Jules Verne : Eine kritische Biographie 3538072086


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Jules Verne : Eine kritische Biographie
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Biographie

Volker Dehs Jules Verne

Jules l/erne um 1885

2

Volker I )ehs

ules Verne Eine kritische Biographie

Artemis & Winkler

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind int Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2005 Patmos Verlag GmbH & Co. KG Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf und Zürich Alle Rechte Vorbehalten. Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck ISBN 3-538-07208-6 www.patmos.de

Inhalt

Einleitung: »...der unbekannteste aller Menschen«......... 7 1. Nantes (1828-1839).............................................................. 12 2. Der Pausenclown des Schulhofs (1839-1848)..................... 27 3. Mit Leidenschaft durch alle Genres: Jules Vernes Jugendwerk..................................................... 39 4. Jurastudium in Paris (1848-1851)....................................... 54 5. Sekretär am Théâtre Lyrique (1852-1855)......................... 70 6. An der Schwelle zur Moderne: Paris im 19.Jahrhundert..................................................... 87 7. Liebesdinge, »...mit geschlossenen Augen und offener Börse« (>855—1857)......................................... 102 8. Vor dem Durchbruch (1857-1863)..................................... 117 9. Hetzei, Stahl - und Verne................................................... 136 10. Ein Autor findet zu sich selbst (1863-1867)....................... 154 11. Amerika ... und Preußen (1867-1871).............................. 168 12. Die »Außergewöhnlichen Reisen« und die Tücken des schriftstellerischen Selbstverständnisses....................... 189 13. Ein Neuanfang (1871-1874)................................................. 205 14. Turbulenzen allerorten (1875-1878)..................................... 225 15. Faszination und heiliges Grauen: Jules Verne und die Wissenschaft.......................................... 247 16. Mit Dampf und gelichteten Segeln (1878-1882)................ 266 17. Der Anker wird geworfen (1882-1886).................................287 18. Die Odyssee des Erfolgs, das Labyrinth desRuhms...........308 19. Die »schwarze Periode« (1886—1887)................................... 329 20. Im Stadtrat von Amiens (1888-1891)................................... 350 21. Zu Gast bei Herrn Verne. Einblicke in ein literarisches Laboratorium....................... 367

22. 23. 24. 25.

Verlorene Illusionen (1892—1895).......................................... 382 Im Malstrom der Affären (1896—1900).................................401 Ein langer Abschied (1900—1905).......................................... 424 Das Leben danach — Spuk oder Betrug?.............................. 443 Epilog......................................................................................459 Danksagung............................................................................ 462

Anhang 1: Die Akte Gaston Verne........................................465 Anhang 2: Jules Vernes Einkommen als Schriftsteller .... 483

Anmerkungen........................................................................ 487 Literatur- und Quellenhinweise........................................... 511 Bildnachweis.......................................................................... 517 Personenregister...................................................................... 519 Register der zitierten Werke Jules Vernes............................ 541

»Sie sind der Mann der Traume... Aber was wäre das Leben, wenn es keine Träume gäbe!« (Fridtjof Nansen an Jules Ferne, 30. März 181)7)'

Einleitung

»... der unbekannteste aller Menschen« »Ich reise niemals nach Paris, lebe tief in meiner Provinz und bin der unbekannteste aller Menschen.«2 Das behauptet 1895 ein Schriftsteller, der seit über dreißig Jahren in regelmäßiger Folge Bücher veröffentlicht und der sich weder von kriegerischen noch von innerfamiliären Auseinandersetzungen, Magenbeschwerden oder beginnender Blindheit davon abbringen lässt. Die Bücher ha­ ben ihn zum erfolgreichen Begründer der Gattung des »wissen­ schaftlichen Romans« gemacht, einige seiner Figuren und Themen sind schon zu Lebzeiten zu Mythen der Moderne geworden, und ungefähr seit 1873 übersetzt man ihn simultan in ein Dutzend ver­ schiedene Sprachen: Jules Verne, den profiliertesten Vertreter des li­ terarischen Tourismus. Die überraschende Aussage relativiert sich immerhin, wenn man berücksichtigt, dass sie an einen jungen Ver­ ehrer gerichtet ist, der den Schriftsteller bedrängte, die Publikation seiner Studie über Vernes Werk durchzusetzen. An der eigenen Person war Jules Verne — wie viele Zeugnisse zeigen — wenig gelegen, an seinem Werk hingegen schon. In der Absicht, von der Nachwelt nur noch nach diesem beurteilt zu wer­ den, soll er gegen Ende seines Lebens seine umfangreiche Korres­ pondenz vernichtet haben: Persönliches wie auch Briefe, die er seit Jahrzehnten von seinen Lesern aus der ganzen Welt erhalten und sorgsam verwahrt hatte. Das Massaker überstanden nur einige Rei­ sesouvenirs: Menüfolgen aus Restaurants und Theaterbilletts, ein

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englischsprachiger Prospekt des Hamburger Michel, Briefpapier von Bord der Great Eastern, eine Fotografie der Nixe, der Luxus­ yacht des Erzherzogs Ludwig Salvator, usw. Unangetastet blieb jedoch bis zum Tod am 24. März 1905 das Archiv seiner Manus­ kripte, das auf Sohn Michel überging und das eindrucksvoll die Bilanz einer Schriftstellerexistenz dokumentiert. Der Wunsch, die Erinnerung an die Person nur noch durch die Ergebnisse der eigenen Phantasie gesichert zu wissen, ist ein Stand­ punkt, der sich nachvollziehen, auf Dauer aber kaum durchhalten lässt, da er die Neugierde des Publikums nur umso mehr anstachelt. Schon zu Lebzeiten Jules Vernes war es zu unerfreulicher Legen­ denbildung gekommen: Zeitungen erklärten ihn zum Multi­ millionär (der er niemals gewesen ist), leugneten seine Existenz, erklärten sie vorzeitig für beendet oder kolportierten das nicht auszuräumende Gerücht, Jules Verne sei als polnischer Jude nach Frankreich ausgewandert und aus opportunistischen Gründen zum Katholizismus übergetreten. Im 19. Jahrhundert durchaus skandal­ trächtig - diese Behauptung brachte Verne selbst erheblich aus der Fassung würde sie heute nur noch gleichgültiges Schulterzucken provozieren. Als weitaus einflussreicher freilich erwiesen sich Legenden in Zusammenhang mit Vernes Reputation als technischem Visionär, der über seherische Gaben verfügt und quasi aus dem Stegreif all das »erfunden« habe, was erst »lange nach seinem Tod« von saum­ seligen Ingenieuren in die Wirklichkeit umgesetzt worden sei.Jahr­ zehntelang konnte in der Umgebung von Vernes Geburtsstadt Nantes oder seiner Sterbestadt Amiens kaum eine verkehrstechni­ sche Neuerung eingeweiht werden, ohne dass von offizieller Seite salbungsvoll die Prophezeiungen des berühmten Mitbürgers hin­ sichtlich einer wunderschön technisierten Zukunft beschworen wurden. Mit der historischen Wahrheit, soweit sich diese nach­ zeichnen lässt, hat das alles nichts zu tun. Belässt man den Bürger Verne in seinem persönlichen, sozialen, historischen Umfeld und gesteht ihm seine kleinen Geheimnisse zu, auf die er letztlich ein Recht hat wie jeder andere Mensch

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auch, dann öffnet sich der Blick auf ein sympathisch gewöhnliches Leben mit seinen Höhen und Tiefen und auf die Hintergründe eines faszinierenden Stücks Literatur, das - vor dem Hintergrund mythischer Archetypen, aber auf moderner Bühne - zwischen der Furcht vor den unabsehbaren Möglichkeiten der Wissenschaft und der Faszination von eben diesen seinen Weg sucht und dabei Fra­ gen aufwirft, die im 21. Jahrhundert nicht minder aktuell sind als zur Hochblüte der Industrialisierung. Die Spielwiese des mensch­ lichen Kaumeroberungsdrangs wechselt von der Erdoberfläche in den Weltraum, die Sinnfrage bleibt. Das vorliegende Buch versucht, mit Hilfe glaubwürdiger Doku­ mente Vernes Existenz als Mensch und Schriftsteller nachzuzeich­ nen und seine Person in die unterschiedlichen Kontexte zu stellen, in denen die Außergewöhnlichen Reisen entstanden. Seit dem Er­ scheinen meiner ersten Verne-Biographie 1986 ergab sich die Ge­ legenheit, Einsicht zu nehmen in eine Keihe von bislang unzu­ gänglichen Werken; unbekannte Korrespondenzen und persönliche Aufzeichnungen tauchten auf und boten sich zur Ergänzung an; auch sind Vernes Manuskripte inzwischen fast vollständig verfüg­ bar, harren allerdings noch einer gründlichen Auswertung durch künftige Forschergenerationen. Als reichhaltige Fundgruben er­ wiesen sich die Tageszeitungen von Amiens aus der Zeit zwischen 1872 und 1905. Zum ersten Mal konnten auch die tragischen Um­ stände des Attentats von Vernes Neffen Gaston auf den Schriftstel­ ler nach den polizeilichen Ermittlungen vom März 1886 rekons­ truiert werden; die zwei Verhöre des Täters und die wichtigsten Zeugenaussagen sind im Anhang abgedruckt, damit der Leser meine Interpretation der Vorgänge kritisch nachvollziehen kann. Das Bild des Menschen Jules Verne, das sich aus alledem ergibt, ist — so hoffe ich — in vielem präziser geworden und erlaubt in manchem tiefere Einblicke in die Organisation eines Schriftsteller­ lebens. Bewusst wechseln sich brav der Chronologie folgende Kapitel mit systematischen Exkursen ab, denn erst aus der gegen­ seitigen Spiegelung von individueller und überindividueller Ent­ wicklung ergibt sich ein einigermaßen sinnvolles Porträt von 9

Mensch und Werk. Dabei wird sich erweisen, dass es zwischen dem exotischen Œuvre und dem bürgerlichen Leben oftmals ungeahnte Berührungspunkte gibt, die interessant sind hinsichtlich ihrer künstlerischen Verwandlung von erlebter Realität in Fiktion, die aber nicht zu der irrigen Vermutung verleiten sollten, Verne habe mit seinem Werk eine Reihe autobiographischer oder zeitgeschicht­ licher Enthüllungsromane schreiben wollen. Die Hervorhebung derartiger Aspekte im Rahmen dieser Biographie erklärt sich nur daraus, dass sie bislang weitgehend unberücksichtigt geblieben sind. Es ist inzwischen Mode geworden, die Verfasserin der ersten Biographie (Jules Verne, sa vie, son œuvre, 1928), Marguerite Allotte de la Fuÿe, als Verräterin zu geißeln: Nur allzu oft ließ sich die Au­ torin von ihrer Fantasie mitreißen, »korrigierte« Briefe und stand offensichtlich auf Kriegsfuß mit der Chronologie. Nichtsdestotrotz war ihr Einfluss auf die Rezeption mangels Besserem erheblich. Bei aller Entrüstung bleibt zu beachten: Allotte war eine Theaterauto­ rin, die in die mütterliche Linie des Schriftstellers eingeheiratet hatte, der nicht daran gelegen war, eine wissenschaftlich fundierte Abhandlung zu liefern, sondern eine angenehm lesbare und abge­ rundete Darstellung der Person Jules Vernes mit dem Versuch einer Ehrenrettung. Denn hundert Jahre nach seiner Geburt erfreute sich der Schriftsteller trotz seiner universellen Bekanntheit nicht eben eines vorteilhaften Rufs, sondern galt als wissenschaftlich überholt und literaturgeschichtlich unerheblich. Rücksicht auf moralische Erwartungen der Leserschaft mochte bei ihrem Vorgehen ebenso eine Rolle gespielt haben wie restriktive Vorgaben der Familien­ angehörigen, die ihr Zugang zu unveröffentlichten Dokumenten gewährt hatten. Immerhin - und dies bleibt hervorzuheben - hatte sie noch selbständig recherchiert, was längst nicht alle ihrer Nach­ folger für sich in Anspruch nehmen können. Eingedenk seiner Historizität und gerade wegen ihr scheint mir Allottes Buch in manchen Aspekten noch immer unverzichtbar und verdient es, mit der nötigen Skepsis genutzt zu werden. Kaum erschöpfend lassen sich die ungefähr 65 Romane, 20 Er­ zählungen, 30 Theaterstücke und all die Beiträge zu anderen Gat­ te

tungen behandeln, die Jules Vernes schriftstellerisches Schaffen ausmachen. Ich habe mich dafür entschieden, die Werke in ihrer Vielfalt knapp zu kommentieren und Inhaltsangaben auf das Not­ wendigste zu beschränken; — weder die ausschweifendste Zusam­ menfassung noch die scharfsinnigste Analyse von Spezialisten könnten jemals die eigen(tlich)e Lektüre ersetzen. Die Vita eines Künstlers kann dazu anregen, einen neuen Blick auf sein Werk zu werfen und durch den Lauf der Zeit in Verges­ senheit geratene, oftmals überraschende Aspekte zu entdecken; dass neben diesem lobenswerten Erkenntnisinteresse auch voyeuristische Gesichtspunkte bei der Lektüre von Memoiren und Lebens­ beschreibungen eine Rolle spielen, kann man zwar beschönigen, aber wohl niemals ganz leugnen. Das ist auch nicht nötig: Dahinter steht allemal die Frage nach den Voraussetzungen für außerordent­ liche menschliche Kreativität, die angesichts der eigenen, als ent­ täuschend erfahrenen Begrenztheit einerseits und eklatanter »Wi­ dersprüchlichkeiten« auf Seiten der Prominenten andererseits stets aufs Neue verwundern: Man denke an den maßlosen Egoismus eines Richard Wagner, an das chaotische, ans Asoziale grenzende Gebaren Beethovens oder die devote Biederkeit eines Anton Bruckner, die so ganz im Gegensatz zum kulturellen Stellenwert stehen, den wir ihren musikalischen Schöpfungen zuschreiben. Aber handelt es sich dabei notwendigerweise um Widersprüche? Vielleicht teilen uns diese unvereinbar scheinenden Seiten ein und derselben Person mehr mit über die menschliche Kreativität als jene idealtypisch hochstilisierten Übereinstimmungen von Ästhetik und Moral, die so sehr unserem Bedürfnis nach Harmonie und restmengenfreier Schlüssigkeit entsprechen. Dass Leerstellen in der biographischen Darstellung bleiben, ist ebenso wie die immanente Vorläufigkeit ein Gesetz der Gattung, das jedem einsichtig wird, der sich vorstellt, was von der eigenen Biographie übrig bliebe, wenn sie zum Großteil auf Grundlage des Skeletts seiner nur lückenhaft zugänglichen Korrespondenz rekonstruiert werden müsste. Eine Vorstellung, bei der auch Biographen nur schaudernd zusammenzucken können ... 11

1.

Nantes (1828-1839)

Alles beginnt in einer Hafenstadt in der Bretagne. Es ist eine Ge­ gend Frankreichs, die sich nicht gerade durch eine fortschrittliche Gesinnung auszeichnet — weder in politischer noch in technologi­ scher Hinsicht. Sie konnte mit anderen Reizen aufwarten: »Als Sohn eines zur Hälfte pariserischen Vaters und einer durch und durch bretonischen Mutter habe ich den Hafenbetrieb einer großen Handelsstadt erlebt, die Ausgangs- und Zielpunkt zahlrei­ cher Reisen nach Übersee war. Ich sehe die Loire wieder, deren zahlreiche Arme durch zwei Meilen Brücken verbunden werden, ihre unter dem Schatten großer Ulmen von Schiffsladungen voll­ gestellten Kais, die damals noch nicht von den Doppelschienen der Eisenbahn, den Tramwaygleisen durchfurcht wurden. Die Schiffe liegen in zwei oder drei Reihen am Kai. Andere steigen die Loire herauf oder fahren sie hinab. Keine Dampfschiffe zu jener Zeit; oder jedenfalls nur wenige, aber jede Menge dieser Segelschiffe, deren Typus die Amerikaner mit ihren Clippern und dreimastigen Goeletten beibehalten und auf so glückliche Art vervollkommnet haben. Damals hatten wir nur die schwerfälligen Segelschiffe der Handelsmarine.«3 Dies schrieb Jules Verne 1890 in einem kurzen, ins Deutsche bis­ lang unübersetzt gebliebenen Aufsatz mit dem Titel Erinnerungen an Kindheit und Jugend über seine Geburtsstadt. Nantes war bis ins 18. Jahrhundert nach Le Havre die bedeutendste französische Ha­ fenstadt, die es durch den Handel mit Zucker, Elfenbein, Reis, Kakao und Kaffee zu gehobenem Wohlstand gebracht hatte — und durch den »Ebenholz-Handel«, wie die guten Bürger von Nantes den Sklavenhandel zu bezeichnen pflegten. Seit es mit diesem aber bergab ging, er 1815 sogar international verboten worden war 12

Blick von der Insel Feydeau auf die alte Hafenanlage von Nantes, um 1830

(worum sich freilich längst nicht alle scherten), florierte auch das Geschäft nicht mehr. Nach verschiedentlichen Versuchen, diesen lukrativen Markt heimlich neu zu beleben, kam er 1827 gänzlich zum Erliegen. Darüber hinaus erwies sich das Wasser der Loire — zumal im Sommer - für die immer größeren Handelsschiffe als zu seicht, sodass sich der Hafenbetrieb in die sechzig Kilometer ent­ fernte Küstenstadt Saint-Nazaire verlagerte und Nantes als Hafen­ stadt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur noch den vierten Platz in der nationalen Rangfolge einnahm. Die besten Zeiten waren in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts auch für die Insel Feydeau vorbei, eine Loire-Insel im Herzen von Nantes, gelegen am Quai de la Fosse, an dem sich die Hafenanlage der Stadt erstreckt. Hier hatte das zu Reichtum gelangte Handels­ bürgertum im 18. Jahrhundert seine imposanten mehrstöckigen Reihenhäuser errichtet. Zumindest im Erdgeschoss waren inzwi­ schen Kleinwaren- und Fischhändler eingezogen, was die Umge­ bung lebhafter, aber nicht unbedingt gediegener hatte werden las­ sen. Die Insel Feydeau existiert noch heute nahezu unangetastet, selbst wenn ihre Insellage nur noch vermutet werden kann, da die 13

Arme der Loire zwischen 1926 und 1946 zugeschüttet wurden und die Flut der Automobile das Flusswasser ersetzt hat. An der Fassade des bescheidenen Eckhauses der Rue Kervégan / Rue (heute: Cours) Olivier-de-Clisson Nr. 4 erinnert eine Gedenktafel daran, dass hier im dritten Stock am Mittag des 8. Februar 1828 JulesGabriel Verne als Sohn des Anwalts Pierre Verne und dessen Frau Sophie, geborene Allotte de la Fuÿe, zur Welt gekommen ist. Am folgenden Tag erhielt der kleine Jules durch den Vikar der Kirche Sainte-Croix eine vorläufige Taufe ohne Paten, die eigentliche Feier durch den Pfarrer derselben Kirche, Abbé Guillaud, wurde auf den 1. Mai verschoben, damit die Großeltern väterlicherseits aus der Nähe von Paris anreisen konnten, was eine anstrengende Kutschfahrt von mehreren Tagen erforderlich machte. Dass sich die Geburt des künftigen Verfassers von Robinsonaden und Reiseromanen ausgerechnet auf einer Insel ereignete, hat alle späteren Biographen erfreut, und auch Verne selbst maß diesem Umstand neben dem Interesse seiner Familie an Kunst und Litera­ tur einige Bedeutung für seine schriftstellerische Berufung zu. Die tägliche Begegnung des Heranwachsenden mit Seeleuten weckte Neugier aufs Reisen und die Sehnsucht nach der Ferne. Gereist war man durchaus in der Familie, zumindest in der Verwandtschaft der Mutter, deren Vorfahren über drei Generationen hinweg als Kaufmänner oder Reeder tätig gewesen waren. Auch wenn sich der genaue Ursprung der Familie aus Schottland wohl nicht mehr nachweisen lässt, so soll doch ein Schotte namens N. Allott für seine Dienste unter Ludwig XL 1462 geadelt und mit dem Privileg ausgezeichnet worden sein, sich einen Taubenschlag fuÿe) zuzu­ legen; daher der französisierte Name Allotte de la Fuÿe, der zu Zei­ ten der großen Revolution sicherheitshalber auf Allotte zurückge­ kürzt worden war. Sophie Nanine Henriette Allotte de la Fuÿe, die Mutter des Schriftstellers, war als Kind dieser Revolution am 2. Tag des Reifmonats {Frimaire) im Jahre IX im bretonischen Morlaix zur Welt gekommen (was dem 23. November 1800 entspricht). Ihr Vä­ ter war der Kaufmann Jean Isaac Augustin, der 1793 Sophie Marie Adélaïde Guillochet de la Perrière geheiratet hatte. Augustins Bru­ >4

der Prudent hatte, ebenfalls als Kaufmann und Reeder, ausgedehnte Reisen bis nach Venezuela unternommen, dort einige Zeit ver­ bracht und lebte nun als Bürgermeister des kleinen Ortes La Guerche-en-Brains auf einem Landgut in der Nähe von Nantes, wo er regelmäßig bis zu seinem späten Tod die weitverzweigte Fa­ milie empfing. »Das war ein außergewöhnlicher Charakter, dieser ruppige Alte, der noch mit 85 oder 90 Jahren zu Fuß nach Indret oder Le Peilerin, eine gute Stunde von La Guerche, marschierte, sich dort einschiffte, sich den ganzen Tag in Nantes umhertrieb, ohne jemals einen Wagen zu benutzen, und des Abends zurück­ kehrte, wie er am Morgen gekommen war«, erzählte einer seiner Großneffen.4 Täglichen Umgang pflegte Sophie Verne mit ihrer Schwester Caroline, die mit dem Porträtmaler François Charles Henry de la Celle de Châteaubourg verheiratet war, selbst wiederum Sohn des Miniaturisten Charles Joseph, der dem kleinen Jules ein Porträt von Napoléon I. und Joséphine schenkte, das dieser sein Leben lang stolz verwahrte, mit dem in krakeliger Kinderschrift geschriebenen Hinweis: »Gemalt von M. de Châteaubourg, dem Vater meines Onkels.« Dass dieser illustre Großonkel zugleich mit dem Dichter Chateaubriand verwandt war, muss dessen Reiz in Jules’ Augen später noch erhöht haben. Über Sophie Verne verraten die Quellen nicht allzu viel, und die Familienbiographen begnügen sich damit, ihre überquellende Ein­ bildungskraft, rötlich-blonde Haare und ihren erfrischenden Hu­ mor hervorzuheben — was vor allem durch den Charakter der Briefe, die der älteste Sohn später an sie richten sollte, bestätigt zu werden scheint, weniger durch die wenigen bekannten Porträts, auf denen sie eher distanziert und unsicher wirkt. Zu jener Zeit erfüllte sich die Daseinsberechtigung der Frau erst durch die Ehe, und je reibungsloser sie als Gattin und Mutter das Familienleben zu führen verstand, umso weniger schien es nötig, weiter auf ihre Rolle ein­ zugehen. Im Herbst des Jahres 1826 soll Sophie Allotte de la Fuÿe dem Anwalt Pierre Verne begegnet sein, der sie am 17. Februar 1827 mit der Hochzeit ihrer glücklichen Bestimmung zuführte. ¡5

Geboren am 15. Tag des Windmonats (Ventôse) im Jahre VII (5. März 1799), stammte Pierre Verne aus Provins, südöstlich von Paris, und hatte, einer alten Gepflogenheit seiner Familie folgend, in der Hauptstadt Jura studiert. Schon sein Vater Gabriel war Justiz­ beamter gewesen, Großvater Antoine Notar, und auch die Mutter Masthie, geborene Prévost, kam aus einer Familie, die sich seit Ge­ nerationen der Juristerei widmete. Traditionsbewusst, aber doch fle­ xibel genug, die Hauptstadt zu verlassen, um sich in die Provinz zu begeben (wer es auf eine nennenswerte Karriere anlegte, schlug üblicherweise den entgegengesetzten Weg ein), nahm Pierre 1825, als ihm sein dort ansässiger Onkel Alexandre mitteilte, dass in der Kanzlei des Maître Paqueteau die Stelle für einen Teilhaber zur Verfügung stand, die Gelegenheit wahr, seinen Wohnsitz ins bretonische Nantes zu verlegen. Das junge Paar zog zunächst in die Wohnung von Sophies Eltern, wo ein Jahr später der kleine Jules zur Welt kam - was nicht nur aus Platzgründen eine Ubergangslösung gewesen sein muss: Noch im selben Jahr sollten sich Sophies Eltern auf Gütertrennung einigen und Vater Augustin künftig die meiste Zeit in Paris zubringen. Als Jules’ Bruder Paul am 29. Juni 1829 zur Welt kam, war die Familie bereits in eine frei gewordene Wohnung über Pierres Kanzlei am Quai Bart 2 gezogen, am da­ maligen Zusammenfluss von Erdre und Loire, mit direktem Blick auf die Insel Feydeau. Drei Töchter sollten die Familie vervollstän­ digen: Anne, genannt Anna, Mathilde, die später aus religiösen Gründen ein distanziertes Verhältnis zu ihrem ältesten Bruder ent­ wickelte und von der ein Enkel berichtet, sie habe keines seiner Bücher besessen, und schließlich Marie, Jules Vernes »c/iou« (Lieb­ ling) und Patenkind. Durch einen Glücksfall ist der folgende Brief erhalten geblie­ ben, in dem Sophie Verne am 3. Mai 1837 ihrer Schwiegermutter von der Geburt ihrer ersten Tochter Anna am 24. März berichtet. Er ist ein einzigartiges biographisches Dokument, das nicht nur eindrucksvoll von den Erwartungen eines durch die katholische Autorität geprägten Umfelds der Familie zeugt; er legt auch nahe, dass Sophie Verne keine allzu geübte Briefschreiberin gewesen ist, 16

zumindest hat sie sich vor lauter Enthusiasmus wenig um Konven­ tionen des Briefaufbaus, Kegeln der Interpunktion und grammati­ sche Bezüge geschert — Eigentümlichkeiten, die sich die Überset­ zung beizubehalten bemüht:

»Ja, meine gute Mutter, unsere neuen Beschäftigungen hindern uns nicht daran, sehr besorgt um Eure Gesundheit zu sein. Möget Ihr uns darum nicht ohne Brief lassen. Ich greife zur Feder aus den Händen meines Gebieters, um Euch von meiner Tochter zu be­ richten. Meine Tochter! Könntet Ihr Euch nur vorstellen, was die­ ses Wort für mich alles an Liebem umschließt, oder für uns, denn Verne verwandte gerne lange Zeit darauf sie zu betrachten wenn sie weint beruhigt er sie mit den Puritanern oder den Hugenotten.^ Aber am Drolligsten ist, dass er sich immerfort vorstellt, dass das, was (mit Eurem Respekt) gut verschlossen in den Windeln zu­ rückgehalten wird, ihm auf die Knien fällt. Seine Einbildung geht so weit, dass er vermeint, die süße Wärme zu spüren, die dabei zu Tage treten würde. Wenn dergleichen Malheur einträfe, würde er sogleich seine wertvolle Last auf Armlänge hochhalten. Ich will mich nicht länger in Einzelheiten über die glücklichen Folgen meiner Niederkunft ergehen. Verne lässt keine Wünsche of­ fen jeden Tag danke ich Gott für die überreiche Gnade, die er über uns ergossen hat. Sicher wurden die Gebete meiner Schwestern dort oben erhört. Seid Gott befohlen Ihr alle, die wir so zärtlich lieben.«6

Bis zum Tode Ludwigs XVIII. im Jahre 1824 hatte die konstituti­ onelle Monarchie in Frankreich eine gemäßigte Innenpolitik ver­ folgt, womit es ein Ende hatte, als der Nachfolger Karl X. durch rigide Maßnahmen versuchte, die absolute Monarchie wieder ein­ zuführen und damit die bürgerliche Revolution von 1830 auslöste (von der Jules Verne in seinen Kindheitserinnerungen schreibt, er habe noch die Schüsse auf den Straßen im Gedächtnis — für einen Zweijährigen eine bemerkenswerte mnemotechnische Leistung). Danach folgte die so genannte Juli-Monarchie unter dem Bürger17

könig Louis-Philippe, praktisch eine Fortführung der Politik seines Vorvorgängers mit unaufhaltbarem wirtschaftlichem Niedergang, da das Land durch Festhalten an überkommenen Prinzipien er­ starrte und keine Mittel fand, um die aufkommende Arbeitslosig­ keit zu bekämpfen. Das Kleinbürgertum blieb von der politischen Macht zwar ausgeschlossen, konnte sich aber bei ausreichendem Einkommen in die Gemütlichkeit des materiell abgesicherten Familienkreises zurückziehen, während ein Großteil der länd­ lichen Bevölkerung und die wachsende Industriearbeiterschaft unter erbärmlichen Bedingungen bis zu 16 Stunden täglich arbei­ ten musste. Für sie gab es keinerlei Absicherung bei Krankheit oder im Alter, noch begrenzten Gesetze die Ausbeutung von Frauen und Kindern. Schlecht organisierte Streiks formierten sich unter den Industriearbeitern von Nantes in den Jahren 1833, 1836, 1840 und 1847, ohne eine Veränderung der Situation zum Besseren zu bewirken. Für das Bürgertum war dieses Proletariat ein unver­ ständliches Phänomen, befremdlich in seinem Verhalten, bedrohlich durch seine Vulgarität und Bereitschaft zu Revolten. Pierre Vernes Arbeit sicherte seiner Familie ein sorgenfreies Le­ ben, er galt als einer der angesehensten Anwälte der Stadt und sollte seine Laufbahn 1834 als Ältester und Vorsitzender seines Stan­ des in Nantes beenden. Monarchistisch gesonnen, war er, wie seine Frau, praktizierender Katholik, der mit führenden Geistlichen der Stadt freundschaftlichen Umgang pflegte. An seiner Autorität in der Familie wird kein Zweifel bestanden haben, wenngleich die von der in Sachen Faktentreue nur mit Vorsicht zu genießenden Biographin Marguerite Allotte de la Fuye geprägte Darstellung eines gefühllosen Pedanten ein unzutreffendes Zerrbild sein dürfte. Unbestritten bleibt seine tiefe, orthodoxe Religiosität: »Er ist ein äußerst gottesfürchtiger Mann, ganz und gar katholisch aus durch­ dachter Überzeugung, und dies im vollkommensten Sinn«, schrieb Jules Verne später an seinen Verleger Hetzei, als dieser den Ruhe­ ständler — vergebens — dazu überreden wollte, Anteile an seinem Verlagshaus zu kaufen.7 Jean Jules-Verne fand im Nachlass kleine Zettel vor, auf die sich Pierre Verne theologische Gedanken notiert 18

hatte; dass Pierre Verne zu Selbstkasteiungen geneigt haben soll, geht auf eine Behauptung von Jules’ Sohn Michel zurück, dessen Glaubwürdigkeit in allem, was Fragen des christlichen Glaubens betrifft, allerdings nicht hoch anzusetzen ist. Anna Vernes Sohn Raymond Ducrest de Villeneuve, der im Haus seines Großvaters erzogen wurde, hat unveröffentlicht ge­ bliebene Memoiren hinterlassen, in denen er Allotte de la Fuyes Darstellung vehement widerspricht und vielmehr Pierre Vernes Duldsamkeit im Umgang mit den Enkelkindern hervorhebt — frei­ lich versuchen so manche Großeltern an der Erziehung ihrer Enkel durch Nachsicht wieder gut zu machen, was ihnen bei den eigenen Kindern aus den Händen geglitten war... Immerhin ist kaum vor­ stellbar, dass sich der von Jules Verne immer wieder beschworene zwanglose Umgang verschiedener Generationen miteinander unter der Fuchtel eines tyrannischen Eiferers hätte ausleben lassen. 1840 war die Familie des Anwalts - zum letzten Mal — umgezogen, wie­ der entlang der Loire und dann ein wenig stadteinwärts in die Rue Jean-Jacques Rousseau Nr. 6. Hier sollten es die Vernes mit der Zeit zu einer richtigen kleinen Kolonie bringen: In der Nr. 8 wohnten die Chäteaubourgs, später Marie mit ihrem Mann, in der Nr. 13 Paul mit seiner Frau Berthe; direkt gegenüber, in der Rue Suffren Nr. 1, mietete sich Jules Verne samt Gattin während der Jahre 1877 und 1878 ein. Pierre Vernes Büro war durch einen Gang mit der Wohnung verbunden und muss einem Museum geglichen haben, das weit über ein bloßes Archiv für juristische Fachliteratur hinausging. Raymond Ducrest de Villeneuve, dessen Erinnerungen bis in die Mitte der 60er Jahre zurückreichen, beschreibt einen Schrank, der Reise- und Entdeckungsliteratur Vorbehalten war, und einen anderen mit englischen und italienischen Klassikern, die Pierre Verne sowohl im Original als auch in Übersetzung las8 — im Gegensatz zu seinen Söhnen, die niemals andere Sprachen als Grie­ chisch und Latein lernen sollten. Jedenfalls dürfte Jules Verne, der sich mit Paul ein Zimmer teilte, hier seine prägende Vorliebe für englische Autoren wie Dickens, Walter Scott, Thackeray und Lawrence Sterne ausgebildet haben. 19

Das Landhaus von Chantenay, Zeichnung von Raymond Ducrest de Villeneuve

Mag Ducrest de Villeneuve als Reaktion auf die ihm vorausge­ gangene Biographin auch um eine ausgleichend positive Legen­ denbildung zu Gunsten seines Großvaters bemüht gewesen sein, außer Frage steht, dass das gesellige Leben der Familie sehr von Pierre Vernes schöngeistigen Interessen geprägt wurde. »Er war ein gebildeter Mann mit sicherem literarischem Geschmack«, erzählte Jules Verne dem Journalisten Robert H. Sherard später. »Aber er war alles andere als ehrgeizig, und wenn er sich auch im literari­ schen Leben hätte auszeichnen können, vermied er doch jede Form von Öffentlichkeit. Seine Lieder wurden in der Familie ge­ sungen, nur ganz wenige veröffentlicht.«9 1838 kaufte Pierre Verne ein Landhaus an der Place SaintMartin gegenüber der gleichnamigen Kirche in Chantenay, dessen Pfarrer ebenfalls zum engen Freundeskreis der Familie gehörte. Chantenay war damals eine ländliche Idylle auf einer Anhöhe mit Blick auf die Loire. Hier verbrachten die Vernes den Sommer, re­ gelmäßig von Ostern bis Anfang Herbst. Zwei terrassenförmig ab­ gestufte Gärten, von denen einer als englischer Garten mit Ge­ 20

wächshaus eingerichtet worden war, und ein Vorhof mit Pavillon boten den Kindern Platz zum Spielen. Der zweite Garten wurde zur Zucht von Obst und Gemüse genutzt und brachte so reiche Erträge, dass die Familie problemlos den Sommer über von ihnen leben konnte. Der Schriftsteller und Journalist Paul Perret, ein Ju­ gendfreund Jules Vernes, erinnerte sich: »Ein Bild ist in meiner Erinnerung frisch geblieben: das Land­ haus des Vaters von Jules Verne vor den Toren von Nantes, und die von Linden eingefasste Terrasse, auf der wir uns während der Schulferien dem Räuber-und-Gendarme-Spielen widmeten. Piff paff — welch ein Lärm! Das ging so lang, bis uns irgendeine aufge­ löste Angestellte inständig bat, mit dem Spielen aufzuhören, weil die >Kleinen< eine entsetzliche Angst bekommen hätten und zum Steinerweichen weinten. Die >Kleinen< waren die Schwestern von Herrn Jules, dem Ältesten (...). Dann zogen sich der Herr Älteste, sein Bruder, ein paar Kameraden und ich uns zu einem Pavillon in einer Ecke der Terrasse zurück. Von dort aus hatte man einen herr­ lichen Blick auf die Loire. Große Schiffe kamen den Fluss herauf­ geschwommen, die Flotte der Sardinenfänger mit ihren roten Segeln, dann erschien mit einer Höllengeschwindigkeit ein Dampfschiff, inmitten von Rauch und Schaum. Auf dem anderen, zwei Kilometer entfernten Ufer erstreckten sich weite grüne Wie­ sen, auf die Weiden ihre schmalen Schatten warfen. Verne hat we­ nig für die Schönheiten der Natur übrig, er würde wie eine Person von Molière in irgendeiner seiner Komödien sagen: »Dieser Ort ist erfreulich, wenn auch ländlich.«Tragen Sie Ihre digitalen Extremitäten nicht auf Kothurnen herum.In meiner Vorlesung habe ich davon gesprochene Darauf können dann gewisse Leute wie ich nichts antworten. Jedes Mal, wenn ein Examen naht, wirft man sich vor, nicht an der Fa­ kultät studiert zu haben.«34 Ein Wink mit dem Zaunpfahl, der in Nantes seine Wirkung nicht verfehlte. Wie um den Studenten zu signalisieren, dass sie Spielbälle in ihren Händen waren, teilten die Professoren ihre Noten durch farbige Kugeln aus: weiße (gut), rote (passabel) und schwarze (schlecht); Jules erkämpfte sich zwei rote und zwei weiße, und das, obwohl ihn Zivilrechtler François-Julien Oudot geprüft hatte, ein Vetter des Malers Gustave Courbet, der für seine Strenge gefürchtet war. Trotzdem verließ Jules am 10. No­ vember 1848 — so hatte es Pierre Verne beschlossen — Nantes end­ gültig, um das Studium abzuschließen, wofür noch zwei weitere Prüfungen und die Anfertigung einer schriftlichen Arbeit notwen­ dig waren. In seinem Gepäck führte er mehrere Manuskripte mit, Theaterstücke, mit denen er sich vorgenommen hatte, Paris — laut Walter Benjamin die »Hauptstadt des 19. Jahrhunderts« — für sich zu erobern.



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Mit Leidenschaft durch alle Genres: Jules Vernes Jugendwerk

Über Jules Vernes Jugendwerk hängt - gleich einem Motto mit drei Ausrufungszeichen — ein gewichtiger Name: Victor Hugo. Zwar las der junge Student auch die Romane der von ihm bewun­ derten Zeitgenossen Balzac, Dumas, George Sand und Eugène Sue, aber nur das selbstgekrönte Haupt der französischen Romantik be­ deutete für ihn Offenbarung wie Herausforderung in Lyrik, Drama und Prosa zugleich. Victor Hugo, der in seinen Dramen pro­ grammatisch die Einheit von Raum und Zeit aufgegeben und sich damit die Entrüstung der Klassizisten zugezogen hatte, der das In­ einander von Komik und Tragik, von Hässlichem und Schönem in der Kunst proklamierte, weil diese nur in der Verschränkung des Gegensätzlichen der Vielfalt der Schöpfung gerecht werden könne, dessen Gedichte gleichermaßen von volksliedhafter Einfachheit wie von markigem Pathos geprägt waren und dessen unerschütter­ liches Selbstbewusstsein sich bisweilen in einen peinlichen Er­ lösungsmystizismus verstieg, war ganz dazu geschaffen, einem jun­ gen Poeten auf der Suche nach seinem künstlerischen Selbst als Leitbild zu dienen: »Ich stand ganz unter dem Einfluss von Victor Hugo«, erklärte Verne im Juni 1893, »und war wirklich wie be­ rauscht von der immer wieder erneuerten Lektüre seiner Werke. Damals hätte ich ganze Seiten aus dem Glöckner von Notre Dame auswendig hersagen können. Aber am meisten beeindruckten mich seine Theaterstücke.«35 Hugo sollte über sein langes Leben hin eine erstaunliche Metamorphose vom elitären Monarchisten bis hin zum liberalen Demokraten durchmachen, der nach dem Staats­ streich Louis Bonapartes 1851 ins Exil ging und damit seiner Ver­ bannung zuvorkam, trotzig Amnestie und persönliche Begnadi­ gung ausschlug und erst nach Frankreich zurückkehrte, nachdem 39

der Kaiser hatte abdanken müssen, jener Mann, dem er früher po­ litisch den Weg geebnet hatte und den er nach seiner Flucht ins Ausland als »Napoléon den Kleinen« verhöhnte. Jules Verne, der in seiner politischen Haltung eher den umgekehrten - und konven­ tionelleren - Weg von einer liberalen Haltung zu autoritär-obrig­ keitshörigem Denken einschlagen sollte, hatte sein Idol am 2. Au­ gust 1848 bei einer Rede zur Pressefreiheit im Parlament erleben können, deren Anlass er eher als zweitrangig einzuschätzen schien: »V. Hugo, den ich um jeden Preis sehen wollte, hat eine halbe Stunde lang gesprochen. Jetzt kenne ich ihn. Um ihn an seinem Platz zu sehen, habe ich eine Dame über den Haufen gerannt und eine Lorgnette aus der Hand eines Unbekannten gerissen«, erfuhr die Familie in Nantes, der er weitere Einzelheiten mündlich ver­ sprach, »über diese Sitzung, wie über alles, was man in Paris so sagt und tut.«36 Eine persönliche Begegnung sollte sich nicht ergeben, nicht vor Hugos Exil und wohl auch nicht nach seiner Rückkehr, obwohl Verne zu diesem Zeitpunkt längst selbst ein renommierter Schriftsteller bei einem Verleger war, der zu Hugos Freundeskreis zählte und ab 1880 die Gesamtausgabe letzter Hand herausgab. »Als ich zu schreiben begann, war ich zwölf. Es waren alles Ge­ dichte, und zwar ziemlich schlechte. Allerdings erinnere ich mich an ein Glückwunschgedicht zum Geburtstag meines Vaters — in Frankreich nennen wir sie compliments —, das für sehr gut befunden wurde, und ich wurde dermaßen gelobt, dass ich nachher ganz stolz war. Ich weiß noch, dass ich schon damals sehr lange über meinen Sachen brütete, sie abschrieb und wieder abschrieb und niemals so richtig zufrieden mit den Ergebnissen war.«37 Das erste erhaltene Gedicht stammt aus dem Jahre 1842 und richtet sich an die Mutter, der Jules nach der Geburt von Marie gute Besserung wünscht; ein weiteres Gedicht ist auf den 24. Juli (1845?) datiert, dem Vater ge­ widmet und wurde während eines Ferienaufenthalts an der Atlan­ tikküste in Les Sables-d’Olonne, Frankreichs Vorzeigestrand, ge­ schrieben. In den achtzig durchnummerierten Gedichten, die Jules zwi­ schen April 1847 und Anfang 1849 in Schönschrift in zwei kleine, 40

in grünes und blaues Leinen gebundene Alben mit festem Papier hineinschrieb, manifestiert sich eindeutig Hugos Einfluss, nicht nur durch die Zitate aus seinen Werken, die vielen Texten als Motto voranstehen, sondern auch in Themenwahl und Duktus. Sicher dienen viele von ihnen der Bewältigung des Liebeskummers wie bei anderen Jugendlichen auch, aber die Vielfalt der Formen und Themen weist doch weit über sentimentale Betroffenheitslyrik hinaus, zeigt, dass sich hier jemand ernsthaft um seine sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten bemüht — mit unterschiedlichem Erfolg. Parodien und Stilübungen nehmen einen wichtigen Platz ein, nicht nur Hugo dient als Vorlage, ausdrücklich werden auch Vigny, Lord Byron, Racine, Müsset und selbst Kerner mit einem Gedicht be­ dacht; in Tempête et calme wird das Sujet von Goethes Meeresstille und glückliche Fahrt mit der auf- und abschwellenden Form von Hugos berühmten Djinns kombiniert. Es fällt auf, dass Naturschil­ derungen wie im gerade angeführten Titel die Ausnahme bilden, stattdessen thematisiert der junge Autor so unterschiedliche Dinge wie den Triumphmarsch des Dampfs, die Situation in den Kran­ kenhäusern, das Schicksal des Menschen überhaupt und den Ko­ ran, bezieht auch engagiert Stellung zu politischen Fragen, beklagt die Korruption der Regierung und feiert sogar die Revolution in einem Chant des barricades: »Freue dich Frankreich, dein Volk ist nun frei, / Es hat an Ehre und Glauben gewonnen.«38 Ganz abneh­ men mag man dem Verfasser seine revolutionäre Euphorie nicht, sie gründet sich eher auf die Freude, ein unerträgliches Regime losgeworden zu sein, als auf die Hoffnung auf eine radikale Neuordnung der sozialen Verhältnisse. Bezeichnender für Vernes Geisteshaltung ist da schon ein Chanson, das um die Jahreswende 1848/49 entstand und dessen zweite Strophe lautet:39 Ob ihr Bonapartist seid oder auch nicht, Kommt und trinkt auf unsren Festen, Möge jeder bestehen auf seine Sicht, Wenn alle nur im Chor vereint singen Drinn, Drinn, usw. 41

Es ist unwahrscheinlich, dass Verne jemals eine vollständige Veröf­ fentlichung seiner Gedichte plante, einige Texte aber haben Ein­ gang in Theaterstücke gefunden, von denen Jules Verne sich eine Aufführung versprach. Eine einzige Ausnahme immerhin besteht: Das Chanson des gabiers (Gesang der Mastwächter), das er aus Anlass von Pauls Abreise auf der Regulus Ende 1847 verfasst hatte, findet sich nicht nur im Manuskript der unaufgeführt gebliebenen Ko­ mödie Une Promenade en mer (ca. 1848), einem turbulenten Einakter um einen englischen Lord auf Lustreise, der sich in den Kopf setzt, ein französisches Schmugglerschiff zu kapern, dann aber selbst auf diesem gefangen genommen und gezwungen wird, seine Tochter mit ihrem Verehrer zu verloben, dessen Hand er zuvor schnöde ab­ gewiesen hatte. In überarbeiteter Form erschien das Lied 1851 als Les Gabiers in einer Broschüre, zusammen mit der Vertonung seines Freundes Aristide Hignard. Nunmehr dem populären, aus Nantes stammenden Sänger Charles Battaille von der Opéra-Comique ge­ widmet und von diesem interpretiert, erfreute sich das Chanson einer gewissen Beliebtheit. »Um 1850, im Salon des Musikers Talexy, Rue Louis-le-Grand, (...) begegnete man einem Jüngling mit blondem Kinnbärtchen, dessen spezielle Funktion darin bestand, mit Hingabe elegische Verse zu rezitieren. Dieser Jüngling, der Dichter werden wollte, und zwar ein großer Dichter, trug den Namen Jules Verne.«40 Ei­ nige von Beginn der 50er Jahre an entstandene Gedichte hat Verne — oftmals gegen den Widerstand seines wenig enthusiasmierten Verlegers — in spätere Romane eingefiigt und sich ein Vergnügen daraus gemacht, sie von seinen Personen diskutieren oder kom­ mentieren zu lassen. Noch 1898 spielt er im postumen Roman Le Secret de Wilhelm Storitz auf das unveröffentlichte Sonett an, mit dem er 1849 das zweite Album vorläufig abgeschlossen hatte: »>Die Vergangenheit ist nichtdie Zukunft ist nicht ... allein die Gegenwart ist! ...< Darüber gibt es einen italienischen concetto, den alle Verliebten unter den Sternen rezitieren!«41 Im Gegensatz zur lyrischen Kurzform hatte Jules Verne mit der langen Form des Romans zunächst seine Schwierigkeiten, zumin42

Die Kirche von Saint-Nicolas in Nantes, um 1845. Ausgangspunkt der Handlung von Un Prêtre en 1839

dest blieben zwei Versuche, die in die Zeit vor seiner Abreise nach Paris fallen, Fragment. Der erste, Un Prêtre en J83942, dürfte in den Jahren 1845 bis 1847 entstanden sein und reiht sich in die — zu dieser Zeit freilich schon überkommene — Tradition des englischen Schauerromans, dessen Schauplatz Verne vom aristokratisch ge­ prägten Mittelalter in die bürgerliche Gegenwart der Stadt N(antes) verlegt. 1765 von Horace Walpole mit Schloss Otranto begründet, hatte die Gattung um die Jahrhundertwende in den Romanen von Ann Radcliffe und Matthew Lewis’ Mönch (1796) ihre Blütezeit er­ lebt und später noch E.T.A. Hoffmann (Die Elixiere des Teufels, 1815/16) und Charles Robert Maturin (Melmoth der Wanderer, 1820) inspiriert: Verwunschene Priester, verworrene Familienbezie­ hungen, unterdrückte Erotik, die sich in Gewalt entlädt und auch Inzest nicht ausspart, Zauberei und Mord, scheinbar übernatürliche Geschehnisse in geheimnisvollen Schlössern, die sich im Nachhin­ ein als kriminelle Machenschaften heraussteilen, aber junge Mäd­ 43

chen nichtsdestoweniger in den Wahnsinn zu treiben vermögen, bilden das Repertoire von Motiven, derer sich auch der junge Jules Verne bedient. Insbesondere Melmoth der Wanderer scheint seine Aufmerksamkeit geweckt zu haben, zumal er Maturins Name für eine der Personen übernommen hat. In 21 Kapiteln kombiniert Verne vier Handlungsstränge, von denen einige offensichtlich, an­ dere nur andeutungsweise Zusammenhängen, was aufgrund der fragmentarischen Form für heutige Leser verwirrend sein mag, jedoch nicht gegen den Roman sprechen muss, sondern ein Merk­ mal der Gattung darstellt, die aus dem Wechsel zwischen verschie­ denen Plots einen Teil der Spannung bezog, deren Zusammenfüh­ rung am Schluss eine umso überraschendere Auflösung garantierte. Ausgangspunkt der Handlung ist ein Gottesdienst in der Kirche von Saint-N ... (die Christian Robin als Pfarrei der Familie Verne, Saint-Nicolas, identifiziert hat), in der die Gemeinde vergeblich auf die Ankunft eines berühmten Predigers wartet. Die Glocke löst sich aus dem Gebälk und erschlägt oder verletzt viele Besucher, darunter den alten Glöckner (dessen Person wie auch die ausführ­ lichen Beschreibungen der gesamten Szene deutlich an Hugos Ro­ man Der Glöckner von Notre Dame erinnern), welcher Hüter eines ungeklärten Geheimnisses war. Später soll sich das Unglück als Ver­ brechen heraussteilen, des Glöckners Tod als geplanter Mord, in den ein düsteres Trio verwickelt ist, das sich aus der Hexe Abraxa, dem Kriminellen Mordhomme und dem gefallenen Priester Pierre zusammensetzt und das im Verlauf der Handlung neben einem Ausflug zum Brocken Gelegenheit erhalten wird, eine schwarze Messe zu zelebrieren, bei der sich der Autor genüsslich in der Wiedergabe kabbalistischer Riten ergeht und seiner auch für die späteren Romane charakteristischen Neigung zu langen Aufzäh­ lungen zum ersten Mal freien Lauf lässt. Aus dem Chaos der ver­ zweifelten Menschenmenge rettet der junge Anwaltsgehilfe Jules Deguay ein Mädchen namens Anna, das bereits zuvor beim An­ blick eines geheimnisvollen Mannes in Ohnmacht gefallen war — dabei handelt es sich um den Priester Pierre, der in Leidenschaft zu ihr entbrannt ist und versucht, sie durch Entführung und Abraxas 44

