S. 440, § 371). An zweiter Stelle zeigt sich der Mensch als der Erzeuger des Kulturprozesses, sodass sein Vermögen zur Geschichtsbildung in den Vordergrund tritt. In diesem Zusammenhang weist Fichte darauf hin, dass der Mensch den Kreislauf der Natur insofern durchbrechen könne, als er innovativ und kreativ einen neuen ideellen Inhalt in den Kulturprozess einpflanzen könne. Dieses seine natürliche Existenz überwindende Verhältnis zum Ideengehalt erlaube es ihm, schon in seiner »diesseitigen« eine »jenseitige« Existenz zu führen und hierbei Geschichte zu bilden (Fichte, 1876a, S. 333–334, § 140). Nun wirft Fichte die Frage auf, wie die Einpflanzung eines solchen ideellen Inhalts in den Kulturprozess überhaupt möglich ist. Zur Beantwortung dieser Frage macht Fichte (1867) zunächst die Unterscheidung zwischen dem Inhalt, welcher »aus blos menschlichen Motiven sich erklären lässt«, und dem Inhalt, welcher in der Form einer »nicht blos menschliche[n] Geistesmacht seinen Willen ergreift und ganz ihn erfüllend (›begeisternd‹) zu einem Leisten hintreibt, welches ohne jene höhere und als dies Höhere im Bewusstsein zugleich sich ankündigende Eingebung ihm keineswegs gelungen wäre« (S. 372, § 340). In diesem Sinne seien die »Culturfortschritte« nicht aus bloß menschlichen Kräften möglich, sondern »die Ideale«, aus deren Einpflanzung und Verwirklichung in die Geschichte jene Kulturfortschritte hervorgehen, haben für Fichte einen anderen Ursprung. Solche Ideale, welche laut Fichte (1867) einen epistemischen, spekulativen, religiösen, ästhetischen oder ethischen Inhalt haben können, verweisen auf eine »über den Menschen und seine Willkür hinausliegende[] Macht«, Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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welche in der Eingebung auf sein Bewusstsein und seinen Willen wirke (S. 406, § 354). Nun gebe sich diese Macht »nicht als ein Fremdartiges, Uebermenschliches«, sondern in der Form des menschlichen Bewusstseins kund, sodass sie die Persönlichkeit und die Freiheit des Menschen nicht negiere, sondern vielmehr »erhöhe« und »befestige« (Fichte, 1867, S. 375, § 341). Zusammenfassend lässt sich die Behauptung aufstellen, dass der ideell vermittelte Kulturprozesses nämlich zwei Eigenschaften des Menschen zum Ausdruck bringt, nämlich sein Vermögen zur Perfektibilität und sein Vermögen zur Geschichtsbildung. Bis zu diesem Punkt wurden diese Vermögen dennoch nur charakterisiert, ohne ihre Implikationen für die Idee der Fortdauer zu erörtern. Gerade diese Frage soll nun näher nachgegangen werden. 4.2.4.3.1.2 Die Unzulänglichkeit der Menschengeschichte zur Vervollkommnung der ethischen Bestimmung des Menschen Nachdem Fichte (1867) den Kulturprozess und die doppelte Form des Verhältnisses des Menschen zu diesem Kulturprozess charakterisiert, wirft er die »allentscheidende« Frage auf, »wie weit in diesem geschichtlichen Culturprocess der Mensch nach den Bedingungen des tellurischen Daseins überhaupt zu gelangen vermöge« (S. 354, § 330). Für seinen Beweis der Fortdauer ist es Fichte (1867) von ausschlaggebender Wichtigkeit, genau nachzuweisen, »ob eben diese Bedingungen dazu ausreichen, um seinem ›Genius‹ genugzuthun, ihn erschöpfend zu entwickeln und damit ihm sein Recht zu thun« (S. 354, § 330). Die Frage nach der Möglichkeit der persönlichen Fortdauer soll demnach unter dem Aspekt des Grades der Vollkommenheit oder Unvollkommenheit der ethischen Entwicklung des Menschen betrachtet werden. In dieser Hinsicht bieten sich laut Fichte zwei Alternativen. Die erste Alternative bestehe in der Möglichkeit, dass die Betrachtung der Menschengeschichte zur Folge hat, dass der Mensch »schon innerhalb seines epitellurischen Daseins seine ethische Bestimmung vollständig erreiche, seinen ›Genius‹ erschöpfend herauslebe« (Fichte, 1867, S. 355, § 331). Im Fall dieser »irdisch befriedigende[n] Entwickelungsgeschichte« (Fichte, 1867, S. 360, § 333) höre mit der Erfüllung dieses immanenten Zweckes seine Entwicklung auf und bleibe ihm kein weiterer und höherer Zweck übrig, denn die Geschichte hat ihm schon die notwendigen und hinreichenden Bedingungen geboten, um sein Wesen zum vollen Ausdruck und zur vollen Verwirk-

