Grundzüge Philosophischer Anthropologie: Eine kritische Problemanalyse 9783495998892, 9783495998885


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Table of contents :
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Einleitung
Was uns der Blick ins Wörterbuch lehrt
Sokrates und die anthropologische Wende
Zwei Grundrichtungen menschlichen Erkenntnisstrebens
Ein weiterer Blick ins Wörterbuch
Bereichsanthropologien und Philosophische Anthropologie
Der Ausgang von der Praxis
Die Frage: »Was ist der Mensch?«
Skeptizismus und Dogmatismus – zwei Vorbehalte gegen die Suche nach einem allgemeinverbindlichen Menschenbild
Die philosophischen Voraussetzungen
Meinen, Glauben, Wissen
Kriterien der Wissenschaftlichkeit (Josef Derbolav)
Mythos und Menschenbild
Der Prometheusmythos und sein Bezug zur modernen Philosophischen Anthropologie
Philosophie
Schul- und Weltbegriff der Philosophie
Die Frage: »Was ist der Mensch?« als systematisches Zentrum philosophischen Fragens
Wissenschaft
Charakteristika der Realwissenschaften
Naturerkenntnis versus Naturbeherrschung
Das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft
Von der Wissenschaft zum Szientismus
Das Programm moderner nichtspekulativer Anthropologie in seinen Grundlagen und Widersprüchen
Moderne Anthropologie – eine aus der Mode gekommene Modeerscheinung
Moderne Anthropologie – allgemeine Charakteristik
Die Positionen von Max Scheler, Helmuth Plessner und Adolf Portmann
Max Scheler – Biographie und Bibliographie
Max Scheler – die Position
Helmuth Plessner – Biographie und Bibliographie
Helmuth Plessner – die Position
Adolf Portmann – Biographie und Bibliographie
Adolf Portmann – die Position
Das Scheitern Philosophischer Anthropologie und seine Folgen – von Arnold Gehlen zu Konrad Lorenz
Arnold Gehlen – Biographie und Bibliographie
Arnold Gehlen – die Position
Anthropologie – Anthropobiologie – Biologie
Die naturalistische Wende
Der Mensch-Tier-Vergleich als methodisches Instrument der Vergleichenden Verhaltensforschung
Sprachkritische Randnotiz
Biologie und Biologismus
Die biologische Wesensbestimmung des Menschen – Domestikation (Konrad Lorenz)
Biologismus und Gegenwart
Der Mensch-Tier-Vergleich zwischen Ideologie und Wissenschaft
Tierische Intelligenz
Der Mensch-Tier-Vergleich philosophisch: Tier und Nichttier
Fragmentarische Beiträge zu einem Begriff des Menschen
Humanität und Menschenwürde
Zum Begriff der Freiheit
Freiheit als Gegenstand der Realwissenschaften
Freiheit und ihre Verwirklichungsweisen
Das Verhältnis von Freiheit und Unfreiheit – Rousseau versus Schiller
Würde und Wert
Philosophische Anthropologie im Lichte der Kritik einer »Philosophie von der Sprache her« (Bruno Liebrucks)
Herder als Wegbahner und Kritiker der Modernen Anthropologie
Liebrucks’ Antwort auf Herder
Liebrucks’ Kritik an Gehlen
Zusammenfassung und Ausblick
Abschließende Fragen und Thesen zum Thema Anthropologie
Anhang
Ethik und Behinderung – Philosophische Fragen der Sonder- und Heilpädagogik. Ein forschungsprogrammatischer Entwurf
Rationalismus (Szientismus)
Empirismus (Positivismus)
Naturalismus (Biologismus)
Utilitarismus (Präferenzutilitarismus im Sinne Singers)
Literaturliste
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Grundzüge Philosophischer Anthropologie: Eine kritische Problemanalyse
 9783495998892, 9783495998885

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Werner Woschnak

Grundzüge Philosophischer Anthropologie Eine kritische Problemanalyse

https://doi.org/10.5771/9783495998892 .

https://doi.org/10.5771/9783495998892 .

https://doi.org/10.5771/9783495998892 .

Werner Woschnak

Grundzüge Philosophischer Anthropologie Eine kritische Problemanalyse

https://doi.org/10.5771/9783495998892 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99888-5 (Print) ISBN 978-3-495-99889-2 (ePDF)

1. Auflage 2022 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet https://doi.org/10.5771/9783495998892 verlag-alber.de .

Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Was uns der Blick ins Wörterbuch lehrt . . . . . . . . . . .

9

Sokrates und die anthropologische Wende . . . . . . . . . .

10

Zwei Grundrichtungen menschlichen Erkenntnisstrebens . .

12

Ein weiterer Blick ins Wörterbuch . . . . . . . . . . . . . .

13

Bereichsanthropologien und Philosophische Anthropologie

17

Der Ausgang von der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . .

20

Die Frage: »Was ist der Mensch?« . . . . . . . . . . . . . .

24

Skeptizismus und Dogmatismus – zwei Vorbehalte gegen die Suche nach einem allgemeinverbindlichen Menschenbild . .

30

Die philosophischen Voraussetzungen . . . . . . . . . .

35

Meinen, Glauben, Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Kriterien der Wissenschaftlichkeit (Josef Derbolav) . . . . .

40

Mythos und Menschenbild . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

Der Prometheusmythos und sein Bezug zur modernen Philosophischen Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . .

47

Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

Schul- und Weltbegriff der Philosophie . . . . . . . . . . .

60

Die Frage: »Was ist der Mensch?« als systematisches Zentrum philosophischen Fragens . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

Charakteristika der Realwissenschaften . . . . . . . . . . .

69

Naturerkenntnis versus Naturbeherrschung . . . . . . . . .

78

Das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft . . . . . .

89

5 https://doi.org/10.5771/9783495998892 .

Inhaltsverzeichnis

Von der Wissenschaft zum Szientismus . . . . . . . . . . .

93

Das Programm moderner nichtspekulativer Anthropologie in seinen Grundlagen und Widersprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

103

Moderne Anthropologie – eine aus der Mode gekommene Modeerscheinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

103

Moderne Anthropologie – allgemeine Charakteristik . . . .

106

Die Positionen von Max Scheler, Helmuth Plessner und Adolf Portmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

109

Max Scheler – Biographie und Bibliographie . . . . . . . . .

109

Max Scheler – die Position . . . . . . . . . . . . . . . . . .

110

Helmuth Plessner – Biographie und Bibliographie . . . . . .

117

Helmuth Plessner – die Position . . . . . . . . . . . . . . .

118

Adolf Portmann – Biographie und Bibliographie . . . . . . .

126

Adolf Portmann – die Position . . . . . . . . . . . . . . . .

127

Das Scheitern Philosophischer Anthropologie und seine Folgen – von Arnold Gehlen zu Konrad Lorenz . . . . . .

137

Arnold Gehlen – Biographie und Bibliographie . . . . . . .

137

Arnold Gehlen – die Position . . . . . . . . . . . . . . . .

138

Anthropologie – Anthropobiologie – Biologie . . . . . . . .

146

Die naturalistische Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . .

150

Der Mensch-Tier-Vergleich als methodisches Instrument der Vergleichenden Verhaltensforschung . . . . . . . . . . . . .

154

Sprachkritische Randnotiz . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161

Biologie und Biologismus . . . . . . . . . . . . . . . . . .

164

Die biologische Wesensbestimmung des Menschen – Domestikation (Konrad Lorenz) . . . . . . . . . . . . . . .

178

Biologismus und Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . .

193

Der Mensch-Tier-Vergleich zwischen Ideologie und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

197

6 https://doi.org/10.5771/9783495998892 .

Inhaltsverzeichnis

Tierische Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

204

Der Mensch-Tier-Vergleich philosophisch: Tier und Nichttier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

207

Fragmentarische Beiträge zu einem Begriff des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

219

Humanität und Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . .

219

Zum Begriff der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

222

Freiheit als Gegenstand der Realwissenschaften . . . . . . .

231

Freiheit und ihre Verwirklichungsweisen . . . . . . . . . . .

239

Das Verhältnis von Freiheit und Unfreiheit – Rousseau versus Schiller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

244

Würde und Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

247

Philosophische Anthropologie im Lichte der Kritik einer »Philosophie von der Sprache her« (Bruno Liebrucks) . .

253

Herder als Wegbahner und Kritiker der Modernen Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

253

Liebrucks’ Antwort auf Herder . . . . . . . . . . . . . . . .

257

Liebrucks’ Kritik an Gehlen . . . . . . . . . . . . . . . . .

265

Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . .

269

Abschließende Fragen und Thesen zum Thema Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

269

7 https://doi.org/10.5771/9783495998892 .

Inhaltsverzeichnis

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

273

Ethik und Behinderung – Philosophische Fragen der Sonderund Heilpädagogik. Ein forschungsprogrammatischer Entwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rationalismus (Szientismus) . . . . . . . . . . . . . . . Empirismus (Positivismus) . . . . . . . . . . . . . . . . Naturalismus (Biologismus) . . . . . . . . . . . . . . . Utilitarismus (Präferenzutilitarismus im Sinne Singers) .

273 276 278 279 283

Literaturliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

287

8 https://doi.org/10.5771/9783495998892 .

Einleitung

Was uns der Blick ins Wörterbuch lehrt Auch wenn dies für die Erfassung eines Begriffs angesichts der dort gegebenen Nominaldefinitionen in keiner Weise ausreichend ist, werfen wir, wenn wir ein Fremdwort vor uns haben, zunächst einen Blick ins Wörterbuch:1 Der Begriff Anthropologie ist aus zwei griechi­ schen Wörtern zusammengesetzt: ὁ ἄνθρωπος (Mensch) und ὁ λόγος (Lehre). Der Begriff Logos umfaßt, je nach Verwendungszusammen­ hang, eine Fülle von Bedeutungen, wird einerseits übersetzt mit Wort, Rede, Erzählung, Sprache, aber auch mit Geist, Vernunft, Lehre, Wis­ senschaft. Das läßt es, angesichts der Problematik des Übersetzens, das ja immer auch ein Interpretieren ist, sinnvoll erscheinen, das grie­ chische Wort der Übersetzung hinzuzufügen, um die Bedeutungsfülle des Begriffs nicht zu verlieren. Wir können fürs erste übersetzen: Anthropologie ist eine Lehre bzw. Wissenschaft vom Menschen, weder Gott, ὁ θεός (Theologie), noch das Tier, τό ζῶον (Zoologie), sondern der Mensch, ὁ ἄνθρωπος (Anthropologie) ist Gegenstand dieser Lehre. Obgleich aus zwei griechischen Wörtern zusammengesetzt, ist das Wort Anthropologie eine Neubildung und stammt nicht aus dem klassischen Griechisch, es kann, worauf Odo Marquard hingewiesen hat,2 nicht auf Aristo­ teles zurückgeführt werden. In seiner Nikomachischen Ethik findet sich zwar das Wort ἀνθρωπολόγος,3 es verweist in dem dortigen Zusammenhang aber auf jemanden, der zwar im Sinne von Tratsch und Klatsch viel über seine Nachbarn, eben deshalb aber nicht auch unbedingt viel über den Menschen im Allgemeinen weiß. In diesem Hoffmeister, Johannes (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 1955, Artikel »Anthropologie«, S. 54. 2 Marquard, Odo: Artikel »Philosophische Anthropologie«, in: Ritter, Joachim / Gründer, Karlfried / Gabriel, Gottfried (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philoso­ phie, Basel 1971 – 2007, Bd. 1, S. 362 ff. 3 Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, übers. u. hrsg. von Olof Gigon, München 1972, IV 8, 1125 a 5. 1

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9 https://doi.org/10.5771/9783495998892 .

Einleitung

eingeschränkten Sinn mögen viele Menschen gute Anthropologen sein, Anthropologie als eine Lehre vom Menschen aber zielt aufs All­ gemeine.

Sokrates und die anthropologische Wende Während es Theologie und Zoologie schon gibt, gibt es in der Antike noch keine Anthropologie in dem Sinn, in dem wir das Wort heute verstehen, keine »Lehre vom Menschen«, die sich auch so nennen würde. Es ist ein »Irrtum, daß die philosophische Anthropologie so alt sei wie die Philosophie selber«,4 und selbst in der Philosophie ist man keineswegs von Anfang an mit dem Menschen beschäftigt, über gelegentliche Bemerkungen hinaus wird der ἄνθρωπος und was ihn betrifft, erst mit Sokrates explizit zum Thema des philosophi­ schen Denkens. Die Bedeutung, die Sokrates damit im Rahmen der Philosophie­ geschichte zukommt, ist nicht zuletzt daran zu erkennen, daß sich, zur Bezeichnung der ihm vorhergehenden Denker, der von Hermann Diels eingeführte Sammelbegriff »Vorsokratiker« durchgesetzt hat. Dieser impliziert über den offensichtlich zeitlichen Aspekt hinaus immer auch eine Distanzierung, eine Abwertung der so bezeichne­ ten Philosophen, was in diesem Fall nicht bloß einzelne Denker betrifft, sondern die verschiedensten vor Sokrates bestimmenden philosophischen Gruppierungen und Schulen – die milesische, die pythagoreische, die eleatische, sowie die jüngere naturphilosophische Schule, also die gesamte erste Periode der griechischen Philosophie. Die Bezeichnung Vorsokratiker will uns sagen, daß sich mit Sokrates ein Wendepunkt in der Geschichte der Philosophie verbin­ det, der nicht einfach schon mit dem Auftreten eines neuen Philo­ sophen gegeben ist. Die Qualität eines Wendepunktes im Philoso­ phieren setzt voraus, daß etwas Neues, Neuartiges, bisher so nicht Dagewesenes in die Geschichte tritt, nur wenn sich damit eine Ver­ änderung der philosophischen Fragestellung oder ein methodischer Neuansatz im Denken verbindet, der die weitere philosophische Ent­ wicklung dauerhaft bestimmt, kann von einer Wende die Rede sein. 4 Marquard, Odo: Philosophische Anthropologie, in: Koslowski, Peter (Hg.): Orien­ tierung durch Philosophie. Ein Lehrbuch nach Teilgebieten, Tübingen 1991, S. 22.

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Sokrates und die anthropologische Wende

Im Gegensatz zur naturphilosophisch-ontologischen Orientierung seiner Vorgänger steht Sokrates für eine anthropologische Wende. Im Rahmen dieses Prozesses, der ein weiterer Schritt auf dem Weg vom Mythos zum Logos ist, erst das Heraustreten aus dem Mythos bringt den Menschen vor sich selbst und läßt ihn zum Problem werden, gewinnt Sokrates, wie es Hegel gesehen hat, welt­ geschichtliche Bedeutung.5 Die Philosophie vor Sokrates hat primär die den Menschen umgebende Natur, die Physis und das Ganze des Kosmos interessiert, nicht so sehr das, was für den Menschen spezifisch ist. Die Themen der vorsokratischen Philosophie waren dementsprechend Kosmologie, Naturphilosophie, Ontologie. Sokra­ tes dagegen fragt nach den menschlichen Dingen, ihn interessiert nicht die Natur, sondern das Ethische, das Pädagogische, der Bereich der Polis und des Zusammenlebens der Menschen. Im Dialog Phai­ dros, ein Dialog Platons, in dem es um das Wesen der Liebe geht, sagt er von sich in diesem Sinne: »Ich bin eben lernbegierig, und Felder und Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt.«6 Schon in der Antike hat man die damit vollzogene Wende gesehen und gewürdigt, so lesen wir z.B. bei Cicero: »Sokrates hat als erster die Philosophie vom Himmel herunter gerufen, sie in den Städten angesiedelt, sie sogar in die Häuser hineingeführt und sie gezwungen, nach dem Leben, den Sitten und dem Guten und Schlechten zu forschen.«7 Auch dieses Bild will uns sagen, daß die Philosophie zunächst ihren Blick auf die Sterne, auf die seienden Dinge nichtmenschli­ cher Art gerichtet hat, und daß erst Sokrates nach den spezifischen Bedingungen des Menschseins fragt, sein Thema ist nicht mehr das Sein und dessen Urgrund, sondern die menschliche Tüchtigkeit und Tugend, ihm geht es um das gute Leben (εὖ ζῆν) und die Glückselig­ keit (εὐδαιμονία).

Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philoso­ phie, in: Glockner, Hermann (Hg.): Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, Stuttgart – Bad Cannstatt 1964 ff., Bd. 18, S. 42 ff. 6 Platon: Phaidros oder: Über das Schöne; zur Ethik, in: Eigler, Gunther (Hg.): Werke in acht Bänden, gr.-dt., Darmstadt 1983, Bd. 5, 230 d. 7 Cicero, Marcus Tullius: Gespräche in Tusculum, übers. u. hrsg. von Olof Gigon, Düsseldorf – Zürich 2003, S. 166. 5

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Einleitung

Zwei Grundrichtungen menschlichen Erkenntnisstrebens Wir haben hier zwei Grundrichtungen des menschlichen Erkenntnis­ strebens vor uns,8 die eine nach außen gewandte, die die Natur, die Welt, den Kosmos zum Thema hat, und die andere, die Rückwendung auf das Menschliche, eine nach »innen« gewandte Richtung des Erkennens. Die geschichtliche, aber auch die persönliche Erfahrung zeigt, daß die Blickrichtung auf die Welt, in der sich der Mensch vor­ findet, die frühere ist, weil er nur auf der Grundlage von Wissen und Erkenntnis sich in der Welt zurechtfindet. Als »erster Freigelassener der Schöpfung«,9 wie Herder das ausgedrückt hat, ist der Mensch nicht im Sinne einer bestimmten Artgesetzlichkeit in das Naturganze eingeordnet und deshalb in der Gestaltung seines Weltumganges und seiner selbst immer schon auf Wissen angewiesen, er hat ein theoretisches Weltverhältnis. Die Blickrichtung auf den Menschen selbst ist die spätere. Die Wendung des Blicks nach innen hat auch die ganz unmetaphorische Bedeutung eines Interesses an dem, was im Menschen vorgeht. In diesem Sinn verfügte der Mensch längst über astronomische Erkenntnisse – z.B. ein Wissen über den Kreislauf der Gestirne, das die Berechnung einer Sonnenfinsternis zuläßt – bevor er im 17. Jahrhundert durch den englischen Anatomen William Harvey10 ein einigermaßen zutreffendes Wissen um seinen Blutkreislauf erlangt. Die Wendung der Blickrichtung nach innen hat darüber hinaus eine metaphorische Seite, im Sinne der Entdeckung einer Innerlichkeit, die nicht vom räumlichen Verständnis von innen und außen her begreifbar ist. Sie läßt sich ansprechen als die Entdeckung des Subjekts oder des Ich. Der Mensch wendet sich denkend und erkennend auf sich selbst zurück und erkennt im »Ich denke« die Form alles Wissens und transzendentale Voraussetzung alles bewußten Welthabens. Die methodische Fundierung dieses von Descartes (sum cogi­ tans) zum Ausgangspunkt des Philosophierens gemachten und von den Denkern des Deutschen Idealismus (Fichte, Hegel, Schelling) systematisch durchgeführten Ansatzes verdanken wir Kants kritischer Philosophie (Transzendentalphilosophie). Auch diese im spezifischen Vgl. Litt, Theodor: Die Selbsterkenntnis des Menschen, Hamburg 21948, S. 5. Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Wiesbaden 1985, S. 119. 10 William Harvey (1578–1657).

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Ein weiterer Blick ins Wörterbuch

Sinn transzendentale Wende markiert einen epochalen Abschnitt in der Entwicklung des Denkens, vergleichbar der im allgemeineren Sinn anthropologischen bei Sokrates. Neben Sokrates ist daher Kant der einzige Philosoph, dessen besondere Stellung im Rahmen der Philo­ sophiegeschichte darin zum Ausdruck kommt, daß die Philosophie vor ihm, summarisch, nun zwar nicht als vorkantische, wohl aber als vorkritische bezeichnet wird. Die Neuerung wird hier nicht an den Namen, sondern an die Methode geknüpft und auch hier ist der zeitliche Aspekt Nebensache, weshalb auch all jene Philosophien nach Kant, denen die mit Kant ans Licht getretene »Revolution der Denkungsart«11 unbekannt geblieben ist, vorkritisch zu nennen sind.

Ein weiterer Blick ins Wörterbuch Im Wörterbuch ist zum Thema Anthropologie eine weitere erstaun­ liche Entdeckung zu machen: Wir finden dort nämlich nicht nur eine Anthropologie, sondern gleich eine ganze Fülle von Anthropologien12: geisteswissenschaftliche und naturwissenschaftli­ che Anthropologie, medizinische und biologische Anthropologie, Kultur-, Geschichts- und Sozialanthropologie, religiöse, theologische und christliche Anthropologie, philosophische und metaphysische Anthropologie, phänomenologische und dialektische Anthropologie, ethische und existentielle Anthropologie, psychologische und päd­ agogische Anthropologie, allgemeine und spezielle Anthropologie, basale, synthetische und angewandte Anthropologie usw. Die Auf­ zählung ist keineswegs vollständig und die unerwartete Vervielfälti­ gung nicht klärend, sondern ihrerseits klärungsbedürftig. Es scheint so, als stünde jede wissenschaftliche Disziplin in irgend einem Zusammenhang mit der Lehre vom Menschen: Es gibt die Medizin und die medizinische Anthropologie, es gibt die Psycho­ logie und die psychologische Anthropologie, es gibt die Biologie und die biologische Anthropologie. Wenn die Anthropologie ihrer Bestimmung nach eine Lehre oder Wissenschaft des Menschen oder Vgl. Liebrucks, Bruno: Drei Revolutionen der Denkungsart, in: Irrationaler Logos und rationaler Mythos, Würzburg 1982, S. 77–97. 12 Vgl. Hoffmeister, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Artikel »Anthropolo­ gie«, S. 54 ff. und Marquard, Odo: Zur Geschichte des philosophischen Begriffs ›Anthropologie‹ seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts, in: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt am Main 1982, S. 122. 11

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Einleitung

vom Menschen ist, dann stellt sich angesichts dieses Bezuges zu den unterschiedlichen Wissensgebieten die Frage, was die speziellen Inhalte der jeweiligen Lehren vom Menschen sind? Auch die Medi­ zin hat es, anders als die Veterinärmedizin, mit dem Menschen zu tun, sie ist nicht Tiermedizin, sondern eine Wissenschaft von der Anatomie, der Pathologie etc. des Menschen, kurz eine Lehre von den menschlichen Krankheiten und deren Therapien. Und doch: die Medizin ist nicht Anthropologie, und so geht es reihum im weiten Feld der Wissenschaften, deren viele sich mit dem Menschen beschäftigen, mit seinem Verhalten, wie die Psychologie, oder wie die Biologie mit seinem Organismus, Wissenschaften, die den Menschen auf die eine oder andere Art zum Thema haben und doch ihrem Selbstverständnis nach keine Anthropologien sind. Was ist der Gegenstand der Anthropologie, wenn sie sich als Wissenschaft vom Menschen von den anderen Wissenschaften, die sich ebenso mit dem Menschen beschäftigen ohne sich Anthropo­ logien zu nennen, unterscheiden soll? Wenn Medizin nicht gleich Anthropologie ist, welcher Unterschied besteht zwischen Medizin und medizinischer Anthropologie? Wie unterscheiden sich Biolo­ gie und biologische Anthropologie, Psychologie und psychologische Anthropologie usw.? Was ist andererseits die Differenz zwischen Anthropologie und medizinischer Anthropologie? Ist die medizini­ sche Anthropologie ein Teilgebiet der Medizin oder der Anthropo­ logie und was heißt es dann, wenn wir im Sinne unserer, dem Wörterbuch entnommenen Aufzählung, von einer psychologischen Anthropologie, einer medizinischen Anthropologie oder einer biolo­ gischen Anthropologie sprechen? Ist die Anthropologie die Summe aus medizinischer, biologischer, psychologischer etc. Anthropologie oder etwas darüber hinaus? Die erwähnte Fülle von Anthropologien wirft nicht nur eine Reihe zunächst unbeantwortbarer Fragen auf, sondern zeigt eines ganz deutlich, nämlich die besondere Stellung des Menschen in der Welt, auch und gerade, was das wissenschaftliche Vorgehen betrifft. Der Mensch ist nicht nur insofern Voraussetzung von Wissenschaft, als nur er eine solche betreibt und nicht etwa auch das Tier, der Mensch ist darüber hinaus auch geradezu der Schnitt- und Angelpunkt der verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen, ja der »Kreuzungs­ punkt der gesamten wissenschaftlichen Arbeit.«13 Es scheint eine Trivialität zu sein, daß das Tier im Sinne seines Umweltbezugs keine theoretische Distanz zu den Dingen kennt

14 https://doi.org/10.5771/9783495998892 .

Ein weiterer Blick ins Wörterbuch

und daher auch keine Wissenschaft ausbildet. Selbst die Biologie, stets bemüht zu zeigen, wieviel Tierisches noch im Menschen und wieviel Menschliches schon im Tiere steckt, kommt nicht umhin zuzugestehen, daß es jedenfalls eines im Tierreich nicht gibt, nämlich die Wissenschaft. Wo diese vermeintliche Trivialität unbedacht zuge­ geben wird, ohne daß aus ihr die nötigen Konsequenzen gezogen werden, ergibt sich mitunter die etwas eigenartige Situation, daß wissenschaftliches Tun in Widerspruch zu seinen Ergebnissen gerät. Durch die Wissenschaft wird zu zeigen versucht, daß kein prinzipiel­ ler Unterschied zwischen Mensch und Tier besteht, also just unter Anwendung jener Methoden und Verfahren, von denen beim Tier auch nicht im Sinne von Vorformen und Vorstufen die Rede sein kann. Das Ergebnis, die These, daß es zwischen Mensch und Tier einen qualitativen Unterschied nicht gibt, ist durch das Tun, das zu diesem Ergebnis führt, immer schon widerlegt. Der Mensch ist unbestritten das einzige Wesen, das Wissen­ schaft betreibt, er ist aber gleichzeitig auch ihr umfassendes Thema, insoferne es buchstäblich keine wissenschaftliche Methode gibt, die nicht in irgendeiner Weise an der Erforschung des Gegenstandes Mensch beteiligt wäre. Selbst Wissenschaften, nehmen wir als ein Beispiel die Mechanik, »deren Gegenstände scheinbar von dem Zen­ trum des menschlichen Seins am weitesten abliegen, sind gleichwohl von seiner Bearbeitung nicht ausgeschlossen, da der Mensch als raumerfüllender und räumliche Bewegungen ausführender Körper auch zu solchen Untersuchungen herausfordert, die nur mit den Methoden der genannten Disziplin[..] durchgeführt werden kön­ nen.«14 Selbst dort, wo wir zunächst keinen Bezug zum Menschen fest­ stellen können, zum Beispiel in der Mineralogie oder der Geologie, muß im Auge behalten werden, daß Wissenschaften und wissen­ schaftliche Forschung dem menschlichen Weltverständnis und darin nicht nur der Orientierung des Menschen in der Welt, sondern im Sinne der Aufeinanderbezogenheit von Welt- und Selbstverständnis, stets auch dem letzteren dienen. Besonders deutlich wird diese Auf­ einanderbezogenheit an der Biologie, die etwa als Vergleichende Verhaltensforschung tierisches Verhalten untersucht, dann aber doch 13 Vgl. Litt, Theodor: Die Sonderstellung des Menschen im Reich des Lebendigen, in: Wenke, Hans (Hg.): Geistige Gestalten und Probleme. Eduard Spranger zum 60. Geburtstag, Leipzig 1942, S. 217. 14 Ebd.

15 https://doi.org/10.5771/9783495998892 .

Einleitung

erkennen läßt, daß die Schlußfolgerungen, die sich aus dem Studium tierischen Verhaltens für das Verständnis des menschlichen Verhal­ tens ergeben, das zuletzt bestimmende Motiv dieser Forschungen sind. So ist für Konrad Lorenz und seine Schule der Blick auf die Natur, insbesondere auf das Tier, kein Selbstzweck, sondern Mittel zum Zwecke eines besseren Verständnisses des Menschen. Wenn wir daher die Anthropologie eine Wissenschaft des Men­ schen nennen, so müssen wir uns bewußt machen, daß der Mensch hier immer als Subjekt und Objekt von Wissenschaft verstanden werden muß, daß die Wissenschaft des Menschen einerseits die Wissenschaft ist, die der Mensch und nur er betreibt (genetivus subjectivus), daß die Wissenschaft des Menschen aber auch die Wis­ senschaft vom Menschen ist, jene Wissenschaft, die den Menschen zum Gegenstand macht (genetivus objectivus). Alle diese Wissen­ schaften geben über den Menschen Auskunft, sie stellen auf ihre Weise die Frage: »Was ist der Mensch?«, und die Antworten sind so reichhaltig wie die Disziplinen selbst. Das Problem dabei ist, daß sie sich keineswegs ohne Widerspruch zu einem einheitlichen Ganzen zusammenfügen lassen, die jeweiligen Antworten fallen nicht nur sehr verschieden aus, sondern sie widersprechen einander auch. Wenn wir an so gegensätzliche Auskünfte denken, wie sie uns etwa Biologie und Theologie geben: Der Mensch ist das Ebenbild Gottes – der Mensch ist ein Lebewesen der zoologischen Gattung homo sapiens, so sehen wir sehr deutlich, daß die Aspekte, in denen der Mensch als Objekt verschiedener Wissenschaften erscheint, sich alles andere als zu einem wohlgefügten Ganzen zusammenschließen. Vielmehr tritt eine Zersplitterung und damit die Situation ein, daß der Mensch durch das Wissen um den Menschen, das die einzel­ nen Wissenschaften in zunehmend rasanter Weise zur Verfügung stellen, hinsichtlich seines Selbstverständnisses orientierungsloser denn je wird. Wir haben hier eine Facette jener Dialektik des Fort­ schritts der Wissenschaften vor uns, von der wir zunächst und zumeist nur die positiven Seiten vor Augen haben, eine eigentümliche Situa­ tion: je mehr der Mensch über sich weiß, desto weniger weiß er, wer er ist. Was aber ist ein Wissen vom Menschen im Unterschied zu einem Wissen über den Menschen und wie ist ein Wissen möglich und zu beurteilen, das der Mensch über oder von sich hat und das ihn verwirrt und desorientiert, anstatt ihn aufzuklären? Können unter diesen Voraussetzungen die Wissenschaften überhaupt zur Erkenntnis des

16 https://doi.org/10.5771/9783495998892 .

Bereichsanthropologien und Philosophische Anthropologie

Menschen beitragen, wenn er ein Ganzes ist, ein einziges Wesen, das weder in eine Vielzahl von Aspekten zerfällt, noch sich in eine solche aufteilen läßt? Die moderne Philosophische Anthropologie des vorigen Jahr­ hunderts hat in dem damit angesprochenen Problem einen ihrer Entstehungsgründe. Gerade die Wissensakkumulation und die gleichzeitige Zersplitterung des Wissens wird der Philosophischen Anthropologie zum Motiv, die unübersehbar werdende Fülle der ein­ zelwissenschaftlichen Daten wieder in ein Gesamtbild des Menschen zu integrieren bzw. ein solches unter Einbeziehung der Ergebnisse zu entwerfen, welche die Wissenschaften in immer rascherer Weise vom Menschen zur Verfügung stellen.

Bereichsanthropologien und Philosophische Anthropologie Wir müssen, das zeigen schon unsere bisherigen Überlegungen, im Rahmen dessen, was sich Anthropologie nennt, zwei differie­ rende Ansätze unterscheiden: Die Anthropologie von der Wissen­ schaft aus, die sogenannte fachwissenschaftliche Anthropologie, auch Bereichsanthropologie genannt, z.B. biologische, psychologische, soziologische, medizinische Anthropologie etc., und die ihnen in ihrer methodischen Orientierung gegenüberstehende Philosophische Anthropologie. Im Versuch der anthropologischen Problemexplika­ tion wird es uns daher an zentraler Stelle darum zu tun sein müssen, den Unterschied von Philosophie und Wissenschaft herauszuarbei­ ten. Voraussetzungen und Konsequenzen des wissenschaftlichen und philosophischen Vorgehens werden in ihrem Unterschied mit einiger Ausführlichkeit zur Sprache zu bringen und zum Begriff Anthropolo­ gie in Beziehung zu setzen sein. Erst dann wird es möglich sein, auch den Unterschied von Bereichsanthropologien und Philosophischer Anthropologie sichtbar zu machen und zu zeigen, daß die Frage nach dem Menschen von Philosophie und Wissenschaft nicht in ein und demselben Sinn gestellt werden kann. War noch für Hegel ausschließlich die Philosophie eine Wissen­ schaft, eine Verwendung des Begriffs, die heute unfehlbar auf großes Unverständnis stoßen und in der Folge davon schwere Mißverständ­ nisse hervorrufen würde, so sprechen wir, wenn wir gegenwärtig von Wissenschaft sprechen, wiederum ausschließlich und selbstver­

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Einleitung

ständlich von einer Wissenschaft, deren Ideal die mathematische Naturwissenschaft ist, wir identifizieren Wissenschaft mit neuzeitli­ cher Wissenschaft. So verbindet sich mit der Unterscheidung von Philosophie und Wissenschaft die Frage nach der »Wissenschaftlich­ keit« der Philosophie. Gegenüber magischen Praktiken, Okkultismen, Esoterik etc. erhebt die Philosophie den Anspruch, Wissenschaft zu sein. Bei Magie, Esoterik und ähnlichem Spuk handelt es sich um ein »Gehei­ mes Wissen«, ein Wissen, das weder allgemein zugänglich noch allgemein nachvollziehbar ist. Esoterisches Wissen entzieht sich der Überprüfung, soferne es um Offenbarungen, Visionen, Eingebungen etc. geht, die nicht jeder hat, hier gibt es Jünger, Adepten, Eingeweihte usw. Philosophisches Wissen hat einen gänzlich anderen Charakter: es ist ein allgemeingültiges Wissen, das allen zugänglich ist, soferne sie sich damit beschäftigen, ein Wissen, das auf argumentative Weise zustande gekommen ist und daher von jedermann, zumindest prinzi­ piell gesehen, nachvollziehbar sein muß. Mit dem Begriff Esoterik verbindet man im Sinne des oben Erwähnten heute eher den Begriff Geister als den Begriff Geist, das begriffliche Gegensatzpaar esoterisch – exoterisch ist aber auch innerphilosophisch von Bedeutung. Wenn man das Selbstverständ­ liche und das Allgemeinverständliche als exoterisch in dem Sinn bezeichnet, daß es von jedermann ohne weiteres verstanden wird, dann ist die Philosophie im Gegensatz dazu esoterisch, weil es einiger Bemühung bedarf, um sie sich anzueignen. Hegel hat diesbezüglich von der »Anstrengung des Begriffs«15 gesprochen. Esoterisch in der Bedeutung, daß es unter Umständen ein langer und steiniger Weg der Auseinandersetzung ist, auf dem wir uns das Werk eines Philosophen erschließen, ist Philosophie immer schon gewesen und wird es wohl auf die eine oder andere Art auch immer bleiben, esoterisch in dem Sinn, daß es ihr um eine geheime Lehre geht, ist die Philosophie niemals gewesen. Der Weg zur Philosophie, die »Landstraße« der Vernünftigkeit16 steht allen offen, die ihn zu gehen gewillt sind. 15 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, in: Glockner, Her­ mann (Hg.): Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, Stuttgart – Bad Cannstatt 1964 ff., Bd. 2, S. 54. 16 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, in: Glockner, Hermann (Hg.): Sämt­ liche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, Stuttgart – Bad Cannstatt 1964 ff., Bd. 7, § 15 Zusatz, S. 68.

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Bereichsanthropologien und Philosophische Anthropologie

Philosophie ist eine Wissenschaft, die nicht dem Exaktheitsideal der neuzeitlichen Naturwissenschaft entspricht, sondern sich von dem, was wir heute Wissenschaft nennen, grundsätzlich unterschei­ det. Es ist einerseits richtig und notwendig, die Philosophie eine Wissenschaft zu nennen, um sie abzuheben von den Anmaßungen eines unverbindlichen, beliebigen und nicht nachvollziehbaren Wis­ sens. Es ist andererseits problematisch, die Philosophie Wissenschaft zu nennen, weil der Begriff Wissenschaft heute von einer Form des Wissens okkupiert wird, das in der »nuova scienza«, wie sie Galilei, einer ihrer Begründer, genannt hat, ihr Modell und Vorbild hat. Was die Wissenschaft in Abhebung von den oben erwähnten Scharlatanerien konstituiert, ist die Methode. Ergebnisse der Wissen­ schaft sind nur im Blick auf die Methoden, mit denen man zu ihnen gelangt, angemessen zu würdigen. Dieser methodisch abstraktive Charakter der Wissenschaft ist auch dort, wo es um Aussagen über den Menschen geht, in Rechnung zu stellen. Die zuvor erwähnte Mechanik zeigt, daß der Mensch zwar auch als bewegter Körper betrachtet werden kann, durch mechanische Untersuchungen ist frei­ lich nicht allzuviel über ihn in Erfahrung zu bringen. Der Mensch, der in mechanischer Perspektive zum Gegenstand gemacht wird, wird nicht in dem getroffen, was für ihn wesentlich ist. Das Gesagte gibt einen ersten Hinweis auf die Begrenztheit wissenschaftlich methodischer Einstellungen, wenn es darum geht, den Menschen zu erfassen. Werden wissenschaftliche Aussagen über den Menschen ohne Einsicht in ihren abstraktiven Charakter auf den Menschen als Ganzen bezogen, liegt eine Grenzüberschreitung vor. Ein Beispiel hierfür ist die Definition des Menschen, die der Genetiker und Nobelpreisträger Joshua Lederberg gegeben hat, wenn er sagt, der Mensch ist: »Sechs Fuß einer bestimmten Aminosäurensequenz«.17 Das ist nicht prinzipiell falsch, aber richtig auch nur dann, wenn gesehen wird, daß man hier von der Abstraktionsebene der Genetik aus spricht und sich mit dieser Aussage nicht der Anspruch verbinden darf, zu erfassen, was der Mensch als Mensch, d.h. seinem Wesen nach ist. Wir werden die Frage stellen müssen, ob der Mensch als Mensch nicht durch etwas zu charakterisieren ist, das nicht nur noch nicht, sondern grundsätzlich nicht Thema von Wissenschaft sein kann und daher auch nicht durch die Summierung der Ergebnisse, welche die 17 Vgl. Löw, Reinhard: Naturphilosophie, in: Koslowski, Peter (Hg.): Orientierung durch Philosophie. Ein Lehrbuch nach Teilgebieten, Tübingen 1991, S. 365.

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Einleitung

Bereichsanthropologien über den Menschen zur Verfügung stellen, in Sicht zu bringen ist.

Der Ausgang von der Praxis Aristoteles hat drei Weisen des menschlichen Tätigseins unterschie­ den: praxis (πρᾶξις), poiesis (ποίεσις) und theoria (θεορία).18 Zum theoretischen Tätigsein des Menschen, in den Raum der theoria, gehört nach dieser Unterscheidung das Erkennen, Beispiele dafür sind bei Aristoteles Philosophie und Wissenschaft, die bereits als verschiedene Weisen des Wissens gesehen, aber nicht in der heutigen Weise einander gegenübergestellt wurden. Die poiesis umfaßt das handwerkliche Tätigsein des Menschen. Es geht hier um sein werkschaffendes Tun, also ein Machen, sofern es ein Material voraussetzt, das bearbeitet wird. Beispiele dafür sind das Handwerk, z.B. das Herstellen eines Schuhs, ebenso wie die Kunst, etwa das Gestalten einer Statue, auch der Begriff Poetik ist von dem Begriff der poiesis hergeleitet. Kunst und Handwerk waren im antiken Griechenland nicht in der für uns üblichen Weise getrennt, Phidias, der Schöpfer der berühmten Zeus-Statue, die als eines der Sieben Weltwunder gilt, aus heutiger Sicht ein Künstler, hat sich selbst als Handwerker verstanden. Im Unterschied zum theoretischen und poietischen Tätigsein versteht Aristoteles unter praxis ein Tätigsein des Menschen, welches den ethischen, pädagogischen und politischen Bereich betrifft. Hier geht es nicht um Machen oder Erkennen, sondern um das, was wir im eigentlichen Sinn Handeln nennen. Während es der Mensch im Rahmen der poiesis mit einem Material zu tun hat, das er bearbeitet, formt, gestaltet etc., hat er es im Rahmen der praxis, also handelnd, mit dem anderen Menschen zu tun. Hier trifft der Wille nicht auf ein Material, dem er seine Form (nach seinem Wollen resp. Können) gibt, sondern der Wille hat es mit seinesgleichen zu tun, einem Willen, der sich selbst Zwecke setzt und dabei unter Umständen etwas anderes will, als ich will. Der Wille trifft handelnd auf einen anderen Willen und, um das hier kurz vorwegzunehmen, Sittlichkeit, Recht und Moralität werden durch das Maß bestimmt, in dem der andere Wille und damit der andere Mensch in meinem Handeln Berücksichtigung 18

Vgl. Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, I 1, 1094 a 6.

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Der Ausgang von der Praxis

findet, ob er als Selbstzweck gesehen und geachtet wird oder ob er nur Mittel zur Erreichung jener Zwecke ist, die ich mir handelnd gesetzt habe. Mit Blick auf die aristotelischen Differenzierungen kann gesagt werden, daß gerade darin der Unterschied zu theoria und poiesis besteht, daß praxis unter Voraussetzung eines bestimmten Verständ­ nisses des Menschen stattfindet. Im Umgang mit dem anderen Men­ schen, d.h. in der Art und Weise, wie ich ihn »behandle«, wird eine bestimmte Auffassung des Menschen mitverwirklicht. Handeln steht immer schon im Zeichen eines Menschenbildes, auch wenn dieses nur implizit zur Geltung kommt und im Normalfall unausgesprochen bleibt. Im Rahmen unseres alltäglichen Handlungsvollzugs macht erst der Konfliktfall die explizite Reflexion auf die menschenbildli­ chen Voraussetzungen zwischenmenschlicher Begegnung nötig. Die angesprochene Aufeinanderbezogenheit von Theorie und Praxis gilt für den gesamten zwischenmenschlichen Bereich, d.h. überall dort, wo es der Mensch mit dem Menschen zu tun hat. Hier handeln wir immer schon auf der Grundlage eines Vorverständnisses dessen, was Menschsein heißt. Es ist geradezu als Eigentümlichkeit mensch­ lichen Handelns anzusprechen, daß es immer auch so etwas wie ein Menschenbild impliziert, wobei wir unter Menschenbild hier eine Deutung dessen, was Menschsein heißen kann und heißen soll, verstehen wollen. Was Explikation und Implikation betrifft, liegen die Dinge anders dort, wo wir im Rahmen von Institutionen handeln. In diesen Berei­ chen wird man explizit darauf reflektieren müssen, was sonst implizit und unbedacht im Hintergrund bleibt. Die kritische Rechenschafts­ gabe, die in solchen Fällen Teil des Berufes, Teil des berufsständischen Selbstverständnisses ist, macht es erforderlich, sich die Frage nach dem Menschenbild zu stellen. In solchen Berufen wird daher nie nur eine fachliche, sondern stets auch eine sittliche Qualifikation zu fordern sein. Es muß hier, über Wissen und Können hinaus immer auch von einem bestimmten Ethos die Rede sein, d.h. von einer für den Beruf charakteristischen sittlichen Qualifikation. Zwei zentrale Beispiele eines solchen dem Begriff des Menschen in besonderer Weise verpflichteten institutionellen Handelns sind die Medizin und die Pädagogik. In der Medizin wird, im Hinblick auf den zwischenmenschlichen Umgang von Arzt und Patient, die Art und Weise, wie ich den Menschen sehe, mitbestimmend dafür sein, wie ich ihn »behandle«. Ich kann ihn als Patienten in seiner

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Einleitung

Selbstbestimmung respektieren, dann werde ich ihm gegenüber die Pflicht der angemessenen Aufklärung haben und ihm das Recht einer Entscheidung für oder gegen bestimmte Behandlungsmetho­ den zugestehen, ich kann den Kranken aber auch als durch die ärztliche Autorität entmündigt betrachten, als jemanden, der das, was für ihn das beste ist, nicht kennt und eben deshalb das, was dem Mediziner als das für ihn beste erscheint, passiv und möglichst kommentarlos über sich ergehen zu lassen hat. Gerade hier hat sich im Verlauf der Medizingeschichte sehr vieles geändert, wenn wir die heutigen Verhältnisse mit denen früherer Zeiten vergleichen. In der Medizin erfordern insbesondere Fragen, die sich im Zusammenhang mit Anfang und Ende des Lebens ergeben (Reproduktionsmedizin, Sterbehilfe), den expliziten Rückgriff auf ein Menschenbild, welches einen menschenwürdigen Umgang mit dem Menschen in diesen Extremsituationen, also dort, wo es in der Tat um Leben und Tod geht, alleine dann sicherstellen kann, wenn es philosophisch begründet ist. Ebensolches gilt im Hinblick auf den zwischenmenschlichen Umgang von Erzieher und Zögling. Der Pädagogik kommt dabei insoferne eine Sonderstellung zu, als erzieherisches Handeln ins Zen­ trum der Menschwerdung selbst gestellt ist: »Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht.«19 Wenn die Erziehung – nach einem Ausdruck von Pestalozzi – die Verwirklichung des Menschentums im Menschen – zu leisten hat, so ist klar, daß die Ziele, in weiterer Folge aber auch die Mittel der Erziehung davon abhängen, wie dieses Menschentum kon­ kret bestimmt, welches Menschenbild hier jeweils zugrunde gelegt wird. Unterricht und Erziehung werden anders verstanden werden müssen, wo sie den Menschen zu Selbständigkeit im Denken und Handeln führen wollen, als dort, wo man diesen Anspruch auf Auto­ nomie nicht sieht bzw. nicht anerkennt. Pädagogisches Handeln weiß sich in einem Fall dem Dialog als durchgängigem Prinzip verpflichtet, während es sich im andern Fall in der Form von Konditionierung und Verhaltenssteuerung als strategisch und manipulativ verstehen wird.20 Im Sinne dieser unabdingbaren Aufeinanderbezogenheit von Menschenbild und Menschenbildung muß Pädagogik immer auch die Explikation dessen sein, was pädagogischer Theorie und Praxis 19 Kant, Immanuel: Über Pädagogik, hrsg. von Friedrich Theodor Rink, in: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Kant´s gesammelte Schriften, Berlin 1904 ff., Bd. 9, S. 443. 20 Vgl. Heitger, Marian: Systematische Pädagogik – Wozu?, Paderborn 2003.

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Der Ausgang von der Praxis

an Wissen über den Menschen stets, aber mitunter bloß implizit zugrunde liegt. Für eine Erziehung, die dem Menschen gerecht werden will, ist es in diesem Sinne entscheidend, sich als praxis und nicht als poiesis zu verstehen. Wenn der führende nationalsozialistische Erzie­ hungswissenschaftler Ernst Krieck sein pädagogisches Programm »Menschenformung«21 nennt, so liegt darin bereits begrifflich ein Hinweis auf die Unangemessenheit seiner Erziehungskonzeption und das ihr zugrunde liegende Menschenbild. Der Begriff »Formen« gehört in die poiesis, man formt Materialien, Menschen kann man allenfalls dabei helfen, sich selbst zu formen. Man hat damals kon­ sequenterweise auch nicht vom Menschen, sondern vom Menschen­ material gesprochen. Angesichts von Begriffen, wie Humankapital oder Humanressource, die den Menschen in eben der Weise seiner Menschlichkeit berauben, hat die Gegenwart freilich wenig Grund, sich der Vergangenheit gegenüber überlegen zu fühlen. Wenn wir auf der Grundlage unserer bisherigen Ausführungen im Hinblick auf die beispielhaft herangezogene Medizin und Pädago­ gik die Frage stellen, die Klaus Prätor hinsichtlich der Pädagogik gestellt hat: »Wozu braucht die Pädagogik eine Anthropologie?«22, so läßt sich darauf eine zweifache Antwort geben, einerseits muß gesagt werden, daß diese Frage falsch gestellt ist, die Pädagogik »braucht« keine Anthropologie, einfach deshalb, weil sie immer schon eine hat. Die Frage, ob sie auch ohne Anthropologie auszukommen vermag, ist sinnlos, weil es eine Pädagogik ohne eine zumindest implizite Anthropologie gar nicht gibt, jeder pädagogische Satz verweist wie jede pädagogische Handlung bereits auf eine bestimmte Auffassung des Menschen. In diesem Sinn lesen wir bei Theodor Litt: »Jeder Bil­ dungslehre liegt, bewußt oder unbewußt, ausgesprochen oder unaus­ gesprochen, eine bestimmte Auffassung vom Wesen des Menschen zugrunde. In begrifflicher Form entwickelt heißt sie: philosophische Anthropologie.«23 Es ist vielmehr zu fragen, welche Anthropologie 21 Krieck, Ernst: Menschenformung. Grundzüge der vergleichenden Erziehungswissen­ schaft, Leipzig 1933. 22 Vgl. Prätor, Klaus: Wozu braucht die Pädagogik eine Anthropologie? Überlegungen zur methodologischen Stellung der pädagogischen Anthropologie, in: König, Eck­ hard / Ramsenthaler, Horst (Hrsg.): Diskussion Pädagogische Anthropologie, Mün­ chen 1980, S. 226. 23 Litt, Theodor: Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt, Bonn 61959, Vorsatzblatt.

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Einleitung

die Pädagogik hat, und in diesem Sinn kann gesagt werden, die Pädagogik braucht eine Anthropologie, deren Aufgabe es ist, diese Implikationen zu explizieren, sich die jeweils zugrundeliegenden anthropologischen Implikationen bewußt zu machen, und dieses vorausgesetzte Menschenbild kritisch zu reflektieren.24

Die Frage: »Was ist der Mensch?« Anthropologien und Menschenbilder lassen sich beide verstehen als Antworten auf die Frage: »Was ist der Mensch?« In der Hoffnung, daß die Klärung der Frage auch Klarheit hinsichtlich der Antworten schaffen kann, wollen wir uns im Folgenden mit ihr näher beschäfti­ gen. Überlegen wir uns, was wir mit einer solchen Frage überhaupt meinen, wonach eine solche Frage fragt? Zunächst sieht es so aus, als wäre das eine recht simple, eine einfach zu beantwortende Frage. Men­ schen, die sie stellen, kann es doch keine Schwierigkeiten bereiten, auf sie eine Antwort zu geben, die gestellte Frage fragt nur nach dem, was wir ohnehin sind. Was also ist der Mensch? Was sind wir, insoferne wir Menschen sind? Die Frage: »Was ist der Maikäfer?« scheint im Vergleich dazu weit schwieriger zu beantworten, sofern hier nach etwas anderem, nach etwas, was wir jedenfalls nicht sind, gefragt ist und doch, ein Biologe wird nicht zögern sie zu beantworten, er wird im Sinne einer zoologischen Klassifikation jene Merkmale und Kennzeichen angeben, durch die diese Tierart charakterisiert ist. Als moderner Biologe wird er auch nicht zögern, wenn es um die Beantwortung der Frage: »Was ist der Mensch?« geht, mehr noch, er wird sich selbst als den für die Beantwortung dieser Frage zuständigen und qualifizierten Wissenschaftler empfehlen. Im 21. Jahrhundert, von dem selbstbewußt auch als dem »Jahrhundert der Biologie«25 die Rede ist, soll die Biologie auch die Wissenschaft sein, die vor allen anderen Wissenschaften berufen ist, uns eine Antwort auf die Frage: »Was ist der Mensch?« zu geben. 24 Die Aufgaben einer solchen Philosophischen Anthropologie mit pädagogischem Schwerpunkt habe ich im Anhang am Beispiel der Sonder- und Heilpädagogik in der Form eines forschungsprogrammatischen Entwurfes erläutert. 25 Die heute vielzitierte Wendung dürfte sinngemäß auf Aussagen des amerikani­ schen Zukunftsforschers John Naisbitt zurückgehen: »Biologie wird im 21. Jahrhun­ dert den heutigen Rang von Chemie und Physik einnehmen.«

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Die Frage: »Was ist der Mensch?«

Wenn wir in diesem Zusammenhang an die oben erwähnte Antwort denken, die der Molekularbiologe Joshua Lederberg auf die Frage: »Was ist der Mensch?« gegeben hat, ist die Enttäuschung freilich groß: »Der Mensch ist sechs Fuß einer bestimmten Aminosäu­ rensequenz.« Ist das eine Antwort auf unsere Frage? Fragen wir denn nach der chemischen Zusammensetzung unseres Erbguts, nach der DNS, wenn wir nach dem Menschen fragen, oder haben wir dabei anderes im Sinn? Die Antwort ist offensichtlich unzureichend und die Antwort auf die Frage: »Was ist der Mensch?« wird wohl auch kaum in einem Satz zu geben sein. Was aber ist eine adäquate Antwort und wer ist berufen, sie zu geben: Die Wissenschaft?, die Religion?, die Kunst?, die Philosophie? – soviel steht fest: Antworten auf die Frage: »Was ist der Mensch?« kommen aus all diesen Gebieten. So problemlos wie eingangs vermutet, ist unsere Frage also nicht zu beantworten. Wir haben eine Antwort auf die Frage: »Was ist der Mensch?« nicht schon dadurch, daß wir Menschen sind, sondern erst, wenn wir darüber nachdenken, was es heißt, Mensch zu sein und wir müssen eben das auch tun, weil wir Menschen sind und soferne wir als Menschen leben wollen. Auch das können wir uns anhand der am Anfang vorgenommenen Gegenüberstellung der beiden Fragen: »Was ist der Mensch?« und »Was ist der Maikäfer?« klar machen. Es fällt auf, daß beide Fragen der Mensch stellt, der Maikäfer dagegen keine von beiden. Es gilt, soferne der Maikäfer hier pars pro toto für alle anderen Tierarten steht, für die tierische Existenzform insgesamt, daß in ihr eine solche fragende Selbstvergegenwärtigung ebensowenig möglich wie überhaupt nötig ist. Keines der Tiere fragt nach sich selbst, ein Wissen um sich selbst und die daraus sich ergebende Fraglichkeit, ja existentielle Fragwürdigkeit, ist allein für den Menschen charakteristisch. Der Begriff »fragwürdig« ist dabei durchaus doppelsinnig, inso­ ferne er sowohl eine negative als auch eine positive Bedeutung impliziert. Wenn man von einer fragwürdigen Geschäftsgebarung oder einer fragwürdigen Finanztransaktion spricht, so ist fragwürdig hier in einem kritischen, negativen Sinn verstanden, fragwürdig kann aber auch so verstanden werden, daß etwas einer Frage würdig ist, daß es wert ist, daß danach gefragt wird. Der Mensch ist in eben diesem Doppelsinn fragwürdig. Er ist das perverseste aller Tiere, dessen natürliche Ausstattung allem in der Natur überlebensdienlich Bewährten widerspricht, er ist das im Sinne Gehlens zum Aussterben verurteilte und darin mehr als fragwürdige Naturwesen, und doch ist

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Einleitung

er auch das Geschöpf, das diese Mängel nicht nur ausgleicht, sondern erkennend und denkend zum Herren der Natur wird. Niedrigkeit und Größe sind bei ihm jeweils eine Frage der Betrachtung und bereits Pascal hat den Menschen aufgefordert, beides ins Auge zu fassen, um als Mensch zu bestehen: »Gefährlich ist es, wenn man den Menschen zu sehr darauf hinweist, daß er den Tieren gleicht, ohne ihm zugleich seine Größe vor Augen zu führen. Noch gefährlicher ist, wenn man ihm seine Größe ohne seine Niedrigkeit vor Augen führt. Am gefährlichsten ist es, ihn in Unkenntnis über beides zu lassen. Aber sehr nützlich ist, ihm das eine und das andere darzustellen.«26 Wir haben festgehalten, daß es dem Maikäfer nicht möglich ist, die Frage: »Was ist der Maikäfer?« zu stellen, er hat es darüber hinaus aber auch gar nicht nötig. Der Mensch wiederum mag die Frage: »Was ist der Maikäfer?« beantworten, so gut er in Abhängigkeit vom jewei­ ligen Forschungsstand der Biologie kann, der Maikäfer bleibt von der Antwort, die der Mensch auf diese Frage gibt, unbeeindruckt. Sie berührt seine Existenz allenfalls im Hinblick auf die vom Menschen aus dieser Antwort gezogenen Konsequenzen (Schädling!). Es ist klar, daß die Frage: »Was ist der Mensch?« für den Menschen selbst in ganz anderer Weise Sinn und Bedeutung hat. Beide Fragen haben einen anderen Stellenwert für das jeweilige Frageobjekt. Erneut wird sichtbar, daß der Mensch nicht nur Objekt, sondern zugleich Subjekt der Frage: »Was ist der Mensch?« ist. Der Mensch fragt nach sich selbst, wenn er nach dem Menschen fragt und eben deshalb kann diese Frage auch die Formulierung: »Erkenne dich selbst« annehmen. Diese Forderung ist schon in der Antike ausgesprochen worden und in und mit ihr die Einsicht in die besondere, durch Reflexivität gekennzeichnete Stellung des Men­ schen in der Welt. Bereits über dem Eingang des Apollo-Tempels in Delphi finden wir die Aufforderung zur Selbsterkenntnis »γνῶθι σεαυτόν«27 und sehen damit die Einsicht in die Notwendigkeit eines denkenden Bezuges zur Wirklichkeit und einer denkenden Verständi­ gung über sich selbst ins Zentrum der menschlichen Existenz gestellt. Welchen Sinn diese Aufforderung zur Selbsterkenntnis hat, wollen wir uns im Anschluß an entsprechende Gedanken aus Hegels 26 Pascal, Blaise: Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées), hrsg. u. übertr. von Ewald Wasmuth, Gerlingen 1994, S. 187. 27 Die Inschrift soll von einem der Sieben Weisen, von Thales oder Cheilon stammen (nosce te ipsum).

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Die Frage: »Was ist der Mensch?«

»Enzyklopädie« vergegenwärtigen: »Erkenne dich selbst, dieß absolute Gebot hat weder an sich, noch da wo es geschichtlich als ausgespro­ chen vorkommt, die Bedeutung, nur einer Selbsterkenntniß nach den particulären Fähigkeiten, Charakter, Neigungen und Schwächen des Individuums, sondern die Bedeutung der Erkenntniß des Wahrhaften des Menschen, wie des Wahrhaften an und für sich, – des Wesens selbst als Geistes. Eben so wenig hat die Philosophie des Geistes die Bedeutung der sogenannten Menschenkenntniß, welche von andern Menschen gleichfalls die Besonderheiten, Leidenschaften, Schwächen, diese sogenannten Falten des menschlichen Herzens zu erforschen bemüht ist, – eine Kenntniß, die theils nur unter Voraussetzung der Erkenntniß des Allgemeinen, des Menschen und damit wesentlich des Geistes Sinn hat, theils sich mit den zufälligen, unbedeutenden, unwahren Existenzen des Geistigen beschäftigt, aber zum Substanti­ ellen, dem Geiste selbst, nicht dringt.«28 Die im »Erkenne dich selbst« geforderte Selbsterkenntnis geht nicht aufs Partikulare und Einzelne, sondern aufs Allgemeine. Nicht auf Besonderheiten, Neigungen, Eigenheiten etc. zielt die Frage: »Was ist der Mensch?«, sondern auf das Wesentliche, auf das Wesen des Menschen. Hegel weist in dem Zusammenhang auf den Unterschied zwischen Menschenkenntnis und Selbsterkenntnis hin: »Die Selbst­ erkenntniß in dem gewöhnlichen trivialen Sinn einer Erforschung der eigenen Schwächen und Fehler des Individuums hat nur für den Einzelnen, – nicht für die Philosophie – Interesse und Wichtigkeit, selbst aber in Bezug auf den Einzelnen um so geringeren Werth, je weniger sie sich auf die Erkenntniß der allgemeinen intellectuellen und moralischen Natur des Menschen einläßt, und je mehr sie, von den Pflichten, dem wahrhaften Inhalt des Willens absehend, in ein selbstgefälliges Sichherumwenden des Individuums in seinen ihm theuren Absonderlichkeiten ausartet. – Dasselbe gilt von der gleichfalls auf die Eigenthümlichkeiten einzelner Geister gerichteten sogenannten Menschenkenntniß. Für das Leben ist diese Kenntniß allerdings nützlich und nöthig, besonders in schlechten politischen Zuständen, wo nicht das Recht und die Sittlichkeit, sondern der Eigensinn, die Laune und Willkür der Individuen herrschen, – im Felde der Intriguen, wo die Charactere nicht auf die Natur der Sache Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: System der Philosophie, in: Glockner, Hermann (Hg.): Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, Stuttgart – Bad Cann­ statt 1964 ff., Bd. 10, 3. Teil: Philosophie des Geistes, § 377, S. 9.

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Einleitung

sich stützen, vielmehr durch die pfiffig benutzte Eigenthümlichkeit Andrer sich halten und durch dieselben ihre zufälligen Zwecke errei­ chen wollen. Für die Philosophie aber bleibt diese Menschenkenntniß in eben dem Grade gleichgültig, wie dieselbe sich nicht, von der Betrachtung zufälliger Einzelnheiten zur Auffassung großer mensch­ licher Charactere zu erheben vermag, durch welche die wahrhafte Natur des Menschen in unverkümmerter Reinheit zur Anschauung gebracht wird.«29 Damit ist keine Geringschätzung der Menschenkenntnis ver­ bunden, ihr wird Interesse und Wichtigkeit zugestanden, aber eben nur für den einzelnen. Menschenkenntnis ist für das Leben nützlich und nötig, wer diesbezüglich naiv ist, wird allzuleicht übervorteilt. Aber nicht nur im täglichen Umgang mit den anderen ist sie opportun: sich selbst zu kennen, über die eigenen Fehler und Schwächen, die Neigungen und Ängste u. v. m. Bescheid zu wissen, das ist auch eine Voraussetzung dafür, sich selbst richtig einzuschätzen, sich etwa in dem, was man zu leisten vermag, weder zu unter- noch zu überschät­ zen. Menschenkenntnis ist unbestritten höchst bedeutsam, nur als solche keine Angelegenheit der Philosophie. Die Selbsterkenntnis, von der in der Frage »Was ist der Mensch?« die Rede ist, zielt auf das, was dem Menschen als Menschen zukommt, als solche ist sie nicht äußerlich an ihn adressiert: »Die vom delphi­ schen Apollo an die Griechen ergangene Aufforderung zur Selbster­ kenntniß hat daher nicht den Sinn eines von einer fremden Macht äußerlich an den menschlichen Geist gerichteten Gebots; der zur Selbsterkenntniß treibende Gott ist vielmehr nichts Andres, als das eigene absolute Gesetz des Geistes. Alles Thun des Geistes ist deßhalb nur ein Erfassen seiner selbst, und der Zweck aller wahrhaften Wis­ senschaft ist nur der, daß der Geist in Allem, was im Himmel und auf Erden ist, sich selbst erkenne.«30 Das »Erkenne dich selbst« ist prinzipiell gesehen keine Aufforderung, die andere an uns rich­ ten – sondern eine Aufforderung, die ein spezifisches Kennzeichen geistiger Existenz darstellt. Reflexivität und Selbstbezug sind nicht Bestimmungen, die der geistigen Existenz unter anderem zukommen, sondern darin gerade besteht die geistige Existenz. Von ihr her ergibt sich für den Menschen die Aufgabe einer Selbstdeutung, eines Sinnentwurfs, mit Notwendigkeit, und von 29 30

Hegel, System der Philosophie, S. 9 ff. Hegel, System der Philosophie, S. 10.

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Die Frage: »Was ist der Mensch?«

dieser Selbstdeutung, von diesem Selbstverständnis wird immer auch seine Selbstgestaltung abhängen. Die Frage: »Was ist der Mensch?« ist keine zufällige Frage, keine Frage unter anderen, die wir stellen können oder auch nicht, es ist keine beliebige Frage, die wir unbeant­ wortet lassen oder deren Antwort gegenüber wir gleichgültig bleiben können. Die Frage: »Was ist der Mensch?« ist eine notwendige Frage, die ins Zentrum unserer menschlichen Existenz weist und davon, wie wir diese Frage beantworten, wird, soferne sich in unserer Antwort nichts Geringeres als unser Welt- und Selbstverständnis ausspricht, die Gestaltung unseres Lebens und das ihm mögliche und wirkliche Maß von Humanität abhängen. So gesehen kann diese Frage in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden und es scheint gerade dieser Bedeutung zu entsprechen, daß sie in so vielfältiger Weise, wir haben es schon angedeutet: in Religion, Kunst, Wissenschaft, Philosophie etc. gestellt und beantwortet wird. Auf das Problem, das im Zusammenhang damit auftritt, enthält der Begriff Menschenbild selbst schon einen Fingerzeig. Wenn wir uns überlegen, was ein Bild ausmacht, sehen wir, daß ein Bild das Ergeb­ nis einer zweifachen Begrenzung ist. Bilder sind stets durch einen Rahmen und die Perspektive auf den Gegenstand charakterisiert. Die erste Begrenzung, der Rahmen führt dazu, daß das Bild immer nur ein Ausschnitt ist, immer ist auch etwas nicht auf dem Bild, die zweite Begrenzung, die Perspektive führt dazu, daß das Bild von seinem Gegenstand eine Ansicht gibt, die auch anders sein könnte und wenn sie anders wäre, natürlich auch ein anderes Bild ergeben würde. Wir können deshalb von einem Menschenbild im Singular gar nicht reden, sondern nur im Plural, sowenig es die Anthropologie gibt, sowenig gibt es das Menschenbild, es mag im Verlauf der mensch­ lichen Geschichte ein relativ geschlossenes, einheitliches Menschen­ bild gegeben haben, unsere Situation ist das definitiv nicht, wir sind immer mit einer Pluralität von Menschenbildern konfrontiert. Für uns heute stellt sich die Frage: »Was ist der Mensch?« stets vor dem Hintergrund einer Vielzahl von Antwortmöglichkeiten. Die Pluralität der Menschenbilder ist Folge der Perspektivität des Fragens nach dem Menschen. Jede einzelne dieser Anthropologien, wie etwa die biologische Anthropologie, ist eine Perspektive unter anderen, eine Sichtweise des Menschen, der andere Sichtweisen zur Seite stehen, immer handelt es sich um Aussagen über den Menschen von bestimmten Wissenschaftsgebieten aus, denen eine Reihe anderer Aussagen aus anderen Wissenschaftsgebieten gegenüberstehen.

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Einleitung

Zwei Fragen sind im Anschluß an die Bildlichkeit unvermeidbar: die Frage nach dem Verhältnis von Perspektive und Gegenstand, d.i. die Frage der Angemessenheit der Perspektive an ihren Gegenstand – vermögen alle diese perspektivischen Blicke auf den Menschen den Menschen in gleicher Weise zu erschließen?, und daraus folgend, die Frage nach dem Verhältnis der Perspektiven untereinander – sind die einzelnen Perspektiven gleichwertig oder verschiedenwertig, können sie einander stellvertreten oder sind sie gar aufeinander zurückführ­ bar?, können sie einander ersetzen, oder ergänzen sie einander zu einem Ganzen?, wenn ja, welche Wissenschaft leistet die Integration der Perspektiven? Fragen dieser Art stellen sich nicht zuletzt im Hinblick auf die Tendenz moderner Biologie, andere wissenschaftliche Perspektiven in ihrem Blick auf den Menschen zu ersetzen, d.h. das, was andere Wissenschaften über den Menschen sagen, biologisch zu fundieren bzw. auf Biologisches zurückzuführen, soziologische Theorien erhal­ ten auf diese Weise ihr Fundament in der Biologie (Soziobiologie), religiöse Themen, wie die Zehn Gebote, werden im Sinne eines solchen Anspruchs biologisch fundiert, d.h. auf ihre Überlebensdien­ lichkeit zurückgeführt.31

Skeptizismus und Dogmatismus – zwei Vorbehalte gegen die Suche nach einem allgemeinverbindlichen Menschenbild Die Antworten, die von den verschiedenen Wirklichkeitsbereichen und wissenschaftlichen Disziplinen auf die Frage: »Was ist der Mensch?« gegeben werden, differieren und geben darin ein Problem auf. Die Antworten fallen nicht nur verschieden aus, sie widerspre­ chen einander auch und können als solche nicht zu einem Ganzen zusammengesetzt werden. Das Vorliegen einer Vielzahl von Anthro­ pologien ist daher alles andere als eine Garantie für eine möglichst umfassende Beantwortung der Frage nach dem Menschen. Mit der Pluralität der vorliegenden Antworten verbindet sich im Gegenteil ein Relativismus, der die Frage als unbeantwortbar erscheinen läßt (Skep­ tizismus). Wickler, Wolfgang: Die Biologie der Zehn Gebote. Warum die Natur für uns kein Vorbild ist, München – Zürich 71991.

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Skeptizismus und Dogmatismus

Läßt nicht die Vielgestaltigkeit und Veränderlichkeit der Men­ schenbilder, der Umstand ihrer Historizität, die Suche nach einem solchen hoffnungslos erscheinen? Daß es auf diese Frage viele Ant­ worten gibt, scheint es geradezu sinnlos zu machen, sie überhaupt zu stellen. Ist also angesichts der für unsere Gegenwart charakteristi­ schen Pluralität der Menschenbilder eine skeptische Zurückhaltung in der Frage: »Was ist der Mensch?« angebracht? Die Pluralität der Menschenbilder umfaßt immer auch solche, denen wir uns nicht anschließen können und wollen, soll die Ableh­ nung etwa des nationalsozialistischen Menschenbildes nicht nur das Ergebnis einer willkürlichen Entscheidung und mehr als bloß Gefühl sein, dann werden wir ein Menschenbild vor dem anderen als legiti­ mierbar ausweisen, d.h. uns mit Gründen um seine Rechtfertigung bemühen müssen. Das Festhalten an einer skeptischen Position ist aber auch deshalb unmöglich, weil es eine Illusion ist zu glauben, in dieser Frage je den Standpunkt eines unbeteiligten Beobachters einnehmen zu können. Es gibt keine Neutralität in der Frage nach dem Menschen, man kann sich angesichts einander widersprechender Menschenbilder nicht heraus- und diese gewissermaßen bis zur endgültigen Entscheidung in der Schwebe halten. Um einen solchen Standpunkt einnehmen zu können, müßten wir unser Handeln ein­ stellen, wenn wir handeln haben wir praktisch entschieden, weil wir immer schon vor dem Hintergrund eines mehr oder weniger expliziten Selbst- bzw. Menschenverständnisses handeln. Man kann diese Frage deshalb nicht unbeantwortet lassen, weil man sie auf die eine oder andere Art immer schon beantwortet hat. Die Frage: »Was ist der Mensch?« steht nicht für das Suchen nach einem geeigneten Menschenbild und das Problem, ein solches zu finden, sie steht für die kritische Aufklärung des Menschenbildes, das man immer schon hat, insoferne es den eigenen zwischenmenschlichen Bezie­ hungen (Begegnungen) zugrunde liegt, insoferne es aber auch als Voraussetzung in den unterschiedlichsten gesellschaftlich-politischen Entscheidungen, die man als Mitglied einer Gesellschaft mitträgt oder auch ablehnt (von Gesetzen, welche Behinderte betreffen, über die Zulassung biomedizinischer Verfahren bis hin zur Abtreibung u.a.m.) zum Tragen kommt. Andererseits sind die Unterschiede zwischen den Menschen so offensichtlich, daß ein Relativismus auch der Menschenbilder geradezu als notwendige Folge dieser Situation und die Suche nach einem Menschenbild im Singular nichts weniger als eine dogmatische

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Einleitung

Einengung der Vielfalt und Vielgestaltigkeit menschlicher Verwirkli­ chungsweisen erscheint (Dogmatismus). Dieser gegenläufige Vorbe­ halt sieht im Nachdenken über ein allgemeingültiges Menschenbild, im Versuch einer Überwindung des Relativismus, einen Widerspruch zu Pluralität und Toleranz, wie sie heute unter dem Titel der Huma­ nität gerne gefordert, wenn auch nicht immer praktiziert werden. Wer sich mit den vielen Antworten nicht begnügt, d.h. auf eine Antwort nicht verzichten will, sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, den Menschen in der Antwort auf die Frage: »Was ist der Mensch?« inhaltlich festzulegen und damit dogmatisch einschränken zu wollen. Auch diese Sicht der Dinge erweist sich bei näherer Betrachtung als vordergründig: erst die Verbindlichkeit eines bestimmten Men­ schenbildes schafft die Voraussetzung für Pluralität und Toleranz, sodaß wir gerade dann, wenn wir an beidem festhalten wollen, das Menschenbild, in dem Pluralismus und Toleranz festgeschrieben sind, nicht wiederum relativistisch auflösen und verabschieden, d.h. jedem anderen beliebigen Menschenbild gleichstellen können. Bei all den das Menschenbild betreffenden Fragen geht es kei­ neswegs um weltanschauliche Dinge, wo sich jeder nach Lust und Laune etwas zurechtlegen kann, die Frage nach dem Menschen erfor­ dert eine verbindliche Antwort, weil es mit Gehlen zu sprechen, einen Unterschied ausmacht, ob sich der Mensch als arrivierten Affen oder als Geschöpf Gottes begreift, da er, je nach dem, ganz verschiedene Aufgaben an sich herantreten sehen wird. Der Mensch muß nach seinem Wesen fragen und wird von den Antworten her sich selbst und anderen gegenüber tätig und Stellung nehmend sich verhalten. Das Verhältnis zu seinen Mitmenschen, die »Behandlung« anderer Menschen, die Einrichtung seiner Gesellschaft, wird davon abhängen, wofür man sie hält und wofür man sich hält, anders gesagt, von welchem Menschenbild man geleitet ist, mit all den praktischen Konsequenzen, die daraus folgen, z.B. den Ausschluß von Menschen als Untermenschen aufgrund von Behinderung, Rasse, Religion u. a. m. Von diesen Überlegungen her läßt sich zeigen, daß es sich bei den Biologismen, die uns im Versuch einer Wesensbestim­ mung des Menschen von der Biologie aus begegnen und wofür wir genügend erschreckende historische Beispiele haben, nicht um die Harmlosigkeit einer bloß falschen Theorie, sondern immer auch um die inhumanen praktischen Konsequenzen einer Theorie handelt, die dem Begriff des Menschen nicht gerecht wird.

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Skeptizismus und Dogmatismus

Damit ist zumindest das Problem formuliert, nicht auch dessen Lösung gegeben und wir werden auch, solange wir von Menschenbil­ dern reden, nicht über die Pluralität, den Perspektivismus und den Relativismus hinausgelangen, weil es zuletzt nicht um das bunte Ausmalen von Bildern, sondern um die Frage geht, ob es darüber hinaus so etwas wie ein sich durchhaltendes Allgemeines, einen verbindlichen Begriff des Menschen gibt. Wir werden uns über die Pluralität der Menschenbilder hinaus um den Begriff des Menschen bemühen müssen.

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Die philosophischen Voraussetzungen

Meinen, Glauben, Wissen Der Versuch, das Spezifische der Wissenschaften herauszustellen, muß an die griechische Philosophie anschließen, denn das, was wir Wissenschaft nennen, ist eine Erfindung der Griechen. Sokrates hat begonnen, die Fragen »Was ist Wissen?«, »Was ist Erkennen?«32 zu stellen, Platon und Aristoteles haben in Beantwortung dieser Fragen die Kriterien der Wissenschaftlichkeit herausgestellt, jene Kriterien, die es erlauben, Wissen von Meinen und Glauben zu unterscheiden. Gegen Ende des Dialogs Menon33 sprechen Sokrates und Menon über den Unterschied von Meinung (Vorstellung) und Wissen (Erkenntnis) am Beispiel des Weges nach Larisa. Ein Wissen davon, wie man von Athen nach Larisa kommt, hat der, der den Weg schon einmal gegangen ist. Der, der den Weg nicht selbst gegangen ist, aber von anderen eine adäquate Beschreibung desselben erhalten hat, der hat eine Vorstellung, eine Meinung von diesem Weg. Menon macht geltend, daß auch letzterer, soferne nur seine Vorstellung eine richtige ist, andere gut auf diesem Weg führen und ebenso sicher nach Larisa bringen wird wie der, der ein Wissen von diesem Weg hat. Die wahre Erkenntnis trifft immer das Richtige, die Meinung kann wahr sein, aber auch falsch, sie ist nur als richtige Meinung der Erkenntnis gleichzustellen, wenn sie das aber ist, besteht im praktischen Aspekt, also von der Nützlichkeit (Anwendbarkeit) her gesehen, zwischen beiden kein Unterschied. Worin aber liegt dann der Unterschied zwischen beiden, denn daß es einen solchen geben muß, ist daran abzulesen, daß die Erkenntnis höher geschätzt wird als die Meinung.

Vgl. Platon: Theaitetos, in: Eigler, Gunther (Hg.): Werke in acht Bänden, gr.-dt., übers. von Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 1977. 33 Platon, Menon, in: Eigler, Gunther (Hg.): Werke in acht Bänden, gr.-dt., übers. von Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 1977, 97 a ff.

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Die philosophischen Voraussetzungen

Sokrates verweist in diesem Zusammenhang auf Daidalos34: Wie die sich bewegenden Statuen des Bildhauers nicht bleiben, sondern davongehen, so verflüchtigen sich auch die rechten Vorstellungen. Daher gilt es, wie Sokrates unter Hinweis auf die Anamnesis, die Wiedererinnerung ausführt, die Meinungen zu binden, indem man sie mit dem Grund in Beziehung setzt, anders gesagt, indem man sie begründet: »Denn auch die richtigen Vorstellungen sind eine schöne Sache, solange sie bleiben, und bewirken alles Gute; lange Zeit aber pflegen sie nicht zu bleiben, sondern gehen davon aus der Seele des Menschen, so daß sie doch nicht viel wert sind, bis man sie bindet durch Beziehung des Grundes. Und dies, Freund Menon, ist eben die Erinnerung, wie wir im Vorigen zugestanden haben. Nachdem sie aber gebunden werden, werden sie zuerst Erkenntnisse und dann auch bleibend.«35 Hier könnte man an ein Schiff denken, das, um nicht von jeder Strömung davongetragen zu werden, den Anker werfen muß. Die Gebundenheit der Vorstellung verbürgt Dauer, sie kennzeichnet die Erkenntnis, Erkenntnis ist begründete Vorstellung. Zwischen wahrer Erkenntnis und richtiger Vorstellung, d.h. zwischen Wissen und Meinung, besteht wohl ein Unterschied, aber kein Gegensatz, eines geht ins andere über, die begründeten Meinungen sind das Wissen, die Erkenntnis. Wenn es richtige Vorstellungen gibt, muß es auch falsche Vorstellungen geben, aber es gibt kein Kriterium dafür, um die beiden auf der Ebene der Vorstellung zu unterscheiden. So sind richtige Vorstellungen stets bedroht durch falsche Vorstellungen, da man die Gründe für ihr Richtigsein nicht kennt, man kann sie nicht gegen andere Vorstellungen, auch nicht gegen solche, die falsch sind, verteidigen. Erst dann, wenn sie begründet sind, kann man sie unterscheiden, die richtige Vorstellung (Meinung), die sich als richtige weiß, weil sie sich mit Gründen ausweisen kann, ist Wis­ sen (Erkenntnis). Auch wenn wir, was die Begriffe Meinen, Glauben und Wissen betrifft, von der Alltagssprache ausgehen, erscheint das Meinen als eine mindere Form des Wissens, wobei sich der Qualitätsmangel gegenüber dem Wissen in fehlender oder mangelhafter Begründung Daidalos, ein mythischer Bildhauer und Architekt, der als Begründer der realisti­ schen Bildhauerei gilt, da er in seinen Figuren zuerst die steife Haltung der hochar­ chaischen Statuen überwunden hat. Vgl. Irmscher, Johannes (Hg.): Lexikon der Antike, Leipzig und Augsburg 101990, S. 128. 35 Platon, Menon, 98 a.

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Meinen, Glauben, Wissen

und einem in der Folge gewissermaßen eingeschränkten, verminder­ ten Geltungsanspruch zeigt. Meine Meinung und die Meinungen anderer unterscheiden sich, soferne wir nicht gleicher Meinung sind, darin, daß sie jeweils nur mir oder anderen als Wissen gelten. Mei­ nungen gelten für die, die sie haben resp. aussprechen, was nur für mich gilt, ist dabei so berechtigt wie das, was für einen anderen gilt, es gibt keinen Grund, eine Meinung gegenüber der anderen abzuwerten oder herauszuheben. Wer andere Meinungen nicht gelten läßt, der ist in der Tat intolerant, wir gestehen jedermann seine Meinung zu, beschränken deren Geltung aber auch auf ihn, als ein eben nur für ihn gültiges Wissen und wir können Sokrates darin zustimmen, daß uns auch die Meinung als richtige, als wahre Meinung praktisch nützlich sein wird. Im Gegensatz zum eingeschränkten Geltungsanspruch des Mei­ nens fordern wir für das Wissen eine Begründung, der jeder zustim­ men kann. Wissen muß sich mit Gründen legitimieren, die für alle gültig, die allgemeingültig sind. Die Gleichgültigkeit, mit der wir auch von unseren abweichende und unseren widersprechende Meinungen als Meinungen anerkennen, gilt nicht für das Wissen, dieses steht in der Differenz von wahr und falsch, der Weg von den Meinungen zum Wissen setzt voraus, daß wir dieselben nicht als gleich gültig ansehen, sondern sie daraufhin prüfen, ob sie und wie weit sie sich durch allgemeingültige Begründungen rechtfertigen lassen. Alltagssprachlich gesehen wird, ganz ähnlich wie Meinen, auch Glauben als eine defiziente Form des Wissens bestimmt. Dort, wo in einer Antwort auf eine Frage – etwa nach dem Weg nach Larisa – die Worte meinen oder glauben vorkommen, sind wir uns nicht sicher als Antwortgebende, und als Fragende gut beraten, unsere Frage anderswo zu wiederholen. Glauben wird aber nicht nur wie das Meinen als unsicheres Wissen verstanden, sondern geradezu auch als das Gegenteil von Wissen, als Nicht-Wissen. Im Rahmen eines solchen Verständnisses von Glauben gelten Spruchweisheiten, wie: »Glauben heißt nichts wissen«, und in der Formulierung von Marie von Ebner-Eschenbach: »Wer nichts weiß, muß alles glauben«36, Formeln, in denen populärwissenschaftliche Wissensformate heute gerne ihre medienwirksamen Titel finden.

Ebner-Eschenbach, Marie von: Das Gemeindekind. Novellen. Aphorismen, in: Klein, Johannes (Hg.): Werke, München 1978, Bd. 1, S. 872. 36

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Die philosophischen Voraussetzungen

Wo Wissen und Glauben solcherart aufeinander bezogen und schroff gegeneinander gestellt sind, gewinnt Glauben nur als Platz­ halter des Nicht-Wissens seinen Sinn und seine durchaus temporäre Berechtigung, als Nicht-Wissen ist Glauben etwas, das prinzipiell durch Wissen aufgehoben und ersetzt werden kann, auch dort, wo das aktuell noch nicht der Fall ist. Das Verhältnis von Wissenschaft und Religion muß indes durch­ aus differenzierter gesehen werden als das im medialen Wissen­ schaftskabarett üblich ist. Glauben im religiösen Sinn muß dem Wissen gegenüber in einer eigenständigen Weise bestimmt und ver­ standen werden. Kant sagt im Rahmen der erkenntnistheoretischen Überlegungen seiner Kritik der reinen Vernunft zum Verhältnis von Glauben und Wissen: »Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen«.37 Das will sagen: erst über eine kritische Einschränkung des Bereiches, der dem Wissen zugänglich ist, wird das, was Glauben heißen kann, in seiner eigenständigen Bedeutung sichtbar. Wissen und Glauben stellen eigene Bereiche dar, die keineswegs in Konkurrenz stehen, weil es erst dort Sinn hat, von Glauben zu sprechen, wo wir nichts wissen können, und zwar nicht noch nicht, sondern prinzipiell nicht! Fragen nach Tod und Unsterblichkeit sind klassische Beispiele für einen solchen dem Wissen prinzipiell entzogenen Bereich. Der Glaube umfaßt das, was über das Wissen hinausgeht, in einer Weise, die beide gar nicht in Widerspruch geraten läßt. Diese Sichtweise setzt freilich voraus, daß das Wissen, also die Wissenschaft, ihre Grenzen kennt und beobachtet, und auch, daß der Glaube sich nicht auf Empirisches im Sinne des Wißbaren bezieht. Was wißbar ist, das muß ich nicht glauben, was ich glaube, kann nicht gewußt werden. Historisch gesehen sind die beiden Bereiche immer wieder ver­ mischt und Glauben und Wissen als sich befeindende Gegner gesehen worden und zwar sowohl von seiten der Wissenschaften als auch von Glaubensseite aus, immer wieder hat sich das Wissen durch den Glau­ ben eingeschränkt und der Glaube durch das Wissen bedroht gesehen. Eines der augenfälligsten Beispiele aus dem 19. Jahrhundert, das bis heute die Diskussionen und Auseinandersetzungen bestimmt, ist der Streit um die Abstammungslehre Darwins, die Deszendenztheorie. Diese Theorie wurde gerade von seiten der Theologie im Hinblick Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, in: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Kant´s gesammelte Schriften, Berlin 1904 ff., Bd. 3, B XXX.

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Meinen, Glauben, Wissen

auf das, was man die Affenabstammung des Menschen genannt hat, heftig bekämpft, die Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen schien durch sie gefährdet; das Verhältnis von Wissen und Glauben in der nämlichen Weise verkennend, hat man von seiten der Biologie in der Deszendenztheorie eine Alternative zur bzw. die Widerlegung der Schöpfungslehre gesehen. Hinter diesen zuletzt weltanschaulichen Kämpfen steht ein mangelndes Verständnis der Theorien, auf die sich die beiden Streitparteien beziehen und was diese jeweils zu leisten, d.h. zu erklären vermögen. Sieht man sich genau an, welche Fragen Naturwissenschaft und Theologie stellen und beantworten können, kann es zwischen Evolutionstheorie und Schöpfungslehre keinen Widerspruch geben, weil sie nicht derselben Ebene angehören. Die Wissenschaft fragt nach empirischen Bedin­ gungen und Voraussetzungen des menschlichen Daseins, wobei sie innerzeitlich immer weiter zurück geht, d.h. zu jeder gefundenen Bedingung wieder die Bedingung aufsucht und so fort ins Unendliche. Auf diese Weise kann sie nie auf ein Unbedingtes stoßen, die Theolo­ gie fragt im Gegensatz dazu gerade nach einem solchen Unbedingten, d.h. nach einem absoluten Anfang und einem absoluten Ende, die beide nicht empirisch aufzuweisen sind. Man kann solche Fragen für sinnlos halten, man sollte dabei aber nie übersehen, daß sie auf einer ganz anderen Ebene liegen als Fragen, welche die Wissenschaft zu stellen vermag.38 Obgleich eingeschränkter Geltungsanspruch und Allgemeingül­ tigkeit Meinen und Wissen bereits im Sinne alltagssprachlicher Verwendung voneinander unterscheiden, handelt es sich beim All­ tagswissen (Erkenntnis, Erfahrung) noch nicht um Wissenschaft. Wissenschaft hat es mit Wissen zu tun, nicht etwa mit Meinen oder Glauben, aber nicht jedes Wissen ist auch wissenschaftliches Wissen. Es gibt unterschiedliche Formen des Wissens, wissenschaft­ liches Wissen muß bestimmten Kriterien genügen, um als solches anerkannt werden zu können.

Vgl. dazu Pietschmann, Herbert / Schwarz, Gerhard: Mythos Urknall. Kann die Wissenschaft den Anfang erklären?, Wien 2013.

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Die philosophischen Voraussetzungen

Kriterien der Wissenschaftlichkeit (Josef Derbolav) Aristoteles hat in den Büchern I und II seiner »Metaphysik«39 ver­ schiedene Weisen des Wissens unterschieden: neben einem praxis­ bezogenen Wissen, das Wissen der Wissenschaft und das der Philo­ sophie. Im Versuch, jenes Tun, das zum Wissen führt, hinsichtlich seiner grundsätzlichen Charakteristika herauszuarbeiten, geht es um fundamentale Kriterien von Wissenschaftlichkeit, die wissenschaftli­ ches Wissen von anderen Arten des Wissens, wie dem Alltagswissen unterscheiden lassen, aber noch vor der weiteren Differenzierung dieses Wissens in Philosophie und Wissenschaft liegen. Ich beziehe mich dabei auf einen Aufsatz von Josef Derbolav.40 Mit Derbolav ist zunächst festzuhalten, daß die Wissenschaft ebenso »Ausdruck menschlicher Rationalität« wie »Produkt der Geschichte« ist. Angesichts der gegenwärtigen Bedeutung von Wis­ senschaft ist man versucht, diese wie z.B. Sprache und Kultur dem Menschsein als solchem zuzuschreiben. Richtig ist – wir wiederholen es – Wissenschaft hat, besser gesagt betreibt nur der Mensch und nicht auch das Tier. Während das Tier in seine Umwelt fraglos eingeordnet ist, vermittelt sich der Weltbezug des Menschen stets über ein Wissen. Das gilt für das »Wissen«, das er im und durch den Mythos hat ebenso, wie für das Wissen der Wissenschaft. Anders als Kultur oder Sprache, die zum Menschsein in einer Weise gehören, daß Menschsein in jeder, auch den frühesten Formen, nicht ohne beides gedacht werden kann, ist Wissenschaft zwar »Folgeerscheinung jener Rationalität, deren Horizonte [...] nur dem Menschen offenstehen«, als solche aber erst im Laufe der geschichtlichen Entwicklung ent­ standen. Der als Vermittlung lebende Mensch hat von Anfang an ein Wissen um sich und die Welt, entdeckt die besondere Form des wissenschaftlichen Wissens aber erst im Verlauf der Geschichte.41 Als ein historisch Gewordenes hat die Wissenschaft ihren Ursprung in Europa, ihre spezifische Art und Weise des Wissens und Erkennens ist im antiken Griechenland entwickelt worden im Rahmen einer Selbstbesinnung des Denkens, die von Sokrates in Aristoteles: Metaphysik, gr.-dt., übers. von Hermann Bonitz, hrsg. von Horst Seidl, Hamburg 21982. 40 Derbolav, Josef: Die erkenntnisanthropologischen Grundlagen und die Genese der Wissenschaft, in: Pädagogische Rundschau, 27. Jg., 1973, S. 879–897. 41 Vgl. Derbolav, Die erkenntnisanthropologischen Grundlagen und die Genese der Wissenschaft, S. 879. 39

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Kriterien der Wissenschaftlichkeit (Josef Derbolav)

seiner Auseinandersetzung mit den Sophisten begonnen wurde und die Platon und Aristoteles in systematischer Weise fort- bzw. durch­ geführt haben. Relativismus und Subjektivismus, wie sie sich als Folge sophistischer Willkür auch auf erkenntnistheoretischem und ethischem Gebiet zeigten, haben eine Reflexion des Denkens auf sich selbst nötig gemacht, durch die mit der Entdeckung des Logischen die Grundlage für wissenschaftliches Vorgehen und die Verbindlichkeit wissenschaftlichen Wissens geschaffen wurde. Die in Europa erfundene Wissenschaft ist keine europäische Wissenschaft, Haltung und Methoden der Wissenschaft, wie sie die Griechen herausgestellt haben, sind nicht auf den geschichtlichen Punkt ihrer Entstehung eingeschränkt, sie haben ihre »geschichtli­ che Bedingtheit längst abgestreift und [sind] zu einem universell verbindlichen Maßstab des Menschen im Umgang mit der Welt geworden.«42 Ihrem Geltungsanspruch nach stellt Wissenschaft einen nicht nur für alle Menschen, sondern über die Menschheit hinaus allgemeingültigen Maßstab des Wissens dar.43 Auch das Wissen älterer Kulturen (etwa in der Astronomie) ist noch kein wissenschaftliches Wissen. In der Bindung an Magie und Religion, in seiner Abhängigkeit vom Herkömmlichen fehlt diesem das kritische Motiv ebenso wie das rationale, darin, daß es von einer Priesterkaste verwaltet wird, ist es weit davon entfernt, jedermann zugänglich zu sein und in einem emanzipatorischen Sinn der Freiheit des einzelnen zugute zu kommen.44 Derbolav nennt drei für die Wissenschaft charakteristische Motive:45 – – –

ein kritisches Motiv – in diesem Sinn ist Einsicht das Ziel der Wissenschaft ein pragmatisches Motiv – in diesem Sinn ist Macht das Ziel der Wissenschaft ein emanzipatorisches Motiv – in diesem Sinn ist Freiheit das Ziel der Wissenschaft

Ebd. Vgl. Derbolav, Die erkenntnisanthropologischen Grundlagen und die Genese der Wissenschaft, S. 879 f. 44 Vgl. Derbolav, Die erkenntnisanthropologischen Grundlagen und die Genese der Wissenschaft, S. 880. 45 Vgl. Derbolav, Die erkenntnisanthropologischen Grundlagen und die Genese der Wissenschaft, S. 881. 42

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Die philosophischen Voraussetzungen

Durch diese drei Motive wird Wissenschaft im Laufe ihrer geschicht­ lichen Entwicklung in unterschiedlichem Ausmaß bestimmt, am Beginn ihres Weges vom Mythos zum Logos ist sie vor allem durch die Orientierung am kritischen Motiv gekennzeichnet, seit der Neu­ zeit ist Wissenschaft im wesentlichen pragmatisch ausgerichtet. Die einzelnen Motive können darüber hinaus in Widerspruch zueinander geraten, etwa das emanzipatorische und das pragmatische Motiv, ein Konflikt, der dort besonders deutlich wird, wo Wissenschaft ihr, in der Naturbeherrschung erworbenes und geübtes Potential, auf den Men­ schen ausdehnt (z.B. Psychologie als Manipulationswissenschaft). Mit Blick auf das, was dem von Platon und Aristoteles in Gang gesetzten »Abenteuer der Wahrheitssuche« zu Grunde liegt, formu­ liert Derbolav drei Möglichkeitsbedingungen46 für das Entstehen der Wissenschaft: 1. 2. 3.