Zauberei zu erobern. Dafür hat er eigens einen Menschen umge­ bracht und steht nun, erpressbar geworden, ganz in Abraxas Macht. Auch Jules verliebt sich in Anna, wird von deren (Adoptiv-) Fami­ lie aber zunächst abgelehnt. Zwischendurch schweift der Erzähler zehn Jahre zurück in die Vergangenheit, in die Hütte des mittel­ losen und schwer verletzten Bauern Mathurin Hervé, in der man den Ursprung der späteren Verwicklungen vermuten darf. Wäh­ rend Mathurin zunächst vergebens auf die Ankunft eines Arztes hofft, retten seine Söhne Jean und Pierre einem reichen Bürger das Leben, der, gerührt von ihrer Hingabe und dem Elend der Familie, das Angebot macht, für die Ausbildung der beiden Brüder aufzu­ kommen. Mit Pierres Eintritt ins Priesterseminar von Nantes bricht das Fragment ab. Hat Jules Verne nach 240 eng beschriebenen Manuskriptseiten vor den Verwicklungen seiner Handlung kapituliert, die Lust ver­ loren, sie weiterzuführen, oder ihre Ausarbeitung in seiner knapp bemessenen Freizeit zu Gunsten anderer Projekte zurückgestellt? Auf eine andere, inhaltsbezogene Hypothese werde ich an späterer Stelle zu sprechen kommen. Das Ineinander von brav abgearbeite­ ten Motiven des Schauerromans und Elementen der eigenen Er­ fahrungswelt macht den größten Reiz dieses sprachlich unausge­ wogenen Versuchs aus. In der Person von Jules Deguay kann man das mit Wunschdenken vermischte Selbstbild eines jungen Mannes an der Schwelle zur beruflichen Ausbildung vermuten: »Jules Deguay war Rechtsanwalt, hatte seit kurzem erst den Grad des Lizenziaten erworben; nun absolvierte er das, was man als Probezeit bezeichnet, jene Zeit, während der die jungen Neophyten dazu angehalten sind, sich in der Rechtspraxis, in ihrer Rede­ fertigkeit und durch das Zuhören bei Vorbildern zu vervollkomm­ nen. (...) Jules Deguay war fünfundzwanzig Jahre alt, verfügte über ein hübsches Gesicht und angenehme Umgangsformen in der gu­ ten Gesellschaft; (...) gab sich recht unbeschwert, als Lebemann. Hinter dieser Fassade versteckte er eine Seele, die sich leidenschaft­ lich mit ganz anderem beschäftigte; seine Handlungen dienten ihm als Maske; hinter seinen gelegentlichen Ausfällen, hinter seinen gu­ 45

ten Manieren und seiner distinguierten Haltung konnte er sich, un­ beschadet der Angst, von anderen durchschaut zu werden, all der Poesie, all den Früchten seiner Phantasie hingeben.«43 Zu den atmosphärisch gelungensten Passagen zählt die Schilde­ rung der Kate des verletzten Bauern Hervé in einer trostlosen, vom Sturm gepeitschten bretonischen Landschaft (Kap. VI). Vierzig Jahre später thematisiert Jules Verne eine entsprechende Situation in der Kurzgeschichte Frritt-Flacc, wechselt aber die Perspektive und schildert sie aus der Sicht eines hartherzigen Arztes, der zu einem Sterbenden gerufen wird. Gewissermaßen als Verbindungs­ glied zwischen beiden Texten steht im Frühwerk eine etwas pathe­ tisch anmutende Passage über das vana-gloria-Motiv, die die Ein­ sicht in die Vergeblichkeit menschlichen Anspruchsdenkens formuliert und ihre Gültigkeit für das spätere Werk niemals ganz verlieren sollte: »[Der Mensch] ist Bewegungen untertan, die er nicht aufzuhal­ ten vermag, Umwälzungen ausgeliefert, denen er nicht Einhalt ge­ bieten kann, Kräften, die er nicht erreichen würde — da gibt es Kataklysmen, die ganze Welten zunichte machen, und der Mensch, der da meint, in glücklichen Umständen zu leben, mit Maschinen und Erfindungen ausgestattet zu sein, die er in Funktion und Be­ schaffenheit dem nachempfunden und nachgebildet hat, was er in sich selbst vorfand, und die seine Macht verhundertfachen, ver­ bleibt zitternd und bestürzt angesichts einer übergeordneten Macht, vor der er nur das Haupt senken kann.«44 Jules Deguay fungiert zwar als positiver Gegenspieler zum düs­ teren Priester Pierre (wie darüber hinaus auch dessen Bruder Jean, dessen Schicksal aber im Fragment nicht weiter ausgeführt werden konnte), jedoch erscheint dieser nicht als schablonenhafte Inkarna­ tion des Bösen, sondern als Opfer widriger Verhältnisse: einer ge­ fühlskalten Mutter, Mitschülern, die ihn wegen seiner niederen Herkunft verspotteten und demütigten, einer Hexe, die ihn er­ presst, letztlich einer priesterlichen Ausbildung, die niemals seinem Wesen entsprochen hatte und ihm aufgedrängt worden war — all dies Elemente, die den Reflexionsgrad des jungen Jules Verne über 46

den jenes Spaßvogels heben, als der er sich im Freundeskreis zu er­ kennen gab. Der Hang zu Spott und Satire tritt dafür im zweiten Roman­ fragment gänzlich ungetrübt hervor, das Jules Verne bereits nach drei Kapiteln aufgab, was bedauerlich ist, da die auch hier gestelzt wirkende Schreibweise parodistisch gesteigert wird und auf diese Weise erheblich zum Lesevergnügen beiträgt. Jédédias Jamet ou l’histoire d’une succession (ca. 1847/48) sollte die Geschichte eines pe­ dantischen Spießbürgers werden, den eine unerwartete Erbschaft zwingt, eine Reise in die Vereinigten Staaten anzutreten, und den dabei Abenteuer ereilen, die sein ganz auf Gewohnheiten beruhen­ des Weltbild aus den Fugen geraten lassen. Die Reise selbst hat Jules Verne nur in zwei stichwortartigen Szenarien angedeutet; der Text, der ausgeführt wurde bzw. erhalten ist, erinnert stark an die zweideutigen Spötteleien eines Laurence Sterne: »Monsieur Jamet war ein Gutsbesitzer aus Tours; so wie die Schnecke hatte er niemals sein Schneckenhaus verlassen.« Aus sei­ ner Verbindung mit Madame Perpétue Jamet »waren der junge Francis und die schöne Joséphine hervorgegangen; da Monsieur Jamet sich versprochen hatte, es damit sein Bewenden haben zu las­ sen, hatte sich Madame Perpétue fürderhin auf die Verehrung des Herrn und seiner Vertreter auf Erden verlegt.«45 Handelt es sich bei diesem Musterbild eines weltfremden Pe­ danten um die Karikatur des ehrenwerten Rechtsanwalts Pierre Verne, wie Olivier Dumas vermutet?46 Auf jeden Fall sollte Jédé­ dias Jamet seine Nachfolger in einer ganzen Phalanx uhrwerkhaft funktionierender Personen der Außergewöhnlichen Reisen haben, un­ ter denen Phileas Fogg der berühmteste wurde, jener englische Gentleman, welcher die Wette eingeht, in achtzig Tag die Welt zu umrunden, und sich dabei allein auf Geld und seine Prinzipien ver­ lässt. Weitere Prosaversuche Jules Vernes sind aus dieser Zeit nicht überliefert; mag das vorhandene Material auch unvollendet und zu Lebzeiten unveröffentlicht geblieben sein, markiert es gleichwohl einen unverzichtbaren Schritt auf dem Weg der literarischen Be­ 47

wusstseinsbildung, die zu Beginn der 50er Jahre erfolgreicher mit dem Schreiben kürzerer Erzählungen fortgeführt werden sollte, sich aber zunächst auf ein Gebiet verlagerte, das Verne paradoxer­ weise lebenslang als größte künstlerische Herausforderung betrach­ tete: die Bühne. Die drei ersten Theaterstücke Jules Vernes sind zugleich seine ambitioniertesten und sollten es mit einer Ausnahme auch bleiben; es überrascht kaum, dass sie angesichts des hohen Anspruchs, es dem Übervater Hugo gleichzumachen, unbefriedigend ausfallen mussten. Von Hugos romantischen Dramen beeindruckt, »begann ich mit siebzehn Jahren eine Reihe von Tragödien und Komödien zu verfassen (...). So schrieb ich eine funfaktige Tragödie in Versen mit dem Titel Alexandre VI, ein Trauerspiel über den Borgia-Papst. Ein anderer Fünfakter aus jener Zeit war die Tragödie La Conspiration des poudres mit Guy Fawkes als Hauptfigur. Un Dratne sous Louis XV war eine weitere Verstragödie. (...) All diese Werke wurden mit der größten Gewissenhaftigkeit geschrieben und mit unablässiger Sorgfalt im Hinblick auf den Stil. Ich habe immer sehr am Stil ge­ feilt, aber diesem Anspruch haben die Leute nie Glauben schenken wollen.«47 In der Frage, ob das historische Drama in Versen oder in Prosa geschrieben werden sollte, hatte Victor Hugo für den stren­ gen Alexandriner plädiert, mit der Begründung, dass erhabene Ge­ danken eine entsprechende Form verdienten — Wein werde schließlich auch in Flaschen serviert; damit errichtete er jedoch eine Hürde, die sich für viele seiner Adepten als zu hoch erwies. Im Kampf mit dem Versmaß geriet Verne bei allen drei Werken bisweilen die Logik der Handlungsführung außer Kontrolle, was oft unfreiwillig komisch wirkt. Auch viele der Alexandriner selbst zeugen in erster Linie von der Mühe ihres Autors, in zweiter erst von der Erhabenheit seiner Ideen, und der Reimzwang machte Umstellungen von Satzgliedern erforderlich, die allenfalls im Deut­ schen akzeptabel, im Französischen jedoch nicht zu verkraften sind. Bei der Themenwahl seiner historischen Dramen hat sich der Advokatensohn aus gutbürgerlichem Umfeld immerhin weit aus dem Fenster gelehnt und weniger Ergebnisse seines politischen und 4S

moralischen Denkens präsentiert als den Vorgang eines engagierten Suchens nach der Wahrheit selbst thematisiert. Allen Werken ge­ meinsam ist, dass diese Suche im Rahmen einer melodramatischen Handlung dargeboten, an ein historisches Ereignis geknüpft und am Schicksal einer (scheiternden) Liebesbeziehung für das Publi­ kum emotional nachvollziehbar gemacht wird. Das Manuskript von Alexandre VI ist vorne mit dem Datum des 8. Mai 1847 und am Schluss mit dem des 29. Juni 1847 versehen, was mit Sicherheit den Zeitraum der letzten Reinschrift (nicht der letzten Korrektur, denn die Reinschrift selbst weist noch genügend Verbesserungsversuche auf) bezeichnet. Es ist also durchaus mög­ lich, dass das Werk in älteren Fassungen bereits ein oder zwei Jahre früher Vorgelegen hat und von einer Episode aus Alexandre Dumas’ 1845 erschienenem Roman Der Graf von Monte Cristo (Kap. XVIII) angeregt worden ist. Das Drama spielt im Rom des Jahres 1503: Papst Alexander VI. plant, neun reiche Bürger und Geistliche zu Kardinälen zu ernennen, um sie danach zu töten und ihr Ver­ mögen einzustreichen, das seinem sadistischen Sohn Cesare die Führung weiterer Eroberungskriege erlauben soll. Unter den po­ tenziellen Opfern befindet sich Jean Castellar Valentin, dessen Tochter Rosa bei Cesare vorstellig wird, um die Freilassung ihres Geliebten Héctor Fieramosca48 zu erbitten. Cesare geht zum Schein auf ihre Bitte ein, aber als er Rosa im Kerker bedrängt, ge­ lingt Héctor aus eigener Kraft die Flucht, nachdem er seinen Geg­ ner zuvor noch erniedrigt hat und dieser vor Wut den eigenen Diener umbringt (was in der Folge Héctor zur Last gelegt wird). Vermittelnd greift der Papst ein und lädt das Paar zur vorgeblichen Versöhnung zusammen mit den neu ernannten Kardinälen zum abendlichen Mahl, wo er sich aller entledigen und seinen Sohn rä­ chen will. In der gewitterschwülen Abendluft greifen die Borgias bei der Vorbereitung ihres Verbrechens selbst zum vergifteten Wein und sterben kurz nach dem Eintreffen der Gäste. Rosa und Héctor flüchten aus Rom (man weiß nicht so recht, warum dazu noch Anlass besteht), und Alexanders Diener verkünden: »Ihr schlechten Könige, erzittert alle! Der Tod ist Euch auf den Fersen!« 49

Vor dem Hintergrund der gegensätzlichen Zeichnung des abso­ lut Bösen (Cesare) und der naiven Unschuld (Rosa und Hector) gelingt es Verne nur in der Figur des Papstes, das differenziertere Porträt eines Menschen zu zeichnen, der sich seine religiöse Auto­ rität und politische Macht zur persönlichen Bereicherung zunutze macht, dabei aber noch im Moment seines Sterbens von Aber­ glaube und Feigheit beherrscht wird. Sowohl die Frage nach der moralischen Verantwortung derer, die wider besseres Wissen und im Auftrag der Mächtigen kriminelle Taten ausfuhren, als auch das Problem des Widerstandsrechts der Untertanen gegen die religiöse und politische Autorität werden angedeutet, aber erst in den fol­ genden Stücken eigens thematisiert. Zwar ist es in sich schlüssig, dass die Rache am Ende durch eine weise Vorsehung erfolgt und die positiven Helden auf diese Weise von jeder Schuld rein bleiben, nur stehen die vormals so schrecklichen Tyrannen durch ihren unfreiwilligen Selbstmord als Tölpel dar, und man fragt sich, mit welch amüsanter Musik ein Jacques Offenbach eine derartige Vor­ lage zur Parodie hätte nutzen können... Das überlieferte Manuskript von La Conspiration des poudres (1848) über Guy Fawkes’ Sprengstoffanschlag auf das englische Par­ lament von 1605 befindet sich in einem Zustand, der eine wider­ spruchsfreie Inhaltsangabe schwierig und eine lesbare Textedition fast unmöglich macht, so überfrachtet ist die ursprüngliche Rein­ schrift mit Alternativversionen, Streichungen und Korrekturen. Catesby, Anführer des Pulverkomplotts, sorgt sich um die Zuver­ lässigkeit seines Mitverschwörers Tresham. Dessen Schwester Jenny ist mit dem Parlamentsmitglied Lord Monteagle verheiratet und ahnt etwas von dem Gewissenskonflikt ihres Bruders, der sich ihr aber nicht anvertraut. Im Zuge ihrer Nachforschungen wird sie ih­ rerseits vom eifersüchtigen Gatten beschattet und grundlos des Ehebruchs bezichtigt, was seinen Höhepunkt während eines aus­ schweifenden Fests im Hause Monteagle findet, auf dem dieser Jenny vor Gästen als Hure demütigt. Aufgrund einer anonymen Denunziation sieht Catesby in Jenny Monteagle eine unwillkom­ mene Mitwisserin und befiehlt dem Kriminellen Guy Fawkes ihre 50

Ermordung. Der aber ist von Liebe zu ihr entbrannt und lässt sich bei der Installation des Sprengpulvers in den Verliesen des Parla­ ments fast überreden, den Anschlag zu verhindern. Als ihr Plan scheitert, versucht Jenny, Fawkes zu erstechen, wird aber selbst von ihm getötet. Parlamentarier, unter ihnen der reumütige Monteagle, entdecken das Komplott, verhaften den verletzten Fawkes und stel­ len den Tod seines Opfers fest. Vernes Stück ist aufrichtig darum bemüht, mit dem Konflikt zwischen englischen Protestanten und Katholiken, ihrer gegenseiti­ gen Unterdrückung und Erniedrigung, einen historischen Anlass zu finden, um exemplarisch die Frage zu stellen, von welchem Punkt an gewaltsamer Widerstand gerechtfertigt und im Namen höherer Werte auch der Tod von Menschen billigend in Kauf zu nehmen sei; das Problem bleibt letztlich unbeantwortet, allerdings legt der Autor nahe, dass die hehrsten Ziele durch egoistische Par­ tikularinteressen missbraucht und in ihr Gegenteil verkehrt zu wer­ den drohen. Die tragische Figur des Stückes ist Jenny Monteagle, die durch ihre Vermittlungs- und Versöhnungsversuche gerade dort Misstrauen und Gelüste weckt, mithin der Katastrophe Vorschub leistet, wo sie diese verhindern will. Durch ein Anagramm ihres Namens spielt Verne auf Julie d’Aiglemont an, vor Flauberts Ma­ dame Bovary (1856) das Modell der unverstandenen, unglücklich verheirateten Frau aus Balzacs Frau von dreißig Jahren (1835). Selbst wenn der Name Monteagle im Zusammenhang mit der Affäre his­ torisch bezeugt ist, ein provisorisches Szenarium für ein anderes Stück innerhalb desselben Manuskripts beweist, dass Jules Verne mit den beiden verwandten Namen gespielt hat. Der Schluss ist — ein­ mal mehr — an den tragischen Ausgang von Hugos Glöckner von Notre Dame angelehnt, indem Guy Fawkes die Rolle eines ebenso bösartigen wie verliebten Quasimodo übernimmt. Ein Produkt der Revolution von 1848 ist Un Drame sous Louis XU (1849), in dem sich Verne endlich an ein Thema der französi­ schen Geschichte heranwagt. Zu Beginn liest der junge Raymond einen Auszug aus Rousseaus Diskurs über die Ungleichheit (1754), dessen egalitäre Forderungen er leidenschaftlich verwirft: »Nein! 51

Diese Argumente sind zu voll von Hass / Wie ihre unnützen Pläne sind ihre Worte ohne Sinn! / Wir sind keine einfachen Instrumente / Keine Spielbälle für das Wohlergehen der Andren! / Große und Kleine haben ihren Platz auf dieser Erde!« Was folgt, soll ihn eines Besseren belehren, denn schon bald muss er seine Geliebte Marguerite aus einer nächtlichen Entführung retten, die der Herzog de Fronsac, ein Neffe des Duc de Richelieu, in Auftrag gegeben hat, und wird wegen eines unterstellten Mordes an dessen Komplizen festgenommen. Wütend über sein Missgeschick legt Fronsac Feuer, dem ein ganzer Stadtteil zum Opfer fällt. Marguerites Mutter bit­ tet am Hof von Versailles die Dubarry um Beistand, die in Ray­ mond ihren Milchbruder wiedererkennt, in Marguerite aber das Mädchen auserwählt hat, mit dem sie Ludwig XV. stimulieren und sich seiner Gunst versichern will. Fronsac wird wegen der Brand­ stiftung verbannt — und bald schon wieder begnadigt. Raymond flieht mit Marguerite vor der Verfolgung durch die Mächtigen und hofft auf eine Intervention der Dubarry; diese bedauert ihr vorma­ liges Intrigieren und verspricht Hilfe, aber ihre Kutsche wird von Fronsacs Schergen just in dem Moment entführt, als Soldaten des Königs sich Marguerites bemächtigen wollen. Verbittert und desillusioniert ersticht Raymond vor der drohenden Gefangennahme zuerst seine Geliebte und anschließend sich selbst. Sterbend zieht er den Schluss: »Niemals können Schrecken umfassender sein / Als wenn der König seinem Volk als Beispiel dient! / Doch Adel, Macht, alles wird zugrunde gehen / Wenn, des Leidens überdrüs­ sig, das Volk sich erst erhebt!« Diese Hommage an Rousseau geht auf das Konto einer vorübergehenden Begeisterung und sollte nicht von Bestand sein. Später machte Jules Verne seinem Korres­ pondenten Mario Turiello gegenüber eine Bemerkung, die über Raymonds ursprünglich ablehnendes Urteil noch weit hinaus geht: »Rousseau mag ein großer Schriftsteller gewesen sein, als Privat­ mensch war er ein großer Schurke, und die meisten Ideen, die er verbreitete, sind abscheulich.«49 Jules Vernes drei historische Dramen waren von vornherein lite­ rarische Totgeburten, weil die Gattung spätestens seit dem Schei52

tern von Hugos Stücken Ruy Blas (1838) und Die Burggrafen (1843) nicht mehr im Trend lag. Größerer Beliebtheit erfreuten sich die stärker vom Melodram geprägten und in Prosa verfassten histori­ schen Spektakelstücke von Alexandre Dumas. Doch selbst wenn es Verne gelungen wäre, einen Theaterintendanten für seine Stücke zu gewinnen, die staatliche Zensur hätte sie aufgrund ihrer kritischen Haltung gegenüber Herrschaft, Adel und Klerus ohne jeden Zweifel verboten. Die aktuelle Theaterzensur war unter Na­ poléon I. 1806 eingerichtet worden und sollte - Diktatur hin, De­ mokratie her — bis zum Jahre 1906 aufrecht erhalten bleiben, weil alle Regierungen die Mobilisierungskraft des Theaters fürchteten: Bühnenwerke, die von einem Direktor angenommen worden wa­ ren, mussten vor ihrer Aufführung bei einer eigens eingerichteten Kommission des Innen- oder Staatsministeriums eingereicht wer­ den. Drei Lektoren beschäftigten sich mit jedem Werk und be­ gründeten bis 1867 in einem Protokoll, weshalb das Stück ange­ nommen oder abgelehnt wurde bzw. Änderungen vorzunehmen waren. Die Freigabe der Stücke erfolgte, versehen mit den Stem­ peln der Behörde und des zuständigen Polizeichefs, meist erst we­ nige Tage vor der Uraufführung. Beanstandet wurde alles, was auch nur den Anschein hatte, sich gegen den guten Geschmack und das Ideal der katholischen, obrigkeitshörigen Familie zu richten. Da die Zensurbehörde die eingereichten Handschriften sämtlicher freigegebenen Stücke archivierte, trug sie immerhin dazu bei, dass nicht nur ihre rigiden Maßnahmen für die Literaturhistoriker durch den Vergleich von Manuskript- und Druckfassung nachprüf­ bar sind, sondern auch, dass viele unveröffentlichte Werke für die Nachwelt erhalten blieben. Mochte die kurzlebige Republik von 1848 auch Hoffnungen auf eine Lockerung dieser Praxis geweckt haben, wurden diese durch die politische Entwicklung schon bald wieder obsolet, und so teilte Jules Verne am 26. Januar 1851 seiner Mutter mit, dass er sein Stück zurückgezogen habe: »Verlorene Arbeit ist das auf keinen Fall; was heute nicht angenommen wird, werde ich später unterbringen können.«50

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Jurastudium in Paris (1848-1851)

»Damals war ich Jurastudent (wie so viele andere wäre ich fast Rechtsanwalt geworden); ich glaube mich erinnern zu können, dass ich meine Studien gewissenhaft betrieb. Manchmal ging ich in meine Kurse, allzu oft ins Café, und ab und zu ließ ich mich auf den öffentlichen Bällen blicken, auf denen die französische Jugend nach altem Brauch ihre Ausbildung vervollständigt und eine Be­ schäftigung für ihr Herz findet. Groß begeistern konnte ich mich für dieses Leben nicht; (...) Ich lebte von einer sehr bescheidenen Pension (...) und wohnte in der Rué de l’Ancienne-Comédie im sechsten Stockwerk. Tagsüber war meine Studentenbude erträglich, ich wage sogar zu behaupten, dass sie, wenn man bei geöffnetem Fenster ihrer ganzen Einrichtung den Rücken kehrte und hinaus auf das Leben in der Straße schaute, nicht einer gewissen Anmut entbehrte; abends jedoch verwandelte sie sich in eine Grabstätte.«51 Die Schilderung stammt nicht von Jules Verne, sondern aus einer Erzählung des Mannes, der im selben Jahr, als sie erschien, sein le­ benslanger Verleger werden sollte: Pierre-Jules Hetzei. Gleichwohl trifft sie exakt die Situation des jungen Studenten, der am io. No­ vember 1848 mit Freund und Studienkollegen Edouard Bonamy Nantes verlassen und mit ihm zusammen für 60 Francs monatlich eine Wohnung in derselben Rué de l’Ancienne-Comédie des Quartier Latin, im 3. Stockwerk der Nr. 24, bezogen hatte.52 Beide waren zunächst im Dampfboot nach Tours gefahren - die Bahn­ strecke Nantes-Paris sollte erst 1851 fertig gestellt werden —, wo sie sich in einen Zug der Nationalgarde einschmuggelten, um noch rechtzeitig zur Feier der neuen Verfassung am Sonntag, den 12. No­ vember, auf der Place de la Concorde einzutreffen: ein von der Ubergangsregierung groß angelegtes Spektakel, das von der Bevöl­ 54

kerung weitgehend boykottiert wurde. Die in den vorausgegange­ nen Monaten ausgearbeitete und zum Teil an der amerikanischen Staatsordnung angelehnte Verfassung sah die Wahl eines Präsiden­ ten zum Staatsoberhaupt vor, zu dem am io. Dezember mit 75% aller abgegebenen Stimmen der Kaiser-Neffe Louis Napoléon ge­ wählt wurde. Weder hatte sich Cavaignac durchsetzen können noch Lamartine, der gerade einmal demütigende 8.000 von über 8 Millionen abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen konnte. Für die Linke war Cavaignac nach dem blutigen Juni-Einsatz unwähl­ bar geworden, ein politischer Nobody wie der Neffe des ehemali­ gen Kaisers schien eine Alternative zu bieten, da sich von ihm auch die Konservativen eine leichte Manipulierbarkeit versprachen. Praktisch hatten die Wähler mit ihrer Entscheidung das Ende der Republik eingeläutet, denn unter dem Deckmantel seines demo­ kratisch legitimierten Amtes bereitete Louis Napoléon den Staats­ streich vor, der ein knappes Jahr darauf, am 2. Dezember 1851, er­ folgreich durchgeführt und ein weiteres Jahr später — von einer Volksabstimmung abgesegnet — mit der Kaiserkrönung vollendet werden sollte. Obwohl der neue Präsident in seinem Kabinett die verbliebenen Republikaner systematisch durch Royalisten ersetzte, herrschte — auch für Jules Verne — noch die Illusion einer neu ge­ wonnenen Freiheit. Mit einer ungewohnten Freiheit fern der Bequemlichkeiten, die in der Heimat durch Familie und Personal gewährleistet wurden, will der Umgang allerdings geübt sein. Ein Teil der vertrauten Umgebung wurde dadurch in die Fremde hinübergerettet, dass Ju­ les Verne sich weiterhin im Kreise seiner alten Kameraden bewegte: »Ich kann nicht sagen, dass ich viel Zeit in den Kammern meiner Studienkollegen zugebracht hätte, denn wie Sie wissen, sind wir Bretonen ein eigenes Völkchen, das lieber unter sich bleibt, und fast alle meine Freunde waren Klassenkameraden aus Nantes, die zum Studieren mit mir nach Paris gekommen waren.«53 Der erwähnte Edouard Bonamy war darunter, Charles Maisonneuve, Ernest Ge­ nevois und als Exot unter all diesen Rechtsstudenten der Reeder­ sohn Aristide Hignard, der versuchen wollte, seinen Weg als Kom­

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ponist zu finden. Wie sah das Studentenleben zu dieser Zeit aus? Jules beschrieb es eingehend in einem Brief an den Vater, vor dem er seine Ausgaben zu rechtfertigen hatte: »Um uns einzurichten, mussten wir, und vor allem ich, erst ein­ mal viele Sachen kaufen, Kaffeekanne, Kochtopf, Löffel, Tasse, Öl, Lampenzylinder, usw. usw. usw. (...) Unsere Wirtin hat es über­ nommen, unser ganzes Geschirr zu waschen; morgens bringt sie uns zwei Stück Brot hoch und die nötige Milch. Wir setzen dann den Kaffee auf und trinken ihn. All dies geht gemächlich vor sich, ordentlich, ohne Aufregung, eine patriarchalische, pastorale Exis­ tenz. Während wir morgens in den Kursen sind, werden unsere Zimmer gemacht, und wenn wir zurückkehren, ist alles in Ord­ nung. (...) Als ich abreiste, hast Du mir empfohlen, mich täglich für 2 Francs zu ernähren, einschließlich Mittag- und Abendessen. Das mag manchmal angehen, aber nicht ständig. Immer wenn ich in die Schänke gehe, die vier Kilometer von der Wohnung entfernt liegt, ist das gut und schön. Dort bekomme ich für 22 Sous54 eine ge­ sunde Mahlzeit, und die brauche ich auch. Seit ich in Paris bin, ver­ lassen mich die Magenschmerzen nicht mehr, trotz aller Vorsichts­ maßnahmen; mein Magen, den ich allmählich als ziemlich lästig empfinde, erlaubt es nicht, mit der Qualität der Mahlzeiten zu spa­ ßen. (...) Ich bitte Dich, das alles zu bedenken, lieber Papa, um die Pension auf der Grundlage angemessener Berechnungen festzuset­ zen.«55 Geldnot und Magenprobleme — damit sind zwei Leitmotive be­ nannt, die die Korrespondenz der kommenden Jahre durchziehen sollten. Pierre Verne, in der erklärten Absicht, den Sohn zu Diszi­ plinierungszwecken kurz zu halten, ließ sich erweichen, die tägli­ che Essensration um 50 Centimes zu erhöhen und die gesamte Monatsrate ab Januar 1849 von 100 auf 150 E, die Jules der Sicher­ heit halber über seinen Lieblingsvetter Henri Garcet ausgezahlt be­ kam, der als Mathematiklehrer am Lycée Henri IV arbeitete. Von den 150 E verblieben dem Sohn nach Pierres eigener Rechnung noch 10 E für »Verschiedenes«: Große Sprünge ließen sich damit



wahrhaftig nicht anstellen. Eine Maßnahme, die ihre Folgen hatte, denn da Jules auch nach seiner Studienzeit noch auf Jahre hinaus auf die väterliche Zuwendung angewiesen bleiben sollte, begann er einen Hang zur Sparsamkeit auszubilden, den er auch dann beibe­ hielt, als es die Umstände längst nicht mehr erforderten, eine Ma­ rotte, die der amerikanische Biograph Herbert R. Lottman unum­ wunden als Geiz bezeichnet und zu einem Lieblingsthema seines Buches gemacht hat. Aufgrund der Erfahrungen aus Studienzeiten mied Verne zeitlebens allen Prunk in Ausstattung und Kleidung, ließ seinen Mantel lieber zum x-ten Mal ausbessern statt einen neuen zu kaufen, benutzte — selbst als berühmter Schriftsteller — niemals Briefpapier mit eigenem Kopf, sondern verwendete vorge­ druckte Bögen, die er fand, wo immer er gerade beschäftigt war, oder antwortete auf den unbeschrieben gebliebenen Papierteilen seiner Korrespondenten. Andererseits muss man berücksichtigen, dass er dem eigenen Sohn später eine monatliche Unterstützung gewährte, die mehr als das Sechsfache der selbst erhaltenen betrug, dies lebenslang und trotz zeitweise unüberbrückbarer Konflikte. Seine Magenbeschwerden meinte Jules Verne von der Mutter geerbt zu haben; da sie bald schon einhergingen mit anderen ge­ sundheitlichen Problemen wie Gesichtsmuskellähmungen (wahr­ scheinlich die Folge einer Mittelohrentzündung) und zeitweise Inkontinenz — all dies findet sich in den Briefen an Nantes ausge­ breitet! -, später noch Bulimie, kann man auch psychosomatische Ursachen annehmen, denn Verne neigte dazu, seine emotionalen Probleme hinter einer Maske gespielter Unbeschwertheit zu ver­ bergen, Konflikten aus dem Wege zu gehen und seiner Betroffen­ heit auf dem Nebenschauplatz der Literatur Luft zu verschaffen. Auch hier führt eine ungebrochene Kontinuität vom mittellosen Studenten zum berühmten Schriftsteller, der sich nach einem Zeugnis seines Enkels dem Streit mit Gattin und Sohn durch still­ schweigende Flucht in seine Arbeitsstube zu entziehen pflegte. Vom Studium berichtete Jules in seinen Briefen nur sporadisch, was Pierre Verne alarmierte, denn er kannte die künstlerischen Ambitionen seines Sohnes und fürchtete — zu Recht — sie unbeab-

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sichtigt forciert zu haben. Einer günstig erstandenen Gesamtaus­ gabe der Werke Shakespeares (der er den Vorzug vor Gesamtausga­ ben von Eugène Scribe und Walter Scott gegeben hatte) widmete der Student mehr Enthusiasmus als den Prüfungsnoten. Freund Bonamy, obgleich zwei Monate jünger als Jules, schloss sein Studium bereits am i. März 1849 als Lizenziat ab und kehrte nach Nantes zurück, wo er eine Karriere als Spezialist für Seehandelsrecht einschlug. Jules Verne benötigte siebzehn Monate länger. Ein Versuch, den Vater zu beruhigen, musste diesen in seinen Befürchtungen nur bestätigen: »Ich habe immer gesagt, dass ich Rechtsanwalt werde. Wenn in Folge meiner literarischen Versuche, die, wie Du selbst zugibst, in allen Positionen forderlich sein können, ich einige Ideen hätte, sie zu verwirklichen, das habe ich Dir oft genug wiederholt, dann würde ich das nur nebenbei machen, was mich in nichts vom vorgegebenen Ziel abbringen würde! Da bin ich doch nüchterner. Und trotzdem fragst du mich: Willst du etwa Akademiker werden, ein preisgekrönter Dichter, ausgedienter Romancier? Wenn ich dergleichen werden sollte, mein lieber Papa, wärst Du der erste, der mich in diese Laufbahn hineintreiben würde — und Du wärst stolz darauf! Denn das ist die schönste Stellung, die man auf der Welt einnehmen könnte! Und wenn ich das werden sollte, würde mich meine innere Berufung unaufhaltsam dahintreiben! Aber soweit sind wir noch nicht!«56 Schrieb ein junger Mann, der an literari­ schen Veröffentlichungen bislang noch nichts vorzuweisen hatte. Aber das sollte sich bald ändern. Die Onkel de Châteaubourg und Auguste Allotte hatten ihn überraschend Ende November besucht, ihn ins Theater eingeladen und in die literarischen Zirkel geführt, von denen einer von einer Bekannten der Mutter, Mme Barrère, betrieben wurde, deren »Blaustrumpf-Allüren« Pierre Verne gar nicht schätzte. Als Neuling von allen Seiten umschwärmt und um­ worben, übte sich Jules Verne in Opportunismus und redete seinem jeweiligen Gegenüber nach dem Munde, all dies in der Hoffnung, es sich mit niemandem zu verderben und unter den Gesprächspart­ nern auf potenzielle Förderer zu stoßen. Wenn Jules erwartet hatte, seine Theaterstücke problemlos auf 5«

die Pariser Bühnen bringen zu können, hatte er sich getäuscht; eine strenge Reglementierung begrenzte die Möglichkeiten der Auf­ führung: Drei Dekrete Napoléons aus den Jahren 1806 und 1807 hatten die erst 1791 proklamierte Theaterfreiheit in Frankreich wieder beendet und damit den Grundstein für eine unerbittliche Gängelung der dramatischen Produktion gelegt: Das erste Dekret hatte die staatliche Genehmigungspflicht für die Eröffnung eines Theaters wieder eingeführt, das zweite jedem approbierten Theater spezifische Gattungen zugeordnet, das dritte die Anzahl der Büh­ nen eingeschränkt und diese auf vier staatlich subventionierte Bühnen und vier nicht subventionierte théâtres secondaires festgelegt. Später eröffnete Bühnen mussten sich an Vorgaben bezüglich Um­ fang und Gattung der aufzuführenden Stücke, Anzahl der Schau­ spieler sowie Art und Umfang von Musikeinlagen halten, sodass eine Rivalität mit den offiziellen Bühnen gar nicht erst entstehen konnte. Unter dem zweiten Kaiserreich, ab 1852, verschärfte sich die Schwierigkeit der Eröffnung neuer Theaterbetriebe dadurch, dass diese nur in bereits existierenden Häusern installiert werden konnten; Neukonstruktionen wurden mit dem Hinweis auf die urbane Neugestaltung abgelehnt. Gattungsbindung und Genehmi­ gungspflicht für Neueröffnungen sollten erst 1864 wieder aufgeho­ ben werden. Als Neuling hatte Jules Verne kaum eine Chance, eines seiner historischen Dramen zu platzieren; in Frage kam dafür allenfalls das Théâtre Historique, das der Romancier und Dramatiker Alexandre Dumas in den Jahren 1846—47 hatte konstruieren lassen. Es war am 20. Februar 1847 eröffnet worden und brachte in den drei Jahren seiner Existenz vorwiegend historische Monumentaldramen seines künstlerischen Leiters auf die Bühne. Nach eigenem Zeugnis hatte Jules Verne Dumas, der für seine Großherzigkeit gegenüber jungen Autoren bekannt war, über den Wahrsager d’Arpentigny und über Dumas’ eigenen Sohn kennen gelernt, vermutlich schon kurz nach seiner Ankunft in Paris. Durchaus möglich, dass er — wie Margue­ rite Allotte de la Fuÿe berichtet — in Dumas’ Loge am 17. Februar 1849 der Uraufführung von dessen Romanbearbeitung Die Jugend 59

der Musketiere beigewohnt hatte. Kein Zweifel besteht daran, dass sich mit Dumas’ Sohn Alexandre eine enge Freundschaft entwi­ ckelte, die Zeit ihres Lebens andauern sollte. Dumas junior, der 1848 mit seinem Roman Die Kameliendame bekannt geworden und dadurch schlagartig aus dem erdrückenden Schatten des namens­ gleichen Vaters herausgetreten war, ermöglichte mit dessen Schüt­ zenhilfe Jules’ literarisches Debüt. Zwar nicht mit den historischen Dramen, sondern mit der Komödie Les Pailles rompues, die 1849 in Zusammenarbeit entstand. Jahre später schrieb Paul Perret, diese habe sich darauf beschränkt, dass Dumas lediglich eine längere Pas­ sage einfugte, »und zwar nicht die schlechteste«57. Das Théâtre Historique lag am Boulevard du Temple Nr. 72, einer Promenierzeile, in deren unmittelbarer Nachbarschaft eine Reihe weiterer Theater mit populärem Repertoire angesiedelt wa­ ren und auf dem auch Schausteller und Jahrmarktstände ihr Publi­ kum fanden, wovon Marcel Carnés Film Die Kinder des Olymp (1944/45) eine anschauliche Vorstellung vermittelt. Der Boulevard trug seit längerem die Bezeichnung »Boulevard du Crime«, was sich nicht auf die Kriminalitätsrate dieser Straße bezog, sondern auf den Inhalt der hier aufgeführten Melodramen. Die schmale Fassade dieses Theaters, das in Jules Vernes weiterem Leben noch eine wichtige Rolle spielen sollte, ließ nicht erahnen, dass im Amphi­ theater 2.250 Zuschauer Platz fanden (später nach einem Umbau nur noch 1.700)58; das Theater wies die architektonische Besonder­ heit auf, dass sich die Ränge wie Schubladen in den Raum Vor­ schüben, wodurch von allen Plätzen eine optimale Sicht auf die Bühne ermöglicht, aber der Blickkontakt innerhalb des Publikums eingeschränkt wurde — was dieses immer wieder bemängelte. Hier erlebte der Einakter Les Pailles rompues in der Nacht vom 12. zum 13. Juni 1850 seine Premiere. Liegt man falsch, aus der Handlung noch immer bittere Anklänge an die Beziehungen zu Caroline und Herminie herauszulesen? — Henriette ist mit dem dicken, alten, hässlichen, aber vermögenden Finanzbeamten d’Esbard verheiratet und sehnt sich insgeheim nach ihrer Jugendliebe, ihrem Cousin Raoul. D’Esbard drängt seine Gattin, mit ihm von 60

Paris in die Provinz zu ziehen, Henriette hingegen verlangt eine Kette, die der Gatte verweigert. Da niemand bereit ist, dem anderen nachzugeben, einigt man sich darauf, »die Strohhalme zu brechen« (rompre les pailles)'. Derjenige, der als erster aus der Hand des anderen etwas annimmt, muss ihm auch den abgewiesenen Wunsch erfül­ len. Nach einigem Hin und Her kommt es zu einer solchen Gele­ genheit, als Raoul, der seine Cousine immer noch liebt, sich vor­ stellt, um von ihr Abschied zu nehmen, denn als Dragoner soll er nach Lothringen versetzt werden. D’Esbard kehrt zurück, und um eine Szene zu vermeiden, muss Raoul flüchten. Der eifersüchtige Gatte vermutet seinen Rivalen im klassischen Kleiderschrank, ver­ langt wütend den Schlüssel — bekommt ihn auch und hat damit die Wette verloren. Henriette erhält ihre Kette und geht sogar auf den Wunsch des Gatten nach einem Ortswechsel ein, als sie erfährt, dass er nunmehr nach Lothringen ziehen will, wo auch Raoul postiert werden wird. Parallel zu dieser Handlung erfolgt dasselbe »Stroh­ halmbrechen« durch das Dienerpaar Frontin und Marinette, die für einige komische Momente im Stück sorgen. Jules Vernes dramatischer Erstling hatte das das Pech, auf einer Benefizveranstaltung zu Gunsten der Schauspielerin Person aus der Taufe gehoben zu werden. Neben einem Potpourri von vier Akten aus drei populären Theaterstücken und der genannten Urauffüh­ rung wurden Lieder dargeboten, »all dies im Wechsel mit lyrischen Intermezzi von Baroilhet, Masset, Mlle Masson, usw.«59 Angesichts dieses Riesenaufgebots und der Tatsache, dass Vernes Einakter erst zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens zur Aufführung kam, verwundert es nicht, dass das Stück von der Kritik praktisch unbe­ achtet blieb, und dies auch, als es in den folgenden Tagen als Vor­ spiel zu Dumas’ Romanbearbeitung Pauline von Xavier de Montépin und Eugène Grangé wiederholt wurde. Diese Vorspiele dienten vor allem dazu, dem Publikum anzukündigen, dass man bald mit dem eigentlichen Stück des Abends zu beginnen gedenke, und konnten im Schatten des gesellschaftlichen Repräsentationsbedürf­ nisses nur wenig Aufmerksamkeit erwarten. Immerhin erachtete der gewichtige Kritiker Jules Janin Vernes Stück einer kurzen Er­ 61

wähnung für wert - es ist wahrscheinlich der erste Zeitungsartikel, der über Jules Verne veröffentlicht wurde: »Eine kleine - und nicht politische — Komödie in Versen ist am Théâtre Historique aufge­ führt worden; sie trägt den Titel Les Pailles rompues und ist der Erst­ lingsversuch eines ganz jungen Mannes, Herrn Jules Verners [sic]; das riecht zugleich nach gepudertem Haar und Alfred de Müsset, Ludwig XV. und dem Frühling...«60 Etwas substanzieller gab sich der anonyme Rezensent des Journal des Théâtres: »Dieses kleine Stück, das an manchen Stellen recht geistreich geschrieben ist, lässt allzu sehr die Nachahmung und das Pasticcio spüren und kann nur als ein erster Versuch angesehen werden. Mme Rey hat der Rolle der Mme Desbarres Grazie, Koketterie und Einfühlsamkeit verlie­ hen; sie sagt artig ihre Verse auf und man merkt, dass sie das gerne regelmäßig tun würde. Pierron (der Dragoneroffizier) war voller Verve und Leidenschaft. Saint-Léon hat sich in der Rolle des Fi­ nanzbeamten als guter Komödiant erwiesen, und Mme H. Jouve und Colbrun taugen etwa gleich viel als Marinette und Frontin: Sie sind nur passabel.«61 Vierzehn Aufführungen erlebte das Stück bis zum 25.Juni, dann seine Derniere am 10. August. Eine Wiederaufnahme auf derselben Bühne blieb aus, weil Dumas wieder einmal in Konkurs geraten war, sein Theater im Oktober schließen und selbst nach Brüssel fliehen musste. »Was mir mein Stück einbrachte, hat gerade mal die Kosten gedeckt, die es mir bereitet hatte«, schrieb der junge Autor seinem Vater. »So habe ich für den literarischen Erfolg, der mehr wert war als ein finanzieller Erfolg, alles geopfert; das Geld wird später kommen.«62 Freund Charles Maisonneuve hatte die Druck­ kosten für das Libretto beglichen und war mit einer handschrift­ lichen Widmung belohnt worden, ein anderer Schulfreund, Ernest Genevois, ebenfalls Anwalt in Nantes, erhielt das Manuskript ge­ schenkt. Dass die Veröffentlichung zu Stande kam, verdankte Jules Verne dem älteren Dumas, der sich persönlich dafür eingesetzt hatte. Mit der Bemerkung, das Geld würde später kommen, sollte Verne recht behalten, denn Les Pailles rompues wurde zu seinen Lebzeiten in zwei Inszenierungen am Pariser Théâtre du Gymnase 62

wieder aufgenommen, die mit 45 Aufführungen zwischen 1853 und 1857 und 45 weiteren in den Jahren 1871 und 1872 ein Hono­ rar von insgesamt 8.111,06 F. abwarfen, das zu gleichen Teilen zwi­ schen ihm und dem jüngeren Dumas aufgeteilt wurde. Und auch das Theater von Nantes zeigte Interesse, was den An­ walt Verne nicht sonderlich in Begeisterung versetzte, sondern mo­ ralische Bedenken weckte, hatte ihm sein Sohn doch nach der Premiere trotzig mitgeteilt: »Ich habe niemals behauptet, dass die Mutter ihre Tochter da hineinfiühren soll; der Erziehung der Jung­ frauen Frankreichs habe ich mich nicht annehmen wollten.«63 Den väterlichen Bedenken antwortete Jules, dass es eine Entscheidung der Schauspielertruppe gewesen sei, die sich - demnächst ohne ei­ genes Theater — auf Tournee durch das Land begeben würde: »Ein Erfolg oder nicht, das ist mir egal, aber da man dem Stück in Paris nichts vorgeworfen hat, möchte ich nicht, dass man ihm in Nantes irgend etwas vorwirft, und deshalb hätte ich es am liebsten selbst inszeniert, damit die Pfiffe, falls es solche geben sollte, von den Lip­ pen Eifersüchtiger und nicht der wirklichen Kritiker kommen mögen.«64 Die Bedenken von Vater und Sohn erwiesen sich als un­ begründet: Am 7. November erzielte das Stück in Nantes einen Achtungserfolg. Wohl aus Anlass dieses dramatischen Initiationserlebnisses und des Studienabschlusses, der durch die Ausstellung des Diploms als Lizenziat am 20. August erfolgte, leistete sich Jules Verne die Anfer­ tigung einer stereoskopischen Daguerrotypie, die sein erstes au­ thentisches Bildnis darstellt. Dieses fotografische Verfahren war erst sechs Jahre zuvor von dem Schotten David Brewster entwickelt worden und ermöglichte den Eindruck eines dreidimensionalen Bildnisses, der durch zwei leicht voneinander abweichende Perspektiven desselben Gegenstandes erzielt wurde, wenn man sie durch einen speziell dafür eingerichteten Apparat betrachtete. In Paris war diese Technik 1850 gerade erst eingefuhrt worden, er­ freute sich aber schnell großer Beliebtheit und wurde auf Gegen­ stände angewandt, die vom Porträt über Landschaftsaufnahmen bis hin zu pornographischen Darstellungen reichten. Auf die Anferti-

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Jules Verne. Stereoskopische Daguerrotypie, 1850

gung einer Doktorarbeit (die damals auf Latein abgefasst werden musste) verzichtete der junge Lizenziat, der hoffte, dass ihm der Va­ ter noch eine weitere Gelegenheit zugestehen möge, seinen litera­ rischen Ehrgeiz zu erproben, ihn zumindest noch länger in Paris wohnen ließ. Als Pierre Verne seinem Sohn vorschlug, für zwei Jahre nach Nantes zu kommen, handelte er sich prompt eine Ab­ fuhr ein: »Die Literatur über alles, denn hier allein kann ich es zu etwas bringen, weil mein Geist unabänderlich auf diesen Punkt fi­ xiert ist! (...) Paris für zwei Jahre zu verlassen, würde bedeuten, dass ich all meine Verbindungen verliere, die Resultate all meiner Be­ mühungen aufgebe, dem Feind das Feld überlasse.«65 Vater Verne ging auf die Argumentation ein, drängte Jules aber, eine Volontariatsstelle in der Praxis eines alten Freundes, des Rechtsberaters Lucas-Championniere, anzunehmen. Das war nicht abzuschlagen. Als 64

Voraussetzung fur das Volontariat musste man eine Wohnung vor­ weisen, sodass ein erneuter Umzug in die Rue Notre-Dame-deLorette und die Anschaffung eigener Möbel bevorstand. Dieser Umzug fand am 9. April 1851 statt, und die Rechnung für die Aus­ stattung, die Pierre Verne begleichen musste, fiel mit 600 F. fast um die Hälfte höher aus, als vom Sohn zuvor berechnet, der einräumte, dass Mathematik noch nie seine Stärke gewesen sei. Alle Vorausset­ zungen für den Berufseinstieg waren also gegeben - wäre nur nicht Arbeitgeber Lucas-Championnière am 7. April gestorben und die Anstellung somit dahin. Jules Verne profitierte von dieser willkommenen Gelegenheit, die ihm freie Luft schaffte, um mit Hochdruck an den Theatern zu intrigieren (so sein eigener Ausdruck). Daneben hatten sich ihm die Tore der Zeitschrift Musée des Familles geöffnet, vielleicht durch den Studienfreund Charles Wallut, dessen Vater Geschäftsführer der Gesellschaft war, die das konservativ ausgerichtete Monatsmagazin herausgab. Das Anliegen dieser 1833 gegründeten reich illustrier­ ten Publikation, für die auch Balzac, Dumas, Paul Féval, Lamartine, Théophile Gautier, ja selbst Victor Hugo Texte beisteuerten, war »so einfach wie umfassend. Es ist ein vollständiger Bildungsplan für unsere Tage.«66 Dies im moralischen Rahmen, den der römische Katholizismus absteckte und der von der Geistlichkeit abgesegnet wurde. Wallut selbst war seit 1849 Redaktionsmitglied, fertigte re­ gelmäßig kleine Artikel, Erzählungen und Einakter an, ehe er 1863 die Gesamtleitung übernahm. Die lag 1851 noch in den Händen des bretonischen Journalisten Michel Chevalier, genannt PitreChevalier, der seinen jungen Landsmann unter die Fittiche nahm und ihm die Veröffentlichung von Erzählungen in Aussicht stellte, ohne ihm allerdings eine zufriedenstellende Bezahlung garantieren zu können. Das schien zunächst von nachgeordneter Bedeutung, vor allem war Jules stolz auf die neue Bekanntschaft, die ihm wei­ tere Verbindungen erschloss: »Ich habe die Druckfahnen von zwei Artikeln für das Musée des Familles korrigiert! Weil also vorgesehen ist, dass ich dort so viel wie möglich schreiben soll, kann ich Dir nur raten, mein lieber Papa, die Zeitschrift zu abonnieren. Diesen 65