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lichung zu bringen. Sollte dies der Fall sein, so weist Fichte (1867) darauf hin, dass »jeder geistige Anspruch des Menschen auf Unsterblichkeit« mit der Vervollkommnung seiner Bestimmung »unwiderruflich« verschwinden würde, sich als überflüssig erweisend (S. 355, § 331). Selbst wenn unter diesen Umständen dem natürlichen Tod eine »nachträgliche Fortdauer« des menschlichen Geistes folgen würde, wäre diese nachtodliche Existenz eigentlich »ein überflüssiger Anhang oder eine müssige Wiederholung des gegenwärtigen, angeblich vollgenügenden Lebens« (Fichte, 1867, S. 355, § 331). Nun bestehe die zweite Alternative darin, dass die Betrachtung der Menschengeschichte zur Folge hat, dass wegen des Mangels an den »vollgenügende[n] Bedingungen, um den ethischen Menschheitszweck weder in der Gesammtheit, noch für den Einzelnen zur Vollendung zu bringen« (Fichte, 1867, S. 355, § 331), der Mensch in seiner irdischen Existenz seine Bestimmung nicht erfüllt. Im Fall dieser unzulänglichen Geschichte bleibe der innere Zweck des Menschen unerfüllt und sein Entwicklungshorizont offen. Wenn folglich in der Menschengeschichte »nicht die volle, definitive Bestimmung des Menschen gefunden werden könne« (Fichte, 1867, S. 419, § 361), muss man aus Fichtes Perspektive feststellen, dass »[d]ie engbegrenzte Kürze des Erdenlebens … gerade nur dazu aus[reicht], die ersten Schritte uns thun zu lassen auf der Bahn ethischer Cultur« (Fichte, 1867, S. 411, § 357). Auf diese Weise konturiert sich ein Beweis, welchen Fichte als einen historisch-ethischen Beweis der Fortdauer des menschlichen Geistes bezeichnet. Dabei handelt es sich im Wesentlichen darum, angesichts der »universale[n] Unzulänglichkeit des Erdendaseins für den Geist« (Fichte, 1867, S. 355, § 331) und des offen bleibenden Entwicklungshorizontes des Menschen die Behauptung wahrscheinlich zu machen, »dass die Entwickelungsgeschichte des Menschen überhaupt nicht von nur epitellurischer Bedeutung sein könne« (Fichte, 1867, S. 361, § 333), sondern dass sie vielmehr »nur die Vorbereitung höherer, erst erfüllender Entwickelungen« sei (Fichte, 1867, S. 441, § 371). 223 Zu Fichtes historisch-ethischem Beweis im Zusammenhang mit dem autobiographischen Unsterblichkeitsbeweis Spickers vgl. auch Schwaetzer (2006, S. 155–190), der Fichtes »Beweismethodik« charakterisiert. Laut Schwaetzer (2006) bestehe diese nämlich »in dem Aufweis, daß der Mensch einem Ziel zustrebt, welches er im Rahmen seines natürlichen und irdischen Lebens nicht zu erlangen vermag. Die Grundkonstruktion basiert, wie hier zumindest in Bezug auf den Menschen sichtbar ist, auf dem Gedanken der Zweckhaftigkeit als universaler Welttatsache« (S. 160).

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Aus dieser Betrachtung des Menschen in der Geschichte ergibt sich als Prämisse für den Beweis der Fortdauer der Persönlichkeit, dass der Mensch ein perfektibles und geschichtsbildendes Wesen sei, welchem die irdische Existenz und Geschichte nicht die notwendigen und hinreichenden Bedingungen zur Vervollkommnung seiner ethischen Bestimmung bieten. Ausgehend von dieser Tatsache der Unzulänglichkeit der Menschengeschichte argumentiert Fichte sodann für die Fortdauer des menschlichen Geistes. Die folgende Schilderung dieses Argumentes, bei welchem es sich um die Frage handelt, inwiefern jene Tatsache die Idee der persönlichen Fortdauer belegen lässt, soll nämlich Fichtes ganzen Beweis der Fortdauer des menschlichen Geistes zu seinem Abschluss bringen. 4.2.4.3.2 Die Fortdauer des Genius Bis zu diesem Punkt steht fest, dass der Seele nach dem natürlichen Tod sowohl eine Wirklichkeits- als auch eine Bewusstseinsform zukomme. Die abschließende Frage des Beweises Fichtes, ob die jener Wirklichkeits- und Bewusstseinsform zugrunde liegende Persönlichkeit als ein geistig erfülltes Wesen fortdauert, beantwortet er unter dem Aspekt der Unendlichkeit der ethischen Entwicklungsfähigkeit der Persönlichkeit. Zu diesem Zweck fokussiert er sich erstens auf das Resultat der sich bis zum Moment des natürlichen Todes erstreckenden Entwicklungsgeschichte und zweitens auf den aus der in jenem Moment immerhin noch geltenden Unvollkommenheit aufkommenden Entwicklungshorizont des Menschen. 4.2.4.3.2.1 Die individuelle »Lebenssumme« Was den ersten Teil der Antwort auf die Frage nach der Fortdauer der Persönlichkeit betrifft, so weist Fichte darauf hin, dass, auch wenn die Geschichte nicht die notwendigen und hinreichenden Bedingungen zur Vervollkommnung der ethischen Bestimmung des Menschen biete, er am Ende seiner Entwicklungsgeschichte seinem Leben immerhin einen geistigen »Ertrag« entnehmen könne, welchen Fichte (1855a) als die Lebenssumme der Seele bezeichnet (S. 168). Laut Fichte (1855a) destilliere demnach aus dem ganzen Leben des Menschen eine »Summe [der] innern und äussern Werke« der Individualität, welche mit dem natürlichen Tod nicht verschwinde, sondern umgekehrt in einer bestimmten Form fortdauere (S. 168). Fichte (1855a) weist nämlich darauf hin, dass die geistige Individualität ihre Lebenssumme, d. h. »ihre Leidenschaften und Strebungen, ihre Tüchtig-