Frage Dialog Gesetz

Ad 1) Die Frage, das zeigen die Platonischen Dialoge, ist Ausgangs­ punkt allen Wissenserwerbs, das Fraglichwerden des bisher als gültig angesehenen Wissens ist die Voraussetzung dafür, überhaupt nach Wissen zu streben. Zur Fraglichkeit, die nach neuen Antworten sucht, gehört die Erschütterung des bislang Geltenden. Wer alles zu wissen glaubt, ist für die Wissenschaft verloren, weil er keinen Sinn darin sehen wird, irgend etwas zu lernen oder zu erforschen. Was den Wissenschaftler charakterisiert, sind dementsprechend, ganz im Gegensatz zu seiner medialen Präsentation als Alleswisser, die Fragen, die er stellt und nicht so sehr die Antworten, die er hat. Ad 2) Wissen im Sinne wissenschaftlicher Erkenntnis entwickelt sich aus der Diskussion, d.h. in der Situation des Dialogs, durch Spruch und Widerspruch, durch These und Gegenthese, durch die Suche nach einem Wahren in der Vielfalt der Meinungen, nicht dadurch, daß man alle Meinungen als gleich gültig ansieht. Gerade weil es nicht nur für mich Geltung haben soll, muß ich das wissen­ schaftliche Wissen zur Diskussion stellen, der Überprüfung durch andere zugänglich machen und dieser Überprüfung aussetzen.

46 Vgl. Derbolav, Die erkenntnisanthropologischen Grundlagen und die Genese der Wissenschaft, S. 881 f.

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Kriterien der Wissenschaftlichkeit (Josef Derbolav)

Ad 3) Die wissenschaftliche Fragestellung setzt Gesetzmäßigkei­ ten voraus, etwas Festes, Konstantes auf der Objektseite, das allge­ meine Bestimmung zuläßt, »moderner ausgedrückt: der ›Strom der Erfahrung‹ muß Invarianzen enthalten, Regelmäßigkeiten aufweisen, die ihn einer nomologischen Interpretation zugänglich machen«.47 Aus diesen drei Momenten: Frage, Dialog, Gesetz, erwachsen die entscheidenden Bestimmungsstücke48 der Wissenschaft: – – –

die Frage steht für Lernbereitschaft, in der zugleich die Fähigkeit zur wissenschaftlichen Produktion, zum Entwurf von Erklärun­ gen und Hypothesen steckt, der Dialog, die dialogische Situation der Forschung steht zugleich für Anspruch und Notwendigkeit ihrer Kontrolle, das Gesetz, die Konstanz des Erkenntnisgegenstandes verpflich­ tet zur Konstanz im entsprechenden Erkenntnisverhalten, d.h. zum methodischen Vorgehen der Wissenschaften.

Als Bedingungen der Wissenschaftskonstitution49 lassen sich dem­ entsprechend festhalten: – –



die Hypothese – Wissenschaft lebt vom Entwurf fruchtbarer (informationsreicher) Erklärungen, die sich kontrollieren lassen, die Logik – die Erklärungen müssen in Sätzen formuliert sein, für deren Begriffe semantische Eindeutigkeit und für deren syn­ taktische Verknüpfung logische Widerspruchsfreiheit zu fordern sind und die Kontrolle – die Gewährleistung der Kontrollierbarkeit geschieht im Blick auf Voraussetzungen (Angabe des Gel­ tungsrahmens), Gründe (entsprechende argumentative Recht­ fertigung und Begründung) und Methoden (Reflexion auf die Methode, die zu ihrer planmäßigen Gewinnung und Prü­ fung führt).

In diesem »Verfahren des Fragens, Bestimmens und Kontrollierens von Wissen« sieht Derbolav über allen Wandel, den Wissenschaft 47 Derbolav, Die erkenntnisanthropologischen Grundlagen und die Genese der Wis­ senschaft, S. 881. 48 Vgl. Derbolav, Die erkenntnisanthropologischen Grundlagen und die Genese der Wissenschaft, S. 882. 49 Vgl. Derbolav, Die erkenntnisanthropologischen Grundlagen und die Genese der Wissenschaft, S. 882.

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Die philosophischen Voraussetzungen

im Laufe ihrer Geschichte erfährt hinaus, einen »Grundbestand« von Einsichten ausgesprochen, mit dem bereits im Rahmen der griechischen Philosophie »unser heutiges wissenschaftslogisches und wissenschaftstheoretisches Problembewußtsein« vorweggenommen ist: »Im ›Kratylos‹ (386 d–e) spricht Platon von der beständigen Seinsweise der Dinge (der βέβαιος οὐσία), die ihre objektive Erfas­ sung ermögliche, im ›Menon‹ (86 b–c) von der Lernbegierde des Menschen als dem Unterpfand seines bildungsmäßigen Aufstiegs; und er weist schließlich bei der Erörterung des Hyhothesis-Verfahrens im ›Phaidon‹ (100 a-101 e) indirekt auf die dialogische Grundlage der Wahrheitssuche hin.«50

Mythos und Menschenbild Der Beginn der Philosophie wird gemeinhin ins 6. Jahrhundert vor Christus gesetzt und hier am Auftreten der sogenannten Ionischen Naturphilosophen festgemacht, genauer an einem derselben, nämlich Thales von Milet. Dieser Thales und andere nach ihm haben nach dem Prinzip und Urgrund des Seins (ἀρχή) gefragt und die verschiedensten Antworten auf diese Frage gegeben – Thales selbst soll gelehrt haben, »daß alles aus dem Wasser entstanden sei«51, Anaximenes hat in der Luft den Urgrund des Seins gesehen. Es ist (vor allem von heute aus) leicht zu erkennen, daß all diese Antworten schon deshalb ungenügend sind, weil Fundament und zu Fundierendes auf einer Ebene liegen, weil das Prinzip eben dem Seinsbereich entnommen ist, dem auch das, was es fundieren soll, angehört. Zu recht erscheinen uns die vorsokratischen Problemlösungen naiv. Grund zur Überheblichkeit besteht indes nicht: wenn sich Bio­ logen im Anschluß an ihre Beschäftigung mit den Gehirnen von Fröschen und Salamandern erkenntnistheoretischen Problemstellun­ gen zuwenden und wie etwa Gerhard Roth zur Einsicht gelangen: »Die Wirklichkeit [...] ist ein Konstrukt unseres Gehirns«52, so haben wir hier mitten in der gegenwärtigen Wissenschaft ein solches Denken auf 50 Derbolav, Die erkenntnisanthropologischen Grundlagen und die Genese der Wis­ senschaft, S. 881. 51 Vgl. Capelle, Wilhelm: Die griechische Philosophie. Bd.1. Von Thales bis zum Tode Platons, Berlin 31971, S. 4. 52 Roth, Gerhard: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen, Frankfurt am Main 51997, S. 21.

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Mythos und Menschenbild

vorsokratischem Niveau vor uns, insoferne die gegenstandskonstitu­ tive Voraussetzung alles bewußten Welthabens selbst als Gegenstand in der Welt gedacht wird. Wo das Gehirn als empirisch faßbare materielle Substanz und das »Ich denke« als die transzendentale Form alles Denkens und Wissens identifiziert bzw. auf eine Ebene gestellt werden, sind Gehirn und Bewußtsein miteinander verwechselt, was unweigerlich die Auflösung der erkenntnistheoretischen Fragestel­ lung in Gehirnphysiologie zur Folge hat. Eben deshalb, weil die Antworten, welche die Vorsokratiker auf die Frage nach der arche gegeben haben, naiv anmuten, wird allzu leicht die Radikalität und Originalität der ihnen zugrunde liegenden Frage übersehen. So ungenügend die Antworten sind, so genial ist die Frage gewesen, sie hat zu weiteren Antworten, zu weiteren Fragen und Antworten geführt und solcherart das philosophische Denken, aber auch die Wissenschaften auf den Weg gebracht. Man kann sich heute kaum vorstellen, wie ungeheuerlich eine solche Frage nach dem Urgrund des Seins alleine deshalb gewesen ist, weil sie gegen den Mythos, also unter Absehung von den gegebenen Antworten, gestellt wurde. Im Mythos lagen die Antworten in der Form von Götterge­ schichten bereits vor: Da war Zeus, der oberste Gott, oder Gea, die Urmutter der Erde, Uranos, Oceanos und eine Reihe weiterer Götter, durch die die Entstehung des Seins, der Erde, des Menschen, aber auch geschichtliche Ereignisse erklärt wurden, wie etwa der Trojanische Krieg, der sich im Sinne der Vorgeschichte, die zu diesem Krieg führt und auch der verschiedenen Wendungen, die dieser Krieg nimmt, durch die Götter und ihr Eingreifen bestimmt zeigt. Zur Erinnerung: Eris, die Göttin der Zwietracht, des Kampfes und des Streites, die als einzige unter den Göttern nicht zur Hochzeit von Peleus und Thetis eingeladen wurde, hat, um sich zu rächen, einen goldenen Apfel mit der Aufschrift »Der Schönsten« unter die Gäste geworfen, was den Streit zwischen Hera, Athene und Aphrodite hervorrief, der durch das Urteil des Paris zu Gunsten der Aphrodite entschieden wurde, nachdem sie ihm zusagte, bei der Gewinnung der Helena zu helfen, was den Trojanischen Krieg zur Folge hatte.53 Gegen alle bereits vorhandenen Antworten fragt nun die Philo­ sophie in einer ganz neuen, radikalen Weise nach der arche, und verlangt und gibt Erklärungen, die insoferne als natürlich gelten können, als sie ohne die Einflußnahmen von Göttern auskommen. 53

Vgl. Irmscher, Lexikon der Antike, S. 166.

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Die philosophischen Voraussetzungen

Die Philosophie tritt dem Mythos als Instanz der Aufklärung gegen­ über. Die Philosophen sind es auch, die als erste auf die anthropo­ morphen Züge der griechischen Götterwelt hingewiesen und darauf aufmerksam gemacht haben, daß, was Machtstreben, Konkurrenz, Rachsucht, Neid, Haß, Liebschaften, Eifersüchteleien und anderes mehr betrifft, der hehre Olymp ein nur allzu deutliches Spiegelbild menschlich-allzumenschlicher Verhaltensweisen ist. Xenophanes hat in diesem Sinn lapidar erklärt: Wenn die Rinder Götter hätten, würden sie aussehen wie Rinder und sich auch so verhalten: »Wenn Kühe, Pferde oder Löwen Hände hätten und damit malen und Werke wie die Menschen schaffen könnten, dann würden die Pferde pferde-, die Kühe kuhähnliche Götterbilder malen und solche Gestalten schaffen, wie sie selber haben.«54 Von dem Weltbild, für das der Begriff Mythos steht, können wir uns nur schwer eine Vorstellung machen, weil wir nicht mehr oder doch nur in künstlicher Naivität uns in die Geschlossenheit und Einheit desselben zurückversetzen können. Mit der Philosophie, mit der philosophischen Fragestellung tritt die Menschheit aus dem Mythos heraus, insoferne eben nicht mehr Göttergeschichten als Antwort ausreichen, sondern nach Gründen gesucht wird, die sich vor der kritischen Instanz der Vernunft zu rechtfertigen vermögen. Der Übergang vom Mythos zum Logos55 geschieht dabei nicht schlagar­ tig, sondern allmählich, weshalb wir auch noch in der griechischen Philosophie, gerade bei Platon, Göttergeschichten, also Mythen, spe­ zifisch eingesetzt finden, und zwar dort, wo ein Problem auftritt, zu dessen Formulierung die zur Verfügung stehenden begrifflichen Mittel nicht ausreichen. Im Gegensatz dazu vermag die Gegenwart im Mythos nur noch etwas Negatives zu sehen. Mythos ist geradezu ein Schimpfwort geworden, das vor allem in der Gegenüberstellung zur Wissenschaft für Unwissenschaftlichkeit und Irrationalität steht. Es ist nicht zu leugnen, daß es auch heute eine Reihe von »Mythen« gibt, auf die diese Kennzeichnung zutrifft, die meisten derselben werden dabei von der Wissenschaft selbst produziert, dort wo sie sich im Rahmen welt­ anschaulicher Ausflüge ihrer methodischen Grenzen nicht bewußt Xenophanes von Kolophon: Fragmente, in: Capelle, Wilhelm (Hg.): Die Vorsokra­ tiker. Die Fragmente und Quellenberichte, Stuttgart 1968, S. 121, 25 fr. 15. 55 Vgl. Nestle, Wilhelm: Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, Stuttgart 21975. 54

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Der Prometheusmythos

ist.56 Diesen Mythen gegenüber hat die Philosophie selbstverständ­ lich die Aufgabe der Aufklärung und Kritik, wir dürfen aber nicht den Fehler machen, diese uns geläufige negative Bedeutung vom Mythos auf den klassischen Mythos zu übertragen. Es ist falsch, im Mythos nichts anderes zu sehen als unkritische Vorurteile und nicht hinter­ fragte Selbstverständlichkeitsüberzeugungen. Wir müssen, wenn wir ihn begreifen wollen, uns immer vor Augen halten, daß der Mythos nicht irgendeine beliebige Geschichte ist, sondern wie Salustios57 das trefflich ausgedrückt hat: »Der Mythos ist eine Geschichte, die nie geschah und dennoch immer ist.«58 Dort, wo wir sie nur als Märchen betrachten, die für aufgeklärte Menschen keinerlei Bedeutung mehr haben, sind die Göttergeschichten gründlich mißverstanden, weil wir dann nur den Teil der Geschichte sehen, der nie geschah, nicht aber auch den, der immer ist.

Der Prometheusmythos und sein Bezug zur modernen Philosophischen Anthropologie Daß der Mythos nicht bloß ein Märchen ist und in welcher Weise sich mit Blick auf ihn der zum Nachdenken auffordernde Satz des Salustios verstehen läßt, will ich im Folgenden an einem durch einen emi­ nenten Bezug zur anthropologischen Problematik gekennzeichneten Mythos, dem Prometheusmythos zeigen. Als literarische Quelle grie­ chischer Mythologie kann neben den Urtexten59 die Mythensamm­ lung des Religionswissenschaftlers Karl Kerényi empfohlen werden, sie unterscheidet sich von entsprechenden Anthologien, in denen die Göttergeschichten nach pädagogischen Gesichtspunkten ausgewählt oder gar umgeschrieben werden darin, daß sie sich an »Erwachsene Vgl. dazu Pietschmann / Schwarz, Mythos Urknall. Der Salustios (Pseudo-Salust), von dem hier die Rede ist, ist 370 nach Christus gestorben, war Neuplatoniker und ein Freund des Kaisers Julian (4. Jh. nach Christus). Nähere Angaben zu Person und Werk, siehe Großer Pauly, Bd. 2, Reihe 2, Halbband I A 2, S. 1960 – 1970. Werk: περὶ θεῶν καὶ κόσμου. 58 Salustios: Concerning the Goods and the Universe, griech.-engl., hrsg. von Arthur Darby Nock, Cambridge 1926. »All this did not happen at any one time but always is so: the mind sees the hole process at once words tell of part first part second.« Salustios § IV, 8.14, S. 9: »ταῦτα δὲ ἐγένετο μὲν οὐδέποτε, ἔστι δὲ ἀεί«. 59 Was den Prometheusmythos betrifft, zum Beispiel: Aischylos: Der gefesselte Prometheus, übers. von Walter Kraus, Stuttgart 1970. 56

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mit jedwelchem Interesse«60 wendet, in der Zusammenfassung des Stoffes, soweit er nach den neuesten Forschungen wissenschaftlich belegt ist, aber auch dem wissenschaftlich interessierten Spezialisten in Religionsgeschichte, Ethnologie und anderen Disziplinen genügen kann. Kerényi beschränkt sich auf die Wiedergabe der antiken Erzäh­ lungen und verzichtet auf moderne Erklärungen, wie psychologische oder theologische Deutungen.61 Als Methode der Darstellung wählt er nicht die wissenschaftliche Abhandlung, sondern die Erzählung, gemäß der Einsicht, daß die Erzählung das ursprüngliche Medium der Mythologie ist.62 Die Erzählungen folgen, wenn möglich, wört­ lich den Urtexten, verschiedene Versionen, d.h. Variationen werden nebeneinander gestellt, auch das entspricht der Einsicht, daß über jedes mythologische Thema zu jeder Zeit mehrere Erzählungen nebeneinander liefen, bedingt durch Ort und Zeit, aber auch die Kunst des Erzählenden. »Hinter den Verschiedenheiten ist aber doch etwas Gemeinsames zu erkennen: eine Geschichte, die auf vielerlei Weise erzählt werden konnte und doch dieselbe blieb.« Was erzählt wurde, war »ein sich gestaltender, sich entfaltender und in allen Variationen unverkennbar bleibender Grundtext.«63 Ich möchte an die Nacherzählung des Prometheusmythos anschließen, die wir bei Platon im Dialog Protagoras64 finden. In diesem Dialog geht es um das Problem der Lehrbarkeit der Tugend, der berühmte Sophist vertritt als Gesprächspartner des Sokrates, gegen diesen, die These, daß die Tugend lehrbar sei und wird von den Zuhörern dieses Disputs aufgefordert, seine These zu erläutern. Protagoras kommt dem nach, stellt aber die Zuhörer vor die Wahl, ob er das im Rahmen einer Abhandlung oder eines Märchens tun soll und da die Zuhörer diese Entscheidung ihm selber überlassen, wählt er die Form der Erzählung, die Form des Mythos. »Kannst du uns also deutlicher zeigen, daß die Tugend lehrbar ist, so wolle es nicht vorenthalten, sondern zeige es. – Gut, Sokrates, sagte er, ich will es auch nicht vorenthalten. Aber wie soll ich es euch zeigen: indem ich ein Märchen erzähle, wie ältere wohl jüngeren zu tun 60 Kerényi, Karl: Die Mythologie der Griechen, Band I: Die Götter- und Menschheits­ geschichten, München 1966, S. 7. 61 Vgl. Kerényi, Die Mythologie der Griechen, S. 8 f. 62 Vgl. Kerényi, Die Mythologie der Griechen, S. 9. 63 Kerényi, Die Mythologie der Griechen, S. 12 f. 64 Platon: Protagoras, in: Eigler, Gunther (Hg.): Werke in acht Bänden, gr.-dt., übers. von Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 1977.

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pflegen, oder indem ich eine Abhandlung vortrage? – Viele nun der Umhersitzenden sagten, er möchte es vortragen, auf welche Weise er selbst am liebsten wollte. – So dünkt es mich denn anmutiger, sagte er, euch ein Märchen zu erzählen.«65 Diese Stelle ist mit Blick auf den Übergang vom Mythos zum Logos von Interesse, insoferne sie zeigt, daß zwischen einer logischen Argumentation und einer mythologischen Erzählung bereits unter­ schieden wird, beides in den Augen der Zuhörer dieses Gesprächs aber noch gleichrangig ist. Eine gegenwärtige Zuhörerschaft würde selbstverständlich auf einer logischen Begründung bestehen, weil für Diskussionsteilnehmer heute der Vortrag eines Märchens keinerlei Überzeugungskraft mehr hätte. Für Protagoras selbst gibt der ästheti­ sche Aspekt, die Anmut einer Erzählung den Ausschlag. »Es war einst eine Zeit, wo es Götter zwar gab, sterbliche Geschlechter aber gab es noch nicht; nachdem aber auch für diese die vorherbestimmte Zeit ihrer Erzeugung gekommen war, bildeten die Götter sie innerhalb der Erde aus Erde und Feuer, auch das hinzumengend, was von Erde und Feuer gemengt ist. Und als sie sie nun ans Licht bringen sollten, übertrugen sie dem Prometheus und Epimetheus, sie auszustatten und die Kräfte unter sie, wie es jedem zukomme, zu verteilen. Vom Prometheus aber erbat sich Epimetheus, er wolle verteilen, und, sagte er, wenn ich ausgeteilt, so komme du es zu besichtigen. Und so, nachdem er ihn beredet, verteilte er.«66 Die in diesem Mythos geschilderte Ausgangssituation ist die, daß es zunächst weder Menschen noch Tiere gibt und nach deren Erschaffung die beiden Titanen Prometheus und Epimetheus von den Göttern mit der Ausstattung derselben beauftragt werden. Epime­ theus (der »erst nachträglich Lernende«, »Unbedachte«) überredet Prometheus (der »zum voraus Wissende«, »Vorsorgende«)67, ihm diese Aufgabe zu überlassen und geht ans Werk. »Bei der Verteilung nun verlieh er einigen Stärke ohne Schnel­ ligkeit, die Schwächeren aber begabte er mit Schnelligkeit; einige bewaffnete er, anderen, denen er eine wehrlose Natur gegeben, ersann er eine andere Kraft zur Rettung. Welche er nämlich in Kleinheit gehüllt hatte, denen verlieh er geflügelte Flucht oder unterirdische Behausung, welche aber zu bedeutender Größe ausgedehnt, die ret­ 65 66 67

Platon, Protagoras, 320 b 7 – 320 c 8. Platon, Protagoras, 320 c 9 – 320 d 10. Vgl. Kerényi, Die Mythologie der Griechen, S. 170.

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tete er eben dadurch, und so auch verteilte er alles übrige ausgleichend. Dies aber ersann er so aus Vorsorge, daß nicht eine Gattung gänzlich verschwände. Als er ihnen nun des Wechselverderbens Entfliehungen zustande gebracht, begann er ihnen auch gegen die Zeiten vom Zeus leichte Gewöhnung zu ersinnen durch Bekleidung mit dichten Haaren und starken Fellen, hinreichend um die Kälte, aber auch vermögend, die Hitze abzuhalten, und außerdem zugleich jedem, wenn es zur Ruhe ging, zur eigentümlichen und angewachsenen Lagerbedeckung dienend. Und unter den Füßen versah er einige mit Hufen und Klauen, andere mit Haaren und starken blutlosen Häuten. Hiernächst wies er dem einen diese, dem anderen jene Nahrung an, dem einen aus der Erde die Kräuter, dem anderen von den Bäumen die Früchte, einigen auch verordnete er zur Nahrung anderer Tiere Fraß. Und diesen letz­ teren verlieh er dürftige Zeugung, dagegen den von ihnen verzehrten eine vielerzeugende Kraft dem Geschlecht zur Erhaltung.«68 Die Lebewesen erfahren durch Epimetheus ihre Ausstattung und diese betrifft die körperliche Beschaffenheit, Fähigkeiten, Bewaff­ nung, Wohnung, Nahrung usw. Die Zuteilung jener Spezifika, die Kennzeichen der jeweiligen Art sind, erfolgt dabei mit Blick auf das Naturganze und der zentrale Gedanke dieser Verteilung ist die Ausstattung der einzelnen Arten unter dem Gesichtspunkt wechsel­ seitigen Überlebens, jede Art hat das, was sie zum Überleben braucht, aber auch nur so viel davon, daß sie das Überleben anderer Arten nicht gefährden kann. So können sich die einzelnen Arten neben- bzw. gegeneinander behaupten, auch wenn sie z.B. als Raub- und Beutetier aufeinander bezogen sind. Die moderne Wissenschaft spricht hier von homöostatischen Regelkreisen: bei Eulen und Mäusen sind Vermeh­ rung und Verminderung in diesem Sinn wechselseitig geregelt, um beiden Arten das Überleben zu sichern. Je mehr Mäuse es gibt, desto mehr Eulen kann es geben, wenn es mehr Eulen gibt, werden die Mäuse weniger, was zu einem verminderten Nahrungsangebot und damit zu weniger Eulen führt, usw. Soweit scheint Epimetheus nichts falsch gemacht zu haben. »Wie aber Epimetheus doch nicht ganz weise war, hatte er unver­ merkt schon alle Kräfte aufgewendet für die unvernünftigen Tiere; übrig also war ihm noch unbegabt das Geschlecht der Menschen, und er war wieder ratlos, was er diesem tun sollte. In dieser Ratlosigkeit nun kommt ihm Prometheus, die Verteilung zu beschauen, und sieht 68

Platon, Protagoras, 320 d 10 – 321 b 9.

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die übrigen Tiere zwar in allen Stücken weislich bedacht, den Men­ schen aber nackt, unbeschuht, unbedeckt, unbewaffnet, und schon war der bestimmte Tag vorhanden, an welchem auch der Mensch hervorgehen sollte aus der Erde an das Licht. Gleichermaßen also der Verlegenheit unterliegend, welcherlei Rettung er dem Menschen noch ausfände, stiehlt Prometheus die kunstreiche Weisheit des Hephaistos und der Athene, nebst dem Feuer – denn unmöglich war, daß sie einem ohne Feuer hätte können angehörig sein oder nützlich – und so schenkt er sie dem Menschen.«69 Was des »Wechselverderbens Entfliehungen« betrifft, verfährt Epimetheus bei der Ausstattung der Tiere wohlweislich, da er aber doch nicht so weise ist, wie er es seiner Selbsteinschätzung nach sein sollte, vergißt er bei dieser Ausstattung den Menschen, der sich, nachdem alles verteilt ist, »nackt, unbeschuht, unbedeckt und unbe­ waffnet« zeigt. Der dem ratlosen Epimetheus zu Hilfe eilende und auf Abhilfe sinnende Prometheus rettet das Menschengeschlecht, indem er dem Hephaistos und der Athene Feuer und Weisheit stiehlt und sie den Menschen gibt. Dem Menschen ist mit Feuer und Weisheit, also mit Kultur, eine Macht verfügbar geworden, welche die Götter sich selbst vorbehalten wollten, Prometheus ereilt für Raub und Frevel die Strafe des Zeus, der ihm, »am östlichen Ende der Welt« (Kaukasus) an einen Felsen geschmiedet, ein schmerzhaftes Gefängnis bereitet. Die Erzählung beginnt wie alle Geschichten: »Es war einmal ...«, und soferne Halbgötter, Götter und Titanen in ihr auftreten, ist es nur zu verständlich, wenn wir zunächst an ein Märchen denken. Wir mer­ ken aber auch recht schnell, daß das, worum es hier eigentlich geht, der Unterschied von Mensch und Tier und die besondere Weltstellung des Menschen ist. Der Mythos gibt eine Erzählung, deren Bedeutung nicht im geschichtlichen Aspekt liegt, wir können mit Salustios sagen: diese Geschichte ist nie geschehen, es ist kein Bericht über ein Ereignis, das in der Vergangenheit, auch nicht in einer sehr sehr fernen Vergan­ genheit, stattgefunden hat, sondern in der Geschichte wird zu zeigen versucht, was die Grundbefindlichkeit des Menschen ist, was den Menschen als Menschen kennzeichnet. Und deshalb können wir auch von dieser Geschichte sagen, daß sie dennoch immer ist, obgleich sie nie geschah. Es sind hier Aussagen über das Wesen des Menschen nicht in einem historischen, sondern in einem überzeitlichen Sinn 69

Platon, Protagoras, 321 b 10 – 321 d 5.

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getroffen, also etwas, was den Menschen zu allen Zeiten ausmacht und charakterisiert. Das, was im Prometheusmythos vom Wesen des Menschen inhaltlich gesagt ist, ist der Umstand, daß der Mensch, was seine natürliche Ausstattung betrifft, nicht in der Weise des Tieres in das Ganze der Natur eingeordnet ist, daß ihm keine den Tieren vergleichbare Artbestimmtheit (Spezialisierung) zukommt oder anders ausgedrückt, daß der Mensch nicht von einer Art ist, daß er die einzige Art ist, die keine ist. Daß wir die Einsichten des Mythos nicht auf die geschichtliche Situation einschränken dürfen, in der er aufgetreten ist, zeigt sich mit Bezug auf die inzwischen, auch was das Wissen des Menschen über sich selbst betrifft, ein gutes Stück weiter gekommene, moderne Philosophische Anthropologie unter anderem darin, daß einer ihrer Vertreter, Arnold Gehlen, die im Prometheusmythos beschriebene Situation des Menschen unter dem Begriff »Mängelwesen«70 zum Ausgangspunkt und zum zentralen Angelpunkt seiner Lehre vom Menschen gemacht hat. Bei Gehlen begegnen uns mehr als zwei Jahrtausende danach die auf der Grundlage der wissenschaftlichen Ergebnisse des 20. Jahrhunderts rekonstruierten entscheidenden Ein­ sichten des Mythos in beinahe identischen Formulierungen: »Morphologisch ist nämlich der Mensch im Gegensatz zu allen höheren Säugern hauptsächlich durch Mängel bestimmt […] Es fehlt das Haarkleid [»nackt«] und damit der natürliche Witterungsschutz [»unbeschuht«, »unbedeckt«]; es fehlen natürliche Angriffsorgane [»unbewaffnet«], aber auch eine zur Flucht geeignete Körperbil­ dung«.71 Der Prometheusmythos ist mit dem vorgetragenen Teil nicht zu Ende: »Die zum Leben nötige Wissenschaft also erhielt der Mensch auf diese Weise, die bürgerliche aber hatte er nicht. Denn diese war beim Zeus, und dem Prometheus stand in die Feste, die Behausung des Zeus, einzugehen nicht mehr frei, auch waren furchtbar die Wachen des Zeus.«72 Die bisherige Ausstattung des Menschen reicht nicht aus, das Überleben der Menschen zu sichern. Die anfangs zerstreut lebenden Menschen können sich nicht gegen die wilden Tiere durchsetzen, es fehlt ihnen die kriegerische Kunst, die ein Teil der politischen 70 Vgl. Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Frankfurt am Main 101974, S. 20. 71 Gehlen, Der Mensch, S. 33. 72 Platon, Protagoras, 321 c 4 – 322 a 2.

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ist und auch ihr Zusammenschluß, ihr Zusammenleben in Städten scheitert am nämlichen Mangel der bürgerlichen (politischen) Kunst. Erst als Zeus, der nunmehr befürchten muß, daß das Geschlecht der Menschen untergeht, ihnen Hermes mit Scham und Recht (αἰδώς καὶ δίκη) schickt, ist ihr Überleben gesichert. Auf Wunsch des Zeus werden dabei Recht und Scham nicht so an die Menschen verteilt wie andere Künste, wo, wie im Fall der Medizin, ein Kundiger vielen Unkundigen gegenübersteht, sondern so, daß alle Menschen daran teilhaben, weil ohne die bürgerliche Tugend kein Staat bestehen kann. Das ist der Grund dafür, daß in Fragen der Gerechtigkeit alle mitreden dürfen, während in Fachdiskussionen nicht jeder als Ratgeber akzep­ tiert wird. Hierin liegt für Protagoras die Antwort auf die Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend; und daß auch die Menschen die Tugend für lehrbar und durch Übung erreichbar halten, darauf sind Vorwurf und Strafe, wie sie den Nicht-Tugendhaften treffen, ein Hinweis. Nur dem, der ein Übel selbst verschuldet hat, nicht dem, dem ein solches von Natur aus zukommt oder durch Zufall trifft, wird ein Vorwurf gemacht, also nicht, daß man häßlich oder schwach ist, sondern daß man ungerecht ist, wird einem vorgeworfen, und bestraft wird man nicht um geschehenes Unrecht ungeschehen zu machen, sondern um in Zukunft solches zu verhindern, auch hier geht man davon aus, daß man lernen kann, sich anders zu verhalten. In diesem Teil nimmt der Prometheusmythos die Einsichten moderner Anthropologie nicht nur vorweg, er geht sogar über sie hinaus, denn hier ist ausgesprochen, daß der Mensch zwar ein Kul­ turwesen von Natur aus ist, aber nur als soziales resp. politisches Wesen existieren kann. Damit ist die mangelhafte natürliche Ausstat­ tung gegenüber den Tieren nicht nur ausgeglichen, sondern jetzt übertrifft der Mensch jegliches der Tiere und alle zusammen bei weitem, damit ist aber auch die Möglichkeit einer Begrenzung dieses Übertreffens gegeben. Das kennzeichnet die Situation, in der der Mensch sich heute befindet, wieviel Intelligenz wir bei der einen oder anderen Tierart auch entdecken mögen – den Walen, Schimpansen, Berggorillas oder Delphinen – wie immer die Lieblingsspielzeuge der Verhaltensfor­ schung jeweils heißen – sie selbst haben noch nichts gefunden, um sich gegen die Existenzbedrohung durch den Menschen einigermaßen erfolgreich zur Wehr zu setzen, sondern es ist der Mensch selbst, der aufgefordert ist, seine Machtmöglichkeiten gegenüber den Tieren einzuschränken, um sie z.B. vor dem Aussterben zu bewahren.

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Ein weiterer nicht unwesentlicher Teil des Prometheus-Mythos wird bei Platon nicht erwähnt, da er keinen Zusammenhang mit der dort behandelten Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend hat. Prometheus ist es auch, der den Menschen das Vorwegwissen um ihren Tod nimmt. Die ursprüngliche Situation der Menschen ist die, daß sie nicht nur wissen, daß sie sterben müssen, so wie wir alle das wissen, sondern sie kennen auch den genauen Zeitpunkt ihres Todes. Für sie gilt, anders als für uns: Mors certa, hora certa. Und dieses Wissen (dieses Vorherwissen) lastet so schwer auf ihnen, daß sie nur in dumpfer Angst vor ihrem Ende dahinsiechen und sich zu keiner sinnvollen Tätigkeit aufraffen können. Prometheus nimmt den Menschen dieses Vorwegwissen und gibt ihnen an seiner Stelle die blinde Hoffnung, und dieser Schleier des Nichtwissens befreit die Menschen aus ihrer untätigen Apathie. Erst auf der Grundlage dieser blinden Hoffnung ist dem Menschen eine sinnerfüllte Lebens­ führung möglich. Erst jetzt erwachen im Menschen Lebensmut und Lebensfreude, auf deren Grundlage so etwas wie Kulturentwicklung möglich ist. Nichtwissen und Hoffnung sind aufeinander bezogen, die Hoffnung wird deshalb blind genannt, weil man, wenn man hofft, nicht weiß, wie etwas ausgehen wird, und hoffen kann man auch noch im verzweifeltsten Fall. Dieser Punkt der blinden Hoffnung, die sich von einer falschen Hoffnung unterscheidet, bei der Wissen im Spiel ist, aber ignoriert wird, erweist sich als mindestens so bedeutsam wie der der Kulturfähigkeit, sofern hier eine der Voraussetzungen der Kulturentwicklung angesprochen wird, ist es wohl der entscheiden­ dere Gesichtspunkt. Auch das klingt zunächst märchenhaft, aber auch das hat einen aktuellen Bezug. Wir sind heute dabei, dieses Vorwegwissen um den Tod und um andere Übel für gewisse Bereiche wiederzuerlangen, und damit die lebensermöglichende blinde Hoffnung aufzuheben. Das sogenannte Genetic screening, das genetische Durchtesten des Menschen wird ja unter anderem mit der Zielsetzung betrieben, die genetische Diagnose von Erbkrankheiten zu ermöglichen. Man kann dann jemandem mit Sicherheit sagen, daß er diese oder jene Erbkrankheit hat, was sich, je nach dem, um welche Krankheit es sich handelt, mit dem Wissen um eine in bestimmter Weise verkürzte Lebenserwartung verbinden kann. Was nun aber dieses Vorwegwis­ sen um Leid und Tod in so bestimmter Weise für einen Betroffenen schon am Beginn des Lebens bedeutet, läßt sich sowenig vorwegneh­

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men, sowenig sich vorstellen läßt, wie mit der Hypothek eines solchen Wissens eine sinnvolle Lebensplanung möglich sein soll. Überhaupt werden durch die Gentechnologie und die neuen reproduktionsmedizinischen Möglichkeiten menschliches Wissen und Nicht-Wissen in einer ganz unüblichen Weise vertauscht. Was wir normalerweise wissen, wer nämlich unsere Eltern sind, das ist z.B. im Fall der anonymen Samenspende nicht mehr bekannt, und umgekehrt werden wir von Erbkrankheiten wissen, von denen wir im Normalfall nichts wissen. Auch diese Zusammenhänge machen deutlich, daß es beim Mythos um mehr geht als um unverbindli­ che Geschichten über den Menschen und lassen den Hinweis, den angesprochenen Problemkomplex im Zusammenhang mit diesen oft vernachlässigten Aspekten des Prometheusmythos zu durchdenken, sinnvoll erscheinen. Wir haben festgehalten, daß die Philosophie eine Instanz der Aufklärung gegenüber dem Mythos ist. Das Verhältnis von Philo­ sophie und Mythos bleibt darin so lange mißverständlich, als die Leistung dieser Aufklärung nicht näher bestimmt ist. Philosophische Kritik am Mythos hat nicht den Charakter einer bloßen Negation desselben. Philosophie übersteigt den Mythos in seiner Bildhaftigkeit auf den Gedanken hin, sie bleibt nicht beim vordergründig Bildhaften stehen, sondern fragt, was an bleibenden Einsichten in bildlicher Einkleidung zum Ausdruck kommt. Man kann auch sagen, der Phi­ losophie ist es nicht um die Negation, sondern um die Aufhebung des Mythos zu tun, wenn wir den Begriff im Sinne der von Hegel herausgestellten Differenzierungen nehmen.73 Der Begriff Aufheben vereinigt in sich unterschiedliche, ja gegensätzliche Bedeutungen: – – –

auf ein höheres Niveau bringen (einen Stein vom Boden aufhe­ ben) aufbewahren, etwas sorgfältig aufheben, gut bewahren negativ: hinwegräumen, beseitigen (ein Gesetz, eine gesetzliche Bestimmung wird aufgehoben, sie gilt nicht mehr)

Wenn wir diesen Doppelcharakter von Bewahren und Negieren, worin »der über das bloß verständige Entweder – Oder hinausschrei­

73 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: System der Philosophie. Erster Teil. Die Logik, in: Glockner, Hermann (Hg.): Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, Stuttgart – Bad Cannstatt 1964 ff., Bd. 8, Fürsichsein § 96, S. 229.

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tende spekulative Geist unserer Sprache zu erkennen«74 ist mitden­ ken, können wir sagen, der Philosophie geht es um ein Aufheben des Mythos.

Philosophie Im Rahmen der folgenden Ausführungen soll versucht werden, einen Vorbegriff von Philosophie zu entwickeln, wobei sich der Begriff Vorbegriff als Hinweis auf die Vorläufigkeit, die Unvollständigkeit und die Mißverständlichkeit des Gesagten versteht. Wir stellen die Frage, was die Philosophie ist und wie sich diese von anderen wissenschaftlichen und kulturellen Leistungen des Menschen unterscheidet und stehen damit bereits vor einer ersten Schwierigkeit – es ist nicht einfach zu bestimmen, was Philosophie ist, welches ihre Aufgaben und was ihre Leistungen sind, weil all das selbst ein philosophisches Problem ist. Bereits hier wird ein erster Unterschied von Philosophie und Wissenschaft sichtbar, in den Wissenschaften ist der Anspruch des Faches nicht in derselben Weise in Frage und zur Diskussion gestellt, letzteres schon deshalb, weil in den Wissenschaften alle Reflexionen über das jeweilige Selbstver­ ständnis einer eigenen Disziplin, nämlich der Wissenschaftstheorie, die eine philosophische Disziplin ist, überlassen werden. Daß sich etwa die Biologie mit Lebenserscheinungen beschäftigt ist in ihr nicht kontrovers, sondern die gemeinsame, außer Streit gestellte Voraussetzung ihres methodischen Vorgehens. Karl Jaspers hat die besondere Situation, in der die Philosophie diesbezüglich steht, zutreffend beschrieben: »Was Philosophie sei und was sie wert sei, ist umstritten. Man erwartet von ihr außerordentliche Aufschlüsse oder läßt sie als gegenstandsloses Denken gleichgültig beiseite. Man sieht sie mit Scheu als das bedeutende Bemühen unge­ wöhnlicher Menschen oder verachtet sie als überflüssiges Grübeln von Träumern. Man hält sie für eine Sache, die jedermann angeht und daher im Grunde einfach und verstehbar sein müßte, oder man hält sie für so schwierig, daß es hoffnungslos sei, sich mit ihr zu

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beschäftigen. Was unter dem Namen der Philosophie auftritt, liefert in der Tat Beispiele für so entgegengesetzte Beurteilungen.«75 Im Anschluß an dieses Zitat läßt sich, den letzten Satz paraphra­ sierend, sagen: was unter dem Namen der Philosophie auftritt, ist keineswegs auch alles Philosophie. Mit diesem Begriff wird nicht anders als mit den Wörtern ›Vernunft‹, ›Natur‹ etc. viel Mißbrauch getrieben, ein solcher Mißbrauch liegt vor, wo man jedes einigerma­ ßen gehobene Kenner-, Könner- oder Liebhabertum als Philosophie bezeichnet. Sie ist dann im Sport76 ebenso zuhause wie in der Backstube77 – der mehr oder weniger originelle Ausspruch eines prominenten Kochs wird zur Küchen- und die Werbestrategie eines Großkonzerns zur Verkaufsphilosophie, Manager, Finanzstrategen, Börsengurus und viele andere mehr – die Beispiele ließen sich beliebig vermehren – haben dann ihre eigene »Philosophie«, und VIP´s und Adabeis sind ohnehin alle »Philosophen«. Solchem semantischen Unsinn gegenüber gilt es sich klar zu machen, daß die Philosophie eine Wissenschaft ist, wenn auch eine Wissenschaft, die sich von dem Typus von Wissenschaft unterscheidet, der heute den alleinigen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben zu können glaubt, näm­ lich Wissenschaft im Sinne neuzeitlicher Naturwissenschaft. Mit diesem Hinweis ist unser Problem freilich nicht gelöst, denn wie all die anderen Fragen und Probleme wird auch das der Wissenschaftlichkeit der Philosophie, ihr methodischer Charakter, kontrovers diskutiert. Ein erster Blick in die Geschichte der Philoso­ phie scheint das eindrucksvoll zu bestätigen. Rein äußerlich betrachtet erscheint dieselbe, nach einem Ausdruck Hegels, als eine »Gallerie [sic!] von Meinungen«78, die nacheinander auftreten, einander wider­ sprechen und eine Gemeinsamkeit höchstens darin aufweisen, daß jede gegenüber allen anderen recht zu haben meint. Jaspers hat darauf verwiesen, daß manch einer in dieser Situation verzweifelt und die Philosophie oder zumindest jede weitere Beschäftigung mit ihr für Jaspers, Karl: Einführung in die Philosophie, München 91971, S. 9. »Zwei konträre Philosophien im Strafraumduell« (»Die Presse«, 27. September 2017, Sportteil). 77 »Meine Zuckerbäckerphilosophie …« auf einem Werbeprospekt für: »Das große Buch der österreichischen Mehlspeisen« von Josef Zauner (Chef der berühmten Konditorei Zauner in Bad Ischl). 78 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philo­ sophie, in: Glockner, Hermann (Hg.): Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, Stuttgart – Bad Cannstatt 1964 ff., Bd. 17, S. 40. 75

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sinnlos hält, wie das wohl auch auf jenen Literaten79 zutrifft, der resignierend gemeint hat, Philosophie sei der ständige Mißbrauch einer eigens dafür erfundenen Terminologie. Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma, aus dieser Unver­ bindlichkeit und Beliebigkeit, die das Gegenteil von Wissenschaftlich­ keit ist? Hegel hat darauf hingewiesen, wenn er sagt, daß mit ihr der am schnellsten fertig ist, der sich erst gar nicht auf sie einläßt: »Es ist um so populärer auf die Philosophie loszuziehen, mit je geringe­ rer Einsicht und Gründlichkeit es geschieht«.80 Anders gesagt: Nur philosophierend ist auch etwas über die Philosophie auszumachen. Wir müssen uns auf sie einlassen, wenn wir wissen wollen, was Phi­ losophie ist, soferne eben bereits Aufgabe und Sinn der Philosophie selbst ein philosophisches Problem sind. Der angeblich überlegene Skeptiker unterhält zur Philosophie eine bloß »platonische« Bezie­ hung, indem er eine gegen die andere, ihr widersprechende ausspielt, tritt er ihr nicht nahe. Wer Mitspieler und nicht nur Zuschauer sein will, muß den jeweiligen Argumentationen und Begründungen nachfragen und beurteilen, was er selbst für wahr halten kann. Sapere aude! – der Wahlspruch der Aufklärung, wie ihn Kant formuliert hat: »Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«81, ist der Grundsatz auch einer Beschäftigung mit der Philosophie und der einzige Weg, der es ermöglicht, zu erfahren was sie ist. So mag es sich in unserem Zusammenhang als zweckmäßig erweisen, von Kant auszugehen: Kant, der die Philosophie durch eine Reihe substanzieller Werke bereichert und mit seinen Einsichten revolutionierend in die philosophische Diskussion eingegriffen hat, kommt im Rahmen der Philosophiegeschichte eine herausragende Stellung zu: »Denn Kant ist zugleich ein Ende und ein Anfang: das Ende des ›dogmatischen‹ Philosophierens im Sinne eines ungeprüften Vertrauens oder Mißtrauens in die menschlichen Erkenntniskräfte, und der Anfang der ›kritischen‹ Art des Denkens als der jeder weiteren Untersuchung vorausgehenden Besinnung auf die Natur und die Grenzen des menschlichen Geistes. Kant hat so die Philosophie im Heinrich Heine. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: System der Philosophie. Erster Teil. Die Logik, in: Glockner, Hermann (Hg.): Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, Stuttgart – Bad Cannstatt 1964 ff., Bd. 8, S. 25. 81 Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Königlich Preu­ ßische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Kant´s gesammelte Schriften, Berlin 1904 ff., Bd. 8, S. 35. 79

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wahrsten Sinne sehend gemacht, indem er sie lehrte, jeden ihrer Schritte mit dem deutlichen Bewußtsein ihres Tuns zu begleiten und keine noch so bestechende Ansicht gelten zu lassen, welche nicht ihre legitime Grundlage vor dem höchsten Forum der kritischen Vernunft auszuweisen vermag. Kant bedeutet so vor allem einen Wendepunkt in der Methodik philosophischen Denkens.«82 Gerade diese kritische Methode Kants markiert einen Meilen­ stein auf dem Weg zur Wissenschaftlichkeit der Philosophie und macht Kant zu einem die philosophischen Auseinandersetzungen der Gegenwart in so gut wie allen Lagern mitbestimmenden Klassiker. Mit ihm tritt eine neue Art des Philosophierens in die Geschichte, die sich von der, wie sie Kant nennt, dogmatischen Art dadurch unter­ scheidet, daß keine Behauptung aufgestellt, kein Beweis zugelassen und keine Lehrmeinung gelten gelassen wird, ohne daß diese zuvor auf ihre logischen Grundlagen und deren Tragfähigkeit geprüft wird.83 Das mag heute selbstverständlich erscheinen, die Geschichte der Philosophie aber zeigt diese nicht schon mit ihrem ersten Auftreten in ihrer endgültigen Gestalt, sie durchläuft vielmehr eine Entwicklung, die durch mannigfache Veränderungen in thematischer und methodi­ scher Hinsicht gekennzeichnet ist. So wie sich aus ihr im Laufe der Zeit die anderen Wissenschaften abgespalten haben und zu selbständigen Forschungsrichtungen wurden, so hat auch die Philosophie selbst erst allmählich gelernt, »den strengen Maßstab der Wissenschaftlichkeit an ihre Ergebnisse anzulegen.«84 Während sie bei Aristoteles noch als Liebe zur Weisheit bestimmt wird (der wörtlichen Übersetzung gemäß: φιλία – Liebe, eigentlich Freundschaft und σοφία – Weisheit) begreift sich die Philosophie im Verlauf ihrer Entwicklung immer mehr als Wissenschaft. Kants Leistung im Rahmen der Philosophiegeschichte ist in methodischer Hinsicht mit dem Einschnitt vergleichbar, für den in thematischer Hinsicht Sokrates und die anthropologische Wende steht. Beide Wendepunkte haben in den die Vorgänger pauschal distanzierenden Begriffen vorsokratisch und vorkritisch ihren Aus­ druck gefunden. Das in ihrem Sinne geforderte Höchstmaß an Beson­ nenheit, Voraussetzungslosigkeit und Verantwortlichkeit in allen Reininger, Robert: Kant. Seine Anhänger und seine Gegner, München 1923, S. 9 f. Vgl. Reininger, Robert: Kant. Seine Anhänger und seine Gegner, München 1923. 84 Reininger, Robert: Wertphilosophie und Ethik. Die Frage nach dem Sinn des Lebens als Grundlage einer Wertordnung, Wien – Leipzig 21946, S. 2.

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Die philosophischen Voraussetzungen

philosophischen Aussagen bedeutet einen nicht mehr rückgängig zu machenden Fortschritt in der Philosophie, sodaß gelten kann: wer sich ernsthaft mit Philosophie beschäftigt, kommt nicht umhin, sich auch mit Kant zu beschäftigen.85

Schul- und Weltbegriff der Philosophie Kant unterscheidet einen Schulbegriff und einen Weltbegriff der Philosophie. Mit dem Schulbegriff ist die Philosophie als akademi­ sche Disziplin angesprochen; also das, was sie zu einer etablierten Wissenschaft macht, die an den meisten Universitäten gelehrt wird und, wie jede andere Wissenschaft auch, studiert werden kann. Von diesem Schulbegriff der Philosophie, der etwas für Akademiker, Fach­ leute und Spezialisten ist, hat Kant den Weltbegriff der Philosophie unterschieden: »In dieser Absicht ist Philosophie die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntniß auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (teleologia rationis humanae), und der Philosoph ist nicht ein Vernunftkünstler, sondern der Gesetzgeber der menschlichen Vernunft.«86 Ihrem Weltbegriff nach läßt sich die Philosophie durch eine einzige Grundfrage kennzeichnen, die Frage: »Was ist der Mensch?« In diesem Sinn gehört die Philosophie zum Menschen als Menschen. Der Mensch lebt nicht nur, sondern nimmt immer auch bewußt zu seinem Leben Stellung, er beschränkt sich nicht auf den Vollzug seines Daseins, sondern reflektiert sein Tun und Lassen, er sucht, ganz allgemein formuliert, einen Sinn desselben. Solche Fragen nach dem Sinn unseres Daseins stellen sich uns ganz unabhängig davon, ob wir jemals mit wissenschaftlicher Philosophie in Berührung kommen. Wir sind in solchen Fragen ganz persönlich betroffen, und die Gestal­ tung unseres Lebens hängt nicht zuletzt davon ab, ob und wie wir sie beantworten. So gesehen wird man sagen können, daß der »erste Ursprung der Philosophie [...] im Streben nach praktischer Lebensweisheit« liegt und man von jeher zu Recht an sie die Erwartung herangetragen hat, nicht bloß theoretische Erkenntnisse zu vermitteln, sondern sich auch Reininger, Kant, S. 9. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 867. (Kapitel: Transzendentale Methodenlehre. 3. Hauptstück: Die Architektonik der reinen Vernunft). 85

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Schul- und Weltbegriff der Philosophie

als »Führerin des Lebens zu bewähren.« Zu bedenken ist dabei freilich, daß im Verlauf ihrer geschichtlichen Entwicklung »die Einstellung zu Fragen [praktischer] Art eine viel mittelbarere geworden ist [...] Aus dem Suchen nach Lebensweisheit ist der Wille zur Wahrheit um ihrer selbst willen erstanden.«87 Der Sinnentwurf des Lebens wird dem einzelnen von der Philosophie nicht abgenommen, sie ist nicht so vermessen, Imperative zu erlassen oder Ratschläge zu erteilen, wie jemand sein Leben einzurichten hat. Doch auch ohne diesen unmit­ telbaren Bezug zur Lebenspraxis bleibt die philosophische Theorie für die Ausrichtung derselben von Bedeutung. Robert Reininger hat ihre diesbezügliche Leistung, d.h. die Art und Weise der Auswirkung der philosophischen Theorien auf menschliche Praxis mit der Arbeit eines Kartographen verglichen88 – dieser arbeitet eine Landkarte aus, welche die mannigfachen Wege zu den verschiedensten Zielen ver­ zeichnet, ohne dabei eine Entscheidung für den Wanderer zu treffen – die Auswahl der Wege und Ziele bleibt diesem selbst überlassen. Mit der Unterscheidung von Schul- und Weltbegriff will Kant zum Ausdruck bringen, daß auch die Philosophie als akademische Disziplin, d.h. all das, was in ihr an ausgereifter wissenschaftlicher Leistung auftritt, auf diesen Weltbegriff und seine Hauptfrage: »Was ist der Mensch?« bezogen bleibt. Kant bringt darin ein Problem zur Sprache, das die Philosophie von Anfang an begleitet, spätestens seit Platon als Problem gesehen und im Rahmen der Tradition im Anschluß an das Begriffspaar Esoterik – Exoterik89 diskutiert wurde. Im Sinne des Schulbegriffs ist die Philosophie immer in der Gefahr, esoterisch zu werden. Die philosophischen Probleme werden durch einzelne Denker weitergeführt, differenziert und spezialisiert und darin für alle anderen unverständlich, damit wird aus der Philosophie, die jeden Menschen angeht, etwas, das nur noch wenige überhaupt verstehen. Philosophie droht, durch diese Tendenz, den Bezug zu ihrem Ausgangspunkt zu verlieren, sie steht in der Gefahr, sich von ihrem Quellpunkt abzuschneiden. Da die Spannung von Exoterik und Esoterik für die Philosophie unaufhebbar ist, müssen immer wieder Anstrengungen einer Vermittlung von Schul- und Weltbegriff in dem Sinn unternommen werden, daß die philosophische SpezialReininger, Wertphilosophie und Ethik, S. 1. Vgl. Reininger, Wertphilosophie und Ethik, S. 3. 89 Vgl. Röttges, Heinz: Das Problem der Wissenschaftlichkeit der Philosophie, Würz­ burg 1999. Röttges gibt der Diskussion des Verhältnisses Esoterik – Exoterik im Hinblick auf das Problem der Wissenschaftlichkeit der Philosophie breiten Raum. 87

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und Fachdiskussion auf die Grundfrage: »Was ist der Mensch?« zurückbezogen wird. Mit der Abspannung auf eines der Extreme hin, also im Sinne einer nur exoterischen oder nur esoterischen Philosophie, würde die Philosophie ihrer Aufgabe in der Alternative von gehaltvoller Naivität und leerer Differenziertheit zuletzt nicht gerecht werden. Die Philosophie als wissenschaftliche Disziplin schließt in der Weise des methodischen und systematischen Weiterfragens an alltäg­ liche Lebensfragen an und ist darüber hinaus bezogen auf das, was in der bisherigen Philosophie an Fragen und Antworten aufgetreten ist. Weil die Philosophie zum Mensch-Sein als solchem gehört, sind wir weder die einzigen noch die ersten, die philosophieren. Die ersten schriftlichen Zeugnisse philosophischer Überlieferung gehen auf das 6. vorchristliche Jahrhundert zurück und stammen aus Griechenland, wo die Philosophie dreihundert Jahre später in den großen Systemen von Platon und Aristoteles auch eine erste Hochblüte erlebt. Die Philosophie kann in diesem Sinn auf eine mehr als 2500jährige Tradition zurückblicken, in der vieles gedacht und bedacht worden ist, und es versteht sich von selbst, daß wir, wenn wir uns in ihr nicht ungebildet bewegen wollen, uns dieser Tradition zuwenden müssen. In dem ganz und gar anderen Verhältnis zur eigenen Geschichte wird ein weiterer Unterschied zwischen Philosophie und Wissen­ schaft sichtbar: Während die Geschichte einer Wissenschaft für diese Wissenschaft nur von historischem Interesse ist, hat die Geschichte der Philosophie für dieselbe systematisches Interesse, d.h. im Hin­ blick auf die Grundfragen, die uns hier beschäftigen, ist es durchaus sinnvoll, ja notwendig, sich mit Büchern auseinanderzusetzen, die mitunter mehr als 2000 Jahre alt sind. Freilich kann man an die Klassiker nicht in der einfachen Übernahme ihrer Lehren anschließen: Die Lehren der Vergangenheit reichen auch in der Philosophie nicht ohne weiteres aus, um die Probleme der Gegenwart zu lösen. Dennoch wird die Beschäftigung mit der Tradition für die eigenen Bemühungen nicht zuletzt deshalb von Vorteil sein, weil sich im überlieferten philo­ sophischen Denken ein Maßstab für unser eigenes Denken entwickelt findet. Ein Blick in die Geschichte der Philosophie kann dabei helfen, Scheinprobleme zu vermeiden und nicht immer wieder dieselben Denkfehler zu begehen, denn nicht selten ist es die völlige Unkenntnis dessen, was an Problembewußtsein bereits in die Geschichte getreten ist, die es ermöglicht, längst widerlegte Probleme als ganz neue, ja revolutionäre Fragestellungen zu feiern und auszurufen. Wir müssen

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Die Frage: »Was ist der Mensch?«

im Blick auf die Tradition immer unterscheiden, was an einer Philo­ sophie historisch, und was an ihr systematisch interessant ist, d.h. was uns auch im Lösen gegenwärtiger Probleme weiterführt: Manch ein Philosoph der Vergangenheit zeigt sich dabei als vergangen im eigentlichen Sinn, manch einer aber erweist sich solcherart als höchst aktuell, ja als ein Philosoph der Zukunft insofern, als sein Denken für und durch die jeweilige Gegenwart erst noch zu entdecken ist. Die Frage: »Was ist der Mensch?« entspricht der antiken Forde­ rung: »Erkenne dich selbst«. Die Besinnung auf das, was Humanität heißt, hat heute, in einer Zeit, in der wir uns für deren Ein- und Ausrichtung in Gegenwart und Zukunft in ganz anderer Weise ver­ antwortlich wissen als noch die Antike, an Bedeutung gewonnen. Herausgetreten aus dem Mythos befragen wir in diesen Dingen nicht mehr das göttliche Orakel, sondern haben in der Philosophie die methodische und systematische Form unserer Selbsterkenntnis.

Die Frage: »Was ist der Mensch?« als systematisches Zentrum philosophischen Fragens Anschließend an Kants Weltbegriff läßt sich im Ansatz der Aufga­ benbereich der Philosophie präzisieren. In Differenzierung der einen Grundfrage stellen sich drei weitere Fragen, die uns einen ersten Überblick über die philosophischen Disziplinen und ihre Systematik geben. Es sind dies die drei Fragen:90 1) 2) 3)

Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?

Die sprachliche Formulierung macht deutlich, daß es sich dabei um Grundfragen des Menschen handelt. Im Blick auf den spekulativen Widerspruch, der im Begriff Ich zum Ausdruck kommt: »Gemeint, mit ihm das Persönlichste vom Persönlichen zu verlautbaren, spreche ich mit ihm zugleich ein Allgemeines von erheblicher Reichweite aus«91, sind diese Fragen nicht nur etwas Subjektives und Persönliches, etwas das nur mich als jeweils dieses Individuum anginge, sondern 90 91

Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 833. Litt, Theodor: Hegel. Versuch einer kritischen Erneuerung, Heidelberg 1953, S. 47.

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gleichzeitig solche, die jeder Mensch, der über sich nachdenkt, auf die eine oder andere Art zu stellen genötigt ist. Im Sinne der ersten Frage: »Was kann ich wissen?«, beschäftigt sich der Mensch mit sich als theoretischem Wesen. Thematisch werden dabei die Bedingungen der Möglichkeit gesicherten Wissens und die Möglichkeit menschlichen Erkennens zum Problem. Das Inderweltsein des Menschen ist stets über einen Horizont von Wis­ sen vermittelt, dieses aber steht nicht nur in einer Differenz zum Nichtwissen, sondern auch zu vermeintlichem Wissen (Scheinwissen, Irrtum, Lüge etc.) und muß angesichts seiner Bedeutung für das menschliche Welt- und Selbstverständnis von solchem unterschieden werden. In dieser Absicht hat Kant unter dem Titel einer »Kritik der reinen Vernunft« Anspruch und Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens einer grundsätzlichen Prüfung unterzogen, um solcherart die durch die skeptischen Konsequenzen des Englischen Empirismus bedrohten Fundamente unseres Wissens zu sichern und von da her die Geltungsansprüche unterschiedlicher Wissensformen (Metaphysik, Newtonsche Physik) differenzierend zu beurteilen. Dem Problembereich, der mit dieser Frage umschrieben wird, lassen sich die philosophischen Disziplinen der Erkenntnistheorie und der Wissenschaftstheorie zuordnen. Wer heute in der Wissenschaft, und da wiederum in der Natur­ wissenschaft den ausgezeichneten Fall von Erkennen und Erkenntnis­ sen erblickt, neigt dazu, ihr alle anderen Formen und Möglichkeiten der Erkenntnis (auch die Philosophie) als unwissenschaftlich gegen­ überzustellen. Wie wenig diese Art der Gegenüberstellung ausreicht, sehen wir am Beispiel Wittgensteins, der in seinen frühen Jahren (Tractatus logico-philosophicus92) eine Philosophie nach dem Muster der exakten Naturwissenschaft gefordert hat und dabei zu dem Ergeb­ nis kommt, daß selbst dann, wenn man sich die Wissenschaften vollendet denkt, die Lebensprobleme des Menschen noch gar nicht berührt sind. Probleme der Ethik, des Pädagogischen oder des Religiö­ sen bleiben im Rahmen eines solchen Ansatzes unaussprechlich: »6.52 Wir fühlen, daß selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt am Main 141979.

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Die Frage: »Was ist der Mensch?«

6.521 Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Ver­ schwinden dieses Problems. [...] 6.53 Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen läßt, also Sätze der Natur­ wissenschafft [sic!] – also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat [...] 6.54 Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig. 7. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schwei­ gen.«93 Das Ergebnis dieses später von Wittgenstein selbst zugunsten seiner »Sprachspieltheorie« aufgegebenen Ansatzes muß für den Menschen angesichts all der Fragen, die über die Naturwissenschaft hinausge­ hen, höchst unbefriedigend bleiben. Wenn man die neuzeitliche Naturwissenschaft in dieser Weise verabsolutiert, d.h. für die einzig mögliche Erkenntnisweise ausgibt, dann überläßt man alles, was im Sinne der Lebensprobleme den Menschen als Menschen angeht, dem Irrationalen. Das Schweigegebot Wittgensteins wird hinsichtlich der Probleme, über die man nicht in naturwissenschaftlicher Weise sprechen kann und die doch nicht verschwinden, zum Rede- bzw. zum Denkverbot. Eben deshalb führt die Gegenüberstellung von Rationa­ lität (Wissenschaft) und Irrationalität (alles, was nicht Wissenschaft ist) dazu, daß trotz oder gerade wegen der beherrschenden Stellung, die heute die exakten Wissenschaften haben, auch der Aberglaube, die Pseudowissenschaft, Scharlatanerie, Okkultismus usw. blühen. Wo die Philosophie als Instanz der Sinnfrage ihre Verbindlichkeit verliert, haben Sinnverkäufer Saison, das Geschäft mit der Mystik, der Esoterik und anderem boomt. Gerade die Philosophie geht über diese Alternative von Rationalität und Irrationalität hinaus, insoferne sie auch hinsichtlich solcher Probleme, wie Ethik, Pädagogik oder Reli­ gion beansprucht, in argumentativ vermittelter Rede zu sinnvollen Einsichten zu gelangen. Im Sinn der zweiten Frage: »Was soll ich tun?« beschäftigt sich der Mensch mit sich als praktischem Wesen. Thematisch stehen dabei Möglichkeit und Notwendigkeit des Handelns, der Sinn von Freiheit, 93

Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, S. 114 f.

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aber auch die moralische Qualifikation von Handeln, d.h. ihre Beur­ teilung nach Gut und Böse zur Diskussion. Zu diesem Problembereich gehören jene philosophischen Disziplinen, die in irgendeiner Weise das Handeln des Menschen zum Gegenstand haben: die Ethik, die Geschichts- und Rechtsphilosophie, die Philosophie der Gesellschaft und Politik, etc. Die dritte Frage: »Was darf ich hoffen?« umfaßt den Bereich des Unverfügbaren. Thematisch wird dabei das, was für den Menschen handelnd nicht mehr zu bewältigen ist, zum Problem. Mit dem, was wir alltagssprachlich Zufall, Glück oder Schicksal nennen, sind Bereiche angesprochen, die der rationalen Planung ebenso entzogen sind wie der tätigen Einflußnahme, und die doch für das menschliche Leben bestimmend bleiben. Über Zufall, Glück und Schicksal hinaus ist das unabwendbare Faktum unseres Todes das herausragendste Beispiel menschlicher Unverfügbarkeit. Der Mensch nimmt seinen Tod (»Mors certa – hora incerta«) als Ende seines Lebens wissend vorweg, und denkt damit notwendig über den Tod hinaus. Er fragt ja auch nach dem Sinn seines Lebens gerade angesichts der radikalen Infragestellung jeglicher Sinnbestimmung durch den Tod. Im Rahmen des angesprochenen Problembereichs, dem die Disziplinen der Reli­ gionsphilosophie und der philosophischen Theologie (Fundamental­ theologie) zuzuordnen sind, geht es um den Sinn von Glauben und im Zusammenhang damit um die Möglichkeit einer sinnvollen Rede von dem, was über unsere Existenz hinausgeht. Diese Charakterisierungen verstehen sich als Hinweis darauf, daß die Philosophie im Versuch, eine Antwort auf die Frage: »Was ist der Mensch?« zu geben, thematisch einen sehr weiten Bogen spannt, der von der Wissenschaftstheorie bis zur Theologie reicht, und im Grunde nichts, was für den Menschen Sinn gewinnen kann, ausschließt. Mit Blick auf die keineswegs vollständige Aufzählung der einzelnen philosophischen Disziplinen – es ist weder von der Metaphysik noch von der Ästhetik und einer Reihe weiterer Diszipli­ nen, etwa der Sprachphilosophie, der in der Gegenwart besonderes Augenmerk geschenkt wird, die Rede gewesen – ist festzuhalten, daß alle Disziplinen der Philosophie auf die eine Grundfrage: »Was ist der Mensch?« bezogen sind und von ihr her in einem inneren systema­ tischen Zusammenhang stehen. Sie sind deshalb nicht voneinander abtrennbar und verweisen als solche immer auf das philosophische System als Ganzes. Man kann eine philosophische Disziplin daher nie nur alleine, d.h. nicht ohne Konsequenzen für die anderen Diszi­

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plinen betreiben. Während sich etwa einzelne Wissenschaften relativ autonom gegenüberstehen, und z.B. die Biologie und die Geschichte in ihren Forschungen in einer voneinander unabhängigen Weise vorgehen, wird in der Philosophie die Erkenntnistheorie, die man vertritt, immer auch Konsequenzen haben für die Ethik, und diese wiederum für die Religionsphilosophie usw. Diesem Vorbegriff von Philosophie entsprechend muß diese, in der Eigenständigkeit ihres Anliegens, von Religion, Kunst und Ideologie, d.h. von bloßer Weltanschauung unterschieden werden. Ohne auf diese Unterschiede im einzelnen eingehen zu können, sei daran erinnert, daß z.B. der Philosoph, der sich im Sinne der Ästhetik mit der Kunst beschäftigt, über den Sinn der Kunst nachdenkt und dabei unter anderem die Möglichkeit und Legitimität ästhetischer Urteile untersucht, also etwa die Frage stellt, wann und mit welcher Berechtigung wir etwas schön oder häßlich nennen, nicht dasselbe tut wie der Künstler, der als Musiker, Maler oder Dichter ein Kunstwerk schafft. Das Nachdenken des Philosophen über Kunst ist eine ganz andere Ebene als ihr Vollzug, z.B. das Malen. Diesem Vorbegriff von Philosophie nach muß die Philosophie aber auch grundsätzlich von den Wissenschaften unterschieden werden. Diesen Unterschied gilt es mit Blick auf die Anthropologie näher zu beleuchten.

Wissenschaft Hinsichtlich der Klassifikation der Wissenschaften gibt es eine Reihe von Möglichkeiten.94 Wir wollen für unsere Zusammenhänge zunächst die Realwissenschaften von den Formalwissenschaften unterscheiden. Zu den Formalwissenschaften gehören die formale Logik, die Mathematik und Strukturwissenschaften aller Art. Diese Wissenschaften haben nicht die Erfahrungswirklichkeit zum Thema, sondern beschäftigen sich mit reinen Formen und abstrakten Struktu­ ren von Zusammenhängen. Den Formalwissenschaften kommt dem­ entsprechend im Hinblick auf das Vorgehen der Realwissenschaften und ihre Art des Erkenntnisgewinns im wesentlichen eine instrumen­ telle Bedeutung zu. In eben diesem Sinn sind von den nachfolgenden 94 Vgl. Anzenbacher, Arno: Einführung in die Philosophie, Wien – Freiburg – Basel 1981. Ich folge seinen, die Einteilung und Charakterisierung der Wissenschaften betreffenden Differenzierungen, S. 22 ff.

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Kommentatoren die Werke des Aristoteles zur formalen Logik unter dem Titel »Organon« (griech. Werkzeug) zusammengefaßt worden, die formale Logik wird dabei verstanden als ein Werkzeug des Den­ kens, sie ist als ein solches »Organon« Voraussetzung ebenso für das erfahrungswissenschaftliche Vorgehen wie für die philosophische Argumentation. Auch die Philosophie kann diesem Kriterium für Wissenschaftlichkeit nicht entraten, Dialektik besteht nicht darin, im Produzieren von Widersprüchen logische Grundsätze zu ignorieren, sie ergibt sich vielmehr gerade aus der Bedachtnahme auf dieselben, formale Logik kann in jener Wissenschaft, die ihre Voraussetzungen einzuholen versucht, nicht bloß Mittel bleiben. Die Philosophie, die sie in die Reflexion aufnimmt, wird in der Frage nach der Erkenntnis­ dignität formaler Logik über sie hinaus zur transzendentalen und in der Reflexion wiederum auf diese zur dialektischen Logik geführt.95 Im Gegensatz zu den Formalwissenschaften haben die Realwis­ senschaften die Erfahrungswirklichkeit zum Gegenstand. Hier geht es nicht mehr um bloße Formen, sondern um konkrete Erfahrungsin­ halte. Soferne sich Realwissenschaften auf die Natur beziehen, wer­ den sie als Naturwissenschaften bezeichnet, wenn sie untersuchen, was in irgendeiner Weise mit dem Menschen im Zusammenhang steht, spricht man von ihnen als Geisteswissenschaften. Auch diese Einteilung ist vorläufig, ganz abgesehen davon, daß für die Geistes­ wissenschaften auch andere Namen in Gebrauch sind, z.B. Kulturwis­ senschaften, Sozialwissenschaften, Humanwissenschaften etc., gibt es Wissenschaften, die in dieser Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaft nicht aufgehen. Ein Beispiel dafür ist die Psy­ chologie, die methodisch sowohl an die Geistes- als auch an die Naturwissenschaft anschließt. Beispiel für letzteres ist die Neuropsy­ chologie, wie sie an der Universität Wien von Giselher Guttmann begründet wurde, und die darin, daß sie Gehirnströme, elektrische Potentiale und anderes mehr mißt, weitgehend eine »Psychologie ohne Seele«96 genannt werden kann, Beispiel für ersteres ist die von Christian von Ehrenfels begründete Gestaltpsychologie (»Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile«). Solche Überschneidungen und Mischformen zeigen, daß die getroffenen Einteilungen, so sinnvoll 95 Liebrucks, Bruno: Drei Revolutionen der Denkungsart, in: Irrationaler Logos und rationaler Mythos, Würzburg 1982, S. 79 ff. 96 Vgl. Lange, Friedrich Albert: Geschichte des Materialismus, Bd. 2. Geschichte des Materialismus seit Kant, Frankfurt am Main 1974, S. 823.

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Charakteristika der Realwissenschaften

sie für eine erste Orientierung bleiben, nicht das letzte Wort in der Bestimmung von Wissenschaft sein können.97

Charakteristika der Realwissenschaften Im Versuch einer sehr allgemeinen zusammenfassenden Kennzeich­ nung der Realwissenschaften bieten sich drei charakteristische Merk­ male an. Realwissenschaften sind: 1. 2. 3.

empirisch thematisch reduktiv methodisch abstrakt

Der näheren Explikation dieser drei Charakteristika muß vorausge­ schickt werden, daß die Rede von Abstraktion und Reduktion keine Abwertung oder Herabsetzung der Realwissenschaften gegenüber der Philosophie intendiert. Bei diesen Charakterisierungen handelt es sich um sachliche, näherhin wissenschaftstheoretische Feststellungen und nicht um eine qualifizierende Bewertung der Realwissenschaften. Ad 1: Realwissenschaften sind empirisch. Empirisch nennen wir das, was in der Erfahrung objektiv gegeben ist, was wir im weitesten Sinn durch unsere Sinne wahrzunehmen vermögen, was wir sehen, hören, schmecken, riechen können und damit auf die eine oder andere Art – und das wird sich für die Wissenschaften als primär erweisen – messen können. Dieses Erfahrbare ist Gegenstand der Realwis­ senschaften und sie erforschen es, indem sie Beschreibungs- und Begründungszusammenhänge aufweisen, also z.B. aufzeigen, wie zwei Ereignisse im Sinne von Ursache und Wirkung miteinander ver­ knüpft sind. Im Aufweis von Begründungszusammenhängen erklären die Realwissenschaften dabei Empirisches durch Empirisches. Sie übersteigen den Rahmen dessen, was in Raum und Zeit anschaulich gegeben ist oder anschaulich gemacht werden kann, grundsätzlich 97 Wissenschaftliche Disziplinen, die, wie die Psychologie beiden oder die Philoso­ phie weder der naturwissenschaftlichen noch der geisteswissenschaftlichen Fakultät zugeordnet werden können, hatten an der Universität Wien in den Jahre 1975 bis 2000 ihren Ort an einer eigenen, nämlich der Grund- und Integrativwissenschaft­ lichen Fakultät.

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nicht, weshalb für sie auch die Bezeichnung Erfahrungswissenschaf­ ten in Gebrauch ist.98 Um ein Beispiel zu nennen: ein Meteorologe wird Donner und Blitz, Phänomene, die wir wahrnehmen, nämlich hören und sehen können, nicht durch Rekurs auf Zeus und seinen göttlichen Zorn »erklären«, sondern dadurch, daß er uns die das Geschehen auslösen­ den atmosphärischen und elektrischen Spannungen beschreibt und die zwischen diesen beiden Phänomenen bestehenden Begründungs­ zusammenhänge aufweist. In eben diesem Sinn müssen, um ein anderes Beispiel aus den Geisteswissenschaften anzuführen, auch die Ergebnisse, zu denen ein Historiker im Verlauf seiner wissenschaftli­ chen Forschungen kommt, durch Quellen belegt werden, historische Theorien müssen auf Funde aus der Vergangenheit, auf erhaltene Überreste, auf schriftliche Zeugnisse etc. zu beziehen sein. Ein Hi­ storiker, der seinen Theorien transzendente, d.h. die Erfahrung auf etwas hin, das jenseits der Erfahrung liegt, übersteigende Erklärungen (etwa göttliche Belehrungen) zu Grunde legt, betreibt nicht mehr wissenschaftliche Geschichtsschreibung, sondern phantasiert. Das letzte Beispiel mag weit hergeholt erscheinen, doch sind sol­ che ins Transzendente ausgreifende, also außerhalb des Erfahrbaren liegende Erklärungsversuche selbst in der Naturwissenschaft aufge­ treten. Ein Beispiel für den Einbruch eines solchen transzendenten Erklärungsprinzips in die wissenschaftliche Biologie ist der Vitalis­ mus: die Annahme einer vis vitalis als eines sogenannten »höheren Werdebestimmers«, von Hans Driesch mit einem Ausdruck, der auf Aristoteles zurückgeht, auch Entelechie genannt. Im Sinne dieser vis vitalis wurde eine Lebenskraft postuliert, die wirken, aber nicht physikalisch-chemisch analysierbar sein sollte und damit im Grunde bloß behauptet blieb. Eine Kraft, die man nicht messen kann, ist ein Widerspruch in sich, Widersprüche aber kommen in der Wissen­ schaft nicht vor bzw. müssen dort, wo sie vorkommen, eliminiert werden. Die Verdienste des Vitalismus sollen durch das Gesagte nicht geschmälert werden, sie liegen in der Erweiterung der biologischen Fragestellung durch die Entdeckung der Aufeinanderbezogenheit von Organismus und Umwelt. Dadurch wurden eine Reihe von Forschun­ gen angestoßen, die weit über die biologisch-mechanistische Sicht des Tieres hinausführen. 98

Vgl. Anzenbacher, Einführung, S. 22 f.

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Charakteristika der Realwissenschaften

Wenn wir Realwissenschaften Erfahrungswissenschaften nen­ nen, müssen wir uns darüber im klaren sein, daß sich die Erfahrung im alltagssprachlichen Sinn von der Erfahrung, auf die sich Wissenschaft bezieht, unterscheidet. Erfahrung heißt uns zunächst: Erfahrungen machen, Erfahrungen sammeln, etwas in Erfahrung bringen – in dieser allgemeinsten Bedeutung kommt der Begriff Erfahren vom »Fahren«. In der Antike war der erfahrene (gebildete) Mensch der, der viel gesehen und gehört hat, der viel herumgekommen, viel gereist ist, und dabei womöglich fremde Länder und Sitten kennengelernt hat. Von einem solchen Erfahrungsbegriff, der im Rahmen der All­ tagserfahrung noch auf direkte Beobachtung abstellt, hat sich die neuzeitliche Wissenschaft längst emanzipiert. Im Hinblick auf die bekannten Vorwürfe, daß sich Philosophie nur mit Begrifflich-Abstraktem beschäftigt, in ihrem Vorgehen rein spekulativ ist, ihre Gedanken ohne Rücksicht auf die Realität konstru­ iert, ist der Erfahrungsbezug der Wissenschaften ursprünglich gegen die Philosophie ins Treffen geführt worden. Aber schon die im obigen Beispiel angesprochenen atmosphärischen und elektrischen Span­ nungen sind als Gegenstand von Wissenschaft nicht mehr auf sinnlich Anschauliches bezogen, sondern nur noch insoferne empirisch zu nennen, als sie sich auf der Skala eines Meßgerätes sichtbar machen, d.h. messen lassen. Der Blick auf die Entwicklung der Theoretischen Physik, die seit je das Paradigma neuzeitlicher Naturwissenschaft gewesen ist, zeigt diese Emanzipation als »nahezu vollständige Ablö­ sung von der Welt des in anschaulicher Form Erlebbaren und Erfaß­ baren. […] Die Physik setzt sich das Ziel, das Ganze der gegebenen Natur in ein System von mathematischen Formeln umzuschreiben […] An die Stelle des sinnlich Konkreten tritt die mathematische Abstraktion, an die Stelle des jetzt und hier Geschehenden das stets und überall zu Erwartende. Der Fortschritt der physikalischen For­ schung ist geradezu daran abzumessen, wie weit diese Ausscheidung des konkret Erlebbaren gelingt. Die Geschichte der Physik ist nichts anderes als die Geschichte dieses stetig fortschreitenden Prozesses der Entsinnlichung.«99 Theodor Litt verweist in diesem Zusammenhang auf den ver­ gleichsweise anschaulichen Charakter der klassischen Physik New­ 99 Litt, Theodor: Die Sonderstellung des Menschen im Reich des Lebendigen, in: Wenke, Hans (Hg.): Geistige Gestalten und Probleme. Eduard Spranger zum 60. Geburtstag, Leipzig 1942, S. 231 f.

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tons im Unterschied zu den nur noch in mathematischer Abstraktion faßbaren »Gegenständen« der modernen Physik.100 Die Schwierig­ keiten, welche die Wissenschaften darin dem Laien, der im Sinne der Vorstellung immer mit anschaulichen Gegebenheiten operiert, bereiten, entsprechen der Neigung zur Ontologisierung der wissen­ schaftlichen Modellvorstellungen, d.h. einer Interpretation derselben, die ihren Modellcharakter übersieht und sie für eine Abbildung der Wirklichkeit hält.101 Moderne Wissenschaft hat ihre Anbindung an die Empirie nicht in der Alltagserfahrung, sondern im Experiment: »Galilei tat seinen großen Schritt, indem er wagte, die Welt so zu beschreiben, wie wir sie nicht erfahren. Er stellte Gesetze auf, die in der Form, in der er sie aussprach, niemals in der wirklichen Erfahrung gelten und die darum niemals durch irgendeine einzelne Beobachtung bestätigt werden können, die aber dafür mathematisch einfach sind. So öffnete er den Weg für eine mathematische Analyse, die die Komplexheit der wirklichen Erscheinungen in einzelne Elemente zerlegte. Das wissen­ schaftliche Experiment unterscheidet sich von der Alltagserfahrung dadurch, daß es von einer mathematischen Theorie geleitet ist, die eine Frage stellt und fähig ist, die Antwort zu deuten. So verwandelt es die gegebene ›Natur‹ in eine manipulierbare ›Realität‹.«102 Im Sinne jenes Wendepunktes im Rahmen der Wissenschafts­ entwicklung, der durch Namen, wie Galileo Galilei, Johannes Kepler, Isaak Newton u.a. markiert wird, tritt an die Stelle der qualitativen Beschreibung das quantifizierende Messen: die »Metrisierung der Phänomene«, die »Mathematisierung der Natur«, das Überführen von »Qualität« in »Quantität« sind Kennzeichen des neuen methodi­ schen Vorgehens: »Man versuchte immer mehr, qualitative Bestim­ mungen auf quantitative zurückzuführen, d.h. meßbar zu machen (z.B. Wärme, eine Qualität, durch das Thermometer zu messen und dadurch in Zahlen auszudrücken). Die Parole lautete: ›Alles messen, was meßbar ist, und versuchen, meßbar zu machen, was es noch nicht ist‹«103, – so hat das Galileo Galilei ausgedrückt, der ja Vgl. Litt, Die Sonderstellung des Menschen im Reich des Lebendigen, S. 232. Vgl. Heintel, Erich: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Versuch einer gemeinverständlichen Einführung in das Philosophieren, Wien 1986, S. 61. 102 Weizsäcker, Carl Friedrich von: Die Tragweite der Wissenschaft, Stuttgart 61990, S. 107 f. 103 Anzenbacher, Einführung, S. 23. 100 101

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Charakteristika der Realwissenschaften

der eigentliche Vater der »nuova scienza«, der neuen Wissenschaft im Sinne der neuzeitlichen Naturwissenschaft ist. »Diese Tendenz führte zu einer neuen Art der Beobachtung und der experimentel­ len Überprüfung. Damit ist aber eine thematische Reduktion und eine methodische Abstraktion verbunden: Die ›exakt‹ gewordene Naturwissenschaft erkennt Natur unter dem Aspekt der Meßbarkeit. Ihr methodischer Zugriff bringt die Natur bloß in der thematisch reduzierten und methodisch abstrakten Form eines mathematischen Modells in Sicht.«104 Man kann also sagen, die Einzelwissenschaften entwickeln Modelle, deren Aufgabe es ist, die Beobachtungen eines bestimmten Bereichs möglichst einfach zu erklären, um innerhalb dieses Bereichs Prognosen zu ermöglichen, deren Wert von der Brauchbarkeit her bestimmt ist. Wenn wir Wissenschaften trotzdem als empirisch cha­ rakterisieren, so deshalb, weil sich die Konstruktionen und Modelle anhand von Prognosen an der Wirklichkeit bewähren müssen. Dabei ist freilich nicht die Wahrheit, sondern sind Zweckmäßigkeit, Nütz­ lichkeit und Brauchbarkeit das Kriterium einer Theorie. »Die Natur selbst ist jedoch kein mathematisches Modell. Vom Unterschied zwi­ schen Natur und Modell muß die ›exakte‹ Naturwissenschaft jedoch absehen (abstrahieren), weil er sich dem Zugriff der Methode ent­ zieht.«105 Ad 2: Realwissenschaften sind thematisch reduktiv. Damit ist gemeint, daß jede Erfahrungswissenschaft einen bestimmten Gegen­ standsbereich umfaßt. Wirkliches wird ihr nicht als Ganzes, sondern nur in Ausschnitten zum Thema, die Gegenstände und Fragestellun­ gen der Physik sind andere als die der Biologie, und diese wiederum andere als die der Historie usw. Realwissenschaften werden dieser Charakterisierung wegen auch Einzelwissenschaften genannt, sie unterscheiden sich voneinander und können einander weder stellver­ treten noch ersetzen. Auch mit diesen trivial erscheinenden Feststellungen verbindet sich ein Problem: immer wieder traten und treten einzelne Wissen­ schaften mit dem Anspruch auf, nicht bloß eine Wissenschaft im Ver­ band mit anderen, sondern die eine Grund- bzw. Einheitswissenschaft zu sein und auf der Grundlage dieser besonderen Stellung andere Wissenschaften entweder auf ihre Art des methodischen Zugangs 104 105

Ebd. Ebd.

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Die philosophischen Voraussetzungen

verpflichten oder überhaupt ersetzen zu können. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es die Physik, die mit einem solchen Anspruch aufgetreten ist, heute zeigen sich im Rahmen der Biologie deutliche Tendenzen in diese Richtung: klassische philosophische Disziplinen, wie Erkenntnistheorie und Ethik, sollen von genuin biologischen, wie Evolutionäre Erkenntnistheorie und Evolutionäre Ethik abgelöst wer­ den. Aldous Huxley schreibt über diese thematische Einschränkung und ihre Konsequenzen im Blick auf die Beurteilung naturwissen­ schaftlicher Ergebnisse folgendes: »[A]ls Darstellung der Wirklich­ keit ist die naturwissenschaftliche Abbildung der Welt nicht ausrei­ chend, einfach aus dem Grund, weil die Naturwissenschaft nicht einmal den Anspruch erhebt, sich mit Erfahrung schlechthin zu befassen, sondern nur mit bestimmten Ausschnitten und nur in bestimmten Zusammenhängen. Die eher philosophisch orientierten Naturwissenschaftler sind sich dessen wohl bewußt. Aber unglückli­ cherweise hatten einige Naturwissenschaftler, viele Techniker und vor allem die Konsumenten der vielen kleinen technischen Errungen­ schaften weder Zeit noch Interesse, den philosophischen Ursprüngen und Hintergründen der Naturwissenschaften nachzugehen. Infolge­ dessen akzeptierten sie in der Regel das in den naturwissenschaftli­ chen Theorien implizierte Bild der Welt als vollständige und erschöp­ fende Darstellung der Wirklichkeit; sie tendieren dazu, diejenigen Aspekte der Erfahrung, die die Naturwissenschaftler wegen mangeln­ der Kompetenz nicht berücksichtigen, so anzusehen, als seien diese irgendwie weniger real als jene Aspekte, die die Naturwissenschaft willkürlich durch Abstraktion aus der unendlich reichen Gesamtheit bestehender Tatsachen ausgesondert hat.«106 Im Zusammenhang damit ist präzisierend festzuhalten, daß die Naturwissenschaft von der Natur den Namen, nicht aber auch die Natur zum Thema hat. Daß das vielbändige »Handwörterbuch der Naturwissenschaften«107 den Begriff Natur nicht als Stichwort verzeichnet, ist kein Versehen, sondern Ausdruck eben jener thema­ tischen Einschränkung, von der hier die Rede ist. Die Wissenschaft bleibt im Sinne ihrer Charakterisierung als Einzelwissenschaft auf Huxley, Aldous: Science, Liberty and Peace, 1947, S. 28 f., zit. nach: Anzenbacher, Arno: Einführung in die Philosophie, Wien – Freiburg – Basel 1981, S. 26. 107 Handwörterbuch der Naturwissenschaften, hrsg. von Eugen Korschelt, et al., Jena 1912–1915, 21931–1935, 10 Bände. 106

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Charakteristika der Realwissenschaften

die Erfassung von Teilbereichen beschränkt, im Begriff Natur ist hingegen ein Gesamtzusammenhang an- bzw. ausgesprochen, wel­ cher der Wissenschaft, die sich nicht mit dem Ganzen, sondern mit einzelnen Ausschnitten der Wirklichkeit beschäftigt, gar nicht zum Gegenstand werden kann. Das Ganze dessen, was wir Natur nennen, ist Gegenstand der Philosophie, weshalb wir den Begriff Natur auch in jedem philosophischen Wörterbuch finden. Darüber hinaus sind, was den Begriff Natur anlangt, weitere Differenzierungen nötig: einmal ist Natur das nicht vom Menschen hervorgebrachte Seiende, der klassischen Bestimmung von Natur entsprechend, die wir bei Aristoteles finden.108 Dann wieder meint Natur das Wesen einer Sache und hat in dieser Bedeutung gar nicht ausschließlich mit Natur und Natürlichem im Sinne des Aristoteles zu tun, kann also etwa auch auf Kunst und Kultur, die klassischen Gegenbegriffe zur Natur, ange­ wendet werden. So z.B. wenn wir von der Natur der Kunst reden und damit eben nichts Natürliches, sondern das Wesen der Kunst meinen. Wenn wir daher von der Natur des Menschen im Spannungsraum von erster und zweiter Natur (nach einer Unterscheidung Hegels109) reden, dann kann damit einerseits seine Leiblichkeit gemeint sein, die tatsächlich in den Zuständigkeitsbereich der Wissenschaft fällt, alles, was den Organismus betrifft, über den in der Tat die Biologie die kompetenteste Auskunft zu geben vermag, andererseits aber auch sein Wesen, zu dem Selbstbewußtsein und Freiheit gehören, etwas, das mit Biologie nichts zu tun hat. Problematisch werden die Dinge vor allem dann, wenn, wie in der Biologie unserer Tage, die Natur im und am Menschen im Sinne der ersten Natur als Natur des Menschen im Sinne seiner Wesensbestimmung ausgegeben wird.110 Ad 3: Realwissenschaften sind methodisch abstrakt. Die ein­ zelnen Wissenschaften gehen mit einer jeweils ganz bestimmten Fragestellung (Methode) an die Untersuchung ihres Gegenstandes und vermögen an diesem auch nur jene bestimmten Aspekte heraus­ zuarbeiten, welche ihr von ihrer jeweiligen Methode her in den Blick kommen. Wir können uns das am Verhältnis von Frage und Antwort 108 Vgl. Aristoteles: Physikvorlesung, übers. von Hans Wagner, Berlin 31979, Buch II, 192 b 8 ff. 109 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: System der Philosophie, in: Glockner, Her­ mann (Hg.): Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, Stuttgart – Bad Cannstatt 1964 ff., Bd. 10, § 410, S. 236. 110 Vgl. Lötsch, Bernd / Weihs, Peter: Fressen und Gefressen Werden. Lehrerbuch zum Film von Bert Haanstra (»Schule des Sehens«), Wien o. J., S. 7.