Monat oder im nächsten erscheint der erste Artikel unter dem Ti­ tel Les Premiers Navires de la marine mexicaine, der zweite heißt Un Voyage en ballon. Und dann habe ich noch ein Stück in Zusammen­ arbeit mit Jacques Arago. Wenn es Dir gefällt, würde ich mich freuen, wenn Du ihm ohne mein Wissen schriebest, um ihm für die Dienste zu danken, die er mir erweist.«67 Ob aus dem letztgenannten Projekt etwas geworden ist, muss dahingestellt bleiben. Vielleicht handelt es sich bei dem Stück um die dreiaktige Komödie Les Savants, an der Jules in den ersten Mo­ naten des Jahres gearbeitet hatte, dessen Text aber verloren gegan­ gen ist. Möglicherweise beschränkte sich Vernes Rolle in der etwas hochtrabend als Zusammenarbeit bezeichneten Tätigkeit auch da­ rauf, dem erblindeten Weltreisenden als Sekretär bei einer der fünf Komödie zu dienen, die bis zu seinem Tod 1855 noch auf den Pa­ riser Bühnen aufgeführt werden sollten. Als Verfasser einer mehr­ bändigen Reise um die Welt (1839/40), aus der Jules Verne diverse Ideen für seine späteren Romane aufgreifen sollte, dürfte er auf jeden Fall ein Anregender Gesprächspartner für den jungen Autor gewesen sein und auch die erste der beiden erwähnten Erzählun­ gen inspiriert haben. Da Jules in seiner Korrespondenz mit Gat­ tungsbezeichnungen ziemlich sorglos umzugehen pflegte, könnte sich aus dem so genannten »Stück« auch die Novelle Martin Paz entwickelt haben, die 1852 im Musée erschien und auf der Grund­ lage von vorgefertigten Aquarellen des peruanischen Künstlers Ignace Mérino geschrieben worden war, der zeitweilig bei Arago als Gast wohnte. Auf ähnlicher Grundlage — zusammenhanglos an­ gefertigten Zeichnungen von Gavarni und Tony Johannot - beruht die Komödie Les Châteaux en Californie ou Pierre qui roule n’amasse pas mousse (Musée, September 1852), die Jules zusammen mit PitreChevalier verfasst hatte, ein amüsanter Einakter voll von zweideu­ tig auslegbaren Wortspielen: Im Glauben, ihr Mann sei beim Gold­ suchen in Kalifornien Millionär geworden, stürzt sich Mme Dubourg in sinnlose Ausgaben und verweigert dem nun unstan­ desgemäß gewordenen Henri Frémont die Hand ihrer Tochter Henriette. Der Architekt Dubourg — durch Spekulationen in den 66

Vereinigten Staaten tatsächlich steinreich geworden — spielt zu­ nächst die Rolle des ruinierten Bettlers, um seine Familie auf die Probe zu stellen, und plant die Hochzeit seiner Tochter mit dem russischen Prinzen Salsificof, den er auf der Heimreise kennen ge­ lernt hat. Dann stellt sich heraus, dass Dubourgs Vermögen durch den Konkurs seiner Bank verloren gegangen und der vermeintliche russische Prinz lediglich der aufschneiderische Neffe seiner Köchin Catherine ist. Dubourg kommt zur Besinnung, beschließt, seinen bürgerlichen Beruf wieder aufzunehmen, und stimmt Henriettes Verbindung mit Henri zu. Hartnäckig auf das Theater fixiert, hatte Jules Verne ganz neben­ bei und womöglich ohne sich darüber im Klaren zu sein, mit sei­ nen ersten beiden Reiseerzählungen einen bedeutenden Schritt auf dem Wege getan, der für sein späteres Werk bestimmend werden sollte. Die Erzählung Les Premiers Navires de la marine mexicaine, die im Juli 1851 im Musée erschien, schildert eine Meuterei und die an­ schließende Verfolgungsjagd der Anführer durch die zwei Vertrau­ ten der ermordeten Kapitäne vor der Kulisse der reichlich imagi­ nären Landschaft Mexikos. Wie in Alexandre VI erfolgt die Sühne am Schluss durch den Tod der Bösewichte während eines nächt­ lichen Gewitters, zu dem — erstmals im Verneschen Œuvre — das symbolträchtige Spektakel eines Vulkanausbruchs hinzutritt. Das Pathos und das Vulkan-Motiv fehlen der Überarbeitung, die Jules Verne später unter dem Titel Ein Drama in Mexiko (1876 als An­ hang zum Roman Der Kurier des Zaren) in seine Außergewöhnliche Reisen einfugte, aber mit ihnen geht auch ein Gutteil der Wirksam­ keit dieses frühen Prosatextes verloren. Auch Un Voyage en ballon {Musée, August 1851) hat 1874 eine Überarbeitung mit dem Titel Ein Drama in den Lüften erfahren, die weniger einschneidend war: Ein französischer Ballonfahrer sieht sich bei seinem Aufstieg in Frankfurt am Main einem blinden Pas­ sagier gegenüber, der ihn zwingt, immer höher in den Himmel zu steigen und ihm anhand einer Sammlung von Stichen und Karika­ turen die verlustreiche Geschichte der Luftfahrt nacherzählt. Zu spät merkt der Luftschiffer, dass er sich in Gegenwart eines Wähn67

sinnigen befindet, der hoch in den Lüften den wissenschaftlichen Märtyrertod sterben will. Es gelingt ihm, unverletzt im niederlän­ dischen Geldern zu landen, während sein unwillkommener Gast in die Tiefe stürzt. Geschickt hat der Autor die Vermittlung histori­ scher Fakten in den Dialog der beiden Personen verlegt, die so nicht handlungshemmend, sondern geradezu spannungskonstituie­ rend wirkt, zumal die erzählten Ereignisse auf zunehmend makabere Katastrophen hinauslaufen, und die von beiden erlebte Katastrophe für den Leser als absehbare und notwendige Konsequenz erscheint. Der blinde Passagier ist der Vorläufer jener Wissenschaftsfanatiker in Vernes späterem Werk, deren Wunsch, »immer weiter Vordrin­ gen« zu wollen, zum hybriden Selbstzweck verkommt und schließ­ lich zur Selbstzerstörung fuhrt. Weitere Erzählungen waren in Arbeit. Komödien, in die der junge Autor seine Hoffnung setzte, blieben dagegen in der Schub­ lade: Abdallah, ein Vaudeville, das an Mozarts Singspiel Die Entfüh­ rung aus dem Serail erinnert und das Verne 1849 in Zusammenarbeit mit Georges Schwöb geschrieben haben soll, einem ehemaligen Mitschüler von Flaubert und späteren Verleger der Nantaiser Zei­ tung Le Phare de la Loire; die Komödie im italienischen Stil Quiridine et Quidinerit, über die sich Dumas und sein Sohn laut ihrem Verfasser »halb tot gelacht haben«68 sollen, in der sich ein reicher Geizhals und ein mittelloser Poet um die Hand der schönen Zirzabelle streiten und — anders als es die Realität für derlei Konkur­ renzverhältnisse vorsieht — der Poet an sein ersehntes Ziel gelangt. Schließlich De Charybde en Scylla (1851), eine Verskomödie, in der ein nachbarschaftlicher Zwist durch eine gemeinsame Hochzeit beigelegt werden soll; das Projekt scheitert aber an der Verbohrtheit des freisinnigen Bräutigams und der bigotten Braut — und an der Pedanterie des Anwalts, der sich weigert, im hübsch kalligraphierten Ehevertrag Veränderungen vorzunehmen. Jules Verne erscheint am modernsten dort, wo er seiner Spottlust freien Lauf lässt, so wie in diesem Stück, in der er sich über alle Personen schonungslos lus­ tig macht. Am 2. Dezember 1851 erfolgte Louis Napoléons Staatsstreich: 68

»Alle Geschäfte schließen. Überall werden Barrikaden errichtet; man verhaftet die Leute, indem man sie an den Haaren hinter sich herschleift! Die Abgeordneten Baudin und Madier de Montjau wurden getötet!«69 Jules Verne, der das Treiben des von ihm favori­ sierten »starken Mannes« nicht ohne Sympathie verfolgt hatte, war vorübergehend indigniert: »Das ist eine Würdelosigkeit, deshalb herrscht auch überall Wut gegenüber dem Präsidenten und der Armee, die sich bei dieser Gelegenheit entehrt hat. Das ist vielleicht das erste Mal, dass sich Recht und Legalität auf Seiten des Auf­ stands befinden. Es gab viele Tote, alles anständige Leute. Ich habe keine Ahnung, wie das alles enden wird! Aber ich mische mich da nicht ein! Und überhaupt kann man kein Wort sagen, ohne gleich verhaftet zu werden.«70 Eingeschränkt wurde das Versammlungs­ recht, abgeschafft die Pressefreiheit, verschärft die Theaterzensur, gestärkt der Polizeiapparat — all dies mit der uneingeschränkten Unterstützung des Militärs und unter dem Beifall der katholischen Kirche. Frankreich hatte wieder eine Diktatur, schöner noch: 1852 wurde es ein repressiv regiertes Kaiserreich. Tausende wurden ins Gefängnis gesteckt oder in die Kolonien deportiert, so sie nicht freiwillig ins Exil gingen, nach England, Belgien oder in die Schweiz. Im Gegensatz zu seinen reaktionären Vorgängern er­ kannte Napoleon III., wie der Usurpator sich nannte, als seine politische Metamorphose abgeschlossen war, immerhin die Not­ wendigkeit, das Land aktiv umzugestalten, um auf die Herausfor­ derungen von Industrie, Arbeitslosigkeit und urbanem Wandel zu reagieren. Dies sollte seine Herrschaft trotz Korruption und diver­ ser Skandale zwanzig Jahre lang sichern.

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5Sekretär am Théâtre Lyrique (1852—1833)

Im Januar 1852 bot Pierre Verne seinem Sohn an, die Kanzlei in Nantes zu übernehmen. Die Antwort muss für einen nachhaltigen Schock gesorgt haben: »Mein lieber Papa, was soll ich Dir antwor­ ten? Ich weiß es nicht; ich habe meine Freunde zu Rate gezogen, habe ihnen Deinen Brief gezeigt, und die einmütige Antwort war diese: Jeder, der nicht in meiner Lage wäre, wäre irrsinnig, nicht so­ fort auf Deine Vorschläge einzugehen; aber ich diskutiere nicht über die Sicherheit meiner Zukunft, ich begnüge mich zu prüfen, ob ich Recht daran täte, Deine Kanzlei zu übernehmen, unter mo­ ralischen wie unter materiellen Gesichtspunkten. (...) Ich würde mit Euch über all dies gerne sprechen, wäre ich nicht gerade dabei, zum Privatsekretär des Direktors der dritten Lyrischen Bühne, der Opéra National, eines der großen Theater von Paris, ernannt zu werden; all meine Freunde haben mir zu diesem Posten gratuliert, der mich zwangsläufig mit allen Intendanten, Journalisten und Au­ toren in Kontakt bringen wird; das wird zum Anfang nur 1.200 F. [im Jahr] bringen, aber immerhin das; möglicherweise beginne ich in einigen Tagen. Lasse mich bitte noch dieses letzte Mittel versu­ chen und das Jahr darüber verstreichen. (...) Adieu, mein lieber Papa, ich bin tiefbewegt über Dein gütiges Angebot; wir alle sind Dir gegenüber zu großer Dankbarkeit verpflichtet, denn bislang hast Du uns unablässig unterstützt und geholfen; aber habe ich nicht Recht, wenn ich nach meinen eigenen Eindrücken urteile? Denn ich weiß, was ich bin und was ich eines Tages sein werde; «, wie sollte ich da eine Kanzlei auf meine Schultern nehmen, die Du so weit gebracht hast, die in meinen Händen nicht weiter gedei­ hen, sondern nur zu Grunde gehen könnte?«71 Mit dem Posten des Theatersekretärs an der Opéra National 70

kehrte Jules Verne an den Ort zurück, wo im Juni 1850 sein erstes - und bislang einziges — Stück aufgeführt worden war. Die Be­ zeichnung »eines der großen Theater von Paris«, mit der er die Eltern zu beeindrucken versuchte, mochte etwas hoch gegriffen sein, für die Entwicklung des Musiktheaters sollte sich diese Ein­ richtung jedoch als von nicht zu unterschätzender Bedeutung er­ weisen, obwohl ihre fast 25-jährige Geschichte von finanziellen Katastrophen begleitet wurde. War es für junge Autoren schon schwierig, aufgeführt zu werden, für Nachwuchskomponisten war sie nahezu hoffnungslos. Die beiden einzigen akkreditierten Häuser, die staatlich geförderten Opéra und Opéra-Comique, hiel­ ten sich ausnahmslos an ein klassisches Repertoire bereits arri­ vierter Künstler, sodass die Schaffung einer dritten Lyrischen Bühne seit 1842 von Mitgliedern der Musikakademie und ver­ schiedenen Künstlerverbänden nachdrücklich gefordert worden war und schließlich 1846 durch Ministerbeschluss bewilligt wurde. Die Eröffnung der neuen Bühne hatte am 15. November 1847 in der Nr. 66 des Boulevard du Temple stattgefunden, aber die Revo­ lutionsunruhen führten schnell zu Bankrott und Schließung. Die eigentliche Geschichte des Theaters beginnt Anfang Mai 1851, als Sébastien Edmond Seveste die Leitung übertragen wurde. Gemeinsam mit seinem Bruder Jules (mit dem er gerne verwech­ selt wird) hatte er seit 1826 Erfahrungen bei der Leitung von meh­ reren Theatern der Pariser Banlieue sammeln können, die ihr Vater Pierre-Jacques gegründet hatte. Als Standort für die neu zu eröff­ nende Opéra National sah die Behörde das leer stehende Théâtre Historique vor, wo es bis zur Zerstörung des Boulevards im Juni 1862 im Zuge der Haussmannschen Stadterneuerung verbleiben sollte. Jules dürfte Ende Januar oder Anfang Februar 1852 seine Stellung angetreten haben, die durch den plötzlichen Tod Edmond Sevestes am 28. Februar schon wieder in Frage gestellt wurde. Dank der Intervention namhafter Komponisten und Autoren wurde Edmonds Bruder Jules am 4. März 1852 die Leitung pro­ visorisch und am 8. April definitiv übertragen, 1854 schließlich auf zehn Jahre verlängert.72 Das Angebot der Behörden, 50.000 F. 7J

Subvention unter der Voraussetzung zu zahlen, dass das Theater keine Sommerpause einlegt73, lehnte Seveste ab, damit die Schau­ spielertruppe die Sommerpause für die traditionelle Tournee durch das Land nutzen konnte. Am 12. April 1852 erhielt die Opéra Na­ tional mit dem Namen Théâtre Lyrique ihre endgültige Bezeich­ nung. Jules Verne wurde für den Rest der Spielzeit als Sekretär über­ nommen, eine vergleichende Gehaltsliste aus der Zeit des Über­ gangs der Brüder Seveste weist nach, dass er mit 100 F. monatlich gerade doppelt soviel verdiente wie der Laufbursche, genauso viel wie der Regisseur Arsène und die Hälfte des Orchesterchefs Varney. Zum Vergleich: Die Gesangssolisten verdienten zwischen 75 und 150 E, die Stars zwischen 300 und 833 F. Ein monatliches Gehalt von 6.022 F. im Oktober 1854 für die gefeierte Sopranistin Marie Cabel — Sevestes bedeutendste Entdeckung — stellte die ab­ solute Ausnahme in einem Unternehmen dar, das trotz regen Pu­ blikumszulaufs und einer begeisterten Aufnahme durch die Kritik ständig vor dem Konkurs stand.74 Die Presse zeigte sich den Unsicherheiten der Jungkomponisten gegenüber nachsichtig und hob immer wieder Sevestes Verdienste hervor. Es war eine gefällige Musik heute in Vergessenheit gerate­ ner Komponisten, die gespielt wurde, weit entfernt von der als Pro­ vokation empfundenen »Zukunftsmusik« eines Berlioz oder Wag­ ner, eher eine domestizierte Form der Meyerbeerschen Grand Opéra auf dem Weg zur Operette Jacques Offenbachs, die, ohne die Feierlichkeit der ersteren anzustreben und den Witz des letzteren zu erreichen, als typische Übergangsgattung von der Musikge­ schichtsschreibung unbeachtet geblieben ist. Sie sollte Jules Vernes Musikgeschmack ein Leben lang bestimmen. Mit dem Beginn der Spielzeit 1852/53 hatte sich Jules Verne mit Seveste darauf geeinigt, auf sein Gehalt gänzlich zu verzichten, wenn der Direktor im Gegenzug eines seiner Stücke pro Saison auffiihrte. Ein abenteuerliches Arrangement, das durch die überlie­ ferten Gehaltsabrechnungen bestätigt wird und eindrucksvoll von der Verbissenheit zeugt, mit der der junge Autor versuchte, seine 72

Berufung durchzusetzen. »Ja, mein lieber Papa«, beruhigte Jules den Vater, der sich in Nantes die Haare gerauft haben wird, »Dienst ge­ gen Dienst; der Direktor braucht mich, ich brauche ihn; ich gebe ihm einen Teil meiner Zeit, er akzeptiert eines meiner Stücke: Si­ cher ist es wahr, dass andere auch ohne dies auf die Bühne kom­ men; und wenn ich diese Arbeit vierzig Jahre lang machen müsste, würde ich mich lieber aufhängen.«75 Eine Reihe von Fotografien aus dem Studio Delbarre präsentiert den Theatersekretär Verne in selbstbewusster Pose mit verschränkten Armen — eine Haltung, die für so viele seiner späteren Helden typisch sein wird und wohl eine Sicherheit suggerieren soll, die gar nicht zu den weichen, nach­ denklichen Zügen im bartlosen Gesicht des Porträtierten passen will. Die Korrespondenz mit den Eltern zeigt, dass Jules Verne mit nachgeordneten Tätigkeiten beauftragt wurde, die seine anfängli­ che Hoffnung, sich auf diesem Wege Verbindungen und ein Sprungbrett für die eigene Bühnenkarriere zu verschaffen, schnell als Illusion entlarvten. Im Gegenteil hielt ihn die Arbeit von der Verwirklichung eigener Projekte ab. Der zeitgenössische Theater­ historiker Albert de Lasalle vermutet, Verne sei in seiner Eigen­ schaft als Sekretär an mehreren Libretti der am Théâtre Lyrique aufgeführten Stücke als Korrektor beteiligt gewesen76; die Durch­ sicht der erhaltenen Manuskripte aus dem Theaterarchiv bestätigt das nicht. Inhaltliche Eingriffe in Texte behielten sich die Theater­ direktoren gewöhnlich selber vor, während sich die Sekretäre um die Betreuung der Presse, die Billetvergabe und rein organisatori­ sche Fragen zu kümmern hatten.77 Vergleichsweise wenige Zeug­ nisse von Jules Vernes Beschäftigung haben sich erhalten, die in ihrer Zufälligkeit aber repräsentativ sein dürften: Bei Théophile Gautier entschuldigte er sich, die für ihn vorgesehene Loge verse­ hentlich an den Verleger Emile de Girardin abgetreten zu haben78; vom Leiter einer Zeitschrift erbat er die Übermittlung der Namen jener Redakteure, die freien Eintritt erhalten sollten79. Denselben Charakter verrät ein kurzer Brief des Komponisten JacquesFromental Halévy, der an den Sekretär gerichtet ist: 73

»Mein lieber Herr Vernes [sic], Wenn Sie zwei schöne Plätze für Jaguarita zugunsten eines jungen Bakkalaureus, eines Enkels von Charles Nodier, zurücklegen woll­ ten, wäre ich Ihnen und dem Herrn Direktor sehr verbunden. Tausend Grüße und Dank, E Halévy«80 Das war nun wahrhaftig keine Tätigkeit, die einen literarisch ambi­ tionierten jungen Mann auf Dauer begeistern konnte; ebenso we­ nig eine Reihe von Kutschfahrten, die der Sekretär für seinen Di­ rektor ausführte und die ihm immerhin vergütet wurden, wie drei erhaltene Quittungen bezeugen.81 Aber das Verhältnis zu Direktor Seveste war herzlich, und einige der aufgeführten Stücke hinterlie­ ßen einen bleibenden Eindruck. So Donizettis Oper Elizabeth oder die Tochter des Verbannten. Die melodramatische Handlung nach einer französischen Romanvorlage von Mme Cottin, neu inszeniert am Théâtre Lyrique am 31. Dezember 1853, sollte später mit der Reise Nadjas zu ihrem verbannten Vater eine Nebenhandlung des Ro­ mans Der Kurier des Zaren bilden. Für die eigenen Libretti hatte Jules die Zusammenarbeit mit dem erfahrenen Michel Carré eingehen müssen, ein geläufiges Ver­ fahren für literarische Anfänger, das unter anderem gewährleisten sollte, dass das Publikum wenigstens auf einen vertrauten und Er­ folg verheißenden Namen stieß. Dieser sah unter Umständen das Szenarium durch und korrigierte die ausgearbeitete Fassung mehr oder weniger sorgfältig - um Kraft seines Namens die Hälfte des Honorars einzustreichen, genauer: ein Viertel, denn bei Musikwer­ ken ging die Hälfte der Einspielerlöse an den Komponisten, wäh­ rend sich die Autoren den Rest untereinander aufteilten. Jules sah die Gelegenheit, als Komponisten seinen alten Freund Aristide Hignard zu beteiligen, der 1850 den renommierten Rom-Preis zweiter Kategorie errungen hatte und von dem 1851 am Theater von Nantes bereits die Komische Oper Le Visionnaire aufgeführt worden war. Ein erstes gemeinsames Projekt über Scheherazades Erzählungen in La Mille et deuxième nuit (1850) war in der Versen­ kung verschwunden, die Partitur gilt heute als verschollen. An 74

Aristide Hignard erinnert man sich seither allenfalls noch als Schü­ ler von Halévy und als Lehrer von Emmanuel Chabrier, doch im Kaiserreich erfreute er sich mit seinen romantischen Klavierwal­ zern und gefälliger Chormusik einiger Beliebtheit. Sein ehrgeizigs­ tes Projekt, eine symphonische Oper nach Shakespeares Hamlet, bei der der Text überwiegend deklamiert statt gesungen wurde, hatte das Pech, in dasselbe Jahr zu fallen wie Ambroise Thomas’ gleichnamige Oper mit dem Text des genannten Michel Carré und Jules Barbier (1868) und im Glanz von deren eingängigerer Musik unterzugehen; Hignards Hamlet erlebte erst 1875 eine konzertante Aufführung in Paris und 1888 eine einzige Inszenierung am Thea­ ter von Nantes. Bei dieser Gelegenheit veröffentlichte Thomas Maisonneuve, vermutlich ein Sohn von Jules’ Freund Charles, ein kurzes Porträt des Komponisten: »All seine Werke sind in der lebhaften Manier Adolphe Adams geschrieben. Der Tonsatz sprudelt vor Geist und ist niemals banal. (...) In seiner Schublade liegen noch zwei Komische Opern, Les mules de Fleurette und La Mille et deuxième nuit, beides kleine Meis­ terwerke. (...) Als ich in Paris lebte, hatte ich das Glück, Aristide Hignard persönlich zu kennen. Immer freundlich, zuvorkommend, mit gepflegter Ausdrucksweise, war er ein Charmeur, wie er im Buche steht. Wenn unter seinen Fingern das Klavier ertönt, wird einem seine übertriebene Bescheidenheit zum Rätsel. Man sagt, das wahre Talent sei bescheiden; Aristide Hignard hat den Fehler be­ gangen, diesen Spruch allzu wörtlich zu nehmen. (...) Ich kann nichts Besseres tun, als die Meinung von Léo Delibes und Massenet wiederzugeben. Ich habe ihr Urteil aus zuverlässiger Quelle: >Hätte Hignardnur ein Viertel unserer Anstrengungen unternommen, hätte er mehr Erfolg gehabt als wir.«Gehen wir zum Polizeikommissar?< schlug Hignard vor. >Also losUnd schließlich, sagte er an die Adresse des legitimen Besitzers der gestohlenen Uhr, >handelt es sich bei Ihrer Uhr um eine Repetieruhr mit Hemmung?) — >Das will ich wohl meinen), antwortete Jules Verne in seriösem Ton, um gleich darauf in Lachen auszubrechen: >Aber ohne Hemmung, das Weite zu suchen.)«96 Die Struktur, Motive, Personen und einige Namen von Meister Zacharius hat Jules Verne verschiedenen Erzählungen E.T.A. Hoff­ manns entlehnt, insbesondere der Künstlernovelle Das Fräulein von Scuderi, in der der Goldschmied Cardillac seine Kunden ermordet, um sich nicht von seinen Schöpfungen trennen zu müssen. Nicht nur dieses Verfahren einer spielerischen Intertextualität weist auf spätere Romane voraus, zum ersten Mal thematisiert Jules Verne hier auch die Zeit an sich und stellt an ihr symbolisch den mate­ 82

rialistischen Machtanspruch des Wissenschaftlers dar, der meint, durch deren exakte Messung zugleich die absolute Herrschaft über die Natur erreicht zu haben, und sich unsterblich, ja gottgleich dünkt; das Scheitern dieser Ideologie wird an der Person des titel­ gebenden Genfer Uhrmachers vorgeführt, der die Hemmung er­ funden hat und der Überzeugung ist, seine Seele auf seine Werke aufgeteilt zu haben; entsprechend irritiert reagiert Zacharius, als all seine Uhren plötzlich aus unerklärlichen Gründen stehen bleiben. Um sein letztes Meisterwerk zurückzukaufen, will er sogar die Tochter Gérande einem Kobold namens Pittonaccio überlassen: »Der Mensch soll Sklave der Wissenschaft werden und für sie seine Eltern und seine Familie opfern.« Bei dem mitternächtlichen Aus­ tausch in einem zerfallenen Schloss zerspringt jedoch dieses letzte Meisterwerk, nachdem es zuvor noch die Losung ausgeteilt hatte: »Wer versucht, Gott gleich zu werden, ist verdammt in alle Ewig­ keit.« Pittonaccio versinkt im Boden, Zacharius stirbt, und Gérande kann sich wieder ihrem Verlobten und mit ihm der künftigen Gründung einer Familie widmen. Eine Überwinterung im Eise bildet den Schlusspunkt von Vernes veröffentlichten Jugenderzählungen und nähert sich mit der Schil­ derung einer Suchexpedition in der Arktis am stärksten dem Cha­ rakter der kommenden Romane an, was sowohl die Orientierung an authentischen Reiseberichten als auch die Verquickung von Na­ turschilderungen mit einer dramatischen Handlung betrifft. Auffäl­ lig ist, dass anders als in den meisten Außergewöhnlichen Reisen, aber ähnlich wie in den historischen Dramen eine selbstbewusste junge Frau von bestimmender Bedeutung ist und im Gegensatz zu den Gepflogenheiten des 19. Jahrhunderts die Reise begleitet. Die historische Erzählung Le Siège de Rome, um 1855 verfasst und offensichtlich ebenfalls für das Musée des Familles bestimmt, blieb dagegen in der Schublade. Mit ihrer Einteilung in fünf Kapi­ tel, darunter ein »historischer Prolog«, und der Einbettung einer tragischen Liebesgeschichte in einen zeitgeschichtlichen Rahmen, hatte Jules Verne den Versuch unternommen, das Prinzip seiner Ju­ genddramen in Prosa zu übersetzen. Die Intervention der französi-

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sehen Armee im April 1849 war Louis Napoléons erste außenpoli­ tische Tat gewesen, nachdem Papst Pius IX. von nationalgesinnten Aufständischen aus Rom ins französische Exil vertrieben worden war. Die Entscheidung, mit einer republikanischen Armee einen republikanischen Umsturzversuch zu bekämpfen, war unter den französischen Abgeordneten nicht unumstritten, aber Louis Napoléon ging es darum, den Einfluss Österreichs auf das zerris­ sene Italien zu begrenzen und zugleich den katholischen Klerus im eigenen Land für sich zu gewinnen; so konnte die schließlich erfolgreiche Wiederherstellung der Macht des Vatikans nur über die Niederschlagung der von Mazzini und Garibaldi geführten de­ mokratischen Freiheitsbewegung erfolgen. Interessanterweise ver­ ließ Jules Verne die liberale und herrschaftskritische Linie seiner dramatischen Frühwerke und nutzte die Erzählung für eine Anbie­ derung an das napoleonische Regime. Der Erzähler ergreift nach­ drücklich Partei für die absolutistische Herrschaft des Papstes und beschreibt die Revolution als Ergebnis persönlicher Rachegelüste einiger weniger, die das desorientierte Volk mitgerissen hätten, welches »in diesem 19. Jahrhundert selbst die Beschränkung allzu liberaler Reformen verlangt, die sie in bodenlose Abgründe stürzen könnten«; zwar räumt er in scharfer Weise sittliche Verfehlungen des italienischen Klerus ein, stellt ihnen aber die unanfechtbare Moral der französischen Geistlichkeit entgegen und verkündet, die »Unveränderlichkeit eines großen Prinzips, des Erbfolgeprinzips«97 allein sei angemessen, um das Volk vor Verelendung und Anarchie zu schützen. Das ist starker Tobak und trieft vor Opportunismus. Nutzen daraus zu ziehen war seinem Verfasser allerdings nicht ver­ gönnt. Das gelang ebenso wenig mit den Komödien, in denen Jules Verne in den Jahren 1851 bis 1855 versuchte, über das Niveau sei­ ner unterhaltsamen, aber strickmusterartigen Libretti hinauszuge­ hen. Zwei Themen lagen ihm dabei besonders am Herzen: Zum einen die romantische Frage nach dem Verhältnis des Künstlers zur materialistischen Gesellschaft, zum anderen seine Zerrissenheit zwischen künstlerischem Ideal und inspirationshemmender Erotik 84

und der steten Gefahr, sich in egoistischem Ehrgeiz zu verlieren. Auf humoristische Art behandelt Verne diese Fragen in dem zwi­ schen 1852 und 1855 immer wieder überarbeiteten Einakter Monna Lisa, in der das ironische Lächeln der Gioconda mit dem Mitleid erklärt wird, das die Dargestellte gegenüber Leonardo da Vinci empfindet, der in seinem künstlerischen Perfektionismus alle Lie­ besbezeigungen der Schönen verdrängt. Als Leonardo eines Tages doch der erotischen Versuchung zu erliegen droht, wird seine Auf­ merksamkeit schnell von Mona Lisas wunderbarem Armband ab­ gelenkt; enttäuscht erklärt Mona Lisa ihr Porträt vorzeitig für voll­ endet, aber Leonardo ist schon längst mit der Suche nach einem Modell für den Judas seines Abendmahls beschäftigt ...La Guimard aus demselben Zeitraum ist ebenfalls einer historischen Person, der Tänzerin Marie-Madeleine Guimard, gewidmet, die den jungen Maler Jacques-Louis David in ihren Bann zieht und seiner Verlob­ ten Valentine abspenstig machen will. Geblendet von der Ausstrah­ lung der Künstlerin und im Netz ihrer Intrigen gefangen, verstößt David Valentine, gibt sich der mondänen Guimard hin und verliert mit wachsendem Hochmut seine künstlerische Unschuld. Ange­ sichts der Lauterkeit von Valentines Liebe resigniert die Tänzerin schließlich, obwohl sie sich inzwischen ernsthaft in ihren Protégé verliebt hat, führt das Paar wieder zusammen und beschließt, sich nur noch ihrer einzig wahren Liebe, dem Tanz, zu widmen. Die andere Richtung, an die sich Jules Verne herantastete, war die der bürgerlichen Sittenkomödie, in der der jüngere Dumas brillierte. Die Ergebnisse befriedigen weniger, allzu simpel sind die Lösungen, die der Autor seinen Personen für die Bewältigung ihrer handfesten Ehekrisen anbietet. In Guerre aux tyrans kränkt Lucien de Sartan seine Frau Hortense mit übertriebener Eifersucht. Ihre resolute Tante rät zur Rache, indem Hortense ihm einen Grund nachliefern soll. Eine Gelegenheit scheint sich zu bieten, als in Ab­ wesenheit Sartans der junge Page Ange-Juste-Innocent vorstellig wird. Der schüchterne Jüngling will aber nur eine Pagenstelle bei der Königin antreten und benötigt dafür Luciens Protektion. Nach gegenseitigen Missverständnissen erlangt Innocent die begehrte «5

Stellung und Hortense das Vertrauen ihres Mannes zurück. — In Au Bord de l’Adour flüchtet ein junges Ehepaar im gegenseitigen Über­ druss voreinander ausgerechnet in die Hütte des philosophisch be­ schlagenen Fährmeisters Rémy, der die beiden wieder zusammen­ führt, indem er in ihnen geschickt den Wunsch nach einem gemeinsamen Kind weckt. - Ein anderes Stück in fünf Akten, Les Heureux du jour, befand sich in Arbeit; es ist Vernes ambitioniertes­ tes Projekt, in dem er beide Themenbereiche, Künstlerproblematik und Gesellschaftskritik, miteinander verband und von der er sich den endgültigen Durchbruch versprach. Noch stand die Bühne un­ gebrochen im Zentrum des künstlerischen Ehrgeizes, und noch war Jules Verne selbst bar aller Vorstellung, dass er später ausgerech­ net als Romancier zu Weltruhm gelangen sollte.

6.

An der Schwelle zur Moderne: Paris im 19. Jahrhundert

»Er verabscheute Paris in einem Maße, dass er, um von Amiens nach Dinard zu reisen, einen Umweg über Rouen und Caen an­ trat, um nur nicht Paris durchqueren zu müssen! Und ich sagte mir, dass dahinter mehr Liebe als Widerwillen gesteckt haben mochte. Er wird einfach Angst gehabt haben.« So urteilte der Schriftsteller André Maurel über Jules Verne, den er in den 90er Jahren kennen gelernt hatte und mit dessen Sohn Michel er eng befreundet war.98 Mit seiner Vermutung bringt er das ambivalente Verhältnis Jules Vernes zur französischen Hauptstadt auf den Punkt, in der dieser zwanzig Jahre seines Lebens verbracht hatte und deren Einfluss auf seine schriftstellerische Entwicklung selten im verdienten Maße gewürdigt worden ist. Verne war als unbedarfter Provinzler in die Großstadt gekom­ men, der er ebenso fasziniert wie verunsichert gegenüberstand, ähnlich wie die jungen bretonischen Dichter, die er in der Gesell­ schaftskomödie Les Heureux du jour und dem Roman Paris im 20. Jahrhundert auftreten lässt und die sich nur unter größten Schwie­ rigkeiten in der Metropole behaupten können — oder an ihr schei­ tern. Im Jahr seiner Ankunft 1848 war Paris noch von jenem mittel­ alterlichen Stadtbild geprägt, das Victor Hugo in seinem Glöckner von Notre Dame und Eugène Sue in Die Geheimnisse von Paris (1841) so anschaulich beschrieben hatten. Insbesondere der Stadtkern war ein Labyrinth verwinkelter, dunkler Gassen, die bei Regen nahezu unpassierbar wurden und in denen man dann im besten Fall durch ein knöcheltiefes Gemisch aus Morast, Hausmüll und Fäkalien wa­ tete, sofern sich die Anwohner nicht mit Bretterstegen behalfen. »Es gab keine Trottoirs, keine Dachrinnen«, erinnert sich Rambuteau, der Stadtpräfekt der Juli-Monarchie; »von den Dächern wurde man 87

mit Wassergüssen durchnässt. Im Sommer wurden die Straßen nicht mit Wasser besprengt, während sich das Schmutzwasser vor den Häusern staute und jenen charakteristischen Geruch verrottenden Kohls verströmte, an dem die Pariser, wenn sie von einer Reise zu­ rückkehrten, unweigerlich ihre Stadt wiedererkannten.«99 Angehö­ rige des Volks erkannte man an ihren schmutzigen Stiefeln; wer et­ was auf sich hielt und über die nötigen Mittel verfügte, begab sich nur in Kutschen durch die Straßen von Paris. Als Alternative von großem ästhetischen Reiz hatten sich zu Beginn des Jahrhunderts die Passagen etabliert, glasüberdachte Gebäudedurchgänge, in de­ nen die dort angesiedelten Geschäfte unabhängig vom Unbill des Klimas zum Einkaufserlebnis einluden. Zugleich nahm die Passage einen konstitutiven Aspekt der zweiten Jahrhunderthälfte vorweg, der verstärkt in den großen Weltausstellungen zum Ausdruck kom­ men sollte, indem »sie soziales Geschehen auf den Raum zu­ sammenzog, der Platz unter dem Okular eines Mikroskops hätte finden können. Sie war die >Stadt in der Stadthaben bisweilen die Bildhauer die Schnitzer der Architekten ausbügeln müssen«; ins­ gesamt aber ist dies ein gigantisches Unternehmen, das die Ge­ schichte der Hauptstadt prägen wird. Allerdings besteht der Sün­ denfall des Systems in der unabsehbaren Agglomeration von Einwohnern, die jedes Jahr weiter ansteigt, wobei Paris sich nicht in ausreichendem Maße vergrößert und gezwungen ist, in die Höhe zu wachsen, bei seinen Wohngebäuden zwei Stockwerke unter das Pflaster und sechs darüber hinaus zu gehen.«104 95

Haussmanns Karriere endete mit dem Fall des Kaiserreichs 1870, die Schulden, die er zur Finanzierung seines Lebenswerks aufge­ häuft hatte, hatten seinen Sturz schon kurz zuvor herbeigefuhrt; vollständig getilgt sollten sie erst 1929 sein. Schulden zu machen gehörte zwar nicht unbedingt zum guten Ton in Napoléons Kai­ serreich, aber es wurde zu einer seiner wichtigsten Stützen. Die Gebrüder Emile und Isaac Pereire hatten mit dem Crédit mobilier 1852 die maßstabsetzende Kreditgesellschaft gegründet, die das Vorbild für verschiedene Sub- und Konkurrenzunternehmen wer­ den sollte. Sie trieben wesentlich den Ausbau der — damals noch privaten — Eisenbahngesellschaften voran, ehe sie sich anderen in­ dustriellen Projekten und der Grundstückspekulation im Zuge der Haussmannisierung zuwandten. Das gesamte französische Bankwe­ sen expandierte unter Napoléons Herrschaft, und damit nahm auch die Börse an Bedeutung zu, wobei legale Transaktionen immer wieder in zwielichtige Unternehmungen im Dunstkreis der Wirt­ schaftskriminalität ausarteten. Charles Wallut, einer der besten Freunde Jules Vernes und von Mitte der 50er Jahre an Mitverfasser einiger gemeinsamer Theaterstücke, wurde nach seiner Promotion 1854 Angestellter der Pereires und stieg schnell zum Administrator des Crédit mobilier auf, ein Posten, von dem er drei Jahre nach dem Bankrott des Unternehmens 1869 offiziell zurücktrat, um sich künftig dem spanischen Ableger der Gesellschaft - seinem persön­ lichen Spezialgebiet — und anderen Bankgeschäften zu widmen. Auf diese virtuosen Finanzgebaren - von Unternehmen und auch Regierung — reagierte Jacques Offenbach mit seiner anspielungs­ reichen Opéra-bouffe Die Räuber (1869), in der am Ende der ge­ wiefte Räuberhauptmann die Stelle des Polizeichefs einnimmt. Und auch der Direktor des Crédit mobilier espagnol, Wallut, scheint im Visier der Satire, wenn der Graf von Gloria Cassis im 2. Akt singt: »Ach! Es gibt Leute, die Spanier sich nennen / Und doch überhaupt keine Spanier sind.« »Die Operette konnte entstehen, weil die Gesellschaft, in der sie entstand, operettenhaft war.«105 Man täte dieser oft zitierten Äuße­ rung Siegfried Kracauers aus seiner Offenbach-Biographie bitter

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Unrecht, würde man sie als banalisierende Verniedlichung der damaligen gesellschaftlichen Situation abtun, so wie der Begriff der Belle Époque das Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf ein nostalgisches Schlagwort zurechtstutzt; die spöttisch gemeinte Metapher der operettenhaften Kaiserherrschaft selbst geht auf den regimekritischen Journalisten Henri Rochefort zurück, der sich in seiner Zeitschrift La Lanterne mit Häme und Spott über Napoléons Politik hermachte und damit zu einem Lieblingsfeind des Monar­ chen wurde. 1855 hatte Jacques Offenbach auf den Champs-Élysées, Promenierpfad der Gutbetuchten, sein Théâtre des BouffesParisiens eröffnen und vom Besucherstrom der ersten Pariser Weltausstellung profitieren können. Von den Kritikern aufgrund ihrer eingeschränkten Dimensionen zunächst als SchuhschachtelTheater belacht, gelang es der neuen Bühne mit Offenbachs humorvollen Einaktern, die die pompöse Musik der großen Meyerbeer-Opern persiflierten, auf Anhieb, das Publikum für sich einzunehmen. Noch im selben Jahr eröffnete Offenbach in der Passage Choiseul eine zweite Bühne und entwickelte Strategien, um die behördlichen Auflagen bei der Beschränkung von Sängern und Schauspielern zu umgehen, mit dem Ergebnis, dass im Verlauf der nächsten Jahre sein Spielraum auch offiziell erweitert wurde. Das vordergründige Arrangement Offenbachs und seiner Text­ autoren mit dem Regime Napoléons III. ging einher mit immer keckerer Gesellschaftssatire, die, wenn sie von den Zensoren bis­ weilen nicht erkannt, so doch von der Regierung geduldet wurde, welche damit im Glanz einer liberaleren Haltung erstrahlen wollte. Doch galt dies vornehmlich von Beginn der 60er Jahre an, als der Kaiser sich aufgrund seiner verfallenden Popularität zu Zugeständ­ nissen gezwungen sah, die seine Autorität munter weiter unter­ höhlten. Die Gesellschaft war nicht nur insofern operettenhaft, als sich durch Repräsentations- und Amüsiersucht ein extremes Aus­ einanderklaffen von Schein und Sein im finanzstarken Bürgertum herausgebildet hatte; auf einer viel allgemeineren Ebene wurde das gesellschaftliche Leben durch das Theaterwesen geprägt, das das ganze Jahrhundert über das wichtigste Massenmedium darstellte. 95

Wer es als Autor zu Geld und Ansehen bringen wollte, konnte kaum darauf vertrauen, dies mit Romanen zu erreichen; Roman­ ciers wie Balzac und Stendhal waren Zeit ihres Lebens an diesem Anspruch gescheitert. Erst mit dem Aufkommen der großen Ta­ geszeitungen und neuer Druckverfahren war es möglich, durch Vorabdrucke im Feuilleton der auflagenstarken Blätter ein breiteres Publikum zu erreichen. Wer des Lesens unkundig war oder sich keine Druckerzeugnisse leisten konnte, hatte die Möglichkeit, sich in öffentlichen Lesestuben gegen ein geringes Entgelt vorlesen zu lassen. Von dieser Entwicklung profitierten Romanciers wie Alexandre Dumas, die mit ihren Fortsetzungsromanen ein Ver­ mögen verdienten und im Gegenzug zur Steigerung der Auflagen beitrugen. Die Lektüre der damaligen Zeitungen zeigt mit aller Deutlichkeit: Während Buchkritiken ein Schattendasein in den in­ tellektuelleren Blättern führten, beschäftigten die meisten Zeitun­ gen nicht nur einen renommierten Theaterkritiker, der kraft seiner Persönlichkeit richtungweisend durch die Masse der Premieren führte; parallel dazu gab es Kolumnen, die mit Hintergrundberich­ ten, Anekdoten und Klatsch das Bühnenleben begleiteten, und eine zusätzliche Rubrik, in der täglich die letzten Neuigkeiten zu­ sammengefasst wurden. Wer also mit seinem Namen ins allgemeine Bewusstsein rücken und den Erfolg unmittelbar zu spüren bekom­ men wollte, der musste für die Bühne schreiben und auf ihr reüs­ sieren. So verwundert es nicht, dass die maßgeblichen Romanciers des 19.Jahrhunderts wie Zola, Dickens, Dostojewski, sogar Flaubert und eben auch Jules Verne immer wieder neu um Bühnenpräsenz bemüht waren. Unauflöslich mit dem Theater verbunden, sogar noch spezifi­ scher für die Seh-Sucht des 19. Jahrhunderts, war das Massenme­ dium des Panoramas, das Ende des 18. Jahrhunderts in England er­ funden worden war und einen Jahrzehnte währenden Siegeszug durch ganz Europa antrat, ehe es mit dem Aufkommen des Films verschwand und nur noch in übertragener Bedeutung als Blick von höherer Warte auf die umgebende Landschaft überlebte. Im 19. Jahrhundert war das Panorama jedoch eine technische Neuerung, 96

Schnitt durch ein Panorama; A : Eingang

die auf das Bewusstsein revolutionär wirkte und die Sehgewohn­ heiten nachhaltig veränderte. Es bezeichnete ein beeindruckendes Rundumgemälde, das in einem eigens konstruierten Gebäude aus­ gestellt wurde. Unverzichtbar war ein dunkler Gang (B), der die Zuschauer auf das im Gebäude herrschende Dämmerlicht vorbe­ reitete, und eine Treppe, die auf die zentrale Plattform (C) führte, von der aus der Blick auf eine möglichst illusionistisch wirkende Landschaft, Stadt oder Schlachtenszene (D) fiel, die durch plastische Elemente oder Objekte am unteren Bildrand (F, G) noch realisti­ scher ausfiel, während der obere Bildrand durch einen Schirm (E) verborgen blieb, der die Betrachterplattform überspannte. Der erhöhte Standpunkt des Betrachters suggerierte den Anspruch auf ein ganzheitliches Erfassen des Gegenstandes im Kleinen, machte Unzugängliches, weil Entferntes, präsent, Staunen Gebietendes be­ herrsch- und verfügbar. Die schon bald als defizitär empfundene Starrheit der Darstellung regte weitere Entwicklungen wie das Diorama an, bei dem halbtransparente Bildflächen durch wechseln­ de Beleuchtung den Eindruck von Bewegung und Veränderung hervorriefen. Diese und andere Errungenschaften der Illusionsmaschinerie wirkten zurück auf das Theater und seine perfektio­ nierte Bühnentechnik, von der in der zweiten Jahrhunderthälfte die großen Ausstattungsstücke profitieren sollten. 97

Für das Romanwerk Jules Vernes lässt sich der konkrete Einfluss des Panoramas und seiner Derivate nicht nur an Hand spezieller Beispiele wie des Georamas auf die Reise zum Mittelpunkt der Erde oder des geradezu zwanghaft erfolgenden Aufstiegs seiner Personen auf erhöhte Standpunkte mit anschließendem Blick auf die zu Füßen liegende Landschaft nachweisen, regelmäßig setzt Verne An­ spielungen auf die künstlichen Maschinerien in seinen Beschrei­ bungen ein. Was für uns heute eine schockierend illusionszerstö­ rende Wirkung hat, mag damals als Appell an die Sehgewohnheiten der großstädtischen Leser gedacht gewesen sein, die sich eher mit den Artefakten als mit tatsächlichen Landschaften auskannten. Als panoramatisch hat Wolfgang Schivelbusch die neuartige Rauscherfahrung des Eisenbahnreisens bezeichnet, als panorama­ tisch schließlich auch das Einkaufserlebnis in den Warenhäusern, die ab 1852 auf den großen Pariser Boulevards eröffneten: »Im Übergang vom Detailgeschäft alten Typs zum Kaufhaus verändert sich die Wahrnehmung der Waren durch die Kunden in analoger Weise, wie sich die Wahrnehmung der Reisenden im Übergang von der Kutsche zur Eisenbahn bzw. die Wahrnehmung der Pariser aufgrund der Haussmannisierung ihrer Stadt verändert. Im Kauf­ haus entwickelt sich die Wahrnehmung, die wir panoramatisch ge­ nannt haben.«106 Man mag einen derartigen Gebrauch das Wortes als inflationär kritisieren, all seinen Anwendungen liegt jedoch die gemeinsame Erfahrung einer künstlichen Neuordnung der äuße­ ren Welt durch eine selektive Reproduktion im Kleinen zugrunde, für deren Ausbildung der technische Fortschritt erst die unabding­ baren Voraussetzungen schaffte: etwa die Möglichkeit, große Glas­ scheiben herzustellen, um in Schaufenstern die Waren in auf die Publikumswirksamkeit abgestimmter Auswahl präsentieren zu können. Das Zur-Schau-Stellen der Waren erforderte, um sich aus­ zuzahlen, seinerseits eine ausreichend große Anzahl von Flaneuren, was wiederum begehbare, befestigte Boulevards voraussetzte, wel­ che im großen Maßstab erst im Zuge der Haussmannisierung ent­ standen. Der Ausbau des Schienennetzes hatte nicht nur die Reise­ zeit verkürzt, sondern auch die Mobilität der Reisenden zwischen 98

1850 und 1870 verdreifacht und für viele Bürger den Tourismus überhaupt erst in den Bereich des Erträglichen und Möglichen ge­ rückt. Während die utopischen Sozialisten wie Saint-Simon und Fou­ rier dem technischen Fortschritt auf lange Sicht die Befreiung des Proletariats von der entwürdigenden Industriearbeit zutrauten und eine korrelative Entwicklung in sozialer Hinsicht annahmen, Karl Marx und Friedrich Engels dagegen eine Zuspitzung der Klassen­ gegensätze erwarteten, diente er den europäischen Machthabern als Selbstbestätigung und stolze Zurschaustellung des bisher Er­ reichten. Dies zeigte sich prototypisch seit 1851 in den großen Weltausstellungen, auf denen sich der technische Pioniergeist im Wettbewerb der Nationen und mit dem Hang zur ständigen Selbstüberbietung präsentierte. Die bei dieser Gelegenheit im großen Maßstab organisierten Anreisen durch den Veranstalter Thomas Cook markierten zugleich den Beginn des modernen Tourismus. Friedlicher Internationalismus war auf den Weltausstel­ lungen stets ein erklärtes Ziel, kaschierte aber lediglich nationale Egoismen und nationalistische Überheblichkeit. Technische Neue­ rungen fanden hier ebenso ihren Platz wie vergleichsweise biedere Alltagsprodukte des Handwerks. Das Londoner Vorbild bewog Na­ poléon III., die Welt 1855 nach Paris einzuladen, was danach alle elf oder zwölfJahre wiederholt wurde: 1867, 1878, 1889 und 1900. Jede Veranstaltung übertraf die vorausgehende an Glanz und Gla­ mour (sowie einem wesentlich durch das Theater geprägten Unter­ haltungsangebot, in das immer wieder auch Panoramen und Dio­ ramen einbezogen waren), manifestierte ihre enzyklopädischen Ambitionen in umfangreichen Retrospektiven der Menschheits­ und Technikgeschichte und zeichnete besonders gelungene Pro­ dukte von Handwerk und Industrie mit Preisen und Goldmedail­ len aus, egal ob es sich dabei um Porzellangeschirr oder um Kano­ nen handelte. Die Triebkraft der Weltausstellungen war ein unbedingter Fort­ schrittsglaube, den schon die Saint-Simonisten gepredigt hatten und der den Gedanken gar nicht erst zuließ, dass die technologi­ 99

sehe Entwicklung auch unangenehme Nebenwirkungen zeitigen könnte. Die industriellen Errungenschaften galten als spektakulär, und als Spektakel wurden sie in Szene gesetzt. In ihrer praktischen Funktion waren sie für die meisten Besucher undurchschaubar, dafür wirksam durch ihre fremdartig-ästhetische Präsenz, die ihnen die Aura von Kunstwerken verlieh. Präsentiert wurden sie in Auf­ sehen erregenden Glas- und Eisenkonstruktionen, die schon durch ihren neuartigen Baustil die Massen anlockten. Die Ausstellungs­ wut machte dabei später nicht einmal vor dem Menschen selbst Halt: »Wilde« aus den Kolonien wurden nebst typischen Vertretern von Tier- und Pflanzenwelt eingeführt und sorgten in angemesse­ ner Ausstattung für die Rekonstruktion des Lokalkolorits und die Erbauung des »zivilisierten« Beschauers. Der Ehrgeiz, die Gesamtheit der Erscheinungen im Kleinen zu versammeln, kommt in Napoléons Versuch zum Ausdruck, in »sei­ ner« ersten Weltausstellung neben Industrie, Handwerk und Land­ wirtschaft auch der Kunst ihren Platz einzuräumen. Wenn Jules Verne später das Mondgeschoss oder sein U-Boot Nautilus als Mikrokosmen der wissenschaftlichen, industriellen und künstleri­ schen Fertigkeiten des Menschen beschreiben sollte — hier auf der Weltausstellung fand er Gelegenheit, diese Idee auszubilden. In der erschlagenden Mannigfaltigkeit der präsentierten Objekte konnte Verne nach geistigen Anregungen Ausschau halten, die er im eige­ nen Sinne umformen sollte, denn die materialistische Ideologie dieser Veranstaltung war seinem Denken vollkommen fremd. Dass die Weltausstellung von 1855 einer der ausschlaggebenden Kataly­ satoren für Jules Vernes Beschäftigung mit der Wissenschaft war, können wir - wenn auch mit gutem Grund - nur vermuten, denn die Zeugnisse fehlen. Am 15. Mai war das Spektakel eröffnet wor­ den, und bis Ende November noch hatten die Besucher Gelegen­ heit, ihre Neugier zu befriedigen; 5,16 Millionen sollten es dann gewesen sein, das finanzielle Defizit von 8,1 Millionen F. wurde vom Staat gedeckt, der sich mit einem Prestigezuwachs tröstete, den er mittel- und langfristig durch die Ankurbelung von Handel und Tourismus in klingende Münze umzuwandeln gedachte. 1900 100

waren sogar zehnmal so viele Besucher zu verzeichnen — eine Stei­ gerung, die in dieser Kategorie zusammen mit dem 19.Jahrhundert ihren Abschluss fand. Die Faszination des schönen Scheins vom problemlosen technischen Fortschritt, sie sollte im 20. Jahrhundert nicht mehr ohne weiteres überzeugen; an die Stelle der Weltaus­ stellungen als zugkräftige Massenunterhaltungsunternehmen trat die Wettbewerbsmentalität der Olympiaden und ein paar Jahr­ zehnte später die Kompositwelt der Vergnügungsparks à la Walt Disney, die auf ihrer sterilen Oberfläche aller sozialen Probleme entledigt scheinen. Kritisch resümiert Werner Hofmann über die Weltausstellungen im 19. Jahrhundert: »Was sich als repräsentativer Querschnitt durch die Menschheit feiern lässt, ist eine Scheinwelt, die sich vom Kunstwerk die kompositorische Gebärde, von der Wirklichkeit die handgreifliche Dreidimensionalität leiht. Das Ergebnis will eine >Allégorie réelle< der Zivilisation sein. Das Bemühen, allen Konti­ nenten, Rassen und Kulturen ein Forum der Selbstdarstellung ein­ zuräumen, endet mit der Anhäufung heterogener Objekte, welche im Augenblick, da sie die Szene der Schaustellung betreten, sich in einen Fetisch verwandeln. Mit magischer Selbstzweckhaftigkeit umhüllt, gefrieren sie im Zwitterdasein der Mumifizierung. Die Maschinen erstarren zu Kultgegenständen, die bildenden Künste, denen man Monstersalons einräumt, stehen als Waren auf demsel­ ben Niveau wie die Industrieprodukte. In dieser Welt ist alles Ware, letztlich auch der Mensch.«107 Zu einem ähnlich resignativen Er­ gebnis war exakt ein Jahrhundert zuvor bereits Jules Verne in Paris im 20. Jahrhundert gelangt. Die Handlung endet auf dem Friedhof Père Lachaise, wo sich der Dichter Michel Dufrénoy zum Sterben in den Schnee bettet und das elektrisch beleuchtete Paris trotz all seiner technischen Ressourcen in der Kälte eines unbarmherzigen Winters erfriert. — Ein trostloser Abgesang auf den technischen Fortschritt, noch bevor Jules Verne seine erste Außergewöhnliche Reise geschrieben hatte.