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keiten wie Untugenden«, nämlich in der Form einer »geistig eingebildete[n] Gewohnheit oder Grundrichtung« in ihre nachtodliche Existenz fortnehme, welche zugleich von einem entsprechenden »Selbstgefühl dieser Lebenssumme« begleitet werde (S. 168). Diesen nachtodlichen »Seelenzustand«, welcher in einer bestimmten Beschaffenheit und einem diese Beschaffenheit begleitenden Selbstgefühl bestehe, betrachtet Fichte (1855a) als »die Bedingung der neuen Existenz, und die Basis der künftigen Leiblichkeit« (S. 168). In diesem Sinne beginne der Mensch schon in seiner irdischen Existenz, durch das im Kulturprozess stattfindende Verhältnis zum Ideengehalt seine geistige Leiblichkeit zu erbauen und zu gestalten, sodass die Form seiner nachtodlichen Leiblichkeit im Endeffekt von dem geistigen Ertrag abhänge, welchen er seinem Leben entnehmen kann. Auf diese Weise stellt Fichte fest, dass der die Persönlichkeit ausmachende und erfüllende geistige Inhalt mit dem natürlichen Tod nicht verschwinde, sodass die Behauptung mit einem hohen Grad der philosophischen Wahrscheinlichkeit aufgestellt werden könne, dass der Mensch nach dem Tod seine Persönlichkeit behalte. »Der Geist bleibt derselbe, der er war, die gleiche, mit dem (relativen) Idealgehalt erfüllte Persönlichkeit, welchen ihr während des Sinnenlebens aus sich zu entwickeln gelungen ist« (Fichte, 1867, S. 336, § 319). 224 Vor diesem Hintergrund ist Schwaetzers (2006) Unterstellung eines »platonischen« Entwicklungsbegriffs zu würdigen, dem gemäß die Entwicklung und Individualisierung des Menschen »zu keiner Selbstverwandlung« führe (S. 189). Schwaetzer (2006) argumentiert dafür, dass Fichte am Begriff der Unveränderlichkeit des menschlichen Geistes festhalte, sodass die Entwicklung des Menschen zum Selbstbewusstsein in der Rückkehr zur »vorgegebenen Geistnatur des Menschen« bestehe und nichts an seiner »Entelechie« oder seiner »Idee« ändere (S. 189). Laut Schwaetzer (2006) habe »die freie Entwicklung des Bewußtseins« bei Fichte »keinen Einfluß auf eine Umgestaltung dieser geistigen Natur; sie bleibt, wie sie geschaffen ist« (S. 189). Wie diese Arbeit bis zu diesem Punkt aufgezeigt hat, trifft Schwaetzers Unterstellung auf Fichte nicht ganz zu. Dabei sind nämlich zwei Missverständnisse festzustellen. Erstens verwechselt Schwaetzer die epistemische Entwicklung des Bewusstseins mit der ethischen Entwicklung des menschlichen Geistes. Während Schwaetzer richtig darauf hinweist, dass Fichte die Entwicklung des Menschen zum Selbstbewusstsein als die Rückkehr bzw. Erhebung zu seinem ursprünglichen Wesen betrachte – was als Selbsterkennen zu bezeichnen ist –, gilt diese Figur nicht für seine ethische Entwicklung. Gemäß dem Begriff der Kulturfähigkeit sei der Mensch auf die Erziehung und die Kultur angewiesen, durch welche er außer seiner epistemischen und ästhetischen auch nach seiner ethischen Vollkommenheit strebe. Bei diesem Kulturprozess erweise sich der Mensch als ein unendlich perfektibles Wesen, was folgerichtig als eine Art von Veränderung zu betrachten ist. Nun zeigt sich an diesem Begriff der Veränderung

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4.2.4.3.2.2 Die unendliche Perfektibilität der Persönlichkeit Was nun den zweiten Teil der Antwort auf die Frage nach der Fortdauer der Persönlichkeit betrifft, so weist Fichte darauf hin, dass der Mensch am Ende seiner irdischen Entwicklungsgeschichte trotz des seinem Leben entnommenen Ertrages seine ethische Bestimmung nicht erfülle, sodass er immerhin ein unvollständiges und entwicklungsfähiges Wesen bleibe. In diesem Sinne reiche der Mensch »mit seinem wahrhaften (ethischen) Lebensziele über die Grenzen seines gegenwärtigen Lebens hinaus« (Fichte, 1867, S. 355, § 331), welche, insofern sie unerfüllt bleiben, auf einen weitreichenden Entwicklungshorizont verweisen. Der Mensch zeige sich demnach in seiner Teilnahme an dem historischen Kulturprozess als ein unendlich perfektibles Wesen. Für Fichte (1867) läuft diese Tatsache darauf hinaus, dass die Bedingung der Möglichkeit des Kulturprozesses, in welchem der Mensch eine Entwicklung zu seiner ethischen Bestimmung durchlaufe, nämlich im »Begriff unendlicher Perfectibilität« liege (S. 427, § 364). Wenn man den Menschen demnach unter dem Aspekt seiner Perfektibilität im historischen Kulturprozess betrachtet, so müsse man an seinem Wesen nämlich eine »›innere[] Unendlichkeit‹« erkennen (Fichte, 1867, S. 417, § 360). Aus der Feststellung das zweite Missverständnis Schwaetzers. Wenn er feststellt, dass die Entwicklung des Menschen keine Verwandlung seines Wesens impliziere, so ist diese Behauptung unter bestimmten Einschränkungen als richtig zu betrachten. Wie es in dieser Arbeit im Kontext der Präformationstheorie Fichtes schon dargestellt wurde, argumentiert Fichte für die Ursprünglichkeit und Unveränderlichkeit des Grundtypus eines Organismus, welches als ein ideales, wirksames und unveränderliches Formprinzip gelte. Die Unveränderlichkeit dieses Formprinzips besteht darin, dass es sich nicht aus äußeren Ursachen in ein anderes Formprinzip verwandeln könne. Nun lässt Fichtes Entwicklungsbegriff sehr wohl die Möglichkeit von Modifikationen und Varietäten innerhalb der Grenzen zu, welche die in ihrer Eigentümlichkeit und Spezifizität unveränderliche Idee setzt. In diesem Sinne ist Schwaetzers Behauptung, dass Fichte am Begriff der Unveränderlichkeit des menschlichen Geistes festhalte, nur insofern richtig, als ein individueller Mensch durch Entwicklung keineswegs zu einem verschiedenen Menschen werden kann, genauso wie eine Art nicht zu einer anderen Art werden kann. Nur in diesem Sinne lässt sich sagen, dass die geistige Individualität des Menschen so bleibe, wie sie ursprünglich geschaffen wurde. Fichtes Entwicklungsbegriff schließt jedoch die Möglichkeit von »Modifikationen« nicht aus, was im Fall der ethischen Entwicklung des Menschen darauf hinausläuft, dass er doch auf eine bestimmte Weise verändert wird. Diese Veränderung kommt nämlich in dem hier dargestellten Begriff der Perfektibilität und der aus dem Ertrag des Lebens (Biographie) eingebildeten »Gewohnheit« bzw. »Grundrichtung« zum Ausdruck, welche der menschliche Geist in ihre nachtodliche Existenz fortnehme. Diese Ansicht ist jedoch keineswegs als ein »platonischer« Entwicklungsbegriff zu bezeichnen.