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Die philosophischen Voraussetzungen

klar machen: Fragen und Antworten zeigen sich aufeinander bezogen, Antworten werden in ihren Möglichkeiten immer schon durch die Fragen mitbestimmt, in dem Sinn, daß die Antworten jeweils nur so weit reichen können, soweit die Fragen reichen, und wonach nicht gefragt wird, darauf ist auch keine Antwort zu erwarten. Das gilt auch für Antworten, soferne sie Ergebnisse der Naturwissenschaft sind. Ich will diesen Punkt der methodischen Abstraktion am Beispiel des sprechenden Menschen verdeutlichen: Zur naturwissenschaft­ lichen Erfassung eines sprechenden Menschen stehen eine Reihe von Disziplinen zur Verfügung. An gewissermaßen fundamentaler Stelle kommt die Physik zum Zuge. Die physikalische Untersuchung erlaubt, die vom Sprechenden ausgesendeten Schallwellen zu messen und folgt dabei dem erwähnten methodischen Grundsatz: Messen, was meßbar ist, und meßbar machen, was nicht unmittelbar meßbar ist. Damit aber, daß sie Schallwellen mißt, beschränkt sich die Physik auf die Erfassung eines bestimmten Aspekts der Wirklichkeit, die Wirklichkeit, die in Frage steht und von der wir ausgegangen sind, ist der sprechende Mensch. Schallwellen sind der empirisch faßbare Teil am sprechenden Menschen und als Träger des gesprochenen Wortes eine unabdingbare Voraussetzung des Sprechens. Was aber im Rahmen einer solchen Forschungsmethode nicht erfaßbar ist, ist z.B. der Sinn der gesprochenen Worte. Denn bei diesem Sinn handelt es sich nicht um Empirisches, also nicht um etwas, das in irgendeiner Weise meßbar wäre oder meßbar gemacht werden könnte. Nicht anders steht es mit den die Ebene der Physik übersteigen­ den Disziplinen der Biologie bzw. Physiologie. In der Erforschung von Kehlkopf, Zunge, Lippen und den fürs Sprechen maßgebenden Par­ tien des Zentralnervensystems werden die notwendigen organischen Voraussetzungen des Sprechens untersucht, ohne die Sprache nicht möglich ist. Die Forschungen auf diesem Gebiet haben zu erstaun­ lichen Ergebnissen geführt, unter anderem den Nachweis, daß die Primaten eine Sprache, wie es die unsere ist, nicht haben können, weil ihnen eine lautliche Artikulation schon aufgrund ihrer physiologi­ schen Voraussetzungen unmöglich ist, oder die Lokalisation gewisser Bereiche des Gehirns als Sprachzentren, die durch Rückschlüsse von Ausfallserscheinungen nach Unfällen gewonnen wurden, insoferne sich eine spezifische Beeinträchtigung menschlicher Sprachfähigkeit beim Ausfall spezieller Gehirnareale gezeigt hat. So faszinierend und bedeutend diese und eine ganze Reihe weiterer Ergebnisse der Physiologie sind, sie bringen wiederum bloß

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Charakteristika der Realwissenschaften

ein Moment am sprechenden Menschen in Sicht. Die Beschränkung auf nur ein Moment aber ist, gemessen am Ganzen, das in Frage steht, eine Abstraktion. Auch in der biologischen Zugangsweise zum sprechenden Menschen wird der Sinn des gesprochenen Wortes methodisch ausgeblendet. So sehr also diese Untersuchungen in ihrem Bereich berechtigt sind, so wenig erfassen sie das Ganze, um das es dabei geht. Sprechenden Menschen geht es um Sinnvermittlung, sie sind in jedem alltäglichen Gespräch immer schon uneinholbar über alle Wissenschaft hinaus. Diese Beschränkung der Realwissenschaften im Sinne dessen, was wir die methodische Abstraktion nennen, hat nun zwei Seiten, sie ist einerseits die Voraussetzung des großen Erfolges der empirischen Wissenschaften. Der Philosoph und Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker hat diesen Umstand mit Blick auf den Unterschied von Philosophie und Wissenschaft folgend formuliert: »Das Verhältnis der Philosophie zur sogenannten positiven Wissenschaft läßt sich auf die Formel bringen: Philosophie stellt diejenigen Fragen, die nicht gestellt zu haben die Erfolgsbedingung des wissenschaftlichen Verfahrens war. Damit ist also behauptet, daß die Wissenschaft ihren Erfolg unter anderem dem Verzicht auf das Stellen gewisser Fragen verdankt.«111 In der Gegenüberstellung philosophischer und wissenschaftli­ cher Fragen, die ich mit den folgenden Beispielen geben möchte, ist die unterschiedliche Zuordnung zu Philosophie und Wissenschaft leicht zu treffen: Wie viele Zähne hat diese oder jene Haifischart? (eine wissenschaftliche Frage) – Was ist Natur? (eine philosophische Frage); Welche chemische Zusammensetzung hat die DNS? – Was ist Leben?; Wie hoch ist die Lichtgeschwindigkeit? – Was ist Erkenntnis? Diese methodische Beschränkung in der Form eines bewußten Verzichts darauf, gewisse Fragen überhaupt zu stellen, steht aber nicht nur für den Erfolg der Einzelwissenschaft, sie hat andererseits die Konsequenz, daß die Aussagen der Wissenschaft, so berechtigt sie in jeweils ihrem Bereich sein mögen, aufs Ganze bezogen zugleich auch ihre Grenzen haben.

111 Weizsäcker, Carl Friedrich von: Gottesfrage und Naturwissenschaften, in: Deut­ lichkeit. Beiträge zu politischen und religiösen Gegenwartsfragen, München – Wien 1978, S. 167.

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Naturerkenntnis versus Naturbeherrschung Wenn wir noch einmal auf die unterschiedlichen Fragen blicken, die durch Wissenschaft und Philosophie gestellt werden, erkennen wir, daß diese nicht nur ein anderes Thema haben, sondern auch die Fragerichtung eine andere ist. Ausgangspunkt der Philosophie ist das Staunen über die Existenz von Mensch und Welt – Philosophie fragt diesem Ausgangspunkt entsprechend nach dem Wesen der Dinge. Solche Wesensfragen sind: Was ist der Mensch?, Was ist die Natur?, Was ist Erkenntnis? Die Wissenschaft hat diese und ähnliche Fragen als philosophische zu Recht aus ihrem Repertoire ausgeschieden, sie stellt aber nicht nur andere Fragen, sie stellt sie auch aus einem anderen Geist heraus. Ihre Fragen verfolgen einen anderen Zweck, neuzeitliche Naturwissenschaft intendiert keine Naturerkenntnis im Sinne einer Wesenserkenntnis, sondern sie intendiert eine Erkennt­ nis, die im Dienste der Naturbeherrschung steht. Nicht das Wesen der Natur wird erforscht, sondern es wird ein Modell der Natur entworfen, dessen Zweck es ist, die Natur zu beherrschen. Das gilt auch für alle naturwissenschaftlich orientierte Geistes­ wissenschaft, was wiederum durch einen Blick auf die Psychologie illustriert werden soll: »Nehmen wir also Abschied von der Vorstel­ lung, daß Psychologie dazu dient, die Anatomie unserer Psyche zu entdecken. Wir können kein Seziermesser für diese Erkundungen anbieten. Wir sind vielmehr in der Lage, Reißbretter zu offerieren, auf denen Konstrukte erstellt werden können, über deren Tauglichkeit letztlich einzig ihr Nutzen entscheiden sollte.«112 Es geht nicht um die Erkenntnis der Seele als etwas, das vorge­ geben ist und gewissermaßen nur zu entdecken wäre, die psycholo­ gischen Konstruktionen beabsichtigen keine Wesenserkundung und sind daher auch nicht danach zu beurteilen, ob sie ein wahres Bild dessen geben, was wir Seele nennen, ihre Qualifikation liegt in ihrer Nützlichkeit, sie werden danach beurteilt, ob man mit ihnen etwas anfangen, z.B. den Menschen manipulieren kann oder nicht. Schon Thomas Hobbes hat dieses Ziel neuzeitlicher Naturwis­ senschaft sehr klar ausgesprochen, wenn er über die Wissenschaft sagt: »Durch wissenschaftliche Kenntnis wird man in den Stand Guttmann, Giselher: Was Psychologen über das Denken denken (Vorwort), in: Kittner, Ingeborg: Allgemeine Psychologie. Experimentalpsychologie: Denken. Problem­ lösen, hrsg. von Giselher Guttmann, Wien 1994, S. 7.

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gesetzt, das, was man einmal getan, nach Gefallen zu jeder ande­ ren Zeit zu wiederholen; denn sooft wir sehen, woher, woraus und wodurch gewisse Wirkungen entstehen, lernen wir auch durch ähnliche Ursachen, insofern sie in unserer Gewalt stehen, ähnliche Wirkungen hervorzubringen«113 und von Francis Bacon stammt die noch um einiges prägnantere Formel: »Wissen ist Macht«114, eine Formel, die nur für wissenschaftliches, nicht aber für philosophisches Wissen Geltung hat. Philosophie, die sich im aristotelischen Sinn als Erkenntnis um ihrer selbst willen, d.h. als theoria versteht, hat mit Macht in dem oben angegebenen Sinn nichts zu tun. Der Hinweis auf Macht- resp. Nutzlosigkeit gehört vielmehr zu den die Philosophie von allem Anfang an begleitenden Vorwürfen: ihre auf nichts weiter abzweckende Erkenntnis ist zu nichts nütze, mit ihr kann man nichts anfangen, für sie kann gelten: Wissen ist Ohnmacht. Francis Bacon hat den Bemächtigungs- und Manipulationswillen der »Neuen Wissenschaft« auch im Zusammenhang mit den Ziel­ setzungen ihrer Forschungsprogramme formuliert. Der Zweck der Naturforschung sei, Natur zu jedem gewünschten Ziel (innerhalb der von der Natur gesetzten Grenzen) zu bringen und z.B. das Klima ändern zu können oder Früchte und Gemüse zu veredeln, neue Tierar­ ten zu züchten und neue Metalle zu produzieren.115 Dieses für das 17. Jahrhundert revolutionäre, ja utopische Forschungsprogramm liest sich heute wie ein Forschungsbericht. Wie schnell in der Wissenschaft aus Utopie Realität werden kann, sollte man vor Augen haben, wenn gegenwärtig hinsichtlich mancher Zielsetzungen der Gentechnologie beschwichtigend von »Zukunftsmusik« die Rede ist! Daß man nicht erst die Wesensfrage stellen muß, um mit den Dingen technisch-praktisch umzugehen, das sei am Beispiel einer von Denis Diderot erfundenen Anekdote erläutert: »Eines Tages landeten Spanier in einer Gegend der Neuen Welt, deren unzivilisierten Bewohnern der Gebrauch von Feuer noch unbekannt war. Es war im Winter. Sie erklärten den Eingeborenen, sie könnten mit Holz und etwas anderem die Sonne nachahmen und auf der Erde ein gleiches Feuer entzünden wie jenes, das am Himmel leuchte. ›Ihr Hobbes, Thomas: Leviathan, übers. von Jacob Peter Mayer, Stuttgart 1966, S. 44. Vgl. Bacon, Francis: Neues Organon, lat.-dt., hrsg. von Wolfgang Krohn, Hamburg 1990, Teilband 1, S. 65, Teilband 2, S. 283. 115 Vgl. Bacon, Francis: Neu-Atlantis, in: Heinisch, Klaus J. (Hg.): Der utopische Staat, Reinbek bei Hamburg 292008, S. 171–215, hier: S. 205–213. 113

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wißt also, was das ist, das Holz?‹, fragten die Eingeborenen die Spanier. ›Nein!‹ – ›Ihr kennt aber das Feuer, das am Himmel leuchtet?‹ – ›Nein.‹ – ›Ihr wißt aber wenigstens, wieso das Holz Feuer fängt?‹ – ›Nein‹. – ›Und wenn ihr das Feuer entzündet habt, dann könnt ihr es zweifellos auch wieder löschen?‹ – ›Ja.‹ – ›Und womit?‹ – ›Mit Wasser.‹ – ›Und ihr wißt, was das ist, das Wasser?‹ – ›Nein.‹ – ›Aber ihr wißt doch, wie das Wasser das Feuer löscht?‹ – ›Nein.‹ Die Eingeborenen begannen zu lachen und kehrten den Spaniern den Rücken, die mit Holz, das sie nicht kannten, Feuer entzündeten, das sie nicht kannten, ohne zu wissen, wie das Feuer das Holz verzehrte, und die mit Wasser, das sie nicht kannten, das Feuer löschten, das sie nicht kannten, ohne zu wissen, wie das Wasser das Feuer löschte.«116

Wir müssen nicht erst wissen, was das Wesen der Natur ist, um von ihr einen Nutzen zu haben und sie in den Dienst unserer Lebenserhal­ tung zu stellen, genauso aber gilt umgekehrt, daß wir dort, wo wir wis­ sen, in welcher Weise uns Natur dienstbar sein kann, wir nicht schon wissen, was Natur ihrem Wesen nach ist, im technisch-praktischen Wissen ist sie uns nur als dienstbare erschlossen und bekannt.117 Ob es über die Naturwissenschaft hinaus einer Naturphilosophie bedarf, entscheidet sich an der Frage, ob es sinnvoll ist, neben dem technisch-praktischen Wissen von der Natur die Frage: Was ist Natur? Zu stellen. Um das Problem der methodischen Abstraktion als Vorausset­ zung für das Verständnis des wissenschaftlichen Anspruchs hinsicht­ lich seiner Leistungen und Grenzen zusammenfassend in Erinnerung zu bringen und durch einige weitere Aspekte zu ergänzen, will ich abschließend auf ein Bild zurückgreifen, das von Karl Ernst von Baer stammt, einem berühmten Biologen (Zoologen) des 19. Jahrhunderts, der mit seiner Entdeckung, daß Säugetiere Eizellen entwickeln, die moderne Entwicklungsgeschichte begründet hat. »Gesetzt, wir fänden mitten in Afrika ein Heft Noten, das von Livings­ ton oder einem anderen kühnen Reisenden verloren wäre. Wir zeigen es einem […] Buschmann, der noch nichts Europäisches gesehen hat, und fragen ihn, wofür er das halte. ›Das sind trockene Blätter‹, wird er vielleicht sagen, oder sonst irgend ein Wort seines Sprach- und 116 Diderot, Denis: Briefe an Sophie, übers. von Gudrun Hohl, Frankfurt am Main 1989, S. 156. 117 Vgl. Liebrucks, Bruno: Sprache und Bewußtsein. Der menschliche Begriff. Sprach­ liche Genesis der Logik, logische Genesis der Sprache, Frankfurt am Main – Bern 1974, Bd. 6/3, S. 532.

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Vorstellungsschatzes gebrauchen, mit dem man flache Körper von geringer Dicke bezeichnet. Wir reisen weiter und kommen zu einem Hottentotten, der einigen, wenn auch nur mittelbaren Verkehr mit europäischen Kolonisten hat. ›Das ist Papier‹, wird er sagen, und wenn er solches Papier nicht schon oft gesehen hat, so wird es ihm vielleicht auffallen, daß auf demselben so viele gerade Striche und schwarze Punkte sind. Er wird vielleicht eine Zauberformel vermuten. Wir kommen später zu einem europäischen Kolonisten, einem Boer. – Er wird nicht in Zweifel sein, daß es Noten sind, aber weiter reicht seine Einsicht nicht. Wir treffen endlich in der Kapstadt einen ausgebildeten Tonkünstler und fragen den, was das sei? Dem wird gar nicht einfallen, daß er erst sagen sollte, ob das geschriebene Musik sei. Er wird die Musik sogleich lesen, in sich reproduzieren und uns sagen: ›Das ist Mozarts Ouvertüre zur Zauberflöte oder Beethovens Symphonie in dieser oder jener Tonart‹. So verschieden ist die Auffassung desselben körperlichen Gegenstandes nach der Bildungsstufe der Beobachter. Die ersten hatten keine Ahnung davon, daß Musik bildlich dargestellt wer­ den könne, vermochten also auch nicht, sie zu sehen; der dritte wußte davon, hatte aber keine Übung, die Musik zu lesen; der Tonkünstler las sogleich die musikalischen Gedanken und erkannte sie als ihm schon bekannt. So ist es mit der Beobachtung des Geistigen.«118

Es ist nicht weiter verwunderlich, daß in einem Text aus dem 19. Jahr­ hundert über den damals in der Weise des Kolonialismus erschlosse­ nen afrikanischen Kontinent auch in kolonialistischer Diktion gespro­ chen wird. Für den, der zu denken sich davon nicht abhalten läßt, bedarf das schöne Bild kaum des interpretierenden Kommentars. Es führt uns die wichtigsten Aspekte des Problems der methodischen Abstraktion anschaulich vor Augen: Das, was wir im Hinblick auf wis­ senschaftliches Vorgehen unterschiedliche methodische Zugänge zur Wirklichkeit genannt haben, bringt Baers Bild von den verschiedenen »Bildungsstufen« der Befragten (ihrer unterschiedlichen Vertrautheit mit europäischer Kultur) her in Sicht. Jede der gegebenen Antworten trifft das Gefragte, keine der Antworten ist falsch, in den Antworten formulieren sich nur jeweils unterschiedliche Abstraktionsebenen gemessen am Ganzen der in Frage stehenden Wirklichkeit. Zudem zeigt sich, daß die die Wirklichkeit als Ganzes erschließende Antwort (Symphonie) nicht durch die Summe der abstrakteren Antworten 118 Baer, Karl Ernst von: Welche Auffassung der lebendigen Natur ist die richtige?, in: Deutscher Verein in Livland (Hg.): Aus baltischer Geistesarbeit. Reden und Auf­ sätze, Riga 1908, S. 41 f.

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(Blätter, Papier etc.) zusammengesetzt werden kann, die Summe der Abstraktionen ergibt kein Ganzes, sondern das Ganze ist allen Abstraktionen vorausgesetzt. Und ein weiteres veranschaulicht das gegebene Bild: Wir können das Beispiel nur verstehen, wenn wir nicht auf einer der unteren Stufen stehen, sondern wenn wir die höchste Stufe erreicht haben und von ihr aus die unteren überblicken. So ist es auch im Verhältnis von Wissenschaft und Wirklichkeit. Wir müssen von der Wirklichkeit, und zwar jener Wirklichkeit, die uns alltagssprachlich erschlossen ist und die wir alle voraussetzen, ob wir nun Wissenschaft oder Philoso­ phie betreiben, ausgehen und können dann mit wissenschaftlicher Methodik von ihr her abstrahieren. Um nicht zuletzt die Abstraktion für die Wirklichkeit zu halten ist es dabei entscheidend, daß wir uns dieses Ausgangspunktes bewußt bleiben. Alleine diese Verwechslung von Wirklichkeit und Abstraktion läßt uns am Beispiel Baers gespro­ chen sagen: Die Symphonie ist eigentlich nur Papier, oder hinsichtlich des Verhältnisses von Sprache und Sinnvermittlung: Die Physik zeigt, daß Sprache eigentlich nur Schallwelle ist. Hier liegt überall jenes Mißverständnis zugrunde, das die empirischen Voraussetzungen der in Frage stehenden Wirklichkeiten für die Wirklichkeit selbst hält und sie damit auf das von ihr empirisch Gegebene reduziert. Auch die gegenwärtige Hirnforschung gibt immer wieder Bei­ spiele für einen solchen Reduktionismus, wenn sie aus ihren Ergeb­ nissen den Schluß zieht, daß das Denken eigentlich nur Gehirn­ stromaktivität ist. Die Ergebnisse moderner Hirnforschung lassen keinen Zweifel an der Bindung geistiger Aktivitäten an das Gehirn, dennoch bleibt es nötig, Gehirn und Denken zu unterscheiden. Im Manifest über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung heißt es diesbezüglich: »Wir haben herausgefunden, daß im menschlichen Gehirn neuronale Prozesse und bewußt erlebte geistig-psychische Zustände aufs Engste miteinander zusammenhängen und unbewußte Prozesse bewußten in bestimmter Weise vorausgehen. Die Daten, die mit modernen bildgebenden Verfahren gewonnen wurden, wei­ sen darauf hin, daß sämtliche innerpsychischen [sic!] Prozesse mit neuronalen Vorgängen in bestimmten Hirnarealen einhergehen – zum Beispiel Imagination, Empathie, das Erleben und Empfinden und das Treffen von Entscheidungen bzw. die absichtsvolle Planung von Handlungen. Auch wenn wir die genauen Details noch nicht kennen, können wir davon ausgehen, daß all diese Prozesse grundsätzlich durch physikochemische Prozesse beschreibbar sind. Diese näher zu

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erforschen, ist die Aufgabe der Hirnforschung in den nächsten Jahren und Jahrzehnten.«119 Hier werden innerpsychische Prozesse mit neuronalen Vorgän­ gen parallelisiert, d.h. aber auch, beide werden unterschieden, die einen, die innerpsychischen, so wird gesagt, gehen einher mit den anderen, den neuronalen bzw. physikochemischen, die einen sind nicht die anderen. In der Tat wird heute kein vernünftiger Mensch ernsthaft bestreiten wollen (falls das je bestritten worden ist), daß geistige Leistungen in ihrer Bindung an die Aktivität entsprechender Hirnareale durch physikalische und chemische Prozesse beschreibbar sind. Die Zukunftsvisionen der Hirnforschung gehen nun aber in Richtung einer Erklärung dieses Zusammenhanges mit dem Ziel berechenbarer Vorhersagen. In diesem Sinne heißt es wenige Seiten später: »In absehbarer Zeit, also in den nächsten 20 bis 30 Jahren, wird die Hirnforschung den Zusammenhang zwischen neuroelektri­ schen und neurochemischen Prozessen einerseits und perzeptiven, kognitiven, psychischen und motorischen Leistungen andererseits soweit erklären können, daß Voraussagen über diese Zusammen­ hänge in beiden Richtungen mit einem hohen Wahrscheinlichkeits­ grad möglich sind. Dies bedeutet, daß man widerspruchsfrei Geist, Bewußtsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit als natürli­ che Vorgänge ansehen wird, denn sie beruhen auf biologischen Prozes­ sen.«120 Die anfangs festgehaltene Unterscheidung weicht hier gewisser­ maßen unter der Hand einer Identifizierung. Die noch zu Beginn des Zitates von neuronalen und physikochemischen Vorgängen unter­ schiedenen geistig-psychischen (innerpsychischen) Zustände werden mit der Einsicht, daß sie auf biologischen Prozessen beruhen, selbst zu natürlichen Vorgängen, d.h. sie fallen mit diesen zusammen. Genau in dieser Identifizierung zunächst unterschiedener Ebenen liegt der Reduktionismus. Auf die Notwendigkeit, Gehirn und Denken zu unterscheiden, hat schon Leibniz hingewiesen. Im § 17 seiner »Monadologie« finden wir das sogenannte Mühlengleichnis: »Übrigens muß man notwendig 119 Das Manifest über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung, in: Gehirn & Geist 6, 2004, S. 30–37, zit. nach: Wetzel, Manfred: Sokratischer Dialog über Hirnfor­ schung, Würzburg 2007, S. 2 f. 120 Das Manifest über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung, zit. nach Wetzel, S. 5.

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zugestehen, daß die Perzeption [sinnliche Wahrnehmung] und was von ihr abhängt auf mechanische Weise, d.h. mit Hilfe von Figuren und Bewegungen, unerklärbar ist. Nehmen wir einmal an, es gäbe eine Maschine, die so eingerichtet wäre, daß sie Gedanken, Empfin­ dungen und Perzeptionen hervorbrächte, so würde man sich dieselbe gewiß dermaßen proportional-vergrößert vorstellen können, daß man in sie hineinzutreten vermöchte, wie in eine Mühle. Dies vor­ ausgesetzt, wird man bei ihrer inneren Besichtigung nichts weiter finden als einzelne Stücke, die einander stoßen – und niemals etwas, woraus eine Perzeption zu erklären wäre.«121 Wir lesen hier nichts, was nicht auch durch die Befunde der Neurowissenschaften gestützt wäre. Diese haben das Gehirn zwar nicht mühlenartig vergrößern können, es dafür aber hinsichtlich Aufbau und Funktion in einer Weise erschlossen, daß es Gehirnchir­ urgen bei Operationen möglich ist, in den Köpfen quasi ein- und auszugehen wie die Mühlenbesucher bei Leibniz. Ganz im Sinne seiner Einsichten finden sie dabei Empirisches, wie Zellen, Hirnhäute etc. und Meßbares, wie elektrische Potentiale und anderes mehr, aber keine Gedanken, Begriffe, Vorstellungen oder Gefühle. Die beiden Ebenen müssen auseinandergehalten werden. Was die Bestimmung des Verhältnisses beider betrifft, genügt es freilich auch nicht, das Denken eine Funktion des Gehirns zu nennen. Dieser Satz läßt sowohl das Denken als auch den Zusammenhang von Denken und Gehirn unbestimmt. Als Ergebnis der Hirnforschung bleibt er nichtssagend, weil das im Funktionsbegriff unterstellte Abhängigkeitsverhältnis zwei unterschiedliche Ebenen verbindet, von denen nur eine über­ haupt Gegenstand der Neurophysiologie ist.122 Wir müssen uns darüber klar werden, daß wir empirisch wissen­ schaftlich zwar etwas über das Gehirn, nicht aber über das Denken in Erfahrung bringen können! Auf die naheliegende Frage: Wenn wir das Denken empirisch nicht erfassen können, wie wollen wir dann überhaupt etwas von ihm wissen? lautet die Antwort: Durch das Denken selbst; bei Hegel lesen wir: »[D]er Geist ist nur für den

121 Leibniz, Gottfried Wilhelm: Monadologie, übers. von Hermann Glockner, Stutt­ gart 21970, S. 14 f. 122 Vgl. Nagl-Docekal, Herta: Evolutionäre Erkenntnistheorie?, in: Ehalt, Hubert Christian (Hg.): Zwischen Natur und Kultur. Zur Kritik biologistischer Ansätze, Wien 1985, S. 257.

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Geist«123, das Denken, nicht seinen physiologischen Voraussetzungen nach betrachtet, sondern im Sinne des Logischen, kann nur denkend erschlossen werden. Wir denken nicht erst, seit wir davon wissen, daß das Gehirn die physische Voraussetzung des Denkens ist, Menschen haben lange bevor sie das wußten gedacht und auch die Frage nach der Wahrheit des Denkens gestellt. Das Denken macht sich zum Gegen­ stand, indem es sich auf sich selbst bezieht, die oblique Intention einer solchen Rückwendung des Denkens auf sich selbst am Bespiel der Erfahrungserkenntnis nannte Kant: transzendental.124 Nicht nur die Philosophie sieht im Hinblick auf Aussagen der Wissenschaft Grund zur kritischen Zurückweisung von Reduktio­ nismen. Auch Wissenschaften untereinander müssen sich immer wieder gegen Reduktionismen zur Wehr setzen, so z.B. die Biologie gegen eine Reduktion auf Physik und Chemie, wie sie etwa in dem Satz: »Alles Leben ist Chemie«125 zum Ausdruck kommt. Konrad Lorenz schreibt dazu sehr anschaulich: »Es ist sicher richtig, wenn wir behaupten: Lebensvorgänge sind chemische und physikalische Vorgänge […] Falsch dagegen ist die oft gehörte Aussage: Lebensvor­ gänge sind eigentlich nichts als chemische und physikalische Vorgänge [denn …] hinsichtlich dessen, was ihnen allein zu eigen und für sie konstitutiv ist, sind sie etwas sehr viel anderes, als was man gemeinhin unter chemisch-physikalischen Vorgängen versteht.«126 Hier wird nicht geleugnet, daß Lebensvorgänge physikalischchemisch beschreibbar sind, es wird allerdings darauf hingewiesen, daß die spezifischen Fragestellungen der Biologie damit gar nicht berührt sind. Wissenschaftstheoretisch gesehen geht es dabei also um die Eigenständigkeit des über Physik und Chemie hinausgehenden Gegenstandsbereiches, des bios-logos, der Biologie. Wenn Leben nur ein physikalisch-chemischer Prozeß wäre, wäre es ausschließlich Gegenstand von Physik und Chemie, Biologie im eigentlichen Sinn hätte gar keinen eigenen Gegenstandsbereich. Man wird also dem Satz: »Alles Leben ist Chemie« mit den nötigen sprachkritischen Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Kant, in: Glockner, Hermann (Hg.): Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, Stuttgart – Bad Cannstatt 1964 ff., Bd. 19, S. 575. 124 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 25. 125 Titel einer von Hellmut Andics geschriebenen und von Hermann Franz Mark präsentierten 10-teiligen ORF Fernsehsendung aus dem Jahre 1978. 126 Vgl. Lorenz, Konrad: Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression, München 1974, S. 214 f. 123

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Differenzierungen gegenübertreten müssen, wenn man der hier impliziten Sprachverführung nicht erliegen will. So hingesagt ist der Satz falsch oder zumindest mißverständlich, korrekt müßte er lauten: Alles, was der Chemiker über das Leben sagen kann, ist Chemie, oder anders gesagt: Der Chemiker kann Leben nur chemisch beschreiben. Wenn man es als Ideal ansieht, in dem oben angeführten Sinn biologische Tatsachen auf physikalisch-chemische Gesetze zu redu­ zieren, dann steht man, wie das Edith Stein trefflich ausgedrückt hat, »auf einmal vor dem Ergebnis, daß die lebendige Welt gar keine lebendige sei: die Wissenschaft vom Leben hat das Leben hinweginterpretiert, so wie der Physikus uns als Ergebnis der Farbenund Tonlehre erklärt, daß es keine Farben und Töne gibt, sondern nur Schwingungen. Der natürliche Verstand des naiven Menschen pro­ testiert gegen dieses wissenschaftliche Weltbild. Und der Philosoph sieht sich aufgefordert, das Recht der vorwissenschaftlichen und der wissenschaftlichen Erfahrung nachzuprüfen.«127 Der abstraktive Charakter der Wissenschaft und damit ihre Grenzen werden am deutlichsten dort, wo sich Wissenschaft auf die uns alltagssprachlich erschlossene Wirklichkeit bezieht. Von ihr gehen, wie erwähnt, Philosophie und Wissenschaft aus, während die Philosophie dieselbe in ihrem Selbstverständnis kritisch zu rekon­ struieren versucht, entfernt sich die Wissenschaft von dieser Wirk­ lichkeit und findet, bildlich gesprochen, nicht mehr zu ihr zurück. Wo Wissenschaft nicht sieht, daß über ihre Abstraktionen diese Wirklichkeit nicht wieder zu erreichen ist, steht sie immer in der Gefahr, sie entweder zu leugnen oder sie zumindest in einer Weise zu rekonstruieren, die ihrem Selbstverständnis nicht gerecht wird. Das gilt für praktische Wirklichkeiten, wie das Gewissen ebenso, wie für einen schönen Sommertag. Im Sinn des letzteren sei abschließend noch einmal an einem literarischen Beispiel die Art und Weise, in der sich der wissenschaft­ liche Blick auf die Wirklichkeit und unsere alltägliche Erfahrung derselben unterscheiden und daß wir in dem einen keinen Ersatz für die andere haben, sie uns also auch durch ersteren nicht nehmen lassen sollten, demonstriert. Im ersten Absatz seines Romans »Der Mann ohne Eigenschaften«, aus dem philosophisch gesehen doch einiges Bemerkenswertes hervorgeht, schreibt Robert Musil einer 127 Stein, Edith: Der Aufbau der menschlichen Person, in: Gelber, Lucy (Hg.): Edith Steins Werke, Bd. XVI, Freiburg im Br. – Wien 1994, S. 83.

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wissenschaftsgläubigen Zeit wie der unseren ins Stammbuch: »Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isother­ men und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestempera­ tur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.«128 Soweit ein kurzer Überblick über die Eigenart der Realwissen­ schaften. Wenn wir das Gesagte mit dem Weltbegriff der Philosophie bei Kant vergleichen, so sehen wir, daß Philosophie grundsätzlich von dem unterschieden ist, was wir Wissenschaft nennen. Sie ist weder Formalwissenschaft noch Realwissenschaft, Philosophie ist keine Naturwissenschaft und auch keine Geisteswissenschaft, obwohl man letzteres öfter hören kann, Philosophie ist eine Prinzipienwissen­ schaft. Die Philosophie ist in allen drei für die Realwissenschaft cha­ rakteristischen Merkmalen von dieser unterschieden. Zunächst ist die Methode der Philosophie keine empirische Methode. Es wird hier nichts gemessen oder beobachtet, ja die Philosophie hat es überhaupt nicht mit jener empirischen Gegenständlichkeit zu tun, auf welche die Erfahrungswissenschaft bezogen ist, sondern mit sprachlich formulierten Sinnansprüchen. Im Blick darauf hat Erich Heintel die Philosophie methodisch als universale Sprachkritik129 bestimmt. In ihr werden formulierte Sinnansprüche zunächst einmal hingenommen, und zwar im Versuch, sie so zu verstehen, wie sie sich selbst verstehen. Sie werden dann systematisch aufeinander bezogen, Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1984, Bd. 1, Kapitel 1: Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht, S. 9. 129 Vgl. Heintel, Erich: Einführung in die Sprachphilosophie, Darmstadt 21975, beson­ ders 6. Kap., S. 85 ff. und 8. Kap., S. 102 ff. 128

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d.h. ihrem eigenständigen Sinn nach erschlossen und miteinander ins Gespräch gebracht im Versuch, sie in eine Rangordnung zu bringen und sie solcherart ihrer verschiedenen Wertigkeit nach zu ordnen.130 Die methodische Bestimmung der Philosophie ist freilich selbst ein philosophisches Problem und kann daher nicht in derselben unproblematischen Weise erfolgen wie die der Wissenschaften. In der Frage: »Was ist der Mensch?« ist die Philosophie durch den Bezug auf den Gesamtraum dessen, was den Menschen beschäf­ tigt, gekennzeichnet. Sie unterscheidet sich also auch ihrem Gegen­ standsbereich nach prinzipiell von einer Einzelwissenschaft, denn sie erforscht nicht einen Teilbereich der Erfahrungswirklichkeit, son­ dern die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrungswirklichkeit im Ganzen. Dieser Bereich bleibt den Wissenschaften vorausgesetzt, insoferne er durch sie selbst nicht einholbar, in ihnen nicht themati­ sierbar ist. Im Sinne der geistig vermittelten Weltstellung des Menschen ist alle Wirklichkeit durch die Form allen Erkennens und Wissens, »Ich denke«131, konstituiert. Im diesem »Ich denke«, das wir auch Ich oder Subjekt nennen können, formuliert sich eine gegenstandskonstitutive Voraussetzung aller Empirie, die selbst kein Gegenstand oder Ding ist, und die daher auch nicht empirisch erfaßbar sein kann. Wir können mit Robert Reininger eben darin die Besonderheit der Philosophie erblicken, »daß sie die Subjekttatsache als solche stets mit in Betracht zieht im Gegensatz zur Wissenschaft von der Natur, die sie grundsätz­ lich außer acht läßt, ja sie methodisch ausschaltet. Die Methode dieser ist peripher, insofern sie ausschließlich auf die Erforschung der Rela­ tionen zwischen den Erscheinungen gerichtet ist. Die methodische Einstellung der Philosophie ist im Unterschiede davon zwar nicht subjektiv, wohl aber zentral, insofern sie den ichbezogenen Charakter der unmittelbar gegebenen Wirklichkeit auch im Nachdenken über diese Wirklichkeit stets festhält und mitberücksichtigt.«132 Für das Verhältnis der Philosophie zur Wissenschaft ergibt sich daraus folgendes: »Die Philosophie liegt [...] nicht in der Verlänge­ rungslinie anderer Wissenschaften, sondern ist eine Senkrechte, die alle anderen Linien schneidet. Philosophie darf daher nicht an andere Vgl. Heintel, Einführung in die Sprachphilosophie, S. 107. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, § 16. 132 Reininger, Robert: Wertphilosophie und Ethik. Die Frage nach dem Sinn des Lebens als Grundlage einer Wertordnung, Wien – Leipzig 1946, S. 170. 130

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Wissenschaften anknüpfen wollen und hat auch von ihnen keine Hilfe zu erwarten. Sie selbst wieder bilden für sie ein Problem. Denke man sich alle anderen Wissenschaften in ihrer Art vollendet, so bliebe die Aufgabe der Philosophie mit ihrer ganz andersartigen Blickeinstellung davon unangetastet.«133 Philosophie und Wissenschaft stehen sich bei Reininger auto­ nom gegenüber und haben ihre jeweilige Berechtigung gerade im Wissen um ihre Unterschiedenheit: »Sofern beide Einstellungen, die zentrale und die periphere, jede für sich folgerichtig durchgeführt und beide strenge auseinandergehalten werden, stören sie einander nicht. Verwirrung entsteht erst durch ihre Vermengung«.134 Reininger verweist in diesem Zusammenhang unter anderem auf das Freiheits­ problem, das in der Folge einer solchen Vermengung antinomisch wird und unlösbar erscheinen muß. Ich möchte diese Überlegungen durch den Hinweis ergänzen, daß die vorgetragene Unterscheidung philosophischen und einzelwis­ senschaftlichen Vorgehens nicht eine Entgegensetzung von bestimm­ ten Personenkreisen meint. Natürlich kann auch der Wissenschaftler, z.B. der Biologe, nicht nur Biologie betreiben, sondern darüber hinaus über die wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen seiner Wissen­ schaft nachdenken. Nur arbeitet er dann nicht mehr mit der Methodik seines Forschungsbereichs, sondern denkt philosophisch, d.h. mit ganz anderen Mitteln über seine Wissenschaft nach. Die Fragen nach Gegenstand und Methode liegen außerhalb des jeweiligen ein­ zelwissenschaftlichen Vorgehens. Auch Galilei spricht, wenn er der Naturwissenschaft das schon genannte Programm gibt: Messen, was meßbar ist ..., nicht als Physiker, sondern als Wissenschaftstheoreti­ ker der Physik, d.h. aber als Philosoph, denn Wissenschaftstheorie ist eine Disziplin der Philosophie.

Das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft Ein wissenschaftsgeschichtlicher Blick auf die Differenz von Philoso­ phie und Wissenschaft zeigt, daß zunächst alle Erkenntnisbemühun­ gen unter dem Dach der Philosophie vereint waren. Das beste Beispiel 133 Reininger, Robert: Nachgelassene philosophische Aphorismen aus den Jahren 1948–1954, hrsg. von Erich Heintel, Graz – Wien – Köln 1961, S. 32 f. 134 Reininger, Wertphilosophie und Ethik, S. 179.

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dafür ist Aristoteles – bei ihm zerfällt das Wissen, die Erkenntnis, zuerst in einzelne Disziplinen, den Unterschieden des Seienden und seiner möglichen Betrachtungsweisen gemäß. Die Unterschiede z.B. zwischen Tier, Mensch und Gott werden aus der alltäglichen Lebenserfahrung aufgenommen und führen zu den verschiedenen Disziplinen, wie Zoologie, Psychologie, Theologie usw. Es gibt so gut wie nichts, was Aristoteles nicht schon bedacht hätte, neben den bereits genannten wären zu erwähnen: Formale Logik, Metaphysik, Ethik, Politik, Ästhetik, Pädagogik etc. Viele dieser Wissenschaftsdis­ ziplinen gehen der Sache und zum Teil auch der Bezeichnung nach auf ihn zurück – ein ganzer Kosmos des Wissens wird hier in einem riesigen Systementwurf ausgebreitet und all die unterschiedlichen Disziplinen werden vom Philosophen in Personalunion vertreten. Mit der Unterscheidung der Disziplinen verbindet Aristoteles die bedeutenden wissenschaftstheoretischen Einsichten, daß nicht jeder Gegenstand der gleichen Methode zugänglich ist und nicht von jeder Untersuchung die gleiche Genauigkeit erwartet werden kann. Es hängt vom jeweiligen Stoff, also vom Untersuchungsgebiet ab, welcher Grad von begrifflicher Bestimmtheit zu erreichen ist. Was die Möglichkeit der Exaktheit anlangt, wird daher von vorneherein ein Unterschied zwischen Physik und Ethik anzusetzen sein: »Wir werden uns aber mit demjenigen Grade von Bestimmtheit begnügen müssen, der dem gegebenen Stoffe entspricht. Denn man darf nicht bei allen Fragen die gleiche Präzision verlangen, wie man es ja auch nicht im Handwerklichen tut.«135 »[E]s kennzeichnet den Gebildeten, in jedem einzelnen Gebiet nur so viel Präzision zu verlangen, als es die Natur des Gegenstandes zuläßt. Andernfalls wäre es, wie wenn man von einem Mathematiker Wahrscheinlichkeitsgründe annehmen und vom Redner zwingende Beweise fordern würde.«136 Auch Philosophie und Einzelwissenschaften sind bei Aristoteles unterschieden, über die Physik und ihre Probleme hinaus liegen die der Metaphysik, aber nicht in der heute üblichen Weise voneinander getrennt. Im Verlauf der weiteren Entwicklung lösen sich diese Diszi­ plinen von der, wie man sie auch genannt hat, »gemeinsamen Mutter Philosophie« und werden zu eigenständigen Wissenschaften. Die sich etablierenden selbständigen Forschungsgebiete bearbeiten ihren 135 Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, übers. u. hrsg. von Olof Gigon, München 1972, I 1, 1094 b 13. 136 Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, I 1, 1094 b 23.

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Gegenstand nach der Ablösung von der Philosophie nicht mehr mit philosophischen Mitteln, sondern mit eigenen Methoden, im Sinne eines empirischen Vorgehens. Der Ablösungsprozeß der Einzelwissenschaften von der Philoso­ phie läuft mit zunehmender Geschwindigkeit ab, mit Konsequenzen für die Philosophie wie für die Wissenschaft, und insbesondere für das Verhältnis beider. Der letzte große Denker, der nicht nur mehrere Wissenschaften überschaut, sondern auch betrieben hat, ist Gottfried Wilhelm Leibniz gewesen. Ihm wird der Ehrentitel eines Polyhistors zu Recht zugeschrieben, insoferne er nicht nur Mathematik, Sprach­ wissenschaft, Philosophie und andere Disziplinen auf dem Niveau seiner Zeit repräsentiert, sondern dieselben auch produktiv ergänzt, d.h. durch eigene Leistungen zu ihrem Fortschritt beigetragen hat. Der Ablösungsprozeß Philosophie – Wissenschaft setzt sich fort in einem Differenzierungsprozeß in den Wissenschaften selbst, d.h. einem Zerfall einzelner Wissenschaften in wiederum verschie­ dene eigenständige Disziplinen. Als Ergebnis dieser Entwicklung, die keineswegs als abgeschlossen gelten kann, ist inzwischen eine Aufteilung, ja Zersplitterung der Wissenschaften eingetreten, die es mitunter unmöglich macht, auch nur das jeweils eigene Fach, geschweige denn eine Vielzahl von Disziplinen zu überblicken. Wäh­ rend man früher etwa unter Biologie eine relativ einheitliche Lehre oder Wissenschaft vom Lebendigen verstehen konnte, ist Biologie heute nur noch ein vager Oberbegriff für eine Vielzahl von Biowissen­ schaften, die als Einheit von niemandem mehr überschaut werden kann. Es gibt nicht mehr den Wissenschaftler, der für das Lebendige zuständig ist, es gibt auch nicht mehr den Zoologen, der für Tiere oder den Botaniker, der für Pflanzen zuständig ist. Es sind jeweils andere Vertreter der Wissenschaft, die sich mit der Chemie der Pflanzen, ihrer Anatomie oder ihrer Physiologie beschäftigen, und selbst die letzteren haben es nicht mit der Physiologie von Pflanzen im Allgemeinen, sondern etwa nur mit der der Wasserpflanzen zu tun, und man darf annehmen, daß es auch im Rahmen solcher Differenzierungen noch weitere Spezialisierungen im Sinne von For­ schungsschwerpunkten, Projekten und ähnlichem gibt. Daß bei einer solchen Vielzahl verschiedener Disziplinen ganz selbstverständlich eine Situation eintritt, in der die einen nicht mehr wissen, was die anderen tun, wo sie stehen, womit sie sich beschäftigen und wofür sie sich interessieren, ist nicht weiter verwunderlich.

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Die Wissenschaften reagieren auf diese neue Situation mit dem Ruf nach verstärkter Zusammenarbeit. Die Losung heißt »Interdiszi­ plinäres« Forschen und Vorgehen, das in der Tat zunehmend nötiger, aber auch immer schwieriger wird. Das beste Beispiel für die Not­ wendigkeit von Interdisziplinarität ist die Ökologie, soferne das Über­ schreiten klassischer Fächergrenzen zum konstitutiven Moment für diese neue Disziplin geworden ist. Das Fach umfaßt die unterschied­ lichsten Bereiche: Biologie, Chemie, Meteorologie, Bodenkunde, Hydrologie, um nur einige zu nennen. Ökologische Probleme sind eben nur von interdisziplinären Forschungsansätzen her adäquat zu formulieren bzw. überhaupt erst so in Sicht zu bringen – so sehr sind hier die vielfältigsten Aspekte aufeinander bezogen und die unterschiedlichsten Faktoren miteinander verbunden. Freilich wird hier Interdisziplinarität ohnehin sehr eng verstan­ den, man bleibt gewissermaßen immer noch unter sich, insoferne es sich bei den aufgezählten Disziplinen ja durchwegs um natur­ wissenschaftliche Fächer handelt. Daß ein Wissenschaftler aber in der Weise über die engen Grenzen des methodisch und thematisch abgesteckten Zaunes seiner eigenen Disziplin hinaussieht, daß er dabei die Philosophie zu Gesicht bekommt, das ist unter den gegebe­ nen Umständen der Zersplitterung von Wissenschaft eine Rarität, geradezu ein Wunder. Kein Wunder dagegen ist, daß solche interdis­ ziplinären Gespräche eine Rarität sind und wohl auch bleiben werden. Sie sind nicht zuletzt deshalb so selten, weil bis auf ganz wenige Ausnahmen, um es drastisch zu formulieren, die Philosophen wenig von den Einzelwissenschaften und die Einzelwissenschaftler wenig von der Philosophie verstehen. Den Dialogpartnern wird nicht nur ein unerhörtes Maß an Unvoreingenommenheit zugemutet, es gehört auch einiger Mut dazu, sich im Sinne solcher Auseinandersetzungen auf ein Gebiet zu wagen, auf dem man seiner Ausbildung nach ein Laie ist. Die größte Herausforderung solcher Gespräche besteht darin, daß die Gesprächspartner wechselseitig sowohl Spezialisten als auch Dilettanten sind. Die Schwierigkeiten und die Notwendigkeit solcher Gespräche zwischen der Philosophie und den Einzelwissenschaften entsprechen einander. Die Einordnung der eigenen Disziplin in das Ganze der »Universitas litterarum« ist nicht durch die Beschränkung auf dieselbe möglich, sondern eben nur dann, wenn es gelingt, das eigene Fach aus der Perspektive eines fächerübergreifenden Zusammenhanges in den Blick zu nehmen. Diese Einordnung ist eine der Voraussetzungen für

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Von der Wissenschaft zum Szientismus

ein in methodischer Hinsicht legitimes Selbstverständnis und dieses wiederum der wirksamste Schutz gegen die Neigung zu weltanschau­ lichen Ausflügen und Grenzüberschreitungen, die heute vor allem auch in weiten Bereichen der Biologie groß sind. Lange bevor interdisziplinäre Forschungsansätze selbst zum methodischen Paradigma und Signum mancher wissenschaftlichen Forschungsbereiche geworden sind, hat mein Lehrer Erich Hein­ tel an der Universität Wien eine Reihe damals geradezu avantgar­ distisch anmutender interdisziplinärer Gesprächsforen gegründet, unter anderem das Philosophisch-biologische Seminar (1976), Phi­ losophisch-theologische Tagungen, Arbeitsgemeinschaften mit Phy­ sikern, Juristen, etc., aus dem Bewußtsein heraus, daß ein solcher Dialog für die Wissenschaften ebenso wie für die Philosophie nötig und befruchtend ist, gerade in einer Zeit, die durch eine zunehmende Gegenüberstellung, ja Frontstellung zwischen Philosophie und Ein­ zelwissenschaften gekennzeichnet ist.

Von der Wissenschaft zum Szientismus Im Sinne des erwähnten Ablösungsprozesses, der Ausgliederung der einzelnen Wissenschaften aus der Philosophie, kommt es vermehrt zu einer Gegenüberstellung von Philosophie und Wissenschaften. Mathematische Exaktheit, Nützlichkeit und Erfolg haben die neu­ zeitliche Naturwissenschaft zum Paradigma für Wissenschaftlichkeit überhaupt werden lassen. Gemessen an diesem Erfolg lag es nun nahe, auf das Stellen philosophischer Fragen nicht nur zu verzichten, sondern es für sinnlos zu erklären, daß solche Fragen überhaupt gestellt werden. Wissenschaft erweitert im Sinne dieser Überlegun­ gen ihr Programm: Messen was meßbar ist und meßbar machen, was nicht unmittelbar meßbar ist, um den Zusatz: und leugnen, was auch nicht meßbar gemacht werden kann.137 Dieser Zusatz aber macht aus der Wissenschaft eine Weltanschauung, eine Ideologie, wie Franz von Kutschera mit Blick auf die »Ideologie des Noch-Nicht« gezeigt hat: »Die sog. ›wissenschaftliche Weltanschauung‹ ist in Wahrheit eine philosophische. Man bezeichnet sie auch als ›Naturalismus‹ Vgl. Pietschmann, Herbert: Das Ende des naturwissenschaftlichen Zeitalters, Wien – Hamburg 1980, S. 29.

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oder ›Szientismus‹. Sie sieht die empirische Wirklichkeit, die den Gegenstand der Naturwissenschaften bildet, als die ganze Realität an. Die Gesamtwirklichkeit erscheint danach als prinzipiell naturwis­ senschaftlich beschreibbar und erklärbar. Das gilt auch für seelische, geistige und kulturelle Phänomene. Die sind zwar gegenwärtig noch nicht physikalisch oder biologisch erklärbar, aber man ist überzeugt, daß eine solche Erklärung in Zukunft möglich sein wird, ebenso wie eine physikalisch-kausale Erklärung biologischer Erscheinungen möglich geworden ist.«138 Um in dem oben herangezogenen Bild zu bleiben: die Wis­ senschaften als Töchter der gemeinsamen Mutter Philosophie sind zum Teil recht undankbare Kinder. Aus der Sicht vieler Wissenschaf­ ten wird die Philosophie im Laufe dieses Ablösungsprozesses zum Verwalter von Problemen, die noch nicht in den gesicherten Gang der Einzelwissenschaften aufgenommen und mathematisch bewältigt werden konnten. Es kommt zur Ideologie des Noch-Nicht, eine Ideologie, welche im Sinne des eben Zitierten die Philosophie gänzlich durch Wissenschaft zu ersetzen bestrebt ist. Es gehört zum Schicksal der Philosophie, immer wieder totgesagt oder darin, daß man sie auf ein den Einzelwissenschaften vergleichbares methodisches Vorgehen verpflichten möchte, zum Selbstmord aufgefordert zu werden.139 Ein innerphilosophisches Beispiel für die Selbstaufhebung der Philosophie durch eine Auslieferung an die Methode der Einzel­ wissenschaft haben wir bereits in der Position des frühen Wittgen­ stein kennengelernt, der nur Sätze der Naturwissenschaft zulassen möchte und über alles andere zu schweigen empfiehlt. Sogenannte Lebensprobleme, die nicht exakt, also nicht mathematisch-naturwis­ senschaftlich zu lösen sind, etwa die Fragen der Pädagogik, der Ethik oder der Religion, sollen dadurch verschwinden, daß man sie nicht mehr stellt. So bleiben sie ohne Antwort, eine für den Menschen höchst unbefriedigende Lösung. Es ist aber nicht erst eine Behauptung von heute, daß nur jene Wissenschaften, die Logik und Erfahrung zum Gegenstand haben, 138 Kutschera, Franz von: Wissenschaftstheorie und Logik, in: Koslowski, Peter (Hg.): Orientierung durch Philosophie. Ein Lehrbuch nach Teilgebieten, Tübingen 1991, S. 266 f. 139 Litt, Theodor: Empirische Wissenschaft und Philosophie, in: Ziegler, Klaus (Hg.): Wesen und Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für Helmuth Plessner, Göttingen 1957, S. 9.

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Wissenschaften genannt werden können, und Philosophie angesichts dieser Wissenschaften überholt sei. Schon David Hume, ein Vertre­ ter des Englischen Empirismus, hat in diesem Zusammenhang das Folgende geschrieben: »Wenn wir [...] unsere Bibliotheken durchge­ hen, welche Verwüstung müßten wir dann anrichten! Nehmen wir irgendein Buch zur Hand, z.B. über Theologie oder Schulmetaphysik, so laßt uns fragen: Enthält es eine abstrakte Erörterung über Größe und Zahl? Nein! Enthält es eine auf Erfahrung beruhende Erörterung über Tatsache und Existenz? Nein. So übergebe man es den Flammen, denn es kann nichts als Sophisterei und Blendwerk enthalten.«140 Wir wollen Hume nicht vorhalten, daß nicht die Bücherverbrennung, sondern Auseinandersetzung und Widerlegung die adäquate Antwort auf geistige Erzeugnisse darstellt, wir wollen ihn aber fragen, welche Position dem eigenen Werk im Rahmen der in ihm aufgestellten Alternative zukommt? In dieser Selbstanwendung sehen wir Humes Werk seinem eigenen Verdikt unterliegend im Feuer verschwinden. Ein ähnliches Bild ergibt sich im Blick auf den sogenannten Wiener Kreis, ein Kreis von Denkern zu Beginn des 20. Jahrhun­ derts, dem unter anderen Moritz Schlick, Otto Neurath und Rudolf Carnap angehört haben und der auch unter dem Namen »Logischer Empirismus« oder »Neopositivismus« bekannt ist. Für diesen Philo­ sophenkreis gilt die für weite Teile der österreichischen Philosophie in der Ablehnung von Metaphysik und Transzendentalphilosophie charakteristische analytische Grundausrichtung in besonderer Weise. Auch hier geht es um ein Philosophieren, welches weitgehend von der Einzelwissenschaft her bestimmt und an ihr ausgerichtet ist. Es wird für alles Wissen (auch für das philosophische) die Bindung an »Logik« und »Erfahrung« in der Weise einzelwissenschaftlicher Theorie und Empirie für verpflichtend gehalten, und was darüber hinausgeht, zum Scheinproblem erklärt und als Metaphysik (»Hinter­ welt«) verspottet.141 Auch wenn hier 200 Jahre nach Hume gesagt wird: Alle Philosophie beruht auf Logik und Erfahrung, so entspricht eben diese Behauptung nicht dem eigenen Programm, zu einer sol­ chen Behauptung komme ich nicht, wenn ich mich auf Logik und Erfahrung beschränke. Hume, David: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, übers. von Herbert Herring, Stuttgart 1967, S. 207. 141 Vgl. Heintel, Erich: Selbstdarstellung, in: Pongratz, Ludwig J. (Hg.): Philosophie in Selbstdarstellungen, Bd. III, Hamburg 1977, S. 138. 140

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Die Menschheit hat lange wie gebannt auf diesen Triumph und Siegeszug der neuzeitlichen Wissenschaft geblickt, der diese in Verbindung mit der modernen Technik zu einer unsere Zivilisation bis hinein in all die kleinen und großen Annehmlichkeiten, die wir täglich genießen, bestimmenden Macht hat werden lassen und dabei die in diesem Fortschritt liegende Dialektik übersehen. Das Problem der Atombombe, aber auch all das, was wir im Begriff einer ökologischen Krise zusammenfassen, haben uns in der Zwischenzeit deutlicher als noch vor wenigen Jahrzehnten sehen lassen, daß Entlastungen auf der einen Seite zu Belastungen auf der anderen führen, wir haben gelernt, die sogenannten Nebenfolgen des wissenschaftlich-technologischen Fortschritts genauer ins Auge zu fassen, eines Fortschritts, der unter anderem deshalb so effektiv ist, weil Wissenschaft und Technik sich hierbei gegenseitig beflügeln – neue wissenschaftliche Ergebnisse führen zu neuen technischen Möglichkeiten, die wiederum auf die Wissenschaften und die Möglichkeiten ihres Fortschritts zurückwir­ ken. Der Philosoph und Pädagoge Jean-Jacques Rousseau hat als einer der ersten gesehen, daß der Fortschritt im Teilbereich der Wissenschaften nicht automatisch und gewissermaßen linear einem Fortschritt der Menschheit im Ganzen gleichzusetzen ist, und dies in seiner Antwort auf die von der Akademie zu Dijon 1750 ausgeschrie­ bene Preisfrage ausgesprochen. Diese hatte damals gelautet: »Hat der Fortschritt der Wissenschaften und der Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen?«142 Rousseau hat diese Frage – heute würde man formulieren: Fördern Wissenschaften und Künste die Humanität? – nicht, wie zu erwarten war, bejaht, sondern gegen den Zeitgeist verneint und im schroffen Gegensatz zum Fortschrittsoptimismus der Aufklärung, der in naiver Wissenschaftsgläubigkeit die Hoffnung hegte, daß die Wissenschaften in absehbarer Zeit das Paradies auf Erden zu realisieren vermögen, die These vertreten, daß der wis­ senschaftliche Fortschritt nicht automatisch auch ein Fortschritt der Menschheit in sittlicher Hinsicht ist. Die revolutionäre Einsicht von damals ist für uns heute von einer solch aufdringlichen Realität, daß Wissenschaftskritik längst nicht 142 Rousseau, Jean-Jacques: Abhandlung über die von der Akademie zu Dijon gestellte Frage, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läute­ rung der Sitten beigetragen habe, in: Sozialphilosophische und Politische Schriften, München 1981, S. 8–35.

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mehr nur eine Sache der Philosophie ist, die Kritiker der Wissenschaft kommen zum Teil selber aus den Reihen der Wissenschaft, so z.B. der Genetiker und Biochemiker Erwin Chargaff, dessen Forschungen wesentlich zur Entdeckung des genetischen Codes beigetragen haben. Er hat die Janusköpfigkeit des wissenschaftlichen Fortschritts mit der trefflichen Kurzformel beschrieben: »Je strahlender die Wissenschaft, desto größer die Bestrahlungsgefahr«143 – dem ist nichts hinzuzufü­ gen. Diese Wendung vom Genetiker zum Genetikkritiker ist Chargaff mitunter zum Vorwurf gemacht worden. Neben dem erwartbaren »Nestbeschmutzer« auch in der Weise, daß man ihm vorgehalten hat, zuerst an den Dingen aktiv mitgearbeitet zu haben, die er dann verurteilt. Freilich ist der Wissenschaftler als Wissenschaftskritiker in der etwas eigentümlichen Situation, daß er vor Gefahren warnt, die primär durch ihn selber in die Welt gebracht wurden, die es also ohne ihn gar nicht gäbe. Aber andererseits kann man niemandem vorwerfen, daß er, wenn auch erst spät, sich über die aus seinem Tun folgenden Konsequenzen Gedanken macht. Ein Aspekt, der durchaus positiv zu Buche schlägt und von den Kritikern des Kritikers gerne übersehen wird ist der, daß natürlich der Wissenschaftler als Wissenschaftskritiker den Vorteil hat zu wissen, wovon er spricht. Der Vorwurf, den man dem Philosophen gerne macht, nämlich in der Wissenschaft, die er kritisiert, nicht genügend Bescheid zu wissen, läuft hier ins Leere. Die Ambivalenz des naturwissenschaftlich-technischen Fort­ schritts ist jedenfalls heute ungleich stärker auch in den negativen Auswirkungen spürbar, was trotz der naturwissenschaftlichen Erfolge zu wachsender Skepsis und Kritik an der Wissenschaft führt. Wir sehen heute weit deutlicher, als es Rousseau möglich war, daß sich der Fortschritt im Rahmen der Sittlichkeit und der wissenschaftliche Fortschritt entkoppelt haben. So augenfällig und unbestritten der Fortschritt in den Wissenschaften ist, so unbestritten ist auch, daß die Ethik den jeweils neuesten wissenschaftlichen Möglichkeiten ziemlich hoffnungs- und wirkungslos hinterherläuft. Es sind stehende Redewendungen, dort, wo man sich mit den Problemen von Wissen­ schaft und Ethik beschäftigt, daß die Ethik zu spät komme, mit der Entwicklung nicht Schritt halten könne, und daher fortschrittlichen Neuerungen atem- und noch schlimmer, kopflos hinterher renne! Die Sittlichkeit wird durch die Wissenschaft nicht nur nicht gefördert, 143

Chargaff, Erwin: Über das Lebendige. Ausgewählte Essays, Stuttgart 1993, S. 311.

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sondern sie wird durch ihre ungeheuren Fortschritte in zunehmendem Maß vor Probleme gestellt, die sie zu überfordern scheinen. Es sind ja gerade die durch die technische Umsetzung der Ergebnisse wissen­ schaftlichen Forschens extrem erweiterten Handlungsmöglichkeiten (z.B. in der Gentechnologie oder der Reproduktionsmedizin), wel­ che die Ethik herausfordern, soferne eben für diese hier möglich gewordenen Ungeheuerlichkeiten keine Tradition sittlichen Handelns besteht. Hier stellt sich die Frage nach der Differenz von Sollen und Können bzw. die einer vernünftigen Einschränkung des Könnens durch das Sollen. Während Kant das Verhältnis von Können und Sollen noch durch den Imperativ: Du kannst, denn du sollst! bestimmt sah, tendiert die moderne Wissenschaft gerade zum Gegenteil: Du sollst, denn du kannst! Diesem Imperativ liegt eine Umkehrung von Mittel und Zweck zugrunde, wie sie für die Berufung auf Sachzwänge charakteristisch ist. Anwendbare Forschungsergebnisse und hohe Forschungsinvestitionen schaffen Tatsachen, gegen die mit ethischen Argumenten realistischerweise kaum etwas auszurichten ist. Und daran wird sich so lange nichts ändern, solange die Wissenschaft ihr Tun für wertfrei erklärt und danach handelt. Was die Einstellung der Wissenschaftler zu ihrer Arbeit und zum Verantwortungsproblem betrifft, möchte ich auf eine Arbeit von 1985 verweisen144, die von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften preisgekrönt wurde (als Siegerarbeit einer Preisaus­ schreibung zum Thema: Die Rolle des Gewissens und der persönli­ chen Verantwortung in der Arbeit des Wissenschaftlers) und deren Hauptthese es ist, daß der Wissenschaftler nur einem einzigen Wert gegenüber verantwortlich ist: dem der Wertfreiheit! Das entspricht der klassischen Berufung auf die Wertfreiheit, durch die man sich von jeder moralischen Forderung an die eigene Arbeit befreit. Der Trick dabei ist, daß man sich gewissermaßen aus Verantwortung weigert, Verantwortung zu übernehmen, die Berufung auf Verantwor­ tung, die einer Leugnung von Verantwortung gleichkommt. Obwohl die tiefgreifendsten und dramatischsten Änderungen unserer Gesell­ schaft und unseres Lebens durch die Wissenschaft ermöglicht werden, gelingt es der Wissenschaft auf diese Weise, sich als für diese Verände­ rungen nicht verantwortlich zu präsentieren. Wertfreiheit heißt hier

Narnhofer, Heide / Schmetterer, Eva / Sobotka, Raimund: Die Rolle des Gewissens und der persönlichen Verantwortung in der Arbeit des Wissenschaftlers, Wien 1985.

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zuletzt: es gibt ein Handeln, das des Wissenschaftlers, für das dieser nicht verantwortlich ist. Zu dem ungemein schwierigen Thema sei hier nur soviel festge­ halten: gemäß dem heute weitgehend herrschenden Selbstverständ­ nis von Wissenschaft muß die Ethik immer zu spät kommen und angesichts des wissenschaftlichen Fortschritts immer nur entweder machtlose Gegeninstanz oder zweifelhafte Legitimierungsinstanz bleiben, der es darum geht, dem wissenschaftlichen Fortschritt nach­ träglich seine Rechtfertigung und damit dem Wissen ein gutes Gewis­ sen zu geben, einfach deshalb, weil der wissenschaftliche Fortschritt nicht selbst seine Richtung aufgrund ethischer Kriterien bestimmt. Eben das wäre nötig, wenn man die Trennung von wissenschaftli­ chem Fortschritt und Ethik aufheben wollte. Dafür müßte freilich die Berufung auf Wertfreiheit – die sich im Rahmen des methodischen Vorgehens von selbst versteht – hinsichtlich der Zielsetzungen von Wissenschaft aufgegeben werden.145 Daß die Philosophie trotz aller Abdankungs- und Selbstmord­ aufforderungen überlebt hat, liegt an der immerwährenden Aktualität der Philosophie. Dabei verdankt sie ihre Perennität nicht der Unlös­ barkeit ihrer Fragen, sondern dem Umstand, daß sich die Frage: »Was ist der Mensch?« angesichts sich verändernder Herausforderungen für jede Generation von neuem stellt oder, wie das der schon mehrfach zitierte Robert Reininger im Vorwort zu seiner »Metaphysik der Wirklichkeit« ausgedrückt hat: »[...] nicht die Grundprobleme der Erkenntnistheorie, Ethik und Metaphysik sind in Wahrheit veraltet, nur manche ihrer Lösungen können es sein«146, nicht die Grundfra­ gen der Philosophie veralten, sondern die Antworten, die aus einer bestimmten Zeit heraus auf diese Fragen gegeben wurden. Soferne wir zuzugestehen bereit sind, daß das Sollen in der Naturwissenschaft keinen Platz hat, daß Normen und Werte – zumin­ dest ihrer Normativität nach – kein Gegenstand empirisch-naturwis­ senschaftlicher Untersuchung sind, sind es heute ohnehin die durch die Biologie und ihre rasanten Fortschritte aufgeworfenen Probleme, die über die Ethik einen Zusammenhang mit der Philosophie geltend machen. So arbeiten dieselben Wissenschaften, die auf der einen Seite lauthals verkünden, daß die Philosophie ihre Zeit gehabt habe und 145 Vgl. Woschnak, Werner: Von Sinn und Anspruch wissenschaftlicher Verantwor­ tung, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie, Bd. XVII, Wien 1985, S. 75–90. 146 Reininger, Robert: Metaphysik der Wirklichkeit, Wien 21947, Bd. 1, S. XI.

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entbehrlich sei, zugleich daran, daß wir ein Ende der Philosophie nicht zu befürchten haben. Auch wenn die Wissenschaft heute in vieler Hinsicht der Philo­ sophie den Rang abgelaufen zu haben scheint, wenn ihre Erfolge für sich sprechen dadurch, daß sie im Sinne der technischen Umsetzbar­ keit und Verwertbarkeit uns allen nützlich sind, dürfen wir die Frage: »Was ist der Mensch?« nicht gedankenlos den Wissenschaften auslie­ fern. Wir müssen uns der Gefahren eines solchen Szientismus umso mehr bewußt bleiben, als es ja immer wieder Wissenschaften gibt, die von sich aus den Anspruch stellen, diese Frage beantworten und dem Menschen endlich in einer wissenschaftlich fundierten Weise sagen zu können, wer er ist bzw. was er zu sein hat. Aus dem Bisherigen ergibt sich: Wissenschaft, die meint, die Frage: »Was ist der Mensch?« anstelle der Philosophie beantworten zu können, ist Ideologie: »Der szientistische Glaube an eine Wissenschaft, die eines Tages das perso­ nale Selbstverständnis durch eine objektivierende Selbstbeschreibung nicht nur ergänzt, sondern ablöst, ist nicht Wissenschaft, sondern schlechte Philosophie.«147 In diesem Zusammenhang ist auch die Frage nach dem Nutzen der Philosophie zu sehen. Daß Philosophie nutzlos, nicht aber sinnlos ist, hat Martin Heidegger in seiner »Einführung in die Metaphysik«148 herausgestellt: »Die Philosophie ist [...] kein Wissen, das man wie handwerkliche und technische Kenntnisse unmittelbar anlernen, das man wie wirtschaftliches und überhaupt Berufswissen unmittelbar anwenden und jeweils auf seine Nutzbarkeit verrechnen könnte, [...] bei der Philosophie ›kommt nichts heraus‹; ›man kann damit nichts anfangen‹. Diese beiden Redensarten, die besonders in den Kreisen der Lehrer und Forscher der Wissenschaften umlaufen, sind der Ausdruck von Feststellungen, die ihre unbestreitbare Richtigkeit haben. Wer ihnen gegenüber den Versuch macht, zu beweisen, daß schließlich doch ›etwas herauskomme‹, der steigert und festigt nur die herrschende Mißdeutung, die in der Vormeinung besteht, man könne die Philosophie nach den Alltagsmaßstäben abschätzen, nach denen man sonst die Brauchbarkeit von Fahrrädern oder die Wirksamkeit von Heilbädern beurteilt. Es ist völlig richtig und in der besten Ordnung: ›man kann mit der Philosophie nichts anfangen‹. Verkehrt 147 Habermas, Jürgen: Glauben und Wissen. Dankesrede des Friedenspreisträgers des Buchhandels, in: »Die Presse«, 16. Oktober 2001, S. 25. 148 Heidegger, Martin: Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1966.

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Von der Wissenschaft zum Szientismus

ist nur, zu meinen, damit sei das Urteil über die Philosophie beendet. Es kommt nämlich noch ein kleiner Nachtrag in der Gestalt einer Gegenfrage, ob, wenn schon wir mit ihr nichts anfangen können, die Philosophie am Ende nicht mit uns etwas anfängt, gesetzt daß wir uns auf sie einlassen.«149 Nutzen ist nicht gleich Sinn. Die Philosophie ist sinnvoll, ohne einen Nutzen zu haben, sie ist jene Instanz, die uns die Frage erlaubt, ob es denn sinnvoll ist, alles bloß nach seinem Nutzen zu taxieren. Eine Frage, deren Bedeutung sich dort zeigt, wo wir in Ermangelung anderer Maßstäbe das Nützlichkeitskriterium auch auf den Menschen anzuwenden gezwungen sind. Eine Antwort auf die Frage: »Was ist der Mensch?« zu geben, bleibt die genuine Aufgabe der Philosophie und selbstverständlich ist diese Frage nicht in einem Satz zu beantworten. Eine Antwort ist nicht einfacher zu geben als über die Entfaltung des philosophischen Systems. In diesem Sinn können die drei Fragen Kants als Entfaltung dessen begriffen werden, was den Menschen als Vernunftwesen kenn­ zeichnet. Es ist eine alte Definition des Menschen, daß er ein »animal rationale«, ein »vernünftiges Tier« sei und die Ausdifferenzierung dessen, was Vernünftigkeit ausmacht, was sich mit dieser Vernünf­ tigkeit verbindet (Wahrheit, Freiheit und Transzendenzbezug), das stellt sich die Philosophie in der Frage: »Was ist der Mensch?« zum Problem.

149

Heidegger, Einführung in die Metaphysik, S. 7 ff.

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Das Programm moderner nichtspekulativer Anthropologie in seinen Grundlagen und Widersprüchen150

Moderne Anthropologie – eine aus der Mode gekommene Modeerscheinung Wenn wir die Anthropologie, von der hier die Rede sein soll, eine moderne nennen, haben wir sie als Modeerscheinung bestimmt. Im Anschluß an Max Scheler (1928) wird die Anthropologie zu einem die Philosophie beherrschenden Thema, noch Theodor Litt schreibt im Vorwort von »Mensch und Welt« (1948), einem Buch, das sich kritisch mit diesem Denken auseinandersetzt: »›Anthropologie‹ heißt das philosophische Thema des Tages«,151 und auch, nachdem es um die Anthropologie als philosophische Disziplin ruhiger geworden ist, finden wir anthropologische Ansätze dieser Art vermehrt im Rahmen der Wissenschaften (Biologie, Pädagogik) noch bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts. Wenn von Mode die Rede ist, denken wir zunächst an Beklei­ dung, Schmuck und ähnliches, Bereiche, in denen die Mode ihren eigentlichen Ort und ihre unbestrittene Berechtigung hat, aber Moden sind nicht auf diese Bereiche beschränkt, Modeerscheinungen gibt es ebenso in Philosophie und Wissenschaft. So wie im Rahmen der Bekleidung die Stoffe, Schnitte, Farben, Formen, Rocklängen und anderes mehr wechseln, so sehen wir auch in der Wissenschaft bestimmte Begriffe modern und wieder unmodern werden, Themen, 150 Den Begriff »nichtspekulativ« als zusammenfassende Bezeichnung der Philoso­ phischen Anthropologie, von der hier die Rede sein soll, übernehme ich von Walter Schulz, dessen Ausführungen ich auch hinsichtlich der grundsätzlichen Charakteri­ sierung und Kritik dieser Denkrichtung viel verdanke. Vgl. Schulz, Walter: Die Epoche der nichtspekulativen Anthropologie, in: Philosophie in der veränderten Welt, Pfullin­ gen 1974, S. 419–467. 151 Litt, Theodor: Mensch und Welt. Grundlinien einer Philosophie des Geistes, Hei­ delberg 21961, S. 5.

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Das Programm moderner nichtspekulativer Anthropologie

Frage- und Problemstellungen in Mode und wieder aus der Mode kommen, in diesem Sinn hat jede Gegenwart ihr Glossar.152 Die Mode, als allseits bekanntes Phänomen,153 erzwingt nicht zuletzt deshalb unsere Aufmerksamkeit, weil sie uns alle betrifft und zwar unabhängig davon, ob wir uns um sie kümmern oder nicht. Selbst der, der keinen Wert darauf legt, sich nach der neuesten Mode zu kleiden oder sonst mit der Mode Schritt zu halten, wird von ihr her beurteilt, indem z.B. seine Kleidung als altmodisch angesehen wird. Die Mode macht uns immer zum Narren (Kant), ganz gleich, ob wir uns ihrem Diktat unterwerfen oder uns diesem Diktat entgegenstel­ len, wobei Kant in seinem Plädoyer für eine liberale Geisteshaltung diesem Phänomen gegenüber hinsichtlich der Alternative »ein Narr in der Mode« oder »ein Narr außer der Mode«154 zu sein, ersteres vorzuziehen empfiehlt. Mode als das, was alle tun oder anders formuliert, was »man« tut, stellt einen Anspruch, mit dem sich der einzelne auseinandersetzen muß, dem man sich nicht entziehen kann, obwohl die hier zum Tragen kommende Art der Verbindlichkeit eine anonyme ist. Was alle tun, kann ich nicht einfach ignorieren, auch und gerade dann nicht, wenn ich selber nicht das tun will, was alle tun. Was nun den modischen Inhalt betrifft ist festzustellen, daß dieser keine andere Rechtfertigung kennt als die Neuheit. Modern bzw. in Mode oder einfach nur »in« ist etwas einzig und alleine deshalb, weil es neu ist und nicht etwa, weil es schön, gut, gesund, brauchbar, nützlich, angenehm etc. ist. Die Eigenart der Mode ändert sich nicht, wenn sie in einem Bereich wie jenem der Wissenschaft, der gewissermaßen nicht der Vgl. Bröckling, Ulrich, et al. (Hrsg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt am Main 2004. In diesem Buch wird einer ganzen Reihe wissenschaftlicher Modebegriffe in informativer, aber auch unterhaltsamer Weise auf den Zahn gefühlt und bei mehr als einem dieser Zeitgeistbegriffe steckt nicht annähernd soviel dahinter, als ihnen die zutrauen, die sie ständig im Munde führen. Oft, so zeigen die Autoren, treten recht alte Begriffe in neuen Verkleidungen auf, und manch eine dieser Begriffsschöpfungen erweist sich als Mogelpackung – als des Kaisers neuestes Kleid. 153 Vgl. Woschnak, Werner: Zum Begriff der Sitte. Überlegungen zum Verhältnis von Sitte, moralischer Autonomie und Rechtsordnung, hrsg. von Erich Heintel (Sitzungs­ berichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, 505/23), Wien 1988, § 6 Mode oder »Der Schneider wird es schon machen«, S. 74– 80. 154 Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Königlich Preußi­ sche Akademie der Wissenschaften (Hg.): Kant´s gesammelte Schriften, Berlin 1904 ff., Bd. 7, S. 245. 152

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Moderne Anthropologie – eine aus der Mode gekommene Modeerscheinung

ihre ist, zur Geltung kommt. Es bleibt ihr Charakteristikum, ihrem Inhalt gegenüber gleichgültig zu sein, der Umstand, daß ein Thema modern ist, sagt nichts über seine Relevanz oder Sinnhaftigkeit etc. aus, daß ein wissenschaftliches Thema in Mode ist, heißt nichts anderes, als daß sich alle mit ihm beschäftigen. Während es also durchaus kein Hinweis auf seine Bedeutsamkeit ist, wenn ein Thema in Mode kommt, ist der Anspruch zu tun, was alle tun, dabei ebenso groß wie sonst in der Mode. In diesem Sinn ist uns auch in der Philosophie, die in ihren Frage- und Problemstellungen stets von der Gegenwart auszugehen hat, durch die Mode die Auseinandersetzung mit manch seltsamen Ansichten vorgeschrieben.155 Diese Zumutung, über das zu forschen und zu schreiben, über das alle forschen und schreiben, das zu bedenken, was alle bedenken und zu guter Letzt natürlich auch, so zu denken, wie alle denken, wirkt sich auf die wis­ senschaftliche Forschung eher hemmend als belebend aus. Moden in der Wissenschaft rechtfertigen nicht auch größere wissenschaftliche Erwartungen, haben aber den unübersehbaren Nachteil, daß durch sie die Beschäftigung mit anderen Themen deutlich behindert wird. Die Mode betrifft das Thema Anthropologie in zweifacher Weise, einmal darin, daß es sich geradezu als das Modethema des letzten Jahrhunderts beschreiben läßt, und zum anderen darin, daß dieses Thema heute nicht mehr in Mode ist. Aus dem Glossar unserer Gegenwart ist der Begriff Anthropologie verschwunden. Nun ist aber die Frage: »Was ist der Mensch?« ein Thema, das nicht ohne Konsequenzen vernachlässigt werden bzw. außer Sicht geraten kann. In seiner Bedeutung für das Selbstverständnis des Menschen kommt ihm ein Ernst zu, dem die modische Attitüde nicht gerecht wird und der durch die Vereinnahmung als Modethema nicht weniger bedroht ist als durch die Verdrängung durch andere Modethe­ men. Die Selbstvergegenwärtigung dessen, was Menschsein heißt, ist eine perenne, eine stets aufs neue zu unternehmende Aufgabe.

155 Vgl. Liebrucks, Bruno: Über einige transzendentale und einige dialektische »Implikationen« der formalen Logik, in: Niebel, Wilhelm Friedrich / Leisegang, Die­ ter (Hrsg.): Philosophie als Beziehungswissenschaft. Festschrift für Julius Schaaf, Frank­ furt am Main 1971, S. 15. (Sonderdruck)

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Das Programm moderner nichtspekulativer Anthropologie

Moderne Anthropologie – allgemeine Charakteristik Was die Geschichte des philosophischen Begriffs Anthropologie betrifft, hat Odo Marquard in mehreren seiner Veröffentlichungen zum Thema156 darauf hingewiesen, daß es in der deutschen Schul­ philosophie den Disziplinentitel Anthropologie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts gibt und von diesen Einsichten aus die verbreitete These, die Philosophische Anthropologie beginne in den 20er Jah­ ren des vorigen Jahrhunderts, als korrekturbedürftig qualifiziert. Philosophische Anthropologie hat es vor Max Scheler gegeben, sein Werk »Die Stellung des Menschen im Kosmos« aber gibt ihr jene moderne Gestalt, in der sie im und für das 20. Jahrhundert Bedeutung erlangt. Die 1928 erschienene Schrift, deren Autor noch im selben Jahr gestorben ist, gibt den Entwurf zu einer Anthropologie, nicht schon deren Ausführung, hat aber trotzdem oder gerade deswegen ihre große Wirkung entfaltet und den Versuch, »das Wesen des Menschen in vergleichender Abhebung von der Daseinsform des Tiers zu klären«157, programmatisch bestimmt. Die Philosophische Anthropologie wird nicht nur in den Jahr­ zehnten danach zu einer philosophischen Modeerscheinung, mit ihr verbindet sich sogleich auch der Anspruch, nicht bloß eine der Diszi­ plinen der Philosophie, sondern die philosophische Disziplin zu sein. In diesem Sinn heißt es schon bei Scheler: »Ich darf mit Befriedigung feststellen, daß die Probleme einer Philosophischen Anthropologie heute geradezu in den Mittelpunkt aller philosophischen Problematik [...] getreten sind«158, die neue Art und Weise, nach dem Menschen zu fragen, tritt sogleich als Fundamentalphilosophie auf.

156 Vgl. Marquard, Odo: Artikel »Philosophische Anthropologie«, in: Ritter, Joa­ chim / Gründer, Karlfried / Gabriel, Gottfried (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1971 – 2007, Bd.1, S. 362 ff. Marquard, Odo: Zur Geschichte des philosophischen Begriffs ›Anthropologie‹ seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts, in: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilo­ sophie, Frankfurt am Main 1982, S. 122–144. Marquard, Odo: Philosophische Anthropologie, in: Koslowski, Peter (Hg.): Orientie­ rung durch Philosophie. Ein Lehrbuch nach Teilgebieten, Tübingen 1991, S. 21–32. 157 Litt, Mensch und Welt, S. 281. 158 Scheler, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bern – München 71966, S. 6.

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Moderne Anthropologie – allgemeine Charakteristik

Zusammenfassend lassen sich drei charakteristische Vorausset­ zungen identifizieren, welche die moderne Anthropologie im Aus­ gang von und im Anschluß an Scheler kennzeichnen:159 – – –

die Wende zur Natur die Verwissenschaftlichung (Biologie) der Mensch-Tier-Vergleich als bevorzugtes methodisches Mittel;

Und diesen wiederum drei thematische resp. problematische Schwer­ punkte zuordnen: – – –

die Sonderstellung des Menschen der Unterschied von Mensch und Tier das Verhältnis von Leib und Seele (Körper und Geist).160

Die moderne Anthropologie möchte den Menschen von seiner Stel­ lung in der Natur her verstehen. Diese »Wende zur Natur« wird nicht nur bei Scheler bereits aus dem Titel seiner Schrift erkennbar: »Die Stellung des Menschen im Kosmos«, der Mensch wird in die lebendige Natur (Kosmos) gestellt und, in Vergleich und Abhebung, aus die­ sem Zusammenhang mit dem »Biopsychischen« (dem Lebendigen) bestimmt. Neben manch expliziter Formulierung: »Ohne Philosophie der Natur keine Philosophie des Menschen«161, ist auch bei Helmuth Plessner diese Wertigkeit des Bezugspunktes Natur schon im Titel seines Hauptwerkes: »Die Stufen des Organischen und der Mensch«, das ebenfalls 1928 erschienen und lange im Schatten der Schelerschen Stufen gestanden ist, sichtbar, die Eigentümlichkeit des Menschen soll in vergleichender Abhebung von der gestuften Ordnung des Organi­ schen wesenhaft erschlossen werden. Und in der nämlichen Weise stellt Arnold Gehlen den Menschen in die Natur und versucht, ihn aus dem Zusammenhang mit dem Belebten in seiner spezifischen Eigen­ art zu begreifen. Auch im Titel seines Hauptwerkes: »Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt«, das 1940 erschienen ist, zeigen sich die Natur des Menschen und die Besonderheit seiner Weltstellung aufeinander bezogen, wobei der Begriff Natur in all der Mehrdeutigkeit, die diesen Begriff kennzeichnet erscheint, einmal 159 Vgl. Marquard, Zur Geschichte des philosophischen Begriffs ›Anthropologie‹ seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts, S. 135 f. 160 Vgl. Schulz, Walter: Philosophie in der veränderten Welt, Pfullingen 1974, S. 419 f. 161 Pleßner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin 21965, S. 26.

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Das Programm moderner nichtspekulativer Anthropologie

als Inbegriff alles Nichtmenschlichen, also des nicht vom Menschen hervorgebrachten Seienden (im Sinne einer schon aristotelischen Bestimmung von Natur), das andere Mal in der Doppeldeutigkeit, in der von einer Natur des Menschen entsprechend der hegelschen Unterscheidung von erster und zweiter Natur (biologisch-leibliche Organisation versus Vernunft, Freiheit, Kultur etc.) die Rede ist.162 Für die »neue Weise«, in der die Frage nach dem Menschen aufgeworfen werden soll, ist es zudem maßgebend, daß sie »auf der Grundlage der gewaltigen Schätze des Einzelwissens, welche die verschiedenen Wissenschaften vom Menschen erarbeitet haben«163, erfolgen soll. In der Aufnahme von Ergebnissen, die sich einem empirischen, nicht spekulativen Blick auf den Menschen verdanken, steht die moderne Anthropologie im Zeichen einer Verwissenschaftli­ chung, die ihrer philosophischen Grundeinstellung widerspricht. Daß unter den Wissenschaften, die »über die philosophischen Fachkreise [hinaus] an einem neuen Bilde vom Wesensaufbau des Menschen arbeiten«164, die Biologie an erster Stelle steht, ist aus dem Zusam­ menhang mit der sie kennzeichnenden Wende zur Natur begreiflich, Biologie ist die Wissenschaft, die uns heute in empirisch verläßli­ cher Weise ein Wissen über die Natur, auch über die menschliche Natur, bereitstellt. Aus dem Widerspruch zwischen einer grundsätzlich philoso­ phischen Fragestellung und dem Versuch ihrer Beantwortung auf dem Boden empirisch ausgerichteter Einzelforschung resultieren eine Reihe ganz spezifischer Schwierigkeiten, welche die neuzeitli­ che Anthropologie von Scheler an begleiten. Ganz generell wird in der anthropologischen Argumentation ein Bruch165, im Sinne eines Überschreitens der Empirie, sichtbar. Bruno Liebrucks zeigt an den Widersprüchen und Inkonsequenzen der gehlenschen Position166, daß überall dort, wo vom Menschen die Rede ist, ganz unabhängig vom eigenen methodischen Selbstverständnis, die Ebene empirischer Forschung überschritten werden muß.

162 163 164 165 166

Vgl. das Kapitel: Charakteristika der Realwissenschaften, S. 75. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 7. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 6. Vgl. Pleßner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 458. Vgl. das Kapitel: Liebrucks’ Antwort auf Herder, S. 257 ff.

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Max Scheler – Biographie und Bibliographie

Die Positionen von Max Scheler, Helmuth Plessner und Adolf Portmann Die im Folgenden zur Sprache gebrachten Denker unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Ausbildung und in ihrem Selbstverständnis: während Scheler und Gehlen Philosophen ohne eigene Forschungser­ fahrung auf biologischem Gebiet sind, ist Plessner in eben diesem Sinn Philosoph und Biologe, Portmann dagegen nur Biologe (Zoo­ loge), was auch für Konrad Lorenz (Verhaltensforscher) gilt. Die Rechtfertigung, die beiden letzteren in den Zusammenhang einer Phi­ losophischen Anthropologie aufzunehmen, liegt einerseits in ihrem starken anthropologischen Interesse und andererseits in ihrem kon­ trären methodischen Vorgehen, in der gänzlich unterschiedlichen Art und Weise, in der sie dabei die Biologie zum Zuge bringen.

Max Scheler – Biographie und Bibliographie Biographie167 22. 08. 1874 geboren in München; Eltern: Gottlieb Scheler, Domänenverwalter; Sofie, geb. Fürther, aus wohlhabender jüdischer Familie 1894 Abitur am Ludwigsgymnasium in München 1895 Studium der Medizin in München, ab WS in Berlin Philosophie und Soziologie bei Wilhelm Dilthey und Georg Sim­ mel 1896 Fortsetzung des Studiums der Philosophie in Jena 1897 Promotion bei Rudolf Eucken (Philosophie), Nationalökonomie und Geographie 1898 Studienaufenthalt in Heidelberg 1899 Habilitation bei Rudolf Eucken: Die transzendentale und die psy­ chologische Methode; In Berlin: Heirat mit Amalie, geb. Wollmann, gesch. Dewitz-Krebs 1900 Beginn der Vorlesungstätigkeit als Privatdozent für Philosophie in Jena 1905 Geburt des Sohnes Wolfgang Heinrich (Ende der 30er Jahre im Lager Oranienburg umgebracht) 167 Zu den biographischen Angaben vgl.: Mader, Wilhelm: Max Scheler in Selbstzeug­ nissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1980.