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Liebesdinge. »... mit geschlossenen Augen und offener Börse« (187,^-1857)

Zu den niederschmetternden Erfahrungen, die Jules Verne in der ersten Hälfte der 50er Jahre machte, gehörten die Probleme mit der Liebe. Dafür verantwortlich war nicht nur seine Schüchternheit, die er stets durch demonstrative Ausgelassenheit zu überspielen versuchte, seine derzeitige soziale Situation musste einer standesge­ mäßen Verbindung zwangsläufig im Wege stehen. Das betraf die Mädchen in Nantes, denen er bei seinen gelegentlichen Besuchen in der Heimatstadt den Hof machte, etwa Laurence Janmar, die ihn Anfang 1854 abgewiesen hatte, nachdem es auf einem Ball wegen eines zweideutigen Wortspiels zu einem Eklat gekommen zu sein scheint, oder auch die Tochter eines Pariser Kollegen von Pierre Verne, in dessen Haus Jules seit Anfang 1849 verkehrte: »Mama schreibt mir wegen Fräulein Prévôt - ob ich denn dieses kleine Mädchen liebe? Glaubt Ihr denn, sie vermöchte mit mir glücklich zu sein, wo Mama mir doch hundert Mal wiederholt hat, dass sie meine Frau nur bedauern könnte? Ich bin noch nicht der Mann für derart endgültige Sachen, das spüre ich ganz deutlich.«108 Im Frühjahr 1854 begab Jules sich ein paar Mal nach Mortagnesur-Sèvre in der Vendée, wo sich eine pastorale Affäre mit einer ge­ wissen Erménégilde anzubahnen schien (ihr vollständiger Name ist nicht bekannt), die aber am rustikalen Umgang mit dem erweiter­ ten Familienkreis scheiterte. Der Vater von Erménégilde, die er we­ der schön noch gütig, geistreich oder amüsant, aber auch nicht un­ angenehm fand, war besonders stolz auf seine Kühe, wie Jules in zwei sarkastischen Briefen berichtete: »Mein Schwiegervater lieb­ koste sie und nannte sie bei ihrem Namen. Einer hatte er den sei­ ner Tochter gegeben, einer anderen den seiner Frau, er befand sich mitten in seiner Familie, und nach dem Ton zu urteilen, in dem er 102

mit ihnen sprach, schien er keinen großen Unterschied zwischen ihnen und seinen nächsten Verwandten zu machen; ich erwartete schon, dass er mir eine seiner schönen schwarzgefleckten Kühe zur Hochzeit anbot.«109 Als gescheiterter Literat auf dem ländlichen Anwesen eines Orts mit anderthalb Tausend Einwohnern zu en­ den, war gewiss keine verlockende Perspektive, und so nahm Jules Verne schnell wieder Abstand zu Kühen und Braut. In einem anderen Brief an die Mutter stellte er fest, dass »all die jungen Mädchen, die ich mit meinen Freundlichkeiten beehre, sich alle ohne Ausnahme nach kurzer Zeit verheiraten! Wahrhaftig! Frau Dézaunay, Frau Papin, Frau Terrien de la Haye, Frau Duverger und schließlich Frau Louise François!«110 Dies ist nun eine beein­ druckende Auflistung für jemanden, dem immer wieder homo­ phile Neigungen zugeschrieben wurden, wofür es keinerlei Be­ weise gibt. Nun stimmt es allerdings, dass Homosexualität in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch weit davon entfernt war, öffentlich wahrgenommen und als ernsthafter Lebensentwurf überhaupt in Erwägung gezogen zu werden; ein derartiger Paradigmenwechsel vollzog sich erst — und dann ausschließlich zum Nachteil der un­ mittelbar Beteiligten — mit dem Skandal um Paul Verlaine und Rimbaud und vor allem im Prozess gegen Oscar Wilde Ende der 90er Jahre. Noch lange darüber hinaus organisierte sich Homo­ sexualität in aller Heimlichkeit, verklärt als Freundschafts- oder Schönheitskult, oder man leistete sich gelegentliche Abstecher in die Prostitution. Im Fall Jules Vernes, in dessen Leben und Werk Erotik nie ein bestimmendes Thema gewesen ist, müssten einschlä­ gige Fakten erst einmal zu Tage gefördert werden. Die große An­ zahl von K-Lauten in der Namensgebung seiner Romane reicht für eine plausible Beweisführung, wie mir scheint, nicht aus.111 Zusammen mit Freund Hignard hatte Jules Verne den Kreis der Onze-sans-femtnes (Elf Unbeweibten) gegründet, so genannt, weil nach schönster Burschenschaftsmanier bei den Zusammenkünften keine Frauen zugelassen wurden. Zu den Mitgliedern zählten der Komponist Léo Delibes, die Karikaturisten Bertall und Stop und der Librettist Philippe Gille; sie trafen sich einmal wöchentlich 103

LE PANTHÉON DU DIX-NEUVIÈME SIECLE. VII___ I

K

MI1SIÎF. DES FAMILLES.

Die Mitarbeiter des Musée des Familles, ltn Medaillon rechts Pitre-Chevalier, unter ihm mit Dirigierstab in der Hand Charles Wallut; rechts, einen Ballon schwenkend, der bartlose Jules Verne, daneben (mit Lupe) der populärwissenschaftliche Schriftsteller Arthur Mangin.

zum Abendessen im von Theaterkünstlern frequentierten Restau­ rant von Brebant und nutzten die Gelegenheit zum Kartenspielen und Rezitieren elegischer oder freizügiger Verse. Dass auch Jules Verne schlüpfrige Gedichte vortrug, wird von einigen Freunden bezeugt (von anderen wie Charles Maisonneuve dagegen bestrit­ ten), jedoch ist nicht sicher, ob es sich bei dem einzig bekannten Werk dieser Art mit dem Titel Lamentations d’un poil de cul defetnme wirklich um einen authentischen Text handelt.112 Wie die meisten seiner Zeitgenossen hat Jules Verne Bordelle frequentiert; das rief er seinem Freund Ernest Genevois in Erinne­ rung, der sich gerade verlobt und über Vernes Beziehungslosigkeit mokiert hatte: »Auf der anderen Seite, Ernest, behauptest Du, all meine Eroberungen hätten sich einen Dreck um mich geschert; ja nun, wo wäre sonst das Vergnügen dabei! Balzac hat es gesagt und auch bewiesen: besser, man wird von einer Frau verlassen, als sie zu verlassen; versuche, das den jungen Schlampen begreiflich zu ma­ chen, die Du mit Deinen Freundlichkeiten beehrst; Du scheinst ebenfalls zu glauben, dass mir keine Eroberungen gelingen! — Ach geh, Du Undankbarer! — hast Du vergessen, dass ich in den besten Häusern der Rue d’Amboise oder der Rue Monthyon wie ein ver­ zogenes Kind (was sage ich), wie ein verdorbenes Kind empfangen werde; werde ich nicht um meiner selbst willen geliebt, wenn ich die Gelegenheit finde, ein paar Louis113 darauf zu verwenden; ach, mein Freund, glaubst Du wirklich, dass das Geld der einzige Grund für diese reine Zuneigung ist?«114 Wirklich überzeugend klingt diese Argumentation nicht, viel­ mehr offenbart sie Enttäuschung und tiefe Verletztheit sowie den befremdlichen Hang, Liebe und Geld miteinander zu verquicken, den man immer wieder in der Korrespondenz aus dieser Zeit re­ gistriert: »Ich heirate die Frau, die Du für mich findest, ich heirate sie mit geschlossenen Augen und offener Börse«115, las Sophie Verne und dürfte durchschaut haben, was hinter dieser provokati­ ven Äußerung steckte. »Während ich meine Geschäfte erledige, verstehe ich nicht, weshalb ich nicht in der Pariser Gesellschaft eine Ehefrau abstauben sollte, ein reiches junges Mädchen, dem bei­ 105

spielsweise ein Fehler unterlaufen wäre oder das bereit wäre, einen solchen zu begehen, verdammt noch mal!«116 Da das Unglück immer zu etwas gut ist, wie Jules sich häufiger auszudrücken beliebte, hat es uns in diesem Fall eine kurze Erzäh­ lung eingebracht, die in direkter Nachfolge von Jédédias Jamet, aber sonst ziemlich einzigartig im verneschen Œuvre steht: Le Mariage de Mr Anselme des Tilleuls ist um 1855 entstanden, aber bis 1991 un­ veröffentlicht geblieben, da sie den Nachlassverwaltern ob ihres zo­ tigen Witzes ausgesprochen peinlich erschien: Der ebenso hässliche wie dümmliche Marquis (im Französischen doppeldeutig »Mark­ graf« und »Geck«) Anselme des Tilleuls hat beschlossen, sich zu verehelichen, und beauftragt seinen pedantischen Lateinlehrer Naso Paraclet damit, ihm eine standesgemäße Gattin zu suchen. Wo im­ mer auch Paraclet, indem er sich an Grammatikregeln und lateini­ schen Sentenzen entlanghangelt, vorspricht, überall wird er im ho­ hen Bogen hinauskomplimentiert, bis er an einen Gerichtsdiener gerät, der die Situation nutzt, um seine matronenhafte Tochter un­ ter die Haube zu bringen. So endet die Erzählung mit einem zwei­ felhaften Märchenschluss: »Der Marquis des Tilleuls erblickte keine Wolke mehr am Horizont seines Glücks; ein jedes Jahr trugen un­ unterscheidbar männliche oder weibliche Kinder dazu bei, die Hoffnung auf eine unauslöschbare Nachkommenschaft abzusi­ chern, und der ergebene Naso Paraclet beschäftigte sich, nachdem er seine nützlichen Bemerkungen über unregelmäßige Deklinatio­ nen abgeschlossen hatte, mit der Forschung nach den geheimen Ursachen, die unter dem doppelten Gesichtspunkt der Grammatik und der Hochzeit die neutralen Verben davon abhalten, den Akku­ sativ zu regieren!«117 Die lateinische Grammatik bietet nicht nur den Anlass für un­ übersetzbare Wortspiele, sie ist der eigentliche Antrieb der Hand­ lung, ebenso wie die Doppeldeutigkeit, die dem Wort Konjugation (Beugung des Zeitworts und Paarung) zu Grunde liegt. Anselme des Tilleuls und Jules Verne sind mit 27 Jahren gleichen Alters, ihre Namen begegnen sich im wörtlichen Sinn auf »StammbaumEbene«, da tilleuls Lindenbäume bezeichnet und verne das keltische 106

Wort für aulne, Erle, ist. Eine Erle schmückte auch das Familien­ wappen der Vernes. Man hat dem Verfasser der Außergewöhnlichen Reisen immer wie­ der vorgeworfen, ein männliches Universum geschaffen zu haben, in dem kein Platz für Frauen sei und die Darstellung menschlicher Leidenschaften durch trockenes Faktengeklapper ersetzt werde. Beides hat seine Berechtigung, bedarf aber, wie so oft, der Relati­ vierung. Angesichts der sozialen Stellung der Frau im 19. Jahrhun­ dert erweist sich die Spärlichkeit des Auftretens von Frauen in Vernes Werk als den Gepflogenheiten der Zeit gemäß, vor allem für die Gattung des Reise- und Abenteuerromans. Damit verhält es sich in den Außergewöhnlichen Reisen nicht anders als in den virilen Welten von James Fenimore Cooper, Karl May, Herman Melville oder Jack London. Starke Frauen, die gegen alle Widerstände die gesellschaftlichen Konventionen durchbrachen und sich auf (Entdeckungs-)Reise begaben, hat es in der Realität des patriarchali­ schen 19. Jahrhunderts immer wieder gegeben, man denke nur an Mme de Bourboulon, Lady Franklin und Ida Pfeiffer, und sie alle werden, wo es sich anbietet, von Jules Verne erwähnt — ohne Ge­ hässigkeit, was damals keinesfalls eine Selbstverständlichkeit war; sie finden auch ihre fiktionale Umsetzung in Hauptpersonen, die das Geschehen maßgeblich vorantreiben: Jenny Halliburtt in der Er­ zählung Die Blockadebrecher, die Entdeckungsreisende Paulina Bar­ nett in das Land der Pelze, die exzentrische Touristin Helena Camp­ bell in Der grüne Strahl, Freiheitskämpferin Andronika in Der Archipel in Flammen oder die bereits erwähnten Mistress Branican und Jeanne de Kermor in Der stolze Orinoko, um nur die wichtigs­ ten zu nennen. Darstellungen von Gefühlsäußerungen in Vernes Werk sind sel­ ten und, wo sie auftauchen, im höchsten Maße konventionell, was nicht nur mit der Vorgabe des Verlegers zu tun hat, dem es darauf ankam, erotische Komponenten in den Außergewöhnlichen Reisen so gering wie möglich zu halten, um nur keine Proteste von empör­ ten Eltern zu riskieren. Eine Äußerung in der Korrespondenz mit Hetzei, die sich auf die Arbeit am Roman Die Kinder des Kapitäns 107

Grant bezieht, verrät, wie weit der Schriftsteller sich in emotionale Blockaden verstiegen hatte, von denen seine Frühwerke noch weit­ gehend verschont geblieben waren: »Jetzt komme ich zum schwie­ rigsten Punkt. Ich bin sehr ungeschickt, wenn es darum geht, Lie­ besgefühle auszudrücken. Allein dieses Wort Liebe zu schreiben, jagt mir schon Angst ein. Vollkommen spüre ich meine Unbeholfenheit, und ich kann mich mühen, wie ich will, ohne etwas zu er­ reichen. Um diesen Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen, habe ich mir vorgenommen, mit derlei Szenen sehr zurückhaltend zu sein. Sie bitten mich, zwischendurch mal ein Herzenswort einzu­ legen! Nichts weiter! Aber es kommt mir nicht, dieses Herzenswort, sonst würde es ja schon lange dastehen!«118 Einiges spricht dafür, dass es dem Privatmenschen Verne nicht weniger schwer fiel, sei­ nen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, als dem Schriftsteller. Vergeblich bemühte er in der Korrespondenz seinen Sarkasmus, die Hochzeit als Trauerveranstaltung zu charakterisieren, als sein Freund und Nervenarzt Louis-Victor Mareé im März 1856 heira­ tete: »Ich wiederhole, ich war merkwürdig ergriffen und musste mich halb totlachen, was immer noch anhält. Niemals könnte ich mir vorstellen, in einer Zeremonie dieser Art mitzumachen, nie­ mals. Ich finde das einfach nur komisch. Und doch...«119 Und doch — diese zwei letzten Worte machen alles zunichte, was ihnen an Beteuerungen vorausgeht. Bereits ein paar Tage später war Jules zur Hochzeit eines anderen Freundes, Auguste Leiarge, des Schwagers seines Vetters Henri Garcet, als Trauzeuge und Brautführer in die picardische Haupt­ stadt Amiens eingeladen; als sich hier die Gelegenheit fand, eine unverheiratete Frau »mit Fehler« kennen zu lernen, wie er es sich im zitierten Brief an seine Mutter gewünscht hatte, da griff Jules zu. War es die große Liebe, die ihn zu Honorine Morel hinzog, oder nur eine seit langem erhoffte Gelegenheit, seiner seit Jahren beklagten Einsamkeit ein Ende zu setzen? Auf jeden Fall berich­ tete Jules vier Tage nach der Hochzeit seines Freundes, dass sich sein Aufenthalt in Amiens noch einige Tage hinziehen werde, und ganz im Gegensatz zu seinen sonstigen Gewohnheiten sparte er 108

nicht mit Komplimenten für seine Gastgeber: »Diese Familie Devianne120, in die Auguste eintritt, ist eine charmante Familie, die sich zusammensetzt aus einer jungen, sehr liebenswürdigen Witwe, der Schwester der Braut, die mir sehr glücklich scheint, und einem jungen Mann meines Alters, Börsenmakler in Amiens, der dort viel Geld verdient und der netteste Junge ist, den die Welt hervorge­ bracht hat. (...) Ich glaube, ich habe mich in die junge Witwe von 26 Jahren verliebt! Ach, warum nur hat sie zwei Kinder! Ich habe einfach kein Glück! Immer scheitere ich an Unmöglichkeiten der einen oder anderen Art; seit sieben oder acht Monaten ist sie Witwe; ihr Mann ist aufgrund einer Unvorsichtigkeit an Schwind­ sucht gestorben. Aber ich habe keine Ahnung, weshalb ich Dir dies alles erzähle. Was soll’s?«121 Am 25. November 1829 in Vesoul geboren, war Honorine Anne Hebe Dufraysse de Viane am 24. März 1851 eine erste Ehe mit dem Anwaltsschreiber Auguste Morel aus Doullens eingegangen und hatte von ihm zwei Töchter bekommen, Valentine und Suzanne, die inzwischen vier und zwei Jahre alt waren. Damit galt eine Witwe von Ende zwanzig nicht mehr unbedingt als eine gute Par­ tie, und so mochten Honorines Eltern eine zweite Ehe mit Jules Verne, der immerhin ein ausgebildeter Jurist war, als eine willkom­ mene Gelegenheit ins Auge fassen. Tatsächlich sollten sich die Er­ eignisse überschlagen, und noch während des Aufenthalts in Amiens scheint sich Jules zusammen mit Honorines Bruder ernst­ hafte Gedanken über die Zukunft gemacht zu haben. Anders ist es nicht zu verstehen, dass er den Eltern in Nantes eine mögliche Tä­ tigkeit an der Börse schmackhaft zu machen versuchte: »Diese Ar­ beit besteht darin, sich eine Kundschaft aus Freunden und Bekann­ ten aufzubauen, sich von ihnen mit ihren Rückkäufen und Wertgeschäften beauftragen zu lassen, sich täglich über die Ge­ schäfte auf dem Laufenden zu halten, indem man regelmäßig von ein bis drei Uhr die Börse besucht, was den Rest der Zeit voll­ kommen frei lässt.«122 Pierre Verne war wie vor den Kopf gestoßen, und das nicht zu Unrecht: Da hatte er seine Anwaltskanzlei 1855 schweren Herzens 109

einem E. Delpit abgetreten (der bei Pierre Verne mit über 30.000 F. verschuldet bleiben sollte und das Büro 1876 seinerseits einem Jean Kerguistel überließ), weil der Herr Sohn aus Gründen einer litera­ rischen Karriere, die keine Früchte abwarf, nicht zur Verfügung stand, und nun wollte derselbe nach neun Jahren alles aufgeben... »Ich will die Flinte ja gar nicht ins Korn werfen«, wehrte dieser den entsprechenden Vorwurf ab, »weit gefehlt; weniger denn je geht es darum, die Literatur aufzugeben, das ist eine Kunst, mit der ich mich identifiziert habe und die ich niemals sein lassen werde. (...) Ich bin in der Tat entschlossen, nicht mehr Vaudevilles und andere kleine Stücke zu schreiben; mein Ehrgeiz besteht darin, jedes Jahr eine bedeutende und konsequent durchgearbeitete Ko­ mödie abzuliefern; das ist das einzige Mittel, um anzukommen, ohne allzu viel zu produzieren und sich dabei zu verausgaben. (...) Aber ich muss eine Position erlangen, eine annehmbare Position, die akzeptabel selbst für Leute ist, die keine Künstler anerkennen; und die erste Gelegenheit zu heiraten, die werde ich am Schopfe packen; ich habe das Junggesellendasein über alle Maßen satt.«123 Allein, wie der Einstieg in die Börsenarbeit zu bewerkstelligen sei, darüber wurde man sich nicht so schnell einig. Pierre Verne schlug vor, Jules möge sich als Angestellter bei einem Börsenmak­ ler versuchen, um Einblick in das Geschäft zu bekommen, doch dieser wollte lieber den vierzigsten Anteil einer Maklerkanzlei kau­ fen — mit 50.000 E, die der Vater vorstrecken sollte — und berief sich dabei auf die Erfahrung von Ferdinand Deviane, dem zufolge zwei Wochen Börsenpraxis dem Geschäft förderlicher seien als ein halbes Jahr in einer subalternen Beschäftigung. Als die Dinge im November noch keine Fortschritte gemacht hatten, erwog der un­ geduldige Bräutigam in spe auf Honorines Vorschlag eine Anstel­ lung im Telegrafenamt, gab aber einer Beteiligung in Ferdinands Büro in Amiens den Vorzug, was aus Gründen der Schicklichkeit wieder verworfen wurde. Wie es scheint, folgte Jules Ende des Jahres dem Rat seines Vaters und arbeitete zunächst als Angestell­ ter eines Börsenspekulanten namens Giblain, bevor er sich als Zwischenhändler in das Maklerbüro von Fernand Eggly, 72, rue de 110

Provence, in Paris einkaufte und die dafür erforderliche Summe bis in die 6oer Jahre hinein abstotterte. Pierre Verne verlor allmählich alle Illusionen, die er sich über die Zukunft seiner Söhne gemacht hatte, denn zur selben Zeit war absehbar, dass auch der Zweitgebo­ rene den hart erkämpften Posten in der Marine verlassen würde und damit alle Aussichten auf eine eventuelle Rückkehr begrub. Der Eintritt ins Börsenwesen lag Mitte der 50er Jahre in der Luft und wurde von vielen Künstlern vollzogen, die von ihrer schriftstellerischen Arbeit nicht leben konnten. Im Falle Jules Ver­ nes verwundert es dennoch, denn sein Leben lang sollte er sich als für Finanzgeschäfte nicht sonderlich begabt erweisen. Zudem hatte er zwischen den Frühjahren 1855 und 1856 mit Les Heureux du jour eine anspruchsvolle Sittenkomödie — in Versen — verfasst, die die Börsenspekulation und den Theaterbetrieb in Paris thematisierte »Die Glücklichen des Tages«, damit sind gleichermaßen die Bör­ senspekulanten wie die Theaterautoren gemeint, die dem flüchti­ gen Erfolg nachlaufen und zur Erlangung eines materiellen Vorteils bereit sind, ihre künstlerischen und ethischen Ideale preiszugeben: Im mondänen Kursalon von Neris trifft der von allen als provin­ ziell belächelte Pierre Maupreux auf seinen Freund, den ebenso ehrgeizigen wie oberflächlichen Theaterautor Maurice Lambert, auf den zwielichtigen Bankier Montbrun mit seiner Konkubine Esther und, in Begleitung ihrer Mutter Madame de Gorr, auf seine verehrte Cousine Laurence. Montbrun hat Madame de Gorrs Ver­ mögen in Börsengeschäfte investiert, deren Gelingen unter ande­ rem von einer Niederlage der französischen Armee abhängt, und hofft durch eine mögliche Verbindung mit Laurence, den anstehen­ den Gewinn selber einstecken zu können. Pierre verachtet Mont­ brun als gewissenlosen Kriegsgewinnler, und tatsächlich lehnt Mme de Gorr nach der gemeinsamen Rückkehr nach Paris Mont­ bruns Bewerbung um die Hand ihrer Tochter ab. Bei der Urauf­ führung von Lamberts Stück mit dem doppeldeutigen Titel Das goldene Zeitalter treffen die unterschiedlichen Parteien aufeinander, nutzen die Aufführung zum Intrigieren sowie zur Verfolgung ihrer Partikularinteressen und lassen das ambitionierte Stück selbst prak111

tisch unbeachtet. Montbrun will mit einem kompromittierenden Brief von Laurence doch noch die Vermählung erzwingen, verliert aber schlagartig sein Interesse, als durch einen unerwarteten Sieg der französischen Armee Mme de Gorrs Vermögen verfällt. Um die Ehre seiner Cousine zu retten, fordert Maupreux den korrupten Bankier zum Duell und besiegt ihn schließlich zur allgemeinen Überraschung trotz dessen Überlegenheit. Mit seinem Vater hatte Jules bereits ausgiebig das Stück disku­ tiert und dessen Sonderstellung im bisherigen Œuvre unterstri­ chen: »Damit diese Komödie eine für alle Zeiten gültige Komödie ist, kann ich sie nicht mit einem bestimmten Krieg verbinden; ob es um Algier oder die Krim geht, spielt keine Rolle.«124 Vernes Pech war, dass andere Autoren wie François Ponsard ihm mit der Thematisierung des Börsenwesens vorausgegangen waren — allein 1856 wurden vier verschiedene Stücke aufgeführt, die das Wort Börse im Titel führten — und dass die Direktoren namhaften Auto­ ren gegenüber einem literarischen Nobody, als der der ehemalige Sekretär des Théâtre Lyrique immer noch galt, allemal den Vorzug gaben. Indes: Selbst wenn Jules Verne mit diesem Werk seinen Durchbruch auf der Bühne hätte feiern können, bliebe doch zu be­ zweifeln, ob der Ruhm dieser »für alle Zeiten gültigen Komödie« den Namen ihres Autors auch heute noch zu einem Begriff ma­ chen würde. Jenes andere Ziel, die lang ersehnte Vermählung, war mit dem Eintritt in das Finanzwesen immerhin in greifbare Nähe gerückt. Da Auguste Morel erst am 6. August 1855 gestorben war, musste eine Anstandsfrist von mindestens einem Jahr gewahrt werden, und noch ehe diese verstrichen war, hatte man sich auf eine Hoch­ zeit von Jules und Honorine geeinigt. Von September an wurden die Modalitäten geklärt, und da die Devianes die Reise nach Nan­ tes als zu anstrengend befanden und die Vernes nicht nach Amiens reisen wollten, vereinbarte man eine bescheidene Feier in Paris. Auguste Leiarge arrangierte eine kostengünstige Unterzeichnung des Ehevertrags am 8. Januar 1857 bei einem befreundeten Anwalt in Château-Thierry nordöstlich der Hauptstadt (was eine Ersparnis 112

von 500 F. bedeutete, wie Jules triumphierend dem Vater mitteilte), unterzeichnete zusammen mit Ferdinand Deviane als Honorines Trauzeuge, während auf Jules’ Seite Aristide Hignard und Henri Garcet ihren Beistand leisteten. Ein Guthaben von 50.000 F. in Ak­ tien, Obligationen und Schmuck wurde von der Braut eingebracht, das Vermögen des Bräutigams aus Möbeln, einem Klavier und seiner Bibliothek stellte einen Gesamtwert von 3.000 F. dar. Im Todesfall sollten Honorines Noten und Jules’ Bücher aus der Erb­ masse herausgenommen werden. Als Vorauszahlung auf die Erb­ schaft steuerte Pierre Verne 40.000 F. bei, die Jules aber zum Kauf eines Anteils in einem Maklerbüro verwenden sollte. Jules bestand darauf, die Zeremonie im engsten Familienkreis zu begehen, um die Kosten so gering wie möglich zu halten. So wurde am 10. Ja­ nuar nach der standesamtlichen und der kirchlichen Trauung in der erst zwei Jahre zuvor eröffneten Saint-Eugenie-Kirche ein beschei­ denes Essen in einem zweitklassigen Restaurant eingenommen, eine nüchterne Maßnahme im Vergleich zu den üppigen Feierlich­ keiten in Amiens, in deren Verlauf sich das Brautpaar kennen ge­ lernt hatte... Wer war Honorine Verne, die Gattin des künftigen Schriftstel­ lers? »Sie ist groß, gut gebaut, geschmackvoll gekleidet, hat eine blendende Haut, lächelnde Augen, spontanen Humor, neigt zu un­ erwarteten Antworten. Ihre Stimme, ein leichter Sopran, ist hin­ reißend«, beschreibt sie Allotte de la Fuye, die sie nie persönlich kennen gelernt hatte.125 Überraschend wenig wissen wir mit Ge­ wissheit: Mehr warmherzig als intellektuell veranlagt, mit einem gewissen Hang zu Luxus und Freude am gesellschaftlichen Um­ gang, bedacht auf ein gepflegtes Außeres, verhielt sie sich komple­ mentär zum zunehmend schroffen Auftreten ihres Gatten. Auf ihr naives Gemüt spielte Hetzei des Öfteren bis zur Gehässigkeit an und machte sich ein Vergnügen daraus, Honorine mit Geschenken zu überraschen. Ihr einfaches, emotionales Wesen, durch das sich Jules Verne anfangs zu ihr hingezogen gefühlt haben mochte, führte bald schon zu Konflikten und zwölfJahre nach der Hochzeit in eine Krise, der sich der überforderte Gatte mit häufigen Boots­ 113

touren und Seitensprüngen nach Paris entzog. War Honorine wirk­ lich das zeternde Nervenbündel, als das sie einige Biographen cha­ rakterisieren und als das sie im Märchen Die Abenteuer der Familie Raton in der Person von Ratonne dargestellt wird (da deren Gatte, der philosophische Raton, ebenso wie der unglückliche Raté ein­ deutig Selbstporträts des Schriftstellers sind)? »Ratonne aber war keine Philosophin. Versetzt euch nur in ihre Lage, wenn sie erst zur Dame und Edeldame befördert wäre und eine einfache Ratte zum Gemahl hätte, und dazu noch eine gichtige Ratte! Da würde sie ja vor Schmach vergehen! Und so war sie auch zänkischer und reiz­ barer als jemals zuvor, suchte Händel mit dem Gatten, schimpfte auf die Bediensteten, weil schlecht erteilte Anweisungen schlecht ausgeführt wurden, machte so dem ganzen Haus das Leben zur Hölle!«126 Andererseits muss man ihr ein gehöriges Maß an Selbst­ verleugnung zugestehen, da sie sich auf die wenig Wohlstand ver­ heißende Ehe eingelassen hatte und bald schon feststellen musste, dass nicht die Familie im Mittelpunkt des Interesses ihres An­ getrauten stand, sondern sein Selbstverwirklichungsdrang im Schreiben. Im Roman Hector Seroadac, den Verne dazu nutzte, eine Reihe von alten Rechnungen zu begleichen, und der ausgerechnet 1877 veröffentlicht wurde — als es seiner Frau gesundheitlich äußerst schlecht ging —, zitiert er aus einem Gedicht, das für Honorine ge­ schrieben und mit der Musik von Aristide Hignard 1857 veröffent­ licht worden war. Dabei handelt es sich um ein Rondeau, in dem der Autor nachweist, dass man keinen Liebesbeteuerungen, son­ dern nur der Liebe selbst trauen solle — worauf er am Ende selbst seinen Eid leistet, was die Pointe ausmacht. Im Roman wird die Ti­ telfigur als Verfasser präsentiert: »Dieses vorgebliche Rondeau war — unnütz es zu verschweigen — an die Adresse einer jungen Witwe gerichtet, die er inniglich zu heiraten wünschte, und in dem es ihm darauf ankam zu beweisen, dass, wenn man das Glück hatte, eine aller Achtung würdigen Person zu lieben, dies >so einfach wie nur möglich< zu geschehen habe.« Das Manuskript ist noch aufschluss­ reicher, indem es verrät, dass Hector Servadac »zu denen gehörte, 114

die mit größter Ungeduld darauf warteten, dass das erste Jahr ihrer Witwenschaft verstrich«127. Die Art, wie Verne das Gedicht präsen­ tiert, ist eine Demontage, die beides der Lächerlichkeit preisgibt — den Dichter genauso wie das Gedichtete. Die letzte wiedergege­ bene Strophe bleibt offen, weil das abschließende (und hier in Klammern hinzugefugte) Wort signifikanterweise unausgesprochen bleibt:

Glaubt meiner Treue, unaufhörlich! Darauf mein Ehrenwort, Dass ich Euch lieb’, das schwör’ ich Und zwar... [immerfort) Ein anderes Verspaar, das die Entfremdung unterstreicht und viel­ leicht allzu deutlich war, hatte Verne noch in den Druckfahnen eli­ miniert: »Die Zeit ist ein Schuft, er zerstört sukzessive / Die Schönheit, den Ruhm und auch die Liebe.« Eine emotionale Annäherung stellte sich erst als Reaktion auf Honorines schwere Krankheit wieder ein, an der sie zwischen 1876 und 1881 litt und die sie wiederholt an den Rand des Todes brachte. Danach ging Honorine offiziell ganz in der Rolle »der Frau an seiner Seite« auf, dem sie den Rücken für das Schaffen freiund ungebetene Besucher fernhielt. In dieser Eigenschaft wurde ihr sogar ein eigener Artikel in einer amerikanischen Frauenzeit­ schrift zuteil: »Man hat berichtet, dass Jules Verne bei der Vorberei­ tung einiger seiner Romane intensiv von seiner intelligenten und hingebungsvollen Frau unterstützt worden ist. Sie selber beeilte sich, dieses Gerücht zu widerlegen, indem sie betonte, niemals in irgendeiner Weise an der literarischen Arbeit ihres Gatten teilge­ habt zu haben. Ich zitiere ihre eigenen Worte zum Thema: Wäh­ rend ich inständig das Glück genieße, die Lebensgefährtin eines in­ tellektuellen Mannes zu sein, in dessen Laufbahn der Erfolg nicht zu wünschen übrig gelassen hat, habe ich nur die Freuden, aber nicht die Mühen seiner Schriftstellerexistenz geteilte Madame Verne ist immer eine sehr religiöse Frau gewesen und hat in den ¡¡5

letzten Jahren Zeit und Gedanken fast ausschließlich der katholi­ schen Kirche und der Wohltätigkeit gewidmet. Man sagt ihr nach, ihren Gatten und den Haushalt mit eisernem Regiment zu fuhren, doch ist dieser Despotismus ganz segensreicher Natur.«128 Honorines Urenkelin selbst überliefert, dass Honorine in der Haushaltsführung ausgesprochen anspruchsvoll war und aus diesem Grund die Haushälterin regelmäßig wechselte, die sie beschlossen hatte, einheitlich »Rose« zu nennen.129 Ob dieser Despotismus, der dann doch an die Schreckensherrschaft von Madame Ratonne er­ innert, auch vom Gatten als so segensreich empfunden wurde? Eine bittere Äußerung in einem Brief an den Bruder von 1893 mit Be­ zug auf dessen gescheiterte Ehe spricht eher dagegen: »Wenn Du allein bist in Nantes«, schrieb er an Paul, »dann weil Du es so ge­ wollt hast. Weshalb hast Du es zugelassen, das sich Deine Frau nach Paris abgesetzt hat? Auf jeden Fall haben Du und ich da eine rie­ sige und nicht wieder gut zu machende Dummheit begangen. Du weißt welche, ohne dass ich weiter darauf eingehen muss. Zerreiße meinen Brief. Aber welch ein Leben ohne diese Dummheit!«130

116

8.

Vordem Durchbruch (1857—186})

Zeugnisse aus der ersten Zeit des Zusammenlebens nach der Hochzeit sind nicht bekannt, wie überhaupt die Quellenlage für die entscheidenden Jahre bis 1863 dürftig ist. Suzanne und Valen­ tine kamen zunächst zu ihren Großeltern Morel nach Doullens, denn der frischgebackene Familienvater rechnete mit mindestens einem Jahr, um seine finanzielle Situation zu konsolidieren. Jules Verne hat die beiden Mädchen nie adoptiert, aus Gründen der Rücksichtnahme auf die Familie Morel, mit der man in freund­ schaftlicher Verbindung blieb. War es die wirtschaftliche Schieflage, der Wunsch nach einer besseren Unterbringung oder die wieder­ holte Notwendigkeit, vor Haussmanns Bauarbeiterkolonnen das Weite zu suchen? Die Vernes zeigten einen ausgeprägten Hang zum Wohnungswechsel: noch 1857 vom Boulevard Poissonnière Nr. 18 in die Rue Saint-Martin, im Jahr darauf in die Rue Fau­ bourg-Montmartre Nr. 54, 1861 zum Boulevard Magenta Nr. 45 (wo im selben Jahr der einzige gemeinsame Sohn Michel zur Welt kommen sollte), 1863 in die Passage Saulnier Nr. 18 — allesamt Adressen in mehr oder minder großer Nähe zur Börse und zur Nationalbibliothek, zwischen denen sich in diesen Jahren Vernes Tagesablauf abspielte. Die Bibliothek frequentierte er spätestens seit 1852, da sie ihm »unerschöpfliche Ressourcen«131 bot. Ende der 50er Jahre bildete sich die Gewohnheit aus, um fünf Uhr morgens aufzu­ stehen und bis zum Mittagessen um 11 Uhr zu schreiben, ehe Verne sich um 13 Uhr für zwei Stunden zur Börse begab und sich anschlie­ ßend um seine Klientel kümmerte oder in die Bibliothek ging. Der große Reichtum blieb aus, die Aufträge aus der Heimat, auf die Jules Verne gesetzt hatte, ebenfalls: »Die Geschäfte aus Nantes glänzen durch ihre Abwesenheit«, teilte er 1858 dem Vater mit und 117

fugte ärgerlich hinzu: »Oh, mein Vaterland! Oh, Heimat, die mich auf die Welt gebracht hat!«132 Onkel de Châteaubourg und Tante Tronson versorgten ihn mit Aufträgen, der Papa selbstverständlich auch, dessen Vermögen bei seinem Tod 1871 zu fast 30% (rund 128.500 F.) aus Aktien verschiedener Eisenbahngesellschaften be­ stand.133 Jules Verne blieb in engem Kontakt zu seinem »lieben Herrn Ferdinand«, schloss sich in Paris aber auch einer Gruppe an, die — in Anlehnung an die charakteristische Architektur des Bör­ sengebäudes — als »Gruppe vom Säulengang« bezeichnet wurde und eine Reihe von Schöngeistern versammelte. Der alte Freund Charles Wallut war darunter, die Librettisten William Busnach und Philippe Gille (1861 einer von Vernes Nachfolgern als Sekretär am Théâtre Lyrique), der Romancier Ernest Feydeau, der künftige Theaterdirektor Félix Duquesnel, der Rechtsanwalt Emile Lorois. Duquesnel, den Verne mit der Person des Dieners Joe in seinem Romanerstling Fünf Wochen im Ballon porträtieren sollte, erinnerte sich viele Jahre später: »Er blieb dort [an der Börse) einige Jahre, machte wenig Geschäfte, aber belustigte mit seinem scherzhaften und zur Ironie neigenden Geist eine Gruppe, die sich an der rech­ ten Seite des Säulengangs versammelte. (...) Oh, wir langweilten uns nicht (...) und Verne führte, wie gesagt, das große Wort. Er war ein angenehmer Begleiter, ein freundlicher und charmanter Ge­ sprächspartner, allerdings immer zum Spotten und Foppen aufge­ legt, allem gegenüber skeptisch, ausgenommen einer einzigen Sa­ che: Sein Leben lang bewahrte er durch seine bretonische Herkunft eine - wie soll ich mich ausdrücken — katholische Mentalität.«134 »Er war mittelgroß, recht schlank, mit eher breiten Schultern. »Ich habe die bretonische Statun, sagte er, »man kann seiner Her­ kunft nicht entkommen, und die Rassen haben ihre eigene Gestalt, die sie weiterreichen.< Er hatte ein etwas längliches Gesicht mit starkem Kinn, einen feinen, spöttischen Mund, eine geistreiche Nase mit ausgeprägten Nasenlöchern; die wuchernden Haare wa­ ren leicht gekräuselt und kastanienbraun, ebenso wie der spitz zu­ laufende Bart; aus seinen sehr hellen blauen Augen blitzte der Schalk. In allen Bereichen des Lebens hielt er an einem gewissen 118

Instinkt zum mutwilligen Argwohn fest. Als ich ihm das eines Ta­ ges mit der Bemerkung vorwarf, das sei ein Rest Provinzlertum, antwortete er: >Mag sein, ich bin eben ein provinzlerischer Pariser oder ein Pariser Provinzler ... wie du willst.Es schien nicht, dass er verheiratet [marié] war.< Sie haben das gelesen, darüber eine Reihe sehr richti­ ger Überlegungen angestellt und einen ganzen Roman geschrie­ ben. Im Text steht aber: >Es schien nicht, dass er Seemann [marin] ward Ob Negoro verheiratet ist oder nicht, steht gar nicht zur Debatte.«170 Derlei Irrtümer konnten sich aber auch als produktiv erweisen, denn mit einem ähnlichen Wortspiel lieferte Hetzei 1883 seinem Autor einen neuen Schluss zum Roman Keraban der Starrkopf, des­ sen Ende ihn ebenfalls nicht zufrieden gestellt hatte. Verne rea­ gierte mit kontrolliert begeisterter Zustimmung, wie auch im Fall von Robur der Eroberer, dessen Schlussformulierungen von Hetzei vorgeschlagen worden waren. Verne verstand es durchaus, seine Anliegen zu verteidigen und Kompromisse nur dort zu schließen, wo sie ihm vertretbar schie­ nen. Sicher gibt es auch Beispiele für Niederlagen auf ganzer Li­ nie, wie im Fall von Schwarz-Indien, einem Roman, der als utopi­ sche Schilderung eines unterirdischen England in zweitausend Jahren geplant war. Hetzei veranlasste mehrere Umarbeitungen und trug selber eine rührende Episode bei, sodass sich Verne im Ergeb­ nis nicht mehr wiederfand und resigniert Hetzei die Korrekturen der Druckfahnen überließ. Aus dem großen Wurf - von dem wir nicht wissen können, ob Verne seinem hohen Anspruch wirklich hätte gerecht werden können — war eine betuliche Bergarbeiter­ idylle geworden, doch handelt es sich hier um das krasseste Beispiel von Hetzeis literarischem Vampirismus. Die Korrespondenz von Romancier und Verleger sowie die Existenz der meisten Manu­ skripte erlauben, nachzuprüfen, welche Entwicklung Vernes Ro­ 152

mane vom ursprünglichen Plan bis zum fertigen Buch genommen haben. Bisweilen hatte Hetzei durchaus Recht, wenn er auf Kohä­ renz und Stringenz der Handlungsführung pochte oder auf eine bessere Charakterisierung der Personen bestand; bei anderer Gele­ genheit erweisen sich seine Forderungen als Folge einer zu flüchti­ gen Lektüre oder als Ausdruck notorischer Besserwisserei. Eine gründliche Analyse und Bewertung jedes Einzelfalls erscheint mir angemessener — und für den heutigen Leser auch wesentlich span­ nender —, als das pauschale Urteil zu fällen, Hetzeis Zensur habe Vernes Talent unterdrückt und verraten.171 Die Außergewöhnlichen Reisen hätten ohne Hetzeis Einfluss fraglos anders ausgesehen; so wie sie herausgegeben wurden und seit 150 Jahren ihr Publikum faszinieren, sind sie jedoch das Ergebnis der Auseinandersetzungen zwischen zwei Männern, die charakterlich und ideologisch unter­ schiedlicher kaum hätten sein können. Die Präsentation der Ma­ nuskripte als Erscheinungsformen des eigentlichen, weil »authenti­ scheren« Jules Verne verbietet sich, weil dieser gewohnt war, erst auf den Druckfahnen die Textpolitur auszuführen, an der ihm künst­ lerisch so viel gelegen war. Man mag es bedauern oder begrüßen: Sezieren nach vernescher Substanz und hetzelschem Beiwerk lässt sich das Ergebnis dieser eigentümlichen Zusammenarbeit mit letz­ ter Sicherheit nicht.

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10.