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der fortbestehenden Perfektibilität lasse sich laut Fichte (1867) auf die innere »Dauerbarkeit« des menschlichen Geistes schließen, was für die Idee der Fortdauer der Persönlichkeit von ausschlaggebender Wichtigkeit ist (S. 355–356, § 331). Bevor Fichte zu dieser Idee gelangt, macht er jedoch noch einen Schritt in seiner Argumentation. Bis zu diesem Punkt hat er die unendliche Perfektibilität als die Bedingung des Kulturprozesses erkannt sowie aus der Tatsache der unendlichen Perfektibilität auf den Begriff der inneren Unendlichkeit und Dauerbarkeit geschlossen. Nun weist Fichte (1867) darauf hin, dass dieser Begriff der inneren Unendlichkeit »ein völlig illusorischer Begriff« wäre, wenn man der Unendlichkeit eine geistig erfüllte und beharrliche Persönlichkeit als ihren Träger nicht zugrunde legen und hierbei eine »persönliche[] Fortdauer« nicht annehmen würde (S. 427, § 364). Es ergibt sich für Fichte als die Grundbedingung der beobachteten ethischen Entwicklung des Menschen im historischen Kulturprozess nämlich eine sich entwickelnde und vervollkommnende Persönlichkeit, welche als Persönlichkeit über die raumzeitlichen Schranken der irdischen Existenz hinausreiche und auf eine geistige Existenz angewiesen sei. Im Gegensatz zum Begriff einer »veränderungslosen Unvergänglichkeit« (Fichte, 1867, S. 319, § 305) ergibt sich für Fichte (1867) aus den betrachteten Tatsachen der Begriff einer Fortdauer der Persönlichkeit, welche einerseits »eine unendliche Fortentwickelung« und andererseits »das Bewusstsein dieser Fortentwickelung« einschließe (S. 417, § 360). Abschließend lässt sich feststellen, dass Fichte die philosophische Wahrscheinlichkeit der Idee der Fortdauer der menschlichen Seele insofern auf der Erfahrung begründet, als er aus physiologischen, psychologischen, historischen und ethischen Tatsachen auf die Unvergänglichkeit der Seele unter dem Aspekt ihrer Organisationskraft, ihres Bewusstseinsvermögens und ihrer Perfektibilität schließt. Auf diese Weise gelangt Fichte zu einer Idee der Fortdauer, der gemäß die menschliche Seele nach dem natürlichen Tod als eine geistig erfüllte Persönlichkeit, der zudem eine Wirklichkeits- und eine Bewusstseinsform zukommt, in eine geistige Existenz übergeht. 4.2.4.3.2.3 Exkurs: Fichte, Lessing und die Frage nach der Reinkarnation Nachdem Fichte aus der Betrachtung des Menschen in der Geschichte unter dem Aspekt der Perfektibilität die Plausibilität der persönlichen Fortdauer des menschlichen Geistes behauptet, liegt die Frage nahe, Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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warum Fichte nicht die Plausibilität der Idee der Reinkarnation berücksichtigt. Die Antwort auf diese Frage geht aus Fichtes Kritik an Lessing hervor. Im Kontext seiner Betrachtung der Unzulänglichkeit der Menschengeschichte zur Vervollkommnung der ethischen Bestimmung des Menschen weist Fichte auf Lessings Hypothese der Reinkarnation hin, die er bekanntlich in Die Erziehung des Menschengeschlechts aufstellt. Lessing (1965) fragt sich nämlich, »warum … jeder einzelne Mensch auch nicht mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden gewesen seyn [könnte]« (S. 30, § 94) und ob man »auf einmal so viel weg[bringe], daß es der Mühe wieder zu kommen etwa nicht lohnet« (S. 30, § 98). Nachdem Fichte diese Stellen anführt, weist er zunächst auf seine Übereinstimmung mit Lessing hin. Laut Fichte (1864a) finde auch Lessing »die gleiche Lücke in der irdischen Entwickelung des Menschengeschlechts« und erachte »den ganzen Geistesertrag irdischen Daseins für den Menschen als so höchst geringfügig, dass es sich wol der Mühe verlohnen könne, mehr als einmal und zu neuen Erprobungen ›in diese Welt zurückzukehren‹« (S. 123, § 37). Beide stimmen demnach in der Idee der Kontinuität und der Fortexistenz überein. Nun stellt Lessing die Hypothese der Reinkarnation auf, mit welcher er laut Fichte (1864a) recht hätte, »wenn wir sie nur von ihrer zufälligen Form ablösen« (S. 123, § 37). Diese zufällige Form der Hypothese der Reinkarnation ergebe sich laut Fichte aus der Prämisse einer Trennung zwischen einem Diesseits und einem Jenseits. Gerade aus dieser Prämisse musste Lessing zwangsläufig auf die Idee der Reinkarnation schließen: »Wie anders konnte Lessing unter dieser Voraussetzung die fehlende Continuität retten, als indem er die stetige Fortbildung des Menschen recht eigentlich als Wiederkehr in das Diesseits auffasste?« (Fichte, 1864a, S. 123, § 37). Da Lessing von der Prämisse der Trennung zwischen Diesseits und Jenseits ausgegangen sei, musste er zwangsläufig die Kontinuität der Menschengeschichte und die Fortentwicklung des menschlichen Geistes, welche er richtig anerkannt habe, durch die Idee der Fortexistenz im Sinne der Reinkarnation als Wiederkehr in das Diesseits gewährleisten. Nun richtet Fichte seine Kritik an Lessings Prämisse. Für Fichte bilden nämlich Diesseits und Jenseits eine Einheit. Wie es in dieser Arbeit schon dargestellt wurde, begründet Fichte diese Einheit in seiner Ontologie, aus der hervorgeht, dass Raum und Zeit die Urformen alles Realen seien und insofern eine einheitliche Existenz gewährleisten. Wenn die Prämisse der Trennung zwischen Diesseits und Jenseits berichtigt wird, so ist für Fichte 336