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Das Programm moderner nichtspekulativer Anthropologie 1906 Privatdozent in München 1910 Verlust der Dozentur (durch private Verwicklungen) 1912 Heirat mit Märit Furtwängler 1913 Mitherausgeber des »Jahrbuch für Philosophie und phänomenolo­ gische Forschung« mit Husserl, Pfänder, et al. 1914 Meldung als Kriegsfreiwilliger 1918 Professor für Philosophie und Soziologie an der Universität Köln 1924 Heirat mit Maria Scheu 1927 »Die Sonderstellung des Menschen« (Vortrag in Darmstadt, veröf­ fentlicht unter dem Titel: »Die Stellung des Menschen im Kosmos«) 1928 Berufung an die Universität Frankfurt 19. 05. 1928 verstorben in Frankfurt, begraben in Köln

Bibliographie: (Auswahl) Scheler, Max: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Halle 1913/1916. Scheler, Max: Wesen und Formen der Sympathie, Halle 1913, 21923 erweitert. Scheler, Max: Die Wissensformen und die Gesellschaft, Leipzig 1926.

Das anthropologische Hauptwerk: Scheler, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos, Darmstadt 1928, NA Hamburg 2018.

Max Scheler – die Position Moderne Anthropologie, so zeigt sich bei Max Scheler, ist ein Krisen­ phänomen. Die Dringlichkeit einer Beantwortung der Frage: »Was ist der Mensch?« ergibt sich aus dem Umstand, daß »die Selbstpro­ blematik des Menschen [...] ein Maximum in aller uns bekannten Geschichte erreicht [hat].«168 Die Frage nach dem Menschen wird aktuell, nachdem die auf sie gegebenen Antworten brüchig geworden sind. In ihrer Uneinheitlichkeit gelten Scheler die Gedankenkreise der jüdisch-christlichen Tradition, der griechisch-antiken Tradition 168

Scheler, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bern – München 71966, S. 6.

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Max Scheler – die Position

und der modernen Naturwissenschaft169 mit Bezug auf den Menschen gleichermaßen als erschüttert und sind solcherart nicht in der Lage, eine »einheitliche Idee vom Menschen« zu geben. Zudem verdeckt die Vielheit der sich mit dem Menschen beschäftigenden Spezialwissen­ schaften »das Wesen des Menschen [weit mehr,] als [...] sie es erleuch­ tet.«170 Daß der Mensch sich selbst in einer bisher nicht gekannten Weise zum Problem geworden ist, diese besondere Situation der Gegenwart macht es nötig, auch die Wesensfrage »in neuer Weise aufzuwerfen, [um ...] eine neue Form seines Selbstbewußtseins und seiner Selbstanschauung zu entwickeln.«171 Die moderne Anthropologie stellt keine neue Frage, sie stellt die Wesensfrage auf eine neue Grundlage. Bezugspunkt der anthro­ pologischen Neubestimmung des Menschen bei Max Scheler ist die Natur, der Mensch soll von seiner Stellung im Kosmos, d.h. seiner Stellung im Rahmen der lebendigen Natur her verstanden werden. Im Anschluß an die philosophische Tradition geht Scheler davon aus, daß es hinsichtlich einer Wesensbestimmung des Menschen zwei entgegengesetzte Positionen gibt: solche, die das Wesen des Menschen in seine Geistigkeit setzen, indem sie ihn als Träger der Vernunft oder als Ebenbild Gottes bestimmen, und solche, welche die Eigenständigkeit des Geistigen leugnen, indem sie ihn als das späte Ergebnis einer natürlichen Entwicklung sehen. Das führt zu dem Problem, ob man berechtigt ist, dem Menschen den Geist zuzu­ sprechen,172 ein Problem, dessen Lösung eine breite Grundlage der Untersuchung erfordert, die Wesensbestimmung des Menschen stellt sich als eine am differenzierten »Aufbau der biopsychischen Welt«173 orientierte Frage nach der Gleichstellung des Menschen mit, wie seiner Sonderstellung gegenüber dem Lebendigen. Daß der Mensch biopsychisch bestimmt ist, steht außer Frage, fraglich ist vielmehr, ist er durch diese Bedingtheit im Ganzen seines Seins bestimmt oder überschreitet er das Biopsychische als Geist?174 Ist über die morpho­ logischen Sondermerkmale hinaus, die ihm als eine Untergruppe der Wirbel- und Säugetierart gemäß dem natursystematischen Begriff des 169 170 171 172 173 174

Vgl. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 9. Ebd. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 7. Vgl. Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, S. 422. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 11. Vgl. Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, S. 422.

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Das Programm moderner nichtspekulativer Anthropologie

Menschen zukommen, auch die Behauptung seiner im Wesensbegriff intendierten Sonderstellung zu Recht in Anspruch genommen?175 Das Biopsychische, also das Lebendige, ist dabei in sich gestuft, Scheler unterscheidet fünf Stufen: – – – – –

Gefühlsdrang Instinkt assoziatives Gedächtnis praktische Intelligenz Geist

Der Mensch, in dem »die ganze Natur zur konzentriertesten Einheit ihres Seins« kommt, faßt »alle Wesensstufen des Daseins überhaupt, und insbesondere des Lebens, in sich zusammen«176, d.h. all die angeführten Stufen sind auch im Menschen vorhanden, erfahren hier jedoch eine gewisse Abwandlung. Wir werden sehen, daß gerade in dieser modifizierten Wiederholung der unteren Stufen im Menschen eines der Probleme des Schelerschen Ansatzes liegt.177 Die erste Stufe: der Gefühlsdrang178 wird der Pflanze zugewie­ sen. Pflanzliches Dasein ist beseelt, d.h. von einem »Innenzustand« her zu charakterisieren im Unterschied zum Anorganischen, dem ein solches Inneres nicht zugeschrieben werden kann. Der Gefühls­ drang ist undifferenziert, ein »allgemeine[r] Drang zu Wachstum und Fortpflanzung«, und kennt weder Assoziation noch Reflexion, d.h. Rückmeldungen von Organzuständen an ein Zentrum finden auf die­ ser Ebene nicht statt. Insoferne er ganz nach außen gerichtet ist, nennt Scheler ihn »ekstatisch«, ein bloßes »Hinzu« und »Vonweg«, ohne spezifische Richtungs- und Zielbestimmtheit. »Lebenswachheit«, wie sie mit Empfindung, Bewegung und Bewußtsein einhergeht, fehlt dem durch den Gefühlsdrang bestimmten pflanzlichen Leben, das »Urphänomen des Ausdrucks« dagegen kommt ihm im Sinne unter­ schiedlicher Zuständlichkeiten des Gefühldranges zu. Die erste Stufe der seelischen Wesensformen ist ebenso im Tier wie im Menschen vorhanden, der die Pflanze empfindungslos, vorstellungslos und bewußtlos beseelende Gefühlsdrang ist »zugleich der Dampf, der bis in die lichtesten Höhen geistiger Tätigkeit alles treibt«. Scheler bezieht diese im Menschen vorhandene Pflanzlichkeit einerseits auf das vege­ 175 176 177 178

Vgl. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 10 f. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 16. Vgl. Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, S. 422. Vgl. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 12 ff.

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Max Scheler – die Position

tative Nervensystem und in verwandelter Form auf die den Menschen bestimmende Triebenergie, »die Einheit aller reich gegliederten Triebe und Affekte des Menschen«. Die zweite Stufe: der Instinkt179 wird dem Tier zugewiesen. Die insgesamt drei das tierische Dasein betreffenden Wesensstufen werden mit Bezug auf das Verhalten der Lebewesen bestimmt, ein Vorgehen, das sich für Scheler mit Blick auf die psychophysische Indif­ ferenz des Verhaltensbegriffs empfiehlt: als »Gegenstand äußerer Beobachtung und möglicher Beschreibung« ist Verhalten stets sowohl physiologisch als auch psychologisch zu erklären, ohne daß dabei eine der Erklärungen der anderen vorzuziehen wäre. Zu den charakteristi­ schen Merkmalen des Instinkts, der als solcher »eine zunehmende Spezialisierung des Gefühlsdrangs und seiner Qualitäten« darstellt, gehören sein »sinnmäßiger« (teleokliner) Bezug auf Ernährung und Fortpflanzung des Lebensträgers und sein Ablauf nach einem »festen, unveränderlichen Rhythmus«.180 Dieser mechanischen Natur wegen kann instinktives Verhalten nicht auf Reflexkombinationen zurück­ geführt werden und ist in seiner Starrheit von durch Assoziation, Übung, Gewöhnung etc. erworbenem sinnvollen Verhalten deutlich unterschieden. Der Instinkt ist dabei art-, nicht individualdienlich, er kommt in Situationen zum Tragen, die für das Artleben des Indi­ viduums bedeutsam und typisch sind. Als »der Morphogenesis der Lebewesen selbst eingegliedert«181 ist instinktives Verhalten angebo­ ren und erblich, d.h. unabhängig von etwaigen Probierbewegungen, gewissermaßen »von vornherein fertig«. Vom Instinkt umschlossen und »in ihn eingesenkt« erscheinen auch Gedächtnis und Sinnenle­ ben des Tieres: »Was ein Tier vorstellen und empfinden kann, ist durch den Bezug seiner angeborenen Instinkte zur Umweltstruktur a priori beherrscht und bestimmt.«182 In psychologischer Deutung stellt instinktives Verhalten »eine untrennbare Einheit von Vor-Wissen und Handlung dar, sodaß niemals mehr Wissen gegeben ist, als in den nächsten Schritt der Handlung gleichzeitig eingeht.« Der Instinkt leistet die zweckdienliche Strukturierung tierischen Verhaltens im Ganzen seines Umweltbezuges und ist dementsprechend, was den

179 180 181 182

Vgl. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 17 ff. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 18 f. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 21. Ebd.

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Das Programm moderner nichtspekulativer Anthropologie

Menschen betrifft, stark zurückgebildet, nur noch in »atavistischen Resten«183 vorhanden. Die dritte Stufe: das assoziative Gedächtnis184 (Mneme) wird ebenfalls durch tierisches Dasein repräsentiert. Inbegriff des als Zerfallsprodukt aus dem instinktiven Verhalten hervorgegangenen gewohnheitsmäßigen Verhaltens sind die Tatsachen der Assoziation, der Reproduktion und des bedingten Reflexes (Pawlow). Von einem Gewohnheitsverhalten sprechen wir dort, wo tierisches Verhalten angesichts positiver Triebbefriedigung fixiert und beibehalten wird. Das assoziative Gedächtnis ermöglicht eine lebensdienlich sinnvolle Abänderung tierischen Verhaltens in Abhängigkeit von der Anzahl entsprechender Versuche und nach dem Prinzip »Erfolg und Irrtum« und wird darin zur Grundlage von Selbst- und Fremddressur. Es hat einen angeborenen Trieb, den Wiederholungstrieb, zur Vorausset­ zung und arbeitet in seiner Bindung an das Triebgeschehen ebenso mechanisch wie der Instinkt. Die psychische Analogie zum Gewohn­ heitsverhalten sieht Scheler in den Assoziationsgesetzen, wie sie für die Reproduktion von Vorstellungen Geltung haben. Wiederholungs­ trieb und assoziatives Gedächtnis ermöglichen in ihrer Verknüpfung das, was Scheler Tradition nennt: eine »Bestimmung des tierischen Verhaltens durch die Vergangenheit des Lebens der Artgenossen«, eine neue Dimension, die zu den Tatsachen der biologischen Ver­ erbung hinzutritt. Tradition, wie sie in diesem Zusammenhang ver­ standen wird, tritt »schon in den Horden, Rudeln und sonstigen Gesellschaftsformen der Tiere auf« und muß dementsprechend von allem »Geschichtswissen« (einer auf Quellen beruhenden Überliefe­ rung) streng unterschieden werden. Die »freibewußte ›Erinnerung‹ an Vergangenes (Anamnesis)« ist nur dem Menschen möglich. Als »unmittelbare Folge des Auftretens des Reflexbogens, der Scheidung des sensorischen vom motorischen Systeme«185 fehlt das assoziative Gedächtnis den Pflanzen gänzlich, während es das tierische Dasein durchgehend kennzeichnet, es erfährt im Menschen seine größte Aus­ dehnung. Die vierte Stufe: die praktische Intelligenz186 ist ebenfalls tieri­ schem Verhalten zugewiesen. Das tierische Dasein kann mit Blick auf 183 184 185 186

Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 24. Vgl. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 24 ff. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 28. Vgl. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 32 ff.

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Max Scheler – die Position

die von der Wissenschaft herausgestellte »Stufenfolge der psychischen Kräfte und Fähigkeiten«187 nicht bloß einer einzigen Stufe zugeordnet werden. Es gibt Tiere, deren Verhaltensweise durch den Instinkt zu beschreiben ist, aber auch solche, deren Verhalten darüber hinaus­ geht. Schon angesichts der Möglichkeiten des assoziativen Gedächt­ nisses war tierisches Verhalten durch Hinweis auf den Instinkt nicht mehr adäquat zu charakterisieren. Dies gilt in weit höherem Maße dort, wo dem Tier ein Verhalten möglich ist, das »praktische Intel­ ligenz« zeigt. Hatte Scheler in seiner Bestimmung des Instinktes die Umwelttheorie von Jakob von Uexküll188 vor Augen, so erfolgt seine Bestimmung praktischer Intelligenz mit Blick auf die Tierexpe­ rimente von Wolfgang Köhler.189 Köhlers »mit erstaunlicher Geduld, Genauigkeit und Ingeniosität« vorgenommene Versuche mit Schim­ pansen belegen »in einigen Fällen echte Intelligenzhandlungen«. Die Leistungen der Tiere beim Beseitigen der zwischen Triebziel und Erfüllung eingebauten Hindernisse (Umwege) lassen sich nicht durch Instinkt, nicht durch assoziatives Gedächtnis und nicht durch eine Kombination aus beidem erklären. Praktische Intelligenz ist organisch (triebhaft) gebunden und abhängig von der unterschiedlichen Bega­ bung der Tiere. Sie zeigt sich in einem klugen, d.h. auf die Erfüllung eines Triebzieles bezogen sinngemäßen Verhalten in Situationen, die weder art- noch individualtypisch, sondern für das Individuum neu sind. Die Lösung einer triebhaft bestimmten Aufgabe gelingt dabei ohne vorherige Probierbewegungen, durch Antizipation, für Scheler ein Hinweis auf die Möglichkeit produktiven, nicht bloß reprodukti­ ven Denkens. Der psychischen Seite nach wird Intelligenz als eine im Sinne eines Aha-Erlebnisses »plötzlich aufspringende Einsicht in einen zusammenhängenden Sach- und Wertverhalt« definiert. Sie erlaubt es, den Tieren über Triebmechanismus und Instinktautomatis­ mus hinaus auch »Wahlhandlungen« zuzusprechen, die freilich nicht Ziele und Werte betreffen, sondern auf die Mittelwahl beschränkt sind. Die vom Tier gebrauchten Gegenstände erhalten den »dynami­ schen Funktionswert eines ›Werkzeugs‹.« Menschliche und tierische Technik sind auf dieser Ebene nur graduell unterschieden, »[z]wischen einem klugen Schimpansen und Edison, dieser nur als Techniker Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 11. Uexküll, Jakob von / Kriszat, Georg: Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten, Frankfurt am Main 1970, 21983. 189 Köhler, Wolfgang: Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, Berlin 1917, 31973. 187

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Das Programm moderner nichtspekulativer Anthropologie

genommen, besteht nur ein – allerdings sehr großer – gradueller Unterschied«.190 Auf der Ebene eines lebensdienlichen technischen Könnens (Werkzeuggebrauch) tritt kein prinzipieller Unterschied zwischen Mensch und Tier zutage, erst wenn diese Intelligenz »beim Menschen in den Dienst spezifisch geistiger Ziele gestellt [wird,] erst dann erhebt sie sich über Schlauheit und List.«191 Die fünfte Stufe: der Geist192 wird exklusiv dem Menschen zuge­ wiesen. Daß bereits dem Tier Intelligenz und Wahl zugeschrieben werden, verschärft die Frage nach einem Wesensunterschied: eine Sonderstellung gegenüber dem Tier kann der Mensch nur dann bean­ spruchen, wenn es »über die bisher behandelten Wesensstufen hinaus noch etwas ganz anderes im Menschen, ihm Zukommendes, was durch Wahl und Intelligenz überhaupt nicht getroffen und erschöpft ist«193 gibt. Im Rahmen der bisherigen Entwicklung von Stufe zu Stufe war die Tendenz einer Herauslösung des Individuums aus sei­ ner Artgebundenheit erkennbar, Instinkt und assoziatives Gedächt­ nis verweisen in diesem Sinne gegenläufig aufeinander, die neue Möglichkeit des gewohnheitsmäßigen Verhaltens ist gleichermaßen Abbau des Instinktes und insoferne diesem gegenüber ein »mächtiges Werkzeug der Befreiung«, das wiederum selbst angesichts der durch die »praktische Intelligenz« erschaffenen neuen Dimension als ein »Prinzip der Starrheit« erscheint. Die fünfte Stufe liegt nicht in der bisherigen als »Reicherwerden des Lebens« beschreibbaren Entwick­ lungsrichtung. Was den Menschen zum Menschen macht, ist keine weitere Stufe im Aufbau der psychischen Welt, sondern »ein allem und jedem Leben überhaupt, auch dem Leben im Menschen entgegenge­ setztes Prinzip«.194 Grundbestimmung des Geistes ist seine »existen­ tielle Entbundenheit vom Organischen«, die den an die Vitalsphäre gebunden bleibenden Momenten Intelligenz und Wahlfreiheit fehlt. Die Freiheit gegenüber dem Organischen ermöglicht dem Menschen den Bann der Umwelt abzuschütteln, er erhebt sich in Überwindung der tierischen Umweltgebundenheit zur »Weltoffenheit«. Im Gegen­ satz zum Tier vermag der Mensch die Umwelt zum Gegenstand zu machen, d.h. Gegenstände ohne strukturelle Einschränkungen durch 190 191 192 193 194

Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 37. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 32. Vgl. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 36 ff. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 36. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 37 f.

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Helmuth Plessner – Biographie und Bibliographie

Triebsysteme, Sinnesfunktionen und Sinnesorgane in ihrem »Sosein« zu erfassen, er vermag sich ebenso in seiner physiologischen und psychologischen Beschaffenheit gegenständlich zu werden: »Das Tier hört und sieht – aber ohne zu wissen, daß es hört und sieht«,195 seine Psyche funktioniert, wird ihm aber in keiner Psychologie zum Gegenstand. Wesensmerkmal des Menschen »kraft des Geistes« ist die Selbstbewußtwerdung, der Pflanze fehlt Bewußtsein, dem Tier kommt Bewußtsein zu, aber: »Es besitzt sich nicht, ist seiner nicht mächtig – und deshalb auch seiner nicht bewußt.«196 Selbstbewußt­ sein kommt nur dem Menschen qua Geist zu: »Der Mensch allein – sofern er Person ist – vermag sich über sich – als Lebewesen – emporzuschwingen«,197 als Geistwesen ist er sich selbst als Lebewesen und der Welt überlegen, er verdankt dieser Erhebung über das eigene Dasein die Möglichkeiten der Ironie und des Humors, aber auch jene, »sein Leben frei von sich zu werfen«.198

Helmuth Plessner – Biographie und Bibliographie Biographie199 04. 09. 1892 geboren in Wiesbaden als Sohn eines Arztes und Leiters eines Privatsanatoriums für Innere- und Nervenkrankheiten 1910 Studium der Zoologie in Heidelberg, Einfluß von Hans Driesch Studium der Philosophie bei Windelband, bei Husserl in Göttingen 1916 Promotion bei Paul Hensel in Erlangen 1917 als »Nicht-Wehrfähig« eingestuft, im Rahmen des zivilen Hilfs­ dienstes als Volontärassistent am Germanischen Museum in Nürn­ berg 1920 Habilitation in Köln, ebendort Privatdozent WS 1932/33 vorläufiges Ende der akademischen Karriere (betroffen von den Bestimmungen für die sogenannten Nichtarier) Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 42. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 41. 197 Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 47. 198 Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 42. 199 Zu den biographischen Angaben vgl.: Plessner, Helmuth: Selbstdarstellung, in: Pongratz, Ludwig J. (Hg.): Philosophie in Selbstdarstellungen, Bd. 1, Hamburg 1975, S. 269–307. 195

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Das Programm moderner nichtspekulativer Anthropologie 1946 Professor für Philosophie in Groningen 1952 auf den neugegründeten Lehrstuhl für Soziologie in Göttin­ gen berufen, Rektor 1960/61 (besonderes Augenmerk liegt auf Studien zur Situation der deutschen Universität und dem institutionellen Aus­ bau der Erwachsenenbildung) 1962 Emeritierung; in New York (Theodor Heuss Lehrstuhl) Stiftungs­ professur der Bundesregierung, und an der Universität Zürich, Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften, Verleihung der Ehrendoktorwürde (Sozialwissenschaften) der Uni­ versität Groningen, Ehrendoktor der Philosophie der Universi­ tät Zürich 12. 06. 1985 gestorben in Göttingen

Bibliographie: Plessner, Helmuth: Die wissenschaftliche Idee. Ein Entwurf über ihre Form, Heidelberg 1913. (Driesch gewidmet) Plessner, Helmuth: Die Krisis der transzendentalen Wahrheit im Anfang, Hei­ delberg 1918. (Erweiterte Dissertation) Plessner, Helmuth: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Aesthesiologie des Geistes, Bonn 1923, 21965. Plessner, Helmuth: Grenzen der Gemeinschaft, Bonn 1924, 21972.

Das anthropologische Hauptwerk: Pleßner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin 1928, 32010.

Helmuth Plessner – die Position Die Nichtrezeption von Plessners anthropologischem Hauptwerk beginnt mit zwei Verdächtigungen, seitens seines Lehrers Driesch, der in den »Stufen« einen »Hylozoismus«200 – im Sinne der Annahme eines die Grenze zwischen Organischem und Anorganischem verwi­ schenden belebten Urstoffs – vertreten sieht, und seitens seines Kolle­ gen Scheler, der die »Stufen« als Konkurrenzunternehmen betrachtet und in ihnen ein Plagiat vermutet. Beide Vorwürfe sind falsch und Plessner, Helmuth: Selbstdarstellung, in: Pongratz, Ludwig J. (Hg.): Philosophie in Selbstdarstellungen, Bd. 1, Hamburg 1975, S. 290.

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Helmuth Plessner – die Position

verdanken sich im wesentlichen einer oberflächlich-mangelhaften oder überhaupt fehlender Lektüre. An Driesch fasziniert Plessner zwar die »Kombination von Bio­ logie und Philosophie«, sein Vitalismus dagegen kann ihn nicht über­ zeugen.201 So geht es ihm zunächst um eine Kritik seines Entelechie­ begriffs, an dessen innerlich widerspruchsvoller Konzeption als »eines in die Natur hineinwirkenden Naturfaktors«202 er Anstoß nimmt. Von hier aus ist der Cartesianische Dualismus, die Bestimmung des Menschen als res extensa und res cogitans nicht zu überwinden. Auch am Schelerschen Stufenmodell kritisiert Plessner, daß es gerade die Aufeinanderbezogenheit von Geist und Leib nicht begreiflich machen kann. Als ein im Sinne der fünften Stufe nur dem Menschen zukommendes, dem Leben entgegengesetztes Prinzip, muß dem Geistbegriff Schelers die erste Natur des Menschen äußerlich bleiben: »Die spezifische Körpergestalt der Hominiden mag eine hierbei unter­ stützende Rolle spielen – aufrechter Gang, Freisetzung der Hand, Zerebralisation – entscheidend ist sie nicht. Warum sollte in dieser Sicht nicht auch ein Vogelkörper Schauplatz von Triebverdrängung und Weltoffenheit sein – wenn der Geist in ihn fährt?«203 Daß Plessners »Stufen« den Bekanntheitsgrad und Erfolg der Bücher von Scheler und Gehlen nicht erreicht haben, liegt freilich nicht nur am anspruchsvollen Inhalt und spröden Text204 derselben, sondern hat auch ganz handfeste politische Gründe. Verfolgung und Vertreibung durch die Nationalsozialisten haben bei Plessner zu einem nicht unbedeutenden Karriereknick geführt. Während Geh­ len, dessen anthropologisches Hauptwerk »Der Mensch«205 Plessner als ein Buch qualifiziert, »das in allem, was es sagt und wen es verschweigt, ein typisches Produkt der Machtverhältnisse ist, unter denen es entstand«,206 1938 nach Königsberg und 1940 nach Wien berufen wird, wird der »Nichtarier« Plessner 1932 gezwungen, seine Plessner, Selbstdarstellung, S. 271. Plessner, Selbstdarstellung, S. 291. 203 Pleßner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin 21965, S. XI. 204 Vgl. Plessner, Selbstdarstellung, S. 295. 205 Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Frankfurt am Main 101974. 206 Plessner, Helmuth: Mensch und Tier, in: Dux, Günter / Marquard, Odo / Ströker, Elisabeth (Hrsg.): Gesammelte Schriften VIII. Conditio humana, Frankfurt am Main 1983, S. 60. 201

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Das Programm moderner nichtspekulativer Anthropologie

akademische Karriere zu beenden und sich Schlimmerem durch die Flucht zu entziehen, die ihn zuerst nach Groningen (Holland) und nach dem deutschen Einmarsch weiter nach Utrecht und Amsterdam führt, wo er nur mit Glück einer Gestapo Falle207 entkommen ist. In seiner harschen Kritik am Begriff Mängelwesen – der Absatz fehlt in seinen Gesammelten Schriften – scheint Plessner vor allem den Biologismus – die Reduktion alles Menschlichen auf das Überlebensdienliche – der Gehlenschen Position im Auge zu haben: »Mit Begriffen wie Mängelwesen (glatter Nonsens gegenüber der hoch getriebenen Cerebralisierung) und Entlastung lassen sich nur Gesinnungsbiologisten täuschen, die von Biologie ebensowenig Ahnung haben wie die verkommenen Rassenschwätzer des Dritten Reiches«,208 und dabei zu übersehen, daß der Begriff Mängelwesen ein Relationsbegriff und kein Wesensbegriff ist, eine Art methodi­ scher Trick: der Mensch wird fiktiv als Tier betrachtet, um so zu zeigen, daß er keines ist. In Relation zum Tier, d.h. im Vergleich mit diesem erscheint er als Mängelwesen, außerhalb dieses Vergleiches ist er ohne jeden Zweifel ein allen Tieren so weit überlegenes Wesen, das sein gerade im Blick auf die Überlebensdienlichkeit überschießendes Potential ihn selbst für die Biologie zum Rätsel macht.209 Völlig zu Recht aber hat Plessner darüber hinaus auf die Einsei­ tigkeiten des Entlastungsbegriffs hingewiesen: »Nur trägt die Auffas­ sung der Sprache als Handlung nicht eben weit. Jeder Entlastung durch Sparen an körperlichem Arbeitsaufwand steht ein Zuwachs an Last durch die steigende Indirektheit sprachgeleiteten Verhaltens gegenüber. Was erteilt also wem Entlastung?«210 und gesehen, daß Gehlens Handlungsbegriff in der Bestimmung des Menschen kon­ sequent festgehalten über ihn hinausführt: »Mit anderen Worten: dank seiner offenen Antriebsstruktur, dank seiner zu ihr wiederum passenden Sprache ist der Mensch von biologischer Eindeutigkeit eines Verhaltens, wie es die Tiere durchweg zeigen, zu biologischer Mehrdeutigkeit emanzipiert. Das pragmatische Kleid nach behavio­ ristischem Zuschnitt paßt ihm nicht. Menschliches Verhalten läßt sich Vgl. Plessner, Selbstdarstellung, S. 301 f. Plessner, Helmuth: Der Mensch als Lebewesen, in: Rocek, Roman / Schatz, Oskar (Hrsg.): Philosophische Anthropologie heute, München 1972, S. 61. 209 Vgl. Schaller, Friedrich: Der Mensch einmal als Naturkatastrophe betrachtet, in: Schriften des Vereines zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien, Bd. 128, Wien 1991, S. 55. 210 Pleßner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. XVI. 207

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Helmuth Plessner – die Position

nicht auf ein Schema bringen, nicht auf das der Kettenreflexe, aber auch nicht auf das des zweckgerichteten Handelns. Diese von Geh­ len selbst ermittelte, und zwar durch Festhalten am pragmatischen Gesichtspunkt ermittelte, Emanzipation menschlichen Verhaltens vom biologisch eindeutigen Handeln, ermächtigt die Anthropologie, eben diesen von Gehlen empfohlenen Gesichtspunkt aufzugeben. Kein Malheur. Schließlich ist das der Sinn jeder versuchsweisen Einführung eines Modells oder ›Schlüsselthemas‹. Das muß nicht heißen, Gehlen habe sich widersprochen, sondern nur, daß er eine These bis an die Grenze ihrer Tragfähigkeit gebracht hat.«211 Das Prinzip einer Philosophischen Anthropologie erläutert Plessner mit Bezug auf Kants klassische Bestimmung von Anthropo­ logie: »Alle Fortschritte in der Cultur, wodurch der Mensch seine Schule macht, haben das Ziel, diese erworbenen Kenntnisse und Geschicklichkeiten zum Gebrauch für die Welt anzuwenden; aber der wichtigste Gegenstand in derselben, auf den er jene verwenden kann, ist der Mensch: weil er sein eigener letzter Zweck ist. — Ihn also seiner Species nach als mit Vernunft begabtes Erdwesen zu erkennen, verdient besonders Weltkenntniß genannt zu werden, ob er gleich nur einen Theil der Erdgeschöpfe ausmacht. Eine Lehre von der Kenntniß des Menschen, systematisch abgefaßt (Anthropologie), kann es ent­ weder in physiologischer oder in pragmatischer Hinsicht sein. — Die physiologische Menschenkenntniß geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll.«212 Bei der Bestimmung der Aufgabe einer Philosophischen Anthro­ pologie213 geht Plessner von ihrer »dreifache[n] Verbundenheit […] mit der Einzelwissenschaft, der Philosophie und der geschichtlichen Situation« aus. Die Philosophische Anthropologie ist keine Funda­ mentalphilosophie, den Anspruch, in ihr das »Fundament« oder wenigstens das »Herzstück« der Philosophie zu sehen, weist Plessner

Pleßner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. XVIII. Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Königlich Preußi­ sche Akademie der Wissenschaften (Hg.): Kant´s gesammelte Schriften, Berlin 1904 ff., Bd. 7, S. 119. 213 Vgl. Plessner, Helmuth: Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie, in: Dux, Günter / Marquard, Odo / Ströker, Elisabeth (Hrsg.): Gesammelte Schriften VIII. Conditio humana, Frankfurt am Main 1983, S. 33 ff. 211

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als Fehldeutung zurück.214 Philosophische Anthropologie vermag in der Frage nach dem Menschen seine physische Existenz »ohne natura­ listische[] Kurzschlüsse«215 ernst zu nehmen, »[e]ine Philosophische Anthropologie, welche den Übergang zwischen der ›physiologischen‹ und der ›pragmatischen‹ dadurch ermöglicht, daß sie auf die Wurzel des Menschseins als solches zurückgeht, muß das Prinzip beobachten, jeder der beiden Hinsichten [...] den gleichen Ernst, die gleiche Bedeutung für eine Erkenntnis menschlichen Wesens zu sichern«,216 was nicht von ihr zu erwarten ist, sind »Anweisungen zum seligen, oder auch nur Direktiven für das täglich allzu tägliche Leben«.217 Was das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft betrifft, hält Plessner daran fest, »daß eine philosophische Anthropologie im Kontakt mit den Wissenschaften stehen muß«.218 Über die Relevanz dieses Wissens für eine Philosophische Anthropologie ist damit nichts gesagt. Wir sehen am Beispiel der Biologie und das von ihr über das Tier zur Verfügung gestellte Wissen, daß es auf die philo­ sophischen Probleme jeweils nur erläuternd, nicht aber fundierend bezogen werden kann. Wenn Kant im Zusammenhang mit Fragen der Erziehungsbedürftigkeit des Menschen seinem Kenntnisstand entsprechend sagt: »Ein Thier ist schon alles durch seinen Instinct; eine fremde Vernunft hat bereits Alles für dasselbe besorgt. Der Mensch aber braucht eigene Vernunft. Er hat keinen Instinct und muß sich selbst den Plan seines Verhaltens machen«219, so ist dies aus heutiger Sicht zutreffend, was die Differenz Mensch – Tier angeht, als Beschreibung tierischen Verhaltens jedoch undifferenziert. Scheler konnte mit Blick auf den Stand der biologischen Forschungen seiner Zeit nicht mehr davon ausgehen, daß alle Tiere Instinktwesen sind und sah sich genötigt, zur adäquaten Verhaltensbeschreibung des vom Menschen prinzipiell unterschiedenen Tieres drei seiner fünf Stufen aufzuwenden.220 Es kann nicht ausbleiben, daß durch neue biologische Forschungen tierisches Verhalten über das hinaus, was Plessner, Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie, S. 36. Plessner, Selbstdarstellung, S. 293. 216 Plessner, Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie, S. 38. 217 Plessner, Selbstdarstellung, S. 293. 218 Plessner, Selbstdarstellung, S. 284. 219 Kant, Immanuel: Über Pädagogik, hrsg. von Friedrich Theodor Rink, in: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Kant´s gesammelte Schriften, Berlin 1904 ff., Bd. 9, S. 441 f. 220 Vgl. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 17–36. 214 215

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Helmuth Plessner – die Position

Scheler über den Instinkt, das assoziative Gedächtnis und die prakti­ sche Intelligenz zu sagen hatte, weiter differenziert wird. Wir sehen hier den Unterschied Mensch – Tier mit Bezug auf jeweils andere gegenwärtige Forschungsstände der Biologie erläutert, ohne daß dieser Differenzierungsprozeß auf den dem Unterschied zugrunde liegenden Gedanken, der eben kein Thema der Biologie ist, Einfluß hätte. Plessner selbst hält hinsichtlich der für den Menschen spezifi­ schen Fähigkeit der »Objektivierung« und der zu ihr »gegensinnigen Subjektivierung« mit Blick auf die Ergebnisse neuerer, das Sprachver­ ständnis untersuchender Experimente mit Schimpansen fest: »Ihr Verständnis für Wörter wie Ich, Mich, Du, bleibt an die experimentelle Situation gebunden und hat keinen Rückhalt an der Subjekt-ObjektSphäre. Die im Experiment zutage tretenden latenten Fähigkeiten beeinflussen das normale Verhalten der Tiere auf freier Wildbahn nicht. Die Grenze zum Menschen verfeinert sich. Warum hatte sie sich nicht längst im Laufe der Stammesgeschichte verwischt?«221 Im Versuch einer Überwindung des Cartesianischen Dualismus wählt Plessner einen ganz neuen Ansatz, der das »Verhältnis eines physischen Körpers zu seiner Begrenzung«222, seine Positionalität ins Zentrum einer »Logik der lebendigen Form«223 stellt. Die Begrenzung eines Körpers kann diesem äußerlich sein, wie das bei anorganischen Körpern der Fall ist, die bis zu dem sie umgebenden Raum reichen und mit diesem nicht in Beziehung stehen, oder die Begrenzung gehört zum Körper, wie das bei organischen Körpern der Fall ist, die über ihre äußere Grenze hinaus zu ihrer Umgebung in einem Verhältnis stehen: »Sie sind in sich, auch wenn sie äußerlich begrenzt sein mögen. Sie haben Positionalität.«224 Dabei sind nun zu unterscheiden: die offene Organisationsform der Pflanze225 (das Individuum ist in der unmittelbaren Eingliederung seiner Lebensäußerungen ein unselb­ ständiger Abschnitt seines Lebenskreises) und die geschlossene Orga­ nisationsform des Tieres226 (das Individuum ist in der mittelbaren Eingliederung seiner Lebensäußerungen ein selbständiger Abschnitt seines Lebenskreises), die als zentrisch sich von der exzentrischen227 221 222 223 224 225 226 227

Plessner, Selbstdarstellung, S. 296. Plessner, Selbstdarstellung, S. 291. Plessner, Selbstdarstellung, S. 292. Plessner, Selbstdarstellung, S. 291. Pleßner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 218 ff. Pleßner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 226 ff. Pleßner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 288 ff.

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Das Programm moderner nichtspekulativer Anthropologie

des Menschen unterscheidet. »Im Fortgang von der offenen Form des Typus pflanzlicher Organisation führt eine Steigerung zur geschlosse­ nen Form eines durch Reiz und Reaktion vermittelten Lebens, das sich in eine Umwelt versetzt sieht, zu der es sich in Suche und Anpassung beweglich verhält. Ein Tier hat von einer Mitte aus und zu einer Mitte hin führende reizleitende Organe und gehört damit zum geschlosse­ nen, dem zentrischen Lebenstyp. Und eine abermalige Steigerung des gleichen Prinzips führt zum Durchbruch in die Exzentrizität, die sich auf der zentrischen Form aufbaut«.228 Anders als das als Mitte lebende Tier ist der Mensch in die Mitte seiner Existenz gestellt, »weiß diese Mitte, erlebt sie und ist darum über sie hinaus.«229 Als Wesen, das zu sich Ich sagen kann, ist der Mensch Person, die Entfaltung seiner dreifach bestimmten exzentrischen Positionalität: »das Lebendige ist Körper, im Körper (als Individuum oder Seele) und außer dem Körper als Blickpunkt, von dem aus es beides ist«,230 die eigentliche Aufgabe der Philosophi­ schen Anthropologie. Plessner steht, was seine kritische Besonnenheit in methodischer Hinsicht betrifft, weit über Scheler und Gehlen. Ihm wäre es nicht in den Sinn gekommen, das Selbstverhältnis für eine empirisch konstatierbare Tatsache auszugeben, er hat begriffen, daß er, wenn er vom Subjekt oder vom Ich spricht, das nur auf eine die Empirie tran­ szendierende Weise tun kann. Im Gegensatz zu Gehlen hat er gewußt, daß er Philosophie betreibt und eine »empirische Philosophie« wäre wohl auch ihm ein »hölzernes Eisen« gewesen. Plessner hat sich nicht gescheut, im Hinblick auf die Möglichkeit, den Menschen adäquat zu begreifen, den Begriff »dialektisch« in den Mund zu nehmen: »Eine Biologie des Menschen ist ein doppelsinniges Unternehmen. Es muß sehr bald die Zone der Instinktreaktionen hinter sich lassen und sich hüten, aus ihrem Vorrat die Erklärung menschlichen Verhaltens zu bestreiten. Das Konzept des homo sapiens als eines in den Tierrahmen passenden und ihn sprengenden Organismus kann gerade bei voller Beachtung der Tatsache, daß es sich um ein Lebewesen handelt, nur dialektisch begriffen werden mit Hilfe der die tierische Natur bewahrend-durchbrechenden exzentrischen Position.«231 228 229 230 231

Plessner, Selbstdarstellung, S. 292. Pleßner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 291. Pleßner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 293. Plessner, Selbstdarstellung, S. 295.

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Helmuth Plessner – die Position

Natürlich hatte auch Plessner bei Abfassung der »Stufen« Hegel nicht gekannt, im Vorwort zur zweiten Auflage sagt er im Hinblick auf sichtbar gewordene Konvergenzen mit Hegel und anderen Den­ kern: »Bei Sartre, vor allem in seinen frühen Arbeiten, und Merleau Ponty finden sich manchmal überraschende Übereinstimmungen mit meinen Formulierungen, so daß nicht nur ich mich gefragt habe, ob sie nicht vielleicht doch die ›Stufen‹ kannten. Aber das gleiche ist mir auch bei Hegel passiert, auf den ich mich hätte berufen müssen, wären mir damals die entsprechenden Stellen bekannt gewesen. Konvergenzen beruhen nicht immer auf Einfluß. Es wird in der Welt mehr gedacht, als man denkt.«232 Plessner hat die Dialektik, wenn auch nicht in einer hegelschen Weise, methodisch zum Zuge gebracht, wenn er die Positionalität der exzentrischen Form, gewissermaßen sehenden Auges durch Widersprüche bestimmt sein läßt. Die anthropologischen Grundgesetze, welche die Sphäre des Menschen explizieren, sind ja nichts anderes als formulierte Wider­ sprüche:233 1. 2. 3.

Das Gesetz der natürlichen Künstlichkeit234 – der Mensch hat keine natürliche Umwelt, sondern die ihm entsprechende Welt ist die Kulturwelt, Das Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit235 – der Mensch umgreift die Welt durch das Bewußtsein, aber gerade als das, was nicht selbst bewußt ist, Das Gesetz des utopischen Standorts236 – als Ich geht der Mensch ständig über seine Welt hinaus, der Ort des Menschen ist das Nirgendwo (Nichtigkeit, Transzendenz).

Plessners äußerst anspruchsvolle Überlegungen bringen in der Ent­ faltung dieser Grundgesetze eine Dialektik zum Zuge, deren Zuord­ nung auf dem schmalen Grat zwischen Methode und Manier nicht immer eindeutig getroffen werden kann. Der biologische Ansatz jedenfalls ist angesichts solcher Widersprüchlichkeiten weit hinter sich gelassen. Den grundlegenden Widerspruch zwischen »philoso­ phischer Grundeinstellung« und »empirisch ausgerichteter Einzelfor­ 232 233 234 235 236

Pleßner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. XXIII. Vgl. Pleßner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 288 ff. Vgl. Pleßner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 309 ff. Vgl. Pleßner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 321 ff. Vgl. Pleßner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 341 ff.

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Das Programm moderner nichtspekulativer Anthropologie

schung«237 bringt seine Position zu voller Entfaltung. Während es die leitende Absicht der modernen nichtspekulativen Anthropologie ist, den Nachweis der Sonderstellung des Menschen in der Natur auf die Grundlage wissenschaftlicher Ergebnisse über Tier und Mensch zu stellen, entstammen die begrifflichen Mittel, mit denen dieser Beweis geführt wird, sämtlich der Philosophie. Plessners »reflexions­ logisches« Vorgehen, das in Begriffen wie »Ich« oder »Selbstverhält­ nis« bewußt an die Tradition idealistischer Philosophie anschließt, macht deutlich, daß der Mensch gerade hinsichtlich dessen, was ihn spezifisch kennzeichnet, kein Gegenstand der Biologie ist. Angesichts dieser die neuzeitliche Anthropologie von Anfang an bestimmenden Schwierigkeiten und Widersprüche ist es nicht verwunderlich, daß sich ihre weitere Entwicklung als sukzessives Abgehen vom philosophischen Anspruch beschreiben läßt. Die sie beherrschenden Spannungen und Widersprüche werden dadurch auf­ gelöst, daß der bestehende philosophische Anspruch zugunsten einer immer stärkeren Beschränkung auf Empirie und Biologie aufgegeben wird. In diesem Sinn ist für die Entwicklung der neuzeitlichen Anthro­ pologie der wachsende Einfluß Arnold Gehlens charakteristisch.238

Adolf Portmann – Biographie und Bibliographie Biographie239 27. 05. 1897 geboren in Basel Studium der Zoologie an der Universität Basel 1921 Promotion Studienaufenthalte an den Universitäten: Genf, München, Paris, Berlin Studienaufenthalte an den marinen Laboratorien: Helgoland, Roscoff (Bretagne), Villefranche-sur-Mer (bei Nizza), Banyulssur-Mer (Ostpyrenäen) 1926 Habilitation an der Universität Basel Vgl. Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, S. 420. Vgl. Marquard, Zur Geschichte des philosophischen Begriffs ›Anthropologie‹ seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts, S. 136. 239 Zu den biographischen Angaben vgl.: Portmann, Adolf: Alles fließt. Wege des Lebendigen, Freiburg – Basel – Wien 1967. (Buchrückseite)

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238

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Adolf Portmann – die Position 1. Assistent an der Zoologischen Anstalt 1931 – 1968 Professor an der Universität Basel Direktor der Zoologischen Anstalt der Universität Basel 1947 Rektor der Universität Basel 1948 – 1951 Präsident der »International Association of University Professors and Lecturers« Seit 1962 Leiter des ERANO Kreises in Ascona und Mitherausgeber des Erano Jahrbuches Seit 1964 Präsident der Hermann Hesse Stiftung 1967 – 1975 Präsident der Stiftung »Schweizer Jugend forscht« 1968 Emeritierung 28. 06. 1982 verstorben in Basel

Bibliographie: Portmann, Adolf: Alles fließt. Wege des Lebendigen, Freiburg – Basel – Wien 1967. Portmann, Adolf: Entläßt die Natur den Menschen? Gesammelte Aufsätze zur Biologie und Anthropologie, München 1971. Portmann, Adolf: Biologie und Geist, Frankfurt am Main 1973.

Das anthropologische Hauptwerk: Portmann, Adolf: Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, Basel 1944. Das Buch ist in seinen Folgeauflagen unter dem Titel: Zoologie und das neue Bild vom Menschen. Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, Hamburg 1951, 1956 erschienen.

Adolf Portmann – die Position Es ist wohl die höhere methodische Reflektiertheit, die Portmann auch im Anspruch bescheidener auftreten läßt, der Biologe will keine Philosophische Anthropologie, sondern bloß »Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen«240 geben. Demgemäß beginnt sein »anthropologisches« Hauptwerk mit kritischen Überlegungen zur 240

Portmann, Adolf: Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, Basel 1944.

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Stellung des biologischen Wissens im Ganzen des menschlichen Welt- und Selbstverständnisses. Der Umstand, daß unter der Leitidee des Entwicklungsgedankens »biologische Tatsachen und Theorien in entscheidender Weise«241 gegenwärtige Menschenbilder beeinflus­ sen, weist der Biologie als Wissenschaft eine besondere Verantwor­ tung zu, der sie nicht gerecht wird. Dort, wo den Verlockungen das faktisch Beobachtbare und empirisch Feststellbare beliebig zu erweitern nicht genügend widerstanden wird, sieht er vielmehr eine unwissenschaftliche Gesinnung am Werk, wie sie etwa im oberfläch­ lichen Gebrauch der Wörter Evolution und Natur zum Ausdruck kommt, in die »viele heute in einem sehr handgreiflichen Sinne alles das einlegen, was von ehrfürchtigeren Zeiten dem Tun einer Schöpfermacht zugeschrieben worden ist.«242 Die Gefahr solch küh­ ner Gedankenflüge liegt darin, daß legitime Forschungshypothesen über die Biologie hinaus in weitere Kreise des menschlichen Lebens dringen und dort als Wahrheit genommen ein Bescheidwissen vor­ gaukeln, das, obgleich es Illusion ist, sie als biologische Fundierung von Menschenbildern empfiehlt.243 Zu den unmittelbaren Folgen, welche die wachsende Bedeutung biologischer Forschungen im allgemeinen Denken für die Idee des Menschen hat, zählt Portmann die »Entlarvung […] des bewußten Geisteslebens als Ergebnis dunkler Triebe, als ideologischer Ueber­ bau, als Werkzeug für Mächtigeres, das im Verborgenen sich solchen Bewußtseins als eines Instrumentes« bedient. In dieser Sichtweise erscheint das ehemals »als so frei und selbständig geachtete Gei­ stesleben als das Erzeugnis ungekannter Mächte, die [...] aus der organischen Struktur unserer Art vorbestimmt heraufwirken […,] als Frucht des unbewußten Lebens, [...] gelenkt von den Zügeln der Erbfaktoren, [...] von vorbestimmten Denkformen und Anschauungs­ weisen«.244 In der Folge dieses Entwertungsprozesses kommt es zu einer Blickwendung von der Eigenart des einzelnen zu gruppenspezi­ fischen Merkmalen, »was Gemeinsamkeit schafft, wird beachtet, ja im Extrem wird es als das Wertvolle erklärt, während als ›Abirrung‹ vom Typus streng verurteilt wird, was etwa diesem Gruppenhaften zuwider

241 242 243 244

Portmann, Adolf: Biologische Fragmente, S. 5. Portmann, Biologische Fragmente, S. 8. Vgl. Portmann, Biologische Fragmente, S. 9. Portmann, Biologische Fragmente, S. 12.

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Adolf Portmann – die Position

ist.«245 Im Zuge solcher biologischen Konstitutions- und Typenfor­ schung steigen Gruppenmerkmale wie Rasse, Blut und Boden zu Mächten auf, denen eine normative Bestimmung der Lebensführung zugesprochen wird. Die Idee der organischen Entwicklung hat auch den Gedanken beflügelt, man könne im Sinne einer Erklärung der höheren Form durch die einfachere »das Rätsel des Menschen durch das Studium des Tiers lösen«, etwa im Versuch, »die Gestalt des Menschen durch die biologische Erforschung der Primaten zu ergründen.«246 Ohne der Primatenforschung ihre Bedeutung abzusprechen oder die Auf­ schlüsse zu leugnen, welche durch sie auch über den menschlichen Leib zu gewinnen sind, gibt Portmann diesbezüglich zu bedenken, daß sich dieselbe nicht dadurch empfiehlt, daß die tierische Organisa­ tion die vergleichbaren Erscheinungen »unverfälschter, typischer [...] irgendwie aufschlußreicher darböte [... sondern] weil wir am Körper anderer Primaten als Forscher Eingriffe vornehmen können, die uns am Menschen versagt sind.«247 Dieser Idee einer Ableitung des Höhe­ ren aus dem Niedrigen steht bei Portmann die Einsicht gegenüber: »Das Wesen der höheren Gestalt läßt sich nicht aus den Bedingungen der niederen Form verstehen, selbst wenn es hochwahrscheinlich ist, daß sie von der letzteren abstammt.«248 Portmann schließt sich der »weit verbreiteten Auffassung, daß biologische Forschung eine besonders günstige oder gar die beste Ausgangslage«249 zur Beantwortung der Frage: »Was ist der Mensch?« bietet, nicht an. Im Unterschied zur anthropologisierenden Biologie seiner und unserer Zeit geht Portmann davon aus, daß es sich beim Mensch-Tier-Vergleich keineswegs um die geeignetste, sondern nur um die einzige der Biologie zur »Ergründung des Men­ schen« zur Verfügung stehende Methode handelt.250 Damit ist die wichtigste – ausgesprochen oder unausgesprochen jeder biologischen Anthropologie zugrundeliegende – methodische Voraussetzung in Frage gestellt. Wir sehen Portmann einen zum üblichen anthropologischen Vorgehen der Biologie gegensätzlichen Weg einschlagen. Während 245 246 247 248 249 250

Ebd. Portmann, Biologische Fragmente, S. 10. Ebd. Ebd. Portmann, Biologische Fragmente, S. 26. Vgl. ebd.

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Das Programm moderner nichtspekulativer Anthropologie

die Biologie vom Organismus aus, das Ganze des Menschen zu erfas­ sen bestrebt ist, geht Portmann davon aus, daß zur Erfassung auch nur des menschlichen Organismus der Ausgang vom ganzen Menschen nötig ist. Natürliche Entwicklungsprozesse, wie die Embryonalent­ wicklung, die vor- und nachgeburtlichen und die frühkindlichen Entwicklungsprozesse sind nicht unter Absehung von der geistigen Besonderheit des Menschen, sondern ganz im Gegenteil nur unter der Voraussetzung derselben adäquat zu begreifen. Wenn wir das Spezi­ fische der den menschlichen Organismus betreffenden Entwicklung verstehen wollen, ist es nötig, den Menschen als geistiges Wesen in Rechnung zu stellen. Um die Besonderheiten des menschlichen Neugeborenen her­ auszuarbeiten, das in seiner ungewöhnlichen Art von der für höhere Säugetiere geltenden Regel abweicht, gehen auch Portmanns Über­ legungen von einem Vergleich aus: »einer Gegenüberstellung der Jugendperiode der höheren Säuger und der des Menschen«.251 Es entspricht seinem Neuansatz, daß er, was den Vergleich von Mensch und Tier betrifft, nicht wie sonst in der Biologie üblich das Gemein­ same, sondern das Unterscheidende ins Zentrum seiner Betrachtun­ gen stellt. Einzelne Säugetiergruppen zeigen in Relation zu ihrem Organi­ sationsgrad extrem verschiedene Geburtszustände.252 Im Sinne einer bei Vögeln üblichen Gegenüberstellung sind auch bei Säugern Nest­ hocker und Nestflüchter zu unterscheiden. Der Begriff Nestflüchter – mißverständlich dort, wo es kein Nest gibt, aus dem zu flüchten wäre – steht in seiner Übertragung auf Säuger insbesondere für weit ent­ wickelte Sinnesorgane (offene Augen) und frühe Selbständigkeit in der Bewegung. Neben dem wenig spezialisierten Körperbau und der geringen Gehirnentwicklung sind Nesthocker durch kurze Tragzeiten, hohe Nachkommenzahl bei jedem Wurf und den hilflosen Zustand des Jungtieres im Geburtsmoment charakterisiert: »Diese Jugendsta­ dien sind unbehaart, ihre Sinnesorgane sind noch verschlossen und die Temperatur ihres Körpers ist noch von äußerer Wärme völlig abhängig«,253 als Beispiele können genannt werden: Insektenfresser, viele Nage- und Kleinraubtiere (Marder). Andere Verhältnisse zeigen sich im Blick auf die Nestflüchter. Ihrem spezialisierteren Körperbau 251 252 253

Ebd. Vgl. Portmann, Biologische Fragmente, S. 26 ff. Portmann, Biologische Fragmente, S. 27.

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Adolf Portmann – die Position

und der reicheren Ausbildung ihres Gehirns entsprechen die weiteren unterschiedlichen Charakteristika, wie lange Tragzeiten, die Reduk­ tion der Nachkommenschaft auf ein oder zwei und die Ähnlichkeit der weiter entwickelten neugeborenen Jungtiere mit den Alten in Gestalt und Verhalten. Neben Huftieren, Robben, Walen und Halbaffen sind Hühner, Enten, Schnepfen und andere Vögel Beispiele für diesen Ent­ wicklungszustand.254 Der Versuch, den Menschen einem der beiden Entwicklungszu­ stände zuzuordnen, läßt seine biologische Sonderstellung sichtbar werden, er ist in einfacher Zuordnung weder ein echter Nesthocker noch ein vollendeter Nestflüchter, sondern nimmt zwischen diesen beiden Polen eine eigenartige Zwischenstellung ein. Für einen Vergleich mit dem Menschen kommen nur die höheren Säuger, insbesondere die sogenannten Primaten in Frage, die der Gruppe der Nestflüchter zuzuordnen sind. Als Indiz kann insbeson­ dere die embryonale Entwicklung ihrer Sinnesorgane gelten: »Sie durchlaufen […] im Mutterleibe ein für die höhere Säugerstufe kennzeichnendes Stadium des Verschlusses der äußeren Sinnespfor­ ten«.255 Dieser Verschluß der Augenlider, des Gehörgangs und der Nasenöffnung wird vor der Geburt wieder aufgehoben. In diesem Sinne machen Primaten im Mutterleib ein Stadium durch, das dem Geburtsstadium eines Nesthockers entspricht, haben aber im Augen­ blick der Geburt die weiter fortgeschrittene Entwicklungsstufe des Nestflüchters erreicht. Diese »für Nesthocker kennzeichnenden Ver­ änderungen der Sinnesorgane« durchläuft auch der Mensch, um über sie hinaus zur Stufe des Nestflüchters heranzureifen. Zu diesem Entwicklungsweg, auf dem er eine »Stufe der Ausformung [erreicht,] die für alle höheren Säuger ohne Ausnahme kennzeichnend ist«, steht seine Unreife als Neugeborener in krassem Widerspruch, was ihn zu einem »Nestflüchter von ganz eigenem Gepräge« macht.256 Die von Portmann eingenommene Perspektive, »daß der hilflose neugeborene Mensch ganz heimlich eigentlich eine Art Nestflüchter ist«, vermag Eigenart und auffällige Merkmale unseres Geburtzu­ standes sichtbar zu machen, die im Körperbau eines Nesthockers als »paradoxe Kuriositäten« unerklärbar bleiben müßten.257 Ihnen 254 255 256 257

Vgl. ebd. Portmann, Biologische Fragmente, S. 31. Portmann, Biologische Fragmente, S. 32. Ebd.

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hat die Biologie, beherrscht von der Vorstellung, im Tier menschli­ che Vorstufen zu studieren und demgemäß an Gemeinsamkeiten und nicht an Unterschieden orientiert, zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Als Beispiele für körperbauliche Eigenheiten und um das Besondere seines Werdegangs, die menschliche Eigenart seiner Ent­ wicklung zu veranschaulichen, verweist Portmann unter anderem auf die Ausbildung der Markscheiden in den Pyramidenbahnen des Zen­ tralnervensystems,258 die Proportionen des Neugeborenen in ihrem sehr deutlichen Unterschied zu denen der ausgereiften Gestalt,259 und das in Korrelation zum hohen Gehirngewicht stehende hohe Geburtsgewicht des Menschen.260 All das entspricht nicht der somatischen Unreife eines Nesthok­ kers, angesichts seiner Hilflosigkeit im Geburtsmoment durchbricht der Mensch aber auch die für Nestflüchter unter den Säugetieren geltende Regel. Während er als echter Nesthocker im fünften Entwick­ lungsmonat zur Welt kommen müßte, würde er, um als Nestflüchter auszureifen – so das Gedankenexperiment Portmanns – einundzwan­ zig Monate brauchen, den echte Nestflüchter kennzeichnenden Aus­ bildungsgrad (Ähnlichkeit der Proportionen von Neugeborenen und Erwachsenen, die Fähigkeit artgerechter aufrechter Haltung und das Verfügen über erste Elemente der Wortsprache als artgerechter Kom­ munikationsform) erreicht der Mensch erst ein Jahr nach der Geburt. Gemessen an dieser langen Entwicklungszeit zeigt die tatsächliche Schwangerschaftsdauer beim Menschen »eine Art ›physiologischer‹, d.h. normalisierter Frühgeburt«.261 Der das Stadium der Nesthocker überschreitende Mensch entwickelt sich weiter zum Nestflüchter, erreicht dieses Stadium aber nicht, weil seine Geburt diese Entwick­ lung unterbricht. Auf dem Weg zum Nestflüchter kommt der Mensch so gesehen ein Jahr zu früh auf die Welt und gerät dadurch in eine besondere Abhängigkeit, »eine Periode intensiver Pflege und Wartung durch die Eltern«, die ihn, so Portmann, als »sekundären Nesthocker« ausweist.262 Gebannt vom »Zauberwort der Entwicklungstheorie« mit dem unter Voraussetzung undenkbar kleiner Schritte und unvorstellbar 258 259 260 261 262

Vgl. Portmann, Biologische Fragmente, S. 32 f. Vgl. Portmann, Biologische Fragmente, S. 33 ff. Vgl. Portmann, Biologische Fragmente, S. 37 ff. Portmann, Biologische Fragmente, S. 45. Portmann, Biologische Fragmente, S. 50.

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langer Zeiträume »auch noch das Allerverschiedenste auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgeführt werden kann«, geht die übli­ che Deutung menschlicher Entwicklung in der Biologie von der »Auf­ fassung aus, daß [die] menschliche Sonderart sich ›ganz allmählich‹ aus Tierischem herausgebildet habe« und sieht dementsprechend auch in der individuellen Entwicklungsgeschichte des Menschen »ein allmähliches Aufsteigen aus dem Tierischen«.263 Zu dieser biologi­ schen Sichtweise gehört es, das vorgeburtliche Geschehen als tierisch zu taxieren und erst die gegen Ende des ersten Lebensjahres sich vollziehenden Veränderungen als eigentliche Menschwerdung zu ver­ stehen.264 Im Unterschied dazu versucht Portmann den menschlichen Ent­ wicklungsgang im Zusammenhang mit der menschlichen Daseinsart zu begreifen, nur unter Heranziehung der menschlichen Reifeform, des mündigen Erwachsenen, läßt sich die Eigenart der menschlichen Entwicklung sinnvoll interpretieren, erst durch »Berücksichtigung auch des Verhaltens [können] die wahren Ausmaße der menschlichen Besonderheit« aufgedeckt werden.265 So gewinnt für die weiteren Untersuchungen die Menschen­ welt als eine Kulturwelt266 Bedeutung, das Spezifische unserer Lebensweise, die zu charakterisieren Portmann auf Begriffe Schelers (Umweltgebundenheit versus Weltoffenheit) und Plessners (konzen­ trisch versus exzentrisch) zurückgreift,267 muß in die biologische Forschung miteinbezogen werden, um die »Besonderheit des Säug­ lings [als das] Ergebnis einer eigenständigen Menschenentwicklung« auch schon vor der Geburt zu begreifen und zu zeigen, daß bereits sie »Ontogenese des Menschen« ist.268 Drei besondere Ereignisse kennzeichnen das die tierische Norm durchbrechende extra-uterine Frühjahr des Menschen: der Erwerb der aufrechten Körperhaltung269, das Erlernen der eigentlichen Wortspra­ che270 und der Eintritt in die Sphäre des technischen Denkens

263 264 265 266 267 268 269 270

Portmann, Biologische Fragmente, S. 55. Vgl. ebd. Portmann, Biologische Fragmente, S. 56. Vgl. Portmann, Biologische Fragmente, S. 63 f. Vgl. Portmann, Biologische Fragmente, S. 66. Portmann, Biologische Fragmente, S. 56. Vgl. Portmann, Biologische Fragmente, S. 70 f. Vgl. Portmann, Biologische Fragmente, S. 74 f.

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und Handelns (einsichtiges Handeln).271 Die drei untereinander eng verbundenen Bildungsvorgänge stehen unter »geschichtlichen« Ent­ wicklungsbedingungen, wie sie im Mutterleib nicht gegeben sind, natürliche Reifungsprozesse stehen in Kombination mit Erlebnissen und Reizquellen aus der nicht nur reicheren, sondern auch einmaligen sozialen Umgebung. Das Entwicklungsgeschehen wird von Anfang an durch die »Tatsache des Sozialkontaktes« mitgestaltet und erhält durch die Wechselwirkung von »Hilfe und Anregung von seiten der Umgebenden, eigene schöpferische Aktivität und Drang zur Nachah­ mung beim Kinde«272 sein unverwechselbares Gepräge. Portmanns Ansatz läßt sich zunächst als Anwendung (Auswei­ tung) des Uexküllschen Gedankens der natürlichen Umwelt auf die soziale Umwelt des Menschen, seine Mitwelt sehen. Sowenig ein Tier ohne Bezugnahme auf seine Umwelt verstanden werden kann (weder in der Ausformung seines Organismus noch in seinem Verhaltensrepertoire), sowenig kann der Mensch ohne Bezugnahme auf seine (menschliche) Mitwelt verstanden werden. Der Begriff Welt impliziert die nichtmenschliche Umwelt des Menschen, die Lebensvoraussetzungen seines Organismus, die er zwar nicht überall vorfindet, aber überall herzustellen vermag, und die menschliche Mitwelt im Sinne der menschlichen Gemeinschaft. Eine adäquate Schätzung der menschlichen Natur ist nicht unabhängig von der menschlichen Kultur möglich. Allerdings berücksichtigt Portmann nicht nur das Soziale, wie es stets auch bei sozial lebenden Tieren in Rechnung zu stellen ist, sein Thema heißt darüber hinaus »Biologie und Geist«, dem Titel eines seiner Aufsätze und einer Aufsatzsammlung entsprechend.273 Das freilich ist methodisch nicht unproblematisch, weil Geist in der Bio­ logie nur seiner Voraussetzung nach wirklich ist, seiner Wirklichkeit nach aber nur vorausgesetzt werden kann. Seiner von den biologisti­ schen Verengungen und Verkürzungen der Folgezeit weit entfernten Position gelingt es, im Blick auf die Embryonalentwicklung zwar überzeugend darzutun, daß schon die natürliche Entwicklung des Menschen, seine »physiologische Frühgeburt« und das ihm dadurch ermöglichte »extrauterine Frühjahr« im sozialen Mutterschoß auf die Vgl. Portmann, Biologische Fragmente, S. 70 f. Portmann, Biologische Fragmente, S. 80. 273 Portmann, Adolf: Biologie und Geist, in: Rocek, Roman / Schatz, Oskar (Hrsg.): Philosophische Anthropologie heute, München 1972, S. 115–129. Portmann, Adolf: Biologie und Geist, Frankfurt am Main 1973.

271

272

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Adolf Portmann – die Position

Existenz desselben als Geistwesen hin angelegt ist, ohne doch damit die methodischen Mittel an der Hand zu haben, den »sekundären Nesthocker« in seiner spezifisch geistigen Existenz als solcher zu erfassen und zur Sprache zu bringen. Portmanns biologische Fragmente zeigen, daß, was eine Lehre vom Menschen betrifft, nicht die Biologie Grundlage der Anthropolo­ gie, sondern die Anthropologie Grundlage der Biologie ist.

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Das Scheitern Philosophischer Anthropologie und seine Folgen – von Arnold Gehlen zu Konrad Lorenz

Arnold Gehlen – Biographie und Bibliographie Biographie274 29. 01. 1904 geboren in Leipzig als Sohn des Verlegers Max Gehlen 1927 Promotion zum Dr. phil. bei Hans Driesch in Leipzig 1930 Habilitation 1934 o. Professor der Philosophie an der Universität Leipzig 1938 Berufung nach Königsberg 1940 Berufung nach Wien 1947 o. Professor der Soziologie an der Hochschule für Verwaltungswis­ senschaften in Speyer 1962 Berufung auf den neu errichteten Lehrstuhl für Soziologie an der RWTH Aachen 1969 Emeritierung 30. 01. 1976 gestorben in Hamburg

Bibliographie: Gehlen, Arnold: Urmensch und Spätkultur, Bonn 1956. Gehlen, Arnold: Anthropologische Forschung, Reinbek bei Hamburg 1961. Gehlen, Arnold: Theorie der Willensfreiheit und frühe philosophische Schriften, Neuwied und Berlin 1965. Gehlen, Arnold: Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Bonn 1969, Frankfurt am Main 1973.

274 Zu den biographischen Angaben vgl.: Gehlen, Arnold: Anthropologische For­ schung. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen, Reinbek bei Ham­ burg 1961, S. 144.

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Das Scheitern Philosophischer Anthropologie und seine Folgen

Gehlen, Arnold: Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen, Reinbek bei Hamburg 1993.

Das anthropologische Hauptwerk: Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940, NA Frankfurt am Main 2016.

Arnold Gehlen – die Position Unter den Hauptvertretern der neuzeitlichen Anthropologie ist es Arnold Gehlen gewesen, der sich auf Herder bezogen und in ihm nicht nur einen Vorgänger gesehen, sondern sein eigenes Werk geradezu als Ausführung der herderschen Grundgedanken mit zeitgemäßen Mitteln programmatisch charakterisiert hat. »Herder hat das geleistet, was jede philosophische Anthropologie [...] zu leisten verpflichtet ist: die Intelligenz des Menschen im Zusammenhang seiner biologischen Situation, seiner Wahrnehmungs-, Handlungs- und Bedürfnisstruk­ tur zu sehen, d.h. ›die gänzliche Bestimmung seiner denkenden Kräfte im Verhältnis seiner Sinnlichkeit und Triebe.‹ Das menschli­ che Bewußtsein setzt eine besondere morphologische Ausstattung, eine besondere Bewegungsfähigkeit, Wahrnehmungsleistung und Antriebsstruktur voraus, eine ›ganz verschiedenartige Richtung und Auswickelung aller Kräfte‹. Die philosophische Anthropologie hat seit Herder keinen Schritt vorwärts getan, und es ist im Schema dieselbe Auffassung, die ich mit den Mitteln moderner Wissenschaft entwickeln will. Sie braucht auch keinen Schritt vorwärts zu tun, denn dies ist die Wahrheit.«275 Gehlen geht davon aus, daß der Mensch ein Wesen ist, »zu dessen wichtigsten Eigenschaften es gehört, zu sich selbst Stellung nehmen zu müssen«276. Er ist ein Wesen, das sein Wesen deuten muß, das also von einem bestimmten Bild seiner selbst und seiner Mitmen­ schen her sein Leben führt und sein Verhältnis zum Mitmenschen gestaltet, und das in durchaus unterschiedlicher Weise tun wird, je nach dem, ob er sich »als Geschöpf Gottes versteht oder als arrivierten 275 Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Frankfurt am Main 101974, S. 84. 276 Gehlen, Der Mensch, S. 9.

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Affen«277, beide begegnen uns bereits im zweiten Absatz von Gehlens erstem Hauptwerk. Was diese wesensmäßige Nichtfestgestelltheit des Menschen betrifft, schließt Gehlen an Nietzsche an, der den Menschen »das noch nicht festgestellte Tier« genannt hat: »Dieses Wort ist richtig und exakt doppelsinnig. Es meint erstens: es gibt noch keine Feststellung dessen, was eigentlich der Mensch ist, und zweitens: das Wesen Mensch ist irgendwie ›unfertig‹, nicht ›festge­ rückt‹. Beide Aussagen sind zutreffend und können übernommen werden.«278 Aber nicht in Kategorien des Außermenschlichen, weder von Gott noch vom Tier her kann der Mensch begriffen werden, er muß aus sich selbst begriffen werden. Damit ist zunächst einmal Gott verabschiedet, der Affe bleibt insoferne im Spiel, als der Mensch durch den Vergleich mit dem Tier, also zumindest über die Abhebung vom Affen sich als »ein ›Sonderentwurf‹ der Natur«279 erweist: nicht die Ableitung des Menschen vom Tier, wohl aber der Vergleich mit die­ sem macht seine Unvergleichbarkeit mit jeder tierischen Lebensform sichtbar und zeigt uns, daß der Mensch »ein ganz einmaliger, sonst nicht versuchter Gesamtentwurf der Natur«280 ist. Wissenschaftliches Vorgehen ist für Gehlen identisch mit empi­ rischer Analyse.281 Daß Gehlen kein Problem darin sieht, seine Schrift »eine philosophische und wissenschaftliche«282 zu nennen, hat seinen Grund darin, daß für ihn auch die Philosophie eine empirische Wis­ senschaft ist283, jedenfalls die Philosophie, die nicht Metaphysik ist, und eben deshalb, weil er beide zuvor schon identifiziert hat, besteht für Gehlen auch keine Veranlassung, nach dem problematischen Charakter des ›und‹ zu fragen. So sieht er sich, man möchte sagen guten Gewissens als Vertreter einer empirischen Philosophie, von der Bruno Liebrucks sagt, daß es sie »nicht gibt und niemals gegeben hat«, weil Philosophie in dem Wissen besteht, »daß Empirie nur von

Ebd. Gehlen, Der Mensch, S. 10. 279 Gehlen, Der Mensch, S. 15. 280 Gehlen, Der Mensch, S. 14. 281 Vgl. Gehlen, Der Mensch, S. 10. 282 Ebd. 283 Vgl. Gehlen, Arnold: Anthropologische Forschung, Reinbek bei Hamburg 1961, S. 16 f. 277

278

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Das Scheitern Philosophischer Anthropologie und seine Folgen

der Spekulation her erreichbar ist«.284 Auf die Kuriosität einer empiri­ schen Philosophie kommt Gehlen einerseits durch die Identifizierung von Wissenschaft und Philosophie, andererseits durch die Abhebung seines Vorgehens von dem, was er Metaphysik nennt, einem Unter­ nehmen, dem er »eine nur sehr bedingte Überzeugungskraft« zu- und damit »echte, motivbildende und die Handlungen realer Menschen bestimmende Macht«285 abspricht. Daß es nach Gehlen vor allem »das Thema ›Geist‹“ ist, »welches eine metaphysische Stellungnahme herausfordert«,286 zeigt zweierlei: zum einen, daß Gehlen trotz aller Kritik an seinem Stufenschema an Schelers Geistbegriff festhält, der Geist bleibt als Gegenstand nicht empirischer, sondern irgendwie jenseitiger Provenienz vorge­ stellt, und zweitens, daß Gehlen von der bekannten Karikatur von Metaphysik ausgeht, nach der diese irgendwie »jenseitige Entitäten« zum Gegenstand hat und sich insgesamt, um es mit Kant zu sagen, als »Kampfplatz« endloser Streitigkeiten charakterisieren läßt, auf dem kein Sieg je zu erringen ist.287 Die Erfolglosigkeit ihres »jahr­ hundertelangen« Nachdenkens über Fragen, wie etwa das Leib-Seele Problem, ist jedenfalls ein beredtes Zeugnis dafür, daß auf diesem Wege zu keinem Ergebnis zu gelangen ist und empfiehlt dem, der hier weiterkommen möchte, die metaphysische »Fragestellung und Begriffsbildung zu suspendieren«, also »alle metaphysischen, d.h. unbeantwortbaren Fragen auszugrenzen.«288 Damit ist alles sinnvolle Fragen auf Fragen der empirischen Wissenschaft eingeschränkt.289 Gehlen erachtet in diesem Sinn eine »technische[] Enthaltung von der Metaphysik« als Voraussetzung dafür, den Menschen als »For­ schungsgebiet, auf dem auch heute noch eine unbestimmte Zahl ungesehener und unbenannter Phänomene sich feststellen läßt«, unverstellt zu Gesicht zu bekommen.290 284 Liebrucks, Bruno: Sprache und Bewußtsein. Bd. 1: Einleitung. Spannweite des Pro­ blems. Von den undialektischen Gebilden zur dialektischen Bewegung, Frankfurt am Main 1964, S. 81. 285 Gehlen, Der Mensch, S. 11. 286 Ebd. 287 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XV. 288 Gehlen, Anthropologische Forschung, S. 16 f. 289 Wer unbeantwortbare Fragen stellt, darf sich nicht wundern, wenn er sich im Kreise dreht, verwunderlich bleibt allenfalls, warum immer schon, immer noch und immer wieder solche Fragen gestellt werden. Aber das Staunen scheint Gehlens Sache nicht gewesen zu sein. 290 Gehlen, Der Mensch, S. 11.

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Arnold Gehlen – die Position

Welche Aufgabe aber hat die Philosophie dann noch und was unterscheidet sie, wenn auch nicht prinzipiell, von der Einzelwissen­ schaft, und inwiefern ist es angesichts der Identifizierung beider überhaupt noch nötig resp. möglich, Philosophie und Wissenschaft terminologisch zu differenzieren? Nach Gehlen hat die Philosophie nun einmal das Thema Mensch und da sie ohne Empirie, also etwa in der Weise der Metaphysik, nur zu unverbindlichen Spekulationen zu gelangen vermag, kann die Philosophie dieses Thema nur unter Bezugnahme auf eine ganze Reihe von Einzelwissenschaften, die sich auf empirische Weise mit dem Menschen beschäftigen, in einer heute vertretbaren Weise bearbeiten: »Für das, was ich zu sagen habe, müssen sehr viele Tatsachen aus mehreren Wissenschaften übersehbar gemacht werden, und dies von einer Gesamtanschauung aus zu tun, war die eigentlich philosophische Aufgabe. Die Philoso­ phie hat es nämlich mit bestimmten vorhandenen Sachverhalten und Gegenständen (mögen dies auch Vollzüge sein, z.B. Handlungen) zu tun, und so ist etwa ›der Mensch‹ ein Thema der Philosophie: keine der Einzelwissenschaften, die sich mit dem Menschen ebenfalls beschäftigen – Morphologie, Psychologie, Sprachwissenschaft usw. –, hat diesen Gegenstand: der Mensch, und wieder gibt es keine Wissenschaft vom Menschen ohne Berücksichtigung der Resultate, die in jenen Einzelwissenschaften liegen.«291 Philosophie stellt die Wesensfrage, die ihr insoferne verbleibt, als die Wissenschaft Was-ist-Fragen aus ihrem Fragerepertoire aus­ geschlossen hat und hat darüber hinaus die Aufgabe, die Ergeb­ nisse unterschiedlichster Einzelwissenschaften zusammenzutragen, zu kommentieren und auf die Frage: »Was ist der Mensch?« zu beziehen. In dieser Zusammenschau von Ergebnissen, die sie nicht selbst gefunden hat und im Grunde auch nicht selbst überprüfen kann, kommt der Philosophie nur noch eine integrative Funktion zu, die Kompetenz, eigene Sätze über den Menschen aufzustellen, wird ihr hier nicht mehr zugestanden. In eben diesem Sinn geht es Gehlen darum, einen »leitenden Gesichtspunkt, der [...] aus keiner der betei­ ligten Einzelwissenschaften genommen werden konnte, sondern ein philosophischer ist«292, als eine Art »Schlüsselthema« zu finden, das metaphysisches Fragen vermeiden und erfahrungswissenschaftliches Vorgehen ermöglichen würde: »Und als einen solchen Ansatz empfahl 291 292

Gehlen, Der Mensch, S. 14. Gehlen, Der Mensch, S. 13.

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Das Scheitern Philosophischer Anthropologie und seine Folgen

sich die Handlung, d.h. die Auffassung des Menschen als eines primär handelnden Wesens, wobei ›Handeln‹ in erster Annäherung die auf Veränderung der Natur zum Zwecke des Menschen gerichtete Tätigkeit heißen soll«.293 Das Verständnis des Menschen als handeln­ des Wesen erlaubt es, ein einheitliches Strukturgesetz aufzuzeigen, »das alle menschlichen Funktionen von den leiblichen bis zu den geistigen beherrscht«, sodaß der Unterschied zwischen Mensch und Tier nicht mehr erst in so etwas wie Geist sichtbar, sondern »genau so schon in physischen Bewegungsformen aufweisbar« wird294, anders gesagt, das empirische Vorgehen verlangt die Wesensbestimmung des Menschen als eines Handelnden. Im Anschluß an Herder macht auch Gehlen die schon im Prome­ theusmythos beschriebene Situation des Menschen unter dem Begriff »Mängelwesen« zum zentralen Angelpunkt seiner Anthropologie, er rekonstruiert und formuliert die entscheidenden Einsichten auf der Grundlage der wissenschaftlichen Ergebnisse des 20. Jahrhunderts: »Morphologisch ist nämlich der Mensch im Gegensatz zu allen höheren Säugern hauptsächlich durch Mängel bestimmt, die jeweils im exakt biologischen Sinne als Unangepaßtheiten, Unspezialisiert­ heiten, als Primitivismen, d.h. als Unentwickeltes zu bezeichnen sind: also wesentlich negativ. Es fehlt das Haarkleid und damit der natürliche Witterungsschutz; es fehlen natürliche Angriffsorgane, aber auch eine zur Flucht geeignete Körperbildung; der Mensch wird von den meisten Tieren an Schärfe der Sinne übertroffen, er hat einen geradezu lebensgefährlichen Mangel an echten Instinkten und er unterliegt während der ganzen Säuglings- und Kinderzeit einer ganz unvergleichlich langfristigen Schutzbedürftigkeit. Mit anderen Worten: innerhalb natürlicher, urwüchsiger Bedingungen würde er als bodenlebend inmitten der gewandtesten Fluchttiere und der gefähr­ lichsten Raubtiere schon längst ausgerottet sein.«295 Der Mensch ist ein Mängelwesen, freilich nicht im Sinne einer Wesensbestimmung, er ist ein Mängelwesen nur im Vergleich mit dem Tier. Es gilt zu zeigen, daß der Mensch von Natur aus weniger ist als ein Tier, damit er als das Ganze, das er ist, mehr als ein Tier sein kann. Man setzt den Menschen fiktiv als Tier mit dem Ergebnis, daß er unvollkommen und mehr noch, nicht lebensfähig ist. Eben darin 293 294 295

Gehlen, Anthropologische Forschung, S. 17. Gehlen, Der Mensch, S. 23. Gehlen, Der Mensch, S. 33.

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Arnold Gehlen – die Position

liegt die Leistung des Begriffs Mängelwesen: »die übertierische Struk­ tur des menschlichen Leibes erscheint schon in enger biologischer Fassung im Vergleich zum Tier als paradox und hebt sich dadurch ab. Selbstverständlich ist der Mensch mit dieser Bezeichnung nicht aus­ definiert, aber die Sonderstellung bereits in enger, morphologischer Hinsicht [...] markiert.« 296 So ergibt die biologische Betrachtung des Menschen, »daß der Mensch schon auf Grund seiner biologischen Natur keine nur biologische Natur sein kann«297. In dieser Einsicht liegt nach Liebrucks die Stärke der gehlenschen Untersuchung, ihre Grenze liegt darin, daß diese Einsicht nicht durchgehalten wird.298 Der Tier-Mensch-Vergleich hat bei Gehlen weder den Sinn, die Überlegenheit des Menschen über das Tier zu demonstrieren noch ihn aus dem Tierreich abzuleiten. Gehlen betrachtet den Menschen als Tier, d.h. biologisch, eine biologische Betrachtungsweise darf sich aber nicht auf das Körperliche beschränken, sie muß die Existenzbedingun­ gen des Menschen in die Fragestellung einbeziehen.299 In diesem Sinn geht es Gehlen nicht mehr bloß um Anthropologie, sondern um »Anthropobiologie«, – ein Begriff, der die Bedeutung gerade der biologischen Fragestellung für Gehlens Unternehmung eindrucksvoll unterstreicht.300 Die anthropobiologische Betrachtungsweise führt zunächst zu einer Umkehrung. Im Gegensatz zum Tier-Mensch-Ver­ gleich gewissermaßen alltagssprachlicher Provenienz erscheint in der Folge dieser Betrachtung der Mensch dem Tier nicht über-, sondern unterlegen. Es gilt der Satz: Der Mensch überlebt, weil er Kultur hat, es gilt aber auch der Satz: Der Mensch hat Kultur einzig um zu überleben! Bei aller Fruchtbarkeit der Fragestellung nach der Überlebensfähigkeit des Mängelwesens wird der Begriff des Menschen hier insofern biolo­ gisch verkürzt und darin verfehlt, als Kultur ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Überlebensdienlichkeit gesehen ist. Interpreten, wie etwa Theodor Litt in »Mensch und Welt«301, haben an dieser Stelle von Biologismus gesprochen und an der »anthropobiologischen« Gehlen, Der Mensch, S. 20. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 82. 298 Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 83. 299 Vgl. Gehlen, Der Mensch, S. 16. 300 Vgl. Gehlen, Der Mensch, S. 15. 301 Litt, Theodor: Mensch und Welt. Grundlinien einer Philosophie des Geistes, Hei­ delberg 21961. Diese zweite Auflage des Werkes enthält im Anhang Überlegungen »Zur Anthropologie A. Gehlens«, S. 281 ff. 296

297

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Das Scheitern Philosophischer Anthropologie und seine Folgen

Deutung des Menschen durch Gehlen die im Tier-Mensch-Vergleich vollzogene »Angleichung nach unten hin«302 kritisiert: »Geht sie den Weg ›von unten nach oben‹, glaubt sie schon an der Physis des Menschen das Gesetz seines Wesens ablesen zu können, dann ist die Auslegung des Nachfolgenden in eine Richtung gedrängt, in der das im tiefsten und letzten Sinne Menschliche nicht in Sicht kommen kann, weil der Gesichtspunkt der vitalen Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit die Perspektive bestimmt.«303 Auch Liebrucks wendet gegen den Kulturbegriff Gehlens, in den Künste sowenig eingeschlossen sind wie Philosophie, ein, daß hier nicht von Welt, sondern bloß von einer vom Menschen hergestellten höheren Umwelt die Rede ist.304 Auch gegen die hiermit im Zusammenhang stehende Ansicht, daß die »Aufgabe des Menschen [...] in erster Linie darin [besteht], überhaupt am Leben zu bleiben«305, ist geltend zu machen, daß der Mensch keineswegs in der Weise des Tieres auf die Zwecke der Selbstund Arterhaltung festgelegt ist. Darin, daß er reflektierend zu ihnen Stellung zu nehmen vermag, steht der Mensch, selbst dann, wenn er sich wesentlich von auf die Selbst- und Arterhaltung bezogenen Trieben und Interessen her bestimmt, dieser seiner ersten Natur anders gegenüber als das Tier in ihr. Weder die Art- noch die Selbst­ erhaltung schreiben menschlichem Handeln Zwecke vor. Im Heraus­ getretensein aus der fraglosen Insichübersichhinausvermitteltheit306 tierischer Existenz ist der Mensch auch auf der Stufe der Natur als »kluges Tier« motiviert, dem es über das Überleben hinaus immer schon um das gute Leben (εὖ ζῆν) geht. Im Spannungsraum von Überleben und gutem Leben aber kommt dem Zweck Selbsterhaltung keine Eindeutigkeit zu, ja man kann sagen, die Berufung auf das Überleben als motivierende resp. sinngebende Instanz bleibt gänzlich leer. Um das Überleben geht es dem Menschen dann, wenn das Leben bedroht ist, also in jenen Extremsituationen, in denen für ihn die sogenannte nackte Existenz auf dem Spiele steht, wo die alltäglichen Bedürfnisse, Triebe, Wünsche etc. aufgehoben sind bzw. in einem Litt, Mensch und Welt, S. 289. Litt, Mensch und Welt, S. 295. 304 Vgl. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 91. 305 Gehlen, Der Mensch, S. 63. 306 Vgl. Heintel, Erich: Die beiden Labyrinthe der Philosophie. Systemtheoretische Betrachtungen zur Fundamentalphilosophie des abendländischen Denkens, Wien – München 1968, S. 127. 302

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Arnold Gehlen – die Position

Ziel zusammenfallen, in dem Ziel zu überleben, d.h. im Hinblick auf das Überleben ergibt sich die bestimmte Inhaltserfüllung erst aus der bestimmten Bedrohung. Bei Robert Reininger lesen wir in diesem Sinn: »Für den Ertrinkenden wird das Leben ganz von selbst zum Oberwert aller Werte«307, daraus freilich folgt keineswegs auch, daß das Leben für den Menschen der höchste Wert ist, sondern, wie Reininger zeigt, daß sich Sinn- und Wertfragen nur unter seiner Voraussetzung, d.h. erst dort stellen, wo keine Lebensbedrohung vorliegt. »Nur Wertsetzungen innerhalb des Lebens, für die das Leben selbst Mittel und nicht Zweck ist, können sinngebend wirken. Diese sind aber nicht vom biologischen Standpunkte aus zu verstehen.«308 In welcher Weise Gehlen an Herder anschließt, macht die gehlensche Interpretation der Leistungen Herders deutlich: »Es ist bewundernswert, wie Herder [...] die biologische Hilflosigkeit des Menschen, seine Weltoffenheit und die ›Zerstreutheit seiner Begier­ den‹ in ihrem inneren Zusammenhang sieht, wie er dann auf die Frage der ›Schadloshaltung‹ kommt und an dieser Stelle dann die Sprache (Vernunft, Besonnenheit) aus diesem neugefundenen ›Charakter der Menschheit‹ ableitet, als einen ›aus der Mitte dieser Mängel‹ entstehenden Ersatz.«309 Damit, daß er das spezifisch Menschliche als Ersatz für die Mangelhaftigkeit seiner natürlichen Ausstattung begreift, hat Gehlen Herder in einer Weise interpretiert, die seine Grenzen aufzeigt. Der hier ausgesprochene Gedanke der Kompensa­ tion ist im Rahmen der Biologie bis heute bestimmend geblieben, etwa bei Konrad Lorenz, für den ja Gehlen kein Unbekannter war. Lorenz ist im selben Jahr (1940) nach Königsberg berufen worden, in dem Gehlen aus Königsberg kommend, nach Wien berufen wurde, und zwar auf den Lehrstuhl des 1939 emeritierten Robert Reininger. Lorenz versteht in eben diesem Sinn menschliche Moral als Kom­ pensation für den Ausfall jener aggressionshemmenden Verhaltens­ mechanismen, die im Rahmen tierischen Verhaltens dafür sorgen, daß das sogenannte Böse als Gutes im Dienste der Selbst- und Arterhaltung wirksam wird.

307 Reininger, Robert: Wertphilosophie und Ethik. Die Frage nach dem Sinn des Lebens als Grundlage einer Wertordnung, Wien 1946, S. 90. 308 Reininger, Wertphilosophie und Ethik, S. 91 f. 309 Gehlen, Der Mensch, S. 84.

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Das Scheitern Philosophischer Anthropologie und seine Folgen

Anthropologie – Anthropobiologie – Biologie Wenn wir die geschichtliche Entwicklung der modernen Philosophi­ schen Anthropologie überblicken und dabei die sie wesentlich kenn­ zeichnende Spannung zwischen Philosophie und Wissenschaft im Auge behalten, so läßt sich sagen, daß aus einer philosophischen Disziplin, die sich in der Frage nach dem Menschen der Wissenschaft zuwendet, zwischen Scheler und Gehlen eine Disziplin wird, die sich von der Philosophie abwendet. So ergibt sich am Endpunkt dieser Entwicklung die Situation, in der wir gegenwärtig stehen. Die Biologie stellt längst nicht mehr nur Ergebnisse zum Aufbau einer Anthro­ pologie bereit, die ihrer grundsätzlichen Anlage nach philosophisch ausgerichtet ist, sondern die Wissenschaft beansprucht, die Philoso­ phie zu ersetzen und die ehemals philosophisch-anthropologischen Frage- und Problemstellungen als Biologie zu übernehmen. Für das Bewußtsein der Gegenwart ist, was sich bereits in Gehlens Begriff der Anthropobiologie angekündigt hat, die Biologie aber nicht nur in den Vordergrund des anthropologischen Interesses gerückt, man kann darüber hinaus sagen: Die Biologie hat heute die Physik als paradigmatische Wissenschaft, als Grundwissenschaft abgelöst. Zwei Gründe sind für diese zentrale Stellung der Biologie, für ihren Aufstieg zur Leit- und Zeitgeistwissenschaft verantwortlich: 1. Die realen Bedrohungen und Ängste im Zusammenhang mit den Umweltproblemen und die damit verbundene Hoffnung, daß die Wissenschaft Biologie uns die Einsichten und Mittel für die nötigen Reparaturen zur Verfügung stellen kann. – Am besten gleich solche Mittel, die es uns ermöglichen, ohne irgendwelche Änderungen unse­ res Verhaltens gegenüber der Natur so weiterzumachen wie bisher. Die riesigen Geldmengen, die heute in die Genforschung fließen, verdanken sich ja zum größten Teil solchen lautstark verkündeten Zukunftsversprechen, durch die die negativen Auswirkungen unseres Umgangs mit der Natur neutralisiert werden sollen. Die Zielsetzung bei Pflanzen, durch genetische Manipulationen die Herbizidresistenz zu erhöhen, ist ein Beispiel für eben diese Mentalität, wo man nicht etwa an der Art und Weise des landwirtschaftlichen Anbaues, der nur noch mit gleichzeitigem Einsatz von riesigen Giftmengen möglich ist, etwas ändern will, sondern die Natur, also die anzubauenden Pflanzen, so verändern möchte, daß sie noch mehr Gift aushalten. Einer der Gründe für die gegenwärtige Konjunktur der Biologie ist also, etwas allgemeiner formuliert, unser problematisch geworde­

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Anthropologie – Anthropobiologie – Biologie

nes Verhältnis zur Natur. Diese Dinge können nicht ernst genug genommen werden, eine Lebensweise, die zunehmend die natürli­ chen Lebensgrundlagen zerstört, ist für den Menschen auf Dauer unmöglich und wenn wir hier die folgenden Generationen in die Überlegungen einbeziehen, so sehen wir sehr deutlich, daß es nicht mehr bloß unser Risiko ist, das wir in unseren Entscheidungen abzuwägen und daß es nicht mehr nur unsere Probleme sind, die wir hier in Rechnung zu stellen haben, sondern daß wir längst auf Kosten und zu Lasten künftiger Generationen leben. 2. Der zweite Punkt ist die unmittelbare Verbindung biologischer Fragestellungen mit der Frage: »Was ist der Mensch?«, anders gesagt, die Einbeziehung des Menschen in die biologischen Fragestellungen, oder noch deutlicher, der Anspruch der Biologie, für die Gegenwart die adäquate Antwort auf die Frage: »Was ist der Mensch?« bereit zu haben. Es sind die Konsequenzen der biologischen Ergebnisse für den Menschen, d.h. die Einsichten, die er qua Biologie über sich selbst gewinnt, die das Faszinierende an dieser Wissenschaft auch für eine breitere Öffentlichkeit ausmachen und ihren Erfolg über den engeren Bereich der Fachgelehrten hinaus erklären. Sehr schön zeigt sich das bereits an der nicht bloß außergewöhnlichen, sondern ganz und gar unglaublichen Erfolgsgeschichte von Darwins erstem Buch. Die »Entstehung der Arten« (1859) war bei einer Erstauflage von 1200 Stück bereits am Erscheinungstag vergriffen, hat schon in den ersten drei Monaten drei weitere Auflagen erlebt und schlug sich bis zu Darwins Tod 1882 mit 24.000 verkauften Exemplaren zu Buche.310 Ein solches Interesse an einem wissenschaftlichen Werk ist nicht durch die Fachkollegenschaft, die es normalerweise zur Kenntnis nimmt erklärlich, sondern nur dann zu verstehen, wenn hier weltan­ schaulich-ideologische Motive mitberücksichtigt werden. Im Sinne dieses Anspruchs erscheint die »Biologie […] die für den Menschen bedeutendste Wissenschaft«311, eine Wissenschaft, »die unsere Weltsicht heute entscheidend prägt und neues Licht 310 Vgl. Querner, Hans: Darwin, sein Werk und der Darwinismus, in: Mann, Gunter (Hg.): Biologismus im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1973, S. 20 f. und Portmann, Adolf: Die entscheidende Wendung im Evolutionsdenken der Biologie, in: Entläßt die Natur den Menschen? Gesammelte Aufsätze zur Biologie und Anthropologie, München 1971, S. 173. 311 Monod, Jacques: Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie, übers. von Friedrich Griese, München 1974, S. 19.