Ein Autorfindet zu sich selbst (1863-1867)

»Die Wege der Kreativität sind vielfältig - und bisweilen wunder­ bar. Ein ganz gewöhnlicher Mann, von ausgesprochen unspektaku­ lärer Herkunft, beliebiger Bildung und oberflächlicher Kultur, der nur über bescheidenen Ehrgeiz verfugt, (...) wacht eines Tags auf, um Jules Verne zu werden. (...) Und plötzlich, eins-zwei-drei, überschlagen einander die Glanzleistungen. Alle unverwirklicht ge­ bliebenen Ideen, alle unbewussten Vorbereitungen aus Jugendzei­ ten, die verbissene Disziplin der ersten Schriften tragen ihren Teil dazu bei. Denn nichts von dem, was er bislang geschaffen hatte, er­ laubte einen Vorgeschmack auf das faszinierende Werk, das im Be­ griff war zu entstehen.«172 Dermaßen überspitzt charakterisiert Herbert Lottman Jules Ver­ nes Situation zu Beginn des Jahres 1863 und trifft damit zumindest genau sein kometenartiges Auftauchen im Licht der Öffentlichkeit, die kaum etwas mit seinem Namen verbinden konnte und auf die Neuerscheinung entsprechend verwirrt reagierte: Für einen Tatsa­ chenbericht, der FünfWochen im Ballon auf der Titelseite vorgibt zu sein (im Untertitel: »Entdeckungsreise dreier Engländer durch Afrika, aufgeschrieben nach den Notizen des Dr. Fergusson«), las sich das Buch ausgesprochen spannend; für einen Roman allerdings war es ungewohnt präzise, detailliert und kenntnisreich geschrie­ ben, mit einer für die zeitgenössische Literatur unerhörten Einbin­ dung wissenschaftlicher Fakten. Auf genau diese Zweideutigkeit hatte Verne gesetzt, indem er Poes Prinzip der Wahrscheinlichkeit konsequent weitergeführt und seiner Phantasie allein auf der Grundlage von damals allgemein zugänglichen Quellen seriöser, authentischer Reiseberichte freien Lauf gelassen hatte. Eine Kurz­ besprechung aus einer Beilage zum Musée des Familles vom Juni 154

1863 kann man aus stilistischen Gründen Jules Verne selbst zu­ schreiben: »Der Bericht selbst ist erfunden, muss noch daraufhingewiesen werden? Aber die sachlichen Details, die auf die letzten Reisenden zurückgehen, sind so exakt, dass man aus der Lektüre des Buches ebenso viel, wenn nicht gar mehr lernen kann als aus der Samm­ lung des Bulletins der Geographischen Gesellschaft. Fügen wir hinzu, dass sie auch unendlich viel amüsanter ist. Herr J. Verne gehört zur Schule des amerikanischen Romanciers Edgard [sic] Poe. Wie jener versteht er es, Fiktion und Realität zu verbinden, und dies in einem Maße, dass man sich fragt, wo die eine beginnt und die andere en­ det. Er hat sogar den Vorzug, noch klarer und, wenn ich mich so ausdrücken kann, logischer in seinen Erfindungen zu sein.«173 Verne konnte sich umso mehr der Aufmerksamkeit seines Pub­ likums gewiss sein, als die Erforschung des Inneren Afrikas die all­ gemeine Öffentlichkeit fesselte; Ende der 50er Jahre waren die Engländer Speke, Burton und Grant aufgebrochen, um die Quellen des Nils zu erkunden, und fanden erst im Februar 1863 zurück in die Zivilisation. John Hanning Speke wurde in der Royal Geographical Society als Entdecker der Nilquellen gefeiert, wie im Ro­ man ein gewisser Dr. Samuel Fergusson, der ihm im Fesselballon »zuvorgekommen« war. Einen Monat nach seinem Debüt, am 27. Februar, trat Jules Verne einer französischen Autorenvereinigung bei, bezeichnender­ weise nicht der von Dumas, Balzac und Hugo und anderen ge­ gründeten Société des Gens de Lettres, sondern der Société des au­ teurs et compositeurs dramatiques (SACD) — so als wollte er sich demonstrativ die Möglichkeit einer Rückkehr auf die Bühne frei­ halten. Das ganze Jahr über arbeitete Verne jedoch an seinem Kapi­ tän Hatteras, der im Vergleich zum vorausgegangenen Roman mit einem erweiterten Personal aufwartete und sich vor die besondere Herausforderung gestellt sah, in der denkbar monotonen Land­ schaft der Arktis einen tragfähigen Spannungsbogen aufzubauen und diesen über zwei Bände aufrechtzuerhalten. Dies gelang Verne hervorragend, vielleicht weil er für den hohen Norden ebenfalls D5

von jeher eine besondere Vorliebe hegte, und auf jeden Fall besser als in dem motivisch interessanten, aber dramaturgisch schwachen Roman Paris im 20. Jahrhundert, den er unmittelbar im Anschluss an Hatteras einer Überarbeitung unterzog und Hetzei anbot. Ein Buch, in dem von Beginn an gegen eine Demokratisierung der Bildung polemisiert und auf äußerst plakative Weise die Wissen­ schaft gegen die Kunst ausgespielt wurde, musste Hetzei aber wie eine Verhöhnung seines verlegerischen Anliegens erscheinen; die Ablehnung war somit zwangsläufig und wurde von Verne wider­ standslos geschluckt. War es wirklich Naivität oder der Versuch, den Ruf zu widerlegen, ein Parteigänger des Laizismus zu sein, an dem Verne als gläubigem Katholik nicht gelegen sein konnte, der ihm bei der Thematik seiner Bücher und im hetzelschen Ambiente aber unweigerlich aufgedrückt wurde? Sein konservatives Gewissen konnte Verne schon bald darauf mit der Veröffentlichung des Kurzromans Le Comte de Chanteleine 1864 im Musée des Familles beruhigen, einer Episode aus der Großen Re­ volution, die den Widerstand der Anhänger von Monarchie und Klerus in der Bretagne und Vendée verklärt; für seine Dokumenta­ tion hatte Verne im Frühjahr 1862 eigens eine Rundreise durch die Bretagne unternommen; später zog er es vor, den umgekehrten Weg zu beschreiten und die Länder erst zu besuchen, nachdem er sie beschrieben hatte. Le Comte de Chanteleine, ins Deutsche bislang nicht übersetzt, ist einer der interessantesten Versuche Vernes auf historischem Gebiet; der Vorstoß, das Werk 1879 in die Außerge­ wöhnlichen Reisen einzubeziehen, scheiterte an Hetzeis Widerstand, der sich schlauerweise auf seinen monarchistischen Mitarbeiter, den Grafen de Gramont berief. Fügte sich Verne wieder einmal an­ standslos, rettete er die Substanz seines verschmähten Werks doch auf subtile Weise in einen anderen Roman, an dessen historischem Hintergrund Hetzei weniger zu bemängeln hatte: Nord gegen Süd erzählt von den Leiden des abolitionistischen Pflanzers Burbank in Florida, der seine Sklaven entlässt und sich und seine Familie damit den Schikanen der Sklavereibefürworter aussetzt. Pikanterweise übernimmt Burbank die Rolle des Grafen de Chanteleine - er j56

wohnt sogar in einer burgähnlichen Villa mit dem Namen »CastleHouse« —, während sein Widersacher Texar fast identisch ist mit dem schuftigen Revolutionär Karval aus dem früheren Werk. Die motivische Schnittstelle zwischen so unterschiedlichen Ereignissen wie der Revolution von 1789 und dem amerikanischen Sezessions­ krieg bildet als drittes historisches Ereignis ein weiterer französi­ scher Umsturzversuch, die Kommune von 1871, wie Verne Hetzei gegenüber selbst einräumte: »Texar und die Seinen, die Berserker im Verein mit dem Pöbel, das ist die Kommune, die sich in Jackson­ ville eingenistet hat. Sie haben den ehrenhaften Stadtrat gestürzt. Sie haben ihre Stelle mit Gewalt eingenommen. Ihre Handlungen können keinerlei Legalität beanspruchen. Dies muss als ausgemacht gelten.«174 Einige Zeilen später beruft sich Verne in einem Ver­ gleich ausdrücklich auf die Auseinandersetzungen zwischen Repu­ blikanern und Vendée — ein eindrucksvolles Beispiel für den histo­ rischen Karneval, den Verne in seinem Werk inszenierte, um seinen bretonischen Starrkopf letztlich doch gegenüber Hetzeis Wider­ stand durchzusetzen. Das Jahr 1863 verzeichnet einen weiteren Umzug der Familie Verne, diesmal in die Rue de la Fontaine 39, in den Pariser Vorort Auteuil, der Vernes Bedürfnis nach Ruhe entgegenkam, - und sein Engagement in der von Nadar gegründeten Gesellschaft zur För­ derung des Luftverkehrs mittels Apparaten, die schwerer sind als Luft. Immer wieder liest man, Verne sei erst durch Nadar auf die Idee gekommen, seinen Ballon-Roman zu schreiben, doch verhält es sich chronologisch umgekehrt. Darüber, ob Verne Nadar durch Hetzei oder schon früher kennen gelernt hat, erlauben uns die ver­ fügbaren Dokumente kein Urteil. Nadar, eigentlich Félix-Gaspard Tournachon, ist eine jener raren Persönlichkeiten, die durch ihre Vielseitigkeit beeindrucken und zugleich ihr ganzes Leben lang ihre geistige Unabhängigkeit, so­ ziales Engagement und menschliche Wärme zu bewahren und ein­ zusetzen verstehen. Unvergessen bleibt in der Kunstgeschichte, dass er den Impressionisten zu ihrer ersten großen Ausstellung für einen Monat sein altes Atelier zur Verfügung stellte - im April 1874, als L57

der traditionelle Kunstgeschmack diese Werke noch als Zeugnisse geistiger Verirrung abtat (auch Jules Verne sollte sie in seiner futu­ ristischen Propellerinsel als »dekadente Pest« bezeichnen). Nach einem abgebrochenen Medizinstudium hatte er sich zunächst als Journalist, Romancier und Karikaturist durchgeschlagen, bis er durch seinen Bruder Adrien 1853 auf die Idee kam, sich auf die Fo­ tografie zu verlegen, die ihn unsterblich machen sollte. Zwar war zu dieser Zeit in der Branche die Konkurrenz bereits beachtlich, und technisch sind insbesondere die Bilder der ersten Jahre alles andere als tadellos, doch Experimentierfreude und das persönliche Verhältnis, das ihn mit den meisten Porträtierten verband, machen seine Fotografien zu meisterhaften Charakterstudien, die damals wie heute einen unmittelbaren Zugang zu den Persönlichkeiten er­ lauben. Anders als sein Sohn und Nachfolger Paul verschmähte Nadar die Figuren des Establishments und beschränkte sich auf Künstler, Wissenschaftler und Bohemiens. Die Porträtreihe, die er im November 1874 von seinem Freund Jules Verne anlässlich der Uraufführung der Theaterfassung von In 80 Tagen um die Welt her­ stellte, gehört zu den wenigen, die den Dargestellten gelöst und sympathisch erscheinen lassen, weit entfernt von dem frostigen Misstrauen, mit dem dieser die Betrachter sonst auf Distanz zu hal­ ten bemüht war. Unbestritten hat Nadar Mitte der 60er Jahre Jules Vernes Entwicklung wichtige Impulse gegeben und ihn mögli­ cherweise mit einflussreichen Persönlichkeiten des wissenschaft­ lichen und gesellschaftlichen Lebens bekannt gemacht. Ständig auf der Suche nach neuen Eindrücken und Verfahren, fertigte Nadar 1858 im Ballon die ersten Luftaufnahmen an und re­ alisierte 1861/62 in einer für ihn typischen Umkehr der Extreme mit Kunstlicht gut hundert Fotografien der Pariser Katakomben und Kanalisation. Die Aufstiege im Ballon hatten ihn zu der Über­ zeugung gelangen lassen, dass mit dem Prinzip »leichter als Luft« dieselbe nicht zu erobern war. In Fünf Wochen im Ballon hatte sich Jules Verne mit einer reichlich nebulösen Erfindung aus der Affäre gezogen, die Fergusson das Auf- oder Absteigen erleichtern sollte, um günstige Luftströmungen zu nutzen, aber am Prinzip selbst

hatte das nichts geändert. Eine mögliche Alternative bestand in der Konstruktion von Flugapparaten, die schwerer als Luft waren und die Schwerkraft durch mechanische Kraft überwanden. Im Juli 1863 - also ein halbes Jahr nach der Veröffentlichung von Vernes Roman - empfing Nadar den Romancier Gabriel de la Landelle und den Ingenieur Gustave de Ponton d’Amecourt, die ihn mit der Erfindung kleiner Propellermaschinen in Begeisterung versetzten. Das bislang ungelöste Problem bestand darin, das Prinzip im gro­ ßen Maßstab umzusetzen, da sich Dampfmaschinen für den An­ trieb als zu schwer erwiesen. Umgehend organisierte Nadar in sei­ nem Atelier am Ende des Monats eine Versammlung, an der 500 Personen teilnahmen und in deren Anschluss die bereits erwähnte Gesellschaft mit jenem kaum umständlicher zu formulierenden Namen ins Leben gerufen wurde. Ein legendäres Manifest erschien am 31. Juli in La Presse. Im kleineren Kreis trafen sich die Mitglie­ der vom 15. Januar 1864 an jeden Freitag bei Nadar zu Diskussio­ nen. Am 20. Mai wählte die Gesellschaft Jules Verne zu ihrem Zen­ sor, über den Nadar später notierte: »Jules Verne — geboren in Nantes — dann Bühnenautor (...). Zwischendurch Börsenjobber oder Kulissier (keine Ahnung, ob da ein Unterschied besteht oder nicht), was ihn nicht davon abhielt, ein höchst praktizierender und sehr aufrichtiger Katholik zu sein.«175 Uber Vernes Religiosität scheint sich der bekennende Atheist und Sympathie für den Anarchismus hegende Nadar gerne lustig gemacht zu haben - was jener ihm übel nahm. In einem der letzten Briefe an Nadar erwiderte der Romancier auf dessen über­ schwängliche Freundschaftsbekundungen und seine Klagen über die schlechte Gesundheit in ernüchternd trockenem Ton: »Ich sehe, lieber Nadar, dass Du sehr angeschlagen bist, und Deine Lebensge­ fährtin ist es nicht weniger als Du! So ist, wie es scheint, das Leben! Aber als Du damals im Ballon aufgestiegen bist, weshalb nur hast Du Dich nicht bis zum Himmel erhoben? Vielleicht hättest Du dort die Antwort auf alle Fragen gefunden.«176 — »Man ist dankbar, wenn auch katholisch«, hatte Verne sich vierzig Jahre zuvor bei Nadar für eine Besprechung von Fünf Wochen im Ballon bedankt. ¡59

Um die Konstruktion einer Flugmaschine zu finanzieren, war Nadar 1863 auf die paradoxe Idee gekommen, einen riesigen Bal­ lon, den Géant, bauen zu lassen und gegen ein saftiges Entgelt spektakuläre Flüge zu veranstalten. Er assoziierte sich mit den da­ mals berühmtesten Ballonisten, den Gebrüdern Louis und Jules Godard — beide selbstredend hartnäckige Verfechter des Leichterals-Luft-Prinzips, deren gesamte Familie sich dem Ballonfahren verschrieben hatte -, und ließ in Rekordzeit einen Ballon von 25 Metern Durchmesser anfertigen (Vernes Victoria dagegen maß nur 15 Meter), der mit einer zweigeschossigen Gondel für bis zu 12 Passagiere ausgestattet wurde. Bei Nadar — so, und nicht »Ardan«, nennt ihn Jules Verne in den Manuskripten seiner beiden Mondromane von 1865 und 1870 musste eben alles die herkömmlichen Dimensionen überschreiten: »Dieser erstaunliche Mann lebte in einem unablässigen Hang zur Übertreibung und hatte das Alter der Superlative noch nicht hinter sich; die Gegenstände zeichneten sich auf seiner Netzhaut in maß­ losen Größenordnungen ab; was eine Aneinanderreihung giganti­ scher Einfälle zur Folge hatte: Alles sah er in vergrößertem Maß­ stab, ausgenommen Schwierigkeiten und Menschen.«177 Den Jungfernaufstieg des Géant am 4. Oktober erlebten auf dem Pariser Marsfeld 200.000 zahlende Gäste; eine Personenliste des Figaro vom selben Tag verrät, dass auch Jules Verne als Passagier vorgesehen war, was ein Zeugnis des mitfliegenden Journalisten Robert Mit­ chell bestätigt, der 1902 im Gaulois berichtete, der Schriftsteller habe sich kurz vor dem Start entschuldigen lassen.178 Nach fünf Stunden nahm der Aufstieg ein vorzeitiges Ende im umliegenden Meaux - die Gebrüder Godard hatten das Gewicht falsch einge­ schätzt, und aus einem klemmenden Ventil war zuviel Gas entwi­ chen. Nur 222 F. Profit hatte das aufwändige Spektakel eingebracht. Ein zweiter Aufstieg (für den sich Jules Verne gar nicht erst an­ gemeldet hatte) erfolgte am 18. Oktober. An ihm nahmen neun Personen teil, darunter ein Nachfahr der Gebrüder Montgolfier. In der Gondel kam es zu Unstimmigkeiten zwischen Nadar und den Godards, der Géant wurde von einem Sturm erfasst, über Belgien 160

Der Absturz des Géant bei Nienburg am 19. Oktober 1863

und die Niederlande nach Niedersachsen abgetrieben und stürzte in der Nähe von Nienburg in einem Sumpfgebiet bei Rethem ab. Die Passagiere kamen mit schmerzhaften Blessuren davon: »20 her­ beieilende Holzhauer befreieten endlich unter großen Anstrengun­ gen die Reisenden. (...) Gegen Abend sind diese hier in einem Gasthause untergebracht, zum Theil, und namentlich die Dame, sehr stark beschädigt.«179 Auch finanziell erwiesen sich diese Auf­ stiege als Desaster und wurden nach drei weiteren Versuchen im September 1865 endgültig eingestellt. An Nadar blieb ein Defizit von 82.000 F. hängen; die Unstimmigkeiten mit den Godards uferten in einen zermürbenden Zivilprozess aus, den diese am Ende verloren. Neben der gelungenen Hommage in Gestalt des Michel Ardan seiner Mondromane hatte Jules Verne Nadar mit einem Artikel im Musée des Familles unterstützt, der im Dezember 1863 erschien und versuchte, den Reinfall in einen Triumph umzuinterpretieren: »Dies werden Nadars wagemutige Aufstiege eines Tags erweisen: dass die Kunst, sich mit dem Ballon in die Luft zu erheben und in ihr zu bewegen, niemals eine praktikable Art der Fortbewegung sein kann, und die Nachwelt, wenn sie denn gerecht ist, wird ihm einen Gutteil ihres Dankes schulden. (...) Preisen wir deshalb den Helikopter an und nehmen als Devise die Devise von Nadar: Alles, was möglich ist, wird auch geschehen.«18° Ihre Spuren hinterließen die fruchtlosen Diskussionen in Nadars Atelier und die Erinnerung an diese Zeit in Vernes späteren Luftschiffer-Romanen Robur der Er­ oberer (1886) und Herr der Welt (1904). Den Sommer 1864 verbrachte Jules Verne zum ersten Mal seit drei Jahren wieder im familiären Kreis von Chantenay, wo man sei­ nen Erfolg gebührend feierte. Zum vierten Mal litt er unter einer Gesichtslähmung: »Eine Gesichtshälfte lebt, die andere ist tot. Die eine bewegt sich, die andere regt sich nicht mehr! Eine hübsche Si­ tuation. Auf der einen Seite zeige ich das Profil eines intelligenten Mannes (lassen Sie mir die Bezeichnung wegen der Antithese durchgehen), auf der anderen das eines Idioten.«181 Das trübte die Freude, hinderte ihn aber nicht an der Arbeit, genauer: an der Fer­ iez

tigstellung der Reise zum Mittelpunkt der Erde, von der Verne unbe­ dingt wollte, dass sie noch zum Jahresende erschien. Raymond Ducrest de Villeneuve erinnert sich an diese Zeit: »Er beginnt frühmorgens mit der Arbeit, wenn ihn nichts stört, und ar­ beitet auch tagsüber. Wenn wir Kinder in seiner Nähe Lärm ma­ chen, können wir uns darauf verlassen, dass er mit strengem Blick herauskommt, um uns mit einem seiner charmanten Späße zu be­ strafen, für die er bekannt ist und die uns zum Lachen bringen. Dann lassen wir unseren guten Onkel wieder in Frieden an seine Arbeit gehen, den wir nicht furchten, sondern so sehr lieben; denn wir wissen, dass das Schreiben und Fabulieren seine ganze Freude ausmachen, für ihn so wichtig ist wie das Atmen.«182 Wenig auf die äußere Erscheinung gebend, zog sich der »gute Onkel« den Ärger seiner Mutter zu, indem er sich nach der Arbeit im Morgenmantel unter die Familie mischte. Nach dem tragischen Pathos des Kapitäns Hatteras und der un­ freiwillig ins Komische umkippenden Melodramatik von Paris im 20. Jahrhundert eroberte sich Jules Verne mit der Reise zum Mittel­ punkt der Erde eine Haltung, die sehr viel stärker seinem schriftstel­ lerischen Temperament entsprach: die Ironie. Es war ein gelunge­ ner Schachzug, die Reise ausgerechnet aus der skeptischen Perspektive von Onkel Lidenbrocks Neffen Axel zu erzählen, der sich selber als Hasenfuß charakterisiert und im Gegensatz zum selbstvergessenen Wissenschaftler mit einem gehörigen Maß an Bodenhaftung versehen ist, der er es letztlich verdankt, nicht in den zum Selbstzweck verkommenen Erkenntnisdrang seines Onkels zu verfallen. Den Endpunkt für das Überschreiten gottgegebener Grenzen setzt, wie auch schon im Kapitän Hatteras, ein Vulkanaus­ bruch, in den Außergewöhnlichen Reisen Sinnbild einer unbezwing­ baren, ebenso zerstörerisch wie schöpferisch wirkenden Natur. Zu­ gleich erstaunt, wie Jules Verne — in einer kreativen Eruption nach der anderen und ohne Unterbrechung — sich der konstitutiven Themen seines Werks annahm, als habe der systematische Plan dazu im Innern des Börsenmaklers seit langem gegärt. Kaum war die Reise zum Mittelpunkt der Erde abgeschlossen, stürzte er sich im

September mit Elan und noch stärkerem satirischen Impetus auf die Eroberung des Mondes, selbstverständlich durch die Amerika­ ner, deren Geschäftstüchtigkeit allein die Bewältigung eines derart gigantomanischen Projekts zuzutrauen war. Wenn die Leser dann über vier Jahre auf die Fortsetzung des 1865 erschienenen Romans Von der Erde zum Mond warten mussten, lag das nur daran, dass sich Verne längst für andere Projekte begeisterte, sich auf eine Reise um die Welt begab und von der Erkundung der Tiefsee mitreißen ließ. Ende des Jahres 1864 wurde der Schriftsteller - vorgestellt vom Vorsitzenden Armand d’Avezac-Macaya und dem Geographen Louis Vivien de Saint-Martin - als Mitglied Nr. 710 in die respek­ table Geographische Gesellschaft von Paris aufgenommen, auf de­ ren monatlichen Sitzungen er all die Entdeckungsreisenden und Wissenschaftler kennen lernen konnte, die er als Kollegen des zer­ streuten Paganel in Die Kinder des Kapitäns Grant aufzählt. Das zeugt von seinem Ansehen und dürfte wesentlich zur Stärkung des Selbstbewusstseins beigetragen haben. So sieht man ihn beispiels­ weise im Protokoll der Sitzung vom 17. März 1865 im vertrauten Kreis der wissenschaftlichen Koryphäen: »Herr Richard Cortambert hinterlegt auf dem Schreibtisch, von Herrn Joseph [sic] Verne, zwei Werke mit den Titeln Fünf Wochen im Ballon und Reise zum Mittelpunkt der Erde. — Herr de Quatrefages fügt hinzu, dass Herr Verne momentan mit der Veröffentlichung eines Buches mit dem Titel Die Engländer am Nordpol beschäftigt ist, das nicht weniger Interesse verdient als die vorausgegangenen Werke desselben Au­ tors. — Herr Verne, der auf der Sitzung anwesend ist, entschuldigt sich vor der Gesellschaft für die Rolle, die die Phantasie in seinen Werken spielt.«183 Als auf der Sitzung vom 20. Dezember 1867 der Forschungsrei­ sende Gustave Lambert eine Subskription anregte, um tatsächlich eine Reise zum Nordpol durchzuführen, den er inmitten eines eis­ freien Meeres vermutete, ging er ausführlich auf Vernes Roman ein und schloss — auf charmante Art Realität und Fiktion vermengend — mit dem Appell: »Sollen Hatteras und Altamont allein den Nord­ 164

pol erblickt haben? Und so glaubwürdig ihre Aussagen auch sein mögen, sollen wir ihre Berichte nicht selber nachprüfen?«184 Aus der Expedition wurde nichts, weil Lambert im Deutsch-Fran­ zösischen Krieg fiel. — In den folgenden Jahren arbeitete Verne im Publikationsausschuss der Gesellschaft mit, hielt nach seiner Ame­ rikareise 1867, zum Spezialist für die Neue Welt erkoren, zwei (un­ veröffentlichte) Vorträge und nutzte im Übrigen die Reiseberichte des Bulletins für die Dokumentation seiner Romane. Hetzei schätzte seinen Schützling Verne nicht nur als Roman­ autor, sondern setzte ihn - zumindest in den ersten Jahren - gerne auch als Lektor für die Texte ein, die im Magasin oder als Bücher veröffentlicht werden sollten. Letztlich blieb jedoch immer das Ur­ teil von P.-J. Stahl entscheidend, und dies selbst im Fall von Jean Macé, der Hetzei nach einer vorläufigen Ablehnung seiner Reise durch das Land der Grammatik schrieb: »Ich habe Vernes Brief gele­ sen. Meiner Treu, das ist ein Mann mit Geschmack, der mich für die Ausfälle rächt, die Dir gegen meine anti-grammatikalische Phantasie im Kopfe hochgestiegen sind. Nach seinem und Deinem Brief gelange ich wieder zu meinem Urteil von gestern Abend zu­ rück. Schicke es mir zurück und lass uns für Dein Magasin nicht mehr davon sprechen. (...) Aber was für ein Mann von Ge­ schmack, dieser Verne! Welch ein Trost für mich in meinem Un­ glück.«185 Zum seriösen Ruf des Autors trug fraglos die ihrerzeit populäre Géographie illustrée de la France et de ses colonies bei, mit deren Abfas­ sung Hetzei Jules Verne beauftragte und die ihn das ganze Jahr 1867 in Atem hielt — ein extremes Arbeitspensum, das er nur durch seine eiserne Disziplin (und, nicht zu vergessen, Honorines Schreibkraft) bewältigen konnte. Hierbei handelt es sich um ein 800 Seiten star­ kes Nachschlagewerk im Großoktavformat. Der Historiker Laval­ lée, ein alter Gefolgsmann des Verlegers, hatte das Werk konzipiert, musste die Arbeit aber bald wegen einer Hirnerkrankung aufgeben, an der er am 27. August sterben sollte. Nachdem er sich zunächst nur schwer mit dem Gedanken abfmden konnte, sein letztes Werk an einen anderen Autor abzutreten, hatte er am 20. Dezember des ;65

Vorjahres Hetzei seine Zustimmung gegeben: »Ich heiße Ihre Ver­ mittlung gut, und es gefällt mir, Herrn Verne als Nachfolger zu ha­ ben. (...) Ich bin überzeugt davon, dass Herr Verne seine Sache besser macht als ich, weil er es auf eine jüngere und interessantere Art macht, wie alles, was er beginnt. Oh Jugend, du größte aller Tugenden!«186 Ab Mai 1867 erschien das Werk sukzessive in achtseitigen Liefe­ rungen, die jede für sich ein französisches Departement nach ein­ heitlichen Kriterien mit einer erschlagenden Faktenfülle, jeweils einer Illustration und einer Landkarte abhandelte; Verne nutzte als Quellen die bekannten Standardwerke und neuesten offiziellen Statistiken, aber es liegt in der Natur eines derartigen Werkes, dass es trotz allen Aufwandes dazu verurteilt ist, schnell wieder zu ver­ alten; bereits 1876 erschien das Buch in einer vom Ingenieur Edmond Dubail aktualisierten Fassung. Die Arbeit hatte Verne anfangs Spaß gemacht, weil sie seinem Hang zum pedantischen Aufzählen entgegenkam, war aber zunehmend zur Bürde geworden, da sie dem Fabulieren kaum Freiraum ließ. Allein in den Charakterisie­ rungen der nach Landstrichen unterschiedenen Bevölkerungen lie­ ßen sich bisweilen persönliche Zwischentöne unterbringen. So liest man über die Einwohner von Vernes bretonischer Heimat: »Sie haben zwar eine rege Intelligenz, aber Urteilsvermögen und gesunder Menschenverstand sind stärker ausgeprägt als Geist und Einbildungskraft, auch sind sie weniger Künstler denn Kunst­ freunde. Auf dem Lande haben sich die alten Bräuche in großer Reinheit erhalten; das Leben ist genüg- und geruhsam, die Fami­ lienverbundenheit stark ausgeprägt und die Gastfreundschaft sehr aufrichtig; die Trunksucht nimmt ständig ab, ebenso wie es Vorur­ teile und Aberglauben tun.«187 — Eine freundliche Art, um zum Ausdruck zu bringen, dass der Alkoholismus eines der bedrückendsten Probleme in der Bretagne war. Da Die Kinder des Kapitäns Grant, eine Reise um die Welt und neben der späteren Robinsonade Die geheimnisvolle Insel Vernes um­ fangreichster Roman, bis 1868 die Kolumnen des Magasin füllten, blieb der Romancier Verne seinem Publikum weiterhin gegenwär­ 166

tig, auch wenn dieser seine Außergewöhnlichen Reisen vorübergehend zur Seite gelegt hatte. Mit Freund Wallut schrieb er stattdessen in den wenigen freien Momenten, die ihm die Géographie ließ, an einer Opéra-bouffe im Stile Offenbachs über den Raub der Sabi­ nerinnen; weder ist bekannt, welcher Komponist mit der Musik beauftragt werden sollte, noch wissen wir, aus welchem Grund das Projekt unaufgeführt blieb. Nur der erste Akt ist im Manuskript er­ halten, und in ihm kündigt sich trotz - oder gerade wegen - aller Nähe zum Vorbild, der Mythenparodie in Offenbachs Schöner Helena (1864), eine ausgelassene, humorvolle Handlung an, in der die vernachlässigten Sabinerinnen ihre Entführung durch die Rö­ mer frohgemut zum Ehebruch zu nutzen gedenken. Verne bot das Werk den Bouffes Parisiens ausgerechnet zu einer Zeit an, als sich dieses Theater auf Stücke ohne Musikbegleitung verlegte... Und am Théâtre de l’Athénée seines Freundes William Busnach schei­ terte eine Inszenierung, weil Verne das Manuskript nicht wieder­ fand, das also vielleicht schon zu Lebzeiten verloren gegangen ist. Zwei andere Leidenschaften entdeckte Verne zur selben Zeit neu: die Liebe zum Meer und zum Reisen. Hetzei verbrachte re­ gelmäßig die ersten Monate des Jahres und den Sommer an der Côte d’Azur, in Cannes oder Monaco, und lud seinen Freund Jules Verne 1866 zu einem Aufenthalt im Hotel am GolfJuan ein. Aller Herrlichkeit der Natur zum Trotz machte Verne, der einen Ausflug in den Norden vorgezogen hätte, die Hitze zu schaffen. Wie viel mehr zog es ihn in die gemäßigten Zonen. Die Sommermonate der Jahre 1864 und 1865, die er zum Großteil bei den Eltern in Chantenay verbrachte, hatte Verne dazu genutzt, sich ein Boot zu mieten und zusammen mit Paul an der französischen Küste ent­ langzufahren, wie zu Jugendzeiten auf der Loire, nur im größeren Maßstab. Hatten sich früher die Eltern gesorgt, war es nunmehr Hetzei, der um die Gesundheit seines Zugpferdes bangte und in den nächsten Jahren hartnäckig alle Angebote Jules Vernes ausschlug, ihn auf seinen maritimen Ausflügen zu begleiten.

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11.

Amerika... und Preußen (1867—1871)

Eine Reise, die ihren Namen wahrhaftig verdiente, stand im Früh­ jahr 1867 an: eine Spritztour der beiden Brüder in die Vereinigten Staaten, noch dazu auf dem damals größten Dampfer, der Great Eastern. Die Überquerung des Atlantiks auf dem 210,9 m langen und 25,3 m breiten Ozeanriesen aus reinem Stahl, der zugleich mit Schraube und Schaufelrädern angetrieben wurde, war die eigent­ liche Attraktion des Unternehmens, das an die Rückkehr auf dem­ selben Schiff gebunden war, sodass für die Eroberung der Vereinig­ ten Staaten nur eine knappe Woche zur Verfügung stand. Mög­ licherweise war Verne die Überfahrt zu günstigeren Konditionen angeboten worden, unter der Voraussetzung, dass er sich mit einer enthusiastischen Beschreibung seiner Überquerung in der dem Schiffseigner gehörenden Zeitschrift Le Messager franco-américain (New York) als dankbar erwies und so die Werbetrommel mitrüh­ ren half. Denn das technische Wunderwerk, auf dem 4.000 Passa­ giere (oder 10.000 zusammengepferchte Soldaten) Platz fanden und der Kapitän seine Anweisungen telegrafisch an ein 400-köpfiges Personal weiterleiten musste, hatte sich als geharnischte Fehl­ planung erwiesen, die ihr geistiger Vater, der französischstämmige Ingenieur Isambard Brunei, nicht überlebt hatte. Unfälle und De­ fekte, besonders an den riesigen Schaufelrädern, begleiteten die ge­ samte Existenz des Riesen und hatten zum Konkurs der Herstel­ lerfirma schon vor dem Stapellauf geführt. Auch als Handelsschiff erwies sich die Great Eastern als nutzlos, weil aufgrund ihrer rie­ sigen Dimensionen nirgendwo die Voraussetzungen zum Be- und Entladen gewährleistet waren. Vorübergehend war das Schiff durch den Ingenieur Cyrus Field 1865/66 als Kabelleger genutzt worden und sollte nun die Touristen aus der Neuen Welt in Massen zur 168

Pariser Weltausstellung befördern; da die Passagiere jedoch aus­ blieben, mochten sich die Besitzer durch ein positives Zeugnis des französischen Romanciers einen Sinneswandel versprechen. Jules und Paul kamen am 18. März in Liverpool an, beobachte­ ten die umfangreichen Abreisevorbereitungen, wurden auch Zeu­ gen eines Unfalls, bei dem mehrere Seeleute verletzt wurden und einer starb; acht Tage Verspätung fielen an, weil »das Monster«, wie Verne an Hetzei schrieb, noch nicht zum Ablegen bereit war. Der Schriftsteller nahm es gelassen: »Seit wir Paris verlassen haben, schreiten mein Bruder und ich von Wunder zu Wunder, und ich versichere Ihnen, dass ich mich mit gutem Proviant für die Zu­ kunft eindecke.«188 Die Ungeheuer-Metaphorik taucht in vielen zeitgenössischen Texten über das Schiff auf und wird auch noch in unserer Zeit, die ganz andere Superlative hinter sich hat, nachvoll­ ziehbar, wenn man Fotografien von der gigantischen Baustelle be­ trachtet, auf welcher Ingenieur Brunei zwischen riesigen Ketten­ gliedern wie ein kleiner Käfer herumfuhrwerkt. — Stürmisches Wetter bewirkte, dass die Überfahrt länger dauerte als veranschlagt, und zeigte nachdrücklich die Grenzen der Technik auf: »Trotz ihrer Masse hat die Great Eastern auf dem Ozean wie eine Feder getanzt; (...) es war schrecklich«, erfuhr Hetzei, nachdem das Schiff leicht beschädigt am 9. April in New York eingelaufen war.189 Als Jules Verne zusammen mit seinem Bruder und nur 121 wei­ teren Passagieren amerikanischen Boden betrat, dürfte er im Un­ wissen darüber gewesen sein, dass ein berühmter Kollege von ihm hier im Hafen von New York als Zöllner arbeitete und vielleicht sogar sein Gepäck prüfte; dieser war früher selber zur See gefahren und hatte seine Erfahrungen in Reiseromanen verarbeitet - seinem Meisterwerk über die Jagd auf einen weißen Wal war allerdings keine Anerkennung zuteil geworden: Herman Melville hatte diese Stelle erst im Dezember 1866 angetreten und sollte sie bis 1885 ausfullen. Da Moby Dick nicht vor 1928 ins Französische übersetzt wurde, hatte der des Englischen unkundige Jules Verne dieses Epos der Meere selbst nicht lesen, aber in einer sehr ausführlichen Zu­ sammenfassung des Romans 1853 in der Revue des Deux Mondes 169

zur Kenntnis nehmen können; die dort eingehend beschriebene Figur des fanatischen Kapitäns Ahab scheint nicht ohne Einfluss auf die Konzeption des Kapitäns Hatteras geblieben zu sein, mögli­ cherweise auch auf den noch charismatischeren Kapitän Nemo aus 20.000 Meilen unter den Meeren. Zu Beginn dieses Romans wird ne­ ben anderen Seeungeheuern auch der weiße Wal Moby Dick zi­ tiert, doch die Schreibweise Mrtby in Manuskript und Vorabdruck beweist, dass Verne nicht an Melvilles Roman dachte, sondern den Namen einer von ihm genutzten Quelle, dem populärwissen­ schaftlichen Werk Les Mystères de l’océan (1864) von Arthur Man­ gin, entlehnt hatte. Jules und Paul Verne stiegen im renommierten Fifth-AvenueHotel ab (das als eines der ersten Hotels über Fahrstühle verfügte und in dem auch der Professor Aronnax aus 20.000 Meilen unter den Meeren wohnen sollte) und ließen es sich nicht nehmen, das Thea­ ter des Phineas Taylor Barnum zu besuchen, den die beiden bereits als Heranwachsende im Frühjahr 1845 während einer EuropaTournee in Nantes hatten sehen können. Jener geschäftstüchtige Impresario ließ keine - notfalls künstlich hergestellten - Ab­ sonderlichkeiten aus dem Menschen- und Tierreich aus, um mit ihrer Zurschaustellung sein Unterhaltungsimperium auszubauen; in Vernes ersten Romanen taucht er mit schöner Regelmäßigkeit als Verkörperung der amerikanischen Sensationsgier und ihres Zwangs zur ständigen Selbstüberbietung auf - Teil des Klischees vom wagemutigen, aber kulturlosen Amerikaner, das sich in Frank­ reich in den 30er Jahren herausgebildet hatte und das auch Verne eifrig bediente. Die anschließende Fahrt auf dem Hudson nach Albany inspirierte Verne zu der Erzählung Le Humbug über »ame­ rikanische Bräuche«, die er für das Musée des Familles bestimmt hatte, die aber unveröffentlicht blieb. Ohne eigentliche Handlung gibt sie die Reiseeindrücke eines durch die Vereinigten Staaten rei­ senden Franzosen wieder und verspottet in der Person des Ge­ schäftsmanns Meade Augustus Hopkins den genannten Zirkus­ direktor; zeitgenössische Meldungen über die Funde fossilierter Riesen (in deren Vermarktung auch Barnum involviert war und 170

die sich im Nachhinein als Fälschungen erwiesen) verarbeitet sie bei dieser Gelegenheit gleich mit. In den satirischen Ton mischen sich allerdings auch herablassende Äußerungen über die Vertreter der »schwarzen Rasse«, die Verne schon in Fünf Wochen im Ballon und vielen seiner folgenden Romane als »schwanzlose Affen« be­ zeichnet, um humoristische Effekte zu erzielen. So geschmacklos diese Darstellung mit dem Ziel der Erheiterung erscheint, ist Vernes fraglos vorhandener Rassismus vor dem zeitgenössischen Hintergrund jedoch moderat und wird regelmäßig durch christ­ lich-humanistisch geprägte Zwischentöne relativiert, die keines­ wegs selbstverständlich und weit von der rassistischen Ideologie entfernt sind, mit der sein Landsmann Gobineau in seiner Schrift Über die Ungleichheit der menschlichen Rassen (1853—55) einen ver­ hängnisvollen Einfluss auf die Rechtfertigung für das perfektio­ nierte Massenmorden des 20. Jahrhunderts ausüben sollte. Bevor die Great Eastern am 16. April wieder in Richtung Brest ablegte, reisten die Verne-Brüder im Dampfschiff Saint-john den Hudson-River hinauf bis nach Albany, wo sie den Zug zur kana­ dischen Grenze nahmen und morgens um zwei Uhr die Niagara­ fälle erreichten. Das Schauspiel der Naturgewalten begeisterte den Romancier so sehr, dass er es zum Höhe- und Schlusspunkt von vier seiner künftigen Romane nutzen sollte, nicht nur in Eine schwimmende Stadt, der literarischen Umsetzung seiner AmerikaReise, auch in Robur der Eroberer, Familie ohne Namen und dem letz­ ten vollendeten Roman Herr der Welt. Zeitlebens bedauerte es Verne, die USA nicht mehr wiedergesehen zu haben; eine Anfang der 80er Jahre ins Auge gefasste Tournee scheiterte, weil Lesungen in französischer Sprache in den Vereinigten Staaten keine Aussicht auf Erfolg hatten. Die Rückreise erfolgte ohne besondere Vorkommnisse, mit wiederum nur 197 Passagieren an Bord, unter denen Verne ausrei­ chend Gelegenheit hatte, den Ingenieur und Mitbesitzer des Schif­ fes Cyrus Field kennen zu lernen, von dessen Persönlichkeit der Schriftsteller so beeindruckt war, dass er lebenslang mit ihm in Kontakt blieb. Er nahm ihn zum Vorbild des Ingenieurs Cyrus 171

Smith (Die geheimnisvolle Insel) und von Cyrus BikerstafF, dem Gouverneur von Standard-Island im Roman Die Propellerinsel, einer ins Absurde gesteigerten Great Eastern. Bruneis letztes Werk wurde nach Jahren des Verrottens bis 1891 abgewrackt. Der hypotheti­ schen Verpflichtung einer für das Schiff vorteilhaften Werbung ent­ ledigte sich Verne mit vollendeter Scheinheiligkeit: »Man kann sagen, dass trotz schlechten Wetters und Zyklonen die Great Eastern inmitten unablässiger Feste gereist ist; Konzerte, an denen sich die Passagiere selbst beteiligten, Tänze, Lesungen, Vorträge des Kapitäns Anderson über das Transatlantische Kabel, interessante Berichte von Herrn Du Chaillu über seine wagemuti­ gen Erkundungen Äquatorialafrikas, komische Aufführungen der Matrosen haben an jedem Abend zum >Entertainment< beigetra­ gen. Langeweile hat kein Stadtrecht an Bord der Great Eastern, von der sie verbannt ist wie die Seekrankheit. (...) Ich habe vor, nach meiner Rückkehr nach Frankreich einen ganzen Band dem Stu­ dium und der Beschreibung der Great Eastern zu widmen; aber ich wollte nicht länger warten, um hier das Tribut einer angemessenen Dankbarkeit zu zollen. Es ist ein bewunderungswürdiges Schiff, ohne Rivalen auf der ganzen Welt.«190 »Was die Great Eastern betrifft«, erfuhr der Vater dagegen weitaus nüchterner, »so ist die Angelegenheit vollständig abgehakt; ich glaube sogar, dass der Konkurs schon verkündet worden ist.«191 Und Hetzei teilte er mit, dass er die Vorträge von Paul Du Chaillu ziemlich abgeschmackt gefunden hatte: »In Paris hat man ihn nie gemocht, allenfalls ist er nach Gabun gereist, und selbst wenn er dort war, glaube ich nicht, dass er einen anderen Affen zu sehen bekommen hat als sich selbst.«192 Der angekündigte Roman Eine schwimmende Stadt erschien im Sommer 1870 als Vorabdruck im Journal des débats politiques et littéraires, in dem zuvor schon die bei­ den Mondromane abgedruckt worden waren. Im Roman schmückt Jules Verne die eigenen Erfahrungen mit einer Parallelhandlung aus, die an den englischen Schauerroman erinnert und konkret an Poes Erzählung Die längliche Kiste (1844) angelehnt ist - eine Kom­ bination, die befremden mag, aber durchaus in sich stimmig ist, 172

stand die Great Eastern durch ihre Unglücke doch in dem Ruf, »verdammt« zu sein, und war zum Gegenstand von Legenden ge­ worden — ein Modellfall dafür, wie die moderne Technik zur Schaffung neuer Mythen beitrug. Hetzei gab »seinem Alten« deut­ lich zu verstehen, dass er dieses Buch nicht für eines seiner besten hielt. »Mein lieber Ferdinand«, hatte Honorine ihrem Bruder am Tag von Jules’ Abreise aus Amerika geschrieben, »ich bin so allein und fühle mich noch isolierter als vor Deinem Besuch. Heute am 16. soll Jules sich einschiffen, um zu uns heimzukehren, aber ich fürchte, dass ich ihn nicht vor dem i. oder 2. Mai sehen werde, sie sollen schlechtes Wetter haben, hat man vorausgesagt; ich würde endlich gerne aller Beunruhigung entledigt sein und Jules wieder bei mir haben.«193 Nach ihrer Ankunft in Brest am 28. April be­ suchten die Brüder Verne in der Stadt zunächst ihre Schwester Anna, die 1858 den Fregattenkapitän Ange Ducrest de Villeneuve geheiratet hatte, sahen bei dieser Gelegenheit auch Marie mit ih-

Das Aquarium der Weltausstellung von 1867 173

Strandpromenade von Le Crotoy

rem Mann Léon Guillon wieder und bestaunten anschließend die zweite Pariser Weltausstellung: Paul interessierte sich für die Ma­ schinen und Gemälde, während Jules an den Aquarien großen Gefallen fand, die ihm Anschauungsmaterial für seinen nächsten Roman boten. Ein imposantes Aquarium hatte es schon in der Ausstellung von 1855 gegeben, aber den Betrachtern von 1867 bot sich eine Steigerung ins Grandiose: Direkt neben dem Treibhaus, mit Blick auf den Pavillon der Kaiserin, war eine künstliche Grotte errichtet worden, mit basaltartigen, seetangbehangenen Säulen, in deren Innern man nicht nur in panoramahafter Rundumschau, sondern auch über den Köpfen am unterseeischen Leben teilhaben konnte. Zunächst aber musste das harte Pensum der Géographie be­ wältigt werden, und so kehrte der Schriftsteller Anfangjuli mit sei­ ner Familie nach Le Crotoy zurück, wo er schon seit 1865 ein Haus für die Sommermonate angemietet hatte. »Le Crotoy (1500 Einw.)«, das war »ein charmanter kleiner Meerhafen, auf einer Halbinsel ge­ legen, die in die Somme-Bucht hineinreicht, der einige Überbleib­ sel seines befestigten Walls und die Ruinen des Schlosses erhalten 174

hat, in dem Johanna von Orléans 1431 von den Engländern festge­ halten wurde.«194 Ihr literarisches Denkmal setzte Jules Verne der Somme-Bucht mit der Bucht der Union seines Romans Die ge­ heimnisvolle Insel, die sich eng an den realen geographischen Gege­ benheiten der Umgebung orientiert. Das Haus mit dem Namen »Einsamkeit«, der Jules, aber kaum Honorine gefallen haben dürfte, war selbst denkbar bescheiden, hatte einen kleinen Vorgarten und bot einen herrlichen Blick aufs Meer, der den Schriftsteller in Be­ geisterung versetzte. Wiederholt lud er Hetzei ein, mit ihm die fri­ sche Meerluft zu genießen. Hetzei aber zierte sich und zog, wie er zu verstehen gab, das bergige Festland vor: »Ja, mein lieber Hetzei«, gestand ihm Verne zu, »Sie haben Ihre Berge, Täler und Wälder, aber nicht das Meer, das jetzt wieder mit schrecklicher Macht an­ steigt und die ganze Somme-Bucht mit seinen Fluten und seinem Brausen füllt. Wahr ist: Alles in der Natur ist schön, und wenn sich nur ein wenig Ärmelkanal in den Schwarzwald verirren würde, gäbe es nichts weiter zu wünschen.«195 So gab sich der Verleger mit den Sardinen zufrieden, die ihm Jules Verne als Gruß von der Küste 175

zukommen ließ. Am Strand, versicherte Verne, fühlten sich die Kinder pudelwohl — nur was Honorine von den monatelangen Aufenthalten in dem kleinen Nest hielt, darüber erfahren wir nichts aus den Briefen. Den Verleger beschäftigten zu dieser Zeit gerade ganz andere Gedanken: Er war dabei, sein Geschäft in eine Kommanditgesell­ schaft umzuorganisieren und das Kapital zu erweitern, was drin­ gend nötig war. Am 30. September 1868 verwandelte sich das Haus J. Hetzei in die Gesellschaft}. Hetzei & Cie.; der Eigenanteil des Verlegers von 600.000 E war um 350.000 E von 18 verschiedenen Gesellschaftern aufgestockt worden, zu denen vor allem Freunde zählten, darunter Jean Macé, der Bankier Joannès Guilloteaux (bei dem Verne über Jahre hinweg verschuldet war), der Journalist und Politiker Edmond Adam, in dessen Villa Bruyères am Mittelmeer Hetzei regelmäßig seinen Neujahrsurlaub verlebte. Im Hafen von Le Crotoy hatte der Schriftsteller die Bekannt­ schaft mit dem ehemaligen Quartiermeister Alexandre Delong ge­ macht, der ein Fischerboot besaß und seinen neuen Freund öfter mit auf Reisen nahm. Noch im Sommer 1867 fiel der Entschluss, sich in Le Crotoy ein kleines Segelboot bauen zu lassen; schon im April 1868 erfolgte die Schiffstaufe durch den kleinen Michel, den man im Dorf wegen seines ewigen Geschreis als »Schrecken von Le Crotoy« bezeichnete. »Ich bin verliebt in diesen Haufen Nägel und Bretter«, schrieb Jules Verne, »wie man es mit zwanzig Jahren in seine Geliebte ist. Und ihm werde ich sogar noch treuer sein!«196 Exakt acht Jahre hielt diese Treue, bis Jules Verne seine Saint-Michel durch ein größeres Segelboot gleichen Namens ersetzen ließ. Auf keinem seiner drei Schiffe verbrachte Verne jedoch mehr Zeit und ging in engere Tuchfühlung zur See als auf dieser knapp 9 Meter langen und 12 Tonnen schweren Nussschale, in der neben ihm und Sandre (Delong), dessen Sohn oder drei anderen Seeleuten namens Alfred Bulot, Paul Bos und Clère gerade noch ein weiterer Beglei­ ter Platz fand.197 Hier entstand nach der spröden Géographie ein Roman, den ein Brief der Schriftstellerin George Sand angeregt hatte, die sich für die Lektüre von Fünf Wochen im Ballon und der 276

Reise zum Mittelpunkt der Erde bedankte: »Ich hoffe, Sie mögen uns bald in die Tiefe der Meere führen und Ihre Personen in jenen Tauchapparaten reisen lassen, die Ihr Wissen und Ihre Phantasie sich wohl zu vervollkommnen erlauben könnten.«198 Dieser Auf­ forderung war ein erster Entwurf während des Sommeraufenthalts in Chantenay 1866 gefolgt, dessen Ausarbeitung jedoch durch das Geographiewerk ausgesetzt worden war. 20.000 Meilen unter den Meeren schrieb Jules Verne zwischen Fe­ bruar 1868 und Juli 1869, größtenteils in seinem »schwimmenden Arbeitszimmer« auf Seereisen entlang der französischen Küste, die ihn aber auch bis nach Spanien und mehrmals nach England führ­ ten; bereits am 5. September 1867 hatte er im Magasin ankündigen lassen, er lege »letzte Hand an ein Buch, das das außergewöhnlich­ ste von allen sein wird, eine Reise unter den Wassern«m, doch war dies lediglich eine Maßnahme, um dem Vorwurf zuvorzukommen, einen Roman zu plagiieren, der seit Mai desselben Jahres in der Zeitung Le Petit Journal abgedruckt wurde und seinerseits eine U-Boot-Reise schilderte, die Aventures extraordinaires du savant Trinitus von Aristide Roger. Dieser Zufall beweist, dass das Thema einer Reise unter dem Meer in der Luft lag; seit der Weltausstel­ lung war die Unterwasserwelt regelrecht in Mode gekommen und hatte in einer Seefahrtausstellung in Le Havre im Mai 1868 (die der Schriftsteller zusammen mit seinem Bruder besuchte) erneut Niederschlag gefunden. Im selben Jahr 1868 hatte Hetzei zwei ent­ sprechende Bücher veröffentlicht: Léon Renards Le Fond de la mer und Le Monde sous-marin des beliebten Sachbuchautorengespanns Frédéric Zürcher und Elie Margollé, Bücher, in denen auch die Entwicklung von U-Booten und Taucherglocken und -anzügen referiert wurde. Jules Verne benötigte für seine Recherchen le­ diglich diese und einige weitere Quellen, etwa Frédols prächtig illustriertes Standardwerk Le Monde de la mer (1865); das Übrige — und Wesentliche — fügte seine Phantasie hinzu. »Ach, mein lieber Freund, welch ein Buch, wenn es mir gelingen sollte! Was für schöne Dinge ich auf dem Meer beim Kreuzen auf der St-Michel gefunden habe! Das Schwierigste ist, es so wahrscheinlich zu ge177

staken, dass sich alle Welt darauf einlassen möchte.«200 Als der Win­ ter einbrach und den Seebären zwang, sich vorübergehend wieder — diesmal bei den Eltern in Nantes — in eine Landratte zu verwan­ deln, nahm Verne sich zunächst ein ganz anderes Thema vor: »Ich habe den zweiten Band von Zwanzigtausend Meilen unter den Meeren noch nicht neu geschrieben. Ich habe mich in den zweiten Band vom Mond gestürzt, das heißt in die Rückkehr unserer wackeren Rei­ senden, und stecke nun so tief darin, dass ich den Kopf nicht mehr rausziehen kann. (...) Was für interessante und unerwartete Dinge dieses Thema bereit hält, was für Situationen, die man nicht vermuten würde, wenn man nicht, wie ich, in dem Geschoss wohnt!«201 Wie schön wäre das Leben gewesen, hätte es nur aus der Schrei­ berei bestanden; daneben gab es aber auch noch die Familie, und die war verbunden mit Krankheiten, Lärm und Scherereien. Jules Verne lavierte zwischen Nantes, Amiens und Paris, bereitete zudem für Mitte März 1869 den vollständigen Umzug nach Le Crotoy vor; an die Stelle der teuren Wohnung in der Pariser Rue de Sèvres, in welche die Familie in der Zwischenzeit umgezogen war, trat als alternativer Anlaufort eine Wohnung am Boulevard SaintCharles Nr. 3 im vertrauten Amiens (das auf halber Strecke zwi­ schen Le Crotoy und Paris lag). Der Umzug fand unter denkbar schlechten Voraussetzungen statt: Tante Caroline de Chateaubourg lag in Nantes im Sterben, in Amiens drohte ein Erbschaftsstreit wegen der Hinterlassenschaft eines Onkels von Honorine auszubrechen, die Handwerker, die das Haus in Le Crotoy ausbesserten, bereiteten Ärger, Michel litt seit Wochen an Fieber. Und das Ungemach setzte sich fort: Kaum wa­ ren im April die größten organisatorischen Übel überwunden, ver­ suchte Hetzei, seinen Autor zu bewegen, den zweiten Band der 20.000 Meilen zu einem dritten aufzublähen, indem er einfach noch eine gewisse Anzahl von Episoden dazuerfinden möge. Hetzei schlug zum Beispiel einen kleinen Chinesen vor, der nach einem Schiffbruch an Bord der Nautilus aufgenommen worden sei, der niemanden verstehe und der von niemandem verstanden werde...