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die Idee der Reinkarnation als Wiederkehr in das Diesseits nicht mehr notwendig, um die Fortentwicklung des Menschen zu gewährleisten. Wenn man demgegenüber die Einheit von Diesseits und Jenseits als Prämisse zugrunde legt, so wird für Fichte die Möglichkeit einer Fortexistenz und einer Fortentwicklung des menschlichen Geistes begreiflich. Gemäß dieser Auffassung bleibe der Mensch nach dem biologischen Tod in derselben Welt in einer anderen Existenzform, die ihm die Möglichkeit der Fortentwicklung biete. Für Fichte (1864a) sollte dieses Argument die Idee einer Wiederkehr in das Diesseits bzw. einer neuen Verleiblichung desselben Geistes überflüssig machen: Das »Diesseits« und das »Jenseits« ist Eine Welt, und in beiden nur Eine Lebensentwickelung des Geistes. Wir bedürfen nicht mehr der Annahme seiner Wiederkehr in die diesseitige Lebensform, um jene Continuität zu begreifen, weil nach uns der Geist in Wahrheit die Eine Welt nie verlässt, in der seine innern Geschicke sich entscheiden (S. 124, § 37).

Bei näherer Betrachtung des Argumentes Fichtes ergibt sich, dass es eigentlich die Möglichkeit nicht ausschließt, dass der in geistiger Form fortdauernde Geist zu einem Zeitpunkt kommen kann, an dem sich eine neue Verleiblichung als notwendig erweisen könnte. Es lässt sich demnach denken, dass sich mehrere Verleiblichungen selbst unter der Voraussetzung einer Einheit zwischen Diesseits und Jenseits im Rahmen der Entwicklung des menschlichen Geistes als möglich und notwendig erweisen. In diesem Sinne müsste man annehmen, dass der menschliche Geist nach dem biologischen Tod wieder in eine potentiale Existenzform übergeht, welche für die hypothetische künftige Verleiblichung als ihre Präexistenz zu betrachten wäre. Nun wäre eine solche Hypothese höchst spekulativ. Das mag auch der Grund sein, weshalb Fichte der Idee der Reinkarnation nicht weitere Beachtung schenkt. Methodologisch stützt sich Fichte auf der Erfahrung, um durch Induktion, Analogie und Hypothese Aussagen über den Zustand nach dem Tod zu machen, die nur den Anspruch auf philosophische Wahrscheinlichkeit erheben. Im Fall der Reinkarnation fehlen Fichte die Erfahrungstatsachen und -analogien, die ihm ermöglichen könnten, erfahrungsmäßige, vernünftige und besonnene Aussagen über die Möglichkeit und die Notwendigkeit der Reinkarnation zu machen. Trotzdem darf man immerhin feststellen, dass Fichtes philosophische Anthropologie, insofern sie auf die Erfahrung angewiesen ist, nämlich offen für Ergänzung und Berichtigung ist. In Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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diesem Sinne dürfte man nahelegen, dass Fichte zwar die Idee der Reinkarnation als Wiederkehr in das Diesseits für zufällig halten musste, dass aber die Idee der Reinkarnation prinzipiell nicht ausgeschlossen ist. Wenn nämlich die Erfahrungstatsachen und -analogien die Hypothese stützen würden, dass mehrere Verleiblichungen unter der Voraussetzung einer Einheit von Diesseits und Jenseits möglich und notwendig sind, dann dürfte und könnte Fichte, seinen methodologischen Prinzipien treu folgend, die philosophische Wahrscheinlichkeit der Idee der Reinkarnation behaupten.