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Das Scheitern Philosophischer Anthropologie und seine Folgen

wirft auf unser eigenes Selbstverständnis.«312 Einer der maßgeblichen Vertreter dieses neuen Selbstverständnisses der Biologie ist Konrad Lorenz.313 Sein wissenschaftlicher Beitrag wird von Biographen und Schülern über die Grundlegung Vergleichender Verhaltensforschung hinaus explizit als von »überragender Bedeutung für [...] Anthropolo­ gie, [...] Philosophie und Erkenntnistheorie«314 gewürdigt. Ins gleiche Horn stößt die Verhaltensforschung, aus deren Reihen lautstark der Ruf erschallt, daß der Mensch nur dann, wenn er biologisch denken lernt315, die Krise, in der er sich befindet, überwinden und bewältigen kann. So werden auch Themen der Geschichtsphilosophie im Sinne von Kulturdiagnostik und Kulturkritik exklusiv von der Biologie beansprucht, und obgleich die Biologie als Wissenschaft gewisserma­ ßen traditionell religionskritisch auftritt, bietet sie sich im Hinblick auf die universale Erklärungskompetenz des Evolutionsgedankens auch als Religionsersatz an: »sie besitzt alle Werte, die einer Schöp­ fungslehre zukommen können: erklärende Kraft, poetische Schönheit und eindrucksvolle Größe.«316 Wer je gelesen hat, wie Lorenz von Selektion und Mutation spricht, sie in personifizierender Weise die beiden großen Konstrukteure der Evolution nennt und dann in einem Absatz fünf Mal die Wendung »ich glaube« gebraucht, der gewinnt eine Ahnung davon, daß hier der Begriff Evolution an jene Stelle zu treten beginnt, an der einst von Gott die Rede gewesen ist. Der Mensch, so heißt es im Schlußsatz seines Aggressionsbuches, der Freundschaft und Liebe nur dem Nächsten gegenüber empfindet, kann – um der Kürze halber mit Nietzsche zu reden – die Forderung der »Fernstenliebe« nicht erfüllen: »Doch die großen Konstrukteure können es. Ich glaube, daß sie es tun werden, denn ich glaube an die Macht der menschlichen Vernunft, ich glaube an die Macht der Selektion und ich glaube, daß die Vernunft vernünftige Selektion 312 Wuketits, Franz: Eine Standortbestimmung der Biologie, in: »Wiener Zeitung«, 24. 11. 1983. 313 Zum Folgenden vgl. auch: Woschnak, Werner: Biologische Erziehung des Men­ schengeschlechts?, in: Klein, Hans-Dieter / Reikerstorfer, Johann (Hrsg.): Philosophia perennis. Erich Heintel zum 80. Geburtstag, 2 Bde., Frankfurt am Main – Wien 1993, Bd. 1, S. 402–422. 314 Wuketits, Franz: Wahrheit und Menschlichkeit. Zum Tod von Konrad Lorenz, in: »Wiener Zeitung«, 17. 3. 1989, S. 5. 315 Vgl. Lorenz, Konrad: Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit, München 1973, S. 60. 316 Lorenz, Konrad: Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression, Mün­ chen 1974, S. 212.

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treibt. Ich glaube, daß dies unseren Nachkommen in einer nicht allzu fernen Zukunft die Fähigkeit verleihen wird, jene größte und schönste Forderung wahren Menschentums zu erfüllen.«317 Biologie versteht sich solcherart als Antwort auf alle drei Fragen des Kantischen Weltbegriffs der Philosophie: Was kann ich wissen? (Evolutionäre Erkenntnistheorie, mit der Konsequenz einer Anthro­ pologisierung der Wahrheit). Was soll ich tun? (Evolutionäre Ethik, mit der Konsequenz des naturalistischen Fehlschlusses). Was darf ich hoffen? (Evolutionstheorie als Schöpfungslehre, mit der Konsequenz: Biologie als Religionsersatz). Alle drei Disziplinen können sich in ihren gewissermaßen biologischen Variationen auf ihn als ihren Begründer berufen und verstehen sich explizit im Anschluß an sein Werk oder doch in Auseinandersetzung mit einzelnen seiner Thesen. Die zentrale begriffliche Kategorie, die diesen Anspruch fundiert und allererst möglich macht, heißt Evolution: »Nichts in der Biologie macht Sinn, außer im Lichte der Evolution«318, mit diesem Satz hat Theodosius Dobzhansky 1937 die Bedeutung der Evolution als des primären Paradigmas der modernen Biologie treffend zum Ausdruck gebracht. Der Evolutionsgedanke, Grundlage auch der Vergleichen­ den Verhaltensforschung: »Die Ethologie [...] besteht darin, auf das Verhalten von Tieren und Menschen all jene Fragestellungen und Methoden anzuwenden, die in allen anderen Zweigen der Biologie seit Charles Darwin selbstverständlich sind«319, wird im Sinne solcher Anwendungen in seiner Geltung unreflektiert vorausgesetzt: »Die Wahrscheinlichkeit oder, besser gesagt, die all unser historisches Wis­ sen um ein Vielfaches übertreffende Sicherheit der Abstammungs­ lehre will ich hier nicht erst diskutieren. Alles uns jetzt Bekannte fügt sich ihr zwanglos ein, nichts spricht gegen sie […]«.320 Daß Kon­ rad Lorenz die Evolutionstheorie nicht weiter eine Theorie genannt wissen möchte: »Ich werde immer böse, wenn man sagt ›Evoluti­ onstheorie‹“,321 verdankt sich ihrer suggestiven Plausibilität und nicht etwa dem Umstand, daß sie den an eine wissenschaftliche Theorie Lorenz, Das sogenannte Böse, S. 258 f. Vgl. Dobzhansky, Theodosius: Die genetischen Grundlagen der Artbildung, übers. von Witta Lerche, Jena 1939. 319 Lorenz, zit. nach Wuketits, »Wiener Zeitung«, 17. 3. 1989, S. 5. 320 Lorenz, Das sogenannte Böse, S. 212. 321 Lorenz, Konrad / Kreuzer, Franz: Leben ist Lernen. Von Immanuel Kant zu Konrad Lorenz. Ein Gespräch über das Lebenswerk des Nobelpreisträgers, München 1981, S. 25. (Kursiv von mir W. W.). 317

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zu stellenden Kriterien empirischer Überprüfbarkeit und experimen­ teller Wiederholbarkeit nicht genügt. Aus der Evolutionstheorie ist die »Evolution« geworden, die, weit davon entfernt, Gegenstand wissenschaftstheoretischer Auseinandersetzungen zu sein, quasi als ein Faktum nicht mehr zu bezweifeln ist. Was noch bei Darwin als ein durch den Bezug auf den Begriff des Organismus wohldefinierter und eben darin in seiner Geltung auf einen methodisch streng abgegrenzten Bereich eingeschränkter Ver­ such der Erfassung von Lebenserscheinungen – des kontinuierlichen Artenwandels und seiner Faktoren – aufgetreten ist, avanciert unter dem Schlagwort »Evolution« zum darwinistisch universalen Erklä­ rungsprinzip einer Entwicklung, die vom Urknall ausgeht und als deren reifstes Produkt der Evolutionstheoretiker sich selbst begreift. Das Diktum Dobzhanskys hat seine Einschränkung auf die Biologie längst hinter sich gelassen: »Nichts überhaupt hat Sinn, außer im Lichte der Evolution.« So steht das Zauberwort wissenschaftlicher Weltbewältigung gegenwärtig vor allem für den imperialen Anspruch der Naturwissen­ schaft, der delphischen Aufforderung zu menschlicher Selbsterkennt­ nis in Gestalt der Biologie eine abschließende Antwort zu sein. Nun ist es aber für die »Deutung des eigenen [...] Daseins«, wie Gehlen zutreffend bemerkte, keineswegs unerheblich, ob sich der Mensch »als Geschöpf Gottes [...] oder als arrivierten Affen«322 versteht. Im Begriff des Menschen formuliert sich sein Selbst- und Weltverständ­ nis, in deren Aufeinanderbezogenheit er seinen Umgang mit dem Mitmenschen und sein Verhältnis zur Natur gestaltet, und soferne die Frage: »Was ist der Mensch?« das zentrale Thema der Philosophie ist, wird ihr die kritische Prüfung dieses Anspruchs moderner Biologie, zu menschlichem Welt- und Selbstverständnis nicht bloß auf der Ebene methodischer Abstraktion beizutragen, sondern ein solches grenzüberschreitend stellvertretend für Kunst, Religion und Philoso­ phie zu leisten, zur vordringlichen Herausforderung.

Die naturalistische Wende Im Gegensatz zur anthropologischen Wende, wie sie Sokrates und die Sophisten herbeiführen, in dem sie den Menschen zum Thema 322

Gehlen, Der Mensch, S. 9.

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Die naturalistische Wende

machen, ist für die Biologie der Gegenwart und ihre Art biologische Anthropologie eine naturalistische Wende charakteristisch. Darin stehen wir nach wie vor im Banne der modernen Anthropologie, auch wenn wir mit dieser nicht mehr die Differenziertheit ihrer Problemstellungen, sondern nur noch die Konsequenzen ihres Schei­ terns teilen. Die fragliche Geisteshaltung erschließt sich uns wiederum besonders eindringlich im Blick auf Konrad Lorenz und seine Schule. Ich beziehe mich auf eine von den Lorenzschülern Bernd Lötsch und Peter Weihs verfaßte Broschüre.323 Es handelt sich dabei um ein soge­ nanntes Lehrerbuch, einen Begleittext zu einem Film mit dem Titel: »Fressen und Gefressen Werden«, der für die Oberstufe des Gymna­ siums (AHS) gedacht ist, es soll dem Lehrer die Möglichkeit geben, das im Film Gezeigte im Unterricht zu bearbeiten. Entsprechend dem grund- und einheitswissenschaftlichen Anspruch der Biologie wird der Einsatz von beiden, Buch und Film, im Buch selbst nicht nur für die Fächer Biologie und Umweltkunde, sondern darüber hinaus für Sozialkunde, Wirtschaftskunde, Deutsch und Religion empfohlen. Der Titel ist ausgezeichnet gewählt: Fressen und Gefressen Werden, darin formuliert sich in der Tat das die Aufeinanderbezo­ genheit der Arten untereinander definierende und beherrschende Gesetz der Natur, an dessen Brutalität zu erinnern es sich angesichts romantischer Naturvorstellungen empfiehlt, dem sehnsuchtsvollen Blick zivilisationsmüder Großstädter erscheint die Natur nur allzu gerne als Paradies. Gleich im Vorwort heißt es unter der Überschrift: »Für eine Neudefinition der Menschlichkeit«: Buch und Film geben »eine Ein­ führung in Tierökologie und Verhaltenslehre, um schließlich zum Homo sapiens vorzustoßen. Damit wird der Zugang zu einem neuen Menschenbild eröffnet«.324 Es geht um ein neues Menschenbild auf biologischer Basis, auf der Grundlage von Tierökologie und Verglei­ chender Verhaltensforschung soll der Sinn von Menschlichkeit neu definiert werden: »Wer ›menschlich‹ handeln will, muß den Homo sapiens in seiner Ganzheit begreifen – vom tierischen Sockel seiner

323 Vgl. Lötsch, Bernd / Weihs, Peter: Fressen und Gefressen Werden. Lehrerbuch zum Film von Bert Haanstra (»Schule des Sehens«), Wien o. J. 324 Lötsch/Weihs, Fressen und Gefressen Werden, S. 7.

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angeborenen Triebe und Verhaltensmuster bis zu den Höhen seiner kulturellen und politischen Errungenschaften.«325 Der für die Biologie typische kulturkritische Ansatz fehlt so wenig wie die Stichworte gängiger Zivilisationskritik entlang der »8 Todsünden« des Meisters: Atombombe, Übervölkerung, Massen­ gesellschaft, Konsumverführung etc. Ausgegangen wird von einer Natur des Menschen, die im biologischen Sinn festliegt und die in eine bestimmte Umwelt paßt, die natürlich nicht die Kulturwelt, nicht die Zivilisation unserer Tage ist, worauf all das, was zivilisa­ tionskritisch festgestellt werden kann und was zu kritisieren an unserer Zivilisation ja oft nur allzu berechtigt ist, aus dem zwischen Natur und Kultur klaffenden Widerspruch erklärbar wird. »In seinem biologischen Kern ist das Menschenwesen ... furchtbar altmodisch, die selbstgeschaffene Verfremdung seiner Umwelt läuft seiner Natur, seinen in Millionen Jahren entstandenen Anpassungsmustern davon und erzeugt eine zunehmende Neurotisierung.« Die Grundlagen des neuen und adäquaten Menschenbildes erschließen sich uns dement­ sprechend mit einem Blick auf die Natur des Menschen: »Die Häufung von zwischenmenschlichen Störungen und scheinbar unmotivierten Aggressionen ist unübersehbar. Es ist [daher] wichtiger denn je geworden, nicht nur die Natur um uns, sondern auch die Natur in uns besser zu verstehen.«326 Die Gegenüberstellung macht klar, daß die Natur um uns und die Natur in uns ein und dieselbe Natur ist, nur im Sinne eines außer uns – in uns, nicht aber in einem qualitativen Sinn unterschieden. Entscheidend für diese neue Sicht des Menschen, für dieses neue Selbstverständnis vom Menschen ist das »Studium der biologischen Wurzeln menschlichen Verhaltens«, die Rücksicht auf den »harten Kern«, der »ererbten Verhaltensweisen«, was es vor allem zu kennen und zu erkennen gilt, ist »der Affe in uns«, wie dies Franz Wuketits im Titel seines 2001 erschienenen Buches auf den Punkt gebracht hat.327 In pädagogischer Konsequenz sind solcherart Zukunftsverspre­ chen einer besseren Welt und einer besseren Gesellschaft möglich, die alles andere als bescheiden sind. »Wir glauben, daß die Mißachtung ethologischer Prinzipien bisher unendlich viel Leid angerichtet hat, Ebd. Ebd. 327 Wuketits, Franz: Der Affe in uns. Warum die Kultur an unserer Natur zu scheitern droht, Wien 2001. 325

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Die naturalistische Wende

wohingegen kluge Schlußfolgerungen aus der Verhaltensforschung zur Humanisierung unserer Erziehung, Umweltgestaltung und zahl­ reicher Lebensbereiche beitragen könnten.«328 Das Angebot an Problemlösungskompetenz des biologischen Ansatzes reicht von Generationenkonflikt und Aggressionsproblem über Umwelt- und Friedenspolitik bis hin zur Ästhetisierung unserer Umwelt und einer neuen Schöpfungsethik. Die Einlösbarkeit auch nur der Hälfte dieser Ansprüche berechtigte es, angesichts der Pro­ bleme, die unsere gegenwärtige Zivilisation ja in der Tat bedrängen, Vergleichender Verhaltensforschung als Wissenschaft messianischer Verheißungen zu huldigen. Philosophische Anthropologie greift im Versuch, das Wesen des Menschen in vergleichender Abhebung von der Daseinsform des Tieres zu klären, zwar auf wissenschaftliche Forschungsergebnisse, besonders aus dem Bereich der Biologie zurück, kann dabei aber in der Bestimmung der Sonderstellung des Menschen auf Kategorien, die, wie Schelers Geist-Begriff oder die Begriffe »Ich« oder »Selbstverhält­ nis« bei Plessner, der Tradition klassischer Philosophie entstammen, nicht verzichten. Im Gegensatz dazu will Vergleichende Verhaltens­ forschung den Menschen ausschließlich biologisch begreifen. In Radi­ kalisierung des Programms neuzeitlicher Anthropologie ist hier die Frage nach dem Menschen endgültig von einer Einzelwissenschaft, eben der Biologie, übernommen. Die Methode, den tierischen Sockel menschlichen Verhaltens zu entdecken ist, wie der Name der Disziplin Vergleichende Verhal­ tensforschung nicht verleugnen kann, die Analogie, der Vergleich tierischen und menschlichen Verhaltens, doch ist die in uns gesuchte Natur von der Natur, die wir um uns finden, nicht unterschieden, es sind biologische Wurzeln in der Form angeborener Triebe und ererbter Verhaltensweisen, die gefunden werden. Um den Menschen zu verstehen, gilt es nicht länger, ihn mit der Natur zu vergleichen, er muß als Natur gesehen werden.

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Lötsch/Weihs, Fressen und Gefressen Werden, S. 8.

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Das Scheitern Philosophischer Anthropologie und seine Folgen

Der Mensch-Tier-Vergleich als methodisches Instrument der Vergleichenden Verhaltensforschung Im Folgenden soll das von der Vergleichenden Verhaltensforschung geübte Analogieverfahren genauer studiert und analysiert werden. Von Analogie sprechen wir dann, wenn zwei Dinge gleich und ver­ schieden sind. Wenn etwas gleich ist, ohne auch ungleich zu sein, dann ist es identisch und es gibt nichts zu vergleichen. Wenn etwas so ungleich ist, daß nichts Gleiches zu entdecken ist, ist ebenfalls kein Vergleich möglich. Der Sinn einer Analogie erschließt sich uns also erst, wenn wir wissen, wie in ihrem Rahmen Identität und Diffe­ renz des Verglichenen bestimmt sind.329 Beides muß gegeben sein: Gleiches und Unterschiedenes, wo eines der Momente unterschlagen wird, wird die Analogie schief. Die Analogie als methodisches Mittel der Vergleichenden Ver­ haltensforschung nimmt dabei stets ihren Ausgang beim Menschen, um in der Beobachtung tierischen Verhaltens das jeweils Vergleich­ bare zu suchen. Nur im Ausgang von spezifisch menschlichen Fähigkeiten, Leistungen, sozialen Wirklichkeiten etc. sind in der Tierbeobachtung überhaupt Analogien feststellbar. Wenn wir Ehe, Freundschaft, Rangordnungsstreben usw. beim Tier entdecken, so einzig und alleine deshalb, weil wir all das als gesellschaftliche Phänomene aus dem eigenen menschlichen Erfahrungs- und Hand­ lungsraum kennen. Wenn es also bei Lötsch heißt: »Vieles in dem Verhalten dieser unserer nächsten Vorfahren [gemeint sind Schim­ pansen] fordert zum Nachdenken heraus, zum Nachdenken über die Wurzeln unseres eigenen Verhaltens. Gemeinsamkeiten, die kein bloßer Zufall sein können«330, so läßt sich im Sinne der Einsicht in den ersten Analogieschritt, dem Schritt vom Menschen zum Tier, auch erkennen, warum die Gemeinsamkeiten kein Zufall sind, nicht weil sich im tierischen Verhalten die Wurzeln unseres eigenen Verhaltens zeigen, sondern weil wir im Sinne der Analogie von der menschlichen Verhaltenswirklichkeit ausgehen und nur das ihr Korrespondierende als Gemeinsamkeit beim Tier zu entdecken vermögen. 329 Vgl. Nagl-Docekal, Herta: Evolutionäre Erkenntnistheorie?, in: Ehalt, Hubert Christian (Hg.): Zwischen Natur und Kultur. Zur Kritik biologistischer Ansätze, Wien 1985, S. 259 f. 330 Lötsch/Weihs, Fressen und Gefressen Werden, S. 24.

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Der Mensch-Tier-Vergleich als methodisches Instrument

Das gilt schon für die Wahl des Forschungsobjektes – bei Konrad Lorenz bekanntermaßen die Graugans: »Die ungemein hohe Ent­ wicklung, die das Verhalten der Graugans auf dem Gebiete des Fami­ lien- und Gesellschaftslebens erreicht hat und vor allem die Parallelen, die es zu den analogen Verhaltensweisen des Menschen zeigt, machen sie zu einem überaus wertvollen und unerschöpflich interessanten Objekt soziologischer Forschung«.331 Der Tier-Mensch-Vergleich ist also nur unter Voraussetzung und auf der Grundlage des MenschTier-Vergleiches möglich. Von Moral, Freundschaft, Liebe, Paarbil­ dung etc. ist zunächst stets in der Bedeutung die Rede, die diesen Begriffen im Rahmen der menschlichen Selbsterfahrung zukommt. Der Anthropomorphismus in der Deutung und Beschreibung tieri­ schen Verhaltens ist so gesehen unaufhebbar, man darf nicht erwarten ihn zu vermeiden, es gilt vielmehr, ihn methodisch zu kontrollieren. Bereits daran schließt sich ein erster kritischer Hinweis an. Im Sinne des ersten Analogieschrittes vom Menschen zum Tier geht die Vergleichende Verhaltensforschung vom menschlichen Sozialverhal­ ten in seiner jeweils geltenden, d.h. gegenwärtigen Form aus. Was im Sinne des Vergleiches am Tier wiedergefunden und beobachtend studiert wird, steht solcherart in offensichtlicher Abhängigkeit von sich geschichtlich verändernden Bedingungen. Das Soziale unterliegt ja historisch gesehen einem permanenten Wandel. So z.B. hat Lorenz zum Zwecke des Vergleichs analoger Ver­ haltensweisen bei Mensch und Tier »monogam«, nicht »polygam« lebende Tierarten herangezogen. Der vergleichende Verhaltensfor­ scher einer Kultur, in der die Polygamie die gesellschaftlich geltende Form der Ehe ist, würde und müßte dementsprechend auf ganz andere Tierarten zurückgreifen, nämlich auf polygam lebende Tiere, weil nur das Studium ihres Verhaltens etwas Vergleichbares zu Tage fördern würde. Das Verhalten der Graugänse wäre für ihn nicht in der gleichen Weise interessant bzw. aufschlußreich. D.h. aber Vergleichende Verhaltensforschung wird überall dort, wo sie mensch­ liches Sozialverhalten als Weiterentwicklung tierischen Verhaltens in seiner bestimmten gesellschaftlichen Ausformulierung als natür­ lich bewertet und damit qualifiziert, zur konservativen Ideologie: »Die Verhaltensforschung ist nun einmal keine Wissenschaft für 331 Lorenz, Konrad: Durch Domestikation verursachte Störungen arteigenen Verhal­ tens, in: Lersch, Philipp (Hg.): Zeitschrift für angewandte Psychologie und Charakter­ kunde, 59. Bd., Leipzig 1940, S. 27.

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Das Scheitern Philosophischer Anthropologie und seine Folgen

Weltverbesserer und Revolutionäre.«332 Im Ausgang vom Menschen führt ihr Rückgriff auf die Natur zur Legitimierung des Bestehen­ den und zeigt darin eine deutlich restaurative Tendenz. Das gerade gesellschaftlich Legitimierte wird dadurch, daß es als Fortsetzung natürlicher Verhaltensweisen ausgegeben wird, gerechtfertigt. D.h. aber, die gesellschaftliche Bestimmung dessen, was als natürlich und legitim gilt, ist die Voraussetzung für das, was als Natur des Menschen angesehen wird. Es ist also zuletzt das sozial in Geltung Stehende, das als tierischer Sockel und angeborenes Verhaltensmuster des Menschen erscheint. Wie sehr in die Beschreibung tierischen Verhaltens über die jeweils geltenden gesellschaftlichen Normen hinaus aber auch per­ sönliche Wert- und Wunschvorstellungen des Autors eingehen, zei­ gen die Lebens- und Liebesgeschichten einzelner Graugänse bei Konrad Lorenz.333 Besonders schön kommt die Gebundenheit an Sitte und Anstand einer Zeit bzw. die Vorstellungen von Sitte und Anstand, die der untersuchende Verhaltensforscher mitbringt, in den Ausführungen zum graugänsischen Liebeswerben (dem gewisserma­ ßen »Anbandeln« unter Graugänsen) zum Ausdruck: »Bei diesem gegenseitigen Sichansehen ist es im Anfang ungemein bezeichnend, daß jeder der beiden Vögel schnell wegblickt, wenn er dem Blick des anderen voll begegnet. Besonders gilt dies für das jungfräuliche Weib­ chen, das überall anders hinsieht, nur nicht auf den Gegenstand seines Interesses, der nur durch ganz kurze Blicke im Auge behalten wird. Dieses Hinsehen geschieht auch insofern sozusagen ›verstohlen‹, als der Vogel dabei den Kopf nicht in gleichem Maße der Blickrichtung entsprechend dreht, wie dies bei sonstigen Augenbewegungen der Fall ist. Dadurch entstehen auch hier jene extremen Winkel zwischen Kopfachse und Augenachse, die wir von dem analogen Verhalten des Menschen kennen.«334 Man muß schon weit zurückgehen, um auf eine solch verhaltene Art der Leidenschaft zu stoßen und das »analoge Verhalten des Men­ schen«, dieses verliebte sich nicht Anblicken in der Literatur beschrie­

332 Koenig, Otto: Verhaltensforschung in Österreich. Konrad Lorenz 80 Jahre, Wien – Heidelberg 1983, S. 75. 333 Lorenz, Konrad: Hier bin ich – wo bist du? Ethologie der Graugans, München – Zürich 21991, S. 61 ff. 334 Lorenz, Domestikation, S. 30.

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Der Mensch-Tier-Vergleich als methodisches Instrument

ben zu finden335, sonst gehört die Jungfrau mit sittsam gesenktem Blick heute zu den romantischen Vorstellungen der Brautwerbung von gestern. Für junge Menschen, die nicht mehr im Sinne jener traditionellen Vorstellungen erzogen werden, haben sich Braut- und Liebeswerben gewandelt. Sind jene Jugendlichen, die heute andere Formen des »Anbandelns« üben, im Sinne der vergleichenden Ana­ logiesetzung nun biologisch als degeneriert anzusehen oder dürfen die züchtigen Jungfrauen von gestern heute als Gänse mit und ohne Anführungsstriche gelten? Vergleichende Verhaltensforschung sorgt im Sinne dieser und ähnlicher Anthropomorphismen nicht selten, wie das mein Lehrer Erich Heintel ausgedrückt hat, »für eine unfreiwillige Komik, wenn sie auf Grund einiger sehr allgemeiner Kategorien die Tiere fast wieder zu Fabelwesen macht, in denen sich die menschlichen Verhältnisse spiegeln, während ihre Tendenz doch gerade die umgekehrte ist.«336 Während man den Menschen vom Tier her verstehen will, findet man, daß auch Tiere nur Menschen sind. Dazu paßt die von Lorenz immer wieder zustimmend zitierte Aussage seiner Assistentin Helga: »Gänse sind schließlich auch nur Menschen.«337 Die Tierfabeln der Gegenwart sind Tierfilme und Tierdokumen­ tationen, deren filmische Einzigartigkeit nicht selten durch einen geradezu grotesken Anthropomorphismus in den, den Aufnahmen unterlegten Kommentaren konterkariert wird. Sie wollen unterhalten, lehren uns aber nichts. Im Unterschied zu den klassischen Tierfabeln eines Äsop oder Goethe beschränken sie ihr »fabula docet« entspre­ chend dem oben genannten Motto auf die ewige Wiederkehr der zugrunde liegenden Gleichsetzung von Mensch und Tier. So bilden sie nicht, sie verbilden allenfalls, weil sie in ihrer Sicht des Tieres und des Tier-Mensch-Verhältnisses die nötigen Differenzierungen vermissen lassen. Nun verdanken sich aber die Ergebnisse Vergleichender Verhal­ tensforschung nicht dem Mensch-Tier-, sondern dem Tier-Mensch335 Vgl. Austen, Jane: Mansfield Park, übers. von Helga Schulz, München 2004. »Wie Fanny lauschte, mit welcher Neugier und welcher Teilnahme, mit welchem Schmerz und welchem Entzücken, wie sie auf seine erregte Stimme horchte und wie sorgsam ihre Augen auf jeden anderen Gegenstand gerichtet waren, nur nicht auf ihn, kann man sich vorstellen.« S. 528. 336 Heintel, Erich: Zum Begriff des Schönen in der Verhaltensforschung, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie, Bd. IV, Wien – Stuttgart 1971, S. 197. 337 Lorenz, Das sogenannte Böse, S. 187 und Lorenz, Hier bin ich – wo bist du?, S. 44.

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Das Scheitern Philosophischer Anthropologie und seine Folgen

Vergleich. Das von ihr angewandte Analogieverfahren umfaßt tatsächlich zwei Schritte. Der erste Schritt bringt im Sinne des Mensch-Tier-Vergleiches einen Unterschied in Sicht, der unter Vor­ aussetzung seiner alltagssprachlichen Verständlichkeit nicht näher präzisiert wird. Analogie hat hier ganz allgemein die Bedeutung von Verschiedenheit. Der zweite Schritt bringt im Sinne des Tier-MenschVergleichs die Gleichheit des zunächst Unterschiedenen in Sicht. Darin hat die Analogie einen sehr präzisen Sinn: den der Funktions­ gleichheit. Die Möglichkeit einer solchen Analogie ist aber an morphologi­ sche Gegebenheiten gebunden und schon deshalb nicht ohne weiteres auf menschliches Verhalten oder kulturelle Entwicklungen übertrag­ bar. Unter dem Gesichtspunkt der Funktionsgleichheit wird nun der zunächst festgehaltene Unterschied nivelliert. In eben der Weise, in der es im Rahmen der Morphologie möglich ist, beispielsweise das Sehorgan von Tintenfisch und Kopffüßler trotz der unterschiedlichen stammesgeschichtlichen Herkunft unter funktionalem Aspekt »ein Auge zu nennen, und zwar ohne alle Anführungszeichen«, und mit »ebenso gutem Recht« meint Lorenz nun, die Anführungszeichen fortlassen zu können, wenn er von sozialen Verhaltensweisen »höhe­ rer Tiere [spricht], die solchen des Menschen [...] analog sind.«338 War im Sinne des ersten Analogieschrittes bloß davon die Rede, daß »die Graugans in vielen entscheidenden Punkten ein dem Menschen analoges Familienleben hat«339, findet Lorenz auf der Grundlage der Funktionsgleichheit unter Außer-Achtlassung der grundsätzlichen Differenz »völlig objektiv, daß zum Beispiel die Ehe­ schließung bei Gänsen fast genauso verläuft wie bei uns selbst« bzw. »hochkomplexe Normen des Verhaltens, wie etwa Sich-Verlieben, Freundschaft, Rangordnungs-Streben, Eifersucht, Gram usw. usf., bei Graugans und Mensch nicht nur ähnlich, sondern bis in lächerliche Einzelheiten schlechthin gleich sind«.340 Hier sieht man deutlich, wie zunächst der Unterschied von Mensch und Tier festgehalten ist, dann aber vergessen bzw. aufge­ geben wird. Die Analogisierung führt im zweiten Schritt zu einer völligen Gleichschaltung von tierischem und menschlichem Sozial­ verhalten, zum Verzicht auf die Anführungszeichen, die natürlich 338 339 340

Lorenz, Das sogenannte Böse, S. 207. Lorenz, Hier bin ich – wo bist du?, Buchrückseite. Lorenz, Das sogenannte Böse, S. 206.

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Der Mensch-Tier-Vergleich als methodisches Instrument

im Sinne einer analogen Rede immer dann notwendig sind, wenn derselbe Begriff auf Unterschiedliches Anwendung findet. Wenn ich von Ehe bei Graugänsen rede, und natürlich kann ich das tun, muß ich immer irgendein Wort aus dem menschlichen Bereich verwenden, wenn kein eigenes, dem tierischen Verhalten vorbehaltenes, zur Verfügung steht. Damit, daß ich dieses Wort in Anführungsstriche setze, zeige ich, daß ich mir trotz Verwendung desselben Begriffs auch des Unterschiedes bewußt bin. Oft ist es ja ohnehin so, daß für äußerlich gleiche Vorgänge bei Mensch und Tier verschiedene Begriffe Verwendung finden. Um nur ein Beispiel zu nennen, den Übergang vom Leben zum Tod nennt man beim Menschen Sterben, während man bei Tieren vom Verenden spricht. Schopenhauer hat das kritisiert und sich darüber lustig gemacht: man sollte für den selben Vorgang nicht unterschied­ liche Begriffe gebrauchen, nicht unter der »Diversität der Worte die vollkommene Identität der Sache [...] verstecken«.341 Die Sprache ist hier klüger als Schopenhauer, sie bietet uns eben deshalb zwei verschiedene Begriffe an, weil darin der Unterschied von Mensch und Tier mitgedacht und aufbewahrt ist. Bloß in der an-sich Perspektive eines äußerlichen Beobachters erscheint beides gleich, aber schon in der Innenansicht, d.h. im Rahmen dessen, was der Vorgang für uns ist, sind Sterben und Verenden etwas deutlich Unterschiedenes. Wie Schopenhauer meint jedenfalls auch Lorenz, auf eine ana­ loge Redeweise verzichten und die Anführungsstriche weglassen zu können. So etwa spricht er im Zusammenhang mit dem Verhalten der Eheschließung und des Familienzusammenhalts bei Graugänsen von tierischen Balzreaktionen und sagt dann: »Wenn wir diesen Reaktionsbeginn als Sich-Verlieben bezeichnen, so dürfen wir die Anführungszeichen dabei ruhig fortlassen, ohne uns einer falschen Vermenschlichung schuldig zu machen, denn wir haben es hier mit einem Gebiet zu tun, auf welchem sich auch der Mensch fast rein triebhaft verhält«.342 An das Zitat ist darüber hinaus sprachkritisch mit der Frage anzuschließen, was es denn heißen kann, daß der Mensch sich »fast rein triebhaft« verhält. Wenn er sich triebhaft verhält, bleibt offen, ob es im Hinblick auf diese Triebhaftigkeit ein mehr oder weniger 341 Schopenhauer, Arthur: Preisschrift über die Grundlage der Moral, hrsg. von Hans Ebeling, Hamburg 1979, S. 137. 342 Lorenz, Domestikation, S. 28 f.

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Das Scheitern Philosophischer Anthropologie und seine Folgen

gibt, wenn er sich rein triebhaft verhält, ist in wünschenswerter Weise Eindeutigkeit hergestellt, welchen Sinn aber hat es zu sagen, daß er sich »fast rein triebhaft« verhält und solcherart die Eindeutigkeit der Aussage zugleich auszusprechen und zurückzunehmen? Hier verrät die Unexaktheit der Sprache ein Lavieren, eine gewollte Vieldeutig­ keit, hinter der man sich versteckt, um den Unterschied Mensch – Tier einmal festzuhalten und dann doch gleich wieder aufzugeben. Mitunter wird auch eine Art Kunstbegriff erfunden, um den Unterschied Mensch – Tier zu überbrücken. Paradigmatisch für einen solchen Kunstgriff ist der Begriff »Ehigkeit«. Ehe gibt es beim Men­ schen, etwas Vergleichbares gibt es beim Tier, der Begriff Ehigkeit soll es ermöglichen, von dem zu reden, was es bei Mensch und Tier gleichermaßen gibt. Den Unterschied auf diese Weise einzuebnen bleibt freilich nicht folgenlos für die biologische Begriffsbestimmung von Ehe: »Vieles spricht dafür, daß die Sexualität des Menschen eine weit über die Zeugungsfunktion hinausgehende biologische Rolle spielt – nämlich die der Vertiefung der Partnerbindung. Der Mensch – als neugeborenes Kind ein hilfloser Tragling und ein ausgesprochener Spätreifer mit vieljähriger Kindheitsentwicklung bedarf einer extrem langen Brutpflege. Diese verlangt funktionierende, stabile Familien­ verbände mit lang währenden Partnerschaften, d.h. Ehigkeit.«343 »Ehigkeit« steht hier also ganz allgemein für »stabile Familienver­ bände mit lang währenden Partnerschaften«, die funktional auf die sogenannte Brutpflege bezogen werden. Damit wird die sittliche, die rechtliche, aber auch die religiöse Dimension der Ehe unter Menschen unterschlagen und eine völlig naturalistische, mithin biologistische Deutung auch der menschlichen Ehe möglich: »Nach Ansicht führen­ der Vergleichender Ethologen bindet die Menschenfrau den Mann sozusagen auf ›Belohnungsbasis‹ durch längerwährende Paarungsbe­ reitschaft […]«.344 Was sonst als Lebens- und Schicksalsgemeinschaft verstanden wird, legitimiert sich hier im Bezug auf die relativ kurze Zeit der Brutpflege – ein bißchen Ehe und der Rest Gewohnheit? Streng wissenschaftlich gesehen wäre angesichts solcher Einsichten wohl auch das Eheversprechen zu reformieren: aus dem »bis daß der Tod Euch scheidet« muß ein: »bis die Brutpflege erledigt ist« werden. Man muß nicht dem radikalen Feminismus zuneigen, um angesichts 343 344

Lötsch/Weihs, Fressen und Gefressen Werden, S. 34. Ebd.

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Sprachkritische Randnotiz

solcher Ansichten vergleichender Verhaltensforscher mitten in der Wissenschaft die Ideologie traditioneller patriarchalischer Vorstel­ lungen von Ehe, der Rolle der Frau, der Sexualität etc. zu entdecken. Die biologische Deutung der Ehe ist freilich alles andere als eine Neubestimmung, sie ist nicht einmal originell. Esther Vilar hat in ihrem Buch: »Der dressierte Mann«345 ein solches instrumentelles Verständnis von Ehe zum Besten gegeben, in dem die Frau sich dem Mann anbietet, um ihn mit dem Köder Sexualität an sich zu binden. Die Ehe ist zuletzt Prostitution, in deren Rahmen die Frau die Ware Sexualität verkauft, um sich als Lohn gewisse Dienstleistungen eines Mannes zu sichern, z.B. die, daß er für ihren Lebensunterhalt sorgt, der Unterschied zur Prostitution, wie wir sie kennen, ist alleine die zahlenmäßige Beschränkung.

Sprachkritische Randnotiz Viele der äußerlichen Analogien der Lötsch/Weihs-Broschüre for­ dern, soferne sich diese als Unterrichtsbehelf präsentiert, auch Kritik in pädagogischer Absicht heraus. Die Art, in der hier der Unterschied von Mensch und Tier analogisierend verschliffen wird, erscheint eher dazu bestimmt, Schüler zu indoktrinieren als sie im Blick auf die zur Diskussion gestellten Probleme aufzuklären. Einige Beispiele seien dazu angeführt. »Hier [im Regenwald] ist der Lebensraum der wilden Schimpansen. Für uns Menschen, die wir immer noch auf der Suche nach den Ursprüngen unseres Sozialverhal­ tens sind, ist dies das ideale Forschungsgebiet. Schimpansen haben eine Rangordnung wie wir.«346 Um an den letzten Satz sprachkritisch anzuschließen: Man wird wohl sagen können, es gibt sie bei Schim­ pansen und bei Menschen, wird dann aber hinzufügen müssen: auf eine ganz und gar unterschiedliche Weise, man wird gerade nicht sagen können, Schimpansen haben eine Rangordnung wie wir. Es kommt dabei immer auf den Vergleich, seine Möglichkeiten und Grenzen an. Auch wenn sie dort und da nachweisbar ist, unterstehen Schimpansen dieser Rangordnung bloß, »haben« sie also gar nicht in einer uns Menschen entsprechenden Weise. 345 346

Vgl. Vilar, Esther: Der dressierte Mann, Wien 1971, S. 96 ff. Lötsch/Weihs, Fressen und Gefressen Werden, S. 21.

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Während Rangordnungen unter Tieren durch die Natur vorgege­ ben sind (wie etwa das Geschlecht des Alpha-Tieres), oder sich mit Blick auf die Selbst- und Arterhaltung aus der sozialen Interaktion ergeben, sind sie unter Menschen von den jeweiligen Zwecksetzungen her bestimmt, unter denen sie stehen, und deshalb den Menschen nicht nur vorgegeben, sondern auch zur Disposition gestellt. Wäh­ rend sie sich im Tierreich »naturwüchsig« einstellen, etwa im Sinne eines Rechts des Stärkeren, sind Rangordnungen unter Menschen »gemacht« im Sinne gesellschaftlich-sozialer Regelungen, sie folgen bestimmten Kriterien und bleiben über dieselben kritisier- bzw. ver­ änderbar. Ein naturwüchsig sich ergebendes Recht des Stärkeren dagegen wird im menschlichen Handlungsraum als Unrecht qualifi­ ziert und vom Gesetz her aufgehoben. Ein weiteres Beispiel: Hinsichtlich der Raffgier heißt es im Buch von den Schimpansen, die als »unsere nächsten Verwandten« betitelt werden: »Wenn es Leckerbissen [Bananen] im Überfluß gibt [...,] reagieren sie genau wie wir.«347 Wer ist, so muß gefragt werden, mit diesem kumpelhaften »Wir« angesprochen? Muß man sich als Leser des Buches mit der Ansicht des Autors identifizieren oder darf man sich von diesem Wir ausnehmen, weil man sich durchaus zutraut, auch und gerade dann, wenn es Leckerbissen im Überfluß gibt, nicht raffgierig zu sein, sondern einen Verteilungsschlüssel für die gerechte Aufteilung derselben zu suchen und die Leckerbissen danach zu verteilen? Der Biologe selbst geht im leichtfertigen Aussprechen solch schwerwiegender Sätze offenbar vom Grundsatz aus: die Bösen und Dummen sind immer die anderen. Er spricht zwar über den Menschen, nimmt aber sich selbst jedenfalls von der raffgierigen Masse aus. Tut er das nicht und will uns nur sagen, daß er selbst ein rücksichtsloser raffgieriger Mensch ist, so wird man dem entgegnen müssen, daß sich eine solche Selbsterkenntnis unmöglich verallge­ meinern läßt. Auch hier wird also ohne weitere sprachkritische Klärung ein Begriff für zwei äußerlich vergleichbare Vorgänge verwendet, die sich aber in ihrer Vollzugswirklichkeit unterscheiden und die gerade hierin nicht vergleichbar sind. Der Begriff Raffgier ist nur metaphorisch zur Beschreibung bzw. Bezeichnung tierischen Verhaltens verwendbar (also nur mit Anführungszeichen). Raffgier als ein egoistisch-selbst­ süchtiges Verhalten gibt es nur beim Menschen. Der negative Unter­ 347

Lötsch/Weihs, Fressen und Gefressen Werden, S. 23.

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Sprachkritische Randnotiz

ton, die negative Qualifikation, die wir mit dem Begriff Raffgier verbinden (»Raffgier soll nicht sein«), hat Tieren gegenüber sowenig Bedeutung wie das Vorwurfsvolle, das mit dem Wort zum Ausdruck gebracht ist. Es hat wenig Sinn, dem Tier, welches das Rudel anführt, seine »Raffgier« vorzuhalten und eine Verhaltensänderung zu fordern – ihm also etwa klar zu machen zu versuchen, daß es die Beute unter den anderen gerecht verteilen und nicht den größten Teil für sich behalten soll. Diese Art von »Egoismus« (der natürlich auch kein Egoismus ist), hat ja biologisch gesehen durchaus seinen Sinn, d.h. seine Begründung – dieses Tier muß am besten ernährt sein, weil es am stärksten sein muß, um das Rudel verteidigen zu können usw. Ebenso steht es mit dem Verweis auf den Altruismus bei Tieren, ein Verhalten, das man etwa gewissen Vögeln zuschreibt. Das Ver­ halten von jemandem altruistisch zu nennen, ist nur dann sinnvoll, wenn derjenige, der altruistisch ist, auch egoistisch sein kann. Tiere können aber im Grunde genommen weder das eine noch das andere sein, da sie sich nicht für das eine oder andere entscheiden bzw. nicht gegen das eine oder andere entscheiden können. Sie suchen sich nicht aus, wie sie agieren, sie entscheiden sich nicht zum Egoismus oder zum Altruismus, sondern sie verhalten sich ihrer Art gemäß und wir Menschen beurteilen dieses Verhalten dann in äußerlicher Perspektive als egoistisch bzw. altruistisch. Alle diese Redeweisen sind also nichts anderes als Anthropomor­ phismen – unkritische Übertragungen menschlicher Kategorien auf Nichtmenschliches. Ein weiteres ist zu bedenken: Nachdem es, wie eingangs betont, sich bei diesen und ähnlichen Verhaltensweisen um den harten Kern und die biologischen Wurzeln des ererbten menschlichen Verhaltens handeln soll, das herauszustellen ist ja der Vergleich da, müssen wir hier darüber hinaus auch fragen, was folgt aus einem solchen Vergleich: ist nicht Raffgier dadurch gerechtfertigt, daß sie beim Menschen als ein Verhalten ausgewiesen wird, das zu den angeborenen Trieben gehört, das der Mensch von seinen tierischen Vorfahren geerbt hat? Wenn wir im Gegensatz dazu Raffgier als selbstsüchtiges, egoistisches Handeln qualifizieren wollen, als etwas, das wir negativ sehen, dann müssen wir von wo anders her Kriterien haben, um Raffgier als unmoralisch zu bewerten. Die Beschreibung: es gibt sie beim Tier ebenso wie beim Menschen, leistet in diesem Punkt nichts. Wenn der Umstand, daß Raffgier auch beim Schimpansen zu beobachten ist, nicht auch die menschliche Raffgier rechtfertigen soll, muß man vielmehr umgekehrt begründen, warum im humanen

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Das Scheitern Philosophischer Anthropologie und seine Folgen

Raum Raffgier nicht sein soll, obwohl sie sich auch bei Tieren findet. Der Maßstab, von dem aus sich das begründen läßt, ist sicherlich kein biologischer. Abschließend noch ein weiteres Beispiel für eine ganz und gar äußerliche Analogie: ausgehend von einem Experiment mit Möwen, denen man ein überdimensionales Kunstei ins Nest gelegt, besser gesagt untergejubelt hat und die daraufhin ihr eigenes vernachlässi­ gen und das große Ei auszubrüten versuchen, heißt es von einem Kind, das mit einer sehr großen Puppe aus einem Spielwarengeschäft kommt: »Kind im Wahlversuch entscheidet ähnlich.«348 Es heißt hier zwar nur »ähnlich«, aber der springende Punkt wird auch dabei unterschlagen, nämlich daß alle Möwen gleich reagieren und sich auf das große Ei setzen werden, weil sie sich eben nicht entscheiden, während das Kind auch die kleinere Puppe wählen kann, weil es sich entscheidet – auch wenn die Mehrzahl der Kinder vielleicht die große Puppe nimmt. Das ist zuletzt eine Sache der Erziehung, der Erziehung auch gegenüber den Konsumverführern. Wie ein Kind in diesem Wahlversuch entscheidet, hängt davon ab, wie es erzogen ist, während die Möwe immer dem Reiz des größeren Eies erliegt.

Biologie und Biologismus Für diesen Versuch zu klären, was Biologismus ist, ist gleich zu Beginn eine Unterscheidung von größter Wichtigkeit, nämlich die Unterscheidung von Biologie und Biologismus. Wenn wir dabei von den oben explizierten Bestimmungen zur Realwissenschaft, die wir auch Erfahrungswissenschaft bzw. Einzelwissenschaft genannt haben, ausgehen, so läßt sich sagen, daß die Biologie eine Wissen­ schaft ist, die mit einem bestimmten Methodeninventar einen abge­ grenzten Gegenstandsbereich bearbeitet. Dieser Gegenstandsbereich der Biologie ist der Organismus oder anders gesagt, das Lebendige. Der Biologismus ist im Gegensatz zur Wissenschaft Biologie eine Weltanschauung, als solche aber auch nicht Philosophie, allen­ falls Pseudophilosophie, im Grunde also weder Wissenschaft noch Philosophie, sondern Ideologie. Wir sprechen von Biologismus dort, wo aus der Biologie kommende Theorien, Begriffe, Gedanken und 348

Lötsch/Weihs, Fressen und Gefressen Werden, S. 31.

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Biologie und Biologismus

Modelle auf andere Seinsbereiche übertragen werden. Man kann den Biologismus also von der Biologie her als eine Grenzüberschreitung charakterisieren, wobei die Anhängung des -ismus einen negativen, einen, gemessen an der Wissenschaftlichkeit der Biologie, abwerten­ den Sinn hat. Im Sinne des Biologismus wird von der Gesetzmäßigkeit aus, wie sie im Organismischen, also etwa an Pflanzen und Tieren erkennbar wird, die gesamte Wirklichkeit zu erschließen versucht. Man unterstellt die Geschichte, die Kultur und anderes biologischen Gesichtspunkten, es werden Gesellschaft, Staat oder Wirtschaft nach der Art eines Organismus bzw. in Analogie zu der im Bereich des organismischen Lebens geltenden Gesetzmäßigkeit gedacht, auch die Sinngebung und Bewertung des Geistigen wird vom Lebendigen aus versucht. Notwendigerweise werden dort, wo man mit den begriffli­ chen und theoretischen Mitteln, welche die Biologie zur Betrachtung des Organismischen bereitstellt, an die Erfassung ganz unterschiedli­ cher Bereiche geht, diese in ihrer Eigenständigkeit verkannt. Der Biologismus ist heute vor allem in seinen Erscheinungsfor­ men aus dem 19. Jahrhundert bekannt,349 er ist aber keineswegs eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Biologistische Denkansätze finden sich von der Antike bis in die Gegenwart. Historisch gesehen müssen bereits eine Reihe antiker Denker (z.B. die Sophisten Hippias und Thrasymachos) als Biologisten bezeichnet werden, insoferne eben das den Biologismus kennzeichnende Denkschema bei ihnen vorhanden ist: die an der Natur, an Pflanzen und Tieren beobachteten Gesetz­ mäßigkeiten werden zur Interpretation und Deutung menschlicher Verhältnisse herangezogen. Daß die damaligen Naturbeobachtungen, gemessen an den heutigen wissenschaftlich-biologischen Erkenntnis­ sen, mitunter als primitiv oder falsch erscheinen, spielt hinsichtlich des klassischen Musters der Übertragung keine Rolle. Auch im Ent­ wurf eines Idealstaates, den Platon in seiner Politeia vorgelegt hat, zeigt sich biologistisches Denken350: Die besten Männer und Frauen unter den Wächtern sollen in der Möglichkeit, sich fortzupflanzen, gefördert und ihre Kinder aufgezogen werden, das Gegenteil findet statt bei den Schlechtesten. 349 Vgl. Mann, Gunter: Rassenhygiene – Sozialdarwinismus, in: Mann, Gunter (Hg.): Biologismus im 19. Jahrhundert. Vorträge eines Symposiums vom 30. – 31. Okto­ ber 1970 in Frankfurt am Main, Stuttgart 1973, S. 73–93. 350 Platon: Politeia, 459 d-e, in: Eigler, Gunther (Hg.): Werke in acht Bänden, gr.-dt., übers. von Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 1973.

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Mit Bezug auf Platons »wunderlichen Plan zur Vermehrung und Veredelung seiner Kriegerkaste«351 lesen wir auch bei Schopenhauer: »Könnte man alle Schurken kastriren und alle dummen Gänse ins Kloster stecken, den Leuten von edelem Charakter ein ganzes Harem beigeben, und allen Mädchen von Geist und Verstand Männer, und zwar ganze Männer, verschaffen; so würde bald eine Generation ent­ stehn, die ein mehr als Perikleisches Zeitalter darstellte«.352 Ein recht einfaches Rezept, um das Goldene Zeitalter des Perikles nicht nur wieder zu erreichen, sondern sogar noch zu übertreffen. So plakativ diese Forderungen Schopenhauers auch erscheinen mögen, hier sind bereits die typischen Denkmuster des Biologismus enthalten, die in der Folge dann tatsächlich gefordert und auch gesellschaftspolitisch umgesetzt werden. Inwiefern sind diese Forderungen biologistisch? Sie sind biolo­ gistisch in der Ansicht, »daß eine wirkliche und gründliche Verede­ lung des Menschengeschlechts, nicht sowohl von außen als von innen, also nicht sowohl durch Lehre und Bildung, als vielmehr auf dem Wege der Generation zu erlangen seyn möchte.«353 Die Gesundung der Menschheit, ihr Heil, wird auf biologischer Grundlage, d.h. auf der Ebene der Erbsubstanz, gesucht und in der Folge davon ihre Verwirklichung durch eine Fortpflanzung nach bestimmten Kriterien angestrebt. Diese muß, um den Zweck der Höherentwicklung zu erreichen, nach den zeitgemäßen biologischen Erkenntnissen geregelt werden: Schurken und dumme Gänse – produzieren nur wieder Schurken und dumme Gänse und müssen deshalb von der Fortpflan­ zung ausgeschlossen werden, soll eine Verbesserung des Menschen und mit ihr eine Höherentwicklung der Menschheit stattfinden. Auch darin zeigt sich der Biologismus, der den Charakter eines Menschen durch seine Gene determiniert sieht, daß er alles, was von der Erzie­ hung her an Einflüssen wirksam ist, außer acht läßt. Das Beispiel Schopenhauers zeigt, daß wir biologistisches Den­ ken nicht nur bei Biologen, sondern auch bei Philosophen finden, Biologismus läßt sich im Sinne der Disziplinentrennung nicht bloß den Vertretern einer Disziplin zuweisen. Ebenso, wie sich unter den Biologisten Biologen und Nicht-Biologen befinden, ebenso befinden sich auch unter den Gegnern bzw. Kritikern des Biologismus Biolo­ 351 352 353

Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung, Leipzig 31859, S. 617 f. Ebd. Ebd.

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Biologie und Biologismus

gen und Nicht-Biologen. Insoferne es aber biologische Denkmodelle und Theorien sind, die hier grenzüberschreitend gebraucht bzw. mißbraucht werden, steht die Biologie mit dem Biologismus in beson­ derer Verbindung und hat darin mehr als einen guten Grund, sich mit diesem Phänomen kritisch auseinanderzusetzen bzw. die Notwendig­ keit einer Abgrenzung zum Biologismus deutlicher als bisher zum Anliegen der eigenen Wissenschaft zu machen. Auf die Differenz von Biologie und Biologismus verstärkt hinzuweisen ist schon deshalb nötig, weil es biologistische Tendenzen in und außerhalb der Biologie nicht nur in der Vergangenheit gegeben hat, sondern auch heute gibt und wie zu vermuten ist, auch in Zukunft immer wieder geben wird. Ohne damit ihre Gleichwertigkeit auch nur andeuten zu wollen, soll im Zusammenhang mit dem weitgehenden Ausbleiben einer solchen Auseinandersetzung nicht unterschlagen werden, daß der Begriff Biologismus kontrovers diskutiert wird, d.h. neben der gege­ benen Bestimmung des Biologismus eine Reihe weiterer zu finden sind – die Ansätze reichen von der These, daß jede Berufung auf eine Natur des Menschen, in der nicht gesehen ist, daß die Natur des Menschen die Freiheit ist, als eine biologistische Verkürzung des Begriffs des Menschen zurückzuweisen ist, bis zur Ansicht, daß es so etwas wie Biologismus nicht gibt, ja überhaupt nicht geben kann, weil ohnehin alles am Menschen Natur, eine illegitime Übertragung natürlicher Gesetzmäßigkeiten auf den Menschen also gar nicht möglich ist. Diese Blütezeit des Biologismus im 19. Jahrhundert hängt aufs engste zusammen mit dem riesigen Aufschwung, den die Biologie zu eben jener Zeit durch die Abstammungslehre von Charles Darwin erfahren hat. Das Phänomen Biologismus ist daher gerade auch an Darwins Werk und seiner Wirkung zu studieren. Im Blick auf die Rezeption der Deszendenztheorie werden die Veränderungen deutlich, die eine biologische Theorie im Übergang zum Biologismus erfährt. Hans Querner hat in seiner wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchung dieser Entwicklung die Momente zusammengestellt, die für die Deszendenztheorie auf dem Weg zum Darwinismus bedeutsam geworden sind: »Kein naturwissenschaftliches Werk der Neuzeit hat die Menschheit im gleichen Maße beschäftigt wie die The­ sen von Charles Darwin über den kontinuierlichen Arten-Wandel und seine Faktoren. Unter dem Einfluß seiner Lehre einer Deszendenz der Organismen und der Selektion als Hauptfaktor der Entstehung neuer Arten drang biologisches Denken – als sogenannter Biologismus –

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Das Scheitern Philosophischer Anthropologie und seine Folgen

in die verschiedensten Bereiche ein, in die Philosophie, Soziologie, Medizin, Politik, Sprachwissenschaft, Kunst- und Kulturgeschichte. Der Begriff Darwinismus wurde schnell zu einem Schlagwort, bald mit erläuternden Zusätzen wie Sozial-Darwinismus und Neo-Dar­ winismus. Die große Bedeutung, die Darwins Thesen durch ihre weltanschauliche Relevanz erhielten, hat dazu geführt, daß ihr origi­ naler Anteil an den vielfach polemischen Auseinandersetzungen bald nicht mehr deutlich zu erkennen war und vor allem die schlichten Erkenntnisse, Schlüsse und Hypothesen Darwins selbst, sowie der Weg zu ihnen, in den Hintergrund traten und dem großen Kreis der Interessierten nicht mehr im einzelnen bekannt waren. Auch nach hundert Jahren zeigt sich in jedem Gespräch über die Abstammungs­ lehre diese Unkenntnis.«354 Darwins Deszendenztheorie wurde nicht als das genommen, was sie war und ausschließlich sein wollte – eine wissenschaftliche Theorie zur Erklärung empirischer biologischer Befunde in Paläonto­ logie, Embryologie und Tiergeographie. Das dem Buch über »Die Entstehung der Arten« (1859) entgegengebrachte Interesse hat von allem Anfang an den Implikationen und Konsequenzen gegolten, die in ihm für die Stellung des Menschen in der Natur bzw. für das Selbst­ verständnis des Menschen vermutet wurden. Daß Darwin in diesem Werk ausdrücklich erklärt, sich »ebensowenig mit dem Ursprung der geistigen Fähigkeiten« wie »mit dem Ursprung des Lebens selbst«355 beschäftigen zu wollen, und sich darüber hinaus recht zurückhaltend, ja geradezu kryptisch gibt, was diese Konsequenzen anlangt, und nur in einem Satz überhaupt vom Menschen die Rede ist – »Licht wird auch fallen auf den Menschen und seine Geschichte«356 – hat diesem Interesse keinen Abbruch getan und auch sonst keinerlei Einfluß auf die Diskussion gehabt, weil bereits damals die ideologische Inan­ spruchnahme wissenschaftlicher Einsichten ohne genauere Kenntnis derselben ausgekommen war, nicht jeder, der darüber zu diskutieren sich berufen fühlte, mußte das Werk auch gründlich studiert haben. Und selbst dort, wo Darwin die Konsequenzen näher entwickelt hat, die sich aus der Deszendenztheorie für den Homo sapiens erge­ Querner, Hans: Darwin, sein Werk und der Darwinismus, in: Mann, Gunter (Hg.): Biologismus im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1973, S. 10. 355 Darwin, Charles: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, übers. von Carl W. Neumann, Stuttgart 1984, S. 337. 356 Darwin, Die Entstehung der Arten, S. 676. 354

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Biologie und Biologismus

ben, in seinem Werk über »Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl« (1871) ist ihm nicht die Kritiklosigkeit der Darwinisten vorzuwerfen. Auch hierin ist nämlich der Bereich, in dem die Deszendenztheorie ihre Bedeutung hat, sehr genau angegeben: »in welcher Weise die geistigen Fähigkeiten zuerst in den niedrigsten Organismen sich entwickelt haben, ist eine ebenso hoffnungslose Untersuchung als die, wie das Leben zuerst entstand.«357 Die uni­ versale Ausweitung der Deszendenztheorie auf Anorganisches und Geistiges ist nicht Darwin, sondern dem Darwinismus zuzurechnen, der stets vorsichtig argumentierende Darwin ist in seinen Schluß­ folgerungen nicht weiter gegangen, als seine Theorien auch durch empirische Befunde gedeckt waren. Von den unwissenschaftlichen Auswüchsen, die wir für den Darwinismus als charakteristisch anse­ hen: die weltanschauliche Relevanz, – das schlagwortartige Umgehen mit Begriffen, – die polemische Auseinandersetzung – können wir bei Darwin selbst nichts finden. Die Unvoreingenommenheit, Beschei­ denheit und Zurückhaltung des Erfinders der Deszendenztheorie kontrastiert darin in denkbar größter Weise mit der Arroganz und Kritiklosigkeit seiner weltanschaulichen Nachtreter. Bei Darwin ist das Ethos echter Wissenschaftlichkeit zu studieren. Während im Rahmen wissenschaftlicher Biologie die Theorie Darwins in kurzer Zeit allgemeine Anerkennung gefunden hat, ist sie im Rahmen der weltanschaulich polemischen Auseinandersetzungen, von Anfang an darwinistisch rezipiert, heftig abgelehnt worden. Die Angriffe, denen sie vor allem von theologischer Seite ausgesetzt war, ihren Materialismus und Atheismus betreffend, galten Momenten, die erst Kennzeichen ihrer darwinistischen Entgrenzung waren. Auch in Deutschland hat Ernst Haeckel weniger Darwins Theorie bekannt gemacht als dem Darwinismus zum Durchbruch verholfen, indem er ihr nicht länger nur die Erklärung des Artenwandels, sondern die Lösung aller Welträtsel358 zugetraut hat. Damit ist die Abstammungslehre zum monistischen Welterklä­ rungsprinzip erweitert, durch welches Natur und Kultur gleicherma­ ßen interpretierbar werden, auch der Mensch und alle seine Kul­ turleistungen sind als Naturphänomene bestimmt und damit der 357 Darwin, Charles: Die Abstammung des Menschen, übers. von J. Viktor Carus, Dreieich 21992, S. 73. 358 Vgl. Haeckel, Ernst: Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie, Leipzig 21908.

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die Natur kennzeichnenden Gesetzlichkeit unterworfen. Eben diese Grenzüberschreitung liegt dem gegenwärtigen Evolutionismus zu Grunde und in der Weise, in der sich Darwins genuine biologische Theorie vom Darwinismus abhebt, sind auch Evolutionstheorie und Evolutionismus zu unterscheiden: »Die Evolutionstheorie ist eine wohlbestätigte, teilweise genialische Theorie über Entwicklung und Veränderung von Lebewesen und ihren Arten über lange Zeiträume hinweg, und zwar primär hinsichtlich der materiellen Grundlagen (geno- wie phänotypisch, aber auch der sich ändernden Umwelten). Der Evolutionismus ist die Evolutionstheorie als Weltanschauung, und für diese gilt als kategorische Basis hinsichtlich des Menschen, der Gattung homo sapiens sapiens, daß er rein natürlich, physikalischchemisch wie evolutionsbiologisch erklärbar ist. Es ist kein Rückgriff auf ›Übernatürliches‹ nötig«.359 Der Biologismus hat nun eine theoretische und eine praktische Seite, er ist nicht bloß eine Theorie, an der man gewisse Denkfehler kritisieren und die man in einigen Punkten korrigieren muß. Der Biologismus verdient unsere besondere Aufmerksamkeit vor allem deshalb, weil aus der Theorie Praxis wird, zur Deutung der mensch­ lichen Gesellschaft von biologischen Gesetzmäßigkeiten her kommt der Versuch, die menschliche Gesellschaft eben jenen biologischen Gesetzmäßigkeiten entsprechend zu verändern. Der Biologismus tritt in einer Reihe unterschiedlicher, immer aber untereinander verbundener Spielarten auf – wir wollen hier kurz auf Rassentheorie, Sozialdarwinismus und Eugenik zu sprechen kommen – die gerade in ihrer Aufeinanderbezogenheit ihre dramatische Wirkung entfalten und uns darin die praktischen Konsequenzen biologistischer Theorien drastisch vor Augen zu führen vermögen. Ohne auf die weitverzweigte Geschichte der bis auf Aufklärung und Romantik zurückreichenden Rassentheorie im einzelnen ein­ gehen zu können sei festgehalten, daß die ersten Versuche einer »positivistisch-systematisierenden Arbeit«, die im 19. Jahrhundert einsetzen, als »exakte Materialsammlung« zu charakterisieren sind: man versuchte »physische Merkmale zu bestimmen und zu verglei­ 359 Löw, Reinhard: Anthropologische Grundlagen einer christlichen Bioethik, in: Löw, Reinhard (Hg.): Bioethik. Philosophisch-theologische Beiträge zu einem brisanten Thema, Köln 1990, S. 11 f. Vgl. auch Spaemann, Robert / Löw, Reinhard: Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, München – Zürich 1981, S. 239–299.

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chen und ihren typisierenden Wert festzuhalten«.360 Die Erforschung menschlicher Rassen hat hier primär den Sinn einer Klassifikation, einer »Objektivierung« nach »Maß und Zahl«361 und erweist sich dieser Zielsetzung entsprechend noch als recht harmlos. Das ändert sich mit dem Auftreten des französischen Geschichts­ philosophen und Diplomaten Joseph Arthur Graf Gobineau.362 Er gibt der Rassentheorie eine gefährliche Wendung dadurch, daß er Rasse als »eine geschichtsmächtige Kraft«363 begreift. Zur Interpretation historischer Prozesse herangezogen, bestimmt der Begriff Rasse die Rolle, die ein Volk in der Geschichte spielt. Schon der Titel seines dreibändigen, zwischen 1853 und 1855 erschienenen Hauptwerkes: »Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen«364 zeigt deutlich, was sich geändert hat: zur bloßen Klassifikation tritt die qualifizie­ rende Wertung. Die drei Rassen, die Gobineau kennt: die weiße, die schwarze und die gelbe Rasse, sind nicht nur voneinander unter­ schieden, sie sind untereinander verschiedenwertig. Die sogenannten »Arier« – die weiße Rasse – hebt sich als die »allen überlegene Rasse« als höherwertig von der als minderwertig geltenden schwarzen und gelben Rasse ab. Der Mensch wird nicht seiner Persönlichkeit nach, sondern sei­ ner, durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse definierten, biologischen Natur nach beurteilt und darin notwendig privilegiert oder diskriminiert. Menschen, die einer minderwertigen Rasse ange­ hören, sind dieser Theorie gemäß von vornherein als minderwertig qualifiziert. Selbstredend, daß diese Art von Rassentheorie immer im Rahmen der hochwertigen Rasse auftritt, die Autoren solcher Wertungen gehören stets der Rasse an, der sie selbst den Platz der Hochrasse anweisen. Wie ließe sich die eigene Theorie besser bewahr­ heiten und wer möchte zu den Verlierern gehören, wenn Rassen im Kampf um die Vormachtstellung unterliegen, insbesondere empfiehlt es sich, zu den höherwertigen Menschen zu gehören, wenn es um die Konsequenzen der Unterscheidung höher- und minderwertiger Menschen, wenn es ums »Ausmerzen« geht. Vgl. Mann, Rassenhygiene – Sozialdarwinismus, S. 74. Vgl. ebd. 362 Joseph Arthur Graf Gobineau (1816–1882). 363 Vgl. Mann, Rassenhygiene – Sozialdarwinismus, S. 75. 364 Gobineau, Arthur Graf de: Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen. Deutsche Ausgabe von Ludwig Schemann, Bd. 1–4, Stuttgart 1898–1901.

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Wenig verwunderlich auch, daß Gobineaus Rassentheorie, in der sich »[e]in buntes Faktenmaterial, Intuition und Glaube«365 mischen, mit einer Verzögerung von fünf Jahrzehnten gerade in Deutschland zur Wirkung kommt: Teutonentum, Germanenkult, Antisemitismus und Kulturpessimismus haben gleichermaßen an seine Theorien anzuschließen vermocht. Die Blütezeit des Biologismus fällt, um es zu wiederholen, ins 19. Jahrhundert, die weltgeschichtliche Katastrophe, die sich für uns mit den Begriffen Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg und Holocaust verbindet, wo dann das, was im 19. Jahrhundert vorgedacht und gedanklich vorbereitet wurde, politisch Wirklichkeit wird, folgt im 20. Jahrhundert. Die Rassentheorie erhält bei Gobineau in den Grundzü­ gen jene Gestalt, die sich im Verlauf der Geschichte durchhält und deren typische Merkmale wir dann ohne große Veränderung in der Rassentheorie des Nationalsozialismus wiederfinden. Augenfällig schließt man auch hier an die charakteristischen Leitbegriffe und Leitgedanken von Gobineaus Rassentheorie an: die Ungleichheit und Geschichtsmächtigkeit der Rassen, die Erhabenheit der arisch-germa­ nischen Hochrasse, die Nivellierung und den unvermeidlichen Unter­ gang derselben durch Blutmischung. 366 Es wurden von hierher nicht nur die politischen Expansionsbestrebungen ideologisch fundiert, die höherwertige Rasse hat diesem Konzept zur Folge das Recht, ihre Bedürfnisse auf Kosten der Minderwertigen zu befriedigen, z.B. sich, was den Lebensraum betrifft, zu ihren Lasten auszudehnen – Konse­ quenz dieser Grundidee war aber auch die Vernichtung von bestimm­ ten rassischen Gruppierungen, die im Schema von Höher- und Min­ derwertigkeit so weit unten zu stehen kamen, daß sie nur noch als parasitär einzustufen waren. Die von Gobineau übernommene Idee der Verunreinigung durch Blutmischung hat sich in den Nürnberger Rassegesetzen, die 1935 in Kraft getreten sind, niedergeschlagen. Die hier zugrunde liegende Ideologie ist ebenso in Hitlers »Mein Kampf« wie in Rosenbergs »Mythus des 20. Jahrhunderts«367 nachzulesen. Ihre radikale politisch-ideologische Relevanz hat die Rassen­ theorie allerdings erst in Verbindung mit einer weiteren biologisti­ schen Lehre gewonnen, mit der Lehre des Sozialdarwinismus. Zu dieser Verknüpfung kommt es in den letzten Jahrzehnten des 19. und Mann, Rassenhygiene – Sozialdarwinismus, S. 76. Vgl. ebd. 367 Rosenberg, Alfred: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelischgeistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, München 31941. 365

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im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Unter Sozialdarwinismus können – entsprechend der Wortzusammenstellung – ganz allge­ mein Theorien verstanden werden, in denen darwinistische Ideen Anwendung auf Soziales finden. Auch hier liegt die Annahme zu Grunde, daß die Gesellschaft ein Organismus ist, der nach Verfassung und Funktion einem biologischen Organismus ähnlich und daher, was Aufstieg und Abstieg betrifft, prinzipiell den gleichen Gesetzen unterworfen ist. Im Sozialdarwinismus tritt der Darwinismus als gesellschaftlich-politische Ideologie auf. Den Nährboden für das Aufblühen sozialdarwinistischer Ideen bilden dabei, sich wechselseitig beflügelnd, einerseits der Kulturpes­ simismus und andererseits der Traum von einer Verbesserung der Menschheit. Die Grundideen von der Dekadenz und der Degeneriert­ heit der Menschen im jeweils gegenwärtigen Zustand sind fixer Bestandteil der Kulturgeschichte der Menschheit von Homer bis Konrad Lorenz. Der Umstand, daß insbesondere das Abendland von einem Niedergangsbewußtsein begleitet wird, wie es in der Wendung »Europessimismus«368 seinen begrifflichen Ausdruck gefunden hat, ist vielfach bemerkt und ausgesprochen worden. Kant schreibt dazu in seiner Religionsschrift: »Daß die Welt im Argen liege, ist eine Klage, die so alt ist, als die Geschichte, selbst als die noch ältere Dichtkunst, ja gleich alt mit der ältesten unter allen Dichtungen, der Priesterreligion. Alle lassen gleichwohl die Welt vom Guten anfangen: vom goldenen Zeitalter, vom Leben im Paradiese, oder von einem noch glücklichern in Gemeinschaft mit himmlischen Wesen. Aber dieses Glück lassen sie bald wie einen Traum verschwinden und nun den Verfall ins Böse (das Moralische, mit welchem das Physische immer zu gleichen Paaren ging) zum Ärgern mit accelerirtem Falle eilen: so daß wir jetzt (dieses Jetzt aber ist so alt, als die Geschichte) in der letzten Zeit leben, der jüngste Tag und der Welt Untergang vor der Thür ist […]«.369 Wir finden Kants Worte bestätigt in den zeitkritischen Klagen der altgriechischen Dichtung, daß keine Götter und keine Halbgötter, keine Titanen und Heroen mehr auf der Erde wandeln, ja selbst der Mensch in den gegenwärtig die Erde bevölkernden Exemplaren 368 Demandt, Alexander: Neuere Literatur zum Dekadenzproblem, in: Historische Zeitschrift, Bd. 241, München 1985, S. 105. 369 Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Kant´s gesammelte Schrif­ ten, Berlin 1904 ff., Bd. 6, S. 19.

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seine ursprüngliche Kraft und Herrlichkeit, seine Vollkommenheit eingebüßt hat, fünfstufig ist der Abstieg, der die Menschheit in Hesiods Mythos370 aus dem goldenen in das eiserne Zeitalter gestürzt hat. Wir finden sie ebenso bestätigt im Blick, in dem Schopenhauer vor der Folie der glorreichen Vergangenheit der Antike (»Perikleisches Zeitalter«) seine Gegenwart als eine Zeit des Nieder- und Untergan­ ges erscheint, wie in der »Jeremiade«371, in der Konrad Lorenz der gegenwärtigen Menschheit ihre Degenerationserscheinungen und die dramatischen Folgen des genetischen Verfalls vorhält. »Zweifellos droht uns durch den Verfall genetisch verankerten sozialen Verhaltens die Apokalypse, und zwar in einer besonders gräßlichen Form.«372 Was Homer und Hesiod von Schopenhauer und Lorenz unter­ scheidet ist die Möglichkeit, das Geschehene nicht weiter als Schicksal hinnehmen zu müssen. Mit der Einsicht in die Gesetzlichkeit, nach der sich dieser Abstieg vollzieht, läßt sich gegensteuern, sind Abstieg und Niedergang nicht nur aufzuhalten, sondern die Entwicklung läßt sich in Aufstieg und Höherentwicklung umkehren. Der solcherart Wissende kann nicht bloß Kommentator des Geschehens bleiben: ihm wird »das Predigen zur Pflicht«.373 Seine Predigten fordern eine Verantwortung ein, die darin liegt, in der Anwendung der »wissen­ schaftlichen« Ergebnisse praktisch zu werden und auf diese Weise das Schicksal der Menschheit in die eigenen Hände zu nehmen, zum Kulturpessimismus kommt der Traum von einer Verbesserung, Veredelung, Verschönerung der Menschheit. Beide Ideen haben einen ungeheuren Auftrieb durch die Darwin­ sche Selektionstheorie erhalten. In der Übertragung auf gesellschaftli­ che Verhältnisse waren dabei zwei Punkte von besonderem Interesse: Daß der Prozeß des Lebendigen ein Kampf ums Dasein ist und daß der steuernde Faktor dieses Prozesses, die Selektion, zu einem Überleben der Tüchtigsten führt. In Analogie zur Natur ist auch die Gesundheit und Vollkommen­ heit einer Hochrasse nur durch eine Auslese, also durch Selektion zu erhalten. Problematisch dabei ist, daß die Selektion Schwacher und damit die Auslese Starker, durch Zivilisation weitgehend verhindert 370 Hesiod: Theogonie. Werke und Tage, gr.-dt., übers. u. hrsg. von Albert von Schirn­ ding, Darmstadt 1991. S. 91 ff. 371 Lorenz, Konrad: Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit, München 131982, S. 7. 372 Lorenz, Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit, S. 66. 373 Lorenz, Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit, S. 7.

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wird. So muß das, was in der Natur automatisch funktioniert, im Rahmen der Gesellschaft vom Menschen selbst übernommen werden. Die Rassentheorie und der Sozialdarwinismus drängen in diesem Sinn zur Praxis, zur sogenannten Rassenhygiene. Die Rassenhygiene wird zum gesellschaftspolitischen Werkzeug, welche den Sieg der Tüchtigsten, d.h. der Höherwertigen über die Minderwertigen sichern soll. Auf der Grundlage sozialdarwinistischer Theorie hat man darin das Instrumentarium in der Hand, mit dem sich die Degeneration der Menschheit mit biologischen Mitteln überwinden und ihre Höherent­ wicklung auf wissenschaftlich gesicherte Weise steuern läßt. Seine unmittelbarsten Auswirkungen hat ein solcher Biologis­ mus auf die herkömmliche Sexualethik. Die biologistische Bezug­ nahme auf die Natur ist dabei nicht weniger willkürlich, als es die sophistische war. Daß auf der Grundlage des einen Selektions­ gedankens durchaus gegensätzliche Schlußfolgerungen hinsichtlich der moralischen Qualifizierung menschlichen Verhaltens möglich sind, kann am Beispiel der Ehe gezeigt werden. In der Anwendung desselben biologischen Prinzips sexueller Zuchtwahl auf das mensch­ liche Sexualverhalten gelangt man zu durchaus unterschiedlichen Konsequenzen und Forderungen: einmal wird die Polygamie gegen die Monogamie, dann wieder die Monogamie gegen die Polygamie proklamiert und ausgespielt. Zunächst gerät die Monogamie ins Schußfeld der Kritik: »Was würde man mir sagen«, schreibt Willibald Hentschel 1905, »wenn ich in meinem Kuhstall aus moralischen Gründen jeder Kuh einen Ochsen antrauen wollte. Ich würde meine Herde in kurzer Zeit in Grund und Boden wirtschaften. Jedes organische Gebilde kann sich nur durch diejenigen Kräfte erhalten, durch die es geschaffen wurde ... So können auch wir die Hilfen nicht entbehren, durch die heroische Menschentypen in grauer Vorzeit gezüchtet wurden; das wäre unmöglich gewesen, hätten die Männer jener Tage das Weib mit romantischer Brille angesehen. Es gibt kein Mittel, einen heroi­ schen Typus zu erhalten, wenn man dem Helden keine Zeugungsvor­ rechte gewährt.«374 Das Zitat ist interessant, nicht nur der unmittelbaren und naiven Art wegen, in der sich hier der Sozialdarwinismus zur Geltung bringt, 374 Willibald Hentschel: Zuschrift betreffend den Artikel von A. Ploetz »Willibald Hentschels Vorschlag zur Hebung unserer Rasse«, in: Archiv für Rassen- und Gesell­ schafts-Biologie 2 (1905), S. 269–272 (S. 271), zit. nach Mann, Rassenhygiene – Sozi­ aldarwinismus, S. 79.

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das Vokabular zeigt deutlich auch die Herkunft solcher Gedanken: die Viehzucht. Was dem Tierzüchter selbstverständlich ist, wird mit eben derselben Selbstverständlichkeit, so mutig wie unkritisch, auf menschliches Verhalten übertragen. Hentschels Text ist darüber hinaus geradezu ein Schul- und Lehrbeispiel des Biologismus, als es sehr deutlich erkennen läßt, daß die in seinem Sinne über die genetische Aufrüstung der Menschheit spekulierenden und von ihr träumenden Herren biologisches Wissen nicht selten gänzlich ver­ missen lassen: In dem oben angeführten Zitat ist von einem Ochsen die Rede, dem eine Kuh angetraut werden soll, ein Ochse aber ist ein kastrierter Stier, der zumindest im Hinblick auf mögliche Nachkom­ menschaft herzlich wenig mit einer Kuh anfängt. Die Notwendigkeit einer Unterscheidung von Biologie und Biologismus könnte nicht ein­ drucksvoller demonstriert werden. Denen, welche die Patentrezepte zur Rettung der Menschheit mit biologischen Mitteln in Händen zu halten glauben, fehlt mitunter selbst das bescheidenste biologische Wissen, man beansprucht eine Kompetenz, aus der heraus man zur Gesundung und Höherentwicklung der Menschheit beizutragen vermag, und weiß von Biologie nicht einmal soviel wie Hinz und Kunz. Biologismus ist eben nicht Biologie, und Biologen sind nicht unbedingt Biologisten. Konrad Lorenz ist ein trauriges Beispiel für die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Biologen, die Biologisten sind, sind gerade deshalb besonders gefährlich, weil sie dort, wo sie sich auf ihre, aus ihrem biologischen Wissen folgende Verantwortung berufen, scheinbar die Autorität der Wissenschaft hinter sich haben. Im Gegensatz zu Hentschel ist Konrad Lorenz vom Selektionsge­ danken her für die Monogamie eingetreten. Seine Polemik gilt der Vernunftehe, von der er meint, daß sie für die geschlechtliche Auslese verderblich ist, alleine das Sich-Verlieben kann der Monogamie Sinn und rassenhygienische Bedeutung geben, darin, daß es die Gatten­ wahl aufgrund »arteigener Merkmale der Hochwertigkeit«375 sichert. Verliebtheit macht nicht blind, wie der Volksmund meint, sondern öffnet uns die Augen, zumindest im biologischen Sinn. Dann bedarf es nur noch entsprechender wirtschaftlicher Bedingungen, damit die 1940 durchaus zeitgemäß als »Kampfgemeinschaft«376 bestimmte Ehe hält: »Ehepaare, die im harten Existenzkampfe stehen, [halten] durchschnittlich viel besser zusammen[], als wirtschaftlich sorgen­ 375 376

Lorenz, Domestikation, S. 64. Lorenz, Domestikation, S. 41.

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lose. Die dauernde Beanspruchung der Reaktion des kämpferischen Familienzusammenhaltes scheint […] zum Monogambleiben des Menschen beizutragen.«377 Wem’s schlecht geht, dem geht’s gut! – eine biologische Einsicht, die kreative Umsetzungen in Sozial- und Wirtschaftspolitik ermöglicht. Was die Träume von der Verbesserung der Rasse im Laufe der Entwicklung an Naivität verlieren, gewinnen sie an Effizienz. Die Leitsätze, die Alfred Ploetz 1910 über die Ziele und Aufgaben der praktischen Rassenhygiene formuliert,378 weisen die zur Erhaltung der Rasse in ihrer biologischen Gesundheit und Hoheit geforderten Maßnahmen einer neuen Gesellschaftspolitik zu, die durch entspre­ chende staatliche Eingriffe durchgesetzt werden soll: »Ehegesetze, Sterilisierungsmaßnahmen werden verlangt und der Fortpflanzungs­ hygiene – der Eugenik oder Gutzeugekunst, wie Ploetz übersetzt – ein besonderes Gewicht gegeben.«379 Auch was die Eugenik betrifft, ist der Biologismus aktueller denn je. Diesbezüglich besteht die Gefahr, daß im Anlegen biologi­ scher Kriterien, etwa im Blick auf die sogenannte Erbgesundheit, behindertes Leben als lebensunwert eingestuft und durch Abtreibung frühzeitig eliminiert wird. Wenn man überdies an die Eingriffsund Veränderungsmöglichkeiten denkt, welche uns die Gentechno­ logie zur Verfügung stellt, so ist aus einer Verbindung dieser bio­ logischen Möglichkeiten mit der Ideologie einer Verbesserung der Menschheit jedenfalls nichts Gutes zu erwarten. Als Ausdruck einer »neuen Variante des Unbefriedigtseins« hat Adolf Portmann Gehlens Begriff »Mängelwesen« kritisch auf diese Möglichkeiten bezogen: wir erscheinen uns selbst als Mängelwesen, »weil wir uns noch nicht durch chirurgische Technik, durch Eingriffe ins Erbgut für die technische Welt der Zukunft sinngemäß vorbereiten.«380

Lorenz, Domestikation, S. 65. Vgl. Mann, Rassenhygiene – Sozialdarwinismus, S. 85. 379 Ebd. 380 Portmann, Adolf: Der Mensch – ein Mängelwesen?, in: Entläßt die Natur den Menschen? Gesammelte Aufsätze zur Biologie und Anthropologie, München 21971, S. 208. 377

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Die biologische Wesensbestimmung des Menschen – Domestikation (Konrad Lorenz) Im Folgenden geht es um eine kritische Auseinandersetzung mit dem Versuch einer biologischen Wesensbestimmung des Menschen, wie er in einer der heute wenig gelesenen Arbeiten von Konrad Lorenz aus den vierziger Jahren vorliegt.381 Zweierlei sei vorab angemerkt: Das Erscheinungsjahr (1940) liegt mitten in der Hochblüte des Nationalsozialismus, eine Zeit, in der viele andere Wissenschaftler nicht nur mit einem Rede- und Publi­ kationsverbot belegt, sondern zum Teil schon ins Ausland geflohen waren, weil sie um ihr Leben fürchten mußten, eine Zeit, in der Lorenz eben Professor in Königsberg geworden war. Weiters sollten wir uns vor Augen halten, daß diese Gedanken nicht etwa im Monatsblatt eines lokalen Kleintierzüchtervereins, sondern in einer anerkannten Fachzeitschrift erschienen sind, also mit wissenschaftlichem Pathos aufgetreten waren, uns also stets eine Mahnung sein sollten, das eigene Denken nicht zugunsten der Autoritätsgarantie akademischer Journale zu dispensieren – selbst Schwachsinn trägt mitunter ein wissenschaftliches Gewand. Wir sehen am Beispiel dieses Aufsatzes das dramatische Schau­ spiel, wie die Ideologie einer Zeit in die Wissenschaft Eingang findet und dann wiederum die Wissenschaft durch ihre Ergebnisse eine Stütze für die politische Ideologie dieser Zeit wird. Für uns ist der Aufsatz deshalb lehrreich, weil wir das Problem des Biologismus, um das es dabei geht, wie unter der Lupe studieren können – die historische und politische Distanz zur Zeit von 1940, der Umstand, daß wir heute unter ganz anderen politischen Verhältnissen leben, vergrößert die Optik und läßt uns Voraussetzungen und Konsequen­ zen des Versuches einer biologischen Wesensbestimmung des Men­ schen deutlicher und schärfer erkennen, als es einem Blick auf den Biologismus der Gegenwart möglich wäre. Es geht dabei sowenig um Vergangenheitsbewältigung wie darum, das Gesamtwerk von Konrad Lorenz in Bausch und Bogen abzuwerten und zu verwerfen, es geht um die kritische Auseinandersetzung mit dem Versuch einer biologischen Anthropologie, eine Aufgabe, die für die Philosophie unverzichtbar ist. 381

Lorenz, Domestikation, S. 2–81.

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Der Umfang von Lorenz´ Arbeit zum Thema Domestikation macht starke Kürzungen in der Darstellung nötig, ich hoffe trotzdem, ihre Grundlagen erkennbar zu machen, wenn ich mich im wesent­ lichen auf das konzentriere, was sich in ihrem Sinn als Nutzanwen­ dung des im Tierreich zu Beobachtenden und Beobachteten auf den Menschen ergibt, ist es doch auch die »außerordentlich große prak­ tisch-rassehygienische Bedeutung«,382 d.h. ein »vielleicht vorhande­ ner Anwendungswert«,383 der den Autor selbst zur Veröffentlichung seiner mitunter als hypothetisch qualifizierten Thesen und Theorien drängt. »Wenn sich [die] Arbeitshypothese bewähren sollte, besteht die Hoffnung, die Ursachen der Verfallserscheinungen am Haustier experimentell erforschen und ihre Auswirkung im menschlichen Zivilisationsleben ausschalten zu können.«384 Daß hier von einer »Arbeitshypothese«385 bzw. vom »hypothetischen Charakter der Aus­ führungen«386 die Rede ist, darf nicht falsch verstanden werden. Der Hypothesencharakter betrifft alleine die versuchte Erklärung durch die drei Störungsfaktoren.387 Die Verfallserscheinungen als solche stehen ebenso wie die dagegen zu ergreifenden Maßnahmen außer Frage, nicht die Tatsache der Domestikationsfolgen, sondern der Versuch, sie zu erklären wird als hypothetisch qualifiziert. Der Mensch-Tier-Vergleich gibt auch hier die methodische Grundlage ab. Durch einen Vergleich von tierischem und mensch­ lichem Verhalten sollen Fehlformen des letzteren aufgespürt und eine Korrektur ermöglicht werden. Dies entspricht dem generellen Ansatz der Verhaltensforschung, zumindest im Rahmen der von Konrad Lorenz begründeten Schule, für welche das Studium tierischen Verhaltens kein Selbstzweck ist, sondern der es dabei immer auch um die sich aus dieser Verhaltenserforschung ergebenden Konsequenzen und Schlußfolgerungen für den Menschen geht. Weil, dem Ansatz entsprechend auch der Mensch ein Tier ist und, wie die Verhaltens­ forscher meinen, nur von seinem tierischen Erbe her eigentlich ver­ standen werden kann, werden tierisches und menschliches Verhalten Lorenz, Domestikation, S. 65. Lorenz, Domestikation, S. 3. 384 Lorenz, Domestikation, S. 53. 385 Lorenz, Domestikation, S. 52 ff. 386 Vgl. Lorenz, Domestikation, S. 65, S. 73 f. 387 Das sind: 1. Quantitätsänderung echter Instinkthandlungen, 2. Erweiterung ange­ borener Schemata, 3. Auseinanderfallen zusammengehöriger sozialer Verhaltungs­ weisen, vgl. Lorenz, ebd., S. 52. 382

383

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verglichen und in Analogie gesetzt. Man studiert das Tier, um daraus etwas über den Menschen zu lernen: »[...] in neuerer Zeit beginnt sich die Erkenntnis Bahn zu brechen, daß Untersuchungen des angebore­ nen arteigenen Verhaltens von Tieren zu höchst unmittelbaren Rück­ schlüssen auf den Menschen berechtigen können«.388 Daß tierisches Verhalten im Sinne dieser Analogiesetzung »höchst unmittelbare Rückschlüsse« auf menschliches Verhalten erlaubt, diese Wendung läßt bereits erahnen, daß hier ein Verständnis von Analogie zu Grunde liegt, bei dem die Gleichheit im Vordergrund steht, während die Verschiedenheit in den Hintergrund tritt, ja schrittweise aus den Augen verloren wird. Der grundlegende Begriff und Gedanke in dieser Arbeit von Kon­ rad Lorenz ist der der Domestikation. Domestikation (lat. domus = Haus) heißt soviel wie Haustierwerdung, bezeichnet also den Prozeß, durch den der Mensch wilde Tiere an sich gewöhnt, ja mit der Zeit durch Züchtung so verändert, daß sie seinen Zwecken gemäß werden. Beispiel eines solchen Domestikationsprozesses ist die Entwicklung vom Wolf zum Hund. Während der Wolf eine Bedrohung für den Menschen darstellt, ist ihm der Hund in vielfacher Hinsicht nützlich, will sagen für viele vom Menschen verfolgte Zwecke einsetzbar: als Wachhund, als Schäferhund, als Blindenhund, oder in Ausnut­ zung seiner besonderen olfaktorischen Fähigkeiten als Spürhund, der Rauschgift, Sprengstoffe und selbst Krankheiten erschnüffelt. Voraussetzung dafür ist, daß das Verhalten des Hundes ein anderes ist als das des Wolfes. Diesen biologischen Verwandlungsprozeß, mit dem Änderungen im Verhalten ebenso wie auch Änderungen im äußeren Erscheinungsbild einhergehen, nennt man in der Biolo­ gie Domestikation. Diesen Gedanken der Domestikation und der mit ihr einherge­ henden Veränderungen überträgt Lorenz nun auf den Menschen. Er ist der Überzeugung, »daß beim zivilisierten Menschen sehr viele Erscheinungen auftreten, welche ganz eindeutig alle Kennzeichen jener Veränderungen an sich tragen, die wir beim Tier unter dem [...] Begriff der Domestikation zusammenfassen.«389 Vor allem bei Großstadtmenschen meint er, die entsprechenden Symptome zu erkennen. Wir finden »[b]eim überzivilisierten Großstadtmenschen eine ganze Reihe von erblichen Eigenschaften, die jedes andere mit 388 389

Lorenz, Domestikation, S. 3. Lorenz, Domestikation, S. 52.