Verne, der »niemals improvisierte«, wie er wiederholt zu verstehen gab, sah sich weder im Stande, belustigende Episoden dieser Art einzubauen, noch ging er auf die Forderung nach Erweiterung des Umfangs ein. Daraufhin verlagerte sich die Diskussion wochenlang auf die Person des Kapitäns Nemo und die Motivation für sein Schiffeversenken. Der Schriftsteller war genervt, und dem Arger entzog er sich am liebsten durch Ausflüge auf der Saint-Michel, wann immer das Wet­ ter es zuließ. Suzanne und Valentine wurden in einer Klosterschule bei Abbeville in der Nähe von Amiens erzogen, und so durfte sich Honorine allein um den Schreihals Michel kümmern, dessen Ge­ sundheitszustand unablässig Anlass zur Sorge gab. »Die Gesundheit dieses Kindes hat uns schreckliche Zeiten durchleben lassen«, schrieb Verne Hetzei 1869. »Er ist nicht gut erzogen, das gebe ich zu, aber wie wollen Sie einem Knaben gegenüber streng sein oder ihn eiserne Regeln einhalten lassen, wenn er alle Tage Fieber hat!«202 Trotzdem lieferten die Sorgen um den Sohn nur einen be­ scheidenen Vorgeschmack auf die Probleme, die Michel seiner Fa­ milie in den kommenden Jahren bereiten sollte. Daran war der Schriftsteller durch seine Nachlässigkeit und Ungeduld nicht un­ schuldig, und er war sich dessen auch bewusst. Als er später ver­ suchte, Michels Vertrauen durch gemeinsame Bootsausflüge zu­ rückzugewinnen und auf seine Launen einzugehen, da war es bereits zu spät. Delongs Sohn Emile erinnerte sich, wie Michel bei einem Ausflug vor Dieppe aus Unachtsamkeit das Ankertau löste und das Schiff abtreiben ließ. Der Schriftsteller, schäumend vor Wut, wollte seinen Sohn zur Strafe ins Wasser werfen und musste durch seine Matrosen beruhigt werden, denen es gelang, die maß­ lose Züchtigung in eine Tracht Prügel zu verwandeln.203 Ob er­ funden oder nicht, eine entsprechende Episode mit einem gelösten Ankertau bildete 1888 den Ausgangspunkt des Romans Zwei Jahre Ferien. Das Jahr 1869 hatte mit der Arbeit an 20.000 Meilen unter den Meeren und der Reise um den Mond begonnen, es endete mit einem Werk, das sich Verne seit 1864 zu schreiben verpflichtet hatte, einer 179

vierbändigen Entdeckung der Erde. Geschichte der großen Reisen und der großen Reisenden, von der zunächst nur der erste Band fertig gestellt werden sollte und der die Entdeckungsgeschichte vom Karthager Hanno bis Christoph Kolumbus nacherzählt. Es existiert ein un­ veröffentlichtes Einleitungskapitel über die Forschungsreisenden aus Bibel und griechischer Mythologie, das durch seinen orthodo­ xen Ton erstaunt und in dem Verne Adam zum Urahn aller Ro­ binsons macht, nachdem ihn das Flammenschwert des Erzengels aus dem irdischen Paradies vertrieben hat. Nichts lag Verne ferner, als sich auf die Seite Darwins zu schlagen, der seit 1859 versuchte, die Entwicklung des Lebens durch Evolution und natürliche Aus­ lese zu erklären, in die auch der Mensch eingebunden gewesen sei, was der kirchlichen Lehrmeinung eines einmaligen Schöpfungsak­ tes widersprach und in Wissenschaft und Gesellschaft wütende Pro­ teste auslöste. Vernes Ausführung folgt der an Lamarck orientierten Darstellung des populärwissenschaftlichen Autors Louis Figuier in La Terre avant le déluge (1863), einem Standardwerk, das ihm schon als Inspirationsquelle für seine Reise zum Mittelpunkt der Erde ge­ dient hatte. — Höchstens 10.000 Exemplare verkauften sich von Ver­ nes Geschichtswerk innerhalb von 8 Jahren, ehe Hetzei es neu be­ arbeiten ließ und von 1878 an in einer sechsbändigen Fassung herausbrachte, die die Entdeckungsgeschichte bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts nachzeichnet. Den Winter 1869/70 verbrachten die Vernes in Amiens. Kaum war im Februar der erste Band der Entdeckung der Erde abgeschlos­ sen, wurde das seit 1865 gehegte Projekt eines »herrlichen Robin­ son« in Angriff genommen, in dem alles anders sein sollte als das, was die Gattung bislang hervorgebracht hatte. Das Ergebnis, Onkel Robinson, erwies sich im Sommer - mit der Fertigstellung des ers­ ten von drei geplanten Bänden - als ein schwacher Abklatsch des Schweizer Robinson mit argen Anlaufschwierigkeiten und wenig überzeugendem Personal, sodass Hetzei das Buch blockierte und im März darauf Jean Macé zu lesen gab. »Der Anfang muss ganz neu geschrieben werden«, urteilte dieser. »[Verne] hatte mir das Thema erläutert: ein wissenschaftlicher Robinson; die Idee war her180

vorragend, und er ist ganz der Mann, daraus eine wunderbare Sache zu machen. (...) Nach einem neuen Anlauf wird er zu seinem ge­ wohnten Schwung und zu seinem guten Humor zurückfmden und den alten Robinson und all seine Nachfolger in Grund und Boden stampfen. Dafür garantiere ich.«204 Möglich auch, dass Verne im ersten Halbjahr 1870 die rechte Lust am Schreiben fehlte und ganz andere Leidenschaften im Vordergrund standen. Jede Gelegenheit nutzte er zu längeren Rei­ sen nach Paris, zu denen ihm Hetzei als Komplize das briefliche Alibi verschaffte. Furens amore — liebestoll - erreiche er Paris, ge­ stand er dem Verleger, und ebenso kehre er jedes Mal wieder heim: »Oh Natur!«205 War der Anlass für diese Reisen jene Madame Duchesne, an de­ ren Namen sich Enkel Jean Jules-Verne 1973 erinnerte und die er in Asnières, in der Nähe von Paris, ansiedelte? Deren Name sich auch in den handschriftlichen Notizen von Marguerite Allotte de la Fuÿe findet, dort aber in Zusammenhang mit Le Crotoy ge­ bracht und — ohne Namensnennung — in ihrem Buch zum Vorbild der Sängerin Stilla aus dem Roman Das Karpathenschloss von 1892 erklärt wird?206 Charles-Noël Martin hat eine Estelle Duchesnes identifiziert, die tatsächlich in Asnières lebte, dort aber bereits 29-jährig Ende 1863 verstorben war.207 Es scheint, als ob die Fami­ lienbiographen, immerhin in der aufrichtigen Absicht, einige Lie­ besverhältnisse ihres Ahnen nicht gänzlich unter den Teppich zu kehren, diese miteinander vermengt hätten. In die Affäre von 1870 dürfte jedoch eine andere Person involviert gewesen sein, deren Identität uns unbekannt ist. Honorine machten die fortwährenden und unerklärten Abwe­ senheiten ihres Mannes schwer zu schaffen, umso mehr, als am 23. Mai ihr Bruder Ferdinand an den in Amiens grassierenden Blat­ tern starb und auch ihre Eltern sich infizierten, aber die Krankheit überstanden, ln dieser Zeit kehrte der Schriftsteller zu seiner Fa­ milie nach Le Crotoy zurück, nutzte aber die erstbeste Gelegen­ heit, um die Saint-Michel für weitere Ausflüge klarzumachen, sodass sich seine vernachlässigte Frau Mitte August veranlasst sah, Hetzei 181

darüber ins Vertrauen zu ziehen, »dass Jules schon seit mehreren Monaten traurig und in schlechter Stimmung ist. Erschöpft ihn die Arbeit? (...) Ich merke, wie er sich nur mit Mühe ans Werk macht; und kaum hat er sich gesetzt, steht er schon wieder auf, beklagt sich darüber; und mir ist er dafür böse. Was tun? Was sagen? Ich weine und verzweifle. Wenn ihn der Haushalt zu sehr stört und ärgert, nimmt er sein Boot, und schon ist er fort; meistens weiß ich nicht einmal, wo er ist.«208 Bevor ihr Herz überquoll, hatte sich Honorine zunächst nur da­ für bedanken wollen, dass ihrem Mann durch Hetzeis Einfluss auf den Kritiker Weiss, der über Beziehungen zum Kulturministerium verfügte, das Kreuz der Ehrenlegion verliehen worden war — das letzte, dessen Urkunde Kaiserin Eugénie eigenhändig unterzeich­ net haben soll. Denn Frankreich befand sich seit dem 19. Juli im Krieg mit Preußen, und das, was von Napoléon zunächst als ein Ablenkungsmanöver von seinen innenpolitischen Miseren in Kauf genommen worden war, entwickelte sich zu einem nationalen De­ bakel. Bislang hatten sich Napoléons außenpolitische Abenteuer zumindest im Landesinnern bezahlt gemacht, und als die französi­ sche Armee im November 1867 in Italien interveniert hatte, um den Vatikan vor Garibaldis Übergriff zu schützen, verteidigte Verne diese Maßnahme vor Hetzei sowohl in ihrer politischen als auch religiösen Dimension: »Seien Sie überzeugt davon, dass die römi­ sche Regierung, was immer man auch über sie sagen mag, so gut ist wie manch andere auch und ganz gewiss besser als unsere. Das ist meine bescheidene Sicht der Dinge. Was die religiöse Seite der Frage angeht, hängt alles vom Standpunkt ab. Sie haben Recht, wenn unsere irdische Existenz in dieser Welt alles ist, und Unrecht, wenn sie angesichts des zukünftigen Lebens nur wenig ist oder so­ gar überhaupt nichts sein sollte. In diesem Fall ist es egal, wie man gelebt haben wird, vorausgesetzt, man hat nicht nur ehrenhaft ge­ lebt, nicht nur christlich, sondern katholisch.«209 Zugleich hatte er zusammen mit Hetzei und seinem Vater amüsiert die Veröffentli­ chung von Henri Rocheforts regimekritischem Wochenblatt La Lanterne verfolgt und ihr Verbot am 8. August 1868 bedauert. In 182

seinen Augen hatte der einst vorsichtig bewunderte Napoléon III. abgewirtschaftet, und als dieser noch im Mai 1870 seine Reformen plebiszitär mit einer überwältigenden Mehrheit absicherte (die ihm die ländliche Bevölkerung verschaffte und die in Le Crotoy 95% betragen hatte), kommentierte Verne bitter: »Was man ihnen auch erzählen mochte, sie haben alle gegen die Republik gestimmt. Ein feines Volk!«210 Der Streit um die spanische Erbfolge, die von Bismarck in seiner so genannten »Emser Depesche« geschickt lancierte Weigerung Wilhelms L, den französischen Botschafter zu empfangen, hatte die nationale Entrüstung in Frankreich geweckt und die unverzügliche Bewilligung von Kriegskrediten durch die Abgeordnetenkammer nach sich gezogen. »Damit war genau das eingetreten, was Bis­ marck benötigt hatte: Preußen war nicht der Angreifer, sondern be­ fand sich im Verteidigungskrieg, die einzige Konstellation, die ihm die süddeutschen Staaten Zufuhren konnte. Ein etwas satanisch an­ mutendes diplomatisches Spiel, in dem frühneuzeitliche, national­ nationalistische und großmachtpolitisch-imperialistische Momente zusammenwirkten, hatten zum Krieg geführt.«211 Der Schriftsteller, grundsätzlich antimilitaristisch und misstrauisch gegenüber jeg­ licher Massendynamik, teilte die Kriegsbegeisterung nicht und schrieb seinem Vater: »Wie das nun enden wird, das kann niemand Vorhersagen. Seien wir weder Dummköpfe noch Prahlhänse und geben zu, dass die Preußen und die Franzosen einander nicht viel nehmen. (...) Gott schütze Frankreich!«212 Der allgemeinen Hysterie trugen Verne und Hignard immerhin mit dem Chor Les Clairons de l’Armée Rechnung, dessen Qualität nicht über die übliche Patriotismusrhetorik hinausgeht, der aber mehr vom Klang der Trompeten schwärmt als von der Lust am Blutvergießen. Honorine war Mitte Oktober gemeinsam mit ih­ ren Kindern nach Amiens gezogen, während Jules — ohne sonder­ lich gefährdet zu sein — zusammen mit einem Dutzend Soldaten und einer museumsreifen kleinen Kanone auf der Saint-Michel vor Le Crotoy kreuzte, wo sein Hauptwohnsitz lag. Napoléon hatte auf die Unterstützung der süddeutschen Staaten, Österreichs, Italiens

und Russlands gesetzt, sah sich aber, als diese hartnäckig Neutralität wahrten, angesichts eines übermächtigen Feindes vollkommen iso­ liert. Die obersten Militärs hatten die Situation der französischen Armee auf verantwortungslose Weise schöngeredet, und statt selbst in Preußen einzufallen, wurde man von den deutschen Vorwärts­ verteidigern überrumpelt, die »die beklagenswerte Gewohnheit an­ nehmen, die Dörfer in Brand zu setzen und zu plündern«.213 Der ganze August war geprägt von Niederlagen der französischen Ar­ mee, am i. September fand schließlich die entscheidende Schlacht von Sedan statt: 88.000 Franzosen gerieten in deutsche Gefangen­ schaft, darunter auch der Kaiser, der nach Wilhelmshöhe bei Kassel gebracht wurde und sechzehn Monate später im englischen Exil starb. Damit war der Weg frei für einen neuen Versuch, die Republik auszurufen, was am 4. September in Paris unter dem Generalgou­ verneur von Paris, Louis-Jules Trochu, einem Freund der Familie Hetzei, ohne nennenswerten Widerstand der Monarchisten auch geschah. Die ernüchterten Franzosen erhofften sich einen rascheren Friedensschluss mit Deutschland, zumal ihre Hauptstadt seit dem 19. September abgeriegelt und belagert war, aber die Waffenstillstandsverhandlungen zwischen Außenminister Favre und Bismarck scheiterten zehn Tage darauf an der preußischen Forderung nach Abtretung von Eisass und Lothringen. Jules Verne hatte zwei Wo­ chen in Nantes verbracht, wo die Gesundheit Pierre Vernes Anlass zu den schlimmsten Befürchtungen gegeben hatte. Bei seiner Rückreise hatte der Schriftsteller schon nicht mehr Paris durch­ queren können, nun berichtete er Hetzei, der mit seiner Familie in der Stadt eingeschlossen war, dass die Verteidigungsbereitschaft der Bevölkerung in der Provinz ungebrochen sei, es aber überall an Waffen mangele: »Auf Wiedersehen, mein lieber Hetzei. Sie sind tapfer und mutig, und Sie werden alles überstehen. Grüßen Sie Frau Hetzei von uns, die auch stark ist und die sich als Gattin und Mutter ihrem Mann und ihrem Sohn würdig erweisen wird.«214 Es sollte Monate dauern, bis die beiden Männer sich wiedersahen. Über Brieftauben und Luftpost - die unter anderen von Nadar mit 184

insgesamt 54 Ballons organisiert wurde - schilderte Hetzei seinem Autor die immer verzweifelter werdende Situation. Einer der Briefe war so ergreifend, dass Jules Verne ihn in einer Zeitung von Abbeville, einer Kleinstadt vor Amiens, veröffentlichte. Das Doku­ ment existiert nicht mehr: Die Bombenabwürfe des Zweiten Welt­ kriegs haben Abbeville dem Erdboden gleichgemacht, ihre Archive ein für alle Mal vernichtet. — Paris erwartete andere Gräuel. Vor der besetzten Stadt hatten sich große Mengen von angeliefertem Pe­ troleum angehäuft, die nicht die Tore passieren konnten. Angst machte sich breit, die Preußen könnten den Brennstoff in die Seine leiten und entzünden. Dies geschah zum Glück nicht, aber Jules Verne griff die Idee später für das Finale seines Romans Der Kurier des Zaren auf. Als am 28. November 1870 30.000 Preußen im Dezember in Amiens einmarschierten (und bis zum 22.Juli 1871 blieben), muss­ te auch Familie Verne vier Soldaten aufnehmen. Die französische Propaganda hatte aus den Invasoren Ungeheuer gemacht, doch handelte es sich, wie der Schriftsteller seine Eltern nach einem kur­ zen Abstecher in die Stadt beruhigte, um »sanfte und ruhige Leute des 65. Linienregiments«215, deren unbändigen Appetit Honorine mit Reis stillte. Zur selben Zeit gestaltete sich die Lage der Pariser weitaus schwieriger. Die Nahrungsvorräte waren in der einge­ schlossenen Hauptstadt schneller als befurchtet zur Neige gegan­ gen (Paris habe Robinsons im großen Maßstab geschaffen, schrieb der Schriftsteller später an Hetzei und rief ihm durch diesen Ver­ gleich sein auf Eis gelegtes Manuskript ins Gedächtnis zurück). Man hatte angefangen, die Pferde zu schlachten, und die einfache Bevölkerung sah sich bald schon genötigt, auch Hunde und Kat­ zen, selbst Ratten zu essen, während diejenigen, die es sich leisten konnten, sich in einigen auserwählten Restaurants an den ehemali­ gen Zootieren gütlich taten. Verschont blieben nicht einmal die Lieblinge der Pariser, die Elefanten Castor und Pollux. Edmond de Goncourt vermerkt in seinem Tagebuch unter dem 31. Dezember, wie beim Schlachter Roos auf dem Boulevard Haussmann ange­ priesen wurde, was von ihnen übrig war: »Vierzig Francs das Pfund 185

vom Filet und vom Rüssel... Jawohl, 40 Francs... Das finden Sie teuer?... Ich weiß wirklich nicht, wie ich daran etwas verdienen soll... Ich hatte auf dreitausend Pfund gesetzt, und [Castor] hat nur zweitausenddreihundert geliefert.«216 Nicht nur der Hunger nahm in Paris immer mehr zu, noch mehr Menschen fielen dem strengen Winter und Krankheiten zum Opfer, unter vielen Unglücklichen am 2. Februar 1871, nur wenige Tage nach der Öffnung der Tore, auch Vernes Cousin. Henri Garcet hatte als Mathematiklehrer am Lycée Henri IV für seinen Vet­ ter die Manuskripte der Mondromane durchgesehen und dazu bei­ getragen, dass das Unmögliche dieser beiden außergewöhnlichen Werke, in denen mathematische Berechnungen an die Stelle der Liebesgefühle traten, so plausibel wie nur denkbar erschien. Nun sollte er die Würdigung nicht mehr erleben, die sein Vetter ihm mit dem während des Krieges geschriebenen Abenteuer dreier Russen und dreier Engländer erwies, in dem Jules Verne auf seine wissen­ schaftlichen Veröffentlichungen zurückgriff und sie auch zitierte. Der wenig bekannt gewordene Roman ist Vernes persönliche Auseinandersetzung mit Nationalismus und Kriegsbegeisterung, zeigt zugleich seine Souveränität und seine Grenzen auf. Der Er­ zähler verlegt das aktuelle Geschehen in die Zeit des Krimkriegs von 1854, in der ausgerechnet drei russische und drei englische Wissenschaftler damit beauftragt werden, in Südafrika geodätische Messungen zur Bestimmung des genauen Metermaßes vorzuneh­ men. Der Kriegsausbruch zwischen ihren verfeindeten Regierun­ gen trennt zunächst ihre Wege, was das Gelingen der wissenschaft­ lichen Mission gefährdet. Der in dieser Kritik verteidigte Internationalismus schränkt sich dadurch selbst ein, dass jedes Feindbild nicht grundsätzlich, sondern nur durch ein allgemeineres aufgehoben wird: Der individuelle Gelehrtenneid - »die schlimm­ ste aller Eifersüchte«217 - schwindet vor dem Hintergrund der na­ tionalen Rivalität, und diese ihrerseits erst dann, wenn sich das ver­ bindende europäische Erbe gegen die »Barbarei« der afrikanischen Ureinwohner behaupten muss. Wie bereits in seinen früheren Romanen, aber noch deutlicher, differenziert Verne mit den in 186

unterschiedlichem Maße karikierten Forschern zwischen einer an­ wendungsorientierten Wissenschaft und einer Wissenschaft, die stets gefährdet ist, zu bloßem Selbstzweck herabzusinken, und kontrastiert das westliche Wissenschaftsverständnis seinerseits mit der sympathisch dargestellten »wahren Naturphilosophie« des ein­ geborenen Führers Mokoum: »Welche Vorstellung diese Gelehrten nur haben, die Länge oder Breite der Welt messen zu wollen! Und bringt sie das weiter, wenn sie sie so in Fuß und Zoll berechnet ha­ ben? Ich für mein Teil (...), ich ziehe es vor, diese Welt, in der ich wohne, für unermesslich, unendlich zu halten, und ich finde, man macht sie nur kleiner, wenn man ihre exakten Dimensionen kennt.«218 Ein Kompendium der größtanzunehmenden Katastrophen, in denen sich die Zivilisation des modernen Menschen bewähren muss und die dessen beängstigende Triebgebundenheit entlarven, bot Jules Verne in seinem unmittelbar danach verfassten Roman Der Chancellor. »Dies ist mein Arthur Gordon Pyw«219, schrieb Verne später mit Hinweis auf Poes Roman an Hetzei, der von dem »er­ schreckenden Realismus« dieser Schilderung eines Schiffbruchs im Atlantik entsetzt war und sie für nicht publizierbar befand. Auf einem unter seinem lethargischen Kapitän führerlos gewordenen Passagierschiff (in dem man durchaus ein Bild der französischen Nation sehen kann) bricht Feuer aus, nachdem es einen Orkan zu­ nächst noch überstanden hatte. Mit der Strandung auf einem vul­ kanischen Eiland wird das Feuer zwar eingedämmt, aber das wahre Leid der Überlebenden beginnt erst auf dem eilig zurechtgezim­ merten Floß, auf dem man versucht, ein rettendes Ufer zu errei­ chen. Entbehrungen und Rivalität, Hunger und Durst führen zu sozialen Konflikten, lassen die moralischen Ansprüche von Passa­ gieren und Mannschaft in sich zusammenfallen und Kannibalismus als letzte Möglichkeit zum Überleben erscheinen... Es ist mit Si­ cherheit kein Zufall, dass der Zeitraum der Irrfahrt, die Verne dem realen Schiffbruch der Médusa aus dem Jahre 1816 (und dem davon inspirierten Gemälde von Théodore Géricault) nachempfunden hat, dem Zeitraum der Besetzung von Paris entspricht, fast auf den tS?

Tag um ein Jahr vorverlegt. Während die Schiffbrüchigen der Chancellor durch ein originelles Phänomen, auf dessen Idee Jules Verne durch seinen Freund Charles Wallut gekommen war, am 27. Januar 1870 gerettet werden, öffneten sich die Tore der Stadt am 28. Januar 1871: Paris hatte vor seinen Besatzern kapituliert. Zum Kannibalismus war es, wie auch in Vernes Roman, nicht gekom­ men, aber das gegenseitige Zerfleischen in der Realität sollte unmittelbar nach Beendigung der direkten Kriegshandlungen be­ ginnen.

12.

Die »Außergewöhnlichen Reisen« und die Tücken des schriftstellerischen Selbstverständnisses Jules Vernes Romane erhielten ihren programmatischen Obertitel mit Erscheinen der ersten Lieferung der illustrierten Ausgabe am 16. Juli 1866; während zunächst noch die beiden Bezeichnungen Les Voyages extraordinaires und Les Mondes connus et inconnus Seite an Seite verwendet wurden, ordnete sich letztere bald der ersten, die Verne favorisiert zu haben scheint, unter und trat daraufhin immer mehr in den Hintergrund. Mit beiden Reihentiteln fügen sich Vernes Romane als Bestandteile eines übergeordneten Ganzen zeitlich zwischen die beiden anderen großen französischen Ro­ manzyklen ein, Balzacs Menschlicher Komödie und Zolas RougonMacquart, literarischen Monumenten des 19. Jahrhunderts, die auf jeweils eigene Weise das soziale Gefüge ihrer Gegenwart thema­ tisieren und mit literarischen Mitteln analysieren. Nicht so Verne, in dessen Romanen die sozialen Fragen seiner Zeit zwar implizit präsent sind, aber nur den Hintergrund bilden, vor dem sich seine Personen mit verbissener Reiselust sowohl der sinnlichen Erkun­ dung der Welt als auch der wissenschaftlichen Erforschung frem­ der Länder hingeben. Mehr als sechzig Titel umfassen die Außer­ gewöhnlichen Reisen, in denen der Autor bemüht war, alle Varianten der populären Unterhaltungsliteratur seiner Zeit zu erschöpfen ein universeller Anspruch, der schnell in Vergessenheit gerät, wenn man den Blick auf die populärsten Titel einengt. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen hat sich Jules Verne pro­ grammatisch niemals ausführlich geäußert, sondern stets mit dem Hinweis begnügt, es gehe ihm mit seinen Romanen darum, ein Porträt der Erde anzufertigen, das, wenn es auch niemals vollendet sein werde, doch so vollständig wie möglich ausfallen möge; dass ein persönliches inhaltliches Anliegen gänzlich hinter der etwas pe189

dantisch anmutenden Ambition zu verschwinden scheint, den glo­ balen Parcours in einer runden Zahl von zunächst 40, dann 60, dann 80 und schließlich 100 Bänden zu bewältigen, bestätigt zu­ nächst den Eindruck, hier handle es sich um ein Musterbeispiel der für das 19. Jahrhundert so typischen positivistischen Illusion, die Aneignung der Welt sei durch das bloße numerische Aufhäufen von Einzelfakten zu leisten. Irgendwann werde sich enzyklopädi­ sche Faktenfülle dann schon in Erkenntnis verwandeln. Damit, wissen wir heute, ist es nicht getan, zumal sich die Frage nach der ethischen Verantwortung der Wissenschaft auf diese Weise keines­ falls löst. Es spricht für Jules Verne, dass er diesen Irrtum einer rein materialistischen Welterschließung in seinen Außergewöhnlichen Rei­ sen stets gleich mit thematisiert. Am prägnantesten geschieht das wohl in den ersten und bekanntesten Romanen, die mit der Er­ kundung jener absoluten Punkte von mythischer Dimension wie den Polen, der Tiefsee, des Mondes und des Erdmittelpunktes auf die »unbekannten Welten« zielen, ehe Verne im Anschluss daran mit nicht erlahmender Energie systematisch die »bekannten Wel­ ten« abwickelt. Immer wieder hat man versucht, die Außergewöhnlichen Reisen in drei unterschiedliche Phasen einzuteilen, wobei die erste bis unge­ fähr 1875 mit ungebrochenem Glauben an die Allmacht der Wis­ senschaft all die Möglichkeiten vorgeführt habe, die der späte Jules Verne ab Mitte der 80er Jahre angeblich radikal negiere. Dazwi­ schen verorte sich ein Übergang, während dessen sich der Autor durch Ironie von seiner einstigen Begeisterung zunehmend distan­ ziert habe. Ein schönes System, das einer eingehenden Überprü­ fung leider nicht standhält. Dies hat spätestens 1994 das Auftauchen des verschollen geglaubten Romans Paris im 20. Jahrhundert gezeigt. Bereits die Werke, die vor Fünf Wochen im Ballon entstanden sind, weisen all die pessimistischen Züge auf, die der Theorie nach ei­ gentlich erst gegen Ende des Jahrhunderts hätten auftreten dürfen. Umgekehrt strahlt ein später Roman wie Der Einbruch des Meeres eine Fortschrittsbegeisterung aus, die ebenso wenig ins System passt.

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Nach der Lektüre insbesondere der Titel der ersten Phase bis 1875 — man mag diese in Bezug auf den wissenschaftlichen Fort­ schritt als »optimistisch« empfinden oder auch nicht — ist die Be­ reicherung des Lesers in erster Linie ästhetischer Natur und wirkt auf die Phantasie, während die Probleme der Wissenschaft nur un­ zureichend gelöst werden und die physikalischen Erkenntnisse le­ diglich erweisen, dass man mit ihnen nicht in den Mittelpunkt der Erde, in das Wesen der Dinge eindringen kann. Weder erreicht Professor Lidenbrock sein ehrgeiziges Reiseziel, noch landen Barbicane und seine Begleiter auf dem Mond; Hatteras’ zunehmender Wahnsinn, das Verschwinden der Nautilus zunächst im Malstrom, dann definitiv in einer unterseeischen Grotte und die Tatsache, dass humanitäre Aktionen stets von größerem Erfolg gesegnet sind als rein wissenschaftliche Renommierprojekte — all dies kann man vordergründig als Elemente einer rein auf Spannung und Effektha­ scherei ausgerichteten Handlungsführung verstehen, deren Sinn auf sich selbst beschränkt bleibt. Man tut Vernes Romanen aber keine Gewalt an, wenn man diese Motive auch inhaltlich ernst nimmt und auf ihre Schlüssigkeit im ästhetischen Gesamtkonzept hin überprüft. Dann nämlich gewinnt selbst die scheinbare Verherr­ lichung von Oberfläche und Oberflächlichkeit in Phileas Foggs 80-tägiger Erdumrundung (samt gleichzeitigem Scheitern, Gewinn und Täuschungsmanöver) eine weitere Dimension, da sie neben einer spannenden Reise unter den damals extremsten Bedingungen auch vom Kampf des modernen Menschen gegen die Zeit erzählt, und von der Unmöglichkeit, dieselbe jemals vollkommen »in den Griff« zu bekommen. Die letztliche Unergründlichkeit bezieht sich in Vernes Werk ausschließlich auf Phänomene der Natur, während von Menschen geschaffene Rätsel mit den Mitteln des Kriminalromans als solche entlarvt werden. Die bewusst konstruierte Zweideutigkeit von zu­ nächst unerklärlichen Erscheinungen wird spätestens am Schluss der Romane stets auf die Anwendung noch unzulänglich bekann­ ten technischen Wissens zurückgeführt, mit dem sich die im Ver­ borgenen agierenden Drahtzieher einen Machtvorsprung vor den 191

übrigen Menschen zu sichern trachten. So erweist sich das See­ ungeheuer, das die Schifffahrt in 20.000 Meilen unter den Meeren be­ droht, als U-Boot des Menschenverächters Nemo, wohingegen das mit ähnlichen Worten geschilderte Phänomen in Die Historien von Jean-Marie Cabidoulin die Existenz einer unbekannten Tierart von gewaltiger Kraft nahe legt. Derselbe Kapitän Nemo steht - diesmal zum Philanthropen geläutert — hinter den Vorgängen, die sich auf der Geheimnisvollen Insel ereignen, und wird von den Schiffbrüchi­ gen etwas naiv mit dem lieben Gott verwechselt. Vermeintliche Geistererscheinungen in Schwarz-Indien, Das Karpatenschloss und Le Secret de Wilhelm Storitz sind in offensichtlicher Anlehnung an den englischen Schauerroman Manipulationen einer Wissenschaft, die sich Unwissenheit und Aberglauben zunutze macht und dadurch ihre aufklärerische Bestimmung ins Gegenteil verkehrt. Mit seinem ersten Erfolg Fünf Wochen im Ballon hatte Verne ein Roman-Konzept praktisch voll ausgeprägt vorgelegt, das er bis zu seinem Tod zwar ständig variieren, aber nicht mehr grundsätzlich verändern sollte; es umfasst: • eine einsträngige Handlung, die mit wenigen Rückblenden und Parallelfuhrungen oder gänzlich ohne sie auskommt; • einen offen Stellung beziehenden, häufig unpersönlichen Erzäh­ ler, der die Handlung bisweilen ironisch kommentiert und gele­ gentlich nicht davor zurückschreckt, seine Helden ins Lächerli­ che zu ziehen (dass die Erzählperspektive nicht immer stringent durchgehalten wird, sondern unterschiedliche und auch wider­ sprüchliche Diskurse auf improvisatorisch anmutende Weise zu­ einander in Konkurrenz treten, macht wohl eine Schwäche, von Vernes Erzählweise aus, selbst wenn sie einige Interpreten als be­ wusst eingesetzte »Polyphonie« im Sinne des Literaturtheoreti­ kers Bachtin deuten); • ein auf das Notwendige reduziertes Personal, das keine psy­ chologisch glaubwürdigen Charaktere bieten will, sondern Personen, die wie am Boulevardtheater scharf voneinander ab­ gegrenzte »Rollen« ausfuhren und die von Nationalität und gesellschaftlicher Stellung determiniert sind; 192

Frontispiz zu den Außergewöhnlichen Reisen. Stich von Edouard Riou zur ersten illustrierten Ausgabe des Kapitän Hatteras, 1866/67

• eine geschickte Spannungsdramaturgie, die in einem unvorher­ sehbaren oder durch Katastrophen ins Grandiose gesteigerten Schlusseffekt gipfelt, der oft das konventionelle Happy End rela­ tiviert; • eine starke Einbindung spektakelhafter und spielerischer Ele­ mente (»Show-Effekte«, Panorama-Erlebnis, Barnum als Leitfi­ gur, Wetten, Täuschungsmanöver auf verschiedenen Ebenen, Bühnenmetaphern etc.), die bis zur Infragestellung der fiktionalen Illusion reichen und die Handlung auf einer metatextuellen Ebene kommentieren; • eine einheitliche Natursymbolik durch wiederkehrende Schil­ derungen von Kataklysmen, Stürmen, Tierinvasionen und - mit besonderer Hartnäckigkeit — Vulkanausbrüchen, die den Vor­ machtanspruch des Menschen gegenüber der Natur wesentlich einschränken oder gänzlich ad absurdum fuhren; • schließlich Vernes Leichtigkeit im Umgang mit wissenschaft­ lichen Fakten, die er als Sprungschanze seiner Phantasie zu nutzen weiß und mit denen es ihm gelingt, Beschreibungen von großer (Schein-)Plausibilität zu liefern. Auch hier ist eine ästhetische Uneinheitlichkeit zu konstatieren, die von rein aufs Didaktische zielenden Faktenaufzählungen von zweifelhafter Wirkung bis hin zu sprachlich durchgeformten Passagen von hoher rhythmischer Qualität reicht. Im Gegensatz zu den Romanzyklen von Balzac und Zola sind Vernes Werke kaum durch Handlungsstränge, wiederkehrende Per­ sonen oder gar deren Familienbeziehungen miteinander verzahnt; auch unmittelbare Fortsetzungen bleiben die Ausnahme: Zwar schließt die Reise um den Mond das Unternehmen des vier Jahre zu­ vor erschienenen Romans Von der Erde zum Mond ab und werden beide zwanzig Jahre später mit dem ans Absurde grenzenden Ro­ man Kein Durcheinander fortgesetzt (eine Übersetzung, die leider nicht ausreicht, den Defätismus des französischen Titels Sans dessusdessous wiederzugeben220); zwar kehrt Rohur der Eroberer als grö­ ßenwahnsinnig gewordener Elerr der Welt zurück, doch bleiben dies Ausnahmen. Der einzige Fall, wo Verne einmal mit Die geheimnis¡94

volle Insel den Versuch unternimmt, im Nachhinein eine inhaltliche Verbindung zwischen den vorausgegangenen Romanen Die Kinder des Kapitäns Grant und 20.000 Meilen unter den Meeren herzustellen, geht unerbittlich auf Kosten der chronologischen Glaubwürdigkeit. Nun fehlt es nicht an direkten oder indirekten Anspielungen auf vorausgegangene Titel, bisweilen haben die Personen die eine oder andere Außergewöhnliche Reise gelesen oder im Theater gesehen, auch weisen Fußnoten den Leser auf andere Romane hin, wenn dies opportun (oder dem Verkauf der Bücher förderlich) erscheint, oder spielen augenzwinkernd mit den Wirklichkeitsebenen, aber die eigentliche Kohärenz des Gesamtwerks liegt in der Wiederkehr von Motiven, denen Verne über vierzig Jahre treu bleibt, und in der komplementären Funktion, die jeder Roman hinsichtlich des vom Autor intendierten Ziels einer Beschreibung des Universums ein­ nimmt. Immer wieder enthalten die einzelnen Romane der Außerge­ wöhnlichen Reisen Keime zu Ideen, die erst später zu einem eigenen Werk ausgebaut und anschließend abermals aufgegriffen werden. So leuchtet das in Der grüne Strahl beschriebene Himmelsphäno­ men vor seiner eigentlichen Thematisierung bereits 1877 in Hector Servadac und Schwarz-Indien auf und tut es dann noch weitere Male in Robur der Eroberer und in dem postum erschienenen Roman En Magellanie. Spielerische Binnenbezüge ergeben sich weiter durch die Na­ mengebung, auf die Jules Verne zeitlebens große Sorgfalt ver­ wandte. Häufig verweisen die Namen auf reale Vorbilder, die sie zum Teil anagrammatisch verfremden: Conseil (»Gehilfe«) als Dienerfigur verweist auf den U-Boot-Erfinder gleichen Namens, Paganel auf einen Historiker, Fogg auf einen amerikanischen Welt­ reisenden, Ardan (phonetisch ardent, feurig) auf Nadar, Munbar auf Barnum, Hector Servadac (rückläufig cadavres) auf Hector-Savinien Cyrano de Bergerac, den Autor der Reise in die Sonne. Der Komö­ dientradition folgend sind viele Eigennamen »sprechende Namen« (Nemo = Niemand; der Kommissar Passauf aus Eine Idee des Doktor Ox; der Mathematiker Pierdeux = it r2) oder versuchen, durch die >95

Klangfarbe, Assoziationen des Lesers zu gewissen Stereotypen zu wecken. Die Bösewichter werden etwa charakterisiert durch sonor klingende Exotisnien, die Verne zudem als Anagramme, Assonan­ zen und partielle Silbenverdrehungen über die verschiedenen Jahr­ zehnte seiner Schriftstellertätigkeit immer wieder variiert: Artigas, Karysta, Sacratif, Vargas, Trifulgas. Ein Schlüssel für dieses Vorgehen lässt sich im Märchen Die Abenteuer der Familie Raton finden, das sich als naiv-biedere Kinder­ geschichte gibt, über die schon so mancher Interpret hilflos mit den Schultern gezuckt haben mag, und die zugleich ein Parade­ stück der literarischen Selbstreflexion ist. Die Namen der Ratten­ familie variieren den Stamm Rat-, der ihre Gattungszugehörigkeit ausdrückt (und als Anagramm von art direkt auf die Kunst ver­ weist), die jeweilige Endung differenziert dagegen den individuel­ len Charakter (Vater Raton = Rättchen, Waschbär; Tochter Ratine: eine geschmeidige Stoffart; Vetter Raté = misslungen; Koch Rata = Schlangenfraß); die Rattenfamilie selbst ist einer Reihe von Meta­ morphosen unterworfen, die sie von der untersten animalischen Existenzstufe bis zur höchsten Vollkommenheit im Menschen er­ hebt — ein Verfahren, mit dem Verne eine satirische Synthese von religiöser Seelenwanderung und wissenschaftlichem Darwinismus schafft. Anspielungen und Zitate nehmen La Fontaines Fabeln und die Märchen von Charles Perrault ins Visier, der Text selbst erweist sich als Konglomerat von Paraphrasen ganzer Absätze aus voraus­ gegangenen Werken, die von In 80 Tagen um die Welt über Die fünf­ hundert Millionen der Begum bis hin zu Keraban der Starrkopf und Nord gegen Süd reichen — selbstverständlich ohne dass dieses Vor­ gehen dem Leser als Patchwork auffallen würde: Metamorphose der Rattenfamilie, Variation der Namen, Mischung der Gattungen, Transformation von Texten (die auch dem Verfahren entspricht, mit dem sich Jules Verne realer Reiseberichte für die Beschreibun­ gen in seinen Romanen bedient) - all diesen Aspekten in Vernes Märchens liegt ein gemeinsames künstlerisches Prinzip zugrunde, das es seinem Autor erlaubt, die eigene schriftstellerische Krea­ tivität innerhalb seines als begrenzt empfundenen Genres zu reflek196

deren und spielerisch voranzutreiben, ln kritischer Distanz verharrt allein Vater Raton - ein Selbstporträt des nach einem Mordan­ schlag vom März 1886 invaliden Verne —, den seine Gicht gegen Aufstiegsdünkel und Metamorphose immun macht und der als ein­ ziger stets er selbst bleiben kann. Nach einem Zeugnis des Journalisten Adrien Marx plante Verne spätestens seit 1873 ein Theaterstück mit dem Titel »Die Wunder der Wissenschaft«, das konstitutive Elemente der Außergewöhnlichen Reisen zusammenfassen sollte.221 Es wurde jedoch erst 1882 unter dem Titel Voyage ä travers l’impossible in Zusammenarbeit mit dem erfahrenen Dramatiker Adolphe d’Ennery umgesetzt. Nach dem Muster von Offenbachs Oper Hoffmanns Erzählungen (1880), in der drei Erzählungen des deutschen Romantikers durch eine Rahmen­ handlung miteinander verbunden werden, präsentierten Verne und d’Ennery eine Revue der erfolgreichsten Außergewöhnlichen Reisen - die Reise zum Mittelpunkt der Erde im ersten Akt, 20.000 Meilen unter den Meeren im zweiten und die Mondromane im dritten —, jedoch nicht als dramatische Bearbeitung, sondern als Nachvollzug durch den Sohn des Kapitäns Hatteras, der von maßlosem Ehrgeiz besessen, Unmögliches vollbringen zu wollen, offensichtlich Ver­ nes Romane gelesen hat und verwirklichen will, woran die in sei­ nen Augen memmenhaften Helden der Buchvorlagen gescheitert sind. Unterstützt wird er dabei vom dämonischen Dr. Ox, der Hat­ teras in den Wahnsinn treiben will, um dessen Verlobte Eva für sich zu erobern, mithin die Suche nach Erkenntnis als Vorwand für die Befriedigung seiner erotischen Bedürfnisse nutzt. Ox’ Gegenspieler ist der fromme Organist Volsius, der die eigennützigen Absichten des finsteren Wissenschaftlers erkannt hat und an den verschiede­ nen Schauplätzen in die Rollen des Professors Lidenbrock, Nemos und Michel Ardans schlüpft und mahnende Vorträge hält, um Hatteras von seinem gotteslästerlichen Tun abzuhalten. Zunächst erfolglos — das Stück führt paradoxerweise und mit großem Auf­ wand im Dekor die »verbotenen Orte« vor, einschließlich eines Sa­ lamanderballetts im Mittelpunkt der Erde, des versunkenen Atlan­ tis und der von seinen Bewohnern bewirkten Explosion eines 197

ganzen Planeten —, am Ende jedoch als Sieger: Unter unange­ fochtener Federführung des Organisten verbinden sich Religion (Volsius) und Wissenschaft (Ox), um Hatteras zu helfen, seinen Größenwahn zu überwinden, und ihn wieder in die Arme seiner Braut zurückzuführen. Verne schien den Gattungswechsel und die Rückkehr zu seiner alten Liebe zu benötigen, um einen resümierenden Rückblick auf sein bisheriges Romanschaffen zu werfen, der in seiner desillusionierenden Radikalität allein dem Roman Paris im 20. Jahrhundert ähnelt. Nicht nur das Publikum zeigte sich von der fortschritts­ feindlichen Aussage befremdet, die so sehr dem zuversichtlichen Geist der Außergewöhnlichen Reisen zu widersprechen schien, auch die Kritik verriss das Stück, war aber einvernehmlich darum be­ müht, Jules Verne schadlos zu halten und die reaktionäre Gesin­ nung dieses Werks, das geradewegs aus den Schreibstuben des Vati­ kans hätte stammen können, allein d’Ennery anzurechnen — zu Unrecht. Das Theater hatte es Verne erlaubt, auf der Höhe seines schriftstellerischen Erfolgs der hetzelschen Gängelung zu entkom­ men und den Versuch zu unternehmen, einen korrektiven Einfluss auf die Rezeption des eigenen Schaffens auszuüben; dieser Versuch war gescheitert und sollte niemals wieder auf so direkte Weise in Angriff genommen werden. Daniel Compère hat die intertextuellen Aspekte von Vernes Werk als bewussten Vorgriff des Autors auf Verfahren des moder­ nen Romans gedeutet, mit denen dieser beabsichtigt habe, einer­ seits die in unterschiedlichem Maße ideologiebeladenen Diskurse seiner Zeit in einer ebenso enzyklopädischen wie wertneutralen Präsentation zusammenzuführen (mit der er sich zugleich von Hetzeis didaktischem Moralismus abgesetzt habe) und andererseits den kreativen Akt des Schreibens und die Fiktionalität selbst zu thematisieren.222 So anregend diese Interpretation und über­ zeugend viele von Compères Befunden auch sein mögen, das unbestritten vorliegende Phänomen des (auto-)reflexiven Literatur­ bezugs erlaubt noch eine andere Interpretation als Folge von Vernes künstlerischem Selbstverständnis. Sie hat den Vorteil, weniger eine 198

theoretische Konzeption auf hohem Abstraktionsniveau im Sinne einer bewussten Programmatik vorauszusetzen, die mir für Jules Vernes Denken eher untypisch scheint. Verne hielt zeitlebens an einem akademischen Literaturverständnis fest, nach dem er seiner eigenen Gattung — dem Abenteuerroman — nur eine untergeord­ nete Stellung beimaß. Angesichts der aussichtslosen Hoffnung, in die Académie française aufgenommen zu werden (ein Wunsch, der an sich schon viel über Vernes traditionell ausgerichtete Sicht der Kunst verrät), schrieb er an Hetzei: »Mein lieber Freund, regen Sie sich jetzt nicht auf, aber - wahrhaftig! Machen Sie sich nicht doch einige Illusionen, sowohl über diese Art von Literatur als auch über Ihren ergebenen Diener, der im übrigen unfähig wäre, etwas ande­ res zu machen?«223 Und ein paar Tage später, nachdem sich Hetzei postwendend doch mit gewohnter Heftigkeit über die Selbstbe­ scheidung seines Autors aufgeregt hatte, präzisierte der Gerüffelte: »Ich habe Ihnen von der Akademie nur in Bezug auf die Literatur­ gattungen geschrieben und nichts weiter gemeint als dies: Auf der literarischen Stufenleiter steht der Abenteuerroman nicht so hoch wie der Sittenroman. (...) Bitte schlagen Sie nicht auf mich ein, weil ich glaube, dass ganz allgemein und die Formfrage einmal bei­ seite gelassen das Studium des menschlichen Herzens literarischer ist als Abenteuererzählungen. Dass diese Romane besser gelingen können, das streite ich nicht ab. Aber es ist besser, eine Eugénie Grandet gemacht zu haben als einen Monte-Cristo.«224 Weder ging es Verne jemals darum, die Vorgefundenen und als solche akzeptierten Grenzen des Abenteuerromans durch den Ein­ bezug sozialer Fragestellungen zu sprengen, wie es Jack London tun sollte, noch die Gattung durch eine Psychologisierung im Sinne von Joseph Conrad auf ein »höheres Niveau« zu hieven. Sein Ehrgeiz war rein ästhetischer Natur und erschöpfte sich darin, dem als minderwertig verstandenen Genre eine hohe formale Voll­ endung zu geben, die Verne in der Verwirklichung eines adäquaten Stils gegeben sah: »Es kommt darauf an, klar zu sein; der Stil be­ steht im richtigen Gebrauch der Worte und in der Wendung der Sätze.«225 Diese Aussage zeugt von einem positivistischen SprachJ99

Verständnis, demzufolge nicht eine individuelle Ausdrucksform an­ gestrebt, eine solche vielmehr als manieristisch abgelehnt wird. Stattdessen setzt Verne die Möglichkeit einer eindeutigen, »richti­ gen« Versprachlichung als objektiv gegeben voraus, der sich der Schriftsteller mit seinen Mitteln nur weitest gehend anzunähern habe. Vernes aufwändige Arbeitsweise, die von einem endlosen Korrekturbedürfnis geprägt war, stand im Dienst dieses Anspruchs: »Mein Ziel ist es, die Erde darzustellen, und nicht nur die Erde, sondern auch das Universum. (...) Und zugleich habe ich versucht, einen sehr hohen Anspruch an die Schönheit des Stils zu verwirk­ lichen. Man sagt gemeinhin, im Abenteuerroman sei kein Stil möglich, aber das ist nicht wahr; obwohl ich zugebe, dass es sehr viel schwieriger ist, einem solchen Roman eine gute literarische Form zu geben als etwa den Charakterstudien, die heute so in Mode sind.«226 Angesichts dieses Ziels liegt die Deutung nahe, dass der Rück­ bezug auf das eigene Werk, die spielerische Entlarvung der Fiktion als solcher, Jules Verne eine Möglichkeit bot, auf die Enttäuschung durch die Nichtanerkennung der Zeitgenossen zu reagieren, indem er zu seinem Werk eine ironische Distanz aufbaute. Diese erlaubte ihm, einen Mittelweg zu beschreiten zwischen der Verachtung der eigenen Literaturgattung und dem Stolz auf das durch sie und in ihr Geleistete. Die Analyse der Abenteuer der Familie Raton führt zu der bereits getroffenen Feststellung, dass Verne den Zwang, Literatur innerhalb eines als begrenzt erfahrenen Repertoires von Motiven und Regeln produzieren zu müssen, durch ein bewusst angewandtes Kombinationsverfahren ins Positive und Kreative zu kehren versuchte. So lebte er seine literarische Freiheit zwischen den beiden Grenzen aus, die durch seine Gattung einerseits und Hetzeis Forderung nach einer pädagogisch vertretbaren und didak­ tisch orientierten Lektüre andererseits abgesteckt wurden. In diesem Sinn schrieb er, abermals an Hetzei, nachdem der Ver­ leger den Roman Der Archipel in Flammen negativ beurteilt hatte: »Sie verstehen meine Lage angesichts unseres Publikums. Ich habe keine Themen mehr, deren Interesse wie bei Ballon, Kapitän Nemo 200

usw. im Außergewöhnlichen liegt. Also muss ich versuchen, durch Kombinationen Interesse zu wecken. Der Archipel in Flammen nun ist so ein kombinierter Roman und der, den ich jetzt mache, ist es noch weit mehr; ohne Vergewaltigung, Ehebruch und ungezügelte Leidenschaften versuche ich, für unsere Leser einen wahrhaftigen Monte-Cristo zu schreiben, und ich glaube, ich habe ihn.227 (...) Selbstverständlich werde ich mich weiterhin und so weit wie mög­ lich im Bereich des Geographischen und Wissenschaftlichen hal­ ten, da dies das Ziel des gesamten Werkes ist; aber sei es nun der Theaterinstinkt, der mich dazu treibt, oder sei’s, um unser Publi­ kum noch mehr zu fesseln, ich versuche, die Romane, die mir zu schreiben bleiben, so stark wie möglich zu würzen, indem ich alle Mittel nutze, die mir meine Einbildungskraft zur Verfügung stellt auf diesem recht beschränkten Gebiet, auf dem ich verurteilt bin mich zu bewegen.«228 Ein unabdingbares Mittel, um sein Publikum zu packen, bestand für Verne in der Schaffung möglichst effizienter Spannungsbögen, die das Interesse seiner Leser bis zum Schluss wach halten sollten und statt einer additiven Aneinanderreihung austauschbarer Episo­ den eine besondere Dramaturgie voraussetzten, die der Autor selbst mit dem musikalischen Begriff des crescendo (anwachsend) bezeich­ nete: »Ich führe mit größter Sorgfalt das Interesse hinsichtlich der unbekannten Anwesenheit des Kapitäns Nemo auf der Insel her­ bei, um ein gelungenes Crescendo zu erreichen, so wie bei den Liebkosungen einer schönen Frau, die man zu dem Ort hinführen will, den Sie sich schon denken können.«229 Die Verbindung aus Spannungssteigerung, Geheimnissen, retardierenden Momenten und Überraschungen ist bei Verne immer auf den Schluss ausge­ richtet, auch wenn das Mischungsverhältnis und die Dosierung der einzelnen Verfahren in jedem Roman unterschiedlich (und auch nicht immer völlig überzeugend) ausfällt. Wie sehr Verne bei der Konzeption seiner Romane von der Er­ wartungshaltung seines Publikums ausging und dabei zwischen spezifischen Erfordernissen von Roman und Theater differenzierte, wird in einem Interview deutlich, in dem er sich über den Schluss­ 201

effekt der Bühnenbearbeitung seines Romans Der Kurier des Zaren ausließ: »Ich hatte den Leser fast bis zur letzten Seite des Buches glauben lassen, dass [Michael Strogoff] blind sei, bis zu jenem Mo­ ment, da er sich mit seinem Erzfeind Iwan Ogareff duelliert und ihn tötet. Erst hier erfuhr man, dass durch das sehr simple physika­ lische Phänomen der Kalefaktion die Tränen bei ihrer Verdunstung den Kontakt der Augen mit der glühenden Klinge verhindert hat­ ten. Darin, könnte man meinen, liegt die Voraussetzung für einen wunderschönen Theatereffekt, der mit den besten Erfindungen der alten Bühnenautoren in Konkurrenz treten könnte — ein absoluter Irrtum! Von der Ausgangslage des Romans haben wir [Verne und d’Ennery] nichts beibehalten. Kaum ist Michael Strogoff vorgeblich geblendet worden, teilen wir dem Zuschauer mit, dass er noch über ein gut funktionierendes Sehvermögen verfügt: Wir lassen ihn einen Tartaren töten, der versuchte, seine Verlobte zu entführen. Und zwar aus folgendem Grund: Man muss immer — dies ist eine unabdingbare Regel - das Publikum zu seinem Komplizen machen, es nicht überraschen oder aufs Glatteis führen. (...) Das Publikum empfindet ein gewisses Vergnügen dabei, im Voraus zu wissen, dass der Bösewicht nicht den Sieg davontragen wird.«230 In einem Brief an den befreundeten Publizisten Eugène Hennebert, der ihm einen Abenteuerroman über die »Zivilisierung« der Afrikaner durch die Europäer zur Beurteilung geschickt hatte, ging Jules Verne deutlich wie nirgendwo sonst auf den Stellenwert des Didaktischen im Roman ein — ein Element, das der Freund offen­ bar überstrapaziert hatte. Wie im Fall seines Aufsatzes über Poe las­ sen sich die Kritiken ex negativo auf Vernes eigenes Werk anwen­ den, wobei manche Beanstandung durchaus auch auf Passagen der Außergewöhnlichen Reisen zutrifft: »Sie sind zu gelehrt, viel zu ge­ lehrt, tausendfach zu gelehrt! Sie übertreiben es wahrhaftig mit den landesüblichen Ausdrücken, die Sie auch noch übersetzen und kur­ siv wiedergeben. Keine Seite, auf der nicht zehn oder gar fünfzehn dieser schrecklichen Wörter Vorkommen. (...) Das ist kein Roman, nicht mal mehr ein wissenschaftlicher Roman, sondern reine Wis­ senschaft, die nichts Romanhaftes mehr hat. Ich bestehe mit Nach202

druck darauf. Sie neigen ausgesprochen zur Überfülle, dabei ist es für jeden Romanautor eine unerlässliche Eigenschaft, sich auf das Notwendige zu beschränken. (...) Vergessen Sie niemals, dass der Leser — und ich meine damit die Masse der Romanleser — nicht belehrt, sondern unterhalten werden will. Wenn man ihm etwas beibringen will, dann darf man sich das nicht anmerken lassen, und die Belehrung muss in die Handlung selbst einfließen, sonst wird das Ziel verfehlt. Schreiben Sie schlussendlich für den Leser, nicht für sich selbst, darin liegt das Geheimnis des Erfolgs.«231 Im Verlauf seiner schriftstellerischen Tätigkeit ritualisierte Jules Verne seine Arbeitsweise in einem Maße, das ihm erlaubte, so öko­ nomisch wie möglich sein Plansoll zu erfüllen und von Mitte der 8oer Jahre an einen Überschuss zu produzieren, dem man die zu­ nehmende Routine bisweilen anmerkt. Unter den sechzig Roma­ nen, die den Zyklus der Außergewöhnlichen Reisen bilden, überrascht bei aller Gleichförmigkeit ihrer Anlage die Tatsache, dass kein Ro­ man wirklich überflüssig wäre, weil es auch die unspektakuläreren Werke fertig bringen, dem Ganzen einen neuen Aspekt hinzuzufü­ gen, der seinen eigenen Stellenwert hat. Gleichwohl gibt es Quali­ tätsunterschiede. Die meisten späteren Titel sind weit von der Fas­ zinationskraft der ersten Bücher entfernt, der geistreiche Witz und die Ironie weichen immer öfter formelhaften Phrasierungen und Wiederholungen, derer sich der alternde Schriftsteller schmerzlich bewusst war. Dass manch originelles Thema der Spätwerke moti­ visch nicht voll ausgeschöpft und in einer unbefriedigenden Form verwirklicht wurde, macht die kreative Erschöpfung des späten Ju­ les Verne deutlich. So wie der alte Eglisak aus der Erzählung Herr Dis und Fräulein Es nach seiner Ertaubung auch ohne Publikum unablässig auf der Orgel weiterspielt, betrieb Verne das Schreiben zuletzt verbissen als Flucht vor Enttäuschungen und familiären Problemen, trotz sinkender Verkaufszahlen und ausbleibender Kenntnisnahme durch die Kritik: »Die Arbeit ist für mich eine Lebensfunktion geworden. Wenn ich nicht arbeite, fühle ich kein Leben mehr in mir.«232 Es hat etwas anrührend Tragisches und zeigt, wie weit sich die 203

Selbstwahrnehmung eines Künstlers von seiner Wahrnehmung durch das Publikum entfernen kann: Da verwendete Verne all seine Mühe auf einen ausgefeilten Stil, der letztlich stets gefährdet war, auf einen als neutral empfundenen Akademismus hinauszulaufen, und erzielte doch seine spezifische Qualität durch die Art, wie es ihm gelang, die Phantasie seiner Leser anzuregen, und dies über geographische wie zeitliche Grenzen hinweg. Als Jules Verne im Sommer 1903 das Schreiben — nicht jedoch das Korrigieren der bis zu seinem Tod in Veröffentlichung befind­ lichen Romane - einstellte, blieb der letzte Roman Voyage d’etudes Fragment. Die Außergewöhnlichen Reisen hatten in Afrika mit Fünf Wochen im Ballon ihren Anfang genommen, in Afrika sollte sich der Kreis schließen, wobei der offene Charakter der letzten Etappe dem Gesamtwerk wohl einen angemesseneren Abschluss verleiht, als es ein vollendeter Roman jemals vermocht hätte.