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Die nachidealistische Periode der Geschichte der Philosophie charakterisiert sich durch tiefgreifende Veränderungen, welche die Identität und die Bedeutung der Philosophie infrage stellten. Gegen die übermittelte Ansicht, dass diese Umstände in der mittleren Periode des 19. Jahrhunderts zum Verfall der Philosophie führten und deren Ruinen zur Bedeutungslosigkeit herabsanken, argumentierte diese Arbeit dafür, dass gerade in dieser für die Philosophie und den Idealismus ungünstigen Zeit, in welcher der Fortschritt der Naturwissenschaften und die damit einhergehende kulturgestaltende Ausbreitung des Materialismus und des Darwinismus zu einem durchaus materialistischen Menschenbild und zu einem metaphysikfeindlichen Pathos führten, die ausgleichende Philosophieströmung still und unbehelligt aufkeimte. Der Spätidealismus bildet eben eine Philosophieströmung, welche dem materialistischen Menschenbild der Gegenwart entgegenwirken kann. Von besonderem Interesse und dringender Aktualität ist nämlich das versöhnende Anliegen des Spätidealismus, den epistemologischen, methodologischen, wissenschaftlichen, metaphysischen und religiösen Anforderungen des sich zu seinem Selbsterkennen entwickelnden Bewusstseins gerecht zu werden. Immanuel Hermann Fichte wurde gerade im Kontext des Spätidealismus seine philosophiegeschichtliche Stellung eingeräumt, insofern er sich als ein exemplarischer spätidealistischer Philosoph erwies. Da er in vieler Hinsicht an den klassischen Idealismus anknüpft und die damit enthaltenen Probleme innerhalb dieser Tradition zu lösen versucht, ergab sich, dass eine Geschichte des deutschen Idealismus ohne die Berücksichtigung des Spätidealismus und insbesondere ohne die Einbeziehung Immanuel Hermann Fichtes unvollständig bleiben würde. Aus der Betrachtung des philosophischen Ansatzes Fichtes darf man sogar feststellen, dass er beispielsweise mindestens vier Hauptprobleme des klassischen Idealismus zu einer relativen systematischen Vollendung bringt. Dabei handelt es sich nämlich Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Konklusion

um die Frage nach dem Absoluten, die Frage nach der Individualität, die Frage nach der Möglichkeit des spekulativ-anschauenden Erkennens und die Frage nach dem Übergang der negativen in die positive Philosophie. Die von Fichte epistemologisch begründete Rückkehr der Spekulation zur Erfahrung ist demnach nicht nur von historischer Bedeutung für die Geschichte des deutschen Idealismus, sondern auch von systematischer Bedeutung für die gegenwärtige Philosophie des Geistes. Fichte bietet der Gegenwart einen philosophischen Standpunkt, auf welchem die Philosophie die höchsten und brennenden Fragen der menschlichen Existenz für sich zurückfordern kann, ohne dabei zugunsten einer dogmatischen Metaphysik oder einer trüben Mystik die kritische Besonnenheit und die strenge Wissenschaftlichkeit aufzugeben. Als ein wesentliches Merkmal des Spätidealismus wurde die Menschenfrage erkannt. Die Zentralität dieser Frage zeigte sich bei der Betrachtung von Fichtes intellektueller Entwicklung und theoretischer Grundlegung seiner philosophischen Anthropologie. In dieser Hinsicht argumentierte diese Arbeit dafür, dass Fichte seine Philosophie des menschlichen Geistes aus dem existentiellen Ursprung der Menschenfrage hervorgehen lässt, um sodann mit einer epistemologischen und methodologischen Grundlegung auf dem anthropozentrischen Standpunkt fortzufahren und letztlich in einer auf der Erfahrung beruhenden Metaphysik des Menschen zu gipfeln. Es ergab sich weiterhin, dass Fichte diese Philosophie des menschlichen Geistes in die philosophische Anthropologie und die philosophische Psychologie disziplinär einteilte. Die philosophische Anthropologie konzipierte Fichte als die Lehre der Wesensapriorität der menschlichen Seele, während er die philosophische Psychologie als die Lehre der bewusstwerdenden, bewussten und selbstbewussten Seele konzipierte. Nach der disziplinären Bestimmung der philosophischen Anthropologie stellte diese Arbeit die genetische Epistemologie Fichtes ausführlich dar. Dabei zeigte sich, dass er die philosophische Anthropologie auf dem Standpunkt des aposteriorisch-spekulativen Erkennens gründet. Anschließend wurden die methodologischen Ansprüche und Einschränkungen dieser Erkenntnisart skizziert. Als zentrale aposteriorisch-spekulative Methoden erwiesen sich nämlich die Induktion, die Analogie und die Hypothese. In dieser Hinsicht wies diese Arbeit nach, dass die philosophische Anthropologie Fichtes, indem sie auf die Erfahrung angewiesen ist und nach der apos340