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ihnen behaftete tierische Lebewesen in unseren Augen ohne weiteres zum typischen Haustier stempeln würden.«390 Unmittelbar gegeben resp. erkennbar sind diese Eigenschaften im Gestaltlichen: »Schon im äußeren Erscheinungsbild von Haustier und Stadtmensch tritt dies in überzeugender Weise hervor«: Verkürzung der Extremitäten, Mopskopf, Erschlaffung der gesamten Muskulatur, Hängebauch, Fett­ ansatz391 können beim Großstadtmenschen als ungemein häufig auftretende und in durchaus gleicher Weise entstandene Domestika­ tionserscheinungen gelten. Wie beim Haustier sind diese äußerlichen, gewissermaßen mor­ phologisch-physiologischen Kennzeichen aber insbesondere ein Hin­ weis auf Verfallserscheinungen des sozialen Verhaltens, worin die eigentliche Bedrohung einer solchen Entwicklung liegt. Auch, was Verhalten und Gefühle betrifft, kommt es beim Menschen durch die Domestikation zu Veränderungen: »Eine gewisse ›Gefühlsschwäche‹ [...] ist eines der verbreitetsten Kennzeichen ›domestizierter‹ Groß­ stadtmenschen. Ein richtiges Sich-Verlieben, eine richtige Freund­ schaft oder richtige Brutpflegereaktionen sind dem mit solchen Aus­ fällen Behafteten unverständlich [...]«.392 Auch die »Brutpflegereaktion«, man mag mit ihr im Tierreich einen konkreten Sinn verbinden, wird in der Übertragung auf den Menschen zu einem nichtssagenden Terminus. Angesichts der kultu­ rellen Unterschiede im Umgang mit dem menschlichen Nachwuchs fragt man erstaunt, was damit eigentlich gemeint sein soll. Die Literatur zur Säuglingspflege und Kleinkinderziehung zeigt durch die Jahrhunderte alleine durch ihre Existenz, daß dieser Umgang in Abhängigkeit vom geschichtlichen Horizont, von sich wandelnden Einstellungen, geänderten sozialen Umständen und vielem anderen mehr steht, was es unmöglich macht, Säuglingspflege oder Klein­ kinderziehung als natürliches Verhalten anzusprechen oder auf ein solches zurückführen zu wollen. Schon dieser grundlegende Ansatz bei der Domestikation, die allgemeine Gleichsetzung von zivilisationsbedingten Verfallserschei­ nungen und Domestikationsfolgen ist problematisch und Anlaß zu kritischen Bedenken. Im Tierreich erfolgt die Identifizierung von Domestikation und Domestikationserscheinungen durch einen Ver­ 390 391 392

Lorenz, Domestikation, S. 5. Vgl. Lorenz, Domestikation, S. 53 f. Lorenz, Domestikation, S. 54 f.

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gleich mit der Wildform des Tieres. Das Haustier wird mit dem Wildtier verglichen, so können Unterschiede festgestellt werden. Der Hund ist eben in vieler Hinsicht, sowohl körperlich als auch, was das Verhalten betrifft, vom Wolf, von dem er abstammt, verschieden. Was aber ist die Wildform des Menschen? An welcher Naturform ist die Domestikation des Menschen, sollte es sie geben, überhaupt festzustellen? Wer gibt den Maßstab ab, an dem der Großstadtmensch sich mißt? – der Naturmensch? Zur Unterscheidung von Natur- und Kulturmensch bzw. von Urund zivilisiertem Menschen ist von Gehlen her festzuhalten, daß »wir den Menschen nur im Besitz von Kulturerrungenschaften [kennen], die, so primitiv man sie finden mag, doch auch so fundamental sind, daß die Existenz des Menschen ohne sie undenkbar wäre. Eine Unterscheidung von Naturmenschen und Kulturmenschen ist daher unpräzise und falsch, wenn man sie buchstäblich nimmt – es gibt und gab je nur eine Kulturmenschheit, allerdings mit ganz ungemeinen Unterschieden des kulturellen Inventars.«393 Naturvölker sind nicht anstelle von Kultur durch die Natur bestimmt, sie unterscheiden sich im Sinne der Gegenüberstellung allenfalls darin, daß sie ein anderes Verhältnis zur Natur haben, ein Verhältnis zur Natur zu haben aber heißt: Kultur zu haben. Wie der Naturmensch resp. der Urmensch zu denken ist, hat zwar seit je die Phantasie des Menschen beschäftigt, die verschie­ denen Urmenschenbilder sagen aber jeweils bloß etwas über die Gegenwart dessen, der sie erfindet, und nichts über den Urmenschen selbst aus, über den es beim besten Willen (empirisch) nichts zu wissen gibt. Adolf Portmann hat am Beispiel von Rousseau und Marx auf den geschichtsrelativen Hintergrund der Urmenschenbilder hingewiesen, deren Inhalte sich im Ausgang von einem kultur-, gesellschafts- oder sozialkritischen Blick auf die jeweilige Gegenwart gewissermaßen durch eine Rückwärtsextrapolation ergeben. Was an der Gesellschaft als kritikwürdig erscheint, wird als Abweichung vom Urzustand verstanden und der Urzustand und der in ihm lebende Mensch dann als Zustand ohne die gegenwärtigen Verdorbenheiten konstruiert. Für Rousseau, in dessen Gesellschaftskritik die Wissensund Wissenschaftskritik einen besonderen Rang einnimmt, ist es der herausragendste Zug des Urmenschen, des Wilden, wie er ihn nennt, 393 Gehlen, Arnold: Über Kultur, Natur und Natürlichkeit, in: Funke, Gerhard (Hg.): Konkrete Vernunft. Festschrift für Erich Rothacker, Bonn 1958, S. 113.

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daß er keine Wißbegierde kennt, glücklich unwissend fehlen ihm forscherliche Neugier und Wissenschaft, was ihm ein Leben in innerer Ruhe und geistigem Frieden ermöglicht.394 Karl Marx, für den die Kritik ökonomischer Verhältnisse, die Kri­ tik an der Entfremdung der Arbeitsverhältnisse etc. im Vordergrund steht, sieht den Urmenschen im Gegensatz dazu durch eine »lustvolle Beziehung zur Arbeit« gekennzeichnet, deren verständlicher Sinn durch den Bezug auf konkrete Bedürfnisse verbürgt, des Urmenschen Glück ohne »Entfremdung vom ursprünglichen Aufgehobensein in der Natur« sichert.395 Die Anwendung des Domestikationsbegriffs auf den Menschen wirft also schon vor der Empörung über die sich ergebenden Konse­ quenzen eine Reihe von Problemen auf, die nicht unerwähnt bleiben dürfen. Wir finden, was den Menschen betrifft, das diagnostische Verfahren notwendig insofern umgekehrt, als von Domestikations­ erscheinungen ausgegangen wird, ohne daß dieselben am Maßstab einer Wildform zuallererst zu bestimmen wären. Auch die externen Zwecksetzungen fehlen, nach welchen die Domestikation im Tierreich erfolgt. Das domestizierte Tier wird nach Zwecken verändert, die der Mensch setzt, bei den Veränderungen, die der Mensch selbst z.B. durch eine veränderte Lebensweise erfährt, gibt es niemanden, der bestimmt, nach welchen Zwecken eine solche Veränderung erfolgen soll. Zudem ist die biologische Bewertung des Domestikationsgesche­ hens negativ, was der Intention dieses durch den Menschen initiier­ ten Vorganges grundsätzlich widerspricht. Für den Biologen zeigen Haustiere gegenüber den entsprechenden Wildformen »Verfallser­ scheinungen« und eine »Involution [Zurückbildung] spezialisierter Eigenschaften und Fähigkeiten«,396 werden also negativ beurteilt. Dagegen nun wird der Prozeß der Domestikation als solcher vom Menschen, der ihn einleitet und steuert, selbstverständlich positiv beurteilt. Warum auch sollte der Mensch einen Prozeß, durch den er Tiere so verändert, daß sie für ihn nutzbar werden, negativ beurteilen? Mag schon sein, daß der Hund nicht mehr jene Reaktions- und Verhaltensweisen zeigt und nicht mehr jenen Körperbau hat wie der Wolf, der seine Wildform darstellt, aber genau darum geht es ja, der Portmann, Adolf: Biologie und Geist, in: Rocek, Roman / Schatz, Oskar (Hrsg.): Philosophische Anthropologie heute, München 1972, S. 115 f. 395 Vgl. Portmann, Biologie und Geist, S. 116 f. 396 Lorenz, Domestikation, S. 7.

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Mensch kann mit dem wilden Wolf eben nichts anfangen, erst der Hund ist seinen Zwecken verfügbar. Da selbst die Biologie vom Urmenschen kein empirisches Wis­ sen hat, geht auch sie, was ihn betrifft, von der Gegenwart aus. Ihre Grundlage ist neben der Gesellschaftskritik das jeweilige Wissen vom Tier. Das von der Biologie gezeichnete Bild des Urmenschen trägt in diesem Sinn darwinistische Züge, er ist wie das Tier dem permanenten Kampf ums Dasein ausgesetzt. Im Kampf mit den widri­ gen Umweltbedingungen und den ihn bedrohenden Tieren der natür­ lichen Selektion unterworfen, ist der Urmensch Produkt härtester Auslesebedingungen: »Über die Art, wie diese gewirkt haben müssen, können wir uns einige Vorstellungen bilden. In der Vorgeschichte der Menschheit, als kleine Sippen in gewaltigen, von Artgenossen nur sehr wenig besiedelten Lebensräumen sich mühsam gegen die feindlichen Einwirkungen der Umwelt, gegen Hunger und Kälte, Raubtiere und feindliche Horden behaupteten, da besaßen alle jene Eigenschaften, die wir als schön und gut, heldisch und ehrenhaft empfinden, einen hohen positiven Auslesewert.«397 Auch für diesen Gegenentwurf zu den als verweichlicht und dekadent eingestuften Großstadtmenschen gilt: jede Gegenwart hat den zu ihr passenden Urmenschen, in den Begriffen »Härte« und »Heldenhaftigkeit«, auf welche hin die feindliche Umwelt der Urzeit ihre Selektion treibt, ist darüber hinaus unschwer das Standardvoka­ bular nationalsozialistischer Kriegspropaganda von 1940 zu erken­ nen. Die Ursachen, die zur »Verhaustierung« des Menschen führen, sind dieselben, die auch in der Natur für die Domestikation ver­ antwortlich zeichnen. »In beiden Fällen hat eine überstürzte Verän­ derung zahlreicher lebensgestaltender Bedingungen des bisherigen ›natürlichen‹ Lebensraumes stattgefunden, gleichzeitig damit eine grundlegende Änderung all jener Einwirkungen, von denen Auslese und natürliche Zuchtwahl abhängen.«398 Unter den Ursachen steht die Veränderung der Umwelt an erster Stelle. Im Rahmen der Zivi­ lisation fehlen jene natürlichen Bedingungen, welche zur Zeit des Urmenschen für eine natürliche Zuchtwahl gesorgt haben. Wo eine solche Selektion nicht gegeben ist, überleben nicht mehr nur die Stärksten und Besten, die Art Mensch verkommt, immer mehr ihrer 397 398

Lorenz, Domestikation, S. 67. Lorenz, Domestikation, S. 5.

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Exemplare zeigen die typischen körperlichen Symptome und bedroh­ lichen Änderungen des sozialen Verhaltens, wie sie der Biologe als Domestikationserscheinungen ausmacht. Was die sozialen Ausfallserscheinungen betrifft, steht eine quan­ titative Vermehrung echter Instinkthandlungen im Vordergrund. »Allen diesen Minusvarianten arteigener Instinkthandlungen steht beim Zivilisationsmenschen – wiederum wie bei fast allen Haustieren – eine Vermehrung der Instinkthandlungen der Begattung gegenüber. Es wäre ein überflüssiger Gemeinplatz, auseinanderzusetzen, wie diese Hypertrophie gerade bei den zivilisiertesten Großstadtmen­ schen die größten und das soziale Verhalten am stärksten störenden Ausmaße erreicht.«399 Soziale Ausfallserscheinungen gehen also kei­ neswegs mit einer Verminderung der Fortpflanzungswilligkeit und -tüchtigkeit einher, ganz im Gegenteil: Die Fortpflanzungsauslese wird dadurch geradezu auf den Kopf gestellt, die hochwertigen Men­ schen bleiben kinderlos, die Ausfallstypen setzen viele Nachkommen in die Welt.400 Daß der Arbeit gerade auch in den Details die wissenschaftlichen Grundlagen fehlen, zeigt der eben zitierte Absatz (»Es wäre ein überflüssiger Gemeinplatz, auseinanderzusetzen …«) nicht weniger als der folgende Satz: »Die überaus große Vermehrungsziffer mora­ lisch Schwachsinniger ist längst sicher festgestellt«.401 Die angesichts dieser und ähnlicher haarsträubender Bemerkungen zu erwartenden Hinweise auf entsprechende Statistiken und Untersuchungen fehlen. Wer das nicht weiß, ist selber schuld! Und selbst dort, wo man im Zusammenhang mit männlicher Bevorzugung weiblicher Filmgrößen auf »interessante Ergebnisse« von »Rundfragen«,402 das Verhältnis Existenzkampf und Ehe betreffend, auf »statistisch erwiesene Tatsa­ che[n]«,403 oder angesichts der Unabhängigkeit mancher Verhaltens­ störungen von Außenbedingungen auf durch die »Zwillingsforschung […] in exaktester Weise«404 Nachgewiesenes hingewiesen wird, sieht man sich vergeblich nach den entsprechenden Stellen- und Literatur­ angaben um. 399 400 401 402 403 404

Lorenz, Domestikation, S. 55. Vgl. Lorenz, Domestikation, S. 67 f. Lorenz, Domestikation, S. 68. Vgl. Lorenz, Domestikation, S. 55. Vgl. Lorenz, Domestikation, S. 65. Lorenz, Domestikation, S. 54.

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Das Scheitern Philosophischer Anthropologie und seine Folgen

Der darwinistische Grundgedanke besagt, daß auch der Mensch durch Mutation und Selektion hervorgebracht wurde oder moderner ausgedrückt, ausschließlich als Evolutionsprodukt verstanden werden kann. Das heißt aber, daß diese Mechanismen auch weiterhin für seine genetische Fitneß und damit für seine Zukunft verantwortlich sind. Nun können selbst radikale Darwinisten nicht leugnen, daß der Mensch diesen Mechanismen nicht mehr in derselben Weise unterliegt wie das Tier, er hat Möglichkeiten gefunden, zumindest die natürliche Selektion auszuschalten. Unter natürlichen Bedingungen überleben entsprechend den Verhältnissen in der Natur ausschließlich die Stärksten, im Rahmen der zivilisierten Gesellschaft steht dem der Schutz der Schwachen gegenüber. Diese Art der Humanität erscheint in biologischem Sinn völlig verfehlt. Einige Menschen mögen solche Humanität für richtig halten, aber nur deshalb, weil sie biologisch nicht genügend gebildet sind. Ein solches Verständnis von Humanität ist allenfalls Gefühlsduselei und muß den Erkenntnissen der Wissenschaft entsprechend korrigiert werden. Es wird so zwar bestimmten einzelnen Menschen geholfen, die Menschheit als Ganze wird dadurch aber existentiell gefährdet. Der Biologe darwinistischer Prägung klärt uns darüber auf, daß Humanität nicht ihrer Höher­ entwicklung dient, sondern dem Untergang der Menschheit in die Hände arbeitet. Die menschliche Kulturentwicklung erscheint unter diesen Vor­ aussetzungen als eine Abweichung vom rechten, durch die Natur vorgegebenen Weg. War der Mensch bei Gehlen ein Kulturwesen von Natur aus, so ist er bei Lorenz ein durch die Kultur seiner Natur entfremdetes Wesen. Wer über die entsprechenden biologischen Einsichten verfügt, kann nicht bei ihnen stehenbleiben, er hat dafür zu sorgen, daß diesen Einsichten die entsprechenden Taten folgen. Die Theorie hat Relevanz für die Praxis und sie fordert eine ihr entsprechende Praxis um so mehr, als es hier um Sein oder Nichtsein der Menschheit geht. Als Wissenschaftler sieht Lorenz seine Verant­ wortung darin, von der Politik die seinen Theorien entsprechenden Taten zu fordern. Dadurch, daß der Mensch es verstanden hat, die Selektion weit­ gehend auszuschalten, hat gewissermaßen die Evolution die Hände vom Menschen abgezogen und sein Geschick in seine eigenen Hände gelegt. Nun liegt es an ihm, ob die Menschheit eine Höherentwicklung erfährt oder dem Verfall entgegengeht. Der Mensch muß die »grau­

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sam bewahrende« natürliche Selektion in nicht weniger grausamer Weise selbst in die Hand nehmen. Und in eben der Weise, wie die Ursachen der Domestikation bei Mensch und Tier die gleichen sind, zeigt sich im Blick auf die natürli­ chen Verhältnisse auch, welche Gegenmaßnahmen zu ergreifen sind, welche Eingriffe notwendig werden, um die von der Domestikation ausgehenden Gefahren zu bannen. Aus dem biologischen Experiment der Domestikation ist zu lernen, »wie bestimmte Verfallserscheinun­ gen vermieden werden können, die zu den dringendsten Volk und Menschheit bedrohenden Gefahren zählen.«405 Die möglichen Gegenmaßnahmen beschränken sich auf das Ersetzen der unter den Lebensbedingungen der Zivilisation ausfallen­ den auslesenden Faktoren des früheren Lebensraumes: Nach dem »Wegfall der natürlichen Auslese [müßte] die Rassenpflege [...] auf eine noch schärfere Ausmerzung ethisch Minderwertiger bedacht sein, als sie es heute schon ist, denn sie müßte in diesem Falle buchstäblich alle auslesenden Faktoren ersetzen, die im natürlichen Freileben die Auslese besorgten.«406 Offen bleiben dabei nähere Bestimmungen und Präzisierungen hinsichtlich jener Menschen, die als »Ausfallsbehaftete«, »moralisch Minderwertige« oder »Minusvarianten« zu qualifizieren sind, hier ist der Willkür des »zur Auslese Berufenen«407 freie Hand gelassen: »[...] wir müssen – und dürfen – uns hier auf die gesunden Gefühle unserer Besten verlassen und ihnen die Gedeihen oder Verderben unseres Volkes bestimmende Auslese anvertrauen.«408 Welchen gefährlichen und zerstörerischen Einfluß dieses im bio­ logischen Sinn minderwertige Menschenmaterial auf den gesunden Volkskörper hat, das erläutert Lorenz an Hand einer organologischen Metapher, an der Krebszelle. Die Analogie ist ganz unmittelbar den organismischen Verhältnissen entnommen, im Sinne des Biologis­ mus ist das, was sich im Körper, im Organismus abspielt, Vorbild für das, was in der Gesellschaft vor sich geht. Lorenz ist sich sicher, »daß ein sozial minderwertiges Menschen­ material gerade durch diese Minderwertigkeit instand gesetzt wird, den gesunden Volkskörper zu durchdringen und schließlich zu ver­ 405 406 407 408

Lorenz, Domestikation, S. 8. Lorenz, Domestikation, S. 66. Lorenz, Domestikation, S. 3. Lorenz, Domestikation, S. 75.

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nichten. Ganz dasselbe tun in weitestgehender biologischer Analogie die Zellen bösartiger Geschwülste in dem Zellstaate höherer Organis­ men.«409 Der Blick auf den krebskranken Körper dient Lorenz aber auch dazu, die Gegenmaßnahmen zu formulieren und zu präzisieren, die in diesem Fall nötig werden. »Aus der weitgehenden biologischen Analogie des Verhältnisses zwischen Körper und Krebsgeschwulst einerseits und einem Volke und seinen durch Ausfälle asozial gewor­ denen Mitgliedern anderseits ergeben sich große Parallelen in den notwendigen Maßnahmen. So wie beim Krebs [...] – der leidenden Menschheit nichts anderes geraten werden kann als möglichst früh­ zeitiges Erkennen und Ausmerzen des Übels, so beschränkt sich auch die rassenhygienische Abwehr gegen die mit Ausfallserschei­ nungen behafteten Elemente auf die gleichen recht primitiven Maß­ nahmen.«410 Angesichts der Dekadenz und Degenerationserscheinungen, ja überhaupt der »Zivilisationspathologie«, durch die unsere westliche Gesellschaft gekennzeichnet ist, muß der sogenannte »Volksarzt« ans Werk. Der Biologismus zeigt praktische Konsequenzen für das Ver­ ständnis ärztlichen Handelns, den Voraussetzungen entsprechend, ergeben sich für die Medizin ganz andere Aufgabenstellungen und Zwecksetzungen. Aufgabe dieses Volksarztes ist die Ausmerzung der Ausfallsbehafteten, analog dem Herausschneiden der Krebszellen aus dem Organismus durch den Chirurgen. Lorenz betont dabei mehrfach die Hoffnungslosigkeit jeglicher Besserungsversuche. Ein Rückgängig-Machen des Verfalls ist eine von vorneherein unerfüll­ bare Aufgabe, die Resozialisierung der Asozialen ist biologisch gese­ hen unmöglich. »Jeder Versuch des Wiederaufbaues der aus ihrer Ganzheitsbezogenheit gefallenen Elemente ist daher hoffnungslos. Zum Glück ist ihre Ausmerzung für den Volksarzt leichter und für den überindividuellen Organismus weniger gefährlich als die Opera­ tionen des Chirurgen für den Einzelkörper.«411 Selbst Medizin und Pädagogik, so genial beide sein mögen, weisen so gesehen in die falsche Richtung und sind gerade in ihrer Genialität eine Bedrohung für das Wohl der Menschheit. Je effektiver sie wirken, je mehr sie können, umso größer sind auch ihre negativen 409 410 411

Lorenz, Domestikation, S. 68. Lorenz, Domestikation, S. 69. Lorenz, Domestikation, S. 70.

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Auswirkungen, umso größer werden die Sünden wider die Natur. Lorenz schreibt in einer seiner anderen Arbeiten aus dieser Zeit: »[...] je ›besser‹ es dem Menschen rein äußerlich geht, je geringer Infektionsgefahren, Kindersterblichkeit usw. sind, je schwächere und minderwertigere Frauen dank wissenschaftlicher Geburtshilfe Kinder gebären können, je besser eine geniale Pädagogik es lernt, auch schlecht Veranlagte zu nützlichen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft zu machen, desto größer werden die ›Sünden wider die Natur‹, die die Menschheit in ihrer eben doch immer noch unge­ nügenden Kenntnis ihrer eigenen Biologie begeht. Mein Vater, ein gewiß erfahrener und erfolgreicher Arzt, sagte einst: rassenbiologisch gesehen ist die gesamte ärztliche Kunst ein Unglück für die Mensch­ heit.«412 Daß die Medizin ein Unglück für die Menschheit ist, ist keine Übertreibung, sondern eine, von der zugrundeliegenden Theorie aus, konsequente Folgerung, trotzdem darf man es erstaunlich finden, daß jemand, der 1943 diese Aussage zustimmend zitiert, dreißig Jahre später just den Nobelpreis für Medizin bekommt. Konrad Lorenz erhielt den Nobelpreis für Medizin 1973, gemeinsam mit den Zoolo­ gen Nicolaas Tinbergen und Karl Ritter von Frisch für »Entdeckungen über die Organisation und die Auslösung von individuellen und sozialen Verhaltensmustern.« (Begründung des Karolinska Institutes der Universität Stockholm)413 Der Vater von Lorenz, von dem hier die Rede ist, Prof. Adolf Lorenz, war selbst ein berühmter Mediziner, der als orthopädischer Chirurg die angeborene Hüftluxation operativ bezwungen und dadurch Weltruhm erlangt hat, er war selbst dreimal für den Nobelpreis vorgeschlagen und ist in seinen Aufsätzen aus dieser Zeit für die Zwangssterilisierung aus rassehygienischen Grün­ den eingetreten.414 Wir sehen, wie im Kampf der Biologie gegen die Sünden wider die Natur eine Reihe von Sünden wider die Freiheit in Kauf genommen werden. Zunächst gilt es, entsprechend den Konsequenzen des Biolo­ gismus für die Sexualethik, bestimmte Mitglieder der menschlichen 412 Lorenz, Konrad: Die angeborenen Formen möglicher Erfahrung, in: Zeitschrift für Tierpsychologie, Bd. 5, Heft 2, Berlin 1943, S. 380. 413 Vgl. Aktuelle Medizin. Regelmäßige Verlegerbeilage (wöchentlich) der Münche­ ner Medizinischen Wochenschrift, 44, München 2. November 1973. 414 Vgl. Koenig, Otto: Verhaltensforschung in Österreich. Konrad Lorenz 80 Jahre, Wien – Heidelberg 1983, S. 77 f. und vgl. Bischof, Norbert: Gescheiter als alle die Laf­ fen. Ein Psychogramm von Konrad Lorenz, Hamburg – Zürich 1991, S. 49 und S. 56 f.

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Gemeinschaft, nämlich die sogenannten Ausfallsbehafteten, von der Fortpflanzung auszuschließen. Eine der unmittelbarsten Konsequen­ zen dieser Theorien ist daher die Zwangssterilisierung gewesen, die in dieser Zeit gesetzlich verankert auch von Staats wegen durchgeführt wurde. Natürlich ist es im Sinne solcher Konsequenzen nicht bloß bei Freiheitsbeschränkungen geblieben, man hat das Ausmerzen, von dem Lorenz noch gedankenlos gesprochen haben will, auch in ganz anderer, nämlich unmittelbarer Weise verstanden und geübt. Es geht um die Zukunft der Menschheit, d.h. ihre genetische Gesundheit, näherhin die Wiedergewinnung, Erhaltung und Steige­ rung ihrer genetischen Vollkommenheit. Wie in der Natur ist auch hier an die Art gedacht, nicht an das Wohl oder Wehe des einzelnen Individuums. Das Individuum zählt in der Natur wenig und wird dort nur allzu oft in geradezu verschwenderischer Weise für die Erhaltung der Art geopfert. Dieser Ansatz bei einer dem Individuum übergeordneten Gruppe (egal, ob es das Volk, die Rasse, die Art oder die Menschheit als Ganze ist) ist typisch für eine »biologistische Ethik«. Die Medizin ist ihr ein Unglück, eine Disziplin wie die Sonderund Heilpädagogik wohl purer Terrorismus. Lorenz zeigt sich im übrigen recht zufrieden, was die praktischen Umsetzungen betrifft, die diese Theorien zu seiner Zeit schon finden und spart nicht mit Lob für die nordische Bewegung: »Der rassische Gedanke als Grundlage unserer Staatsform hat schon unendlich viel in dieser Richtung geleistet. Die nordische Bewegung ist seit jeher gefühlsmäßig gegen die ›Verhaustierung‹ des Menschen gerichtet gewesen, alle ihre Ideale sind solche, die durch die hier dargelegten biologischen Folgen der Zivilisation und Domestikation zerstört wer­ den würden, sie kämpft für eine Entwicklungsrichtung, die derjeni­ gen, in der sich die heutige zivilisierte Großstadtmenschheit bewegt, gerade entgegengesetzt ist. Für keinen biologisch Empfindenden kann ein Zweifel bestehen, welcher dieser beiden Wege der Weg der eigent­ lichen Evolution, der Weg nach ›oben‹ ist!«415 Das gute Gewissen fließt dem biologischen Kreuzritter aus der Einsicht, daß die Evolution mit ihm ist. Lorenz hat dann später auf diese seine Aussagen angesprochen das Folgende gesagt: »Ich habe sogar gehofft, daß der Nationalsozia­ lismus etwas Gutes bringen wird, nämlich in bezug auf die Hochschät­ zung der biologischen Vollwertigkeit des Menschen, gegen Domesti­ 415

Lorenz, Domestikation, S. 71 f.

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kation usw. Daß die Leute ›Mord‹ meinten, wenn sie ›Ausmerzen‹ oder wenn sie ›Selektion‹ sagten, das habe ich damals wirklich nicht geglaubt. So naiv, so blöd, so gutgläubig – nennen Sie es, wie Sie wollen – war ich damals.«416 Von einem investigativ zu nennenden Journalisten hätte man an dieser Stelle wohl die Frage erwarten dürfen, was denn Lorenz selbst mit den beiden in seiner Domesti­ kationsschrift mehrfach verwendeten Begriffen »Ausmerzen« und »Selektion« gemeint habe, nicht so von Franz Kreuzer, der eben nicht nur Journalist, sondern auch Politiker war und zudem noch etwas werden wollte.417 Da Konrad Lorenz sich selbst am besten kennen mag, haben wir seiner Selbsteinschätzung nichts hinzuzufügen. Als Ausrede kann sie so wenig durchgehen wie als Erklärung oder Entschuldigung. Wer als Wissenschaftler spricht, trägt für das, was er sagt, eine Verantwortung, der man mit Naivität, Blödheit oder Gutgläubigkeit nicht gerecht zu werden vermag. Daß die darwinistischen Grundzüge der Lorenzschen Weltan­ schauung die terminologischen Korrekturen, wie sie die veränderte politisch-gesellschaftliche Situation erforderlich gemacht hat, unbe­ schadet überstanden haben, zeigt sich unter anderem darin, daß »derselbe Geist [...] ungebrochen [...] durch die ›Acht Todsünden der zivilisierten Menschheit‹“ weht.418 Während die drastischen Konsequenzen weitgehend zurückge­ nommen sind, erscheint die Lorenzsche Position in ihren Vorausset­ zungen nahezu unverändert. Von den einschlägigen »Thesen aus den frühen vierziger Jahren« hat Lorenz »entgegen anderslautenden Beteuerungen, […] nie wirklich Abstand genommen«.419 Allen voran die Ausführungen zur fünften Todsünde werden nur auf der Grund­ lage der Thesen von 1940 verständlich. Ohne diesen Hintergrund bleibt die Rede vom „›genetische[n] Verfall‹ [...] eine fettgedruckte Überschrift, der im Text keine Begründung folgt.«420 Obgleich dort, wo ein genetischer Verfall zu konstatieren ist, nach denselben Vor­ 416 Lorenz, Konrad / Kreuzer, Franz: Leben ist Lernen. Von Immanuel Kant zu Konrad Lorenz. Ein Gespräch über das Lebenswerk des Nobelpreisträgers, München 1981, S. 96 f. 417 Bundesminister für Gesundheit und Umweltschutz 1986. 418 Bischof, Gescheiter als alle die Laffen, S. 86 f. 419 Bischof, Gescheiter als alle die Laffen, S. 33. 420 Demandt, Alexander: Biologistische Dekadenztheorien, in: Saeculum, Jahrbuch für Universalgeschichte, begründet von G. Stadtmüller, Bd. 36, Jahrgang 1985, S. 19.

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aussetzungen und Theorien auch eine genetische Höherentwicklung, eine »Aufartung« möglich, ja notwendig sein muß, wird hier nur noch die negative Seite der Entwicklung thematisiert, nicht mehr die Aufartung, sondern bloß noch die Verhinderung des Verfalls ist, biologischem Denken entsprechend, gefordert. »Mögen immerhin einige Klischees ausgewechselt sein, in der Substanz hat sich nichts geändert«.421 Noch 1988 sagt der 85jährige Lorenz in einem Interview zum Thema Aids: »Gegen Überbevölke­ rung hat die Menschheit nichts Vernünftiges unternommen. Man könnte daher eine gewisse Sympathie für Aids bekommen. Eine Bedrohung, die die Menschheit immerhin dezimieren, immerhin von anderen bösartigen Unternehmungen abhalten könnte.«422 Der Psychologe und Psychoanalytiker Erich Fromm hat Konrad Lorenz einen »Beobachter von Tieren, besonders von niederen Tieren und auf diesem Gebiet zweifellos kompetent« genannt und von seinem »Wissen über den Menschen [gemeint, daß es] nicht über das eines Durchschnittsbürgers«423 hinausgehe. Das mag richtig sein, stellt angesichts der eben aus dem Domestikationsaufsatz zitierten Stellen aber auch eine grandiose Verharmlosung dar. Lorenz sieht den Men­ schen nicht mit dem Blick eines Durchschnittsbürgers, vielmehr ist sein Blick auf den Menschen durch seine darwinistischen Vorausset­ zungen verstellt und geradezu gefährlich vernebelt. Der eigentliche Skandal besteht freilich nicht darin, daß Konrad Lorenz vor nun schon über sechzig Jahren die oben zitierten Sätze geschrieben und auch in der Folge nichts dazugelernt hat, der eigent­ liche Skandal ist der, daß die Biologie in der Zeit, die seither vergangen ist, zu diesen Sätzen kein anderes Verhältnis gefunden hat, als sie zunächst zu verschweigen und sie dann, als ein Verschweigen nicht mehr möglich war, zu verharmlosen. Nur unter dieser Voraussetzung hat Konrad Lorenz unbestritten als einer der bedeutendsten Biologen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelten können. Zu einer kritischen Stellungnahme, zu einer Aufarbeitung ihrer dunklen bio­ logistischen Vergangenheit, am Beispiel eines ihrer berühmtesten Vertreter, hat die Biologie bisher nicht den Mut gefunden. Bischof, Gescheiter als alle die Laffen, S. 87. Lorenz, Konrad, in: Natur, Nr. 11, München 1988. 423 Fromm, Erich: Die Anatomie der menschlichen Destruktivität, in: Psychologie heute, 1974, 1, S. 22, zitiert nach Pilz, Gunter / Moesch, Hugo: Der Mensch und die Graugans. Eine Kritik an Konrad Lorenz, Frankfurt am Main 1975, S. 117. 421

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Biologismus und Gegenwart

Insbesondere Schüler von Lorenz verharren dem Meister gegen­ über im Modus der Denkmalpflege. Es verwundert daher nicht, daß bei den Professoren Lötsch und Weihs – Lorenz durch »ähnliche Interessen und gemeinsame Gegner« verbundene »Freunde und Bun­ desgenossen« – die oben zitierte Stelle aus dem Lorenz-Interview aus dem Jahre 1980 ein wenig anders lautet: »Dass die Nazis Mord meinten als sie Auswahl sagten, kam keinem in den Sinn. So naiv, so blöd, so gutgläubig, nennen Sie es wie sie wollen, war ich damals«.424 Das passiert, wenn man aus dem Gedächtnis zitiert! Aber: honny soit qui mal y pense – die Erinnerung täuscht eben manchmal, insbesondere dort, wo nicht sein kann, was nicht sein darf. Nach diesen Ausflügen in die Blütezeit des Biologismus im 19. Jahrhundert und die Zeit des Nationalsozialismus erhebt sich die Frage, ob sich biologistisches Denken auch in der Gegenwart findet, wobei wir es nicht dort aufsuchen wollen, wo biologische Unkenntnisse offensichtlich sind. Ist es auch in der Biologie der Gegenwart zu finden?

Biologismus und Gegenwart Zum Beleg für die Gegenwärtigkeit des Biologismus sei abschlie­ ßend das Augenmerk auf einen Artikel gelegt, der im Jahre 2000 im Journal des Schönbrunner Tiergartens, einer unter Tierfreunden vielgelesenen Publikation veröffentlicht wurde. Wir sehen darin die »Zeugungsvorrechte der Helden« in bekannt vulgärdarwinistischer Manier, wenn auch weniger martialischer Terminologie bis heute durch die Texte geistern. »Nur der ›fortgeschrittene‹, d.h. der von seinen materiellen Lebensanforderungen weitestgehend entbundene Homo sapiens der Jetztzeit demonstriert in seinem zunehmend naturfremden Verhalten klar, daß er mit seinem Selbstverständnis als Lebewesen immer noch und sogar noch mehr Probleme hat. Ihm ist ja seine biologische Selbst-sprich-Arterhaltung [!] inzwischen kein Problem mehr. Umso stärker betont er aber nun seine individuell existentiellen Ansprü­ che und Pflichten als Zivilisations- und Kulturwesen. Wo er seine Lötsch, Bernd / Weihs, Peter: Der »Fall Lorenz«, in: natur&land, Zeitschrift des Naturschutzbund, 102. Jg., Heft 1, 2016, S. 16.

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Das Scheitern Philosophischer Anthropologie und seine Folgen

Emanzipation als Kultur- und Geisteswesen geschafft zu haben glaubt – also etwa derzeit in weiten Teilen Zentral- und Westeuropas – vernachlässigt er sogar bereits gedankenlos das Grundgesetz allen biologischen Fortschritts: Nämlich dafür zu sorgen, daß die jeweils Besseren auch den jeweils größeren Fortpflanzungserfolg erzielen. Im Gegenteil, so eine schlichte Überlegung gilt ihm schon nicht mehr als Biologie, sondern als verwerflicher Biologismus.«425 Die Stelle ist in mehr als einer Hinsicht interessant und wohl auch in mehr als einer Hinsicht bedenklich. Was die gesellschaftlichpolitischen Rahmenbedingungen betrifft, liegen Welten zwischen diesem Zitat und den oben zitierten Lorenz-Stellen. Was das Inhaltli­ che betrifft, ist der Unterschied nicht ganz so dramatisch. Der Biologe ist sich bewußt, daß viele seiner Zeitgenossen solche Grundgesetze und Forderungen nicht als Biologie, sondern als Biologismus qua­ lifizieren, aber auch hier kann gelten: diese Menschen verstehen eben nicht genug von Biologie und hängen deshalb einem falsch verstandenen Freiheits- und Humanitätsideal an. Für das angesprochene biologische Grundgesetz und die aus ihm abgeleitete Forderung ist der Mechanismus sexueller Zuchtwahl (Selektion), wie ihn Darwin herausgestellt hat, Vorbild: der Fortpflan­ zungserfolg hängt von der biologischen Fitneß ab, die Besten und Tüchtigsten überleben und pflanzen sich mehr als andere fort. Schaller geht nun aber angesichts des luxurierenden Menschen davon aus, daß dieses Grundgesetz zumindest partiell in Zentral- und Westeuropa aufgehoben ist. Alleine dieses nicht (mehr) Gelten eines biologischen Grundgesetzes ist ein bedenkenswerter Umstand. Wie kann es sein, daß da plötzlich ein Tier auftritt, das zu einem solch »naturfremden Verhalten« unter Ausschaltung biologischer Grundgesetze fähig ist und worin unterscheidet sich dieses Tier von allen anderen? Alleine die Möglichkeit, daß ein Tier, und der Mensch ist ja für die Biolo­ gie nichts anderes als ein Tier, die biologischen Gesetze, denen es untersteht, aufzuheben oder zu umgehen imstande ist, wäre der problematischen Aufmerksamkeit der Biologie wert. Es fragt sich aber auch, um welche Art Gesetzlichkeit es sich hier handeln kann? Was für ein »Naturgesetz« ist das, das nicht ist, sondern sein soll, das nicht gilt, sondern ihm gegenüber Gedankenlosigkeit und Vernach­ Schaller, Friedrich: »Wieviel Tierisches ist im Menschen? Überlegungen zum Problem der biologischen Aufklärung«, in: Journal Schönbrunner Tiergarten, 4/2000. Sonderdruckreihe: Berichte aus Forschung und Wissenschaft, S. 8.

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lässigung zuläßt, d.h. in seinem Gelten von der Beachtung durch den Menschen abhängt? Wo das Gesetz wirksam ist, wie in der Natur, haben die Besseren, wie Schaller sehr allgemein sagt, die größeren Fortpflanzungsraten, wo das Gesetz nicht wirksam ist, wie offensichtlich bei den Menschen Europas (auch hier ist die westliche Zivilisation das Zerrbild natürli­ cher Zustände), passiert dagegen genau das Gegenteil, die weniger Tüchtigen und Erfolgreichen vermehren sich überproportional, was biologisch bedenklich erscheint. Dazu kommt, daß dieses Grundge­ setz eines survival of the fittest – eines Überlebens der Tüchtigsten, tautologisch ist, was die Bestimmung der Tüchtigsten angeht. Es sind die Tüchtigsten, die überleben, und daß es die Tüchtigsten sind, erkennt man daran, daß sie überleben, d.h. das Grundgesetz geht inhaltlich nicht über die Einsicht hinaus, daß die Überlebenden über­ leben. Der Maßstab des Überlebens der Tüchtigen muß daher gerade in der Übertragung auf den Menschen als nichtssagend kritisiert werden. In der Natur lassen sich angesichts der zirkelhaften Definition von Erfolg und Fortpflanzung die Besten leicht bestimmen. Ganz anders, wo dieses Gesetz nicht mehr gilt und damit auch nicht mehr die wechselweise Definition von Erfolgreich-Sein und Überleben. Wäh­ rend wir im Tierreich mit dem Überleben von Individuum und Art vor eindeutigen Verhältnissen (survival of the fittest) stehen, stellt sich für den Menschen durchaus die Frage: Was es überhaupt heißt, erfolgreich zu sein. Wenn die Zirkelhaftigkeit in der Bestimmung von Überleben und Erfolg beim Menschen aufgehoben ist, wie ist dann festzustellen, wer die Besten sind? Wir sind bereits hinsichtlich einer Begriffsbestimmung dessen, wovon wir hier überhaupt reden, in einer gewissen Verlegenheit: Wer sind die Besten und in welcher Hinsicht sind sie die Erfolgreichen? Wer sind die Erfolgreichen, wenn sie nicht mehr am Umstand, daß sie überlebt haben, zu messen sind? – ist es die gesellschaftliche Stellung, das finanzielle Potential, ist es der Popularitätsgrad oder ein hohes Bildungsniveau? Dazu kommt, daß sich im Rahmen menschlicher Gesellschaft ja keineswegs behaupten läßt, daß die in verschiedener Hinsicht Besten in eben dieser Hinsicht auch die Erfolgreichsten sind. Wenn wir uns in der Kunst, in der Philosophie, aber auch in der Wissenschaft umsehen, so finden wir hier weit und breit keine vernünftige Relation zwischen den Besten und den Erfolgreichsten. Ein Blick auf so manche Künstler- oder Philosophenbiographie, ein Blick auf so manches

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Das Scheitern Philosophischer Anthropologie und seine Folgen

Erfinderschicksal belehrt uns darüber, daß keineswegs die Besten auch die Erfolgreichsten sind, noch die Erfolgreichsten die Besten. Manches Originalgenie wird erst 200 Jahre nach seinem Tod recht eigentlich entdeckt und verstanden, hat zu Lebzeiten aber durchaus Schwierigkeiten, seinen Lebensunterhalt zu fristen, und Bilder, mit denen sich gegenwärtig Millionen verdienen lassen, haben ihrem Schöpfer mitunter nicht die Mittel zum Kauf der benötigten Farben eingebracht. Und natürlich gilt auch das Umgekehrte, daß so mancher zu seiner Zeit höchst erfolgreiche Literat, Philosoph oder Künstler 200 Jahre später gründlich und endgültig vergessen ist. Der Biologe fordert von uns, dafür zu sorgen, daß die Besseren größere Fortpflanzungserfolge, also mehr Nachkommenschaft haben, sagt uns aber nichts über den Maßstab, den wir heranzuziehen haben, wenn wir im menschlichen Raum dieses Gesetz exekutieren wollen. Man muß aber nicht nur fragen, nach welchen Kriterien hier über­ haupt vorgegangen werden kann, sondern vor allem auch, was haben die hier denkbaren Kriterien mit Biologie zu tun? Wie auch immer wir die Kriterien setzen, in jedem Fall wird die Einhaltung eines biologi­ schen Gesetzes von gesellschaftspolitischen Vorstellungen abhängig. Auch hier ist wieder das Problem der praktischen Konsequen­ zen solch einer Theorie zu bedenken. Wozu würde im Rahmen gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen der Satz dienen, daß die Besten die Erfolgreichen sind? – Er würde dazu dienen, die Erfolgreichen zu rechtfertigen gegenüber denen, die es nicht sind und damit jedwede Gewalt biologisch legitimieren. Jede politische Ideologie, auf welche Weise sie auch immer zur Macht kommt, wäre alleine darin gerechtfertigt, daß sie zur Macht gekommen ist, daß sie erfolgreich ist. Jede Ungerechtigkeit würde sich dadurch legitimieren, daß sie begangen worden ist, jeder, der Gewalt ausübt, würde dadurch legitimiert sein, daß er sie auszuüben imstande ist. Damit sind wir wieder bei den Sophisten angelangt. Es ist der Sophist Thrasymachos gewesen, der zuerst eine Legitimierung von Gewalt gelehrt hat, in dem er das Gerechte als das bestimmte, was dem Stärkeren nützt.426 Wir können daraus ermessen, welche Gefahr die Biologie, die in der modernen Genetik über ein ungeheures Potential verfügt, die Veränderung des Menschen unmittelbar praktisch werden zu lassen, für ein menschenwürdiges Leben in der Zukunft darstellt, Vgl. Platon: Politeia, in: Eigler, Gunther (Hg.): Werke in acht Bänden, gr.-dt., übers. von Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 1977.

426

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Der Mensch-Tier-Vergleich zwischen Ideologie und Wissenschaft

wenn sie der Problematik einer biologischen Wesensbestimmung des Menschen gegenüber naiv bleibt.

Der Mensch-Tier-Vergleich zwischen Ideologie und Wissenschaft Wir haben festgehalten, daß im Rahmen moderner Anthropologie, im Sinne der sie kennzeichnenden Wende zur Natur und ihrer Orientierung an der Wissenschaft, dem Mensch-Tier-Vergleich in methodischer und inhaltlicher Hinsicht eine herausragende Stel­ lung zukommt. Daß man den Menschen von der Natur bzw. vom Tier her zu verstehen versucht, ist wie die Anthropologie selbst »eine ganz und gar […] ›neuzeitliche‹ Angelegenheit.«427 Obgleich Mensch und Tier immer schon miteinander verglichen wurden, schon Ari­ stoteles hat gesehen, daß in gewissen Bereichen, etwa im Hinblick auf bestimmte organische Voraussetzungen, Vergleichsmöglichkeiten zwischen Mensch und Tier bestehen, wäre es vor Darwin wohl auch einem Biologen nicht eingefallen, den Menschen vom Tier her in einer Weise zu verstehen, die es erlaubt, die Sonderstellung des Menschen, ja selbst den Unterschied von Mensch und Tier zu bezweifeln. Der praktische Umgang mit dem Tier bleibt für das Verhältnis Mensch – Tier in einer Weise bestimmend, die den Menschen nicht leicht in die Lage bringt, den Unterschied in Frage zu stellen oder sich gar mit einem Tier zu verwechseln. Schon in der Antike galt der als schwachsinnig, der ein Bewußtsein dieses Unterschiedes vermissen ließ, vom Orest sagt Klytämnestra in diesem Sinn: »Wer fürchtet sich vor einem Schwachsinnigen […] er liegt im Hof bei den Hunden und weiß nicht Mensch und Tier zu unterscheiden«.428 Erst die Wissenschaft hat diese der Alltagserfahrung verpflichtete Sicht erschüttert, erst mit dem Darwinismus wurde der Unterschied zu einem Problem, ja mehr noch, zu einer ideologisch-weltanschau­ lichen Frage. So macht der Mensch-Tier-Vergleich das Verhältnis 427 Vgl. Marquard, Odo: Zur Geschichte des philosophischen Begriffs ›Anthropolo­ gie‹ seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts, in: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt am Main 1982, S. 124. 428 Vgl. Hofmannsthal, Hugo von: Elektra. Tragödie in einem Aufzuge, Libretto zur Oper von Richard Strauss, Bramstedt 1943, S. 29 f.

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Das Scheitern Philosophischer Anthropologie und seine Folgen

Wissenschaft und Ideologie thematisch, das wiederum am Beispiel Darwins bzw. des Darwinismus exemplarisch verdeutlicht werden kann. Wissenschaftsgeschichtlich zeigt sich dabei, daß wissenschaft­ liche Entdeckungen und Theorien ebenso zur Unterstützung wie zur Bekämpfung von Weltanschauungen herangezogen wurden. Ob die Wissenschaft nun als Instanz der Ideologisierung oder als Aufklärungsinstanz in Anspruch genommen wird, die Auseinander­ setzungen in der Theorie haben im Normalfall nur wenig praktische Auswirkungen, auch der Mensch, der sich gewissermaßen theoretisch für ein Tier unter Tieren hält, hält in seiner Praxis am Unterschied von Mensch und Tier fest. Selbst von wissenschaftlichen Ergebnissen, die Tier und Mensch auf der Ebene der Genetik nur wenige Prozent­ punkte voneinander entfernt sehen (je nach dem, drei, zwei, unter ein Prozent), zeigen sich die Menschen, was ihr Handeln betrifft unbeeindruckt, sie treffen sich zum Rendezvous weiterhin nur mit ihresgleichen, heiraten weder Berggorillas noch Schimpansen, wie sehr sie sich auch sonst im Sinne des Tierschutzes um sie bemühen mögen, und essen kein Menschenfleisch,429 auch wenn ihnen die Grenze zwischen Mensch und Tier gänzlich obsolet erscheint. Wenn für uns heute diese Fragen nicht mehr jene weltanschau­ lich-ideologische Dimension besitzen, die sie zu Zeiten Darwins gehabt haben, so hat das zwei Gründe: 1.

Weil die Religion nicht mehr den gesellschaftlichen Stellenwert hat, den sie zu Zeiten Darwins gehabt hat, ein Umstand, für den Nietzsche die Kurzformel: »Gott ist tot« geprägt hat. Das will nicht sagen, daß Gott gestorben ist, wie Menschen sterben, mit diesem Satz: »Gott ist tot« ist auf den Umstand eines weitgehenden Unverbindlichwerdens der Religion hingewiesen, daß religiöse Inhalte ihre öffentlich wirksame und beherrschende Stellung verlieren und mehr und mehr zur Privatsache werden. In diesem Sinne gilt es heute als geradezu anstößig, außerhalb theo­ logischer Diskurse von der Gottes-Ebenbildlichkeit des Men­ schen zu reden, während die durch die Wissenschaft nahegelegte Schimpansen- oder Rattenebenbildlichkeit des Menschen als selbstverständlich und harmlos angesehen wird. Weil sich die Wissenschaft im Sinne einer experimentellen Ver­ haltenserforschung des Tieres angenommen und über das Tier

2.

429

Vgl. Wagner, Hans: Die Würde des Menschen, Würzburg 1992, S. 42.

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Der Mensch-Tier-Vergleich zwischen Ideologie und Wissenschaft

eine Reihe von Ergebnissen zutage gefördert hat, die klärend auf das Verhältnis von Mensch und Tier gewirkt haben. Ganz so, wie sich das, was man jeweils unter Natur versteht, im Lauf der Geschichte ändert, unterliegen auch die Vorstellungen vom Tier einem Wandel. Was die sogenannten Menschenaffen: Gorilla, Schimpanse, Orang-Utan betrifft, wurden dieselben noch im 18. Jahr­ hundert als Waldmenschen gesehen, als friedfertige Wesen, denen der Schöpfer ganz wie dem Rousseauschen Urmenschen den Geist vorenthalten und sie damit vor den Gefahren der Zivilisation bewahrt hat. Das »Bild«, das man vom Tier hat, bestimmt seine bildliche Darstellung, Adolf Portmann,430 auf den ich mich hier beziehe, ver­ weist in diesem Zusammenhang auf die berühmte Naturgeschichte des Grafen Buffon,431 in der die Menschenaffen als an einem Stabe sich aufrichtende friedliche Pilger dargestellt werden. Dieses Bild ändert sich unter dem Einfluß der Deszendenztheorie gravierend, der friedliche Waldmensch paßt nicht mehr ins Konzept einer Sichtweise des Tieres, nach der das Leben desselben wesentlich durch einen »Kampf ums Dasein« bestimmt ist, dessen Devise: »Fressen und Gefressen-Werden« heißt – so wird aus dem friedlichen Pilger von einst die brutale Bestie: »Der Gorilla, der Orang entblößen jetzt die Zähne wie Raubtiere, der friedliche Stab verwandelt sich in einen Baumstrunk oder in einen Wurfstein, und der melancholische Blick auf den alten Bildern weicht dem aggressiven Ausdruck hoher Erre­ gung und Tatkraft.«432 Ganz ähnliche Hinweise auf sich wandelnde Vorstellungen von Natur und Tier finden wir in der Geschichte der Zoologie von Friedrich Schaller: »Sie [die Zoologie] pflegt ja ihre Bilder und Modellbeispiele (heute übrigens gern auch ›Paradigmen‹ genannt) zur Veranschauli­ chung der organismischen Phänomene bevorzugt dem jeweils herr­ schenden physikalisch-technischen Weltbild zu entleihen: So wurden vor 1900 Lebewesen gern als kalorische Kraft= sprich Dampfmaschi­ nen beschrieben; dann sind sie sprachlich zu elektrischen Apparaten mutiert und heute benützt der fortgeschrittene Biologe bzw. Zoologe zeitgemäß natürlich auch die Bildersprache der Computertechnik und EDV, um Organismen als sich selbst regelnde Entitäten zu kennzeich­ Portmann, Adolf: Biologie und Geist, in: Rocek, Roman / Schatz, Oskar (Hrsg.): Philosophische Anthropologie heute, München 1972, S. 115–129. 431 George Louis Leclerc, Comte de Buffon (1707–1788). 432 Portmann, Biologie und Geist, S. 119. 430

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Das Scheitern Philosophischer Anthropologie und seine Folgen

nen, wenn er nicht schon als ›Soziobiologe‹ dem letzten Schrei der ›Moderne‹ folgt und im Jargon des Kaufmanns und Börsenspekulan­ ten von den Investitions- und Betriebskosten der Lebewesen spricht, oder sie gar zu Überlebens-›Strategen‹ hochformuliert.«433 Die bei Schaller geschilderte Abfolge: Maschine, Dampfma­ schine, elektrischer Apparat, Computer, liest sich wie eine Geschichte der technischen Erfindungen und macht deutlich, daß unser Verständ­ nis der Natur in Korrelation zum jeweiligen Stand des technischen Fortschritts steht. Dieser Versuch, das Tier von unseren technischen Errungenschaften her zu verstehen, gibt Anlaß, am Beispiel des Orga­ nismus nach dem Unterschied von Natur und Modell zu fragen. Dabei ist zu bedenken, daß man sich im Rahmen der jeweiligen Sichtweise, etwa der Maschinentheorie des 17. Jahrhunderts, des »Modellcharak­ ters« dieser Theorie nicht in der Weise bewußt gewesen ist, in der wir das heute sind. Man hat nicht gesagt, wir legen das Tier nach dem Modell einer Maschine aus, wissen aber, daß es keine Maschine ist, man meinte, das Tier damit adäquat verstanden zu haben und hat aus dem mechanischen Verständnis des tierischen Organismus auch die entsprechenden Konsequenzen gezogen, wie die, den Tieren entge­ gen allem Augenschein jegliche Schmerzempfindungen abzusprechen (Pater Malebranche). Es stellt sich die Frage, wie weit wir uns des Modellcharakters unserer heutigen biologischen Sicht des Tieres bewußt sind. Daß wir im Rahmen solcher von der Technik her kommender Bestimmungen der Natur, dem Organismus, dem Tier, nicht gerecht werden, ergibt sich schon daraus, daß Naturdinge in dem einen grundsätzlichen Punkt von technischen Produkten unterschieden sind, daß sie nicht von uns resp. durch uns hervorgebracht werden. Wir verstehen Pro­ dukte der Technik eben deshalb, weil wir sie nach unseren Plänen selbst schaffen und wir können aus eben dem Grund Naturdinge in Analogie zu technischen Produkten nicht zureichend begreifen. Freilich lassen sich verschiedene Prozesse an den Organismen mit Hilfe solcher, der Technik entnommener Modelle beschreiben. Doch das Modell ist nicht die Wirklichkeit, der Organismus als Organismus kann durch ein Modell nicht adäquat begriffen werden und sollte schon gar nicht mit diesem verwechselt werden.

433 Schaller, Friedrich: Zur Geschichte der Zoologie (seit Darwin), in: Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte, Jg. 14, Wien 1994, S. 201.

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Der Mensch-Tier-Vergleich zwischen Ideologie und Wissenschaft

Die Beschreibung von Lebenserscheinungen anhand verschiede­ ner Modelle ist eine Sache der Biologie, die Frage: »Was ist Leben?« dagegen eine der Philosophie, und eben deshalb bleibt über die Naturwissenschaft Biologie hinaus die Naturphilosophie eine legi­ time, ja notwendige Aufgabe. Um ein adäquates Verständnis der Natur müssen wir uns schon deshalb bemühen, weil es für den Menschen nicht gleichgültig ist, wie er die Natur versteht und welchen Zugang zur Natur er hat. Naturverständnis und Selbstverständnis des Menschen sind aufeinander bezogen, die Sicht der Natur hat immer auch Auswirkungen auf die Sicht des Menschen, der ja selbst Natur ist und bleibt, auch wenn er sich von der Natur unterscheidet. Erst spät, im 20. Jahrhundert, ist es der Wissenschaft gelungen, das Leben von Tieren einigermaßen objektiv zu ergründen, worin sie ihrer ideologiekritischen Funktion gerecht wird. Soferne ein Film das Bild des Tieres wesentlich nachhaltiger beeinflußt als Hunderte wenig gelesene wissenschaftliche Abhandlungen über das Tier, droht eine verfehlte Sicht desselben heute weniger von seiten der Wissenschaft als von seiten der medialen Unterhaltungsindustrie: Im Anschluß an die Fernsehserie »Lassie« hat es die Collies getroffen, im Anschluß an den Film »1001 Dalmatiner« die Dalmatiner und (als Bespiel aus der jüngeren Vergangenheit) im Anschluß an den Film »Findet Nemo« (2003) die Clownfische. Nach dem Besuch der Filme zu Zehn­ tausenden gekauft, bleiben die menschlich überzeichneten tierischen Filmhelden, wenn man sie dann zu Hause hat, nicht nur in ihren Fähigkeiten stark hinter den Erwartungen zurück, sie erweisen sich auch als überraschend pflegebedürftiges Spielzeug und landen nach kürzester Zeit bestenfalls in Tierheimen, allzu oft aber auf der Straße. Auch hier führt das falsche Bild des Tieres, wohin es noch immer geführt hat: zur Tierquälerei.434 Ein adäquater Begriff des Tieres ist jedenfalls auch für einen adäquaten Umgang mit dem Tier Voraussetzung – daß dessen Bestimmung keineswegs leicht ist, sehen wir im Bereich des Tier­ 434 »Wussten Sie, dass [...] der Walt-Disney-Erfolgsfilm ›Findet Nemo‹ (2003) erheblich dazu beitrug, dass der Clownfisch am Rande des Aussterbens steht? Eines hat der Animations-Hit geschafft: Durch Nemo & Co. erlangten viele Fischarten weltweite Bekanntheit. Allerdings stieg nach dem Blockbuster auch die Nachfrage – etliche wollten die bunten Schwimmer im Aquarium haben. So wurden Clownfische in Massen aus den Riffen gefischt. Die Chemikalie, die dazu verwendet wurde, schä­ digte wiederum die Korallenriffe, die den Tierchen als Lebensraum dienen.« (Kronen Zeitung, Dienstag, 5. Dezember 2017, S. 39.).

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schutzes, wo sowohl die Versachlichung als auch die Vermenschli­ chung des Tieres sich gleichermaßen als inadäquat erweisen, inso­ ferne das Tier in der Alternative von Person und Sache, die vom römischen Recht herkommend auch noch unsere Rechtsordnung bestimmt, nicht adäquat erfaßt werden kann, und wo erst relativ spät der Philosoph Jeremy Bentham die Leidensfähigkeit (Angst- und Schmerzfähigkeit) des Tieres als jenes Kriterium identifiziert hat, auf das hier rekurriert werden muß.435 Daß die Mensch-Tier-Diskussion auch gegenwärtig noch mitun­ ter durch eine spezifische Aufgeregtheit und eine für wissenschaftli­ che Diskussionen untypische Emotionalität gekennzeichnet ist, liegt an ihrem Zusammenhang mit Fragen des menschlichen Selbstver­ ständnisses. Freilich findet man heute kaum mehr jemanden, dem es darum geht, den gottesebenbildlich verstandenen Menschen gegen­ über seiner vermeintlichen »Affenabstammung« zu verteidigen. Es gilt vielmehr, das Tier gegenüber vermeintlicher menschlicher Arro­ ganz in sein Recht zu setzen. Die Überheblichkeit des Menschen wird beklagt, mit der er sich übers Tier erhebt und sich für etwas Besseres hält, obwohl uns ja die Tiere tausendfach ein Beispiel davon geben, daß sie ganz wie die Menschen oder sogar die besseren Men­ schen sind. Trotz aller wissenschaftlichen Einsichten scheint also der Mensch-Tier-Vergleich nichts von seiner ideologischen Faszination verloren zu haben. Wer, was den Unterschied Mensch – Tier betrifft, nicht so reagieren will wie die Frau des Bischofs von Worcester, die nach einem Gespräch mit Thomas Henry Huxley (einem Freund und Anhänger Darwins) 1860 gesagt haben soll: »Nachfahren von Affen! Mein Gott, hoffen wir, daß das nicht wahr ist. Sollte es aber doch wahr sein, so laßt uns dafür beten, daß es nicht allgemein bekannt wird«,436 der ist dazu aufgefordert, zu studieren, was die Wissenschaft über das Tier in Erfahrung gebracht hat. Der Rückzug auf Weltanschaulich-Ideolo­ gisches, das Absehen von wissenschaftlichen Ergebnissen hat dort, wo man durchaus noch sinnvoll argumentieren kann, etwas Primitives und Affektiertes. Über Reaktionen in der Art der anglikanischen 435 »The day may come when the rest of the animal creation may acquire those rights which never could have been withheld from them but by the hand of tyranny […] The question is not, Can they reason?, nor, Can they talk?, but, Can they suffer?« Bentham, Jeremy: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, London 1789. 436 Vgl. Lötsch/Weihs, Fressen und Gefressen Werden, S. 9.

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Der Mensch-Tier-Vergleich zwischen Ideologie und Wissenschaft

Bischofsfrau sollten wir heute hinaus sein, weil wir uns auf wissen­ schaftliche Untersuchungen tierischen Verhaltens stützen können. Der »Klassiker« unter den Tierexperimenten sind dabei Wolf­ gang Köhlers Experimente mit Schimpansen,437 sie haben, soferne die Bezugnahme auf biologische Ergebnisse ein Spezifikum der anthro­ pologischen Ansätze des 20. Jahrhunderts ist, in allen Entwürfen der modernen Anthropologie an zentraler Stelle Berücksichtigung gefunden, wobei im Sinne der neuen Sichtweise des Tieres und des Unterschiedes von Mensch und Tier die erstaunlichen Leistungen, zu denen die Tiere im Rahmen einer von Menschen hergestellten Experimentalsituation fähig sind, nicht minder interessieren wie die prinzipiellen Grenzen, die in den Versuchen, die ihnen gestell­ ten Aufgaben zu lösen, sichtbar werden. Es ist eben dieser Bezug auf die Köhlerschen Experimente, der Scheler den Tieren über den Instinkt und das assoziative Gedächtnis hinaus auch die praktische Intelligenz zusprechen und damit die Grenze zwischen Mensch und Tier anders ansetzen läßt, als das lange Zeit getan wurde. Hier hat die Wissenschaft zu einer Korrektur der Beurteilung tierischer Leistungen geführt und etwa die Theorie, daß Werkzeuggebrauch den Menschen vom Tier unterscheiden würde, als vordergründig resp. differenzierungsbedürftig erwiesen. Im Blick auf die Köhlerschen Experimente muß, das Problem des Werkzeuggebrauchs betreffend, differenzierter argumentiert werden: die Verwendung einfacher Hilfsmittel ist den Tieren möglich, nicht aber eine gezielte Werkzeugherstellung bzw. Geräteproduktion im Sinne menschlicher Technik, in den Worten Plessners: »Das Tier kann finden, erfinden kann es nicht, weil es nichts dabei findet (d.h. entdeckt).«438 Der entscheidende Unterschied liegt darin, daß die Herstellung von Werkzeugen für eine bestimmte, d.h. zukünftige Anwendung, jene Situationsunabhängigkeit und Sachlichkeit voraus­ setzt, welche bei Tieren nicht besteht. Die Einsicht in den logischen Zusammenhang der Relation Mittel – Zweck ermöglicht dem Men­ schen auch die Aufstufung dieser Relation, d.h. die Verfertigung von Werkzeugen zum Fertigen von Werkzeugen usf. Die Verwendung von Hilfsmitteln beim Tier bleibt auf seine organische Ausstattung bezogen und insoferne durch diese begrenzt. Der Mensch dagegen überschreitet im Bau von Werkzeugen seine organische Ausstattung. 437 438

Köhler, Wolfgang: Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, Berlin 1917, 31973. Pleßner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 321.

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Wir haben hier also jedenfalls eine Metaebene zu berücksichtigen, in deren Sinn der Werkzeuggebrauch über die Verwendung von Hilfs­ mitteln hinausgeht und der menschlichen Technik die Produktion von Werkzeugen, die Werkzeuge bauen und so weiter ins Unendli­ che, ermöglicht.

Tierische Intelligenz Wir stimmen Scheler zu, daß Wolfgang Köhlers Experimente in Planung, Durchführung und Dokumentation vorbildlich sind, sie ent­ sprechen ebenso den Forderungen der Wissenschaftlichkeit wie denen des Tierschutzes und unterscheiden sich darin deutlich von manch späterem »Tierexperiment«, das in seiner Anlage allenfalls »sensatio­ nell«, ein Experiment allerdings nur im alltagssprachlichen Sinn und wissenschaftlich nicht einmal mehr in einem solchen genannt werden kann. Als Beispiel sei auf Jane und Maurice Temerlin (Psychologe und Psychotherapeut) und ihre »Idee« hingewiesen, das Schimpan­ senbaby Lucy ohne Kontakt zu Artgenossen im Familienverband gemeinsam mit ihrem leiblichen Nachwuchs »wie ein Menschenkind [aufwachsen zu lassen,] ›um zu sehen, was passieren würde‹“.439 Kein wissenschaftliches Experiment wurde je unternommen ohne eine sehr genaue Vorstellung davon, was herauskommen soll in dem Sinn, daß schon seine Planung als Fragestellung im Hinblick auf eine zu erwartende Antwort verstanden werden muß, die dann freilich gegeben oder auch nicht gegeben werden kann. Wenn wir das, was sich aus Köhlers Experimenten für die Charakterisierung tierischer Intelligenz ergibt zusammenfassen, ist folgendes festzuhalten: Tierische Intelligenz ist 1. 2. 3.

triebbedingt, situationsgebunden, und artspezifisch.

Ad 1: Das Agens all dieser Experimente ist die Selbsterhaltung. Die Tiere stehen vor der Aufgabe, Bananen zu erlangen, dieser Bezug auf den Nahrungstrieb ist und bleibt eine unbedingte Voraussetzung, Peterson, Dale / Goodall, Jane: Von Schimpansen und Menschen. Wir lieben und wir töten sie, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 308–346, zitiert nach: Kattmann, Ulrich: Ein Menschen-Affen-Schicksal, in: Unterricht Biologie 208, 19. Jg., Oktober 1995.

439

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Tierische Intelligenz

um die Tiere zur Lösung irgendwelcher Aufgaben zu bewegen. Ohne diese Rückbindung an den Trieb läßt sich das Tier erst gar nicht in eine Experimentalsituation bringen. Man kann dem Tier nicht unabhängig davon Zwecke und Ziele setzen, d.h. mit ihm nicht beliebig experi­ mentieren. Das Tier kennt kein theoretisches Verhalten, d.h. es hat kein vom unmittelbaren Triebinteresse unabhängiges Verhältnis zu den Dingen. Der Trieb bestimmt noch die Wahrnehmung des Tieres, für einen satten Löwen ist eine Gazelle nicht vorhanden, wohl aber für einen hungrigen. Gehlen sieht gerade in dieser mangelnden Fähigkeit, sich vom Trieb zu distanzieren, den Grund für das Versagen der Tiere in bestimmten Experimentalsituationen. Es ist ihnen dort, wo eine situationsangemessene Problemlösung es erfordern würde, nicht möglich, den unmittelbaren Triebimpulsen entgegenzuhandeln.440 Ad 2: Für die Aufgaben, vor die die Tiere in den Experimenten gestellt werden, gilt im wahrsten Sinne des Wortes: »Aus den Augen, aus dem Sinn«, eine Loslösung von der konkreten Situation ist nicht möglich. Tiere müssen die zu lösenden Probleme unmetaphorisch vor Augen haben. Die Lösung einer Aufgabe, die eine »Überlegung« nötig macht, ist nur möglich, wenn das Problem wahrnehmungs­ mäßig gegeben ist. Das Tier muß die Aufgabe vor sich sehen – ein abstrahierendes Denken ist ihm verschlossen. Auch Werkzeuge werden nur als solche wahrgenommen, wenn ein gemeinsamer Blick auf Mittel und Ziel gegeben ist. Selbst der klügste der Köhlerschen Schimpansen: Sultan, hat die Aufgabe des Ineinandersteckens von Schilfrohren nur dann zustande gebracht, wenn die Rohre schon in der richtigen Weise hinter einander gelegen sind, nicht aber etwa, wenn dieselben Rohre quer zueinander lagen.441 Hier wird eine Art optische Orientiertheit sichtbar als Voraussetzung, aber auch als Grenze der tierischen Möglichkeiten. In diesem Sinn hat schon Kant bemerkt, daß der Ochse durch die Stalltüre findet, ohne einen Begriff von ihr zu haben.442 Im Gegensatz dazu formuliert der Mensch Probleme verbal und hält sie in dieser sprachlichen Form gegenwärtig. Diese beiden Momente: Situationsgebundenheit und Triebbe­ dingtheit, zeigen uns das Tier als situatives Augenblickswesen, das Vgl. Gehlen, Der Mensch, S. 149 ff. Vgl. Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, S. 94. 442 Vgl. Kant, Immanuel: Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren, in: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Kant´s gesammelte Schrif­ ten, Berlin 1904 ff., Bd. 2, S. 59.

440 441

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ganz in seiner jeweiligen Gegenwart aufgeht und die Dreidimensiona­ lität der Zeit, d.h. ihre Strukturierung in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, nicht kennt. Nietzsche hat diesbezüglich vom »Pflock des Augenblicks« gesprochen, an den das Tier angebunden sei, und er sagt im Blick auf die ganz auf das Jetzt beschränkte tierische Existenz: »So lebt das Tier unhistorisch: denn es geht auf in der Gegenwart, wie eine Zahl, ohne daß ein wunderlicher Bruch übrigbleibt«.443 Ad 3: Im Blick auf die spezifischen Leistungen der Tiere, die ihnen zu situativen Problemlösungen verhelfen, hat Helmuth Plessner auf den triebgebundenen und artspezifischen Charakter der tierischen Intelligenz verwiesen und in diesem Zusammenhang festgestellt: »Intelligenz bleibt eine biologische Kategorie.«444 In eben diesem Sinn wurde schon bei Scheler die dem Tier zugesprochene praktische Intelligenz sehr deutlich vom Geist unterschieden.445 Daß tierische Intelligenz artspezifisch ist, heißt, daß z.B. Schimpansen und Ratten über eine andere Art der Intelligenz verfügen, soferne diese auf die Lösung von Aufgaben bezogen ist, die für den Lebensraum (die Umwelten) der Tiere charakteristisch sind. Schimpansen bei Köhler sind vor allem optisch orientiert im Unterschied etwa zu Hunden, die olfaktorisch orientiert sind und oft nur wenig sehen. Auch solche Tierformen, die mit dem Menschen nicht verwandt sind, zeigen Intelligenz, wir finden bei den einzelnen Arten unterschiedli­ che Intelligenzformen. So etwa zeigen »baumlebende Anthropoiden eine ausgesprochene Gabe von Verbindungsmöglichkeiten zwischen Stäben und ähnlichem«,446 ihrer Umwelt, einer Welt aus Zweigen entsprechend, während Ratten wiederum der Instinktrichtung ihrer spezifischen Umwelt gemäß »sich leichter in komplizierten Labyrin­ then zurechtfinden als in einfacheren«.447 Es ist unzweifelhaft, daß sich bei den verschiedensten Tierarten Intelligenzleistungen nachweisen lassen. Intelligenz zeigt sich als eine Art des Verhaltens, das zwar für Korrektur durch Erfahrung offen ist, Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: Schlechta, Karl (Hg.): Werke in drei Bänden, München 81977, Bd. 1, S. 211. 444 Plessner, Helmuth: Mensch und Tier, in: Dux, Günter / Marquard, Odo / Ströker, Elisabeth (Hrsg.): Gesammelte Schriften VIII. Conditio humana, Frankfurt am Main 1983, S. 55. 445 Vgl. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 36 ff. 446 Plessner, Mensch und Tier, S. 56. 447 Ebd. 443

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sich aber eben auf die jeweils spezifische Umwelt des Tieres erstreckt, in deren Konstellationen sie Einblick gewährt und sich gerade darin als begrenzt erweist. So z.B. haben Bienen eigene Tänze (Rund- und Schwänzeltanz), mit denen sie in den Stock zurückgekehrt den Artge­ nossen Informationen über eine Trachtquelle geben können. Wenn nun aber Bienen vor Aufgaben gestellt werden, die in der Natur für sie nicht vorkommen, die sie sonst im Rahmen ihres Artvollzuges nicht benötigen, dann versagen sie hinsichtlich der Lösungen – sie haben z.B. keine Zeichen für hoch, tief etc., weil solche Angaben für sie nicht bedeutend sind. Der Einblick, den Tiere in ihre jeweilige Situation haben, hat keinen abstrakt logischen Charakter, erst beim Menschen hat Einsicht die Richtung auf einen sachlichen Zusammenhang, die Tiere scheitern »einfach an der Unfähigkeit, einen Sachverhalt als solchen zu begreifen, ja auch nur wahrzunehmen.«448

Der Mensch-Tier-Vergleich philosophisch: Tier und Nichttier Philosophisch gesehen erscheint der Versuch, die Überlegenheit des Menschen über das Tier durch einen empirischen Vergleich mit demselben erweisen zu wollen, als Irrweg. Daß der Mensch dem Tier grundsätzlich überlegen ist, dieser Beweis ist nur durch das Denken, d.h. auf dem Weg einer Selbstreflexion möglich, durch die der Mensch sich seiner selbst als eines Wesens versichert, das zu sich Ich sagen kann und sich vom Tier zu unterscheiden vermag. In diesem Sinne muß die Ichhaftigkeit des Menschen als Grundlage seiner Wesensbestimmung angesehen werden, eine Einsicht, die Kant an den Anfang seiner Anthropologie gestellt hat: »Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andere auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person [...] d.i. ein von Sachen [...] durch Rang und Würde ganz unterschiedenes Wesen, selbst wenn er das Ich noch nicht sprechen kann, weil er es doch in Gedanken hat: wie es alle Sprachen, wenn sie in der ersten Person reden, doch denken müssen, ob sie zwar diese Ichheit

448

Gehlen, Der Mensch, S. 153.

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nicht durch ein besonderes Wort ausdrücken. Denn dieses Vermögen (nämlich zu denken) ist der Verstand.«449 Der entscheidende Punkt, auf den Kant hinweist, ist dabei die Aufeinanderbezogenheit von menschlicher Subjektivität, Personali­ tät und Würde. Wie wichtig diese Zusammenhänge sind, zeigt sich gerade in den gegenwärtigen bioethischen Diskussionen mit beson­ derer Deutlichkeit. In ihrem Rahmen wird immer wieder versucht, aus dem Motiv heraus, auch Tieren eine Würde zuzuschreiben, den Unterschied von Mensch und Tier einzuebnen, und wir können spätestens seit Peter Singer nicht mehr im unklaren darüber sein, welchen Effekt diese Einebnung im Umkehrschluß hat: den Verlust der menschlichen Würde. Der vom »Ich denke« her verstandene Mensch kann freilich dem Tier nicht einfach gegenübergestellt werden, die Verhältnisbe­ stimmung von Mensch und Tier kann nur dialektisch erfolgen. Hegel schreibt dazu in seinen Vorlesungen über die Ästhetik: »Der Mensch ist Thier, doch selbst in seinen thierischen Funktionen bleibt er nicht als in einem Ansich stehen, wie das Thier, sondern wird ihrer bewußt, erkennt sie und erhebt sie, wie z.B. den Prozeß der Verdauung, zu selbstbewußter Wissenschaft. Dadurch löst der Mensch die Schranke seiner ansichseyenden Unmittelbarkeit auf, so daß er deshalb gerade, weil er weiß, daß er Thier ist, aufhört Thier zu seyn, und sich das Wissen seiner als Geist giebt.«450 Das Zitat beginnt mit dem Satz: Der Mensch ist Tier ..., daß der Mensch ein Tier ist, ist in der Philosophie nie ernsthaft bezweifelt und oft genug deutlich ausgesprochen worden. Freilich, Hegel bleibt bei dem Satz: Der Mensch ist Tier, nicht stehen, wenn wir das Gesagte etwas verkürzt lesen, so heißt es weiter: der Mensch ist Tier, aber weil er weiß, daß er Tier ist, ist er kein Tier – und in weiterer Zuspitzung: der Mensch ist Tier und Nichttier – er ist das sich als Tier wissende Nichttier. Der Begriff des Menschen ist in dialektischer Weise als Einheit von zwei einander entgegengesetzten Momenten ausgesagt. Die Wendung: der Mensch ist Tier und Nichttier, darf also nicht 449 Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Königlich Preußi­ sche Akademie der Wissenschaften (Hg.): Kant´s gesammelte Schriften, Berlin 1904 ff., Bd. 7, § 1, S. 127. 450 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Aesthetik, in: Glockner, Hermann (Hg.): Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, Stuttgart – Bad Cannstatt 1964 ff., Bd. 12, S. 120.

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so mißverstanden werden, als hätte dieses »und« den Sinn einer äußerlichen Zusammensetzung. Eine einfache Gegenüberstellung von Mensch und Tier, die den Charakter einer Auseinanderreißung hat (entweder – oder), ist auf der Grundlage der hegelschen Einsicht ebensowenig möglich wie ein aspekthaftes Abspannen der beiden widersprüchlichen Momente Tier und Nichttier (sowohl – als auch). Der Mensch ist als Tier Nichttier und als Nichttier Tier.451 »Es ist bei der Interpretation dieses Zitates wichtig, die Einheit des Menschen als eines sich als Tier wissenden Nichttieres im Auge zu behalten. Es geht nämlich hier nicht darum, daß der Mensch einerseits als Organismus ein Tier, andererseits und darüber hinaus auch noch Mensch und insofern kein Tier ist; vielmehr ist das Tier Mensch gerade und nur im Sichwissen als Tier kein Tier«.452 Die Beschränkung auf den einen Teil des Satzes: Der Mensch ist Tier, ist genauso falsch wie die Beschränkung auf den anderen Teil: Der Mensch ist Nichttier. Die spezifische Weise des menschlichen In-der-Welt-Seins ist nur in der Einheit beider Momente, die von einander abgetrennt und jeweils für sich genommen abstrakt bleiben, faßbar. Die in identer Differenz voneinander unterschiedenen und aufeinander bezogenen Momente Tier und Nichttier sind in ihrer Bezogenheit auf ein Ganzes, das ihrer Unterscheidung vorausliegt, nicht gleichwertig. Auch hier läßt sich dialektisches Denken am Beispiel einer Ellipse versinnbildlichen453: im Sinne des Wissens, welches das Moment Nichttier ermöglicht, ist dieses nicht bloß an dem, dem Moment Tier gegenüberliegenden Brennpunkt, sondern auch an der Peripherie der Ellipse anzuschrei­ ben, und insoferne im hegelschen Sinne »übergreifend« 454 (Identität der Identität und Nichtidentität455). Der Unterschied von Mensch und Tier wird bei Hegel in Ent­ sprechung zu den klassischen Wesensformeln des Menschen als das Sprache habende Tier (ζῷον λόγον ἔχον, Aristoteles) bzw. animal rationale durch das Wissen bezeichnet und kommt darin als ein Vgl. Heintel, Erich: Einführung in die Sprachphilosophie, Darmstadt 1975, S. 188. Heintel, Erich: Zum Begriff des Schönen in der Verhaltensforschung, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie, Bd. IV, Wien – Stuttgart 1971, S. 195. 453 Vgl. Heintel, Einführung in die Sprachphilosophie, S. 91 f. 454 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: System der Philosophie, in: Glockner, Her­ mann (Hg.): Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, Stuttgart – Bad Cannstatt 1964 ff., Bd. 8, § 32 Zusatz, S. 106. 455 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik, in: Glockner, Her­ mann (Hg.): Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, Stuttgart – Bad Cannstatt 1964 ff., Bd. 4, S. 525. 451

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grundsätzlicher und nicht bloß gradueller, d.h. ein Unterschied nicht der Quantität, sondern der Qualität in Sicht. Durch das Wissen gewinnt der Mensch eine gegenüber dem Tier gänzlich veränderte Weltstellung. Der Mensch tritt durch dieses Wissen zwar nicht aus der Natur heraus, aber er tritt der Natur gegenüber. Durch dieses Wissen verwandelt sich für ihn auch das, was an ihm selbst Natur ist und bleibt. Unter Voraussetzung dieses Wissens ist es dem Menschen möglich, in natürliche Geschehensabläufe, die er, wie etwa die von Hegel angesprochene Verdauung, mit bestimmten Tieren gemeinsam hat, steuernd einzugreifen. Eine solche Manipulation auch seiner eigenen Natur wäre ohne die entsprechende Einsicht in ihre Funkti­ onszusammenhänge, also dort unmöglich, wo das, was von der Natur her zum Daseinsvollzug gehört, wohl an ihm, nicht aber auch für ihn wäre. Die Verdauung, die Tiere an sich haben, ist im Sinne dieses Wissens nicht auch für sie, sondern nur für uns. Wir können uns den Stellenwert des Wissens und die durch das Wissen verwandelte Weltstellung des Menschen am Beispiel der optischen Täuschung vergegenwärtigen. Gebunden an die physiolo­ gischen Gegebenheiten des menschlichen Sehens, d.h. den Bau und die Funktionsweise des Auges, ist diese für das menschliche Auge unaufhebbar. Wir kennen entsprechende Beispiele aus der Psycholo­ gie456: Ein Kreis umgeben von kleinen Kreisen erscheint größer als ein Kreis umgeben von größeren Kreisen, und auch wenn wir wissen, daß die beiden Kreise gleich groß sind, erscheinen sie uns verschieden. Das Sehen unterliegt der optischen Täuschung, ohne sie aufheben zu können. Wir wüßten freilich gar nichts von einer optischen Täu­ schung, wenn wir sie nicht immer schon durchschaut hätten, sondern unmittelbar von ihr bestimmt wären. In eben diesem Sinn finden wir auch bei Hegel den Zusammenhang von Unwissenheit und Schranke ausgesprochen: »[N]ur der Unwissende ist beschränkt; denn er weiß nicht von seiner Schranke; [...] die gewußte Schranke dagegen ist keine Schranke [...;] von seiner Schranke wissen, heißt daher, von seiner Unbeschränktheit wissen.«457 Die optische Täuschung veranschaulicht uns darin exemplarisch die Leistung des Wissens, es hebt die Unmittelbarkeit in der Bestim­ Vgl. Rohracher, Hubert: Einführung in die Psychologie, Wien 131988, S. 215. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: System der Philosophie, in: Glockner, Hermann (Hg.): Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, Stuttgart – Bad Cann­ statt 1964 ff., Bd. 10, S. 44. 456 457

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mung durch die organischen Voraussetzungen auf. Denkend über­ steigen wir die Grenzen unserer sinnlichen Ausstattung. Von einer Veranlagung des Augenwesens Mensch, »auf überoptimale Attrappen hereinzufallen«,458 kann daher nur hinsichtlich des Auges, d.h. in der Reduktion auf den physiologischen Aspekt, gesprochen werden, also nur dann, wenn der Mensch im Sinne Hegels bloß als Tier und nicht als Tier und Nichttier in Rechnung gestellt wird. Das Gesagte gilt mutatis mutandis für die Bestimmung durch die »angeborenen auslösenden Schemata«459 bei Lorenz. Selbst dann, wenn sich für uns mit physiognomischen Eigenheiten eines Menschen in gesetzmäßi­ ger Weise ästhetische und ethische Wertungen verbinden sollten, ist unser Verhalten ihm gegenüber dadurch in keiner Weise determiniert. Die mangelnde Differenzierung zwischen beiden Aspekten wird bei Lorenz in terminologischen Inkonsequenzen sichtbar, so wenn er dem angeborenen Schema eine »fast [!] völlige [!] ›Unbelehrbarkeit‹ [!]«460 durch die Erfahrung zuschreibt. Halten wir fest: Das Wissen markiert eine prinzipielle Differenz von Mensch und Tier, nach der sich die Existenz des sich als Tier wissenden Nichttieres von tierischem Daseinsvollzug generell und grundsätzlich unterscheidet. Dieses Wissen begründet die Sonder­ stellung des Menschen in der Natur. »Was immer der Mensch als Mensch ist [...,] sprengt den Begriff bloß unmittelbar sich vollziehen­ den organischen Lebens und zeigt, daß es bei dem animal rationale in bezug auf das Wort ›rationale‹ um ein Prädikat geht, das in seiner wesenserschließenden Bedeutung biologischen Methoden überhaupt nicht zugänglich ist.«461 In diesem Sinn finden wir bei Kattmann dem Versuch, Mensch und Tier prinzipiell zu unterscheiden, den Satz gegenübergestellt: »Chemisch unterscheidet sich der Mensch nicht wesentlich von ande­ ren Organismen«.462 Die Behauptung eines Wesensunterschiedes ist zwar ein durchgängiges Motiv europäischer Geistesgeschichte, wird auf dem Boden moderner Wissenschaft aber zur Illusion: »Molekular­ Lötsch/Weihs, Fressen und Gefressen Werden, S. 32. Lorenz, Domestikation, S. 23. 460 Lorenz, Konrad: Die angeborenen Formen möglicher Erfahrung, in: Deutsche Gesellschaft für Tierpsychologie (Hg.): Zeitschrift für Tierpsychologie, Berlin 1943, Bd. V, Heft 2, S. 280. 461 Heintel, Zum Begriff des Schönen in der Verhaltensforschung, S. 198. 462 Kattmann, Ulrich: Was ist der Mensch?, in: Unterricht Biologie 240, 22. Jg., Heft Dezember, 1998, S. 4. 458

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biologische Vergleiche belegen die eingebildete Kluft nicht«.463 Die Art der Argumentation ist dabei aufschlußreich: weil er chemisch nicht nachzuweisen ist, deshalb gibt es den Unterschied zwischen Mensch und Tier nicht, weil sie molekularbiologisch nicht in Erschei­ nung tritt, ist die behauptete Kluft eine bloß eingebildete. Ist solcher­ art der Unterschied durch die Reduktion auf die Vergleichsebene der Chemie oder der Molekularbiologie hinweginterpretiert, braucht nur noch erklärt zu werden, wie es überhaupt zu einer solchen Annahme kommt. Dies geschieht psychologisierend: wir empfinden die tieri­ schen Eigenschaften als abwertend und möchten deshalb nichts mit den Tieren gemeinsam haben, wir genieren uns für diese unsere tierische Verwandtschaft und leugnen sie, indem wir behaupten, zwischen Mensch und Tier liege ein unüberbrückbarer Graben. Der vermeintlichen Kluft entspricht keine Realität, sie ist eine Erfindung unserer Eitelkeit. Wer aber sagt, daß der Unterschied, um als solcher zu bestehen, auf chemisch-molekularbiologischer Vergleichsebene auffindbar sein muß, hat sich die Behauptung eines solchen je auf Chemie und Mole­ kularbiologie bezogen? Wenn man andere Ebenen zugesteht, sagen die oben getroffenen Feststellungen nicht mehr als: der Unterschied ist auf dieser Ebene nicht zu finden, oder man verabsolutiert diese Ebene als die einzige Wirklichkeit, auf die alles zurückführbar sein muß, womit alles weitere zum Epiphänomen wird. Wenn also die Biologie, am Beispiel Kattmanns gesprochen, die Frage: »Was ist der Mensch?«464 stellt, dann sieht diese Frage nur aus wie eine Wesensfrage, deshalb, weil die Legitimität der biologischen Frage: »Was ist der Mensch?« an dem alles entscheidenden Zusatz hängt: »in biologischer Hinsicht« – und dann noch einmal daran, ob wir diese Hinsicht verabsolutieren oder darüber hinaus auch andere Hinsichten anerkennen. Der Zusatz »in biologischer Hinsicht« bringt die für das Vorgehen der Wissenschaften charakteristische, ja unver­ meidliche thematische und methodische Einschränkung zum Aus­ druck. Der Biologie ist in der Orientierung am Allgemeinen des Orga­ nismus gerade das Tier und Mensch Gemeinsame Gegenstand. Ihr vermögen in der vergleichenden Beurteilung von Fähigkeiten und Leistungsmöglichkeiten des tierischen und menschlichen Organis­ 463 464

Kattmann, Was ist der Mensch?, S. 5. Kattmann, Was ist der Mensch?, S. 4–13.