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Ein Neuanfang (1871—1874)

Fünf Milliarden Francs Reparationen und der Verlust von EisassLothringen, das war der als Demütigung empfundene Preis, mit dem sich Frankreich am io. Mai 1871 auf den Friedensschluss ein­ ließ. 49.000 gefallene Deutsche standen 139.000 Toten in Frank­ reich gegenüber. Noch zwei Jahre lang blieben deutsche Truppen im Land und trugen durch ihre bewusst ausgelebte Besatzermenta­ lität zur Ausbildung jener »Erbfeindschaft« bei, die im Zuge eines immer stärker werdenden Nationalismus bis zur Jahrhundertwende auf beiden Seiten neurotische Züge annahm. Deutschland, das Land der Metaphysik und der schrulligen Gelehrten, als das es noch in Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde mit freundlichem Spott cha­ rakterisiert worden war, avancierte zum Land der Kanonen und der arroganten Überheblichkeit. Als im Mai 1890 ein Berliner Arzt an Verne schrieb, es sei an der Zeit, das Deutschlandbild der Franzosen zu ändern, und ihm voller Idealismus vorschlug, ein Buch mit dem Titel Reise durch Deutsch­ land in dreißig Tagen zu schreiben, holte ihn die barsche Ablehnung des Schriftstellers schnell auf den Boden der Tatsachen zurück: »Wenn [die beiden Völker] verfeindet sind, dann nicht, weil sie einander nicht genügend kennen würden, ganz im Gegenteil (...). Es gibt nur einen Akt der Wiedergutmachung, der dazu angetan wäre, die Gefühle der Franzosen gegenüber den Deutschen zu ver­ ändern. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, um welchen Akt es sich dabei handelt; aber alles, was man sonst machen würde, wäre ver­ geblich, illusorisch, unausführbar.« Nicht nur diese Abfuhr, auch die Tatsache, dass Verne vergaß, seine Antwort zu frankieren, ver­ wandelte den deutschen Friedensapostel, der angab, während des Krieges in Amiens stationiert gewesen zu sein, jäh in einen kalten 205

Krieger: »Wenn wir, was Gott verhüten möge, in einem zukünfti­ gen Krieg ohne Rauch die Reise von Metz nach Amiens in dreißig Tagen hinter uns gebracht haben werden und Sie mein Gefangener sind, dann werden Sie mir in einem Restaurant der preußischen Pi­ cardie mit einer Flasche Wein die vierzig Pfennig Porto bezahlen, die Sie Ihr picardischer Chauvinismus auf dem beigefügten Um­ schlag hat vergessen lassen. Gott möge einen Krieg für alle Zeit unmöglich machen, doch wenn dieser nicht zu vermeiden sein sollte, dann stehen wir allezeit bereit.«233 Die Aufhebung der Pariser Belagerung und die Kapitulation Frankreichs vor dem seit Januar zum Deutschen Reich vereinigten Staatenbund hatte ein explosives politisches Vakuum hinterlassen: Die »vorläufige Regierung der nationalen Verteidigung« unter Lei­ tung des Generals Trochu in Paris verfugte über keinerlei Auto­ rität, ihr wurde zu große Kompromissbereitschaft vor dem Feind vorgeworfen; die Regierung der Republik war im März von Mar­ seille nach Versailles umgesiedelt und hatte damit die Gesinnung ihrer monarchistischen Mehrheit kundgetan; in der französischen Hauptstadt selbst formierte sich der Widerstand der radikalen Re­ publikaner und der mehr oder weniger geschlossenen Sozialisten und Kommunisten zur Pariser Kommune, die am 18. März zum Bürgerkrieg führte. Nach Öffnung der Stadt hatte es Hetzei für an­ geraten gehalten, sich zur Erholung in den Süden nach Cannes und Monaco abzusetzen, aus deren sicherer Entfernung er entsetzt das weitere Geschehen verfolgte, während sich Jules Verne vier Mal von Amiens in die Hauptstadt begab, wo er kopfschüttelnd die in seinen Augen dilettantischen Kommunarden erlebte. Bereits im vorausgegangenen November hatte er seinem Vater gegenüber pro­ phezeit, es werde unausweichlich zum Bürgerkrieg kommen, und die Hoffnung geäußert, man möge »die Sozialisten wie Hunde ab­ knallen. Die Republik kann nur um diesen Preis gerettet werden, und sie ist die einzige Regierung, die das Recht hat, ohne Mitleid gegen den Sozialismus vorzugehen, denn sie ist die einzige richtige und legitime Regierung.«234 Nun fürchtete er, Präsident Thiers werde sich nicht trauen, die Republik »auf den Ruinen der Kom206

mune«, die er eine »schreckliche und groteske Farce«235 nannte, zu errichten. Verne täuschte sich gründlich. In der so genannten »Blutwoche« Ende Mai wurde Paris von den Regierungstruppen gestürmt; es kam auf beiden Seiten zu Grausamkeiten, aber die Konsequenz, mit der die Aufständischen niedergemetzelt wurden, spricht dafür, dass es nicht nur darum ging, die Stadt vom regierungsfeindlichen Widerstand zu befreien, sondern »das Gespenst des Sozialismus« mit seinen Wurzeln auszurotten. Etwa 20.000 Kommunarden niemand hat ihre Leichen gezählt - wurden getötet, weitere 10.000 verbannt oder deportiert; erst 1875 wurde mit drei konstitutio­ nellen Gesetzen die neue Republik vor reaktionären Rückfällen einigermaßen abgesichert, erst zehn Jahre später gewährte die kon­ solidierte Republik eine Amnestie für die Verbannten. Aus Vernes heftigen Reaktionen sprach die Angst des Bürger­ tums vor der Emanzipation des Proletariats, das sich auf nationaler Ebene zu organisieren begann und auf Marx’ Betreiben hin auch internationale Anstrengungen unternahm; in den panikartigen For­ mulierungen kam die Unsicherheit über die weitere Entwicklung des Landes zum Ausdruck, an die nicht zuletzt die eigene Existenz geknüpft war. Das historische Ereignis sollte seine fiktionale Um­ setzung innerhalb der Außergewöhnlichen Reisen in dem 1873 ge­ schriebenen Roman Die geheimnisvolle Insel erfahren, in der die kleine Gruppe von »Ballonbrüchigen« (auch dies eine Szene, die an die Ballonaufstiege während der Belagerung erinnert) auf die Be­ drohung durch unvermutet auftauchende Piraten mit deren gänz­ licher Eliminierung reagiert. Vernes aggressive Haltung gegenüber den Kommunarden entspricht der irrationalen Bekämpfung der Störenfriede beim idyllischen Robinson-Spielen: »Die vage Ver­ mutung, sie würden, wenn sie die Inselzivilisation entdecken, diese erobern und in Besitz nehmen wollen, die Unterstellung also, von solchen Leuten sei das Schlimmste zu gegenwärtigen, genügt den Kolonisten bereits zu der Schlussfolgerung, die Vernichtung des Feindes sei die einzige Alternative zum eigenen Untergang.« 236 Nicht Vernes Produktivität war ins Stocken geraten, jedoch auf­ 207

grund der wirtschaftlichen Lage Hetzeis Geldfluss. In dieser Situa­ tion entschloss sich der Schriftsteller, in Paris vorübergehend zur Börsenarbeit zurückzukehren. Diesmal setzte er allerdings nicht auf den guten Willen von Bekannten und Verwandten, sondern auf Transaktionen mit den großen Bankhäusern, wobei ihn Freund Wallut unterstützt haben dürfte. Zugleich war Mitte Juli die end­ gültige Entscheidung gefallen, den Hauptwohnsitz nach Amiens zu verlegen, an den Boulevard Guyencourt 23 am südlichen Stadtring, der damals die beiden Stadtbahnhöfe miteinander verband. »Auf Wunsch meiner Frau«, schrieb Verne an Wallut, »lasse ich mich in Amiens nieder, einer besonnenen, gesitteten Stadt von ausgegliche­ ner Gemütsart. Die Gesellschaft dort ist herzlich und gebildet. Man ist nah an Paris, nahe genug, um den Abglanz zu haben, ohne den unerträglichen Lärm und die unfruchtbare Hektik.«237 Und Hetzei vertraute er später an: »Das Leben in Paris mit meiner Frau, so wie Sie sie kennen, war unmöglich.«238 Zweieinhalb Bahnstunden (oder iX h im Express) von der Hauptstadt entfernt, erfreute sich Amiens neben der größten goti­ schen Kathedrale Frankreichs und eines unbedeutenden Museums einer wichtigen Stoffwarenfabrikation, von der über ein Drittel der Bevölkerung wirtschaftlich abhängig war. »Sie ist zum Besuch eine recht interessante Stadt«, hatte Verne in seinem Geographiewerk geurteilt. »Ihre neuen Stadtteile sind regelmäßig angelegt, doch in ihrem alten Teil, der an die Somme grenzt, ist sie entsetzlich ver­ baut.«239 Bei dem »alten Teil« handelte es sich um das der Kathe­ drale gegenüberliegende Armenviertel Saint-Leu, heute als an­ heimelnd historisches Vorzeigeviertel restauriert, in dem wegen des industriellen Abwassers ständig Seuchengefahr herrschte; statt Maßnahmen zur Sanierung zu treffen, ließ die Stadtverwaltung Saint-Leu bis über die Jahrhundertwende hinaus vollständig verrot­ ten und finanzierte stattdessen den Bau neuer Stadtviertel außer­ halb der alten Wallanlagen. Mit 60.000 Einwohnern war Amiens die Hauptstadt der Picardie. Jules Verne fand Eingang in die dortige Gesellschaft über Théo­ dore Jeunet, der aus Provins gebürtig war, wo er mit der Familie 208

Blick aufAmiens. Zeitgenössische Postkarte

von Vernes Vater in Verbindung gestanden hatte. Jeunet war Verle­ ger der Tageszeitung Journal d’Amiens, die das konservative Gegen­ stück zum radikalrepublikanischen Le Progrès de la Somme des zu­ künftigen Bürgermeisters Frédéric Petit bildete, sich aber als fortschrittlich gegenüber dem ultramontanen Echo de la Somme de­ finierte. Dem vorsichtig reformatorisch gesonnenen Blatt von Jeu­ net, und nicht der flammenden Stimme des sozialen Fortschritts, gewährte Verne in den folgenden Jahren den Vorabdruck einer Reihe von Erzählungen und Vorträgen, auch den Nachdruck eini­ ger Romane zu günstigen Konditionen; das Journal d’Amiens revan­ chierte sich mit einer gewogenen Berichterstattung und einem hohlspiegelartigen Nachdruck von Texten, die die Pariser und aus­ ländische Presse dem prominenten Zuzögling widmeten. Da Verne es sich auch mit Le Progrès de la Somme nicht verdarb und sich zu­ gleich zum Freundeskreis des royalistischen Anwalts und Politikers Albert Deberly zählte, stellte er einen neutralen Anlaufpunkt für die untereinander verfeindeten politischen Lager der Stadt dar, was so lange funktionierte, wie er nicht selbst vom Ehrgeiz gepackt wurde, in der Kommunalpolitik mitzumischen. 20g

Anfang November musste er überstürzt nach Chantenay aufbre­ chen: Dem Vater ging es schlecht. Pierre Verne starb am Nachmit­ tag des 3. November, nur wenige Stunden nach der Ankunft seines ältesten Sohnes, im Kreis der Familie und ohne viel gelitten zu ha­ ben. »Er war ein wahrhaftiger Heiliger«240, erfuhr Hetzei, der um­ gehend zwei bewegende Briefe an die Familie richtete. Knapp zwei Wochen blieb der Schriftsteller in seiner Heimat, dann eilte er nach Paris zurück. Ende des Monats schloss er die Niederschrift der Er­ zählung Eine Idee des Dr. Ox ab, die Charles Wallut für das Musée des Familles in Auftrag gegeben hatte und in der Verne seiner Spottlust freien Lauf ließ. Weder die phlegmatische Gemütsart seiner neuen Heimatstadt blieb ausgespart noch die Agitation der Kommune oder der nationalistische Überschwang, mit dem sich das Kaiser­ reich zum Sturm auf den Nachbarn gerüstet hatte. Zugleich setzte Verne alle Hebel in Bewegung, um eine Rück­ kehr auf die Pariser Bühnenbretter durchzusetzen. Am 19. De­ zember nahm das Gymnase Les Pailles rompues wieder auf. Einige Kritiker schlugen Verne vor, sich an einem großen Feenschauspiel zu versuchen. Mehr bedurfte es nicht, die alte Leidenschaft mit der Aussicht auch auf finanziellen Gewinn neu zu entfachen: »Mir ist die Idee gekommen«, schrieb er im Februar 1871 an Hetzei, »dass man ein großes, ganz neuartiges Drama, ein panoramatisches Drama aus dem Hatteras machen könnte, ein Drama, in dem es ein Nord­ licht gäbe, Wale, Stürme, Schiffbrüche, eben alles, was man noch nie im Theater gesehen hat.«241 Die Theaterdirektoren ließen sich da­ für aber nicht erwärmen, das monotone Weiß der Eiswüste bot, so fürchteten sie, für die Ausstattung nicht genügend Kontraste. Auch Jean Macé schrieb an den Verleger: »Ich habe unterwegs noch mal über all das nachgedacht, was Du mir über Vernes Dramenprojekt gesagt hast. Mir scheint das eine Unmöglichkeit. Bei einem Erzäh­ ler von Vernes Statur kann der Nordpol ja gerade noch zu einem Romanhelden werden, und sein Buch hat das zur Genüge bewie­ sen; aber die Bühne sträubt sich dagegen ganz und gar. Da spielt er in einer Lotterie, in der es kein Los zu gewinnen gibt. Versuche also, ihn davon abzubringen.«242 210

Jules Verne hatte selbst schon längst auf ein anderes Pferd gesetzt, mit seinem untrüglichen Gespür für zugkräftige Themen und einem verhängnisvollen Missgeschick in der Auswahl seiner Mitar­ beiter. Über die Gattin des befreundeten Theaterdirektors Larochelle, Leiter des Cluny, war er mit Edouard Cadol in Kontakt ge­ kommen. Cadol war in Theaterdingen ein Routinier, aber ein notorisch glückloser, und dies obwohl er seit 1862 nachdrücklich von George Sand protegiert wurde. 1868 hatte er auf Larochelies Bühne mit dem Stück Les Inutiles einen spektakulären Überra­ schungserfolg gelandet, von dem er sein ganzes Leben lang zehren sollte, danach nur noch Reinfälle erlebt. Cadol brauchte Geld, um den Lebensunterhalt seiner Frau und seiner sechs Kinder zu si­ chern, und Jules Verne bot ihm an, er solle für ihn ein Theaterstück ausarbeiten, dessen Gegenstand Verne sich gleichzeitig für einen Roman vorbehielt. Das Thema (eine Weltreise in Mindestfrist), die Hauptpersonen und der überraschende Schlusseffekt, der auf der Zeitverschiebung beruhte, standen bereits fest. Die detaillierte Pla­ nung erfolgte auf langen Spaziergängen in konfliktgeladener Zu­ sammenarbeit, von der der Journalist François Oswald eine leben­ dige Schilderung hinterlassen hat.243 Auf angemessenere, weil derart rastlose Art hätte kaum entste­ hen können, was mit In 80 Tagen um die Welt Vernes größter Erfolg werden sollte. Und zugleich das beste Beispiel dafür, wie sein Au­ tor es verstand, aktuelle Zeitungsmeldungen aus der Kolumne »Vermischtes« für seine Zwecke zu nutzen und ihnen eine literari­ sche Form zu verleihen, die sie weit über die Vergänglichkeit des Tagesgeschehens hinaushob. Nach der Eröffnung des Suez-Kanals am 17. November 1869 hatten spektakuläre Berechnungen in den Tageszeitungen die Runde gemacht, denen zufolge eine Erdum­ rundung theoretisch in nur 80 Tagen machbar sei. Der amerikani­ sche Exzentriker George Francis Train sollte, nachdem er sich an der Finanzierung der transamerikanischen Eisenbahn beteiligt hatte, für sich in Anspruch nehmen, diesen Rekord im Jahre 1870 errungen und damit Jules Vernes Roman inspiriert zu haben. Und dann gab es noch einen ganz realen Fogg (William Perry), der 1871 211

George Francis Train. Fotografie, 1872 Fernes Bekannten Pani Du Chaillu gewidmet. Dieses Foto diente mögli­ cherweise als Vorlage für das Porträt des Phileas Fogg von A. de Neuville.

GEORGE FRANCIS TRAIN. aooordUf M A» of Iba DU». of Mua.

von einer zweijährigen Weltreise heimgekehrt war und die west­ liche Welt mit Berichten aus den geheimnisvollen Ländern China und Japan begeistert hatte, die 1872 unter dem Titel Around the World als Buch erschienen. All diese Meldungen gingen in Jules Vernes Kopf eine Synthese ein und formten sich zu dem Buch, dessen Originalität erst dann vollständig hervortritt, wenn man es mit Cadols konventionellerem Theaterstück vergleicht. Denn die Ausarbeitung von Stück und Roman schritt parallel voran, unter Vernes Aufsicht, der Cadol gleichwohl das notwendige Maß an Freiheit zugestand, um für den Plot auch eine bühnenge­ rechte Umsetzung zu ermöglichen. Im Frühjahr hatte Cadol eine erste Fassung ausgearbeitet und im Juni 1872 die ausformulierte erste Hälfte den Direktoren des Châtelet vorgestellt - die dankend ablehnten. Da damit keine Aussicht mehr bestand, auf der größten Bühne von Paris gespielt zu werden, kam Cadol auf das kleinere Cluny seines Förderers Larochelle zurück, für das er eine reduzierte 212

Fassung anfertigte, die sich aber für diese Bühne ebenfalls nicht eignete. Die Angelegenheit war umso peinlicher, als Vernes inzwi­ schen fertiggestellter Roman mit seinem Vorabdruck in Le Temps Ende 1872 einen Sensationserfolg erlebt hatte und die Aufführung von Cadols Stück für Februar oder März 1873 bereits angekündigt worden war. Wohl aus diesem Grunde entschied man sich in aller Eile, ein anderes Theaterstück aus der Zusammenarbeit Jules Vernes mit Charles Wallut aus der Schublade zu ziehen und Cadol zur Überarbeitung anzubieten, damit dieser sein Gesicht wahren könne. Cadol willigte in den Handel ein und gewann eine Versi­ cherungsgesellschaft dafür, zu guten Konditionen das Textbuch zu verlegen, weil das Versicherungswesen im Stück selbst thematisiert wird. Dieses Arrangement wurde jedoch durch Vernes Vertrag mit Hetzei untersagt, sodass Jules Verne bereit war, seinen Namen ganz zurückzuziehen. Dies wiederum kam für Larochelle nicht in Frage, der für die Aufführung des Stücks auf die Zugkraft des po­ pulären Schriftstellers setzte. Am Ende erschien die Broschüre bei Hetzei allein unter Vernes Namen. Cadol war verärgert und zog, nachdem er die Komödie mit dem Titel Le Bon Motif zu Ein Neffe aus Amerika oder die beiden Frontignac umgearbeitet hatte, kurz vor der Premiere am 17. April seinen Namen zurück, auch wenn ein Drittel des Autorenhonorars auf sein Konto floss. Dies war letztlich nicht viel, denn der Komödie war nur ein bescheidener Erfolg beschieden, obwohl sie später sogar in deutscher Übersetzung in Wien und Berlin aufgeführt wurde. »In der Anlage«, informierte die Illustrirte Zeitung über eine Inszenierung des Berliner Residenz­ theaters, »gleicht das Stück ziemlich den dramatisirten Sittenroma­ nen, nur wird dasselbe duchgängig von einer heitern Stimmung getragen.«244 Begeisterter gab sich Emile Zola, der ansonsten nicht gut auf das Werk seines erfolgreichen Kollegen zu sprechen war: »Wie gut das Lachen tut (...). Ich für mein Teil bin entzückt, dass die Komödie von Herrn Verne nichts weiter als ein Vaudeville ist, ein lustiger Schwank ohne weitere Ansprüche. Ich befürchtete ein anständiges und mittelmäßiges Stück. Und dann, welche Freude, es sich gemütlich machen und sich vergnügen zu können wie ein 213

großes Kind! Vom ersten Akt an fühlten sich die Zuschauer wie zu Hause.«245 Edouard Cadol sollte noch weitere Kröten schlucken müssen. Für Juni 1873 bot er seine Fassung von In 80 Tagen um die Welt der Direktion des auf Spektakelstücke spezialisierten Théâtre de la Porte-Saint-Martin an, in die Larochelle gewechselt hatte. Diesmal wurde das Angebot günstig aufgenommen, allerdings unter der Be­ dingung, dass ein erfahrener Kollege beteiligt wurde — was Cadol akzeptierte. Aller Wahrscheinlichkeit nach war zu diesem Zeit­ punkt schon die Entscheidung gefallen, Cadol auszubooten und Verne zu bewegen, seinen Roman gänzlich neu für die Bühne zu bearbeiten, auf Grundlage des Romans und zusammen mit jenem anderen Kollegen, der noch zu finden war. Victorien Sardou war im Gespräch, auch der jüngere Dumas — beide lehnten ab. Zwi­ schenzeitlich überließ Cadol das Manuskript seinem Freund und Kollegen Emile de Najac, der sich im Auftrag der Vereinigung französischer Bühnenautoren im Sommer auf eine Reise in die Vereinigten Staaten machte, um über die Rechte an aktuellen Stücken zu verhandeln. Najac fertigte mit Zustimmung von Verne und Cadol eine eigene Fassung an, um das Stück für die Erforder­ nisse des amerikanischen Bühnenbetriebs einzurichten. Die Impre­ sarios in New York zeigten sich davon unbeeindruckt, denn unter­ dessen hatte sich das Gerücht herumgesprochen, Jules Verne sei eine Zusammenarbeit mit Adolphe d’Ennery eingegangen, der in seiner bereits vier Jahrzehnte andauernden Bühnenkarriere legen­ däre Erfolge vorzuweisen hatte. Diese Fassung wolle man spielen, keinen Aufguss eines Stückes, das nicht einmal in Paris Abnehmer gefunden hatte. Najac schluckte und Cadol schäumte, denn das Gerücht ent­ sprach der Wahrheit. Larochelle selbst hatte Verne mit d’Ennery zu­ sammengebracht. Mehr noch: D’Ennery durfte, das machten die Direktoren zur Voraussetzung, keinerlei Einsicht in Cadols fertige Fassung nehmen, was diesen zusätzlich brüskierte. Verne selbst no­ tierte auf dem Manuskript dieser Urfassung: »Arbeit von Herrn Cadol, die nichts mit dem Stück der Herren d’Ennery und Verne 2)4

gemeinsam hat.«246 Jules Verne hatte den ehemaligen Mitarbeiter für seinen Anteil vereinbarungsgemäß ausgezahlt, trat aber zusätz­ lich die Hälfte seiner künftigen Erträge aus den Aufführungen der Neubearbeitung an Cadol ab. Vernes Anteil betrug 5% des Ein­ spielerlöses, während d’Ennery für sich allein 7% forderte — und bekam: Der Mann wusste, was sein Name wert war. Adolphe Philippe, der sich nach seiner Mutter Dennery nannte und mit der Trennung des ersten Buchstabens durch einen Apos­ troph eine adlige Abkunft suggerierte (was ihm seit 1858 offiziell zugestanden worden war), hat in seiner langen Laufbahn — in Zu­ sammenarbeit mit anderen Autoren oder allein — über zweihundert Theaterstücke geschrieben, die sich weniger durch sprachlichen Schliff und thematische Originalität als durch eine publikumswirk­ same Handlungsführung auszeichneten. D’Ennerys Motto lautete: »Im Theater muss man die Leute zum Lachen oder zum Weinen bringen, sonst gähnen sie«247 - und diese Einsicht hatte er in der Gattung des Melodrams mit unübertroffener Perfektion umgesetzt, als dessen unangefochtener Meister er galt. Das Prinzip dieses Gen­ res lag darin, trotz einer bigotten Moral sensationsheischende The­ men auf emotional packende Weise zu verarbeiten, und nichts bringt d’Ennerys Talent besser zum Ausdruck als die vorläufige Bi­ lanz seines dramatischen Schaffens, die der Kritiker Arnold Mör­ der Anfang 1874 zog: »Im Œuvre des gefeierten Dramatikers gibt es etwa: 18 Witwen von Hingerichteten, 16 Hingerichtetensöhne und zwei Hingerichtetentöchter, 84 Waisenknaben und 112 Wai­ senmädchen, 60 Blinde, 10 simulierende Blinde, 93 entführte Jung­ frauen, 22 Brudermorde, 8 Vatermorde, zweimal Inzest, 145 gefun­ dene Kinder, 162 verlorene Kinder, 116 entführte Kinder, 124 ausgetauschte Kinder, 212 unterschlagene Testamente, 216 gestoh­ lene Brieftaschen, 198 Degenduelle, 168 Pistolenduelle, 8 Duelle mit dem Messer, 2 Duelle mit Säbel, 10 Duelle mit der Axt, 13 Brandstifter, 123 Feuermörder, 136 Giftmörder, 46 Ertrunkene, 26 schuldige Häftlinge, 62 unschuldige Häftlinge, 80 befreite Häft­ linge, 35 ausgebrochene Häftlinge, 17 vorgetäuschte Ehebrüche, 77 Erstickungstode, 64 Vergewaltigungen, 115 Fluchten, 206 Ver2J5

haftungen, 40 Fälle gemeingefährlichen Wahnsinns, 39 Fälle harm­ losen Wahnsinns, 62 Fälle von Verblödung, 28 falsche Irre, 113 vor ihrer Hochzeit betrogene Ehemänner, 105 nach ihrer Hochzeit be­ trogene Ehemänner, 41 vor, während und nach ihrer Hochzeit be­ trogene Ehemänner.«248 D’Ennery besaß am Mittelmeer, am Kap von Antibes, die präch­ tige Villa »Die grünen Eichen«, die seine Lebensgefährtin Clé­ mence (»Gisette«) Desgranges mit einer Sammlung chinesischer Kunstgegenstände in ein opulentes Museum verwandelt hatte. Hier verbrachte Jules Verne mehrere Monate, um mit seinem Mitarbei­ ter von November bis Dezember 1873 zunächst das Szenario von In So Tagen um die Welt auszuarbeiten und dieses dann von Mitte Fe­ bruar bis Anfang April des folgenden Jahres zu schreiben. Es blieb nicht aus, dass der in seinem Selbstgefühl verletzte Édouard Cadol im November 1873 einen Brief im Figaro veröffentlichte, den man auch so verstehen konnte, dass sein Anteil am Werk — einschließlich des Romans - bedeutender gewesen sei als von Verne zugegeben. Was dieser dementierte. Die zwei Manuskriptfassungen des Romans, die zwischen Ende März und Oktober 1872 in einem einzigen Schaffensrausch ent­ standen waren, sind in der Tat allein von Vernes Hand geschrieben worden. Verne verschwieg lediglich, dass er zeitgleich Cadols aus­ gearbeitete Szenen gelesen und korrigiert, bisweilen Dialogteile in sein Buch übernommen hatte; doch geschah dies mit Billigung des anderen, der ihm das schriftlich garantiert habe, wie er Hetzei gegenüber versicherte. Da Jules Verne seine persönliche Korres­ pondenz vernichtet hat, fehlen die entsprechenden Belege, und Vernes noch erhaltene Briefe an Cadol befinden sich noch unzu­ gänglich in Privatsammlungen. Ein Teil der Arbeit wurde auf der Saint-Michel erledigt, auf der er im Juni auch London besuchte, zu­ sammen mit Honorine und Paul, die von dem, was sie sahen, »ent­ zückt, ja: begeistert« waren; so wie er selbst: »Ich liebe London und diese Engländer.«249 Bereits im März des Jahres war Jules Verne in die Akademie von Amiens aufgenommen worden, hatte sich aber wegen seiner »Reiseverpflichtungen« entschuldigt und hielt seine 216

Dankrede erst kurz nach seiner Rückkehr aus England, am 28. Juni. Den förmlichen Vortrag ersetzte er durch die Lektüre der ersten Kapitel aus dem neuen Roman — eine unkonventionelle Geste, die er in den folgenden Jahren des Öfteren wiederholte, schon um den ungeliebten Zwang zu umgehen, über im Wortsinn »akademische« Gegenstände dissertieren zu müssen. Auch die große Schwesterorganisation in Paris ließ von sich hö­ ren und verlieh Verne am 8. August 1872 für sein Romanwerk einen Preis erster Ordnung, der mit 6.000 F. verbunden war. Die Zuneigung der Académie française für die Außergewöhnlichen Reisen und ihren Schöpfer sollte damit ihr Bewenden haben. Eine Woche darauf und zurück in Amiens nahm Jules Verne an einem Spektakel ganz anderer Art teil: Er war ermächtigt worden, einen zum Tode Verurteilten während seiner letzten Stunden zu begleiten. Ein halbes Jahr zuvor hatte der 22-jährige Landarbeiter Théophile-Hyacinthe Cauchy aus Habgier seinen Arbeitgeber und dessen Frau erschlagen und war schnell als Täter entlarvt worden. »Ich war in der Zelle des Unglücklichen, als man ihn um halb drei weckte, und um fünf Uhr am Schafott, als... Ich werde Ihnen das erzählen, so etwas aber nicht noch einmal mitmachen.«250 Der de­ taillierte Bericht, den das Journal d’Amiens am 16./17. August über Cauchys letzte Stunden veröffentlichte und respektvoll die tapfere Haltung des Verurteilten übermittelt, geht mit einiger Wahrschein­ lichkeit auf Vernes Eindrücke zurück. Geschätzte 15.000 Zuschauer, »die sich vor allem aus Frauen und Kindern zusammensetzten«251, hatten die Hinrichtung verfolgt, ein Urteil, das in Amiens in die­ sem Jahrhundert bislang nur fünf oder sechs Mal vollstreckt wor­ den war. Bereits in seinem Roman Paris im 20. Jahrhundert hatte Verne mit der sarkastischen Schilderung einer elektrischen Hin­ richtung (die erst 1890 in den Vereinigten Staaten verwirklicht wurde) Stellung gegen die Todesstrafe bezogen und sollte noch zwei Mal in späteren Werken mit derselben Ablehnung darauf zu­ rückkommen. Anlass zu vehementem Protest, wie ihn Victor Hugo 1832 in seiner Schrift Der letzte Tag eines zum Tode Verurteilten for­ muliert hatte, war es für ihn gleichwohl nicht.

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Erfreulicheres stand bevor: Am 6. November begann der Vorab­ druck von ln 80 Tagen um die Welt in Le Temps, der seine ganz spe­ zielle Spannung daraus bezog, dass sich die Zeiträume von Veröf­ fentlichung und Handlung in zunehmendem Maße einander annäherten und schließlich zur Deckung kamen. Der Erfolg war überwältigend, und der Roman vollzog den Triumphzug seines Helden flächendeckend durch die ganze Welt nach. Vernes ge­ schickt eingefädelte und mit Theatereffekten gewürzte Spannungs­ steigerung, die Aktualität des Themas und seine mit liebevoller Ironie gezeichneten Hauptpersonen gingen im Roman eine er­ folgreiche Einheit ein, die von Cadols Theaterfassung nicht er­ reicht wird. Cadols Fogg, eher ein überdrehter Pariser, lässt die cha­ rakteristische Kaltblütigkeit und die uhrwerkhafte Methodik der Romanfigur vermissen; seine Leidenschaft für Mrs. Aouda erblüht früher und heftiger, und in der Figur des Inspektor Fix erhält er einen intriganten Rivalen. Vor allem die Schlussszene, die in einem einzigen Tohuwabohu (mit ihren eigenen Qualitäten) endet und auf Spannungssteigerung setzt, steht im völligen Gegensatz zu der effektvollen Überraschung, mit der der phlegmatische Gentleman des Romans in seinem Klub auftritt. Cadol bemüht sich allzu an­ gestrengt, jede Handlungsfolge mit möglichst viel Lokalkolorit des jeweiligen Landes vollzustopfen; sein Verfahren, Humor durch die Wiederholung von Handlungssequenzen zu erzeugen, ermüdet schnell ob seiner Durchschaubarkeit. Schließlich knüpft er viele seiner Pointen an das Auftreten einer ganzen Reihe von Neben­ personen ohne große Bedeutung, während Jules Verne stets auf eine ökonomische Beschränkung seiner Romanfiguren achtete. Der Schlusseffekt des gewonnenen Tages bleibt im Stück kaum nach­ vollziehbar, zumal das Überschreiten der Datumsgrenze für die Zeitgenossen ohnehin ein nur schwer zu schluckender Brocken war; dies zeigt sich auch daran, dass Jules Verne aufgefordert wurde, dieses Phänomen vor der Geographischen Gesellschaft von Paris zu erklären — eine Aufgabe, der er sich am 4. April 1873 humorvoll entledigte. Trotz seiner Schwächen bleibt Cadols Stück als Parallel­ fassung des Romans lesenswert, und so kann man seine überra­ 218

sehende Wiederentdeckung 130 Jahre nach der Entstehung als kleine Sensation begrüßen.252 Eine Hochzeit beendet märchengleich den Roman, in der Rea­ lität waren es sogar zwei, für die der Schriftsteller zur selben Zeit aufkommen musste: Am 12. November 1872 heiratete Honorines Tochter Valentine den Leutnant Albert de la Rue de Francy, am 16. April 1873 folgten ihre Schwester Suzanne und der Kaufmann Georges Lefebvre. Während Valentine ihrem Mann bald im Zuge seiner Versetzung nach Oran folgte, blieben Suzanne und Georges ihr Leben lang in unmittelbarer Nähe der Vernes wohnen und bil­ deten ihren täglichen Umgang. Das ganze Jahr 1873 war dem Ziel gewidmet, das lang gehegte Projekt des »herrlichen Robinsons« zu verwirklichen, das Jules Verne seit acht Jahren beschäftigte. Die Neufassung des Onkel Robinson sollte sein vielleicht bedeutendstes Werk werden, das motivisch alle vorausgegangenen Romane zu­ sammenfasst. Statt an der gestrandeten Familie Clifton festzuhalten, wählte er für Die geheimnisvolle Insel eine kleine Gruppe scheinbar zufällig zusammengewürfelter Amerikaner, die jeweils unterschied­ liche Gesellschaftsschichten vertreten und, fast ohne Hilfsmittel, dafür aber mit vorbildlicher Allgemeinbildung ausgestattet, die technologische Entwicklung von der Erfindung des Feuers bis zur Installation eines Telegrafen nachvollziehen. Das gelingt so lange, wie die Natur mitspielt und den Kolonisten ein Potpourri idealer Vor­ aussetzungen bietet und so einen utopischen Mikrokosmos bildet; die Utopie einer harmonischen Gesellschaft zerbricht dagegen schon eher, indem sie durch den Auftritt von Fremden — den be­ reits angesprochenen Piraten — gestört und als Illusion entlarvt wird. Mit dem Spektakel des alles vernichtenden Vulkanausbruchs am Ende versetzen Natur und Autor die Akteure wieder an den Ausgangspunkt ihres Ehrgeizes zurück, retten sie nackt und ohn­ mächtig auf einen kleinen Granitfelsen. Hatte der Erzähler zuvor den Sinn der menschlichen Existenz damit begründet, etwas Blei­ bendes zu schaffen, schließt er nunmehr antithetisch: »All ihr Wis­ sen, ihre ganze Intelligenz vermochten nichts in dieser Situation. Sie befanden sich allein in den Händen Gottes.«253 Ebenso subtil 219

wie radikal hatte Verne die soziale Hierarchie seiner Personen, die vom Hund über den Affen, den schwarzen Bediensteten, den See­ mann, den Intellektuellen und Ingenieur bis zum gottähnlichen und im Verborgenen handelnden Kapitän Nemo fuhrt, durch die Namengebung umgekehrt: Da steht nun Nemo als »Niemand« an unterster Stelle, gefolgt vom allwissenden Ingenieur mit dem Aller­ weltsnamen Smith, während sein Diener Nabuchudonosor den Namen eines Königs trägt, der Affe Jupiter gar den eines Gottes und Hund Top wörtlich den höchsten Punkt bildet. Zwei parallele Robinsonaden ergänzen komplementär die zentrale Entwicklung: Mit der Figur des zum Tier herabgesunkenen Verbrechers Ayrton exemplifiziert Verne die moralische Wiederauferstehung als Mög­ lichkeit bewussten menschlichen Handelns durch soziale Be­ ziehungen, während die Figur des einsam in seinem U-Boot lebenden Nemo trotz ihrer technischen Überlegenheit durch das Gefangensein in einer kathedralenartigen Grotte faktisch zur Ohn­ macht verdammt ist und den Untergang der Insel Lincoln nicht überlebt. Mit der Nautilus verschwindet auch das einzige Element, das im Roman als technische Neuerung über den Status quo des 19. Jahrhunderts hinausgewiesen hatte. Man muss als Leser schon über einen unverwüstlichen Optimismus verfügen, um Die ge­ heimnisvolle Insel als einen Lobgesang auf den wissenschaftlichen Fortschritt zu verstehen und die tiefe Skepsis ihm gegenüber zu ignorieren... Wenn Verne meinte, den präzise geplanten Roman schnell und ohne Widerstände niederschreiben zu können, wurde er wieder einmal eines Besseren belehrt: Hetzei beklagte die seiner Meinung nach blasse Charakterisierung der Personen, zensierte die ausführli­ che Schilderung eines chirugischen Eingriffs, banalisierte Nemos letztes Wort »Unabhängigkeit« zu »Gott und Vaterland«, setzte einen versöhnlicheren Schluss quasi als Nachschlag zum ursprüng­ lichen Romanende durch, erkannte nicht die symbolische Bedeu­ tung der Ayrton-Episode und kritisierte dessen Wahnsinn als un­ glaubwürdig. Mit Letzterem war Vernes Kompromissbereitschaft allerdings überstrapaziert: Er warf Hetzei vor, in ihm Selbstzweifel 220

schüren zu wollen. Daraufhin versuchte es der Verleger ausnahms­ weise mit Diplomatie: »Ertragen wir unsere jeweiligen Rollen, mein guter Alter, und wenn wir uns wechselseitig etwas aufregen, dann gehen wir darüber hinweg, indem wir uns sagen, dass daraus unser gemeinsames Bestes resultiert.«254 Einen Tag nachdem er diesen Brief erhalten hatte, sollte es Jules Verne seinen Personen nachtun und am 28. September 1873 seinen einzigen Ballonaufstieg erleben, der glücklicherweise idyllischer ausfiel als am Beginn der Geheimnisvollen Insel. Nadars ehemaliger Kompagnon Eugène Godard kam mit seinem Ballon Météore nach Amiens, um an der Place Longueville, dem zukünftigen Zirkus­ platz, seinen 1.055. Aufstieg zu unternehmen, inmitten eines »aero­ statischen Festes«, das sowohl ein »komisches Ringelrennen«, ein Harmoniekonzert, Sackhüpfen und noch andere Belustigungen einschloss, bevor um 15 Uhr mit dem feierlichen Füllen der Bal­ lonhülle und dem anschließenden Aufstieg der Höhepunkt des Nachmittags erreicht wurde. Da der Météore nur 900 Kubikmeter (etwas mehr als ein Siebtel des Géant) fasste, war die Anzahl der Mitreisenden von vornherein begrenzt. Neben Eugène Godard, seinem neunjährigen Sohn Léon, Jules Verne und Anwalt Albert Deberly befand sich ein Affe namens Jack in der Gondel, der zur Erheiterung der Gemüter mit einem Fallschirm zu Boden sprang. Diese spektakulärste Reise des Autors von Fünf Wochen im Ballon dauerte gerade einmal vierundzwanzig Minuten, und entspre­ chend kurz fiel der Bericht aus, den er anderntags an seinen Freund Jeunet für das Journal d’Amiens adressierte. Fünfzehn Jahre später, am 10. Mai 1888, sollte der Schriftsteller als Zuschauer vor der Gasfabrik von Saint-Maurice bei der Jungfernfahrt des von ihm getauften Ballons Jules Ferne anwesend sein, bei dessen zweitem Aufstieg im Juni in der Nähe von Paris niemand anders als Nadars Sohn Paul eine Reihe von Luftaufnahmen anfertigte. Der Roman des Jahres 1873, Das Land der Pelze, hatte das Un­ glück, zwischen den zwei spektakulären Büchern In 80 Tagen um die Welt und Die geheimnisvolle Insel zu erscheinen und von ihrem Er­ folg förmlich erdrückt zu werden, ähnlich wie der Band Der Dok22 t

tor Ox (1874), für den Jules Verne einige der im Musée des Familles erschienenen Erzählungen neu bearbeitet und Bruder Paul den Be­ richt seiner Mont-Blanc-Besteigung vom August 1871 beigesteuert hatte. Das Land der Pelze ist ein etwas uneinheitliches Werk, mögli­ cherweise die Überarbeitung eines alten Projekts von Anfang der 60er Jahre, ergreift aber durch eine für Vernes Verhältnisse unge­ wohnte, emotionale Tiefe bei der Personendarstellung und durch sehr poetische Naturbeschreibungen, in denen der Autor einmal mehr seiner Liebe zur Landschaft des hohen Nordens Ausdruck verleiht. Einer der wenigen Kommentatoren, die das moderne Po­ tenzial dieses Werks herausgestellt haben, ist Jean-Paul Dekiss: »Diesmal befinden sich Tiere im Herzen der Handlung. Ihr zuneh­ mendes Massaker durch die Jäger für den Gewinn der großen Pelz­ handelsgesellschaften veranlasst Jules Verne, ökologische Überle­ gungen anzustellen, die im Gegensatz zum vorherrschenden Denken seiner Zeit stehen, und führt ihn zu einer überraschenden Umkehrung der Ausgangslage.«255 Mit einer Symbolik, die an die Konsequenz der Geheimnisvollen Insel erinnert, schildert Verne, wie eine Gruppe von Pelzjägern in der Arktis einen Außenposten der Hudson Bay Company gründen — auf einer Halbinsel, die in Wirk­ lichkeit eine riesige Eisscholle ist, die sich nach einem Vulkanaus­ bruch vom Festland löst und ihrer fortschreitenden Auflösung ent­ gegentreibt. Jäger und Gejagte — Menschen wie Tiere — sind gezwungen, ihre gewohnten Rollen aufzugeben und zu einer friedlichen Koexistenz zwecks Überlebens zu finden. Im Sommer 1874 gelangte die fertiggestellte Theaterfassung von In 80 Tagen um die Welt vor den Schauspielern des Théâtre de la Porte Saint-Martin zur Lektüre und wurde im August von den Di­ rektoren endgültig angenommen. Mit einem nie dagewesenen Aufwand in Ausstattung und Kostümen kam In 80 Tagen um die Welt am 7. November 1874 auf die Bühne. Die Investition von umge­ rechnet einer halben Million Euro sollte sich auszahlen. Um die Nachfrage zu befriedigen, mussten an manchen Tagen zusätzliche Matineen gegeben werden, und dies bei einer Auflührungsdauer von vier Stunden. Trotzdem blieb das Theater monatelang ausge222

bucht. Die große Attraktion der Show war ein leibhaftiger Elefant namens Zozo, der aus London hatte herbeigeschafft werden müs­ sen, denn die Exemplare des Pariser Zoos, Castor und Pollux, waren während der Belagerung ja aufgegessen worden. In einem späteren Interview berichtete Adolphe d’Ennery: »Im dritten Bild benötigten wir: einen Elefanten!!... >Ein Ele­ fant! ...< rief Larochelle aus, >wird gestrichen !< — >Nein, neinden behalten wir bei.< Und der Dickhäuter blieb. Allerdings präsentierte uns Larochelle zur Probe triumphierend einen Elefanten aus Gummi. Allgemeine Bestürzung. Einige Tage später ließ Ritt einen hübschen kleinen Elefanten herbeischaffen. Ich riet dazu, ihn zu kaufen. >Ihn kaufen?< mokierte sich Larochelle. >Mein Bester, das würde uns 8.000 Francs kosten, gemietet kostet er uns nur 60 Francs pro Abend.< Da das Stück aber bald sechshundert Aufführungen zählte, kos­ tete allein die Miete des Elefanten über 36.000 Francs, während der Kauf nur mit 8.000 zu Buche geschlagen hätte.«256 Die Verwendung dieser außerliterarischen Mittel zeigt deutlich, wie sehr sich die Inszenierung des Stückes Zirkus und Jahrmarkt­ kultur annäherte. Damit verwirklichte es einen Aspekt, der im Ro­ man durchaus angelegt ist; im Buch trägt das Element des Spieleri­ schen jedoch dazu bei, die Leser auf eine gewisse ironische Distanz zu den Figuren zu bringen. Die satirischen Aspekte des Romans verschwanden auf der Bühne ganz hinter den visuellen Effekten, was den Kritiker Francisque Sarcey dazu veranlasste, resignierend eine Entwicklung abzusehen, die um 1900 auf das Ende des bür­ gerlichen Illusionstheaters hinauslaufen sollte: »In 80 Tagen um die Welt ist ein industrielles Unternehmen, ein Feenschauspiel, in das ein Mann von Geist - und das wissen wir durchaus zu würdigen ein Körnlein seiner Originalität gestreut hat, das er erneuert hat. Aber es ist klar, dass mir In 80 Tagen um die Welt nur missfallen kann, weil es an den Platz von etwas Besserem tritt, und dieses Bessere wäre ein wirkliches Drama gewesen. Mit Kummer sehe ich, wie eine ganze Truppe guter Künstler genötigt wird, Dialoge mit Büh223

nenbildern zu fuhren.«257 Mit dieser kritischen Haltung stand Sarcey allerdings ziemlich allein: Das Stück wurde gelobt, die Gattung des »naturwissenschaftlichen Theaters« begründet zu haben, was fraglos übertrieben ist, weil niemand belehrter aus der Vorstellung herauskam, als er hineingegangen war, aber Vernes Ruf als Roman­ autor strahlte auf die Bühnenfassungen zurück, die ihrerseits seinen Namen einem größeren Publikum vermittelten als es die Bücher des Verlags Hetzei & Co. jemals vermocht hätten. Schon während Jules Verne mit d’Ennery am Stück arbeitete, hatte Hetzei ihm geraten, seinen Kunstanspruch etwas tiefer zu hängen: »Diese großen Spektakel, in denen die Ausstattung und die Verwandlungen eine so große Rolle spielen und die anderen Vorzüge überdecken, lassen wenig Raum für den literarischen Ruhm.«258 Und Verne beeilte sich, seinem Verleger Recht zu ge­ ben: »Nein, ich messe der Bearbeitung unserer Bücher für die Bühne keinerlei literarischen Wert bei. Für mich ist das nur eine fi­ nanzielle Angelegenheit, nichts weiter.«259 Damit gab sich Verne keinen Illusionen hin und befand sich zu­ gleich im beglückenden Bewusstsein, endlich, nach einem Viertel­ jahrhundert vergeblicher Versuche, die Pariser Bühnen erobert zu haben. Als moderner und kritischer Zuschauer kann man sich einem Urteil von George Sand anschließen, die das Stück zusam­ men mit ihrer Enkelin sah: »Lolo hat den Elefanten auf der Bühne der Reise um die Welt gesehen, ein sehr brillantes Ballett und einen leidlich guten Schiffbruch. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass das so schön sein würde. Das Stück ist amüsant und kurzweilig. Ein stroh­ dummes Kinderspektakel, das aber gut auf die Bühne gebracht ist und zum Lachen bringt.«260 In dieser Bearbeitung stürmte ln 80 Tagen um die Welt die großen Theater Frankreichs, Europas und der Vereinigten Staaten. Allein in Paris, wo das Stück im ersten Durch­ gang 414 Mal nacheinander aufgeführt und von seiner Wiederauf­ nahme 1876 an im großen Châtelet inszeniert wurde, erreichte es in 27 Spielzeiten insgesamt 3.708 Aufführungen, fast immer vor ausverkauftem Haus. Der Vorhang der Derniere fiel erst am 13. Mai 1940. 224