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teriorischen Methode verfährt, einerseits auf den Anspruch auf apodiktische Gewissheit und andererseits auf den Anspruch auf systematische Geschlossenheit verzichtet, um stattdessen ihren Behauptungen philosophische Wahrscheinlichkeit zuzuschreiben und diese Wissenschaft einer unendlichen Progression offen zu halten. Bevor die Resultate der philosophischen Anthropologie Fichtes ausführlich dargelegt wurden, ging diese Arbeit auf die doxographische und kritische Würdigung der paradigmatischen psychologischen Theorien ein, aus welcher er durch den Beweis der Unzulänglichkeit des substanzdualistischen Axioms, des materialistischen Begriffs des Realen, des pantheistischen Identitätsprinzips und des realistischen Einfachheitsbegriffs die Notwendigkeit eines idealrealistischen und personalistischen Standpunktes aufweist. Nach der Darstellung dieser Selbstpositionierung Fichtes in der modernen Geschichte der Seelenlehre, wurde sein Beweis für die Wesensapriorität und für die Unvergänglichkeit der menschlichen Seele gründlich rekonstruiert. Dieser Beweis fing mit dem Begriff der Substantialität der Seele an. Dabei wurde aufgezeigt, dass Fichte aus den Ergebnissen seiner ontologischen Untersuchungen zur Raum- und Zeittheorie zunächst für die Realität der Seele argumentiert. Mit dem Begriff der Realität, dem gemäß die Seele bei ihrer Selbstverwirklichung sich ihre raumzeitliche Wirklichkeit in ihrem Leib gibt, versucht Fichte, den Substanzdualismus zu berichtigen. Nachdem es erläutert wurde, inwiefern die Seele für Fichte als ein reales Wesen gilt, ging die Untersuchung auf die substantiellen Bestimmungen der Seele ein. Daraus ergab sich, dass sich die Seele insofern als Substanz zu betrachten ist, als sie sich als das einende Prinzip, das beharrliche Substrat, die selbsterhaltende Kraft und das progressive Wesen des Menschen kundgibt. Als zweites Moment des Beweises Fichtes erwies sich der Begriff der Individualität. In diesem Zusammenhang wurde aufgezeigt, dass Fichte die Individualität der Seele unter drei steigernden Gesichtspunkten betrachtet, welche dementsprechend deutlich unterschieden wurden. Diese Arbeit schilderte sodann Fichtes Argument dafür, dass die menschliche Seele als ontologische Einzelheit, als natürliche Individualität und als geistige Persönlichkeit betrachtet werden kann, wobei sich der Begriff der geistigen Persönlichkeit als der für den Menschen eigentlich gültige Begriff erwies. Anschließend fuhr diese Arbeit mit dem Beweis der Präexistenz der Seele als drittes Moment der ganzen Beweisführung fort. In dieSubstantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Konklusion

ser Hinsicht wurde aufgezeigt, dass Fichte vor allem aus den Eigenschaften der organischen Tätigkeit, nämlich aus der sich an instinktiven, morphologischen, physiognomischen und psychologischen Vorgängen kundgebenden Zweckmäßigkeit, Vernunftgemäßheit und Kunstmäßigkeit, auf die ideelle Präformation der Seele schließt. Auf diese Weise gelangte Fichte zu einem Begriff der Präexistenz, welcher einen latenten Mittelzustand zwischen Nichtwirklichkeit und Wirklichkeit bezeichnet. Dabei handelt es sich nämlich um keine vollkommene Existenz vor der leiblichen Existenz, sondern vielmehr um die latente Idealform vor und die ideelle Gegenwart während der leiblichen Existenz. In dieser Hinsicht erwies sich die ideelle Präformation der Seele als die Bedingung ihres ganzen Verwirklichungsprozesses, dessen wichtigsten Momenten nämlich die Zeugung, die Verleiblichung und die Bewusstwerdung sind. Die präexistente Idealität und immanente Wirksamkeit der Seele, welche bei diesen Vorgängen vorauszusetzen ist, ließ sich anhand der Begriffe des inneren Leibes und der Phantasietätigkeit konkreter und präziser erklären. Nachdem die Wesensapriorität der Seele in Hinsicht auf ihre Substantialität, Individualität und Präexistenz bewiesen wurde, wurde die systematische Rekonstruktion des Beweises Fichtes mit dem Begriff der Fortdauer der Seele abgeschlossen. Dabei wurde aufgezeigt, dass Fichte aus verschiedenen Perspektiven für die Fortdauer der Seele argumentiert, um einen möglichst vollständigen Begriff der Fortdauer zu entwickeln. Seinen Begriff der Fortdauer der Seele entwickelt er nämlich aus der Betrachtung physiologischer, psychologischer und historisch-ethischer Tatsachen. Auf diese Weise untermauert Fichte erfahrungsgemäß einen Begriff der Fortdauer, welcher ihm die Behauptung mit einem hohen Grad der philosophischen Wahrscheinlichkeit aufstellen lässt, dass die Seele unter dem Aspekt ihrer Organisationskraft, ihres Bewusstseinsvermögens und der Perfektibilität ihrer Persönlichkeit eben als unendlich perfektible Persönlichkeit nach dem natürlichen Tod fortdauert, welcher zudem eine geistige Wirklichkeits- und Bewusstseinsform zukommt.

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Philosophie und Psychologie des 19. Jahrhunderts

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Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Anhang

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Erhalt der Ehrenmatrikel der Universität Jena durch Justus Christian Loder Übersiedlung nach Berlin anlässlich des Atheismusstreites Besuch des Friedrich-Werderschen Gymnasiums Studium und Promotion an der Universität Titel der Dissertation: De philosophiae novae Berlin platonicae origine – Philologie, Philosophie und Theologie – Besuch des Philologischen Seminars bei August Boeckh – Selbststudium der Philosophie ab 1815 – 13. 11. 1817: Anmeldung zur Doktorprüfung

1799

1805–1812

1812–1818

Werk

1797

Leben Geburt – Geboren in Jena – Einziges Kind von Johann Gottlieb und Johanna Marie Fichte (Rahn)

18. 07. 1796

Zeitraum

Nach den biographischen Darstellungen von Hartmann (1904), Zeltner (1961) und Ehret (1986) hergestellt.