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mus daher immer nur graduelle Differenzen zum Ergebnis zu werden, der prinzipielle Unterschied von Mensch und Tier kommt über die für das eigene methodische Vorgehen konstitutive Gleichsetzung hinaus nicht in Sicht. In der Biologie kann von einem Unterschied von Mensch und Tier in der oben angegebenen Weise daher gar nicht gesprochen werden, weil »ein dem Menschen komplementär gegen­ überzustellendes ›Tierreich‹ gar nicht existiert. Es gibt nur Arten, Mil­ lionen Realisierungsformen eines durchgehenden Prinzips, dessen komplizierteste, leistungsfähigste, erstaunlichste und wenn man will bewunderungswürdigste Ausformung sicherlich der Mensch ist.«465 Im Sinne bloß gradueller Differenzen sind nicht einmal Mensch und Tier, sondern ist der Mensch nur mit bestimmten Tieren zu verglei­ chen: »Man kann zwar sehr wohl bestimmte Aussagen über den Menschen machen, solche über ›das Tier‹ sind grundsätzlich sinnlos, wir pflegen in solchen Fällen mit der Zwischenfrage zu unterbrechen, ob der Redner eine Amoebe oder einen Schimpansen meine.«466 In einer Zeit, in der man wesentliche Aufschlüsse über den Men­ schen aus der Erforschung seiner tierischen Vorformen und Vorfahren erwartet, vermag man in der Sonderstellung des Menschen nur die Überheblichkeit eines Tieres über alle anderen zu erblicken. So ist die Rede von ihr obsolet geworden, obgleich eine solche auch im Rahmen der Biologie kaum geleugnet werden kann. Schon der Umstand, daß »Homo sapiens [...] allen anderen Lebewesen viel mehr überlegen [ist,] als selektionstheoretisch nötig erscheint«, läßt das »Wie« und »Warum« seiner Entstehung »in evolutionstheoretischer Sicht [...] rätselhaft«467 sein und zeigt, daß der Mensch »für sich betrachtet auch in biologischer Sicht etwas ganz Besonderes«468 ist. Die dem Menschen solcherart zugestandene Sonderstellung ist freilich auf dem Boden der methodischen Abstraktion einer wissenschaftlich biologischen Fragestellung bloß negativ zur Formulierung zu bringen. Gemessen an der Vollkommenheit der Natur wird in biologischer Perspektive das animal rationale zum perversen Tier. Der nicht ohne weiteres in die Reihe der lebenden Geschöpfe einzuordnende Mensch 465 Koenig, Otto: Verhaltensforschung in Österreich. Konrad Lorenz 80 Jahre, Wien – Heidelberg 1983, S. 79. 466 Lorenz, Die angeborenen Formen möglicher Erfahrung, S. 368. 467 Schaller, Friedrich: Der Mensch einmal als Naturkatastrophe betrachtet, in: Schriften des Vereines zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien, Bd. 128, Wien 1991, S. 55. 468 Schaller, Der Mensch einmal als Naturkatastrophe betrachtet, S. 57.

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erscheint als »Irrläufer der Evolution«,469 an dem vor allem seine »totale Verlassenheit« und »radikale Fremdheit«470 in der Natur auffallen, oder im Blick auf das bisher nicht dagewesene Ausmaß der durch ihn hervorgerufenen Naturzerstörung als »Naturkatastro­ phe«471. So wird aus dem »König der Natur« des biblischen Schöp­ fungsberichtes in evolutionstheoretischer Sicht ein »Zigeuner am Rande des Universums«,472 ein evolutionärer Versuch, von dem sich mehr und mehr herausstellt, daß er zu mißlingen droht. Als einer »Spielform der natürlichen Evolution [...] hat sich die Natur mit uns offensichtlich selber in Frage gestellt«.473 Lorenz, der im Anschluß an Gehlen Domestikationserscheinun­ gen als Voraussetzung der Menschwerdung begreift,474 ist in diesem Zusammenhang ebenfalls zu erwähnen, auch wenn er die sich mit Notwendigkeit ergebenden nihilistischen Konsequenzen, nicht nur einzelne von der Verhaustierung besonders betroffene sozialparasi­ täre Minusvarianten, sondern den Menschen als Menschen der gefor­ derten Ausmerzung zu überantworten nicht gezogen hat.475 In streng darwinistischer Sicht müßte die Selbstvernichtung des Menschen als ein dem Aussterben einer im Kampf ums Dasein unterlegenen Tierart vergleichbarer natürlicher Vorgang erscheinen, gegen den keinerlei Einwände geltend zu machen sind. Müßte der konsequente Darwi­ nist nicht selbst mit der Auslöschung dessen, was wir heute Natur nennen, liebäugeln in der Hoffnung, daß die beiden Konstrukteure des Artenwandels ihr großes Werk – von vorne beginnend – besser machen würden? In all diesen Bestimmungen ist der Begriff des Menschen im Sinne eines »biologischen Nihilismus«476 verfehlt. Ein solcher Nihi­ lismus ist in der Folge des Versuches einer biologischen Sinnbestim­ mung nur in der Preisgabe der methodischen Konsequenz zu vermei­ Vgl. Koestler, Arthur: Der Mensch – Irrläufer der Evolution. Die Kluft zwischen Denken und Handeln. Eine Anatomie menschlicher Vernunft und Unvernunft, übers. von Jürgen Abel, Frankfurt am Main 1993. 470 Monod, Jacques: Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie, München 1974, S. 151. 471 Schaller, Der Mensch einmal als Naturkatastrophe betrachtet, S. 55. 472 Monod, Zufall und Notwendigkeit, S. 151. 473 Schaller, Der Mensch einmal als Naturkatastrophe betrachtet, S. 69. 474 Vgl. Lorenz, Die angeborenen Formen möglicher Erfahrung, S. 362. 475 Vgl. Bischof, Gescheiter als alle die Laffen, S. 108. 476 Vgl. Heintel, Erich: Grundriß der Dialektik. Ein Beitrag zu ihrer fundamentalphi­ losophischen Bedeutung, 2 Bde., Darmstadt 1984, Bd. II, S. 236. 469

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den. »Wenn man [...,] wie es heute nicht selten geschieht, von der Biologie eine letzte Aufklärung über den Menschen erwartet, so bleibt nichts übrig, als auch die Frage nach dem Sinn des Lebens an ihr zu orientieren. Dann steht man aber vor der Wahl, entweder folgerichtig die Möglichkeit einer Sinngebung von vornherein zu leugnen oder unfolgerichtig in das biologische Geschehen [...] offen oder versteckt Wertgesichtspunkte hineinzutragen [...] Wer das letztere tut, denkt aber gerade nicht mehr biologisch«.477 Sprachgewaltig und anschaulich hat Nietzsche die Unmittelbar­ keit tierischer Existenz und das bewußte Welthaben des Menschen gegenübergestellt: »Betrachte die Herde, die an dir vorüberweidet: sie weiß nicht, was Gestern, was Heute ist, springt umher, frißt, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks, und deshalb weder schwermütig noch überdrüssig. Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein, weil er seines Menschentums sich vor dem Tiere brüstet und doch nach seinem Glücke eifersüchtig hinblickt – denn das will er allein, gleich dem Tiere weder überdrüssig noch unter Schmerzen leben, und will es doch vergebens, weil er es nicht will wie das Tier. Der Mensch fragt wohl einmal das Tier: warum redest du mir nicht von deinem Glücke und siehst mich nur an? Das Tier will auch antworten und sagen: das kommt daher, daß ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergaß es aber auch schon diese Antwort und schwieg: so daß der Mensch sich darob verwunderte.«478 Damit ist auf einen weiteren Aspekt der über das Wissen vermit­ telten Sonderstellung der menschlichen Existenz hingewiesen: der Sehnsucht des Menschen nach der Unmittelbarkeit tierischen Glücks. Der Mensch schielt nach dem Glück des Tieres, doch diese Sehnsucht ist vergebens – vom Wissen her gibt es keine Rückkehr in die – wie Nietzsche an anderer Stelle sagt – »Unschuld des Werdens«.479 Für ihn gibt es kein Zurück zum Tier. Er ist entweder Mensch oder in der Aufgabe seines Menschentums – auch das ist möglich – etwas weit Schlimmeres als jedes Tier. Der Mensch kann nicht zum Tier, er kann Reininger, Robert: Wertphilosophie und Ethik. Die Frage nach dem Sinn des Lebens als Grundlage einer Wertordnung, Wien 1947, S. 73. 478 Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, S. 211. 479 Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philo­ sophiert, in: Schlechta, Karl (Hg.): Werke in drei Bänden, München 81977, Bd. 2, S. 977. 477

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allenfalls zum Untier werden. Der Mensch befindet sich der tierischen Unmittelbarkeit gegenüber gleich in einer zweifachen Verlegenheit – mit dem Wissen ist das Glück nicht möglich – ohne das Wissen ist das Glück nicht wirklich. Der Mensch will dieses Glück nicht wie das Tier, was für den Menschen wirklich sein soll, muß von ihm auch gewußt werden – ein Glück, von dem er nichts wüßte, wäre für den Menschen kein Glück. Auch der biblische Mythos vom Sündenfall stellt das Wissen ins Zentrum der Menschwerdung. Es ist der Baum der Erkenntnis, von dem verbotenerweise gegessen wird und mit dieser Erkenntnis verbindet sich für den Menschen der Verlust der Unmittelbarkeit und des durch sie repräsentierten Glücks – die Vertreibung aus dem Para­ dies. Das Bild von der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies ist auch insoferne berechtigt, als sich ja die Menschwerdung, also das Heraustreten aus der naturseligen Geborgenheit des Tieres für den Menschen mit einer Reihe von unangenehmen Begleiterscheinungen verbindet. Mit der Selbstbewußtwerdung des Menschen wird der selbstverständliche Einklang mit der Natur verloren und Phänomene, wie Sorge, Scham, Arbeit und das Bewußtsein vom eigenen Tod gehören fortan zum unabweislichen Schicksal des Menschen. Auch am Beispiel des Todes ist demgemäß die Bedeutung des die besondere Weltstellung des Menschen begründenden Wissens zu zeigen: Alles Lebendige muß sterben. Die Bezogenheit auf den Tod liegt schon im Begriff des Lebens – Leben und Tod sind nicht ohne einander zu bestimmen – und so kann man durchaus sagen, daß der Mensch die Endlichkeit seiner Existenz, das Sterbenmüssen, mit den Tieren teilt, ja mit allem, was lebt, gemeinsam hat.480 Freilich, nur der Mensch weiß davon, und dieses Wissen ändert alles. Er nimmt diesen Tod als Ende seines Lebens bewußt vorweg und denkt damit notwendig über ihn hinaus, er fragt nach dem Sinn des Lebens angesichts des Todes, er fragt nach der Möglichkeit eines Lebens über den Tod hinaus. Dieses Wissen und das durch das Wissen notwendig gewordene Fragen bleiben nicht folgenlos: Nur der Mensch kennt Bestattungsriten, Grabbeigaben etc., die eben dieses Wissen um den Tod repräsentieren, so unterschiedlich sie im einzelnen sind. Bei manchen paläontologischen Knochenfunden kann die Identifizierung derselben – ob es sich um menschliche oder nichtmenschliche Kno­ chen handelt – gar nicht aus den Knochen selbst herausgelesen 480

Vgl. Plessner, Der Mensch als Lebewesen, S. 327.

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Der Mensch-Tier-Vergleich philosophisch: Tier und Nichttier

werden, sondern ist erst dann und dadurch möglich, daß etwa im Umfeld dieser Knochen Kulturreste gefunden werden: Feuerspuren, Steinwerkzeuge, Grabbeigaben. Der Besitz von Kultureigenschaften ist jedenfalls auch in dieser Hinsicht konstitutiv für den Unterschied von Mensch und Tier.481 Das Tier verendet, der Mensch dagegen wird, und das verbindet sich mit dem Wissen um den Tod und der damit möglichen und wirklichen Auseinandersetzung mit ihm, bestattet, in welcher im einzelnen dann doch sehr unterschiedlichen Form auch immer. Erich Fried hat in einem seiner Warngedichte482 das Wissen um den Tod mit überraschender Blickwendung ins Zentrum einer Unterscheidung von Mensch und Tier gestellt. Ein Hund der stirbt und der weiß daß er stirbt wie ein Hund und der sagen kann daß er weiß daß er stirbt wie ein Hund ist ein Mensch

Hier werden auch die Konsequenzen deutlich, die zu ziehen wären, wenn den Tieren tatsächlich all das zukommen würde, was manche Tierfreunde ihnen zuschreiben: Selbstbewußtsein, Freiheit, Würde usw. In der Konsequenz dieser Zuschreibung müßten Tiere mit allen Rechten und Pflichten wie Menschen behandelt werden, ein ebenso widersinniges wie unmögliches Unterfangen – weil das Tier keiner anderen Gesetzlichkeit zu unterstellen ist als der, der es ohnehin schon untersteht – der Naturgesetzlichkeit, im Sinne der dem Tier jeweils zukommenden Artgesetzlichkeit.

Vgl. Gehlen, Arnold: Über Kultur, Natur und Natürlichkeit, in: Funke, Gerhard (Hg.): Konkrete Vernunft. Festschrift für Erich Rothacker, Bonn 1958, S. 113. 482 Fried, Erich: Gedichte I, in: Kaukoreit, Volker / Wagenbach, Klaus (Hrsg.): Gesam­ melte Werke, Berlin 1993, S. 337. 481

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Fragmentarische Beiträge zu einem Begriff des Menschen

Humanität und Menschenwürde Wer sich heute mit Fragen der Humanität und Menschenwürde auseinandersetzt, kann über eine Reihe von Widersprüchen, die sich mit diesem Thema verbinden, nicht hinwegsehen. Ich möchte im Anschluß an einschlägige Ausführungen von Hans Wagner drei solcher Widersprüche, die bei aller Verschiedenheit aufeinander ver­ weisen, unterscheiden: 1. 2. 3.

den Widerspruch zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit von Humanität und Menschenwürde den Widerspruch zwischen Beschwörung und Verwirklichung von Humanität und Menschenwürde den Widerspruch zwischen Bewährung und Begründung von Humanität und Menschenwürde

Ad 1: Das 20. Jahrhundert hat erstmals in der Geschichte der Mensch­ heit die technischen, wirtschaftlichen und zivilisatorischen Voraus­ setzungen geschaffen, auf deren Grundlage eine weltweite Verwirk­ lichung von Humanität und Menschenwürde möglich erscheint. Und doch sehen wir die politische und soziale Wirklichkeit weit hinter den gegebenen Möglichkeiten zurückbleiben.483 Denn eben dieses Jahrhundert ist auch der Schauplatz von Kriegen, deren Ausmaße bisher ungekannt und ungeahnt waren, von Kriegen, welche die Dimension des Krieges zu der von Völkervernichtungsveranstaltun­ gen484 erweitert haben. Ad 2: Mögen auch Wirklichkeit und Möglichkeit weit ausein­ ander liegen, das Gerede von Humanität und Menschenwürde hat Vgl. Wagner, Hans: Die Würde des Menschen, Würzburg 1992, S. 36 ff. Vgl. Liebrucks, Bruno: Über den logischen Ort des Geldes, in: Erkenntnis und Dialektik. Zur Einführung in eine Philosophie von der Sprache her. Aufsätze aus den Jahren 1949 – 1971, Den Haag 1972, S. 272 f. 483

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Fragmentarische Beiträge zu einem Begriff des Menschen

unzweifelhaft Hochsaison. In keiner der Sonntagsreden aus Wissen­ schaft, Kultur und Politik fehlt ein entsprechendes Bekenntnis, aller­ orts werden Humanität und Menschenwürde beschworen. Das Wort »menschenverachtend« hat sich geradezu zu einem Lieblingsbegriff der Tagespresse in der Beurteilung von allem und jedem entwickelt. Doch sind die großen Lobredner der Humanität nicht auch an ihren Taten zu erkennen, den pathetischen Beschwörungen folgt die Pra­ xis keineswegs mit gleichem Enthusiasmus, mitunter entsteht der Eindruck, als würden sich Bekenntnis und Verwirklichung geradezu verkehrt proportional zueinander verhalten. Ad 3: Angesichts der ersten beiden Widersprüche dürfen all jene nicht vergessen werden, die nicht marktschreierisch an ihrer Beschwörung, sondern weniger öffentlichkeitswirksam an ihrer Ver­ wirklichung arbeiten, Menschen also, denen Humanität und Men­ schenwürde ein alltägliches Anliegen und eine selbstverständliche Übung ist. Aber selbst dort, wo Humanität und Menschenwürde das Handeln des einzelnen bestimmen, besteht ein Widerspruch zwi­ schen der Selbstverständlichkeit ihrer Bewährung und dem Unver­ mögen ihrer Begründung. Nicht bloß den lauten, sondern auch den lauteren Lobredner von Humanität und Menschenwürde werden wir mitunter in der Situation sehen, daß er in der Berufung auf diese Prinzipien nur wenig und kaum Ausreichendes zu ihrer Begründung beizubringen weiß. Die genannten Widersprüche sind unterschiedlichen Problem­ feldern zuzuordnen und demgemäß sind auch die Instanzen, von denen ihre Aufhebung zu erwarten ist, verschieden. Ad 1: Der erste Widerspruch, der Widerspruch zwischen Mög­ lichkeit und Wirklichkeit von Humanität und Menschenwürde, ist nur politisch zu lösen, und auch das nur in einem übergreifenden Sinn, d.h. weltpolitisch. Das enthebt den einzelnen nicht von seiner Mitver­ antwortung oder möglichen Mitwirkung, zeigt aber auch deutlich die ihm gesetzten Grenzen. Ad 2: Der zweite Widerspruch, der Widerspruch zwischen Beschwörung und Verwirklichung, ist alleine durch den je einzelnen aufzuheben, nur der Handelnde selbst kann vermeiden, daß Theorie und Praxis in den, Humanität und Menschenwürde betreffenden Fragen auseinanderfallen, einzig wir selbst sind dafür verantwortlich, unseren schönen Reden, Vorsätzen und Ankündigungen auch die entsprechenden Taten folgen zu lassen.

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Humanität und Menschenwürde

Ad 3: Die Aufhebung des dritten Widerspruchs, des Wider­ spruchs zwischen Bewährung und Begründung, ist im spezifischen Sinn eine Aufgabe der Philosophie. Hans Wagner hat darauf hinge­ wiesen, daß weder die Wissenschaft noch der wissenschaftlich aufge­ klärte Zeitgeist diese Begründung zu leisten vermögen. Mehr noch: die von den Wissenschaften implizierten Menschenbilder widerspre­ chen einer solchen Begründung geradezu und stehen ihr in diesem Sinne hindernd im Wege.485 Und selbst diesem Befund gegenüber scheinen wir angesichts moderner Denker, wie etwa Peter Singer, ein Stück weiter fortgeschritten, es kann nicht mehr nur von Theorien, die die Menschenwürde nicht zu begründen vermögen die Rede sein, sondern von Theorien, die für einen menschenunwürdigen Umgang mit dem Menschen gute Gründe geltend machen. Dort aber, wo die Theorien, die man gegenwärtig vom Menschen hat, ins Gegenteil weisen, ist es wenig verwunderlich, daß die Rede von einer einmaligen menschlichen Würde verbal bleibt. Die wissen­ schaftlichen Theorien über den Menschen finden gewissermaßen ihren gemeinsamen Nenner darin, dem Menschen eine solche Einma­ ligkeit abzusprechen, indem sie seine Sonderstellung bestreiten und ihm entsprechende Überlegungen unter dem Stichwort Speziesismus zum Vorwurf machen. So finden die sonntagsrednerischen Lobprei­ sungen, Behauptungen und Forderungen der Menschenwürde keine Begründung darin, wie die Wissenschaft über den Menschen denkt, sie bleiben im negativen Sinn Theorie, gewissermaßen bloße Worte, die aufgrund eben dieses Zwiespalts keine Wirksamkeit haben. Die Berufung auf Humanität und Menschenwürde muß, so gesehen, als Beruhigungsstrategie angesichts auffälliger und unab­ weisbarer menschenunwürdiger Zustände begriffen werden. Deshalb ist hier Philosophie gefordert, weil sie uns den Anspruch der Menschenwürde nicht nur konkretisiert und präzisiert, sondern weil sie alleine es ist, die diesen Anspruch des Menschen auf men­ schenwürdige Behandlung auch begründen kann. Und eine solche Begründung ist nötig, weil dieser Anspruch durchaus nicht selbstver­ ständlich ist, sondern vielfach in Frage gestellt wird. Die Aufgabe der Begründung ist nicht geringzuschätzen. Es ist gerade auch in mora­ lischen Dingen ein großer Unterschied, ob wir einer eher diffusen Vorstellung folgen sollen, oder ob uns ein wohlbegründetes ethisches Prinzip vor Augen steht. 485

Vgl. Wagner, Die Würde des Menschen, S. 39 ff.

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Fragmentarische Beiträge zu einem Begriff des Menschen

Zum Begriff der Freiheit »Von Freiheit ist in verschiedensten Zusammenhängen die Rede. Philosophen sprechen von ihr, aber auch Physiker, Journalisten, Politiker, Strafrechtslehrer, Frauenrechtlerinnen, scheidungswillige Ehemänner, Rebellen und Anarchisten; die einen wollen sie haben, die anderen leugnen, einschränken, verteidigen, wiedergewinnen, wenn sie verloren, oder opfern, wenn sie zu beschwerlich scheint. Im Streit um die Freiheit, gleichgültig, ob er theoretisch oder praktisch geführt wurde, geriet manchmal die Frage in Vergessenheit, um welche Art von Freiheit es jeweils geht. Die Erfahrung zeigt, daß ein Leugner der ›Willensfreiheit‹ durchaus für ›politische Freiheit‹ zu kämpfen bereit sein kann, sie zeigt sogar, daß jemand gerade deshalb die eine leugnen zu müssen glaubt, weil er für die andere eintritt. Wer die Wil­ lensfreiheit für einen Aberglauben hält, kann immer noch die Freiheit von solchem Aberglauben für möglich und erstrebenswert halten. Der Kampf gegen bestimmte Freiheitsbehauptungen oder die Menschen, von denen sie vertreten werden, impliziert geradezu immer eine Freiheit, die dagegen zu behaupten und zu verteidigen ist. Es ist ein Kampf gegen den Einfluß von Thesen, die zu Motiven geworden sind, gegen den Einfluß anderer Menschen und für eine Unbeeinflußbarkeit durch bestimmte Meinungen und deren praktische Folgen.«486 Ausgehend von diesem Zitat halten wir für die folgenden Über­ legungen zweierlei fest: 1.

2.

Daß von Freiheit in den unterschiedlichsten Zusammenhängen die Rede ist und daß es, diesen verschiedenen Zusammenhängen entsprechend, verschiedene Ebenen von Freiheit zu unterschei­ den gilt, wenn wir im Streit um die Freiheit die Situation vermei­ den wollen, Freiheit in der einen Bedeutung zu leugnen, um sie in einer anderen zu verteidigen. Daß aller Streit um die Freiheit über den theoretischen Aspekt hinaus immer auch einen praktischen Aspekt impliziert. Es ist für unsere Praxis keineswegs gleichgültig, welche Theorie wir hinsichtlich des Freiheitsproblems vertreten, ob wir uns als frei Handelnde wissen oder nicht, ist für uns von unmittelbar praktischer Relevanz.

486 Arnold, Uwe: Überlegungen zum Verhältnis von Freiheit und Gesetz, in: Klein, Hans-Dieter / Oeser, Erhard (Hrsg.): Geschichte und System. Festschrift für Erich Heintel zum 60. Geburtstag, Wien – München 1972, S. 107.

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Zum Begriff der Freiheit

Im dritten Buch seiner Nikomachischen Ethik487 hat Aristoteles die erste bedeutsame Skizze eines philosophischen Handlungsbegriffs vorgelegt und dabei herausgestellt, daß der Begriff der Freiwilligkeit für den Sinn und das Verständnis von Handeln konstitutive Bedeu­ tung hat. Handlung und Freiheit verweisen aufeinander, durch den Begriff der Freiheit ist das, was wir Handeln nennen, von Prozessen und Geschehnissen anderer Art, z.B. von naturgesetzlichen Abläufen oder vom tierischen Verhalten unterschieden: Dem Handeln geht eine Überlegung (motivierende Reflexion) vorher, welche die Ziele betrifft, die es handelnd zu verwirklichen gilt, die Mittel, mit denen diese Ziele zu erreichen und die Folgen, die aus dem Erreichen der Ziele zu erwarten sind. Eine solche prüfende Überlegung setzt im Handlungsalltag vor­ aus, daß mir mehrere Möglichkeiten (Motive) zur Verfügung ste­ hen, zwischen denen ich mich zur Verwirklichung einer bestimmten Handlungsmöglichkeit entscheiden kann. Prinzipiell gesehen ist eine Entscheidung freilich auch dann noch gegeben, wenn ich nur eine Option habe, die zu bejahen oder zu verneinen ich mich entschei­ den kann. Die Situation, in der nur eine bestimmte Operation es mir erlaubt, am Leben zu bleiben, ist grundsätzlich gesehen eine Entscheidungssituation, wenn auch eine hinsichtlich der Entschei­ dungsmöglichkeiten sehr reduzierte. Eine solche Situation entspricht nicht unserer alltäglichen Praxis, wir kennzeichnen sie schon alleine dadurch als eine Extremsituation, als wir uns wünschen, daß wir nie in sie geraten mögen. Halten wir also fürs erste fest, daß man das Handeln deshalb als frei bezeichnen kann, weil es einsichtig motiviert ist. In dieser grund­ sätzlichen Bedeutung und Bestimmung ist Freiheit als ein Existentiale des Menschen, d.h. als Wesensmerkmal verstanden. Als ein solches ist Freiheit eine Qualität – nichts, was man quantifizieren könnte. Auf dieser Freiheitsebene gibt es keine Freiheitsgrade im Sinne eines mehr oder weniger Freiseins. Der Horizont von Möglichkeiten, die einem Menschen jeweils gegeben sind, kann weiter oder enger sein, das aber heißt nicht, daß sein Handeln einmal freier und dann wieder weniger frei ist. Es ist daher verfehlt, im Rahmen der sogenannten AnlageUmwelt-Diskussion, der Problematik, ob der Mensch in seinem 487 Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, übers. u. hrsg. von Olof Gigon, Mün­ chen 1972.

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Fragmentarische Beiträge zu einem Begriff des Menschen

Handeln mehr durch die genetischen Anlagen oder mehr durch die gesellschaftlichen Einflüsse bestimmt ist, nach der Freiheit zu fragen. Freiheit ist kein prozentueller Anteil am Handeln, sondern das konsti­ tutive Moment des Handelns; wo die einsichtig motivierte Entschei­ dung fehlt, können wir überhaupt nicht von Handeln sprechen. Wo man im Sinne dieses Streites nur noch über das Wieviel und Woher der Determination diskutiert, kann von Freiheit sinnvollerweise gar nicht die Rede sein.488 Das einsichtig motivierte und darin freie Handeln des Menschen ist auch vom instinktgeleiteten tierischen Verhalten zu unterscheiden. Ich bringe in Erinnerung, daß es sich beim Instinkt um einen angebo­ renen Verhaltensmechanismus handelt, welcher aufgrund geeigneter Auslöser aktualisiert wird. Gerade darin aber geht dem Instinktvoll­ zug ab, was für das menschliche Handeln fundamental ist, die ein­ sichtige Überlegung und die Entscheidung zwischen verschiedenen Alternativen. Ein Beispiel aus dem reichhaltigen Erfahrungsmaterial, das die Verhaltensforschung bei Nicolas Tinbergen, Konrad Lorenz und Irenäus Eibl-Eibesfeldt u. a. bereitgestellt hat, mag das erläutern: Ein Rotkehlchenmännchen489 verteidigt sein Revier immer dann, wenn ein anderes Männchen in dasselbe eindringt. Attrappenversu­ che haben gezeigt, daß das Vorhandensein eines roten Flecks im Revier genügt, damit das Tier sein Verteidigungsverhalten vollzieht, was deutlich macht, daß Instinkte wirksam werden, ohne Einsicht in die Funktion des Verhaltens, und damit ohne die vorgängige Möglichkeit, sich gegen den damit verfolgten Zweck zu entscheiden. Auch am Beispiel des Reagierens auf Gefahr läßt sich der Unter­ schied zwischen Handeln und tierischem Verhalten veranschaulichen. Beim Tier gibt es diesbezüglich ganz bestimmte Reiz-ReaktionsSchemata, die das Verhalten des Tieres im Falle des Auftretens einer Gefahr, also etwa beim Auftauchen eines Freßfeindes bestimmen. Das kann je nach Tierart verschieden, der Artgesetzlichkeit des Tieres gemäß, die Flucht sein, das Totstellen, der Angriff usw. Der Mensch, für den es keine von der Natur her vorgegebene Reaktionsweise gibt, kann auf eine Gefahr ganz verschieden reagieren, er kann die Gefahr zu vermeiden suchen, ihr also wenn möglich aus dem Wege gehen, er kann die Gefahr ignorieren, er kann angesichts der Gefahr die Flucht Vgl. Leonhard, Hans-Walter: Die Leugnung des Geistes. Eine pädagogische Streit­ schrift zur empirischen Psychologie, Bad Heilbrunn/OBB. 1989, S. 9. 489 Vgl. Eibl-Eibesfeldt, Irenäus: Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung. Ethologie, München 81999, S. 162. 488

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Zum Begriff der Freiheit

ergreifen, sich ihr aber auch stellen, ihr also mutig entgegengehen, und er kann, um ohne Anspruch auf Vollständigkeit noch ein Letztes zu nennen, die Gefahr aufsuchen, etwa im Verfolg gefährlicher Sport­ arten. Der Hinweis auf letztere macht deutlich, daß für ihn nicht einmal feststeht, was überhaupt Gefahr ist. Auch Wörter, mit denen der Mensch üblicherweise eine Gefahr anzeigt, wie: »Achtung«, »Gefahr«, »Hilfe« oder »Feuer« haben nicht den Charakter eines Auslösereizes: wenn im dritten Akt von Kleists »Das Käthchen von Heilbronn« der Nachtwächter mit dem dramatischen Ruf: »Feuer! Feuer! Feuer!«490 auftritt, fühlt sich keiner der Besucher des Burg­ theaters alarmiert oder auch nur beunruhigt. Ihre bestimmte Bedeu­ tung gewinnen solche Worte erst im situativen Zusammenhang, in dem sie ausgesprochen werden. Worin der Mensch eine Gefahr sieht, ist eine Sache der jeweiligen Situation und ihrer Interpretation, die deshalb auch Fehleinschätzungen kennt, man kann eine gefährliche Situation verkennen und für einen Spaß halten, und einen Spaß für eine gefährliche Situation, beides mit unter Umständen fatalen Kon­ sequenzen. Das Entscheidende ist dabei, daß es für den Menschen kein angeborenes, in der Artgesetzlichkeit vorprogrammiertes Verhalten gibt, das durch ganz bestimmte Reize ausgelöst, ihn zu ganz bestimm­ ten Reaktionen veranlaßt. Das Gesagte macht deutlich, daß es sich beim Begriff »Instinkthandlung«,491 der in der Biologie, nicht zuletzt bei Konrad Lorenz in Gebrauch ist, um eine nichtssagende Wortzu­ sammenstellung handelt, der Freiheitsbegriff markiert einen Graben, der den Unterschied zwischen Instinktvollzug und Handlung unüber­ brückbar macht. Bereits die beiden bisher unterschiedenen wesentlichen Bestim­ mungen von Handeln: Überlegung (motivierende Reflexion) und Entscheidung, geben uns die Möglichkeit, einer Reihe von Mißver­ ständnissen im Bezug auf Handeln und Freiheit entgegenzutreten. Wir müssen das Handeln von Prozessen anderer Art, die wir oder bes­ ser gesagt, die sich an uns vollziehen, unterscheiden. Dazu gehören die Reflexe ebenso wie alle unwillkürlichen und zum Großteil nicht bewußten organischen Prozesse, also Atmung, Kreislauf, Verdauung Kleist, Heinrich von: Das Käthchen von Heilbronn, in: Sembdner, Helmut (Hg.): Sämtliche Werke und Briefe, München 2001, 3. Akt, 7. Auftritt, S. 491. 491 Lorenz, Domestikation, S. 23 f. 490

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u.a.m., dazu gehören aber auch das Erröten, das Gähnen und ähnliche Geschehnisse, die nicht unserem Willen unterliegen. Am Beispiel der drei Sätze: Ich falle, – Ich verdaue, – Ich handle492 läßt sich der Unterschied zwischen meinem Handeln und dem, was sonst mit mir oder an bzw. in mir passiert exemplifizieren. Im Sinne des Satzes: Ich falle, bin ich den Gesetzen der Physik ausgeliefert, gegen die ich keine unmittelbare Handlungsmöglichkeit habe, etwas geschieht mit mir. Auch das physiologisch-organische Geschehen, auf das im Satz: Ich verdaue, hingewiesen ist, läßt sich mir, als der unmittelbaren willentlichen Einflußnahme entzogen, nicht als Handlung zurechnen. Erst im Sinne des Satzes: Ich handle, kann von Entscheidung und Freiheit gesprochen werden. Fassen wir zusammen: Handeln setzt die Möglichkeit des Men­ schen voraus, sich aufgrund einsichtig motivierter Überlegung zu entscheiden. Freiheit bezeichnet das Vermögen des Handelnden, sich selbst zu entscheiden und zum Handeln zu bestimmen. Daß der Handelnde frei ist besagt, daß er Ursache seiner Entscheidungen und Handlungen ist, und zwar eine Ursache, die nicht wiederum von anderen Ursachen bestimmt ist, sondern sich selbst bestimmt. Freiheit ist Selbstbestimmung. Daraus folgt, daß wir auch dort, wo wir einem äußeren Zwang unterliegen, wo Entscheidung und Freiwilligkeit außer Kraft gesetzt sind, nicht von Handeln sprechen können. Von dem Zwang, der solcherart unser Handeln unmöglich macht, müssen wir Situationen unterscheiden, in denen die Entscheidung schwierig und die Konse­ quenz einer Handlung unangenehm ist. Überall dort aber, wo ich mich im Gegensatz zum äußeren Zwang überhaupt entscheide, entscheide ich frei und bin keinem Zwang ausgeliefert, sich frei zu entscheiden heißt nicht, bloß das zu tun, was man gerne tut, auch darin wäre die Freiheit mißverstanden.493 Schon bei Aristoteles finden wir diesbezüglich ein eindringliches Beispiel: Ein Tyrann hat unsere Familie in seiner Gewalt und zwingt uns zu einer »schimpflichen« Handlung, etwa einem Verrat – kann Vgl. Heintel, Erich: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Versuch einer gemeinverständlichen Einführung in das Philosophieren, Wien 1986, S. 22 f. 493 Vgl. Heintel, Erich: Wissenschaft und Wahrheit, Wissenschaft und Freiheit, in: Gesammelte Abhandlungen, Bd. 6. Zur praktischen Vernunft II, Zum Begriff der Geschichte, der Politik und der Erziehung, Stuttgart – Bad Cannstatt 1996, S. 91 ff. 492

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hier von Freiheit gesprochen werden?494 Sein Ergebnis: auch in Fällen, in denen die sittliche Integrität oder gar Leben und Tod auf dem Spiele stehen, ist eine freie Entscheidung möglich, insofern es eben prinzipiell denkbar ist, daß sich auch in Extremsituationen wie diesen jemand von einem Tyrannen nicht erpressen läßt und trotz Folter und Tod nicht bereit ist, ein Geheimnis zu verraten oder jemanden zu denunzieren. Darüber hinaus bleibt Aristoteles Realist, nicht von jedermann wird man Mut und Größe erwarten können, in einer solchen Situation zu bestehen und sich moralisch zu bewähren. Mit Blick auf diese Beispiele zeigt sich, daß für den Menschen selbst das Leben nicht so vorgegeben ist, daß er nicht auch noch dazu Stellung nehmen und sich gegen das Leben entscheiden könnte. Das bringt uns das Moment der Negativität als einer Voraussetzung der Freiheit in Sicht. Der Mensch kann zu allem, selbst zu seinem Leben, Nein sagen. Im Unterschied zum tierischen Vollzug der Artgesetzlich­ keit bewährt sich die menschliche Handlungsfreiheit darin, zu allen vorgegebenen Zwecken in Distanz zu treten und sich für oder gegen dieselben zu entscheiden. Dieses Moment der Negativität fehlt dem Tier, Tiere können in diesem spezifischen Sinn nicht Nein sagen. Wer daher ausgehend von der spezifischen menschlichen Situation und Erfahrung der Zweck­ setzung in der Beschreibung tierischen Verhaltens diesem Zwecke unterstellt, wird dabei stets kritisch mitzubedenken haben, daß sich das Tier diese Zwecke nicht bewußt setzt, sich also weder für sie entschieden hat noch sich jemals gegen sie entscheiden kann. In dem der Artgesetzlichkeit folgenden tierischen Verhalten fallen, wenn man überhaupt so sprechen will, Normativität und Faktizität zusammen. Das Tier ist darin auf die Zwecke Art- und Selbsterhaltung festgelegt, sie haben im Sinne der Verhaltensbestimmung Geltung, ohne aner­ kannt oder auch nur gewußt zu werden. Eine solche Geltung von Zwecken ist nun aber dort, wo im eigentlichen und nicht bloß ana­ logen Sinn von Zwecksetzung, Zweckverwirklichung, Entscheidung zu Zwecken und Wahlmöglichkeit zwischen Zwecken die Rede sein können soll, auch hinsichtlich der Zwecke Selbst- und Arterhaltung undenkbar. Menschliche Zwecksetzung wird den vorausgesetzten Naturzweck im Auge behalten müssen, ohne durch ihn determiniert zu sein. Während das tierische Verhalten Mittel zum Zweck der Selbst- und Arterhaltung ist, können Selbst- und Arterhaltung im 494

Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, III 1, 1110 a 5.

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menschlichen Handlungsraum selbst zum Mittel, zur Verwirklichung höher bewerteter Zwecke, z.B. Mittel moralischen Handelns werden, was ja in der Tat überall dort geschieht, wo der Einsatz des Lebens oder der Verzicht auf Nachkommenschaft moralisch motiviert ist. Das Moment der Negativität ist eine unbedingte Voraussetzung von Freiheit, wozu ich nicht Nein sagen kann, dazu kann ich auch nicht Ja sagen! Freiheit ist aber keineswegs nur in der Negation von Vorgegebenem wirklich, sondern ebenso in der Anerkennung dessel­ ben. Handlungsfreiheit, die aus dem Bewußtsein heraus, immer auch anders entscheiden und handeln zu können, ja auch tatsächlich anders entscheidet und handelt, zeigt sich darin als die Grundlage allen menschlichen Lernens, aller Selbsterziehung und Selbstgestaltung. Halten wir fest: äußerer Zwang kann die Freiheit ausschalten und damit Handeln verunmöglichen, nicht aber ein innerer Zwang. Gotthold Ephraim Lessings pointierte Wendung im »Nathan der Weise« lautet: »Kein Mensch muß müssen«.495 Lessing will uns damit sagen, daß noch dort, wo wir von einem Müssen sprechen, Freiheit wirklich ist, soferne es sich eben nicht um einen äußeren Zwang, sondern um die freiwillige Anerkennung von Zwecken und der aus ihrer Anerkennung folgenden Verbindlichkeit (etwa dem, was wir eines gegebenen Versprechens wegen »müssen«) handelt: »Was du zu müssen glaubst, ist das was du willst.«496 Selbstbestimmung impliziert immer auch Selbstverpflichtung. Handlungsfreiheit kann nicht nur durch äußeren Zwang ausge­ schaltet werden, ein Verlust oder eine Einschränkung von Handlungs­ freiheit ist auf vielfache Weise möglich. Soferne ein funktionierendes Zentralnervensystem die Voraussetzung von Handlungsfreiheit ist, können entsprechende Erkrankungen zu ihrem Verlust führen. Die Handlungsfreiheit kann aber auch durch das Handeln selbst einge­ schränkt werden, dann nämlich, wenn ich mich durch mein Handeln in Abhängigkeiten begebe. Das kann z.B. durch den Konsum von Alkohol oder Drogen geschehen, der mir zunächst frei steht, durch den ich aber mit der Zeit in eine Abhängigkeit gerate, die zum Verlust der Möglichkeit, mich gegen den Konsum von Drogen zu entschei­ den, führt, d.h. aber zu einer Einschränkung von Handlungsfreiheit, 495 Lessing, Gotthold Ephraim: Nathan der Weise, in: Göpfert, Herbert G. (Hg.): Werke, München 1971, 2. Bd., 1. Aufzug, 3. Auftritt, S. 219. 496 Ebner-Eschenbach, Marie von: Das Gemeindekind. Novellen. Aphorismen, in: Klein, Johannes (Hg.): Werke, München 1956 f., Bd. 1, S. 869.

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die dann nicht mehr durch eine Willensentscheidung, sondern erst wieder über den spezifischen Umweg einer Therapie aufzuheben ist. Im Gegensatz zu Theorien, die meinen, strafbare Handlungen, die unter Alkoholeinfluß begangen werden, im Sinne eines Zustandes verminderter Zurechnungsfähigkeit quasi entschuldigen zu können und in solchen Fällen mildere Strafen fordern, ist übrigens Aristoteles der Ansicht, daß alkoholisierte Täter doppelt bestraft werden sollten, weil es ihnen ja frei stand, sich zu betrinken oder nicht: »Man züchtigt auch gerade wegen der Unwissenheit selbst, wenn einer schuld an seiner Unwissenheit zu sein scheint, so wie etwa die Strafen bei Trunkenheit verdoppelt werden. Denn da ist der Ursprung in einem selbst; man war ja Herr darüber, sich nicht zu betrinken, und dieses war dann die Ursache der Unwissenheit.«497 Handlungsfreiheit kann auch mißbraucht werden – das geschieht z.B. in der Manipulation. Zur Entscheidung gehört immer auch die Einsicht in die jeweilige Situation. Wir entscheiden uns zu einer bestimmten Möglichkeit stets auf der Grundlage unseres Wissens um die jeweiligen Umstände. Nun ist aber die Einsicht in die Situation grundsätzlich beschränkt, das entspricht der Endlichkeit unseres Wis­ sens, und oft genug haben wir vom Ergebnis einer Handlung her den Eindruck, daß wir anders hätten handeln sollen. In diesem Sinn steht Handeln immer im Zeichen eines Risikos, das nicht aufzuheben ist, eben deshalb, weil es kein in der Aufeinanderfolge von Ursache und Wirkung naturgesetzlicher Kausalzusammenhang ist. Was nun die Manipulationsmöglichkeit menschlichen Handelns betrifft, ist zuallererst festzuhalten, daß der Begriff der Manipulation den der Freiheit voraussetzt, was sollte denn auch sonst manipuliert werden, nicht etwas, das schon bestimmt ist, sondern jemand, der frei ist. Die freie Entscheidung, die verschiedene Möglichkeiten kennt, soll aufgehoben werden, soll dahin gebracht werden, eine bestimmte Möglichkeit zu verwirklichen. Jemanden manipulieren heißt, seine Entscheidung in eine bestimmte Richtung zu beeinflussen. Manipu­ lation geschieht unter anderem dadurch, daß man jemandem hin­ sichtlich einer Entscheidungssituation bestimmte Fakten vorenthält. Wenn jemand solcherart über die jeweiligen Umstände getäuscht wird, entscheidet er gewissermaßen unter falschen Voraussetzungen. Unter Manipulation können wir also den Versuch einer Steuerung bzw. Bevormundung der Freiheit verstehen, der sie mißbraucht, nicht 497

Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, III 7, 1113 b 30.

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Fragmentarische Beiträge zu einem Begriff des Menschen

aber gänzlich ausschaltet wie beim äußeren Zwang. Das, was wir am Begriff Manipulation kritisieren, ist ja gerade diese Beschränkung der Kompetenz, freie Entscheidungen zu treffen. Wir wenden uns gegen Manipulation mit dem Argument, daß die Freiheit des Menschen, die Freiwilligkeit seiner Entscheidung, nicht durch Manipulation eingeschränkt bzw. ausgeschaltet werden darf. Der Begriff der Mani­ pulation widerspricht also nicht dem Begriff der Freiheit, sondern setzt ihn gleich zweifach voraus, einerseits kann nur jemand, der frei ist, manipuliert werden, andererseits haben wir, wenn wir den Menschen als unfrei denken, keine Argumente mehr, gegen welche Art von Manipulation auch immer aufzutreten. So ergibt sich, daß Freiheit als Selbstbestimmung zwei Momente umfaßt: das der Negativität, und das der Bestimmung. Freiheit und Bestimmung gehören zusammen. Diese Einsicht widerspricht vielen populären Vorstellungen von Freiheit, z.B. der Vorstellung, Freisein bedeutet Tun und Lassen-Können, was man will. Dagegen steht die Begrenztheit menschlichen Handelns in vielfacher Hinsicht, da sind etwa die Grenzen zu erwähnen, die uns durch unsere Leiblichkeit jeweils gezogen sind (zwischen einem Rollstuhlfahrer und einem Spitzensportler etwa bestehen, was diese körperlichen Voraussetzun­ gen handelnder Verwirklichung betrifft, schon recht große Unter­ schiede), erwähnt müssen hier aber auch die Grenzen werden, die sich von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und den Rechten anderer her ergeben. Denn natürlich sind auch von diesen Vorgege­ benheiten her unserem Handeln, unserer Freiheit Beschränkungen auferlegt. Freiheit kann also nicht verstanden werden als gänzliche Unabhängigkeit von allem und jedem – sondern sie muß vielmehr verstanden werden als die Möglichkeit, zu den bestimmten Bedingun­ gen, Vorgegebenheiten und Voraussetzungen Stellung zu nehmen. Es ist wichtig, im Freiheitsbegriff die beiden Momente Negation und Bestimmung zusammenzudenken und Freiheit nicht nur von einem der Momente her erfassen zu wollen. Wenn wir das tun, so reduzieren wir Freiheit auf das bloße Leere, das gewissermaßen durch die Konkretisierung, durch die Bestimmtheit und durch die Endlich­ keit, die in der Festlegung auf eine der vielen Möglichkeiten liegt, verunreinigt wird. Im Sinne dieser durchaus falschen Auffassung von Freiheit wäre der Mensch nur solange frei, als er alle Möglichkeiten hat und sich nicht zur Verwirklichung einer bestimmten Möglichkeit entschließt, solange er also nicht handelt und Freiheit damit nicht konkret wird. Im Gegensatz zu einem solchen Mißverständnis von

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Freiheit als Gegenstand der Realwissenschaften

Freiheit, als einer Freiheit der Leere, unter der man sich eigentlich nichts denken kann, muß festgehalten werden: Handeln heißt: sich zu bestimmen. Freiheit ist eben Selbstbestimmung und nicht Bestim­ mungslosigkeit. Reflexion und Entscheidung gehören zusammen, ich kann mich nicht bloß mit meinen Motiven im Kreise drehen, sondern ich muß mich entscheiden. Wir dürfen Handlungsfreiheit daher auch nicht mit dem verwechseln, was bloßes Wünschen heißen kann. Das Wünschen bleibt im Gegensatz zum Wollen beim bloßen Vorstellen eines Zwecks stehen, ohne auch die zu seiner Erreichung nötigen Mittel zu ergreifen, d.h. es setzt sich Zwecke, aber ohne sich zu ihrer Verwirklichung zu entschließen, d.h. aber, es setzt sich nicht eigentlich Zwecke, sondern es träumt sie bloß. Wir haben festgestellt, daß ich mich im Sinne der Freiwilligkeit zu dieser oder jener Handlungsmöglichkeit entscheiden kann, daß ich über die motivierende Reflexion hinaus aber überhaupt Entschei­ dungen treffe, das ist unausweichlich. Es ist natürlich auch eine Entscheidung, wenn wir in einer bestimmten Sache so lange zögern, daß die Dinge ihren Lauf nehmen und eine Entscheidung nicht mehr nötig ist. Die Entscheidung anderen zu überlassen, ist eben auch eine Entscheidung. Wenn daher Jean Paul Sartre sagt: »Wir sind zur Freiheit verurteilt«,498 so ist das in diesem eingeschränkten Sinn richtig, daß wir keine Wahl haben, ob wir frei sein wollen oder nicht. Eine Verurteilung möchte ich darin aber nicht sehen, sondern eher schon eine Auszeichnung, die dem Menschen vor allen anderen Geschöpfen zukommt. Eine Auszeichnung freilich, deren Erfüllung ihm nicht gegeben, sondern deren Erfüllung ihm aufgegeben ist, und deren Verwirklichung nicht einfach, weil eben mit Verantwortung verbunden ist.

Freiheit als Gegenstand der Realwissenschaften Wir haben gehört, daß ich nicht jeweils alle Möglichkeiten, die ich habe, verwirklichen kann, sondern um im Handeln konkret zu werden, muß eine von ihnen vor den anderen ergriffen werden. Das Ergreifen einer bestimmten Handlungsalternative schließt alle Vgl. Sartre, Jean Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Hamburg 1974, S. 560.

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Fragmentarische Beiträge zu einem Begriff des Menschen

anderen Möglichkeiten zunächst aus. Sich bestimmen heißt daher immer auch sich beschränken. Wer hier nicht sieht, daß sich erst in diesem Beschränken Freiheit konkretisiert, sondern an der Vorstellung von Freiheit als etwas Lee­ rem und Unbestimmten festhält, der wird folgerichtig gerade in der Motiviertheit einer Handlung ihre Determiniertheit, ihre Unfreiheit erblicken. Dieses Mißverständnis, die Bestimmtheit einer Handlung mit ihrer Determination zu verwechseln, begegnet uns vor allem im Rahmen der wissenschaftlichen Psychologie. Im Zusammenhang damit finden sich zwei Argumente, die auch sonst gerne gegen die Freiheit ins Treffen geführt werden, sodaß auf dieses Mißverständnis etwas näher einzugehen ist. Als Gewährsmann will ich Hubert Rohr­ acher, einen Psychologen, der an der Universität Wien gelehrt hat heranziehen, der sich in seiner »Einführung in die Psychologie«499 unter anderem mit dem Problem der Willensfreiheit auseinandersetzt und dazu das Folgende schreibt: »Was für ein Entschluß schließlich zustande kommt, hängt von der Art und Stärke der beteiligten Triebe und Interessen ab. Der Entschluß entsteht aus den vorangegangenen Vorgängen; er ist durch sie bestimmt, er ist ihr notwendiges natur­ gesetzliches Resultat. Freiheit in dem Sinne, daß der Mensch bei der gegebenen Situation auch zu einem anderen Entschluß kommen könnte, besteht nicht […].«500 Im psychologischen Modell von Handeln werden die Motive in der Art eines Kräfteparallelogramms vorgestellt, wobei das jeweils stärkste Motiv das Handeln bestimmt, die Möglichkeit einer freien Wahl unter den Motiven ist dabei nicht gegeben. Dieser Gedanke enthält einen undurchschauten Zirkel: das stärkste Motiv ist jeweils erst im Nachhinein daran zu erkennen, daß es handelnd verwirklicht wurde. Soll aber die Behauptung, das stärkste Motiv determiniere das Handeln, ein Argument und kein Trugschluß sein, müßte das stärkste Motiv unabhängig von seiner Verwirklichung festgestellt werden können – eben das ist nicht möglich. Die Tautologie des stärksten Motivs ist keine Erfindung der Gegenwart. Wir finden Ähnliches bei Schopenhauer, und schon im Mittelalter macht ein bekanntes Beispiel dieses Problem zum Thema:

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Rohracher, Hubert: Einführung in die Psychologie, Wien 111976. Rohracher, Einführung in die Psychologie, S. 529.

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Freiheit als Gegenstand der Realwissenschaften

der Esel des Buridan.501 Es geht in diesem Beispiel darum, daß ein Esel zwischen zwei Heubündeln steht, die gleich groß sind, gleich gut duften, gleich appetitlich aussehen etc., also in allem so völlig gleich sind, daß der Esel, weil er sich nicht entscheiden kann, welches er nun fressen soll, zwischen diesen beiden Heubündeln schließlich verhungert. Auch hier sind die Motive als Kräfte vorgestellt, die stärker oder schwächer auf den Wollenden einwirken und eben dann, wenn sie gleich stark sind, zu einer Art Pattstellung führen, welche die Entscheidung und damit das Handeln verhindert. Wenn wir davon absehen, daß durch tierisches Verhalten die Freiheit menschlichen Handelns nicht angemessen illustriert werden kann, zeigt selbst dieses Beispiel, daß man Motive nicht als das Handeln bestimmende Kräfte auffassen kann: Ein Philosoph mag so ein Esel sein, sich ein Beispiel auszudenken mit einem Esel, der zwischen zwei Heubündeln verhungert, ein Esel selbst wird dagegen niemals so ein Esel sein, daß er tatsächlich zwischen diesen Heubün­ deln auch nur Hunger leiden, geschweige denn verhungern würde. Der Esel widerlegt den Philosophen, der das Beispiel erfunden hat durch die Tat, und macht solcherart deutlich, wer der größere bzw. der eigentliche Esel ist. In der bei Rohracher zitierten Stelle wird Freiheit aber nicht nur mit Blick auf das stärkste Motiv geleugnet, sondern auch unter Hinweis auf den Charakter eines Menschen zur Illusion erklärt – der Schluß des Absatzes lautet: »[…] das Wollen ist durch die Art der Persönlichkeit determiniert.«502 Auch damit ist gesagt, der Mensch bestimmt sich nicht selbst zu seinem Handeln, sondern er handelt seiner Persönlichkeit gemäß, was soviel heißt wie: er muß so handeln, wie es ihm sein Charakter vorschreibt. Auch dahinter steckt ein leicht zu durchschauender Denkfehler: Seine Widerlegung muß mit der Frage beginnen, wodurch wir denn Kenntnis vom Charakter eines Menschen erhalten? Die Antwort lautet: durch sein Handeln, auf einen bestimmten Charakter schließen wir durch die Beobachtung einer gewissen Gleichförmigkeit des Handelns eines Menschen, die uns von diesem Menschen z.B. sagen läßt: er ist verläßlich und von einem anderen: er ist unverläßlich, Beurteilungen, die sich auf Johannes Buridan war ein berühmter Gelehrter des 14. Jahrhunderts, der auch Rektor der Universität Paris gewesen ist und wie man heute weiß, wird ihm das EselBeispiel fälschlich zugeschrieben, es ist gar nicht von ihm. Nichtsdestotrotz ist dieses Beispiel unter dem Titel »Esel des Buridan« in die Philosophiegeschichte eingegangen. 502 Rohracher, Einführung in die Psychologie, S. 529. 501

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Erfahrungen im handelnden Umgang mit diesem Menschen stützen. Nicht die Kenntnis eines bestimmten Charakters ist das erste, sondern wir schließen auf das Vorhandensein eines bestimmten Charakters aus der Art und Weise, wie ein Mensch in ähnlichen Lebenslagen und Situationen handelt. Es ist ein Denkfehler, zuerst den Charakter aus der Art und Weise des Handelns zu gewinnen (als Erfahrungsbegriff), dann aber umgekehrt aus dem Charakter das Handeln als determiniert abzuleiten. Ein bestimmter Charakter kann den Menschen nicht zu bestimmten Handlungen zwingen, ihm also seine freie Entscheidung nehmen, weil der Charakter nichts anderes ist als die bestimmte Art eines Menschen, zu handeln: Charakter und Sich-Bestimmen fallen zusammen. Hier muß man sich nur vor den Verführungen einer ver­ objektivierenden und substantivierenden Redeweise in acht nehmen, durch die der Charakter, der eben nichts anderes ist als die bisherige Erfahrung, die wir mit dem Handeln eines Menschen gemacht haben, zu einem Gespenst hypostasiert, also gewissermaßen verdinglicht und als solches dem Handelnden als etwas gegenübergestellt wird, das ihm seine Freiheit nimmt. Der Mensch kann sich deshalb immer auch eine andere Vergan­ genheit geben, nicht daß er die Vergangenheit ändern, also etwas Geschehenes ungeschehen machen könnte, das allein bleibt, wie schon die Griechen gewußt haben, selbst den Göttern versagt; sich eine andere Vergangenheit geben heißt, daß er sich ändern kann, daß er so handeln kann, wie man es aufgrund seines bisherigen Charakters nicht erwarten würde. Auch das ist eine Erfahrung, die wir im Umgang mit dem anderen immer wieder machen. Darüber hinaus setzt natür­ lich auch jeder Appell an eine Änderung seines Charakters, also wenn wir einem Menschen Charakterfehler vorhalten und ihn auffordern, sich zu ändern, sich zu bessern, die Freiheit voraus, von der hier die Rede ist. Ein solcher Appell hätte überhaupt keinen Sinn, wenn das Handeln des Menschen durch seinen Charakter determiniert wäre. Wir können also sagen: nicht der Charakter bestimmt das Handeln des Menschen, sondern der Mensch bestimmt durch sein Handeln seinen Charakter. Auch das ist eine Einsicht, die in der Philosophie im Grunde seit Aristoteles unverlierbar ist: »Da nun die gegenwärtige Untersuchung nicht der reinen Forschung dienen soll wie die übrigen (denn wir fragen nicht, um zu wissen, was die Tugend sei, sondern damit wir tugendhaft werden, da wir anders keinen Nutzen von ihr hätten), so müssen wir die Handlungen prüfen, wie man sie

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Freiheit als Gegenstand der Realwissenschaften

ausführen soll. Denn von ihnen hängt es entscheidend ab, daß auch die Eigenschaften entsprechend werden«.503 Ich will im Zusammenhang mit den ganz spezifischen Schwie­ rigkeiten, welche die Wissenschaft mit dem Problem der Freiheit hat, noch einmal auf Rohracher und die eigenartigen Konsequenzen zu sprechen kommen, zu denen ihn seine Überlegungen führen. Er kommt zu Aussagen, in denen sich ein Handelnder, der sich gewis­ sermaßen alltagssprachlich als Täter seiner Taten weiß, nur schwer wird wiederfinden können: »Darum ›geschieht‹ dem Menschen das Handeln, wie ihm das Altwerden geschieht. [...] Was der Mensch in seinem Leben getan hat, hat er [...] gar nicht eigentlich selbst getan, sondern es ist ihm geschehen, daß er es tat«,504 Sätze, die dem Hausverstand ins Gesicht schlagen und zeigen, wie wenig es dieser Wissenschaft gelingt, die menschliche Freiheit ihrem Selbst­ verständnis nach zu rekonstruieren und zu welcher Bornierung eine Wissenschaft gezwungen ist, welche sich der methodischen Abstrak­ tion ihres Vorgehens nicht bewußt ist. Für Rohracher gilt es von der Psychologie her als ausgemacht, daß der Mensch nicht frei ist, er zieht daraus den überraschenden Schluß, daß man ihm das aber nicht sagen darf: »[D]as Verlangen nach Freiheit ist ein wichtiger Faktor in der kulturellen Entwicklung; so wichtig, daß man sich als Psychologe fragen muß, ob man die Tatsache der Determinierung des Wollens durch die Motive über­ haupt bekanntgeben soll. Vielleicht sollte man so tun, als ob der Wille frei wäre, um ja nicht das Freiheitsverlangen und das Verant­ wortungsbewußtsein zu schwächen.«505 Wir wollen Rohracher nicht vorwerfen, daß er mit seiner These jedenfalls hinsichtlich des elitären Leserkreises seiner Einführung nicht ernst gemacht, und diesem doch ausgeplaudert hat, was andere nicht wissen dürfen, wir wollen aber fragen, warum denn die Menschen nicht erfahren dürfen, daß sie nicht frei sind? Steht zu befürchten, daß sie sich das zum Motiv machen, daß die Menschen eben doch frei sind und sich nach dieser Theorie verhalten können und in der Folge davon jegliche Verantwortung für ihr Handeln ablegen bzw. ablehnen? – Und das mit dem, unter der Voraussetzung der Unfreiheit, sehr sinnvollen Argument: wenn gar nicht ich es bin, der im Sinne freier Entscheidung handelt, wenn also 503 504 505

Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, II 2, 1103 b 26. Rohracher, Hubert: Persönlichkeit und Schicksal, Wien 1926, S. 109. Rohracher, Einführung in die Psychologie, S. 526.

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Fragmentarische Beiträge zu einem Begriff des Menschen

nicht ich mich zu meinem Handeln bestimme, sondern von was auch immer bestimmt werde, dann kann doch auch nicht ich es sein, der die Verantwortung für dieses Handeln übernimmt. Vor einer solchen Konsequenz schreckt aber offenbar auch der Psychologe zurück und verlegt sich aufs Manipulieren, um Freiheit wenigstens als Illusion aufrecht zu erhalten. Wenn der Mensch in der Tat unfrei wäre, könnte das Wissen um diese Unfreiheit nichts an derselben ändern, würde also auch nicht zu der befürchteten Verhaltensänderung führen. Rohrachers Bedenken erweisen sich solcherart von seinem eigenen Ansatz her als völlig unbegründet. Wenn die menschliche Unfreiheit eine Tatsache ist, dann kann das Wissen um diese Tatsache auf ihr Bestehen keinerlei Einfluß haben. Sollte aber umgekehrt der Umstand, ob wir uns als frei oder als unfrei wissen, Einfluß auf unsere Motivation haben, dann wiederum kann die Unfreiheit kein Faktum sein. Auch dieser Gedanke zeigt nur, wie durch und durch widersprüchlich seine Position ist. Die Schwierigkeiten, welche die Psychologie mit dem Begriff der Freiheit hat, sind zuletzt auf den methodischen Charakter zurückzu­ führen, der ihr als Wissenschaft zukommt: Freiheit, die empirisch nicht aufweisbar ist, kann in den Wissenschaften grundsätzlich nicht zum Gegenstand werden. Mit wünschenswerter Deutlichkeit hat das einer der Hauptvertreter behavioristischer Psychologie, nämlich B. F. Skinner ausgesprochen: »Die Hypothese, der Mensch sei nicht frei, ist wesentlich für die Anwendung der wissenschaftlichen Methode auf die Untersuchung menschlichen Verhaltens.«506 Hier ist nicht gesagt: der Mensch ist nicht frei, sondern es ist gesagt: im Lichte der Anwen­ dung wissenschaftlicher Methoden auf menschliches Verhalten wird der Mensch als nicht frei bestimmt. Die Unfreiheit ist also nicht, wofür sie nur zu gerne gehalten wird, das Ergebnis der wissenschaftlichen Untersuchung, sondern die Voraussetzung dafür, wissenschaftliche Untersuchungen auf menschliches Verhalten überhaupt anwenden zu können. Deutlicher ist es nicht zu sagen, daß die wissenschaftliche Methode nicht in der Lage ist, die Freiheit des Menschen zu Gesicht zu bekommen. Nur in der Verabsolutierung wissenschaftlichen Wissens kann das auch heißen, daß der Mensch nicht frei ist. Daß eine behavioristische Psychologie mit der Freiheit auch deshalb nicht allzuviel anzufangen weiß, weil es ihr zuletzt darum 506 Zit. nach Rogers, Carl R.: Entwicklung der Persönlichkeit. Psychotherapie aus der Sicht eines Therapeuten, Stuttgart 172009, S. 376.

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Freiheit als Gegenstand der Realwissenschaften

geht, menschliches Verhalten zu beherrschen, zu steuern und zu manipulieren, das können wir bei einem anderen ihrer Hauptvertre­ ter, bei J. B. Watson, nachlesen: »Bei allen [...] Untersuchungen habe ich hauptsächlich den Wunsch, das Anpassungsverhalten und seine Auslösereize genau kennenzulernen. Der eigentliche Grund dafür liegt darin, daß ich allgemeine und spezielle Methoden finden möchte, durch die man Verhalten kontrollieren kann«,507 und an anderer Stelle: »Das Interesse des Behavioristen am Verhalten des Menschen ist mehr als bloße Neugier – er möchte die Reaktionen der Men­ schen kontrollieren, so wie der Physiker andere Naturgegebenheiten kontrollieren und manipulieren möchte.«508 Für den Behavioristen steht die Voraussetzung, der Mensch ist nicht frei, im Zeichen der Herrschaft über den Menschen. Der Behaviorist sieht von der Freiheit des Menschen ab, weil er ihn manipulieren möchte. Im Verfolg eines solchen wissenschaftlichen Programms ist es geradezu störend, wenn dem Menschen Freiheit zugesprochen wird. Wo der Mensch und sein Handeln nicht als Naturgegebenheit angesehen werden, sondern seine Freiheit sich in Rechnung gestellt findet, tritt umgehend ein Problem in Gestalt des Imperativs auf: Der als frei bestimmte Mensch soll nicht manipuliert werden! Damit sind wir beim dritten zentralen Moment von Handeln angelangt, das ist neben Überlegung und Entscheidung die Zurechen­ barkeit. Meine Handlungen sind mir zurechenbar, oder anders gesagt, ich bin dafür verantwortlich. Auch das Moment Verantwortung hängt zentral mit dem Begriff der Freiheit zusammen. Der Anspruch, daß der Mensch für sein Handeln verantwortlich ist, kann nicht ohne Freiheit gedacht werden, da die Forderung, sein Handeln zu verant­ worten, sinnvollerweise nur an den gerichtet werden kann, der sich selbst zu seinem Handeln bestimmt. Die Aufeinanderbezogenheit von theoretischem und praktischem Aspekt im Freiheitsproblem wird gerade am Begriff der Verantwortung besonders deutlich. Es hat sich schon im Anschluß an Rohracher gezeigt, daß die Theorie der Freiheit, die wir haben, soferne wir nur konsequent sind, keineswegs ohne Auswirkungen auf unser Handeln ist, daß es also durchaus nicht dasselbe ist, ob wir uns als frei wissen oder für unfrei halten. Wir werden je nach dem die Verantwortung für unser Han­ 507 Watson, J. B.: Behaviorismus, Köln – Berlin 1969, S. 21, zit. nach: Leonhard, HansWalter: Die Leugnung des Geistes. Eine pädagogische Streitschrift zur empirischen Psy­ chologie, Bad Heilbrunn/OBB. 1989, S. 106. 508 Ebd.

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Fragmentarische Beiträge zu einem Begriff des Menschen

deln anerkennen oder eine solche Verantwortung zurückweisen. Das Leugnen der Handlungsfreiheit hat daher zumeist auch die praktische Seite, sich der Verantwortung zu entziehen. Hier ist an die Berufung auf einen Befehlsnotstand und Ähnliches zu denken, womit gesagt sein will: Mich kann man nicht verantwortlich machen, weil ich mich nicht selbst zu dieser Handlung bestimmt habe. Diese bisher explizierten philosophisch-begrifflichen Bestim­ mungen von Handlung und Freiheit stehen in Übereinstimmung mit der grundlegenden Überzeugung unserer Alltagserfahrung, nach der sich der Handelnde als Täter seiner Taten weiß. In unserem alltäglichen Praxisvollzug, in dem wir in beinahe ununterbrochener Weise dazu aufgefordert sind, praktisch Stellung zu nehmen und zu entscheiden, zweifeln wir nicht daran, daß wir aufgrund eigener Über­ legung entscheiden bzw. aus eigener Verantwortlichkeit handeln. In diesem Sinn ziehen wir uns und andere ja auch tatsächlich zur Verant­ wortung, machen uns selbst wegen mancher Handlungen Vorwürfe und tadeln oder loben auch andere für das, was sie getan haben. Daß wir für unser Handeln verantwortlich sind und daß es freiwillig zustande kommt, das sind so grundlegende Erfahrungen unseres alltäglichen Lebens, daß wir sagen können, daß wir beides in der Praxis immer schon voraussetzen, unabhängig davon, ob wir dem in der Theorie zustimmen oder nicht. Die Aufeinanderbezogenheit von Theorie und Praxis hinsichtlich des Freiheitsproblems zeigt sich aber auch darin, daß wir kein Problem damit haben, die Freiheit theoretisch in Frage zu stellen, wohl aber die Freiheit in der Tat, d.h. praktisch aufzugeben. Dem Satz: der Mensch ist nicht frei, wird manch einer diskussionswürdig finden und ihm auch gewissermaßen gedankenlos zustimmen, dem Satz dagegen: ich bin nicht frei, wird kaum jemand zustimmen, und wohl niemand praktisch realisieren wollen. Jeder Infragestellung der Freiheit in der Theorie widerspricht immer schon ihre Inanspruchnahme in der Praxis. In diesem Sinn nennt Reininger das Freiheitsbewußtsein eine »Erlebnistatsache«.509 Diese bildet den Ausgangspunkt für die philo­ sophische Erörterung des Problems, wobei die Philosophie an das unbefangene, vorwissenschaftliche Freiheitsbewußtsein, nicht als unkritischer Anwalt desselben anschließt, der es um jeden Preis zu rechtfertigen versucht, sondern im Bemühen um eine kritische Vgl. Reininger, Robert: Wertphilosophie und Ethik. Die Frage nach dem Sinn des Lebens als Grundlage einer Wertordnung, Wien 21946, S. 144.

509

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Freiheit und ihre Verwirklichungsweisen

Prüfung seiner Ansprüche. Im Unterschied dazu kommt die Wissen­ schaft, soferne sie Freiheit zum Thema macht zu Ergebnissen, die dieser Erlebnistatsache widersprechen, von wissenschaftlicher Seite aus wird ja sowohl die Freiwilligkeit des Handelns, als auch die Ver­ antwortlichkeit des handelnden Subjekts bezweifelt resp. geleugnet, und das nicht nur in der Psychologie. Auch die Physik verfehlt das Freiheitsproblem, wenn es dieses im Rahmen der Alternative von Determinismus und Indeterminismus diskutiert. Im Sinne des Determinismus wurde der Einwand geltend gemacht, daß die These der Freiwilligkeit mit der Geltung einer phy­ sikalischen Gesetzmäßigkeit in Widerspruch steht, da alle Prozesse in Raum und Zeit durch physikalische Gesetze determiniert sind, geschieht auch das Handeln aufgrund von Kausalgesetzen und die behauptete Handlungsfreiheit ist Täuschung und Einbildung. Dage­ gen hat man den Indeterminismus im Sinne der Heisenbergschen Unschärferelation als Beweis für die Freiheit ins Treffen geführt. Beides ist falsch, sowenig der Determinismus ein Einwand gegen die Freiheit sein kann, sowenig ist im Indeterminismus ein Beweis für die Freiheit zu sehen, als physikalische oder doch an physikali­ sche Theorien anschließende Theorien haben beide keinerlei Bezug zum Freiheitsproblem. Grundsätzlich ist zu all diesen Widerlegungsversuchen der Frei­ heit, gleichgültig, ob sie sich physikalisch, biologisch, soziologisch oder psychologisch formulieren, zu sagen, daß der Wissenschaft schon von ihren methodischen Voraussetzungen her Freiheit allen­ falls als Illusion und Täuschung in den Blick kommen kann. Trotzdem setzen auch Wissenschaftler Freiheit im Rahmen ihrer Arbeit unun­ terbrochen voraus und nehmen diese für ihre Arbeit ganz selbstver­ ständlich in Anspruch – dort, wo wissenschaftlicher Forschung und Lehre Beschränkungen welcher Art auch immer drohen, erinnert man sich rasch wieder der anderwärts als Illusion entlarvten Freiheit: »Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei«.510

Freiheit und ihre Verwirklichungsweisen Kant hat gezeigt, daß Freiheit ein transzendentales, kein empirisches Faktum ist und daher kein Gegenstand der empirischen Wissenschaf­ 510

Artikel 17 des Staatsgrundgesetzes von 1867.

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ten sein kann. Wenn aber Freiheit empirisch nicht beweisbar ist, hier denkt Kant den entscheidenden Schritt weiter, dann ist sie empirisch auch nicht zu widerlegen. Aus der Tatsache, daß Freiheit empirisch nicht aufgewiesen werden kann, ist nicht zu schließen, daß der Mensch unfrei ist, daraus folgt vielmehr: Wir müssen anders nach der Freiheit fragen, wenn wir ihr gerecht werden wollen. Wir vermögen Freiheit als ein, wie Kant sagt, »Postulat der praktischen Vernunft« zur Sprache zu bringen, d.h. nur in praktischer Absicht zu behaupten: wenn wir uns selbst und andere als verantwortlich Handelnde begreifen wollen, müssen wir uns als frei Handelnde voraussetzen. In diesem Sinn ist Freiheit eine dem sittlichen Wollen immanente Idee. Drei Ebenen der Freiheit sind zu unterscheiden:511 1. 2. 3.

Willkürfreiheit qualifizierte Freiheit gesellschaftlich-politische Freiheit

Ad 1) Wir haben im Sinne der Entscheidungsfreiheit, also der Mög­ lichkeit, dies oder jenes zu wählen, von der Freiheit zunächst als Wahlfreiheit gesprochen. In dieser Bestimmung ist nur ein abstraktes Moment des Freiheitsbegriffs angesprochen, bei dem nicht stehen­ geblieben werden kann: die Voraussetzung der Verwirklichung von Freiheit, aber nicht schon die Wirklichkeit der Freiheit selbst. Ad 2) Bereits mit dem Hinweis auf den Begriff Verantwortung ist dieser abstrakte Begriff der Willkürfreiheit auf einen Freiheitsbegriff hin überstiegen, der insofern qualifiziert zu nennen ist, als ihm ein Bezug zu Gut und Böse zukommt. Die Forderung verantwortlichen Handelns ist keine beliebige Handlungsmöglichkeit, sondern betrifft unser Handeln als solches, alle unsere Handlungen sollen verantwort­ liche Handlungen sein. Hier erfolgt eine deutliche Einschränkung der Willkürfreiheit und ihrer Art von Beliebigkeit von der Vernunft bzw. dem Sittengesetz her. Ad 3) Wir müssen über die moralisch qualifizierte Freiheit hinaus aber auch noch die gesellschaftlich-politische Dimension der Freiheit beachten. Wir sehen dabei, daß gesellschaftlich-politische Freiheit in der Handlungsfreiheit des Menschen begründet ist und diese zu 511 Vgl. Heintel, Erich: Freiheit und freiheitliche Selbstbestimmung, in: Gesammelte Abhandlungen, Bd. 5. Zur praktischen Vernunft I, Zum Begriff der Freiheit, des Handelns und der Ethik, Stuttgart – Bad Cannstatt 1996, S. 349 ff.

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Freiheit und ihre Verwirklichungsweisen

ermöglichen hat. Handlungsfreiheit kann durch gesellschaftlich-poli­ tische Freiheit ermöglicht, aber auch eingeschränkt werden. Gerade dann und erst dann, wenn wir von der Freiheit als Existentiale des Menschen, als menschliche Wesensbestimmung ausgehen, ergibt sich die Forderung, Freiheit im gesellschaftlich-politischen Raum zu verwirklichen, d.h. Freiheit nicht nur als ein Inneres des einzelnen gelten zu lassen, sondern auch z.B. als Rede-, Publikations-, Religi­ ons- und Versammlungsfreiheit u.a.m. zu konkretisieren, wie das ja durch das Recht und seine Institutionen geschieht. Gerade am Beispiel des Rechts sehen wir deutlich, daß Beschränkung und Bestimmung im Begriff der Freiheit zusammengehören: Der Sinn des Rechts ist es, das Zusammenbestehen der Freiheit des einen mit der Freiheit der anderen nach allgemeinen Gesetzen zu ermöglichen, d.h. die Freiheitsbeschränkung jedermanns durch das Recht verfolgt das Ziel einer Freiheitssicherung aller. Erst in der gegenseitigen Anerkennung der Freiheit im Recht hat diese ihr Bestehen. Meine Freiheit wird durch die Freiheit anderer beschränkt, aber eben darin auch durch die anderen gesichert.512 Die verschiedenen Ebenen der Freiheit gehören dabei zusammen und sind nicht voneinander isoliert zu denken, wir müssen über ihre Unterscheidung hinaus daher vor allem ihre Aufeinanderbezogenheit im Auge behalten. Arnold hat gezeigt, wie leicht wir in die Lage kommen, im Leugnen einer Art von Freiheit eine andere Freiheit vor­ auszusetzen – jetzt haben wir gewissermaßen die Umkehrung dieses Verhältnisses vor uns. Es zeigt sich nämlich, daß gesellschaftliche Unfreiheit gar nicht wahrzunehmen wäre, wenn sie nicht der Hand­ lungsfreiheit widersprechen würde. Gesellschaftliche Unfreiheit wird überhaupt erst als Einschränkung von Handlungsfreiheit erfahrbar, unter ihrer Art Unrecht kann nur jemand leiden, der prinzipiell über Handlungsfreiheit verfügt. Gesellschaftlich-politische Freiheit kann eben deshalb auch nur von der vorausgesetzten Handlungsfreiheit her begründet werden. Wenn wir den Begriff der Handlungsfreiheit aufgeben, indem wir die Freiheit des Handelns leugnen, entziehen wir uns auch das Fundament, von dem aus wir gesellschaftliche Unfreiheit als Unrecht ausweisen und gegen ein solches Unrecht Argumente geltend machen können. 512 Vgl. Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten. Einleitung in die Rechtslehre, § C, in: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Kant´s gesammelte Schriften, Berlin 1904 ff., Bd. 6, 230 f.

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Das Tyrannen-Beispiel des Aristoteles zeigt, daß es selbst noch in Extremsituationen möglich ist sich frei zu entscheiden. Es zeigt aber auch, daß Entscheidungen immer unter bestimmten gesellschaftlichpolitischen Rahmenbedingungen getroffen werden, die nicht außer acht zu lassen sind, insoferne sie die freie Entscheidung erschweren oder erleichtern können. Im Blick auf das aristotelische Beispiel wird man gesellschaftlich-politische Bedingungen fordern müssen, die eine freie bzw. sittliche Entscheidung ermöglichen, ohne daß für das Individuum das Leben auf dem Spiel steht, also solche Bedingungen, unter denen moralisches Handeln auch ohne Heldenmut möglich ist. Erich Heintel hat es so formuliert: »Es gibt keine Gesellschaft, die so schlecht ist, daß in ihr nicht moralische Selbstbestimmung zugemutet werden kann, und es ist keine so gut, daß es nicht moralische Pflicht wäre, sie zu verbessern.«513 Der Unterschied zwischen den beiden Gesellschaften ist der: im einen Fall muß man ein Held sein, wenn man sich moralisch bestimmen will, im anderen Fall braucht es nicht mehr als ein wenig Zivilcourage. Im Hinblick auf ihre sich wandelnden und der Verwirklichung von Freiheit entweder hinderlichen oder förderlichen gesellschaftlichpolitischen Voraussetzungen ist aber nicht nur an Aristoteles und das Beispiel vom Tyrannen, sondern durchaus auch an Aktuelles zu denken. Diese Aufeinanderbezogenheit von freier Entscheidung und gesellschaftlichen Vorgegebenheiten und die Abhängigkeit der ersteren von den letzteren zeigt sich ganz deutlich etwa im Rahmen der sich mit der Pränataldiagnostik verbindenden Probleme. Hier ist es für den Entscheidenden durchaus ein Unterschied, ob eine solche Möglichkeit zur Verfügung steht oder nicht. Alleine der Umstand, daß es bestimmte Methoden pränataler Diagnostik gibt hat Konsequenzen, insofern damit ganz andere Vorgaben und Voraussetzungen für die Entscheidung geschaffen sind. Natürlich wird man sagen können, solange es keine gesetzliche Verpflichtung dazu gibt, wird man sich dagegen entscheiden und diese Art der Dia­ gnostik ablehnen können. Doch wird selbst dort, wo keine rechtliche Verpflichtung zur Inanspruchnahme pränataler Diagnostik besteht, den technischen Gegebenheiten im Sinne eines Sachzwanges ein quasi normativer Charakter zukommen, der den, der hier bestimmte Möglichkeiten ablehnt, d.h. nicht in Anspruch nimmt, in die Situation bringt, seine Ablehnung rechtfertigen zu müssen. Beim Auftreten 513

Heintel, Was kann ich wissen?, S. 24.

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Freiheit und ihre Verwirklichungsweisen

von Behinderungen sind dann Vorwürfe in die Richtung zu erwar­ ten, daß man den Embryo nicht hat testen und in weiterer Folge nicht hat abtreiben lassen. Es scheint dann plötzlich jemand dafür verantwortlich gemacht werden zu können, daß er ein behindertes Kind zur Welt bringt. Wenn wir dann noch daran denken, daß etwa Versicherungen unter Hinweis auf diese »Fahrlässigkeit« sich weigern könnten, die Behandlungskosten zu übernehmen, so sehen wir leicht, daß die freie Entscheidung gegen solche diagnostischen Möglichkei­ ten nur formal gegeben ist, nicht aber auch de facto besteht: »Wenn einmal der Stand der Technik die Norm bestimmt, ist die Nichtent­ scheidung ein Luxus, den niemand mehr besitzt«.514 Die freiheitliche Selbstbestimmung wird alleine durch die Existenz der diagnostischen Möglichkeit eingeschränkt, von den Auswirkungen, die ein solches Verfahren auf Sichtweise und Akzeptanz von Behinderung hat, ganz zu schweigen. Es geht nicht mehr um Solidarität in der Bewältigung von Behinderungen, sondern es geht um technische Ausschaltung von Behinderten. Hier besteht immer die Gefahr, durch den Hinweis auf die Freiheit als Existentiale, nach der freie Entscheidung prinzipiell ja auch im Extremfall möglich ist, gesellschaftliche Unfreiheiten, wie sie sich durch Sachzwänge wirtschaftlicher oder wissenschaftlicher Art ergeben, zu bagatellisieren, ja sie zu akzeptieren und zu legitimieren. In dieser Hinsicht ist vor allem auch der wissenschaftlich-technische Fortschritt stets daraufhin zu befragen, wie weit er der Freiheit Raum gibt, ob er sie erleichtert oder erschwert. Und es gehört zu den oft nicht gesehenen Nebenfolgen dieses Fortschritts, daß er uns immer öfter vor Entscheidungen stellt, für die es keine vernünftige Grundlage gibt. Entscheidungen, angesichts derer man eigentlich nur wünschen kann, sie nicht treffen zu müssen, nicht weil sie unangenehm sind, sondern weil sie die menschliche Kompetenz übersteigen.

514 Beck, Ulrich: Gegengifte, Frankfurt am Main 1988, zit. nach: Hohlfeld, Rainer: Dilemmata des biotechnischen und biomedizinischen Fortschritts, in: Ethik und Sozi­ alwissenschaften. Streitforum für Erwägungskultur, EuS 2, 1991, Heft 4, S. 594.

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Das Verhältnis von Freiheit und Unfreiheit – Rousseau versus Schiller Die unterschiedlichen Ebenen der Freiheit und ihr Verhältnis zuein­ ander seien abschließend an der Gegenüberstellung von zwei klassi­ schen Aussagen zur Freiheit verdeutlicht: die eine ist von Jean-Jacques Rousseau: »Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten«,515 die andere von Friedrich Schiller: »Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, Und würd er in Ketten geboren«.516 Beide Sätze thematisieren den Widerspruch zwischen Freiheit und Unfreiheit und widersprechen einander zumindest auf den ersten Blick in dem Sinn, daß Rousseau die Freiheit (der Mensch ist unfrei) und Schiller die Unfreiheit (der Mensch ist frei) zu leugnen scheint. Wenn es bei Rousseau heißt: »Der Mensch ist frei geboren«, so ist das ein metaphorischer Ausdruck dafür, daß der Mensch seinem Wesen nach frei ist, insoferne es die Natur des Menschen, sein Wesen ist, frei zu sein, ist er frei geboren, nicht heißen kann der Satz Rous­ seaus, daß der Mensch bei der Geburt, d.h. als Naturwesen frei ist. In einer auf seine natürliche Ausstattung reduzierten Betrachtungsweise kommt er allenfalls als Mängelwesen, nicht aber als freies Wesen in Sicht. Rousseau sagt im selben Satz aber auch: der Mensch ist unfrei, überall liegt er in Ketten. Diese Ketten sind hier metaphorisch und unmetaphorisch zu nehmen, es geht um Gefangene, Sklaven, Leibeigene, aber natürlich auch ganz allgemein um gesellschaftliche Zwänge. Dieser Widerspruch ist nur lösbar, wenn wir uns klar machen, daß hier jeweils von verschiedenen Ebenen der Freiheit die Rede ist: von der Freiheit im Sinne eines Existentiales (Freiheit) und von der gesellschaftlich-politischen Freiheit (Unfreiheit), dann sagt uns der Satz Rousseaus: die Freiheit als Wesensbestimmung des Menschen verbürgt uns noch nicht die Wirklichkeit der Freiheit im Rahmen gesellschaftlich-politischer Verhältnisse. Mit der Einsicht, die Freiheit als Existentiale gegen gesellschaft­ liche Freiheit stellt und die Realisierung ersterer im Rahmen letzterer als inadäquat beurteilt, verbindet sich die Forderung, gesellschaftliche 515 Rousseau, Jean-Jacques: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staats­ rechts, in: Sozialphilosophische und Politische Schriften, München 1981, S. 270. 516 Schiller, Friedrich: Die Worte des Glaubens (Freiheit, Tugend, Gott), in: Fricke, Gerhard / Göpfert, Herbert G. (Hrsg.): Sämtliche Werke, Bd. 1, Gedichte und Dramen I, München 61980, S. 214.

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Das Verhältnis von Freiheit und Unfreiheit – Rousseau versus Schiller

Verhältnisse so umzugestalten, daß sie dem Wesen des Menschen, seiner Freiheit gerecht werden. Aus dem Satz: der Mensch ist frei geboren, folgt unmittelbar, daß er nirgends in Ketten liegen soll. Diese Aufgabe, Freiheit zu realisieren, gewinnt ihre Begründung, ihre Rechtfertigung und Legitimierung gerade im Bezug auf die dem Menschen wesentlich zukommende Freiheit. Es kommt bei der Inter­ pretation also sehr darauf an, wie man die beiden Momente: Freiheit als Existentiale und gesellschaftliche Freiheit, aufeinander bezieht und das Verhältnis beider bestimmt. Läßt die Freiheit als Wesensbestim­ mung des Menschen gesehen keine quantitativen Differenzierungen zu, gibt es im gesellschaftlich-politischen Sinn durchaus ein mehr oder weniger an Freiheit, das realisiert werden kann und viele der uns heute selbstverständlich gegebenen Freiheiten sind im Lauf von Jahrhunderten nach einander mühsam erkämpft worden. In Schillers Satz scheint der Widerspruch von Freiheit und Unfreiheit geradezu ins Gegenteil verkehrt. Vordergründig wird hier in einer Art verstiegenem Idealismus die gesellschaftliche Realität der Freiheit ignoriert, wenn nicht geleugnet. Die ganz ohne Bezug auf die Möglichkeit ihrer gesellschaftlichen Verwirklichung bestimmte Frei­ heit läßt den Menschen auch dann frei sein, wenn er in Ketten liegt. Wiederum geht es um das Verhältnis von Freiheit als Wesensmerkmal des Menschen zur gesellschaftlichen Freiheit, und wiederum kommt es wesentlich darauf an, den Zusammenhang der unterschiedlichen Ebenen des Freiheitsbegriffs im Auge zu behalten. Wenn wir von der Freiheit als Existentiale reden, so ist richtig, daß diese durch bestehende gesellschaftliche Unfreiheiten nicht auf­ gehoben wird. Als Anspruch bleibt die Freiheit auch dort bestehen, wo sie gesellschaftlich-politisch beschnitten wird. Der Satz Schillers ist daher so zu verstehen, daß der Mensch seinem Wesen nach frei ist unabhängig davon, ob er diese Freiheit im Rahmen der Gesellschaft, in der er lebt, adäquat verwirklichen kann oder nicht. Daß die gesellschaftliche Form der Realisierung von Freiheit die Freiheit als Wesensbestimmung nicht tangiert, gilt nicht auch umgekehrt, soferne es gerade dieser Anspruch auf Freiheit ist, der es nicht zuläßt, daß man den gesellschaftlichen Möglichkeiten ihrer Verwirklichung gegenüber indifferent bleibt und der die argumen­ tative Grundlage darstellt, von der aus man eine Änderung bzw. Abschaffung gesellschaftlicher Unfreiheiten überhaupt erst einklagen kann. Schillers Satz kann also nicht so ausgelegt werden, daß man, ist der Mensch erst als frei bestimmt, sich um nichts weiter zu kümmern

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hätte. Es ist hinsichtlich beider Sätze entscheidend, zu wissen, von welcher Freiheit man jeweils spricht und daß beide Ebenen der Freiheit unabdingbar aufeinander bezogen sind. Von Schiller her liegt eine Abtrennung beider Sphären und damit eine einseitige Interpretation des Freiheitsproblems näher. Dieses Mißverständnis faßt Freiheit als ein Inneres, wahre Freiheit ist dann, im Sinne auch des dichterischen Grußes: »[…] Gedanken sind frei«517 eine Freiheit des Denkens und nicht, wie bisher herausgestellt, eine Freiheit des Handelns. Verwirklicht sich nicht Freiheit im Denken unabhängig von äußeren Bedingungen, ganz im Gegensatz zu dem stets auf die eine oder andere Art beschränkten Handeln? Und können wir in der Weise, in der wir handelnd zu vielerlei gezwungen wer­ den, auch gezwungen werden zu denken? Doch diese Ersetzung der Handlungsfreiheit durch die Denkfreiheit erweist sich in mehrfacher Hinsicht als Illusion, nicht nur daß die Freiheit als etwas im Denken sich Verwirklichendes, bloßer Gedanke bleibt, auch der Zusammen­ hang von Freiheit und Denken findet keine adäquate Bestätigung. Wenn wir beim Denken nicht bloß die Beliebigkeit von Einfällen vor Augen haben, die als etwas uns Zufallendes, also gerade nicht im Sinne freier Verfügbarkeit in unserer Macht Stehendes selbst kein passendes Beispiel für die Verwirklichung von Freiheit abgeben, sondern an ein Denken, wie es etwa in der Wissenschaft stattfindet, so finden wir auch unser Denken in vielfacher Weise gebunden: »Es gibt kein ›freies‹ Denken, denn Denken heißt, sich an das Gesetz des Widerspruchs gebunden fühlen. Es gibt nur eine Freiheit zu denken oder nicht zu denken, d.h. sich in Einfällen und Phantasien zu verlieren und ihnen ohne Prüfung Glauben zu schenken.«518 Denken verwirklicht sich alleine in der Bindung an logische Gesetzlichkeiten. Kant hat zudem darauf hingewiesen, daß entgegen den üblichen Vorurteilen Denken und gesellschaftliche Freiheit auf­ einander angewiesen bleiben: »Der Freiheit zu denken ist erstlich der bürgerliche Zwang entgegengesetzt. Zwar sagt man: die Freiheit zu sprechen oder zu schreiben könne uns zwar durch obere Gewalt, 517 »Über Wipfel und Saaten, In den Glanz hinein – Wer mag sie erraten, Wer holte sie ein? – Gedanken sich wiegen, Die Nacht ist verschwiegen, Gedanken sind frei.« Eichendorff, Joseph von: Sämtliche Gedichte und Versepen, hrsg. von Hartwig Schultz, Frankfurt am Main – Leipzig 2001, S. 470. 518 Reininger, Robert: Nachgelassene philosophische Aphorismen aus den Jahren 1948– 1954, hrsg. von Erich Heintel, Wien 1961, »132. Denkfreiheit«, S. 95.