Berliner Zeit (1799–1822)

Jenaer Zeit (1796–1799)

Tabelle 1. Immanuel Hermann Fichtes Leben und Werk 1

Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

A

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Saarbrücker Zeit (1822–1826)

Tod des Vaters Privatdozent an der Universität Berlin Tod der Mutter Prüfung für das Lehramt – Hegel war Mitglied der Prüfungskommission Annahme einer Lehrerstelle am Gymnasium in Saarbrücken – Nach dem Druck vom Staatsrat Christoph Ludwig Friedrich Schultz im Kontext der Karlsbader Beschlüsse (1819) und der darauffolgenden Überwachung und Unterdrückung liberaler und nationaler Strömungen in Universitäten und der Bevölkerung

1819–1822

24. 01. 1819

1821

1822

28. 10. 1818: Disputation unter dem Präsidium von Karl Wilhelm Ferdinand Solger und mit Hegel als Opponenten – Polemik um Urheberschaft der Dissertationsschrift: Christian Samuel Weiss’ Plagiatsvorwurf und August Boeckhs Widerlegung



Leben

29. 01. 1814

Zeitraum

Werk

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Düsseldorfer Zeit (1826–1836) Geburt des dritten Sohnes: Ernst Max Fichte

Über Gegensatz, Wendepunkt und Ziel heutiger Philosophie

Johann Gottlieb Fichte’s Leben und literarischer Briefwechsel

1830

1832

Beiträge zur Charakteristik der neueren Philosophie (1. Aufl.)

1829

Sätze zur Vorschule der Theologie

27. 07. 1827

24. 03: Geburt des zweiten Sohnes: Karl Eduard Fichte



1826

Werk

Verfassung von Sätze zur Vorschule der Schonzeit in Frankfurt wegen Theologie Erkrankung der Sprachorgane – 23. 12. 1823: Heirat mit Wilhelmine Silly (Faber) – Wilhelmine pflegte Fichte bei Erkrankung – Wilhelmines Tochter aus erster Ehe: Sophie – Söhne des Ehepaars: Johann Hermann, Karl Eduard und Ernst Max – 04. 12. 1824: Geburt des ersten Sohnes: Johann Hermann Fichte

Leben –

1823–1824

Zeitraum

Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

A

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2

Titel der Habilitation: De principiorum contradictionis, identitatis, exclusi tertii in logicis dignitate et ordine commentatio 2

1840

Beiträge zur Charakteristik der neueren Philosophie (2. Aufl.)

Gründung der Zeitschrift für Philosophie und spekulative Theologie

1837

1841

Berufung nach Bonn als außerordentlicher Grundzüge zum Systeme der Philosophie. Professor für Philosophie und Pädagogik Die Ontologie

1836

23. 12: Tod des ersten Sohnes: Johann Hermann Fichte

Ueber die Bedingungen eines spekulativen Theismus

1835



Johann Gottlieb Fichte’s nachgelassene Werke

1834–1835

Eine englische Übersetzung der Habilitation Fichtes von Jon Stewart liegt vor (vgl. Fichte (2009)).

Bonner Zeit (1836–1842)

Die Idee der Persönlichkeit und der individuellen Fortdauer (1. Aufl.)

1834

Werk Grundzüge zum Systeme der Philosophie. Das Erkennen als Selbsterkennen

Leben

1833

Zeitraum

368

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Tübinger Zeit (1842–1863)



1847

Einige Grundzüge zum Entwurfe der künftigen deutschen Reichsverfassung. Ansprache an die erste deutsche Nationalversammlung in Frankfurt System der Ethik. Die philosophischen Lehren von Recht, Staat und Sitte System der Ethik. Die allgemeinen ethischen Begriffe und die Tugend- und Pflichtenlehre System der Ethik. Die Lehre von der Rechts-, sittlichen und religioesen Gemeinschaft oder die Gesellschaftswissenschaft

1848

1850

1851

1853

Umbenennung der Zeitschrift zu Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik

Grundzüge zum Systeme der Philosophie. Die speculative Theologie

1846 Erste »Philosophenversammlung«

Johann Gottlieb Fichte’s sämmtliche Werke

1845–1846

Werk

Über den gegenwärtigen Standpunkt der Philosophie. Akademische Antrittsrede gehalten in der Aula der Universität zu Tübingen am 4. November 1842

1842

1843

Leben Berufung nach Tübingen

Zeitraum

Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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369

Stuttgarter Zeit (1863–1879)

Psychologie. Die Lehre vom bewussten Geiste des Menschen (Bd. 1) Die Seelenfortdauer und die Weltstellung des Menschen Vermische Schriften zur Philosophie, Theologie und Ethik (Bd. 1–2) Die nächsten Aufgaben für die Nationalerziehung der Gegenwart, mit Bezug auf Friedrich Fröbels Erziehungssystem. Eine kritisch-pädagogische Studie

1867

1869

1870

16. 02: Tod der Frau

1864



Anthropologie. Die Lehre von der menschlichen Seele (2. Aufl.)

1860

1862

Zur Seelenfrage. Eine philosophische Confession

Tod (Mord) des dritten Sohnes: Ernst Max Fichte

1859

20. 02. 1857

Anthropologie. Die Lehre von der menschlichen Seele (1. Aufl.)

1856

Werk Die Idee der Persönlichkeit und der individuellen Fortdauer (2. Aufl.)

Leben

1855

Zeitraum

370

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Tod Tod des zweiten Sohnes: Eduard Fichte

1905

Der neuere Spiritualismus, sein Werth und seine Täuschungen

1878

08. 08. 1879



1876

Werk Die theistische Weltansicht und ihre Berechtigung Anthropologie. Die Lehre von der menschlichen Seele (3. Aufl.)



Leben

1873

Zeitraum

Abbildung 1. Auszug aus den Tagebüchern von Immanuel Hermann Fichte

Aus dem Nachlass von Immanuel Hermann Fichte, Württembergische Landesbibliothek, Stuttgart, Deutschland (Cod. hist. qt. 593, VIII, a). Vgl. Fichte (o. J.-b, o. J.-c, o. J.-d).

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Substantialität, Individualität, Präexistenz und Fortdauer der Menschenseele

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Abbildung 2. Sekundärliteratur in chronologischer Reihenfolge

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