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aber die Freiheit zu denken durch sie gar nicht genommen werden. Allein wie viel und mit welcher Richtigkeit würden wir wohl denken, wenn wir nicht gleichsam in Gemeinschaft mit andern, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mittheilen, dächten! Also kann man wohl sagen, daß diejenige äußere Gewalt, welche die Freiheit, seine Gedanken öffentlich mitzutheilen, den Menschen entreißt, ihnen auch die Freiheit zu denken nehme: das einzige Kleinod, das uns bei allen bürgerlichen Lasten noch übrig bleibt, und wodurch allein wider alle Übel dieses Zustandes noch Rath geschafft werden kann.«519 Der systematischen Vollständigkeit halber sei abschließend noch ein Hinweis auf die theologische Dimension des Freiheitsproblems gestattet. Auf dieser Ebene wird die menschliche Freiheit im Zusam­ menhang mit dem Absoluten thematisch. Die damit angesprochene Problemdimension kann durch Hinweise auf Kant,520 der die Erkenn­ barkeit Gottes aus dem Motiv heraus beschränkt, daß uns ein entspre­ chendes Wissen unsere Freiheit nehmen würde, Luther,521 der die Freiheit eines Christenmenschen in den Spannungsraum von Herr aller Dinge und Knecht aller Dinge gestellt sieht, und Liebrucks,522 der dem Menschen überhaupt erst als Marionette Gottes Freiheit zuspricht, markiert werden.

Würde und Wert Die Idee der Menschenwürde geht auf die Renaissance zurück, wo der Begriff Würde im Rückgriff auf und in Auseinandersetzung mit 519 Kant, Immanuel: Was heißt: Sich im Denken orientiren?, in: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Kant´s gesammelte Schriften, Berlin 1904 ff., Bd. 8, S. 144. 520 Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft, in: Königlich Preußische Aka­ demie der Wissenschaften (Hg.): Kant´s gesammelte Schriften, Berlin 1904 ff., Bd. 5, S. 180. 521 Luther, Martin: Von der Freiheit eines Christenmenschen. Fünf Schriften aus den Anfängen der Reformation, hrsg. von Wolfgang Metzger, Stuttgart 41977. 522 Liebrucks, Bruno: Sprache und Bewußtsein. »Und«. Die Sprache Hölderlins in der Spannweite von Mythos und Logos, Realität und Wirklichkeit, Bern – Frankfurt am Main – Las Vegas 1979, Bd. 7, S. 182; und: Liedtke, Simone: Freiheit als Marionette Gottes. Eine Untersuchung über den Gottesbegriff im Werk von Bruno Liebrucks, in: Gottschlich, Max (Hg.): Die drei Revolutionen der Denkart. Systematische Beiträge zum Denken von Bruno Liebrucks, Freiburg – München 2013, S. 252–279.

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griechischer Philosophie und christlicher Theologie jene Bedeutung erlangt, die auch für unsere Gegenwart bestimmend ist. In der Antike bezieht sich der Begriff Würde auf sozial hochran­ gige Individuen (König, Senator etc.), ist zunächst also Ausdruck einer besonderen gesellschaftlichen Stellung. Der Begriff einer Würde, die dem Menschen als solchem, d.h. unabhängig vom sozialen Status zukommt, tritt zuerst in der Stoa auf, und im Anschluß daran im Christentum, wo Würde Ausdruck der Sonderstellung des Menschen in der Schöpfung ist (imago dei – Ebenbildlichkeit Gottes). Der für uns heute verbindliche Begriff Würde zeigt sich so zwar einerseits vom Christentum her inspiriert, soferne er in Auseinan­ dersetzung mit theologischen Gedanken und Quellen steht, ist aber andererseits in einer eigenständigen Weise philosophisch konzipiert. Würde wird gerade nicht mehr primär aus der bevorzugten Stellung des Menschen gegenüber Gott abgeleitet, sondern im Rückgriff auf die Autonomie des mehr und mehr als eigenständiges Wesen in dieser Welt bestimmten Menschen. Kritiker wie Peter Singer machen es sich daher zu einfach, wenn sie Würde als theologischen Begriff qua­ lifizieren, um sie damit für die weitere Diskussion zu diskreditieren. Seine Herkunft aus dem Christentum ist unbestritten, trotzdem ist der Begriff Würde seiner philosophischen Grundlegung entsprechend nichts, was an eine bestimmte Religion gebunden wäre oder gar nur im Rahmen christlicher Glaubensüberzeugungen Geltung beanspru­ chen könnte. Das Prinzip Würde steht im scharfen Gegensatz zum utilitaristi­ schen Nützlichkeitskalkül, das den Menschen als prinzipiell verfügba­ ren und verrechenbaren Wert betrachtet, was etwa der empörenden Ansicht, das Unglück weniger kann in Kauf genommen werden, wenn dadurch das Glück vieler gesichert wird, ihre scheinbare Legitimität verleiht. Die Philosophie zeigt in den Momenten Subjektivität, Frei­ heit und Transzendenz die Sonderstellung des Menschen als Person und daß dem Menschen in diesem Person-Sein eine Würde zukommt, die ihn über alles, was es sonst in der Welt gibt, hinaushebt. »Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.«523 Wert und Würde werden bei Kant streng unterschieden. Beide Begriffe sind nicht geeignet, das jeweils vom anderen Gemeinte stellzuvertreten. Der Begriff Wert stammt ursprünglich aus der Natio­

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Würde und Wert

nalökonomie, bezieht sich also auf Handel, Güterverkehr etc. und ist im Zusammenhang damit als grundsätzlich quantifizierbar bestimmt, etwas kann mehr oder weniger wert sein und dementsprechend auch z.B. mit Geld aufgewogen werden. Im Unterschied dazu hat Würde keinen quantifizierbaren Sinn, es gibt kein mehr oder weniger an Würde, Würde kann mit nichts sonst verrechnet werden, ja überhaupt nicht in irgendeine Art von Güterabwägung eintreten. Die Terminologie ist freilich alles andere als einheitlich, wenn von der Würde als Wert gesprochen wird, kann nur von einem abso­ luten Wert die Rede sein. Nur ein solcher ist im Sinne des Adjektivs absolut der dem Wert sonst immanenten Relativität enthoben. Der Begriff ›absoluter Wert‹ ist ein Widerspruch in sich und vermag eben dadurch – mißverständlich genug – das auszudrücken, was mit Würde gemeint ist, etwas Absolutes, etwas Unbedingtes. In seiner alltagssprachlichen Verwendung umfaßt der Begriff Würde auch vie­ les, was dem philosophischen Würdebegriff nicht entspricht, so etwa, wenn wir von einer würdigen Feier, dem würdigen Auftreten eines Menschen oder gar vom Würdenträger, also von Würde als Ausdruck gesellschaftlicher Standesunterschiede: Hochwürden, Ehrwürden etc. sprechen. Hier handelt es sich, gemessen an der grundlegenden Qualität der Würde, von der bei Kant die Rede ist, um abgeleitete Bedeutungen, um einen metaphorischen Sprachgebrauch. In dem fundamentalen Sinn, in dem Kant von ihr spricht, kommt Würde jedem Menschen unabhängig von allen empirischen Bestimmungen zu, also unabhängig von Rasse, Geschlecht, Alter, Lebensumständen, Gesundheitszustand, Bildungsgrad, gesellschaft­ licher Stellung usw. Daß der Mensch Würde hat, heißt, daß er Zweck an sich selbst ist und niemals als bloßes Mittel gebraucht werden darf. Das ist auch der Inhalt dessen, was Kant das Prinzip der Sittlichkeit, das Sittengesetz oder mit einem philosophischen Fachausdruck, den »Kategorischen Imperativ« nennt: »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.«524 Damit ist jede Instrumentalisierung des Menschen untersagt, d.h. jeder Gebrauch des anderen als Mittel, zu dem er nicht zustimmt, und jede Unterstel­ Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Kant´s gesammelte Schriften, Berlin 1904 ff., Bd. 4, S. 434. 524 Kant, Grundlegung, S. 429. 523

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Fragmentarische Beiträge zu einem Begriff des Menschen

lung des anderen unter Zwecke, die nicht auch die seinen sind, als unmoralisch qualifiziert. Sowenig mir diese Würde jemand zusprechen kann, sowenig kann sie mir jemand absprechen. Ich muß nicht darauf warten, daß mir diese Würde verliehen wird, so wie mir die Würde eines Amtes verlie­ hen wird. Sie kommt mir als Vernunft- resp. Freiheitswesen immer schon zu, freilich nicht primär als eine Auszeichnung, der ich mich vor allen anderen Geschöpfen erfreuen dürfte, sondern als ein Anspruch, der mein und meiner Mitmenschen Handeln verpflichtet. Die Würde des Menschen besteht zunächst und primär in der Verpflichtung, den anderen, aber auch mich selbst, als Selbstzweck anzuerkennen, und zwar in der Weise eines unbedingten Gebots. Ich werde in ihrem Sinn immer zu fragen haben, wird mein Handeln dem adäquat, was meine und meines Mitmenschen Würde ausmacht? Die Wendung: der Mensch hat Würde, ist insoferne mißver­ ständlich, als sie uns an einen Besitz denken läßt. Die naheliegende Assoziation ist hier irreführend, weil eben der Mensch die Würde nicht so hat wie etwas, das sein Besitz ist. Würde haben heißt vielmehr, dem Anspruch der Würde unterstehen, Würde ist eine Forderung für den Umgang des Menschen mit dem Menschen, ein Anspruch, den der einzelne aber nicht nur anderen Menschen gegen­ über stellt, sondern der ebenso ihn selbst trifft und das nicht nur wiederum in seinem Verhältnis zum anderen Menschen, zum Du, sondern auch zu sich selbst. Ich kann in meinem Handeln auch mir selbst gegenüber meine Würde verfehlen. Jemandem die Würde so abzusprechen, daß man ihn vom Anspruch der Würde befreit, ist nicht möglich, man sagt zwar, dieser oder jener Mensch hat keine Würde, er benimmt sich würdelos etc., doch ist auch diesbezüglich der Unterschied von Anspruch und Besitz zu bedenken – einen Besitz können wir haben oder nicht, was wir besitzen, können wir verlieren, einem Anspruch können wir gerecht werden oder nicht, er bleibt bestehen auch dort und gerade dort, wo wir ihm nicht gerecht werden. Ich kann die Anerkennung menschlicher Würde nur von Men­ schen fordern, weder das Tier noch das Ding vermögen den Anspruch der Würde zu vernehmen, das Tier und das Ding können diese Würde daher auch nicht respektieren. Sie haben auch selbst keine Würde. Nur Menschen vernehmen diesen Anspruch in Gegenseitigkeit. Als Anspruch ist Würde auf den anderen bezogen, aber nicht abhängig von der Anerkennung durch andere, in der Weise, daß sie etwa nur solange besteht, als sie auch durch andere anerkannt

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Würde und Wert

ist – ein Mensch, der inhuman behandelt wird, hat seine Würde verloren in dem Sinn, daß ihr Anspruch nicht respektiert wird, doch der Anspruch ist deshalb nicht weniger geworden, er bleibt bestehen, er verdankt sich seinem Menschsein, seinem Subjektsein, nicht der Anerkennung oder Respektierung durch andere Menschen. Natürlich entspricht der Mensch der ihm zukommenden Würde dort nicht, wo er sich etwa moralisch verfehlt und selbstverständlich mißachten wir die Würde eines anderen überall dort, wo wir ihn instrumentalisieren und zum bloßen Mittel unserer Zwecksetzung machen, der prinzipielle Würdeanspruch wird dadurch aber nicht tangiert, jemandem die Würde absprechen kann man nur insoferne, als man diese Würde nicht achtet. Wer den anderen inhuman behandelt, nimmt ihm seine Würde und verliert dabei auch die eigene in dem Sinn, daß er dem beiden zukommenden Anspruch der Würde nicht gerecht wird. Die Frage nach der Menschenwürde stellt sich als Frage der Adäquation, der Angemessenheit an einen Anspruch, der außerhalb dieser Relation unverlierbar ist.

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Philosophische Anthropologie im Lichte der Kritik einer »Philosophie von der Sprache her« (Bruno Liebrucks)525

Herder als Wegbahner und Kritiker der Modernen Anthropologie »Die Neue Anthropologie hat in Herder einen weit vorausschauenden Wegbahner,“526 in Herder findet die moderne Anthropologie auch den ihr weit überlegenen Kritiker. Im Zentrum von Herders anthro­ pologischem Entwurf steht sein »genialer Vergleich von Mensch und Tier«.527 Worauf Herders Überlegungen abzielen, sind dabei nicht die Gemeinsamkeiten, sondern die Unterschiede zwischen Tier und Mensch. Er geht davon aus, daß »der Mensch den Tieren an Stärke und Sicherheit des Instinktes weit nachstehe, ja daß er das, was wir bei so vielen Tiergattungen angeborene Kunstfähigkeiten und Kunsttriebe nennen, gar nicht habe«.528 Der von der Philosophie bisher (Herder denkt dabei vor allem an Reimarus) in der Suche nach den Ursachen für diese Situation verfehlte Hauptgesichtspunkt ist dabei das, was Herder die »Sphäre der Tiere« nennt und folgend beschreibt: »Jedes Tier hat seinen Kreis, in den es von der Geburt an gehört, gleich eintritt, in dem es lebenslang bleibt und stirbt; nun ist es aber sonderbar, daß je schärfer die Sinne der Tiere und je wunderbarer Zum Folgenden vgl.: Woschnak, Werner: Liebrucks’ Auseinandersetzung mit Herder und Gehlen, in: Gottschlich, Max (Hg.): Die drei Revolutionen der Denkart. Systematische Beiträge zum Denken von Bruno Liebrucks, Freiburg – München 2013, S. 173–202. 526 Litt, Theodor: Die Sonderstellung des Menschen im Reich des Lebendigen, in: Wenke, Hans (Hg.): Geistige Gestalten und Probleme. Eduard Spranger zum 60. Geburtstag, Leipzig 1942, S. 229. 527 Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 59. 528 Herder, Johann Gottfried: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, in: Sprachphilosophische Schriften, ausgewählt und mit einer Einleitung, Anmerkungen und Registern versehen von Erich Heintel, Hamburg 1960, S. 15. 525

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Philosophische Anthropologie im Lichte sprachphilosophischer Kritik

ihre Kunstwerke sind, desto kleiner ist ihr Kreis: desto einartiger ist ihr Kunstwerk.«529 Hier ist, wie es der an Herder anschließende Gehlen formuliert hat: »zum ersten Male deutlich die Einpassung der ›Fähigkeiten‹ der Tiere, sowohl ihrer Aktionen wie ihrer Wahrnehmungen und Instinkte, in einen begrenzten Weltausschnitt [...] erkannt und ausge­ sprochen.«530 Herder hat im Begriff der Sphäre vorweggenommen, was wir später etwa bei Jakob von Uexküll als »Umwelt«531 bezeichnet und beschrieben finden. Uexküll selbst allerdings hat im Begriff Umwelt, wie bereits der Titel seines Werkes: »Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen« deutlich macht, auch den Menschen bruchlos miteinbezogen, d.h. auch dem Menschen eine, nämlich seine Umwelt zugeordnet, wie der Zecke die ihre, obschon ein Blick auf den Untertitel des Werkes: »Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten« erkennbar macht, daß die Umwelten der Tiere für den Menschen gerade nicht über die Sinne, sondern über das Denken erschlossen sind. »Die Frage, ob menschliche Umwelt und mensch­ liche Intelligenz, welche ihre eigene Umwelt und die der anderen begreift, aus ihrer biologischen Bindung herausgelöst werden können, hängt demnach mit dem Anspruch zusammen, daß sie nicht nur eine Umwelt neben anderen Umwelten ist, sondern ihr Rahmen und ihre Basis im Ganzen. Jede biologische Umweltinterpretation muß in letzter Instanz auf einem außerbiologischen Weltbegriff ruhen. An dieser Frage setzt die Philosophische Anthropologie ein.«532 Die Sphäre der Tiere und ihre Künste zeigen sich verkehrt proportional aufeinander bezogen: »die Empfindsamkeit, die Fähig­ keiten und Kunsttriebe der Tiere nehmen an Stärke und Intensität zu im umgekehrten Verhältnisse der Größe und Mannigfaltigkeit ihres Wirkungskreises,“533 wofür etwa Biene und Spinne das Beispiel geben: »Wie wundersam ist das Insekt und wie enge der Kreis seiner Wirkung!«534 Die »umgekehrte Proportion«, die zwischen Kunstfähigkeiten und Aufgabenbereich besteht, kann zwar auch beim Menschen Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 15 f. Gehlen, Der Mensch, S. 83. 531 Vgl. Uexküll, Jakob von / Kriszat, Georg: Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten, Frankfurt am Main 1983. 532 Plessner, Mensch und Tier, S. 59. 533 Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 16 f. 534 Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 16. 529

530

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Herder als Wegbahner und Kritiker der Modernen Anthropologie

wiedergefunden werden, den mangelnden Kunstfähigkeiten, den »Lücken und Mängeln«535 entspricht die große »Welt von Geschäften und Bestimmungen«,536 die um ihn liegt, während aber die Natur auf diese Weise jedem Tier »gab [...,] was und wieviel es brauchte«, ist der Mensch so nicht lebensfähig, sollte sie also »gegen ihn die härteste Stiefmutter«537 gewesen sein? »Mit einer so zerstreuten, geschwäch­ ten Sinnlichkeit, mit so unbestimmten, schlafenden Fähigkeiten, mit so geteilten und ermatteten Trieben geboren, offenbar auf tausend Bedürfnisse verwiesen, zu einem großen Kreise bestimmt – und doch so verwaist und verlassen [...] Nein! ein solcher Widerspruch ist nicht die Haushaltung der Natur.«538 Damit ist der Weg frei, die Überlegenheit des Menschen mit seiner Mängellage in eins zu denken, d.h. Lücken und Mängel auf den ihm zukommenden »Vorzug der Freiheit«539 zu beziehen und darin die tierische Organisationsform des Menschen als Ermöglichung von Sprache, Verstand, Vernunft, Besinnung, Reflexion, also als Voraus­ setzung der den Menschen zukommenden spezifischen Weltstellung zu begreifen: »Nicht mehr eine unfehlbare Maschine in den Händen der Natur wird er sich selbst Zweck und Ziel der Bearbeitung«.540 Was den Unterschied von Tier und Mensch betrifft, so liegt dieser bei Herder nicht »in Stufen oder Zugabe von Kräften, sondern in einer ganz verschiedenartigen Richtung und Auswicklung aller Kräfte«,541 ist also ein Unterschied nicht der Quantität, sondern der Qualität. »Es ist die ganze Einrichtung aller menschlichen Kräfte, die ganze Haushaltung seiner sinnlichen und erkennenden, seiner erkennenden und wollenden Natur; oder vielmehr – es ist die einzige positive Kraft des Denkens, die mit einer gewissen Organisation des Körpers verbunden bei den Menschen so Vernunft heißt, wie sie bei den Tieren Kunstfähigkeit wird, die bei ihm Freiheit heißt und bei den Tieren Instinkt wird.«542 Vernunft und Sprache liegen beim Menschen nicht in der Entwicklungsrichtung tierischer Fähigkeiten, sie werden weder als 535 536 537 538 539 540 541 542

Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 19. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 17. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 19. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 18. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 20. Ebd. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 21. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 20.

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Philosophische Anthropologie im Lichte sprachphilosophischer Kritik

Weiterentwicklung resp. »Stufenerhöhungen der Tierkräfte«543 ver­ standen, eine Vorstellung, welche die Biologie im Lichte des gang und gäben Evolutionismus heute mehr denn je bestimmt, noch als »abgetrennte Kraft«,544 die, man weiß nicht woher, zu einem sonst der tierischen Organisationsform entsprechenden Organismus hin­ zukommt, ihm gewissermaßen von außen aufgesetzt wird. Hier wird einiges gedacht, was dann später etwa bei Scheler wieder verloren ist. In Schelers Stufentheorie finden wir ja gleich beide von Herder als ungenügend durchschauten Konzepte wieder, das der Weiterent­ wicklung der Tierkräfte dort, wo sich etwa mit Blick auf seine sich in verwandelter Form beim Menschen wiederfindenden Stufen, ein zwar sehr großer, aber doch wiederum nur gradueller Unterschied »[z]wischen einem klugen Schimpansen und Edison, dieser nur als Techniker genommen,“545 auftut. Herder überragt die ihm nachfolgenden Positionen deshalb, weil er den Menschen als sprachliches Wesen begreift. Nicht nur die Argumente zur Ablehnung des Stufenschemas, die Plessner und Gehlen – seltsam genug – vereint zeigen, finden wir bereits bei Herder, auch Gehlen muß sich an Herder messen lassen. Daß sich dieser auf Herder als Vorläufer beruft und in Anspruch nimmt, nichts weiter als den systematischen Grundgedanken Herders auf dem gegenwärtigen Niveau des Wissens von der Natur auszuführen, kann nicht unkommentiert zur Kenntnis genommen werden. Herder hat zuerst darauf hingewiesen, daß Lücken und Mängel die Kennzeichen des Menschen sind, was Gehlen von ihm übernommen hat – doch welche Folgerungen hat er daraus gezogen? Während bei Herder die naturgegebene Instinktarmut gewissermaßen voraussetzungslogisch auf den Menschen als Freiheits- und Geistwesen bezogen wird, finden wir bei Gehlen die Kultur kompensatorisch an diesen Naturbefund gebunden. Damit haben wir, was das Verhältnis von Natur und Geist (Instinktarmut und Denken) betrifft, zwei gegensätzliche Aus­ legungsmöglichkeiten vor uns, auf deren unterschiedliche Folgen für das Selbstverständnis des Menschen und die Beurteilung des Geistes bereits Theodor Litt hingewiesen hat: Im einen Fall hat der Mensch das Denken nötig, weil er keinen Instinkt hat, im anderen Fall hat er den Instinkt nicht nötig, weil er das Denken hat, im einen Fall ist 543 544 545

Ebd. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 21. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 37.

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Liebrucks’ Antwort auf Herder

es »ein ursprünglicher Mangel, der aus seiner Bedürftigkeit erzeugen soll, was über die Not hinaushilft«, der Geist ist die abhängige Folge der Naturausstattung des Menschen, im anderen Fall ist es ein »ursprüngliche[r] Reichtum, der aus seinem Überfluß spenden soll, was auch der Not zur Hilfe kommt«, der Geist steht der menschlichen Naturausstattung selbständig gegenüber.546 An Herder gemessen ist die Stufen- resp. Schichtenanthropolo­ gie Schelers ein Rückschritt und die Gehlensche Ausführung seines Grundgedankens nicht mehr als eine einseitige Interpretation. Pless­ ner und Portmann kennen Herder, ohne die eigene Position in ihrem Bezug auf ihn zu explizieren, ohne es anzusprechen erweist sich Port­ mann als Schüler Herders darin, daß er den Unterschieden zwischen Tier und Mensch mehr Aufmerksamkeit schenkt als den Gemeinsam­ keiten.

Liebrucks’ Antwort auf Herder Bezugspunkt für die Auseinandersetzung mit Herder ist dessen berühmte Preisschrift: »Über den Ursprung der Sprache«,547 die Liebrucks aufnimmt, um »sie nachkantisch lesend, aus ihr [zu] ler­ nen«.548 Es gilt, »von unserer heutigen Situation, unserer Bewußt­ seinsstufe aus in seine [Herders] Fragen einzutreten«,549 das aber nicht unbewußt, sondern in einer Weise, die sich darin, daß sie »dieses Vorgehen eigens ins Bewußtsein« hebt, als sprachlich erweist. So hat Liebrucks’ Auseinandersetzung mit Herder nicht den Charakter eines Berichtes, sondern den einer Antwort, ein Begriff, in dem die Sprachlichkeit seines Vorgehens angezeigt ist. Herders ein Jahrzehnt vor der Kritik der reinen Vernunft erschie­ nene Preisschrift »enthält bereits Ansätze zu einem Weiterdenken auf dem durch die Kantische Kritik eingeschlagenen Wege«. Sie repräsen­ tiert darin gegenüber Kant die »Unmittelbarkeit [...] einer höheren Denkstufe,“550 ist eben deshalb aber auch als unbeholfen, ja als dog­ 546 547 548 549 550

Vgl. Litt, Die Sonderstellung des Menschen im Reich des Lebendigen, S. 238. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 1–87. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 54. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 53. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 48.

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Philosophische Anthropologie im Lichte sprachphilosophischer Kritik

matisch zu qualifizieren.551 Der Neueinsatz Herders besteht darin, die Reflexion nicht mehr auf »die Frage nach der menschlichen Erkenntnis und die Sprache«, wie sie in der Entwicklungsrichtung der Philosophie gelegen hat, »sondern auf die Sprache allein« gerichtet und dabei »Sprache nicht mehr als einen Gegenstand unter Gegenständen [...,] sondern als Bedingung der Möglichkeit der Gegenstände überhaupt, sofern diese Gegenstände die des Menschen sind«,552 beschrieben zu haben. In diesem Sinn sagt Liebrucks mit Herder, daß es »die Sprache ist, die alle meine Vorstellungen muß begleiten können«, was über das im kantischen »Ich denke« ausgesprochene Prinzip aller gegenstandskonstitutiven Synthesis insoferne hinausgeht, als die »Sprache [...] nicht nur gegenstandskonstitutive Synthesis, sondern zugleich Gegenstand«553 ist. In diesem Zusammenhang weist Liebrucks Heintels Ansicht, daß die Positionen von Kant (ohne Kategorie keine Gegenstände) und Herder (ohne Wort keine Welt) »gar nicht so weit entfernt«554 voneinander liegen würden, zurück. Liebrucks bemerkt ironisch, daß er sich um eben diese kleine Entfernung bemühen will, weil in ihr eine »Unendlichkeit im Unterschied der Methode« liegt. Die Trennung »einer gegenständlichen Wissenschaftsproblematik von einer philosophischen des Sinnes«, um die es Kant geht, verfehlt die Sprache als Einheit von Gegenstand und Bedeutung: »Wo die Sprache Bedeutung ist, liegt Sinnproblematik vor, wo sie Artikulationsgebilde ist, liegt ein wirklicher Gegenstand vor.«555 Im Hinblick auf diesen »ungegenständlichen Gegenstand«, den Liebrucks »Sprachlichkeit des Menschen« nennt, weiß er im Denken Herders eine Dialektik angeschlagen, ohne die »auch nicht das leiseste Begreifen von Sprache möglich« ist, so ist auch im Versuch, die Sprachlichkeit des Menschen zu begreifen, die Wiedergewinnung dieser Dialektik die primäre Auf­ gabe.556

551 Ein Umstand, auf den Liebrucks die Erfolglosigkeit von Herders Metakritik der Kritik der reinen Vernunft zurückführt. 552 Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 48 f. 553 Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 49. 554 Heintel, Erich: Herder und die Sprache, in: Herder, Johann Gottfried: Sprach­ philosophische Schriften, ausgewählt und mit einer Einleitung, Anmerkungen und Registern versehen von Erich Heintel, Hamburg 1960, S. XX. 555 Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 52 f. 556 Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 50.

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Liebrucks’ Antwort auf Herder

Den für alle neuere Sprachforschung bahnbrechenden Neuan­ satz Herders bringt Liebrucks von ihrem nicht minder berühmten ersten Satz aus in Sicht: »Schon als Tier hat der Mensch Sprache«.557 Dieser Satz Herders steht im Zusammenhang der Ursprungsfrage. In Gegenwendung zur These vom göttlichen Ursprung der Sprache bei Süßmilch, die er ablehnt, weil sie die Reduktion der Sprache auf Buchstaben impliziert, lehrt Herder ihren menschlichen Ursprung. Die Folgerung, daß der Ursprung der Sprache ein natürlicher ist, wenn der Mensch schon als Tier Sprache hat, bleibt, so veranschaulicht Liebrucks, von dem dabei vorausgesetzten Naturbegriff abhängig. Mit Blick auf eine Reihe unterschiedlicher Naturbegriffe der philoso­ phischen Tradition, von den Griechen über Spinoza und Kant bis zum Positivismus gibt er zu bedenken, daß es alle diese Begriffe von Natur »nicht ohne den Menschen« gibt, sodaß sich die »Naturen«, von denen wir abstammen sollen, als »Kinder von uns«558 erweisen, von denen wir gerade nicht abstammen können. Die Behauptungen eines göttlichen und eines menschlichen Ursprungs der Sprache erscheinen dort, wo »Gott und Mensch als Gegenstände genommen werden«,559 als Alternative. Liebrucks will Herder folgend und »ihn zugleich weiterdenkend«560 zeigen, daß der menschliche Ursprung der Sprache die beiden anderen, den göttlichen wie den natürlichen, mit sich führt.561 Zunächst aber gilt es, eine Reihe von Mißverständnissen abzu­ wehren, denen Liebrucks sein Verständnis des herderschen Satzes: »Schon als Tier hat der Mensch Sprache« entgegenhält: »daß der Mensch dort, wo er sich als noch vorsprachlich ansehen möchte, immer schon sprachlich ist. Also zum Beispiel in jeder Art seiner Bewegungen, bevor er noch spricht.«562 Im Bewußtsein, daß Herders Position »nur in einer dialektisch schon weiter fortgeschrittenen Überlegung und Bewußtseinslage [...] verständlich gemacht werden«563 kann, hält Liebrucks weit voraus­ greifend fest, daß der Mensch nicht als ein »gegenständlich vorhan­ dener« spricht. »Er kann nur sprechen bei dieser physiologischen 557 558 559 560 561 562 563

Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 3. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 55. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 54. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 60. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 75. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 56. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 53.

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Philosophische Anthropologie im Lichte sprachphilosophischer Kritik

Ausstattung und einer Extramundanität«, die zu illustrieren Liebrucks auf die Unnatürlichkeit des Menschen als eines Wesens, »das etwas versprechen kann«, hinweist. Schon der Umstand, daß er im Sinne eines gegebenen Versprechens über alle physiologischen Veränderun­ gen hinaus an einer Identität festhält zeigt, daß der Mensch »den Kopf aus welcher physiologischen Ausstattung auch immer«,564 die als solche wohl Bedingung der Möglichkeit solchen Setzens sein kann, nicht aber selbst Identität zu setzen vermag, hinausstreckt. Wenn der Mensch Sprache schon als Tier hat, muß er diese »von seiner physiologischen Ausstattung«565 her haben. Die bestimmte Physiologie des Naturwesens Mensch (Kehlkopf, Stimmbänder etc.) ist seinem Sprechen-Können vorausgesetzt, aber »dieses Naturwesen ist nicht der Dirigent«, sondern wird vom sprechenden Menschen »in Dienstschaft« genommen. »Der Mensch ist also wohl ein natürliches Wesen, aber ein solches, das sich selbst in die Dienstschaft zu nehmen imstande ist.«566 So zeigt Herders Satz, »daß der Mensch schon physiologisch ein geistiges Wesen ist«,567 dabei »ist der Mensch nicht Naturwesen und auch Geistwesen, sondern als dieses bestimmte Naturwesen ist er Geist.«568 Daß der Mensch schon als Tier Sprache hat, darf also auch nicht so verstanden werden, als würde menschliche Sprache aus tierischen Ursprüngen hervorgehen. Eine solche »Entstehung der Sprache aus vorsprachlichen Zuständen ist schon deshalb schlechterdings undenk­ bar, weil diese ›vorsprachlichen Zustände‹ bereits innerhalb unserer Sprache, von ihr her gesehen, diejenigen sind, die noch ohne sie sein sollen.« Eine solche genetische Ableitung übersieht nicht nur, daß es nur innerhalb der Sprache des Menschen Vorsprachliches gibt, in ihrem Rahmen bleibt auch unerklärlich, wie »aus Sinnfreiheit Sinn entstehen«569 soll. Als »dasjenige Licht der Welt, in dem wir leben«, verbietet die Sprache selbst eine genetische Betrachtung, also etwa die »Frage nach eine[m] Tage, an dem der Mensch zu sprechen anfing«, denn nach »einem hinter diesem Licht liegenden Ursprung zu fragen,

564 565 566 567 568 569

Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 54. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 52. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 55. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 54. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 55. Ebd.

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Liebrucks’ Antwort auf Herder

heißt [...] desjenigen Lichtes entraten zu wollen, das uns überhaupt Fragen zu stellen gestattet.«570 Zwar haben Mensch und Tier die »Sprache der Empfindung« gemeinsam, doch ist Empfindungssprache nicht der Unterbau für menschliche Sprache, wenn diese nicht wiederum als Gegenstand betrachtet werden soll. Empfindungssprache ist »evokatorisch«, sie »tönt«. Hier liegt für Liebrucks bereits ein erster Hinweis auf die Unterscheidung von Naturlaut und Sprachlaut.571 Herders Satz bedeutet in dieser Hinsicht, »daß zum mindesten das akustische Moment der Sprache tierisch ist«. Um Töne hervorzubringen, bedür­ fen wir der Physis, zum Hervorbringen artikulierter Töne aber bedarf es einer Physis, die Logos ist. Erst die Sprache als »tönen­ des System«572 macht aus dem Menschen »das sympathetische Geschöpf«,573 das ihn mit anderen verbindet. Die Tonalität der Spra­ che ist daher, so antwortet Liebrucks Herder, Vernunftmoment.574 Vom herderschen Satz her ist festzuhalten, daß der Mensch vom Tier sich nicht dadurch unterscheidet, daß er behauptet, kein Tier zu sein. Es genügt »nicht zu sagen, der Mensch sei kein Tier, sondern [es ist] zu begreifen, daß der Mensch deshalb kein Tier ist, weil er weiß, daß er Tier ist«,575 wie Liebrucks im Anschluß an die schon zitierte Hegel-Stelle sagt, um sie folgend zu erläutern: »daß der Mensch nur in dem Maße nicht Tier ist, als und in welchem Maße er weiß, daß und in welchem Maße er Tier ist.«576 Mit diesem Satz aber sind wir noch nicht beim Menschen: Als Tier und nicht Tier »ist er [der Mensch] zunächst eine Art, die es unter den Tieren nicht gibt, das Übertier. Der Weg zum Menschen mag darin eingeschlagen sein, aber wir sind ihn nicht zu Ende gegangen [...]«,577 der Mensch als Sprachwesen ist damit noch nicht in Sicht gebracht. Wir sind noch nicht beim Menschen, haben aber bereits ein schö­ nes Beispiel für einen philosophischen Satz vor uns, mit dem in der Wissenschaft nicht das geringste anzufangen ist. Ein Wissenschaftler Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 56. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 57. 572 Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 58. 573 Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 11. 574 Vgl. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 58. 575 Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 56. 576 Liebrucks, Bruno: Sprache und Bewußtsein, Bd. 3: Wege zum Bewußtsein im Raum von Kant, Hegel und Marx, Frankfurt am Main 1966, S. 287. 577 Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 56 f. 570 571

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Philosophische Anthropologie im Lichte sprachphilosophischer Kritik

wird, soferne er Biologe ist, sein Erstaunen darüber zum Ausdruck bringen, daß hier der Satz: »Der Mensch ist Tier« ausgesprochen wird, weil er bisher der Meinung war, Philosophie würde leugnen, daß der Mensch Tier ist, er wird die Aussage erfreut zur Kenntnis nehmen, insoferne sie dem entspricht, was auch er über den Menschen zu sagen weiß: Der Mensch ist Tier. Dabei wird er dann aber auch stehenbleiben und, soferne wir an dem Satz, der Mensch ist nicht Tier festhalten wollen, darauf hinweisen, daß es sich hierbei um einen Widerspruch handelt. Ein solcher kommt wohl auch in der Wissenschaft vor, muß aber dort, wo er vorkommt, eliminiert werden. Unser Widerspruch hat dort nicht den Charakter einer Einsicht, sondern steht im Verdacht, ein Taschenspielertrick zu sein, der unweigerlich zur Aufforderung führen muß, uns zu entscheiden: ist der Mensch nun Tier oder nicht Tier! »Die Sprache integriert uns nicht in eine Umwelt, sondern eröffnet eine Welt von ›Aspekten‹, wie zum Beispiel den von der Umwelt der Tiere und der Nichtumwelt des Menschen, wenn wir das, was wir einigermaßen großartig schon als Welt zu bezeichnen pflegen, als die erste bestimmte Negation der tierischen Umwelten denken. Diese Aspekte bringen wir nach Litt leicht in ein Hintereinander von evolutionärer Entwicklung, so daß wir nicht mit Plato das Tier vom Menschen her betrachten, sondern den Menschen in ontologischer Manier vom Tier her. Nach Herder ist der Mensch ›ohne Haarkleid‹, während nach Plato die Tiere die Lagerdecke angewachsen tragen. Auch wenn wir glauben, den Menschen vom Tier her zu verstehen, verstehen wir ihn immer schon von den menschlichen Aspekten her, die wir von ihm gewonnen haben, und so doch den Menschen und das Tier vom Menschen her. Hierin steckt nicht die Alternative von ›oben‹ und ›unten‹, sondern die von Begriff und Vorstellung.«578 Was die »Sprachen« der Tiere betrifft, so gehören sie für Herder in den Raum der jeweiligen tierischen Umwelt: »Die Biene summt wie sie saugt, der Vogel singt wie er nistet«.579 578 Liebrucks, Bruno: Das Problem der Sprachaufstufung und der Vorrang der Ein­ deutigkeit bei Theodor Litt, in: Irrationaler Logos und rationaler Mythos, Würzburg 1982, S. 237 f. 579 Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 18. Das Summen der Bie­ nen ist, wie wir heute wissen, hier nicht das geeignete Beispiel, weil diese zwar sum­ men, aber nicht hören können, wie übrigens schon Aristoteles vermutet hat, sodaß man, soweit es das Summen betrifft, hier von Sprache nicht einmal in Anführungs­ zeichen sprechen kann. Karl von Frisch hat in seinen Arbeiten zur »Bienensprache«,

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Liebrucks’ Antwort auf Herder

Anders als beim Menschen finden wir Sprache beim Tier als »Moment ihrer Verhaltensweisen«,580 das, ohne der Subjektivität zu bedürfen, »in ihr objektives Verständigtsein mit ihren Sphären«581 gehört. Beim Menschen dagegen ist Sprache „,Antwort’ auf seine Bedürftigkeit«, die mit einem Wort darin besteht, »daß seine Sinne ›allgemein‹ sind.«582 Man hat den Grundgedanken Herders immer wieder auf die Formel gebracht: »Vernunft ist Sprache«.583 Diesem Satz untrennbar verbunden ist der andere, »Sprache ist Sinnlichkeit«. Herders große Einsicht besteht nach Liebrucks darin, daß im »unge­ genständlichen Gegenstand« Sprache die Trennung von Vernunft und Sinnlichkeit, wie sie von Descartes an die Philosophie bestimmt hat, aufgehoben ist. Er zeigt, daß die Momente Sprache, Sinnlichkeit und Vernunft so ineinander verschränkt erscheinen, daß sie nur in ihrer Bezogenheit aufeinander überhaupt begreifbar sind. »Die uns allein bekannte menschliche Sprache verlangt von ihrem Begriff her die Preisgabe des Begriffs einer Sinnlichkeit, die die Menschen in unvollkommener Weise mit den Tieren, und einer Vernunft, die die Menschen ebenfalls in unvollkommener Weise mit höheren Wesen gemeinsam haben sollten, so daß der Begriff jeweils ein die Sinnlichkeit der Tiere oder die Vernunft höherer Wesen mit umfassender Allgemeinbegriff sein könnte. Hier verschiebt sich also mit der Reflexion des Sprachproblems die herkömmliche dichotomi­ sche Topologie der Begriffe in der Selbstreflexion oder Wesensbestim­ mung des Menschen.«584 Die Allgemeinheit der Sinne, welche den Menschen im Gegensatz zur spezialisierten Sinnlichkeit des Tieres kennzeichnet, ist daher die Ermöglichung der Selbstreflexion des Menschen. »Die Andersartigkeit der Sinne des Menschen ist zugleich die Andersartigkeit seiner Vernunft. Diese Andersartigkeit ist nicht mehr so etwas wie die ›Vernunft des Leibes‹, sondern diejenige eines Wesens, das nicht nur erkennt, sondern ›auch weiß, daß es erkenne,

für die er den Nobelpreis erhalten hat, gezeigt, daß es Tänze sind, über die Bienen kommunizieren. 580 Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 61. 581 Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 59. 582 Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 61. 583 Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. XXI. 584 Simon, Josef: Sprachphilosophische Aspekte der neueren Philosophiegeschichte, in: Simon, Josef (Hg.): Aspekte und Probleme der Sprachphilosophie, München 1974, S. 27.

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Philosophische Anthropologie im Lichte sprachphilosophischer Kritik

wolle und wirke‹“.585 So gibt auch Herders »Satz von der geschwächten Sinnlichkeit des Wesens Mensch [...] nur die halbe Wahrheit«, der Mensch kann auf Umwegen »die Sinnlichkeit sämtlicher Tiere wieder einholen. Dieser Umweg heißt Sprache.«586 Auch hier folgt Liebrucks Herder, ihn zugleich weiterdenkend. In diesem Sinn bezieht Liebrucks Herders Begriff der Besonnenheit, »die die sprachliche Struktur der menschlichen Weltbegegnung ist, nämlich, daß der Mensch, indem er sich zu den ihm jeweils gewordenen Gegenständen verhält, zugleich zu sich selbst verhält«,587 auf den hegelschen Begriff: »Besonnenheit ist nicht ein Daseiendes, das reflektiert, [...] nicht eine Eigenschaft eines besonnenen Menschen, Besonnenheit ist diese Doppelreflexion [nämlich sich im Verhalten zu den Dingen immer zugleich zu sich selbst zu verhalten] als daseiende. Besonnenheit ist der existierende Widerspruch selbst.«588 Herders Auslegung der Besonnenheit als Reflexion trägt freilich dieser »Dialektik der Besonnenheit« nicht in angemessener Weise Rechnung, sondern zeigt ihn selbst weit entfernt davon, die »Unge­ heuerlichkeit seiner Entdeckung« zu ermessen. Die von Liebrucks unterschiedene erste und zweite Reflexion zeigen sich in der Refle­ xion, die bei Herder ihre Wirksamkeit dadurch beweist, »daß sie in dem ganzen Ocean von Empfindungen, der sie durch alle Sinne durch­ rauscht, eine Welle [...] absondern, sie anhalten, die Aufmerksamkeit auf sie richten und sich bewußt sein kann, daß sie aufmerke«,589 nicht ausreichend unterschieden. Liebrucks stellt die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der zweiten Reflexion und zeigt, daß der Mensch »die Aufmerksam­ keit auf die Aufmerksamkeit nur durch und mit der Sprache leisten kann.«590 Hier kommt Sprache wiederum als tönendes System in Sicht. Der Mensch kann nur dadurch aus der ersten Abstraktion heraustreten, daß er Laute artikuliert. Im Sinne der ersten Reflexion wird ein Merkmal abgesondert, um dieser Absonderung im Sinne der zweiten Reflexion bewußt zu werden, muß dieses Merkmal »zuerst als ein neuer Gegenstand« vor dem Menschen stehen, als »der Ton, 585 586 587 588 589 590

Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 62. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 61. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 62. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 63. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 24. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 63.

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Liebrucks’ Kritik an Gehlen

den er dabei ausstößt, auf den er dann zurückkommen kann.«591 Dieser Sprachton ist dialektisch, er »weist auf die Sache und auf den Sprechenden zurück«.592 Der Ton hält nicht nur die Bedeutung der abgesonderten Welle fest, er legt ebenso Zeugnis ab vom Her­ ausrufen dieser Bedeutung. Die semantische Relation »zur Sache und, in einem Akt, zum Sprechenden« zeigt sich hier zunächst als zweistrahlig: »Kein Wort wird gesprochen, das nicht sofort von dem Sprechenden in Aufmerksamkeit genommen würde. Diese Reflexion ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß ich den Gegenstand als einen menschlichen Gegenstand überhaupt vor mir habe.«593 Am berühmten Lamm-Beispiel Herders – auch hier ist die Gewißheit in einem akustischen Merkmal versammelt, nämlich im Blöken594 – zeigt Liebrucks, daß im Sprachton nicht nur die Ver­ bindung des Menschen mit der Sache, sondern auch die mit dem Mitmenschen liegt. »Die Sprache stiftet distanzierte, über den Dingen und zwischen den Menschen schwebende Gemeinsamkeit. Sie teilt dem Partner nicht die Dinge, sondern etwas ›über‹ sie mit. Sie fügt die Ringhälften der Unmittelbarkeit der Töne und der Vermittlung ihrer Bedeutun­ gen zusammen. Nur beides zusammen ist gemeinschaftsstiftend, niemals entweder die Unmittelbarkeit oder die Vermittlung.«595 In diesem Schritt über Herder hinaus, bei dem sich das »gesellschaftliche Moment der Sprache [...] noch recht anhangsweise behandelt«596 findet, erscheint die sprachliche Dimension in ihrer Dreistrahligkeit, nämlich als Subjekt – Subjekt – Objekt – Relation und darin auch der sprachliche Ursprung der Gesellschaft.597

Liebrucks’ Kritik an Gehlen Daß Liebrucks das Problem von »Sprache und Bewußtsein« nicht dort aufnimmt, »wo die Philosophie es bei Hegel stehenließ«, sondern 591 592 593 594 595 596 597

Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 63. f. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 64. Ebd. Vgl. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 24 ff. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 65. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 77. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 66.

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Philosophische Anthropologie im Lichte sprachphilosophischer Kritik

am »anthropologischen Zipfel«, also gewissermaßen »von unten«, anfaßt, muß solcherart als Tribut an das Zeitalter, »dort anzufangen, wo es uns hingeführt hat«,598 verstanden werden. Letzteres gilt insbe­ sondere von der Auseinandersetzung mit Gehlen als philosophischen Repräsentanten einer Zeit, in der die Philosophische Anthropologie das philosophische Tagesthema war. Liebrucks ist schon in seiner Herder-Interpretation über Gehlen hinaus, wenn er dabei Herders Ansatz bei der konkreten Sprache für einen riesigen, freilich nur skizzenhaft ausgeführten Entwurf hält, in Gehlens Werk dagegen nur die detailreiche, aber auch beschränkte Ausmalung einiger Teilbereiche desselben sieht, so widerspricht dies dem Selbstverständnis Gehlens in seinem Bezug zu Herder nicht.599 Bei Gehlen ergibt die biologische Betrachtung des Menschen, »daß der Mensch schon auf Grund seiner biologischen Natur keine nur biologische Natur sein kann«,600 in dieser Einsicht liegt nach Liebrucks die Stärke der gehlenschen Untersuchung, ihre Grenze liegt darin, daß diese Einsicht nicht durchgehalten wird.601 Darin, so zeigt Liebrucks, verweisen Gehlens eingeschränkte Fragestellung und ihr Resultat aufeinander: »Von ihr aus kann man nur zur Wesens­ bestimmung des Menschen als Handelnden gelangen.«602 Dieser Bestimmung des Menschen als handelndes Wesen bei Gehlen hält Liebrucks die Bestimmung des Menschen als Sprachwesen entgegen, der zufolge »der Mensch wohl als Sprachwesen handelt, aber niemals als handelndes Wesen schon spräche.« Die für alle weitere Behand­ lung von »Sprache und Bewußtsein« grundlegende Gegenthese lau­ tet: »Handlungsfähigkeit des Menschen ist Moment innerhalb seiner Sprachlichkeit, niemals aber ist die Sprachlichkeit Moment innerhalb seiner als des handelnden Wesens.«603 Liebrucks´ Auseinandersetzung mit Gehlens Werk folgt der Frage: »Was kommt heraus, wenn das Wesen der Sprache als Hand­ lung gesehen wird und nicht umgekehrt die Handlung als speziali­ sierte Sprache?«604 Unabhängig von der Beschränkung auf den Hand­ lungscharakter des Menschen und dem eingeschränkten Verständnis 598 599 600 601 602 603 604

Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 47. Vgl. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 341. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 82. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 83. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 90. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 46 f. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 341.

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Liebrucks’ Kritik an Gehlen

von Sprache als »Zeichen« und »Werkzeug«, das dieser mit sich führt, sieht Liebrucks die »Kraft« der gehlenschen Untersuchung im »Ver­ gleich von Bewegung, Sprache und Wahrnehmung«.605 Liebrucks zeigt in seiner ausführlichen Interpretation an den zentralen Begrif­ fen der gehlenschen Position, daß das, was in ihr dem Menschen zugestanden bzw. von ihm erwartet wird, von seiner Definition als eines handelnden Wesen her gar nicht verständlich werden kann: seine Weltoffenheit,606 die auf Bewegung zurückgeführte Wahrneh­ mung,607 Hemmbarkeit der Bedürfnisse,608 Antriebsüberschuß,609 Entlastung610 und anderes mehr können nur unter der Voraussetzung der Sprachlichkeit des Menschen adäquat verstanden werden. Liebrucks hat, wie vor ihm schon Hegel, jenen, die gewillt sind, von der Philosophie etwas zu lernen, empfohlen, »die Philosophen im Umhof ihrer Größe auf[zu]suchen und nicht dort, wo sie sich der Gesellschaft angepaßt haben«,611 er geht auch selbst nach diesem Motto oder Grundsatz vor. So sind es für ihn, man ist versucht zu sagen, der Bestimmung des Menschen als Mängelwesen gemäß, auch bei Gehlen gerade die Mängel (etwa die Widersprüche in seiner Argu­ mentation), die seine Stärke ausmachen. In diesem Sinne verdankt Liebrucks der Inkonsequenz, »daß Gehlen dort, wo er Handlung sagt, [...] oft Sprache denkt [...,] eine Fülle von ›Entdeckungen‹“612 und fin­ det in Gehlens Werk »eine Reihe von Kategorien, die ihren versteckt dialektischen Impuls kaum verbergen«613 können. Man wird also im Hinblick auf diese Auseinandersetzung durchaus sagen dürfen, die Stärken oder, wenn man so will die Tugenden der gehlenschen Position liegen in der Interpretation von Liebrucks. In der »Betrachtung der Gehlenschen Anthropologie« geht es ihm zuletzt darum, die »Notwendigkeit der Philosophie aufzudek­ ken«,614 worin ein Aspekt der Perennität seines Denkens auch für unsere Gegenwart liegt, denn von der Anthropobiologie Gehlens Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 81. Vgl. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 87 ff. 607 Vgl. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 92 ff. 608 Vgl. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 101 ff. 609 Vgl. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 104 ff. 610 Vgl. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 106 ff. 611 Liebrucks, Bruno: Wissenschaftlicher Weltumgang und Entsprachlichung, in: Irrationaler Logos und rationaler Mythos, Würzburg 1982, S. 61. 612 Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 190. 613 Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 341. 614 Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, S. 96. 605

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Philosophische Anthropologie im Lichte sprachphilosophischer Kritik

ist nur die Biologie geblieben, offenbar in die »Schlüsselattitüde« eingetreten, hinsichtlich der Gehlen die Philosophie an ihr Ende gekommen sah. Was den Bezug zu den anderen Vertretern der Philosophischen Anthropologie betrifft, so ist zu sagen, daß Liebrucks mit Gehlen Max Scheler und Adolf Portmann erwähnt, leider aber auch darin Gehlen zu folgen scheint, daß er Helmuth Plessner vollständig ignoriert. Hier hat das Zeitalter offenbar nicht in der nämlichen Weise zu einer Auseinandersetzung gedrängt wie im Falle Gehlens, ob eine solche Auseinandersetzung mit Plessner nicht doch fruchtbar hätte sein kön­ nen, ist eine andere Frage. Wenn schon bei Gehlen die Widersprüche, die er begangen, wenn auch nicht gesehen hat, das beste an dieser Position waren, dann kann doch eine Position, die im Versuch einer Wesensbestimmung des Menschen mit vollem Bewußtsein auf den Widerspruch zurückgreift, nicht ganz ohne Interesse sein.

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Zusammenfassung und Ausblick

Abschließende Fragen und Thesen zum Thema Anthropologie »Wen[n] es irgend eine Wissenschaft giebt deren der Mensch bedarf so ist es die so ihn lehret die Stelle geziemend zu erfüllen welche ihm in der Schöpfung angewiesen ist und aus der er lernen kan was man seyn muß um ein Mensch zu seyn.«615 Kants Worte halten für uns eine Einsicht und eine Frage bereit. Die Einsicht ist die, daß der Mensch nicht nur im Allgemeinen, sondern auch hinsichtlich seines Menschseins selbst auf Wissen angewiesen, ein Lernender ist. Die Frage ist die, von welcher Wissenschaft Kant in diesem Zusammenhang spricht? – von der Philosophie?, der Anthropologie?, oder, worin beide zusammen zu kommen scheinen, der Philosophi­ schen Anthropologie? Anthropologie ist entweder Wissenschaft (Bereichsanthropolo­ gie) oder Philosophie (Philosophische Anthropologie). Soferne der Mensch Subjekt und Objekt von Wissenschaft ist, kann jede ihrer Disziplinen in ihrem Wissen über den Menschen Anthropologie genannt werden. Anthropologie ist dann jenes Teilgebiet einer wis­ senschaftlichen Disziplin, das sich mit dem Menschen beschäftigt, z.B. Humanbiologie als Teilgebiet der Biologie. Bereichsanthropologien sind entweder Wissenschaften oder Ideologien. Bereichsanthropologien, soferne sie Wissenschaften sind, stellen ein empirisches Wissen über den Menschen zur Verfügung. Diesen Wissenschaftsbereichen gegenüber hat die Philosophie weder eine begründende noch eine verarbeitende (zusammenfassende) Funktion. »Welchen Sinn soll es auch haben, nachdem ein Gebiet der philosophischen Spekulation entrissen und empirischer Forschung Kant, Immanuel: Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, in: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Kant´s gesammelte Schriften, Berlin 1904 ff., Bd. 20, S. 45.

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Zusammenfassung und Ausblick

zugeführt wurde, deren Ergebnisse wieder der philosophischen Spe­ kulation zu überantworten«?616 Gegenständliches Wissen vom Men­ schen und menschliches Selbstverständnis (Bestimmung des Men­ schen) sind voneinander zu unterscheiden und können einander nicht ersetzen. Das von den Bereichsanthropologien in immer weiter sich differenzierenden Wissenschaftsdisziplinen erarbeitete Wissen vom Menschen vermag den Menschen nicht zu orientieren, sondern hat den gegenteiligen Effekt: je mehr er über sich weiß, desto weniger weiß er, wer er ist. Bereichsanthropologien, die über empirisches Wissen vom Men­ schen hinausgehen, indem sie dieses interpretierend auf ein Men­ schenbild beziehen, sind nicht Wissenschaften, sondern Ideologien (biologische Anthropologie – Biologismus), dem sich in ihren Ergeb­ nissen fortsetzenden methodisch abstraktiven Charakter der Wis­ senschaften entsprechend, kann das, was Menschsein heißt, von wissenschaftlichen Teilgebieten aus nicht bestimmt werden. Diesen Anthropologien gegenüber hat die Philosophie eine kri­ tische Funktion, das gilt für Naturwissenschaften, die es nicht nur, aber auch mit dem Menschen zu tun haben (Biologie), das gilt ebenso für Wissenschaften, die es, wie Geistes- und Sozialwissenschaften, ausschließlich und explizit mit dem Menschen und seinen Hervor­ bringungen zu tun haben (Psychologie, Soziologie). Einen Spezialfall stellen jene Wissenschaften dar, welche menschliches Handeln nicht nur zum Thema, sondern dieses auch handlungsleitend zu orientieren haben, zum Beispiel die Pädagogik, soferne sie ein Handeln zum Gegenstand hat, dem die Sorge um die Menschwerdung des Menschen aufgetragen ist. Diesen besonderen Bereichsanthropologien gegenüber hat die Philosophie eine begrün­ dende Funktion, deren Thema die philosophische Grundlegungs- und Geltungsproblematik der jeweiligen Disziplin ist, die Explikation, Aufklärung und Kritik der zugrundeliegenden Menschenbilder als Voraussetzung eines menschenwürdigen Umgangs mit dem Men­ schen. Philosophische Anthropologie verweist als Disziplin stets auf das System der Philosophie. Philosophische Anthropologie ist entwe­ 616 Prätor, Klaus: Wozu braucht die Pädagogik eine Anthropologie? Überlegungen zur methodologischen Stellung der pädagogischen Anthropologie, in: König, Eck­ hard / Ramsenthaler, Horst (Hrsg.): Diskussion Pädagogische Anthropologie, Mün­ chen 1980, S. 230.

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Abschließende Fragen und Thesen zum Thema Anthropologie

der Fundamentalphilosophie oder Wissenschaftstheorie. Als Funda­ mentalphilosophie ist sie die »Auslegung des Gesamtsystems der Philosophie auf den Menschen hin«,617 wobei sie dieses System voraussetzt, ohne es selbst leisten zu können. Der Intention nach entspricht sie darin Kants Weltbegriff der Philosophie, der aber vom Schulbegriff der Philosophie weder abtrennbar ist, noch ihn ersetzen kann. Als Wissenschaftstheorie ist sie »Klarstellung wissenschaftlich gefundener Einsichten«,618 die alle darüber hinausgehende Philo­ sophie als Metaphysik denunziert (»Metaphysikkritik«) und eine Beschäftigung mit Philosophie nur noch in historischer Absicht für sinnvoll erklärt, d.h. Aufhebung der Philosophie in Philosophiege­ schichte.619 »Die Denunziation wirklicher Philosophie als Spekula­ tion und Metaphysik ist kein unschuldiges Geschäft. Ein größerer Selbstverdummungsprozeß ist kaum vorstellbar.«620 Die Philosophische Anthropologie ist keine Synthese von Philo­ sophie und Anthropologie, sondern das Ergebnis einer zweifachen Einschränkung: als Philosophische Anthropologie ist sie angesichts der Vielzahl von Anthropologien nur eine der Lehren vom Menschen, als Philosophische Anthropologie ist sie im Rahmen des systemati­ schen Ganzen der Philosophie nur eine der philosophischen Diszi­ plinen. Es ist wenig wahrscheinlich, daß gerade eine solche wechsel­ weise Reduktion die Philosophische Anthropologie dazu qualifizieren sollte, dem Menschen das Menschsein zu lehren. Die der Philosophie in der Frage: »Was ist der Mensch?« gestellte Aufgabe ist weder durch die Anthropologie (nicht durch eine der Bereichsanthropologien und nicht durch die Summe aller), noch durch die Philosophische Anthropologie zu lösen. Die Frage: »Was ist der Mensch?« kann nicht den Wissenschaften überlassen werden, weil diese den Menschen jeweils nur perspektivisch, d.h. im Rahmen 617 Vgl. Heintel, Erich: Tierseele und Organismusproblem im Cartesianischen System, in: Gesammelte Abhandlungen. Bd. 1. Zur Fundamentalphilosophie I, Stuttgart – Bad Cannstatt 1988, S. 148. 618 Liebrucks, Bruno: Über einige transzendentale und einige dialektische »Implika­ tionen« der formalen Logik, in: Niebel, Wilhelm Friedrich / Leisegang, Dieter (Hrsg.): Philosophie als Beziehungswissenschaft. Festschrift für Julius Schaaf, Frankfurt am Main 1971, S. 15. (Sonderdruck) 619 Vgl. Ritter, Joachim: Über den Sinn und die Grenze der Lehre vom Menschen, Potsdam 1933. 620 Liebrucks, Bruno: Sinnfrage und Kontingenzerfahrung, in: Irrationaler Logos und rationaler Mythos, Würzburg 1982, S. 305.

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Zusammenfassung und Ausblick

methodischer Abstraktionen zum Thema machen, ihre Beantwortung bleibt eine genuin philosophische Aufgabe, die nicht das Thema einer ihrer Disziplinen, wie etwa der Philosophischen Anthropologie, sondern das systematische Zentrum des Philosophierens selbst ist.

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Anhang

Ethik und Behinderung – Philosophische Fragen der Sonder- und Heilpädagogik. Ein forschungsprogrammatischer Entwurf Deutlicher als in jeder anderen pädagogischen Disziplin zeigt sich in der Sonder- und Heilpädagogik die Notwendigkeit eines fundie­ renden Menschenbildes, d.h. eines philosophisch explizierten und begründeten Begriffs des Menschen als Voraussetzung pädagogischer Theorie und Praxis. Gerade die im Rahmen grundsätzlicher Frageund Problemstellungen der Sonder- und Heilpädagogik verstärkt zum Zuge gebrachte bioethische Diskussion (Peter Singer) läßt erkennen, daß der Begriff des Menschen weder metaphysischer Restbestand noch weltanschaulicher Luxus ist, sondern nichts weniger als die Bedingung der Möglichkeit eines menschlichen Umgangs mit dem (behinderten) Menschen formuliert. Die Entwicklung im Bereich der sonder- und heilpädagogischen Grundlagendiskussion, soweit sie exemplarisch an der Position von Christoph Anstötz621 studiert werden kann, ist durch die Einsicht in die Notwendigkeit verstärkter Bemühungen um Voraussetzungen und Legitimität des eigenen Vorgehens bei gleichzeitiger Kritik an den bisherigen Versuchen gekennzeichnet. Die Erfahrungen der Behin­ dertenpädagogik im Dritten Reich haben – so die Diagnose von Anstötz – nicht, wie aus diesem Anlaß nötig und sinnvoll gewesen wäre, zu einer intensivierten Besinnung auf die ethischen Vorausset­ zungen dieser Disziplin, sondern vielmehr zu einer Tabuisierung geführt, die eine vorurteilsfreie Diskussion derselben verhindert hat. Die Frage nach den Gründen der moralischen Legitimität des Umgangs mit Behinderten wurde als Infragestellung der Legitimität dieses Umgangs mißverstanden und unterlassen. 621 Vgl. Anstötz, Christoph: Ethik und Behinderung. Ein Beitrag zur Ethik der Sonder­ pädagogik aus empirisch-rationaler Perspektive, Berlin 1990.

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Nach Anstötz baut die sonder- und heilpädagogische Grundla­ genreflexion seither im Vertrauen auf die Geltung eines christlichen Weltbildes und die breite Ablehnungsfront gegenüber der national­ sozialistischen Ideologie im wesentlichen auf gewohnheitsmäßige Moralvorstellungen und nicht weiter hinterfragte ethische Selbst­ verständlichkeitsüberzeugungen. Die Berufung auf Humanität und Menschenwürde im Rahmen der bisherigen Diskussion um behin­ dertenpädagogische Prinzipien hat von diesen Voraussetzungen her allenfalls Bekenntnischarakter. Dem setzt nun Anstötz eine Radikali­ sierung der Grundlagendiskussion entgegen, um auch im ethischen Bereich an die Stelle der im Laufe der Zeit allenfalls verbal neu ein­ gekleideten Denkgewohnheiten der Vergangenheit ein begründetes Wissen zu setzen. Sein Ziel ist, mit Blick auf die Fundierung der Behindertenpädagogik, die Ausarbeitung einer rationalen Ethik im exemplarischen Anschluß an die Position von Peter Singer. Die angebrachte Kritik erscheint zustimmungsfähig, insoferne sie Umfang, Art und Qualität bisheriger Begründungsversuche, vor allem mit Bezug auf die von Anstötz herangezogenen Beispiele – verbal bleibende Berufungen auf die verwaschene Vorstellung einer Conditio humana und andere leere Worthülsen – in Frage stellt, dort allerdings, wo auf ihrer Grundlage die Singersche Position als ethisches Fundament heilpädagogischen Handelns entfaltet wird, ist ihrerseits Kritik angebracht. Diese Kritik an der Kritik nimmt zunächst und primär daran Anstoß, daß die im Anschluß an Singer vorgetragenen Überlegungen auf eine ebenso simple wie rationale Weise zu dem Ergebnis führen, Menschen mit besonders schweren Formen geistiger Behinderung das unbedingte Lebensrecht abzusprechen. Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte haben gezeigt, daß man angesichts der sich aus ihr erge­ benden Konsequenzen einer Position wie der Singers gegenüber mit Entsetzen und Empörung, d.h. weitgehend emotional reagiert, eine Form der Ablehnung, die, so menschlich verständlich und nachvoll­ ziehbar sie auch sein mag, theoretisch völlig unzureichend genannt werden muß. Im Gegenzug zur zeitgeistigen Fixierung auf die inhumanen Folgerungen dieser Position muß nach ihren Voraussetzungen gefragt werden, deren Absurdität weit weniger kritische Aufmerksamkeit geschenkt wird, als mit Blick auf die Aufeinanderbezogenheit von Voraussetzungen und Konsequenzen angebracht wäre. Da die Kon­ sequenzen den Voraussetzungen immanent, d.h. aus dem Ansatz

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Ethik und Behinderung – Philosophische Fragen der Sonder- und Heilpädagogik

schlüssig zu deduzieren sind, ist dieser Position weder immanent und schon gar nicht von ihren Folgen her, sondern nur durch einen kritischen Angriff auf ihre Grundlagen beizukommen. Im Hinblick auf diese Stringenz trifft den, der die Konsequenzen anzuerkennen sich weigert, vielmehr der Vorwurf, aus dem rationalen Dialog aus­ zutreten. Dort, wo die emotionale Ablehnung »ultima ratio« einer Stellungnahme bleibt, wird zu vermuten sein, daß entsprechende Gegenargumente fehlen, weil man mit der abgelehnten Theorie insgeheim den Boden derselben Voraussetzungen teilt, ein Mangel, der in der Beschäftigung mit solchen Ideen bloß den Effekt ihrer ungewollten Verbreitung wird sehen können. So unterbleibt die so dringende Auseinandersetzung mit einem Denken, das durch die Position Singers zwar exemplarisch, aber keineswegs singulär reprä­ sentiert wird, sondern wie das Beispiel Anstötz zeigt, selbst in die Sonder- und Heilpädagogik bereits Eingang gefunden hat. Wer den argumentativen Diskurs anstrebt, sieht sich freilich insoferne in Schwierigkeiten, als den hausverständig-handfesten Argumenten bei Singer und Anstötz weder mit vordergründigen noch leicht verständlichen, sondern allenfalls mit diffizilen Überlegungen wirklich zu begegnen ist. Angesichts der hier sichtbar werdenden Not ist die Philosophie aufgefordert, aus der Aktualität des Tages zu sprechen, ohne je zeitgemäß sein zu können. Sie hat, was nur durch eine Reihe heute weitgehend unbekannter Argumentationen möglich ist, den Sinn von Humanität und Menschenwürde vom Begriff des Menschen aus zu begründen, zu präzisieren und zu konkretisieren. Nur so können beide Begriffe vom Verdacht befreit werden, Leerfor­ meln zu sein, deren Verwendbarkeit auf kirchliche Predigten und politische Sonntagsreden eingeschränkt ist und deren Verwendung solche anzeigt. Während die sonder- und heilpädagogische Grundlegungspro­ blematik am Leitfaden einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Buch von Christoph Anstötz expliziert und angeeignet werden soll, will ich den Begriff des Menschen im Allgemeinen und das Verständ­ nis von Ethik im Besonderen mit Ausblicken auf die philosophische Tradition schwerpunktmäßig von Kant her entwickeln. * Soferne der von Anstötz im Anschluß an Singer ausgeführte ethische Ansatz als rational, empirisch, naturalistisch und utilitaristisch zu

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Anhang

charakterisieren ist, erscheint es sinnvoll, Darstellung und Kritik der Position am Leitfaden dieser, untereinander in engstem Zusammen­ hang stehenden Begriffe zu orientieren und zu strukturieren.

Rationalismus (Szientismus) Im Versuch, sie analytisch-kritisch auf ihre Voraussetzungen hin zu befragen, muß die Position von Anstötz/Singer zunächst ihrem methodischen Selbstverständnis nach zur Diskussion gestellt werden. Die Ethik, auf welche im sonder- und heilpädagogischen Denken bisher in einer Weise zurückgegriffen wird, daß grundsätzlich ethi­ sche Reflexionen mehr erspart als unternommen scheinen, sieht Anstötz im Sinne einer christlichen Weltanschauungslehre in Reli­ gion fundiert und darin weder legitimiert noch legitimierbar. Ihre traditionellen Berufungsinstanzen, wie z.B. der Begriff der Würde des Menschen, erscheinen obsolet, sie verdanken die fraglose Selbst­ verständlichkeit ihrer Geltung dem Herkommen aus der religiösen Tradition, wo wir ihnen aus Gewohnheit anhängen, bleiben aber außerhalb eines christlichen Horizontes und Glaubensbekenntnis­ ses unbegründbar. Im Sinne seines »Plädoyers für rationale Moraldiskussion in der Behindertenpädagogik« stellt Anstötz diesen Unzulänglichkeiten eine Ethik gegenüber, welche in der Aufnahme internationaler und interdisziplinärer Ergebnisse der Wissenschaft auf Logik und Erfah­ rung fußt und solcherart rechtfertigungsfähig erscheint. So soll im Anschluß an den Kritischen Rationalismus Wissenschaft auch im normativen Bereich zur Geltung gebracht und in Abhebung von den mystifizierenden Sprachspielen in Vergangenheit und Gegen­ wart im Rahmen der Sonder- und Heilpädagogik zukunftsweisend eine abstrakte und nüchterne Diskussion über moralische Grund­ fragen in Gang gebracht werden. Die Position einer »Rationalen Ethik« orientiert sich am spezifisch neuzeitlichen Verständnis von Wissenschaftlichkeit, sie reduziert den sie fundierenden Begriff von Rationalität auf wissenschaftliche Rationalität und muß darin als szientistisch qualifiziert werden. Was nicht Wissenschaft ist, wird dieser in rein negativer Distanzierung entgegengesetzt. Es kommt zur Gegenüberstellung von Rationalität und Irrationalität, wobei letztere für all das steht, was ohne die Möglichkeit weiterer Unterscheidungen nicht Wissenschaft ist: Religion, Mythos, Philosophie etc. Was dem

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Ethik und Behinderung – Philosophische Fragen der Sonder- und Heilpädagogik

wissenschaftlichen Weltbild widerspricht, wird ohne die geringste Einsicht in den differenzierten Sinn dieses Begriffs als »transzendie­ render« Erklärungsversuch abgetan. Die Konsequenz eines solchen Reduktionismus hat bereits der frühe Wittgenstein im »Traktat« angesichts der Forderung einer Philosophie nach dem Muster der exakten Naturwissenschaft aufgezeigt: selbst dann, wenn wir uns alle möglichen wissenschaftlichen Fragen als beantwortet denken, sind die Lebensprobleme des Menschen noch gar nicht berührt. Sie bleiben im Rahmen einer solchen Position das Unaussprechliche, das Mystische. Probleme dieser Art sind etwas, worüber man nach dem berühmten 7. Satz schweigen muß, weil man nicht davon sprechen kann, und während sonst die Probleme mit ihrer Lösung verschwinden, ist hier das Verschwinden der Probleme ihre Lösung. Die Verabsolutierung von Wissenschaft überläßt weite Bereiche der den Menschen beschäftigenden und motivierenden Wirklichkeit der Sprachlosigkeit, in ihrer Folge kommt es daher gerade wegen der beherrschenden Stellung, die die moderne Wissenschaft im Rahmen unserer heutigen Lebenswelt einnimmt, zu einem Aufblühen von Aberglauben, Scharlatanerie, Okkultismus, Esoterik etc. Im Blick auf diese Voraussetzungen wird zunächst einmal der eigenständige Sinn der Ethik zwischen Wissenschaft und Religion herauszuarbeiten und zu zeigen sein, daß die Philosophie als uni­ versale Sprachkritik gerade auch hinsichtlich solcher Probleme, wie Ethik, Pädagogik, Religion etc. den Anspruch sinnvoller Rede und argumentativ vermittelter Einsicht stellt, und eben darin über die Alternative Rationalismus – Irrationalismus hinausgeht. Die Ansicht, daß jeder nicht wissenschaftliche Satz ein religiöses Dogma ist, muß selbst als (wenn auch nicht religiöses) Dogma durchschaut werden. Im Rahmen grundsätzlicher Überlegungen zur praktischen Vernunft soll darüber hinaus einsichtig werden, daß wir, obgleich sich die Frage: Was soll ich tun?, heute mit Vehemenz im Zusammenhang mit dem wissenschaftlichen Fortschritt stellt, durch die Wissenschaft keine Antwort auf diese Frage erwarten dürfen. Wo in der Beschränkung auf das Faktische Norm- und Wertfragen methodisch ausgeblendet werden, ist nur das Sein, nicht aber das Sollen zugänglich. Bei aller Relevanz, die auch dem Faktischen für die Bestimmung dessen, was wir tun sollen, zukommt, Normen und Werte folgen aus Fakten nicht, vielmehr gewinnen Fakten ihre Bedeutung erst angesichts bestimmter Normen und Werte.

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So kann gezeigt werden, daß das Konzept empirisch-rationaler Ethik bei Anstötz und Singer weder im Begriff der Rationalität noch in der empirisch sich bescheidenden Haltung dem eigenständigen Sinn des Ethischen, im Sinne dessen, was Normativität heißt, gerecht zu werden vermag. Es geht hier auch darum, zwei wissenschafts­ theoretische Einsichten, die bereits Aristoteles am Beginn seiner »Nikomachischen Ethik« ausgesprochen hat, wiederzugewinnen: daß nicht jeder Gegenstand der gleichen Methode zugänglich ist und man nicht von jeder Methode die nämliche Genauigkeit und Exaktheit erwarten darf.

Empirismus (Positivismus) Die im Begriff »rational« zum Ausdruck kommende Einschrän­ kung sinnvoller Rede auf Aussagen der Wissenschaft führt bei Sin­ ger/Anstötz in unmittelbarer Konsequenz zu einem empirischen resp. positivistischen Menschenbild. Auch hinsichtlich der Frage: »Was ist der Mensch?« wird jegliches Transzendenz-Moment als Glaubenssatz diskreditiert. Im Zusammenhang mit grundsätzlichen Differenzierungen zum Begriff der Transzendenz wird dem philoso­ phisch die Unumgänglichkeit einer transzendentalen Rückwendung des Denkens dort entgegenzuhalten sein, wo wir in der Frage nach Anspruch und Grenzen den Sinn von Erfahrung selbst zum Thema machen. Nur dadurch, daß gezeigt werden kann, daß die erkenntnis­ theoretische Festlegung auf Logik und Erfahrung nicht selbst durch Logik und Erfahrung zu legitimieren ist, wird dieselbe als Reduktio­ nismus erkennbar. Im näheren Eingehen auf das, was philosophisch »transzenden­ tale Differenz« heißt, soll vor allem der Subjektstatus des Menschen als Grundlage nicht nur jeder Erkenntnistheorie, sondern auch als Voraussetzung einer begründeten Rede von Freiheit, Handeln, Würde etc. herausgearbeitet werden. Angesichts des die Position beherr­ schenden Positivismus wird hier kaum der Hinweis genügen, den Kant in seiner Anthropologie gegeben hat: daß die Vorstellung des Ich den Menschen über alle anderen Lebewesen erhebt, soferne ihm als Person eine Würde zukommt, die ihn von jeglicher Sache unter­ scheidet, die Kantische Einsicht muß im Rahmen einer fundamen­ talphilosophischen Besinnung auf das Ich als gegenstandskonstitu­ tive Voraussetzung alles Erkennens ihre argumentative Begründung

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erfahren. In diesem Zusammenhang wird zu zeigen sein, daß das Denken (Ich) als transzendentale Voraussetzung von Gegenständlich­ keit weder selbst ein Gegenstand sein noch in gegenständlichen Kategorien erfaßt werden kann. Das Denken ist keine empirisch wahrnehmbare Eigenschaft, wir bringen über dasselbe nur dadurch etwas in Erfahrung, daß wir es vollziehen. Des Denkens, auch, was seine Möglichkeiten und allfällige Grenzen betrifft, werden wir nur im Rahmen einer entschiedenen Selbstreflexion »ansichtig«, die in methodischer und systematischer Durchführung mit dem zusammenfällt, was Philosophie heißt. Die drei Fragen des Kanti­ schen Weltbegriffs sind demgemäß als Entfaltung jener Momente zu begreifen, die den Menschen als Vernunftwesen kennzeichnen. In der systematischen Ausdifferenzierung dessen, was seine Vernünftigkeit (Wahrheit, Freiheit, Transzendenz) mit Bezug auf den jeweiligen geschichtlichen Motivationshorizont und den Gesamtraum mensch­ licher Sinnansprüche ausmacht, wird die Philosophie zur Grundlage eines weder beliebigen noch willkürlichen, sondern argumentativ ver­ mittelten Menschenbildes (Begriff des Menschen), an dem wir unsere in Theorie und Praxis mehr oder weniger explizit vorausgesetzten Menschenbilder zu überprüfen und zu korrigieren vermögen.

Naturalismus (Biologismus) Was den Naturalismus resp. Biologismus der Position betrifft, genügt die Feststellung, daß weder die Wissenschaft noch der wissenschaft­ lich aufgeklärte Zeitgeist das geringste zur Begründung von Humani­ tät und Menschenwürde beizutragen vermögen nicht, es muß darüber hinaus verdeutlicht werden, daß das die Gegenwart bestimmende naturalistische Menschenbild einer solchen Bestimmung geradezu widerspricht.622 Der Naturalismus der Position tritt am deutlichsten in der von Singer und Anstötz gegebenen Antwort auf die Frage, ob dem Menschen gegenüber dem Tier überhaupt eine Sonderstellung zukommt, hervor. In der Verhältnisbestimmung Mensch – Tier steht die Position ganz im Zeichen jenes Biologismus, der die seit Dar­ win ideologisch belastete und deformierte Auseinandersetzung auch gegenwärtig mit erschreckender Selbstverständlichkeit bestimmt. 622

Vgl. Wagner, Hans: Die Würde des Menschen, Würzburg 1992.

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Im Rahmen der Mensch-Tier-Diskussion sind es über die Tier­ ethik hinaus vor allem die Konsequenzen für die Sonder- und Heil­ pädagogik, an der sich heute die Gemüter erhitzen: im Umkehrschluß einer Ausweitung der moralischen Gemeinschaft auf Tiere, fallen behinderte Menschen aus dieser Gemeinschaft heraus. Gegen den Vorwurf einer illegitimen ethischen Bevorzugung der eigenen Spe­ zies, was Lebensrecht und Schutzwürdigkeit betrifft (Speziesismus), wird von Kant her zu zeigen sein, daß dem Menschen Würde nicht als Mitglied der Spezies homo sapiens, sondern als Freiheitswesen zukommt, auch wenn wir bislang letztere nur als Mitglied erste­ rer kennen.623 Daß dem Menschen gegenüber dem Tier keinerlei wesenhaf­ ter Vorrang zukommt, diesen Ansatz moderner Biologie, die dem Menschen zum Teil sehr große quantitative Unterschiede zugesteht, aber nichts, was einen qualitativen Unterschied rechtfertigen würde, bestätigen Anstötz/Singer durch die Ausdehnung des Begriffs Person auf nicht-menschliche Lebewesen. Daß die damit sich verbindende Forderung, auch höhere Tiere in die ethische Gemeinschaft einzubeziehen, vom Tierschutzgedan­ ken her positiv gewendet werden kann, sollte ihre Schwächen nicht verdecken. Während der philosophisch explizierte Begriff des Menschen eine Unterscheidung von Mensch und Tier in prinzipieller Hinsicht ermöglicht, ohne eine Qualifizierung von Menschen hinsichtlich der Wertigkeit ihres Menschentums zu gestatten, ergeben sich vom Singerschen Ansatz her die genau umgekehrten Verhältnisse. Menschsein wird an das Vorhandensein bestimmter Eigenschaften geknüpft, die in verschiedenen Ansätzen und Niveaus auch den Tieren zugeschrieben werden, was eine grundsätzliche Unterscheidung von Mensch und Tier nicht mehr zuläßt, wohl aber zu einem quantitativen Verständnis von Menschsein führt. Daß über das Gegebensein von Eigenschaften die Schutzwürdigkeit resp. das Lebensrecht des jewei­ ligen Individuums bestimmt wird, weckt nicht bloß Assoziationen an die Rede von hoch- und minderwertigen Menschen, Über- und Unter­ menschen etc., sondern verleiht diesen Begriffen heute neuerlich Sinn und Berechtigung. 623 Vgl. Hoffmann, Thomas Sören: Menschenwürde – ein Problem des konkreten Allgemeinen, in: Schweidler, Walter / Neumann, Herbert A. / Brysch, Eugen (Hrsg.): Menschenleben – Menschenwürde. Interdisziplinäres Symposium zur Bioethik, Münster – Hamburg – London 2003, S. 117, Anm. 26.

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Singer und Anstötz bestätigen damit für die Gegenwart, was ein Blick in die Geschichte angesichts der verschiedensten Formen des Biologismus (Rassismus, Sozialdarwinismus, Eugenik) lehrt: der als Tier verstandene Mensch wird stets als Tier behandelt. Wo und wie sollte es auch im Tierreich oder sonst in der Natur unter der Geltung des Prinzips Fressen und Gefressen-Werden ein absolut Unantastbares, von dem im Begriff der Menschenwürde die Rede ist, geben können? Von Kant her läßt sich zeigen, daß Würde ein über allen Preis erhabener absoluter Wert ist, dadurch charakteri­ siert, daß er in Wertabwägungen welcher Art auch immer überhaupt nicht einzutreten vermag. Die Würde, die dem Menschen als Person zukommt, ist inkommensurabel, sie verstattet kein Äquivalent, sie muß im Gegensatz zu abgeleiteten Formen, wie sie Amt oder Alter verleihen, einem Menschen nicht erst zugesprochen werden und ist ihm auch nur insoferne abzusprechen, als sie nicht geachtet wird. Die Würde ist nicht vor allem eine Auszeichnung, der sich der Mensch vor anderen Geschöpfen erfreuen dürfte, sondern ein mein und meiner Mitmenschen Handeln unbedingt verpflichtender Anspruch. Das Zentrum rationaler Ethik sind die »Kriterien des Mensch­ seins«, die Anstötz aus der angelsächsischen Diskussion aufnimmt. Dieser Versuch einer Definition des Menschen, die im Sinne der »Indicators of humanhood« auf empirisch aufweisbare Fähigkeiten und Eigenschaften abstellt, verdient in seiner Bedeutung für funda­ mentale Fragestellungen der Sonder- und Heilpädagogik besonderes Augenmerk. Grundsätzlich ist hier festzuhalten, daß sich die Frage: »Was ist der Mensch?« im Sinne des Weltbegriffs der Philosophie (Kant) mit Bezug auf das menschliche Selbstverständnis, nicht aber im Blick auf eine Definition des Menschen stellt. Es wird zu zeigen sein, daß Menschsein nicht durch den Besitz bestimmter Eigenschaf­ ten, weder hinsichtlich ihres quantitativ erfaßbaren Niveaus noch in der Aktualität ihres jeweiligen Vollzuges, definierbar ist, weil das, was den Menschen zum Menschen macht, seiner Beschreibung als Eigenschaftsbündel uneinholbar vorausgesetzt bleibt. Eine Definition des Menschen setzt den Unterschied von definie­ renden und definierten Menschen voraus und darin eine Kompetenz des Definierens, für die es keine Legitimität geben kann. Eine Defi­ nition, die über die Tautologie des Satzes der Identität: Ein Mensch ist ein Mensch, hinausgehen soll, ist zudem nur von bestimmten Interessen und Zwecksetzungen her möglich. Kriterien, an denen sich das Menschsein bestimmt und bemißt, müssen daher in der

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Bevorzugung der Interessen der Definierenden zu Ungunsten der Definierten stets willkürlich ausfallen und darin gewalttätig sein, daß sie die der Definition nicht Entsprechenden diskriminieren. Kurz gesagt: Der Mensch kann nicht definiert werden, weil er sich im Sinne der Freiheit selbst definiert. Gerade mit Bezug auf den Aufgabenbereich der Pädagogik muß festgehalten werden, daß der Mensch, der nur Mensch werden kann durch Erziehung (Kant), sein Menschsein der Anerkennung durch andere Menschen verdankt, und nicht der Entsprechung mit einer von diesen aufgestellten Definition des Menschen. Wie leicht zu sehen ist, setzen wir dort, wo wir in der Frage: »Wer ist ein Mensch?« eine solche Definition intendieren, Kriterien für das Menschsein (Artzugehörigkeit) immer schon und in ganz anderer Weise voraus, als wir sie dann für die Zuschreibung oder das Absprechen des Menschseins (Fähigkeiten, Eigenschaften etc.) definieren. Die offen­ sichtliche Widersprüchlichkeit einer Unterscheidung von Menschen, die Menschen sind, von Menschen, die keine Menschen sind, wird bei Singer/Anstötz durch die Gegenüberstellung von Mensch – Person zu entschärfen versucht. Ihr zufolge soll es Tiere geben, die Personen und als solche zu respektieren, und Menschen, die keine Personen sind, weshalb ihnen auch die mit dem Begriff Person sich üblicherweise verbindenden Rechte nicht zukommen, was Sätzen, wie den folgenden ihre scheinbare rationale Legitimität verschafft: »Die Tötung eines behinderten Säuglings ist nicht moralisch gleich­ bedeutend mit der Tötung einer Person. Sehr oft ist sie überhaupt kein Unrecht.«624 Von Kant her läßt sich zeigen, daß die Würde dem Menschen von den Prinzipien Subjektivität und Freiheit her zukommt und nicht in der Folge empirischer Bestimmungen, wie Rasse, gesellschaftliche Rolle, Bildungsniveau oder bestimmten Fähigkeiten und Eigenschaf­ ten, über die er als Individuum verfügt oder nicht verfügt, um nur einiges zu nennen. Daß dies auch für den bestimmten Zustand seiner natürlich-en­ telechialen Entwicklung gilt, macht eine philosophische Erörterung des Potentialitätsproblems unumgänglich, das im Rahmen der gegen­ wärtigen Diskussion fast durchwegs nominalistisch verfehlt wird und dessen Diskussion insbesondere im angelsächsischen Raum im Hinblick auf die dort gang und gäbe skurrile Kasuistik mehr vom 624

Singer, Peter: Praktische Ethik, Stuttgart 1994, S. 188.

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Geist des phantastisch-utopischen Romans als dem einer ernsthaften philosophischen Anstrengung des Begriffs inspiriert scheint.

Utilitarismus (Präferenzutilitarismus im Sinne Singers) Was das Verständnis von Ethik betrifft, wird vor allem auch der diese Position kennzeichnende Utilitarismus einer philosophischen Kritik zu unterziehen sein. Angesichts der Vielfalt und Differenziertheit der Argumente, die gegen eine utilitaristische Fassung des Guten vorliegen, beschränke ich mich auf einige grundsätzliche Bemerkun­ gen. Soferne in dem auf die englischen Philosophen Jeremy Bentham und John Stuart Mill zurückgehenden Utilitarismus das Gute vom Nutzen her verstanden und das Glück als höchstes Gut angesetzt ist, ist nicht eigentlich von Gut und Böse, sondern in einem durchaus außermoralischen Sinn von gut und schlecht die Rede. Obgleich Nut­ zen und Glück betreffende Überlegungen im Gesamtraum praktischer Philosophie ihren guten Sinn haben, erscheint es daher irreführend, wenn, wie in weiten Bereichen der gegenwärtigen Philosophie, der Utilitarismus als ethische Position bezeichnet wird. Im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden argumentativen Möglichkeiten wird allenfalls zu hypothetischen Imperativen (Klugheitsregeln), nicht aber zu einem allgemeingültigen und notwendigen, d.h. unbedingten moralischen Gebot, wie es Kant im Sittengesetz (Kategorischer Impe­ rativ) formuliert, zu gelangen sein. Mit zu den höchst problematischen Voraussetzungen dieser Position gehört das ihr zugrundeliegende Glücksverständnis. Die utilitaristische Bestimmung von Glück als quantifizierbar, in quasi mathematischer Weise gegeneinander aufrechenbar und in prinzipi­ eller Hinsicht herstellbar, werden vor der Folie des Eudaimoniebe­ griffs bei Aristoteles, der Glück an ein menschliches Tätigsein knüpft, mit dem sich Können und Gelingen verbinden, zu diskutieren und kritisch zu prüfen sein. Aus dem Zugeständnis, daß alle Menschen auf die eine oder andere Art nach Glück streben, folgt keineswegs, daß das Glück das höchste Gut oder, im Sinne Robert Reiningers, der Oberwert aller Werte ist. Kants grundsätzlicher Einwand gegen eine solche Fassung des Guten besteht gerade unter Anerkennung der Naturgegebenheit des Glücksstrebens im Hinweis auf den Wider­ spruch, daß wir zu dem, worauf wir natürlicherweise aus sind, nicht erst mittels Imperativ verpflichtet werden müssen. Der Utilitarismus

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erweist sich darin als der zweifelhafte Versuch, die Spannung von Pflicht und Neigung aufzuheben, das, wonach der Mensch von Natur aus strebt, wird durch die widersinnige Umformulierung in eine ethische Forderung legitimiert. Überall dort, wo die Berufung auf Humanität und Menschen­ würde durch die Verheißung von Glück ersetzt wird, liegt zudem die Versuchung nahe, die Menschen durch eine manipulative Praxis jenseits von Freiheit und Würde (Burrhus Frederick Skinner) auf dem Wege der Konditionierung mit (sanftem) Zwang zu ihrem Glück zu führen. Es wird auch gefragt werden müssen, ob ein Handeln, das im Zeichen der Verwirklichung des größten Glücks der größten Zahl steht, überhaupt dem Prinzip der Gerechtigkeit zu entsprechen ver­ mag. Neben solch grundsätzlichen Erwägungen muß es hier aber vor allem um die Auseinandersetzung mit dem sogenannten Präferenz­ utilitarismus gehen, den Anstötz gerade in seinen Folgerungen für die Sonder- und Heilpädagogik als diskussionswürdige, zeitgemäße Variante utilitaristischen Denkens vorstellt. * Die hier skizzierte Grundlagendiskussion der Sonder- und Heilpäd­ agogik bleibt, soferne die zu erörternden Fragen und Probleme im Rahmen des weiten Spektrums der empirischen Erziehungs- resp. Bildungswissenschaft weder gestellt noch beantwortet werden kön­ nen, die Aufgabe einer Philosophischen Anthropologie mit pädagogi­ schem Themenschwerpunkt: wo dieses Bemühen um einen reflektier­ ten Begriff von Pädagogik, will sagen die Klärung der philosophischen Voraussetzungen der Disziplin nicht gelingt, bleibt ihr pädagogischer Anspruch sich selbst überlassen und darin der normativen Kraft des Faktischen und der dieses bestimmenden Ideologien ausgeliefert. Ein die Pädagogik fundierendes Menschenbild ist nicht, wie die Bildhaftigkeit dieses Ausdrucks nahelegt, durch einen willkürlichen Anschluß an ein beliebiges Bild des Menschen zu gewinnen, noch kann dem darin gestellten Problem durch eine Zurückhaltung ent­ kommen werden, die diese Frage erst gar nicht stellen zu müssen meint, weil sie sie zuvor als wissenschaftlich unbeantwortbar und rational nicht entscheidbar qualifiziert hat: Überlegungen zu dem die Pädagogik konstituierenden Menschenbild sind nicht deshalb zu unterlassen, weil es angesichts der Pluralität und Relativität der Menschenbilder aussichtslos erscheint, das rechte Menschenbild zu

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finden, sondern eben deshalb zu unternehmen, weil dort, wo die oblique Intention der philosophischen Rückwendung auf ihre Mög­ lichkeitsbedingungen unterbleibt, gerade die Geltungsproblematik zum blinden Fleck pädagogischen Denkens wird.

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