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Turbulenzen allerorten (1875—1878)

Jules Vernes außerordentlichem Erfolg wurde nicht nur Beifall ge­ zollt, er mobilisierte auch Neider. Kaum war der Konflikt mit Edouard Cadol in Schranken gewiesen, da tauchte ein anderes Ge­ spenst aus der Vergangenheit auf: René de Pont-Jest, ein Gerichts­ reporter und viel gelesener Autor von Feuilleton-Romanen, be­ schwerte sich, für die Premiere von In 80 Tagen um die Welt nicht zwei Logen nach seinem Geschmack erhalten zu haben. Verne machte er dafür verantwortlich, weil er ihm persönlich geschrie­ ben hatte, fühlte sich zutiefst beleidigt und erinnerte seinen Kolle­ gen daran, dass er seit zehn Jahren auf eine Antwort warte: eine an­ gemessene Antwort auf den Vorwurf, Jules Verne habe ihn 1864 mit seiner Reise zum Mittelpunkt der Erde plagiiert. Tatsächlich hatte Pont-Jest am 23. Februar 1865 im Figaro einen Brief veröffentlicht, in dem er sich vor dem möglichen Vorwurf verwahrte, Vernes Buch mit seiner Novelle La Tête de Mimer imi­ tiert zu haben, weil diese ein Jahr vor der Reise zum Mittelpunkt der Erde erschienen war.261 Auf diesen Brief hatte Verne seinerzeit nicht geantwortet, weil er angab, Pont-Jests Erzählung vorher nicht gekannt und nach der Lektüre festgestellt zu haben, dass die Ähn­ lichkeiten mit seinem Roman wohl die geschilderten Reisevor­ bereitungen betrafen, nicht aber, wie Pont-Jest in seinem Brief suggerierte, das Thema der Reise zum Erdmittelpunkt selbst. Jules Verne hielt nach dem Beschwerdebrief seines Kollegen an seiner Darstellung fest, räumte die Übereinstimmungen ein und bot Pont-Jest an, ihm in einem Brief dafür die Priorität zuzugestehen. Hetzei intervenierte auf seine Weise und lud die beiden Autoren Anfang Dezember 1874 zu einer Aussprache bei einem gemeinsa­ men Mittagessen, das bei ihm und Verne den Eindruck hinterließ,

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Pont-Jest würde seinen Vorwurf fallen lassen. Sie sollten sich gründlich täuschen. Anfang Januar meldete er sich erneut bei Het­ zei und erhob weitere Beschuldigungen. Als Verne auf seinen Vorschlag einging, die Angelegenheit dem Schiedsgericht der Société des Gens de Lettres zu unterbreiten, vollzog er eine überraschende Kehrtwende, drohte mit einer skan­ dalträchtigen Berichterstattung in den Zeitungen und einem öf­ fentlichen Gerichtsverfahren. In seinem vorerst letzten Brief vom 15.Januar verstieg sich Pont-Jest gegenüber Hetzei zu dem abstru­ sen Vorwurf, Verne habe ihm mit der Veröffentlichung der Reise zum Mittelpunkt der Erde die Gattung des wissenschaftlichen Ro­ mans blockiert: »Ich bedauere ebenso lebhaft wie Sie, gezwungen zu sein, gegen Herrn Verne eine Klage anzustrengen, der Sie beide auf so einfache Art hätten Einhalt gebieten können, und ich glaube weiterhin nicht nur, dass ich im Recht bin, sondern auch, dass sich ebenso wie die Justiz die öffentliche Meinung in dieser Ange­ legenheit nicht auf Seiten derer wird schlagen wollen, die alles in allem wenig zu einer Versöhnung beigetragen haben, nachdem sie, und das ist mein Vorwurf, einem Literaten seinen Weg verbaut haben, auf dem er gerade seinen Anfang nahm und auf dem sie dank einer Entlehnung, über die ich mich beklage, zu Ansehen und Vermögen gekommen sind.«262 Dass Pont-Jest sprachlich zu umständlicher Theatralik neigte, bestätigte später Enkel Sascha Guitry, der ansonsten viel auf seinen Großpapa hielt: »Dieser charmante Mann hatte, wie viele Schrift­ steller, die nicht besonders gut zu schreiben verstehen, wenn er sprach, einen übertriebenen Respekt vor der Grammatik. Er er­ sparte uns kein Imperfekt im Subjunktiv, und die (ungebräuch­ lichen Formen wie] »eussiez«, »vinsse«, die »parcourusse« und die »pusse«, die »aimassiez« und »vissiez«, mit denen er seine pompösen Satzgefüge spickte, verliehen seinen Erzählungen ich weiß nicht welchen Anschein von Unwahrscheinlichkeit und nahmen ihnen alle Natürlichkeit.«263 Ohne den Abschluss der Affäre abzuwarten, brach Jules Verne noch am selben Tag nach Antibes zu d’Ennery auf; die Direktoren 226

Rene de Pont-Jest

Ritt und Larochelle hatten angesichts des überwältigenden Publi­ kumszulaufs ein weiteres Theaterstück in Auftrag gegeben, und Verne beabsichtigte, mit der Bearbeitung seines Romans Die Kinder des Kapitäns Grant nun zu seiner zweiten Weltreise auf der Bühne anzusetzen. Erst ein halbes Jahr später ließ Pont-Jest mit dem ge­ richtlichen Ultimatum wieder von sich hören, dass binnen dreier Tage io.ooo Francs zu zahlen seien; andernfalls werde er eine Klage anstrengen, nicht nur gegen Verne, auch gegen den Verleger, den er nun der Komplizenschaft bezichtigte. Der Grund dafür war ein­ fach: Wäre Verne alleiniger Beklagter gewesen, würde das Ge­ richtsverfahren in Amiens abgewickelt werden, Pont-Jest zählte aber auf das Aufsehen eines Pariser Verfahrens. Der Prozess kam, aber erst im Januar 1877, das Aufsehen auch, aber es wendete sich gänzlich gegen den Kläger, der sich mit seinem Verteidiger überworfen hatte und es vorzog, seine Vorwürfe selbst zu vertreten. Jules Verne leistete sich mit Edouard Allou einen angesehenen Anwalt, der der Pariser Advokatenschaft Vorstand und wegen seiner Wort­ 227

gewandtheit geschätzt und gefürchtet wurde. Der Angeklagte hatte für ihn ein detailliertes Memorandum ausgearbeitet, auf das Allou seine Argumentation stützte. In seinem Plädoyer am io. Januar 1877 verwies er auf die nachgeordnete Bedeutung der motivischen Ähn­ lichkeiten in den beiden Werken und legte das Hauptaugenmerk auf Pont-Jests inkonsequentes Vorgehen und die Tatsache, dass er geschlagene zehn Jahre mit seiner Klage gewartet hatte. Am 17. Januar sprach der Richter Verne und Hetzei frei und verurteilte Pont-Jest dazu, die Kosten des Verfahrens zu tragen. Nach unvoreingenommener Lektüre der beiden Werke bleiben die Übereinstimmungen bemerkenswert, und zwar nicht nur hin­ sichtlich der von Verne zugegebenen »sachlichen Details«, sondern auch wegen des »philosophischen Gehalts« beider Texte, von dem im Prozess oder in Pont-Jests Vorwürfen nie die Rede gewesen ist. Denn sowohl die Reise zum Mittelpunkt der Erde als auch die Suche nach dem Stein der Weisen, Mimers Kopf erzählen von dem Ver­ such, sich das Absolute anzueignen, und kritisieren die Ansprüche der Naturwissenschaft. In seiner Erzählung bringt Pont-Jest dieses Anliegen moralisierend zum Ausdruck, während es Verne symbo­ lisch und mit Ironie formuliert. Trotz dieser Analogien sieht man sich mit zwei sehr unterschiedlichen literarischen Werken konfron­ tiert, die sich gegenseitig keineswegs überflüssig machen. Wenn Pont-Jest seinen Prozess verloren hat, dann vor allem wegen seines widersprüchlichen Verhaltens und der Übertreibungen, die seinen Behauptungen alle Glaubwürdigkeit nahmen. — René de Pont-Jest starb 1904 in einem Altenheim für Künstler, nachdem er sich mit seiner Spielsucht ruiniert hatte. Allein der Figaro widmete seinem ehemaligen Mitarbeiter einen kurzen Nachruf, der mit den Worten schloss: »Der Tod seiner Tochter, Frau Renée de Pontry [1902], hatte ihn furchtbar mitgenommen, und seit diesem Ereignis schrieb er so gut wie gar nichts mehr. Er war ein talentierter Schriftsteller und ein liebenswürdiger Mensch, der nur Freunde hatte.«264 Vernes dritter Aufenthalt bei d’Ennery im Januar und Februar 1875 erwies sich als qualvoll, der Stoff der Kinder des Kapitäns Grant als ungeahnt widerborstig. D’Ennerys Unpässlichkeiten und die 228

vulgären Ausdrucksfornien seiner Lebensgefährtin, Besuche von Theaterleuten mit ihren Mätressen, die Jules Verne als unmoralisch empfand, gestalteten die Arbeit ausgesprochen schwierig: »Ich bin angewidert, über alle Maßen, denn ich muss mich gegenüber Din­ gen zusammennehmen, die mich empören«, schrieb er an Hetzei, und an dessen Sohn: »Ich beginne erst, das Stück zu erahnen, aber dieses Haus ist mir so verhasst, dass ich, sobald der Plan steht, abreisen werde. Um nichts in der Welt werde ich das Stück hier schreiben. Und Ihr Vater wirft mir vor, ihn noch nicht in Monaco besucht zu haben! Wenn er meint, dass ich mich hier amüsiere, ich hier zu meinem Vergnügen bin, dann täuscht er sich sehr!«265 Het­ zei fuhr daraufhin selbst zu d’Ennery und schrieb Louis-Jules nach dem Besuch: »Er und seine Frau fühlen sich wie in der Hölle. Un­ ter aller Pein der Welt gelingt es ihm, aus dem müden, ausgelaug­ ten, fast — so sagt er — verschlissenen Dennery etwas Arbeit heraus­ zuholen, er muss alles selbst machen und zehn Mal neu ausführen. Der andere hat fast nur noch die Auswahl zu treffen, trägt aber nichts Eigenes mehr bei.«266 Keine günstigen Voraussetzungen für eine fruchtbare Zusam­ menarbeit, und so sollte sich die Fertigstellung des Stücks nach einer Reihe verworfener Pläne und Fassungen bis 1877 hinziehen, das Resultat erst am 2. Weihnachtstag 1878 auf die Bühne kommen — zu spät, um von der Pariser Weltausstellung zu profitieren, für die es geplant worden war. Und es war auch nicht sonderlich erfolg­ reich, obwohl oder vielleicht gerade weil es sich mehr von der lite­ rarischen Vorlage entfernte als In So Tagen um die Welt. Die Kritik bemängelte die uneinheitliche und allzu melodramatische Hand­ lung, die sich bei der Premiere wegen Problemen mit der Bühnen­ technik von 19.30 Uhr bis zwei Uhr morgens hinzog: Das Stück scheiterte an seiner eigenen Ausstattung und wurde trotz erheb­ licher Kürzungen und nach 114 Aufführungen im April des folgenden Jahres eingestellt. Nur in Deutschland erfreute es sich weitaus größerer Beliebtheit und wurde beispielsweise 1879 am Berliner Viktoriatheater über zweihundert Mal nacheinander ge­ geben. 229

Man kann sich kaum einen größeren Kontrast vorstellen zwi­ schen der Art, in der sich Verne bei Hetzei über d’Ennery beklagte, und der Unterwürfigkeit, mit der er sich brieflich an d’Ennery selbst, als seinen »lieben Meister«, wandte. Er ist symptomatisch für Vernes Unfähigkeit, Konflikte auszutragen, sie stattdessen in sich hineinzufressen und dadurch zu bewältigen, dass er sie literarisch verarbeitete — im Falle d’Ennerys in einem Roman über eine »Rei­ se durch die Sonnenwelt«, an dem er seit September 1874 schrieb. Diesen Roman legte er nach seiner Rückkehr nach Amiens aller­ dings vorläufig zur Seite, um sich an ein Projekt zu machen, das er mit Hetzei am Kap von Antibes besprochen hatte. »Ja«, beruhigte er seinen Verleger, »ich schicke Ihnen in Kürze den ersten Band der Sonnenwelt zurück, damit Sie anfangen können, die Stiche anferti­ gen zu lassen. Aber in diesem Augenblick, unmöglich von etwas anderem zu reden als vom Kurier des Zaren. Ich bin mittendrin, kann an nichts anderes denken, und das begeistert mich in einem außergewöhnlichen Maße. Das Thema ist herrlich und enthält Si­ tuationen, die mir sehr schön scheinen!«267 Wie zuvor ln So Tagen um die Welt und später Keraban der Starrkopf konzipierte Verne den Kurier des Zaren zugleich als Roman und Theaterstück, was Einfluss auf die narrative Struktur, die Dialogführung und die Schilderung spektakulärer »Tableaus« im Buch hatte. Die Arbeit am Roman ging bis zu dessen Abschluss im August 1875 problemlos voran, unterbrochen nur von regelmäßigen Aus­ flügen auf der Saint-Michel und Sommeraufenthalten in Le Treport, zu denen Verne Freunde wie die Walluts oder die Familie des In­ genieurs Paul Poire und des Anwalts Robert Godefroy einlud seine kleine Kolonie, wie Hetzei sich ausdrückte. Seit dem Vorjahr Mitglied im französischen Yacht-Club, hatte der Schriftsteller in Le Havre den renommierten Schiffskonstrukteur Abel Le Marchand kennen gelernt und bei ihm im Oktober 1875 den Bau eines neuen Segelschiffes in Auftrag gegeben, dessen größere Ausmaße auch entsprechend längere Reisen erlauben sollten. Der Stapellauf, das hatte Jules Verne ausdrücklich zur Bedingung gemacht, sollte spä­ testens am 15. April des folgenden Jahres stattfinden. Mit 19 Tonnen 230

wog die zweite Saint-Michel fast das Doppelte ihrer Vorgängerin und übertraf sie auch in der Gediegenheit ihrer Innenausstattung. Der Stapellauf war wegen des schlechten Wetters auf den 25. April verlegt worden, in Anwesenheit des Schriftstellers, der glücklich hätte sein sollen, aber mit seinen Gedanken ganz woanders war... Das Jahresende 1875 und die ersten drei Monate des neuen Jah­ res hatten die Vernes in Nantes zugebracht, und gleich zu Beginn des Aufenthalts war der Schriftsteller von Fieber ergriffen worden, das ihn zwei Monate lang an der Arbeit hindern sollte: »Eine Zahnfleischentzündung, entstanden durch Bluterhitzung, hat eine Muskellähmung bewirkt und setzt sich als Geschwür im Rachen­ raum fort, was sehr schmerzhaft ist und zutiefst abscheulich.«268 Aber nicht lebensgefährlich, anders als im Fall seiner Ehefrau: Bei ihrer Rückkehr nach Amiens hatte Honorine unter Blutungen im Unterleib zu leiden, denen zunächst keine große Bedeutung zuge­ messen worden war, die sich aber derart in die Länge zogen, dass sie der Blutverlust in ernste Gefahr brachte. Schwiegersohn Geor­ ges Lefebvre stellte sich als Blutspender zur Verfügung, was zu die­ ser Zeit keineswegs selbstverständlich, sondern ein risikoreicher Eingriff war, da man die Existenz unterschiedlicher Blutgruppen noch nicht kannte. »Ihr armer Gatte befindet sich bei aller Cou­ rage in einem furchtbaren Zustand; er liebt seine Frau so sehr! Die Kraft hat ihm gefehlt, Ihnen zu schreiben, und er hat mich mit die­ ser traurigen Mission betraut.«269 Am Tag nach dem Stapellauf der Saint-Michel verschlimmerte sich die Situation, die Arzte gaben Honorine schon verloren, dann ging es ihr allmählich doch wieder besser. Honorine war außer Lebensgefahr, aber erst Anfang Juni konnte sie das Bett für ein oder zwei Stunden am Tag verlassen. Im Jahr darauf erlitt sie einen Rückfall, der nicht ganz so schlimm war, aber sie davon abhielt, zu Ostern an einem großen Kostümball teilzunehmen, den ihr Mann in den Salons von Saint-Denis geben wollte, um ihre Stellung und die ihrer Töchter in der Stadt zu verbessern. Er werde oft eingela­ den, so klagte Jules Verne gegenüber Hetzei, aber stets allein. »Ich persönlich hätte die 4.000 Francs, die mich das gekostet hat, lieber 231

fur eine Reise verwendet.«270 Der Verleger, der in Monaco weilte, verurteilte in seiner gewohnt selbstgerechten Weise Vernes Initia­ tive als provinzielle Posse. 700 Einladungen waren verschickt worden, 350 Zusagen einge­ gangen, ungefähr 200 Gäste hatten sich spezielle Kostüme anferti­ gen lassen, darunter viele, die Personen aus den Außergewöhnlichen Reisen darstellten. Unmöglich, die für Ostermontag, den 2. April angesetzte Festlichkeit kurzfristig abzusagen, denn es wurden Gäste aus den Nachbarorten und aus Paris erwartet, die Kosten der spe­ ziell angefertigten Verkleidungen schätzte Verne auf 100.000 F. Honorine wurde als Gastgeberin durch ihre Tochter Suzanne in Gestalt einer Schäferin aus einem Gemälde Watteaus vertreten, und das Journal d’Amiens vom 4. April 1877 bescheinigte ihr, sich dieser Aufgabe »mit viel Anmut und großer Munterkeit« entledigt zu ha­ ben. Das Fest begann um 21 Uhr und war am folgenden Morgen um 6 Uhr noch immer nicht zu Ende. Und auch Jules Verne selbst war mit dem Verlauf des Abends äußerst zufrieden: »Der besagte Ball war prächtig; mir war bewusst, dass ich damit meiner Frau die größte Freude machen würde ... und meine Frau hat nicht teil­ nehmen können! Sie können sich denken, was das für ein Herze­ leid bedeutete!!«271 Ein derartiges Ereignis hatte in Vernes Leben Ausnahmecharakter — anders etwa als bei René de Pont-Jest, der dafür bekannt war, jährlich zwei oder drei einschlägige Festivitäten in Paris zu veranstalten. Das Jahr 1877 hatte für Verne mit dem Freispruch von Pont-Jests Anschuldigungen am 17. Januar einen glücklichen Auftakt genom­ men. Eine Woche später wurde Offenbachs Opéra-Bouffe Der Doktor Ox uraufgeführt, die Freund Philippe Gille und Arnold Mortier nach seiner vergnüglichen Novelle angefertigt hatten. Verne selbst hatte Gille beratend zur Seite gestanden, aber das Er­ gebnis stellte weder ihn noch Hetzei zufrieden. Der Doktor Ox litt unter einer gänzlich uninspirierten Umsetzung der Textvorlage, und auch Offenbachs Partitur, die den Komponisten noch immer auf der Höhe seiner kompositorischen Erfindungskraft zeigte, ver­ mochte daran nur wenig zu ändern. In diesem Zusammenhang 2)2

bietet sich Gelegenheit klarzustellen, dass Offenbachs vorausge­ gangenes Werk Die Reise auf den Mond (1875) nichts, aber auch gar nichts mit Vernes Romanen zu tun hatte, auch wenn der Romancier dies vermutete und eine Zeit lang erwog, Schadens­ ersatz einzuklagen. Das einzige, was man behaupten kann, ist, dass sich die Dekorateure von einigen Illustrationen der Hetzel-Ausgaben hatten inspirieren lassen, vor allem von deijenigen, die eine mehrere Kilometer lange Kanone zeigt, die in Von der Erde zum Mond aber gar nicht erst zum Einsatz gekommen, sondern Gedan­ kenspiel geblieben war. Auf den Kanonenschuss hielt sich Verne in seiner Argumenta­ tion viel zugute, doch wäre er schlecht beraten gewesen, ihn für sich zu reklamieren. Denn ein anderer Autor, Charles Habeneck, war ihm zuvorgekommen und hatte gleich nach der Veröffentli­ chung von Vernes erstem Mondroman in einem offenen Brief an den Journalisten Timothee Trimm daraufhingewiesen: »Vor zwei Jahren habe ich in einer kleinen Zeitung, Le Peuple, die Sie viel­ leicht kannten, unter dem Titel La Legende du Soleil eine phantasti­ sche Geschichte veröffentlicht, in der irgendein Sultan, der mit der Sonne unzufrieden war, an ihr Rache nehmen wollte und sie deshalb zum Tode verurteilte. Die Exekution fand behelfs einer gi­ gantischen Kanonenkugel statt, die aus einer nicht weniger gigan­ tischen Kanone abgefeuert wurde. Eine wissenschaftliche Abord­ nung nahm darin Platz, genau wie im Buch von Herrn Verne, und erreichte nicht den Mond, sondern die Sonne. Die Beschreibung der Kanone und die Auswirkungen der Detonationen finden sich in beiden Geschichten, und so ähnlich, dass allein das Veröffentli­ chungsdatum meiner Publikation (1863 [recte: Januar-Februar 1864]) mich beruhigt hat, keine Imitation begangen zu haben. Ich glaube nicht, dass sich Herr Verne an meiner Legende inspiriert hat, aber sollte ich meine kleine Geschichte später einmal veröf­ fentlichen wollen, möchte ich nicht, dass man mir vorwirft, Herrn Verne plagiiert zu haben.«272 Verne hätte also keine guten Karten gehabt, wäre er auf die Idee verfallen, es seinem Kollegen Pont-Jest nachzutun und vor Gericht zu ziehen. 233

Klage von ganz anderer Seite erfolgte im Juni 1877: Der Groß­ rabbiner von Paris und später Frankreichs, Zadoc Kahn, beschwerte sich höchstpersönlich über den neuesten Roman von Jules Verne, der seit Januar in Fortsetzungen erschien, und schrieb an Hetzei: »Mit wahrhaftiger Traurigkeit habe ich die letzte Nummer des Ma­ gasin d’Education et de Récréation gelesen, in der es Herrn Jules Verne gefallen hat, einmal mehr den so neuen und so geistreichen Typus des jüdischen Wucherers zu wiederholen. Ich hätte gedacht, dass ein so originelles und erfindungsreiches Talent wie das seine derart abgenutzte Mittel verschmähen würde, um den Leser zu amüsie­ ren; aber wie es scheint ist die Gewohnheit zu stark: Alle Schrift­ steller müssen da einmal durch.«273 Jules Verne — ein antisemitischer Schriftsteller? Die Frage ist es wert, eingehender betrachtet zu werden. Den Roman Hector Serva­ dac, denn um ihn handelt es sich bei dem Vorwurf, hatte Jules Verne in einem zweiten Redaktionsdurchgang von September 1875 bis April 1876 neu geschrieben. Er schildert, wie ein Komet ein Stück Mittelmeerraum aus der Erde reißt und ins Weltall schleudert; der in Algerien stationierte Hauptmann Servadac wird zum Anführer einer kleinen Kolonie, die sich auf die Suche nach Überlebenden der Katastrophe macht und sich mit dem fortschreitenden Erkalten ihres neuen Lebensraums, den man patriotischerweise Gallia getauft hat, immer tiefer in das Innere eines Vulkans zurückzieht. Nach zwei Jahren kehrt Gallia zum Heimatplaneten zurück und die Reisenden wider Willen finden sich auf der Erdoberfläche wie­ der, als wäre ein langer Traum zu Ende. Diese »Geschichte einer Hypothese«, wie Hetzei den von ihm überhaupt nicht geschätzten Roman bezeichnete, bot Verne die Gelegenheit, die Reihe der Außergewöhnlichen Reisen um einen Ausflug in die Sonnenwelt zu bereichern und seine Leser auf Grundlage der populärwissenschaft­ lichen Veröffentlichungen von Camille Flammarion mit dem ak­ tuellen astronomischen Wissen über die in seinen Mondromanen gegebenen Informationen hinaus zu versorgen. Zugleich nutzte er das aus der Reise zum Mittelpunkt der Erde bekannte Motiv der Zeit­ reise durch den Abstieg in einen Vulkan, indem er diese in die 234

Zukunft verkehrte und an ihr den fortwährenden Prozess der Erd­ erkaltung nachvollzog, mit dem der langfristig unaufhaltsame Untergang des irdischen Lebens einhergehen würde. Mit diesem Entwurf stellt Verne die auf die industrielle Entwicklung be­ schränkte Handlung seines vorausgegangenen Romans Die geheim­ nisvolle Insel in einen eschatologischen Rahmen, der dort in einem Vortrag des Ingenieurs Smith vorweggenommen worden war. Wie bereits in Das Land der Pelze ergibt sich aus der Gefährdung der Reisenden in Hector Servadac, dort noch in verstärktem Maße, die moralische Forderung nach einer Aufhebung der nationalen und gesellschaftlichen Grenzen, die dem gemeinschaftlichen Über­ leben entgegenstehen: »Dachte man, indem man an die anderen dachte, nicht zugleich an sich selbst? Kein Unterschied der Rasse, kein nationaler Gegensatz konnte mehr zwischen denen bestehen, die von Gallia durch den unendlichen Raum entführt wurden.«274 Ein lobenswerter Vorsatz, der weit über die Nationalismen des 19. Jahrhunderts hinauszuweisen scheint; aber er ging umso entschie­ dener auf Kosten des einzigen jüdischen Repräsentanten auf Gallia. Zadoc Kahns Kritik bezieht sich auf die Figur des preußischen Juden Isaac Hakhabut, der seine Rettung durch Servadacs Truppe mit Wucherei und Betrug dankt, denn er verfügt als Kaufmann über das Lebensmittelmonopol und die einzige Waage, und er setzt all seinen Ehrgeiz daran, Reichtum anzuhäufen, den er am Schluss durch die Rückkehr auf die Erde wieder verliert. Dadurch wie auch durch seine episodenhafte Einbindung in die Handlung er­ scheint er als Witzfigur, über deren Eigenheiten sich die übrigen Personen amüsieren. Sein Porträt geht jedoch über die Karikatur hinaus und fokussiert alle geläufigen Klischees, ohne ein einziges auszulassen: »Er war ein Mann von fünfzig Jahren, der sechzig zu zählen schien. Klein, schwächlich, mit lebhaften, aber falschen Au­ gen, Hakennase, gelblichem Kinnbärtchen, ungeordnetem Haar, gro­ ßen Füßen, langen und krummen Fingern, bot er den so bekann­ ten und überall wiedererkennbaren Typus des deutschen Juden. Das war der kriecherische, herzlose Wucherer, ein Geldabschneider und Geizhals der gemeinsten Sorte. Das Geld zog seinesgleichen an wie 235

der Magnet das Eisen, und wenn dieser Schylock [sic] sich damit zufrieden gegeben hätte, seinen Schuldner zu konfiszieren, hätte er sicher dessen Haut stückweise verkauft. Mochte er seiner Herkunft nach Jude sein, wurde er, wenn der Profit es erforderte, in den mo­ hammedanischen Ländern zum Mohammedaner, angesichts eines Katholiken notfalls zum Christen und wäre Heide geworden, wenn ihm das erlaubt hätte, noch mehr zu verdienen. Dieser Jude hieß Isaac Hakhabut und stammte aus Köln, war mithin zunächst ein­ mal Preuße und anschließend Deutscher.«275 Weder der Hinweis auf die mit Shylock zitierte literarische Tra­ dition scheint mir sonderlich erhellend noch der von Dekiss ver­ tretene Standpunkt, Verne habe mit der Figur des Hakhabut einen individuellen Charakter schildern wollen, nicht aber die gesell­ schaftliche Gruppe, für die er nach der Schilderung doch stell­ vertretend auftritt.276 Allenfalls eine ins Polemische gewendete Va­ riante des unter anderen von Eugène Sue und Dumas genutzten Motivs des »Ewigen Juden« wäre im Romanzusammenhang zu er­ wägen. Verne hätte für die Person des Wucherers eine weniger ver­ fängliche Wahl treffen können, stattdessen entschied er sich für das Klischee. Mehr noch: Er steigerte die Antipathie seiner Leser gegenüber dem religiös und ethnisch denunzierten Typus des »Wu­ cherjuden« mit dem ausdrücklichen Hinweis auf seine Nationalität als Preuße, was bei seinen Landsleuten die Funktion eines Pawlowschen Reizauslösers erfüllte, und das war von Verne nicht nur in Kauf genommen, sondern beabsichtigt worden. Auch Hakhabuts Name entstammt einem Umfeld des Verbrechens und Lasters; Verne hat ihn wahrscheinlich William Hogarths Bilderfolge A Harlot’s Progress (1732) entlehnt, der die Laufbahn der Moll Hackabout schildert, von ihrem Sündenfall als Mätresse eines reichen Juden (Stich II) bis zu ihrem Ende in der Prostitution. Dass Jules Verne diese Bilderfolge kannte, ist gesichert, denn er bezeichnet in Robur der Eroberer Hogarth als »den Maler aller Saxonenhässlichkeiten«277 und verweist den Leser auf ein Detail des vierten Stiches. Zu den hinlänglich bekannten religiösen Vorurteilen der katho­ lischen (und auch protestantischen) Christen gesellten sich im 2j6

19-Jahrhundert nicht minder machtvoll Neid und Ressentiments gegenüber den Juden als Vertretern des Geldadels und Finanz­ kapitals; in diese Stellung waren sie gerade durch die seit dem Mittelalter praktizierte Gesetzgebung gelangt, die sie von den meisten »anständigen« Berufen ausgeschlossen und ihnen die für Christen als unwürdig empfundenen Tätigkeiten im Geldgeschäft zugewiesen hatte. Die Verankerung der Juden im französischen Bankwesen ist also eine Tatsache, ebenso wie ihre starke Präsenz an der damaligen Börse. Darin, dass man — bewusst oder unwissent­ lich — aus dem Ergebnis einer Jahrhunderte währenden Zwangs­ maßnahme einen Vorwurf ableitete, liegt die besondere Perfidie einer stets der Instrumentalisierung ausgesetzten Judenfeindlichkeit. Ernst Feydeau, der zur selben Zeit als Effektenmakler arbeitete wie Jules Verne, schreibt in seinen Memoiren: »Nun wäre es an der Zeit, einige Worte über die Juden zu sagen. Sie sind sehr zahlreich an der Börse wie in all den Berufen, in denen sie ihre speziellen Begabungen entfalten können. Man kann sie leicht in zwei Kate­ gorien einteilen: die südlichen Juden (...) und die nördlichen Juden, die man als >deutsche Judem bezeichnet (...). Die ersten, de­ ren Typus recht gut durch [den Bankier] Mirés und die Gebrüder Pereire vertreten wird, haben im allgemeinen [!] einen olivfarbe­ nen Teint, schwarze Haare und Augen, sind lebhaft und ungestüm, geschwätzig, großtuerisch, prahlerisch und gute Kerle. Letztere, die alle im Äußeren mehr oder weniger |!| dem seligen Baron von Rothschild ähneln, sind dick, fett, rosig, blond, zurückhaltend, be­ dächtig, ausgesprochene Rechner; aber wie erstere verfügen sie über eine unnachahmliche Ausdrucksweise.«278 In diesem Zitat deutet sich bereits die in der zweiten Jahrhun­ derthälfte auftretende Tendenz an, bestimmte Eigenschaften als Ausdruck eines spezifischen Charakters von überindividueller Be­ deutsamkeit zu sehen, was schließlich in einseitiger Verkürzung der als negativ beschriebenen Seiten zur Definition einer »Rasse« miss­ braucht wurde. Zur religiösen und sozialen Diskriminierung der Juden trat ihre rassistische Herabsetzung als minderwertiger Men­ schentyp hinzu. Selbst eine liberale Enzyklopädie wie der Grand 237

Dictionnaire Universel von Larousse schreibt 1888 im Artikel zum Stichwort Juif. »Die französischen Juden erfreuen sich darüber hin­ aus [in Frankreich] seit langem aller Bürgerrechte und haben sich der Fehler ihrer Rasse, wenn auch nicht vollständig entledigt, so diese doch merklich abgeschwächt.«279 Trotz ihrer Integration in die bürgerliche und künstlerische Gesellschaft liefen die Franzosen jüdischen Glaubens im Zuge eines erstarkenden Nationalismus nach dem Krieg von 1871 Gefahr, als »volksfremd« denunziert zu werden und erneut für gesellschaftliche Fehlentwicklungen als Sündenböcke herhalten zu müssen. Die ganz reale Gefahr dieser Geisteshaltung zeigte sich Mitte der 90er Jahre prototypisch in der Dreyfus-AfFäre, dem willentlichen Rufmord an einem französi­ schen Offizier jüdischer Religion, die das Land an den Rand des Bürgerkriegs brachte. Es bedarf nicht erst des Völkermords auf je­ nem organisatorischen Niveau, das die deutschen Nationalsozialis­ ten mit ihren willfährigen Helfern international verwirklichten, um das Unrecht des Antisemitismus gegenüber dem Individuum als Verbrechen zu erkennen und als solches zu bezeichnen. Ebenso wenig ist Vernes antisemitischer Ausfall in Hector Servadac aus unserer durch Auschwitz geprägten und damit zu Recht sensi­ bilisierten Perspektive erschöpfend zu verstehen und zu bewerten. Jules Verne war kein antisemitischer Autor, für den Judenhetze in­ tegraler Bestandteil seines schriftstellerischen Schaffens gewesen wäre; umso nachdrücklicher stellt sich die Frage, weshalb Verne sich in diesem speziellen Fall dergleichen Gehässigkeit erlaubt hat. Die Antwort findet sich auf zwei unterschiedlichen Ebenen, die einander ergänzen: Zunächst einmal war, wie der Larousse in sei­ nem bereits zitierten Artikel hervorhebt, der Einfluss von algeri­ schen Juden im französisch besetzten Algerien durch das Geldleih­ wesen in einem Maße ausgeprägt, dass er - zumindest aus der Sicht patriotisch gesinnter Gemüter - als Gefährdung und nationale De­ mütigung empfunden wurde. Jules Verne konnte sich über diese Si­ tuation bei seinem in Algier stationierten Vetter Georges Allotte de la Fuye informieren, der nicht nur - wie eine Fotografie in Fami­ lienbesitz beweist - als direktes Modell für die Hauptfigur gedient, 235

sondern das Manuskript des ersten Romanbandes im Januar 1876 Korrektur gelesen hatte. Die Verwendung des Juden Hakhabut in der Handlung ergibt sich also aus der Wahl des Handlungsortes selbst; allerdings folgt daraus nicht zwangsläufig die konkrete Art seiner Darstellung. Vermutlich kommt hier zum Tragen, dass sich Jules Verne in den Jahren 1874 bis 1876 als Opfer dreier Ereignisse sah, für die er mit unterdrückter Wut Juden verantwortlich machte. Da war zunächst der Fall Offenbach, dem der Schriftsteller Ende 1875 (zu Unrecht) vorwarf, sich mit der Reise auf den Mond auf seine Kosten bereichert zu haben. Hakhabuts Herkunft als deutscher Jude aus Köln lässt in diesem Zusammenhang nichts an Deutlichkeit vermissen. Ebenfalls in der zweiten Jahreshälfte 1875 wurde der Schriftsteller mit dem in Zeitungen nachgedruckten Vorwurf konfrontiert, in Wirklich­ keit ein aus Polen emigrierter Jude zu sein, der aus Karrieregrün­ den zum Katholizismus konvertiert sei. Obgleich umgehend de­ mentiert, hielt sich das Gerücht bis über Vernes Tod hinaus; Verne selbst erhielt Briefe vermeintlicher polnischer Verwandter, die er als Belästigung empfand, weil sich ihm der Eindruck aufdrängte, ihm völlig Unbekannte wollten parasitär an seiner Popularität teilhaben. Erst fünfzig Jahre später klärte sich auf, dass ein Pole namens Juliusz Olschewitz 1861 nach Frankreich ausgewandert war, seinen Namen übersetzt und sich Julien de Verne genannt hatte. Weder lagen ein Verwandtschaftsverhältnis noch böser Wille auf Seiten der Polen vor: Olschewitz’ Bruder und Neffe hatten sich bei der Suche nach dem Verschollenen auf den Falschen eingeschossen. Ein Brief an eine Leserin aus dieser Zeit beweist, wie empfindlich Verne auf Nachfragen reagierte, die seine Religion in Zweifel zogen: »Als Bretone bin ich aus Vernunftgründen, Überlegung, aus Familien­ tradition Christ und römischer Katholik. Nichts in meinen Werken gibt Anlass, Gegenteiliges zu vermuten.«280 Der dritte Fall ist der Fall d’Ennery. Adolphe d’Ennery gegen­ über — Spross einer jüdischen Familie - befand sich Verne bei aller Antipathie in einem als entwürdigend empfundenen Abhängig­ keitsverhältnis, aus dem dieser mehr Tantiemen bezog als er selbst; 239

dass Verne d’Ennery dafür grollte und in Hector Servadac seine sym­ bolische Hinrichtung vollzogen hat, erweist sich im 16. Kapitel des ersten Teils, in dem Hauptmann Servadac und seine Begleiter am ehemaligen Kap von Antibes auf die Überreste einer prächtigen Villa stoßen. »Vil...« lesen sie auf einem Marmorfragment und schließen auf das Wort Villa; vil bedeutet aber zugleich »gemein« und ergänzt sich auf pikante Weise mit der Fassung des Manus­ kripts: Dort stand ursprünglich »Vil... des Chênes Verts« — und die Villa »zu den drei Eichen«, das eben war das verabscheute Domizil des ungeliebten Mitarbeiters, in dem Verne sich so sehr hatte zu­ sammennehmen müssen!281 — Die Figur des Isaac Hakhabut als persönlicher Rachefeldzug des Autors erklärt die in den Außerge­ wöhnlichen Reisen singuläre Verwendung des judenfeindlichen Kli­ schees, freilich ohne dasselbe zu entschuldigen. Die persönlichen Hintergründe, welche Rolle auch immer der Autor ihnen beimaß, waren und bleiben für seine Leser, die sich allein an das Ergebnis seiner Arbeit halten müssen, vollkommen belanglos. Das rassistische Klischee dagegen wirkt davon völlig unbeeindruckt fort. Als ebenfalls relativ belanglos mochte Jules Verne im Juni 1877 die Aufregung um Servadac und Hakhabut erscheinen; ihn be­ schäftigte neben dem prekären Gesundheitszustand seiner Frau noch ein anderes familiäres Problem: Michel. Von jeher war dieser Michel ein schwieriges Kind gewesen. Die Reaktion der überfor­ derten Eltern war Ratlosigkeit, die sich bei der Mutter in extremer Nachgiebigkeit und beim Vater in harscher Unduldsamkeit aus­ drückte - keine leichte Aufgabe für ein Kind, sich zwischen sol­ chen Extremen zu orientieren. Die Eltern hatten ihren Sohn in ein klösterliches Internat bei Abbeville gegeben, das seinen morali­ schen Einfluss jedoch zu verfehlen schien, und um 1874 war Michel in einem Sanatorium untergebracht worden. Der Vater wandte sich an den berühmten Psychiater Emile-Antoine Blanche. An Michels Uneinsichtigkeit änderte all dies nichts, ebenso wenig an seinem Drang, das väterliche Geld auszugeben oder in Erman­ gelung desselben Schulden zu machen, bei seinen Wutausbrüchen selbst den Eltern gegenüber handgreiflich zu werden. 240

Im Herbst 1876, nach einer zweiwöchigen Rundreise durch Holland, auf der er sich beträchtlich daneben benommen zu haben scheint, kam Michel in die berühmte Besserungsanstalt von Mettray bei Tours, wo er acht Monate bleiben sollte. 1839 von dem ehemaligen Verwaltungsbeamten Frédéric-Auguste Demetz mit dem Ziel gegründet, straffällig gewordene Jugendliche durch reli­ giöse Unterweisung, eiserne Disziplin und landwirtschaftliche Arbeit wieder gesellschaftsfähig zu machen, war 1855 zu den exis­ tierenden Gebäuden, die jeweils Werkstatt und Schlafsaal für die Bewohner umfassten, ein »Vaterhaus« für schwer erziehbare Ju­ gendliche aus begüterten Familien — wie Michel Verne — hinzu­ gekommen, in dem der Widerstand der Delinquenten nach den selben moralischen Grundsätzen gebrochen werden sollte. Die Anstalt, die bis zu 700 Jugendliche unterbrachte, erfreute sich international eines hohen Ansehens, sowohl ihrer Prinzipien als auch der pädagogischen Erfolge halber, und sollte erst später wegen ihrer klerikalen Ausrichtung in die Diskussion kommen und ein Jahrhundert nach der Gründung wegen skandalöser Zu­ stände geschlossen werden. Aber bereits zu Beginn der 70er Jahre war die verständnisvolle Behütung zunehmend militärischem Drill gewichen. Während die normalen Häftlinge der Landwirtschaft­ lichen Kolonie in »Familien« mit jeweils vierzig Mitgliedern unter­ gebracht waren, wurden die Bewohner des Vaterhauses streng iso­ liert gehalten und hatten zu den übrigen keinerlei Kontakt, vor denen ihre Identität verheimlicht wurde: »Im Vaterhaus durften sich die Jungen nicht einmal gegenseitig sehen. Jeder wurde in Einzel­ arrest gehalten und einzeln tagtäglich von seinem Tutor für kurze Zeit zu einem Spaziergang durch die Umgebung geführt, doch er musste dabei eine Maske tragen, die sein Gesicht verbarg. Die An­ lage des Vaterhauses war so konzipiert, dass jeder Junge durch ein Gitter auf den Altar in der Kirche blicken konnte (aber nicht auf die anderen Zöglinge, ob arm oder reich). Der Einzelarrest, ledig­ lich unterbrochen von Phasen des Lernens, der körperlichen Be­ wegung oder der religiösen Übung, sollte die Jungen zu Selbstbe­ trachtung, Reue und freiwilliger sittlicher Besserung führen.«282 In 24 j

Michels Fall erwiesen sich alle repressiven Maßnahmen als verge­ bens. Michel schrieb seinem Vater einen hasserfüllten Brief, »den schrecklichsten Brief, den ein Vater jemals von seinem Sohn bekom­ men hat!! Das bringt uns um.«283 Dr. Blanchard, der 1840 selbst als Zögling in Mettray eingetreten war, Demetz’ Stelle als Direktor nach dessen Tod im Jahre 1873 eingenommen hatte und zum Bür­ germeister von Mettray aufgestiegen war, bestellte Verne im Juni 1877 zu sich. Auf der Reise nach Mettray stieg Verne in Paris bei Hetzei ab und klagte ihm sein Leid. »Verne ist zurzeit in Tours«, schrieb Hetzei anschließend seinem eigenen Sohn. »Gestern hat er bei uns zu Abend gegessen. Er hat entsetzliche Neuigkeiten von seinem unglückseligen Sohn erhalten und tat mir sehr Leid. (...) Ich versichere Dir, dass der arme Verne furchtbar leidet, auch wenn er sich zurückhält und sich nichts anmerken lässt. Schluchzend hat er sich auf mein Sofa fallen lassen.«284 Dr. Blanchard erklärte, dass ein weiteres Verbleiben Michels in der Anstalt diesen in den Wahn­ sinn oder sogar in den Selbstmord treiben könnte, und riet dazu, es mit einem neuerlichen Aufenthalt im Schoße der Familie zu ver­ suchen. Der Schriftsteller erinnerte sich an das idyllische Familien­ leben in Chantenay und beschloss, mit seiner Familie nicht nach Amiens zurückzukehren, sondern für eine Übergangszeit nach Nantes zu ziehen. Nichts bringt Jules Vernes eigentümlichen Umgang mit einer für ihn schwer zu bewältigenden Wirklichkeit besser auf den Punkt als die Tatsache, dass er, sobald Michel in Mettray interniert war, mit der Niederschrift eines Romans begann, dessen Titel »Ein Held von fünfzehn Jahren« lauten sollte und bei seinem Erscheinen 1878 in Ein Kapitän von fünfzehn Jahren umbenannt wurde. All die Kränkungen, die der Väter durch seinen Sohn erlitten hatte, all die Enttäuschungen über die Unzulänglichkeiten des eigenen Nach­ wuchses ließen sich in der Fiktion und mit einigem Abstand in ihr Gegenteil verkehren und in dieser Fassung an der Figur eines He­ ranwachsenden darstellen, der tapfer das Kommando eines Schiffes übernimmt, als der Kapitän und seine Mannschaft beim Walfang umkommen. An unbekannter Küste gestrandet, führt der junge 242

JULES VERNE

Ein Kapitän von 15 Jahren. Frontispiz von Henri Meyer, 1878

Dick Sand die Familie seines Reeders durch den afrikanischen Ur­ wald, beschützt sie vor wilden Tieren und Eingeborenen, befreit sie aus der Gewalt von Sklavenhändlern und führt sie wohlbehalten in die Heimat zurück. - Die Arbeit fiel Verne in dieser Zeit nicht leicht, das zeigt die Korrespondenz mit Hetzei, zum ersten Mal sollte er nun sogar in Verzug mit dem Schreiben geraten, weil er sich im Familienkreis um den eigenen Sohn kümmern wollte, im Versuch wieder gutzumachen, was zu lange vernachlässigt worden war. Mit Vehemenz wehrte er sich gegen Hetzeis Vorschlag, aus Dick Sand einen lustigen Burschen zu formen, eine Art Gavroche nach Hugos Modell aus dessen Roman Die Elenden; seriös und be­ sonnen, pflichtbewusst sollte die Figur nach dem Wunsch seines Autors sein, ganz so, wie er sich den idealen Michel vorstellte. Die Sommermonate in Chantenay sollten zu einer vorüberge­ henden Beruhigung der Situation fuhren, nicht zu wirklicher Bes­ serung: »Ich mache meine Bretagne-Reise auf dem Meer«, schrieb Verne an Hetzei aus Brest am 5. August, »zusammen mit Michel, der immer noch schwierig, oft ganz unzugänglich ist. Das ist hart für mich. In etwa einer Woche bin ich zurück in Nantes und werde dort meine Arbeit wieder aufnehmen. Meiner Frau geht es etwas besser, aber ich weiß noch nicht, wann sie zu uns stoßen kann.«285 Hetzei, der aus der Kürze von Vernes Mitteilung zutreffend auf des­ sen Kummer zu schließen verstand, antwortete mit einem langen Schreiben, in dem P.-J. Stahl aus der Fülle seiner moralischen Ma­ ximen schöpfte, die beim Objekt seines missionarischen Eifers aber ins Leere zielten. »Ich habe Ihren Brief vorgefunden, der bewunde­ rungswürdig ist und mich tief berührt hat, aber den Michel nicht einmal verstehen würde. Seine Blasiertheit (...) macht ihn für alle Vorhaltungen taub. Aber ich werde int Einvernehmen mit meiner Fa­ milie so energisch wie möglich Vorgehen, und wenn er sich nicht unterordnen will, wird er für mehrere Jahre verschifft. (...) Ich ma­ che mir keinerlei Hoffnung, denn in diesem Kind, das mit 16 Jah­ ren 25 zählt, steckt eine frühreife Perversität.«286 In unmittelbarer Nähe zu Sophie Verne und den Familien der Geschwister Paul und Marie mieteten die Vernes ab September 244

eine Wohnung in der Rue Suffren Nr. i. Bei dieser Gelegenheit machte Paul seinen Bruder darauf aufmerksam, dass in der Werft Jollet & Babin eine Dampfyacht zum Verkauf stand, die sich ein reicher Adliger, der Marquis de Préaulx, hatte bauen lassen, aber wieder abstoßen wollte, weil sie sich für seine Ansprüche als zu klein erwiesen hatte. Jules Verne zögerte mit dem Zugreifen, aber nicht lange. Und Michel? Es kam, wie der Vater es befürchtet hatte, zum Äu­ ßersten. Während Jules Verne den zweiten Band des Kapitäns von fünfzehn Jahren in Angriff nahm, wurde der Sohn von sechzehn Jah­ ren als Steuermannsjunge auf See geschickt. Sein Onkel Paul hatte in Bordeaux die von Kapitän Eymery befehligte Assomption aus­ findig gemacht (die später, 1902, im dritten Kapitel des Romans Die Gebrüder Kip einen kurzen Gastauftritt haben sollte), einen Dreimaster, der sich für eine 18-monatige Reise nach Indien rüs­ tete. Der verlorene Sohn wurde auf väterliche Verfügung bis zur Abfahrt am 4. Februar 1878 ins Gefängnis von Nantes gesteckt, wo er nach Wunsch des Schriftstellers nur noch von Onkel Paul und Léon Guillon besucht wurde, weder Mutter noch Geschwister zu Gesicht bekam. Michel trat die Reise nicht ungern an. Sieht man von der Zwangsmaßnahme als solcher ab, konnte er eine Weltreise verwirklichen, von der sein Vater nicht einmal zu träumen wagte. Er verfügte über eine eigene Kabine (die 200 F. im Monat kostete), aß an der Tafel des Kapitäns, musste das Seemannshandwerk nicht lernen, konnte — wie bezeugt — während der Landaufenthalte mit seinem Erzeuger prahlen und die Folgen von dessen internationa­ lem Ruhm genießen. Auf eigenen Wunsch mit der kompletten Sammlung der Außergewöhnlichen Reisen ausgestattet, hatte er Muße, sich mit einer Seite seines Vaters auseinanderzusetzen, die er bislang unberücksichtigt gelassen zu haben schien. Ein langer Brief Michels an seinen Vater aus Kalkutta vom 28. November 1878 hat im Archiv von Hetzei die Zeiten überdauert. Es ist das einzige bekannte Dokument aus dieser Richtung, wäh­ rend sich über dreihundert Briefe Jules Vernes an Michel erhalten haben. In diesem Brief zeigt er sich abwechselnd einsichtig und 245

aufbegehrend, auf jeden Fall von einem überraschend reifen Aus­ drucksvermögen. Und versehen mit einem virtuosen Talent, seinen Vater mit wohlgezielten Stichen auf dessen Literaturverständnis und seine Liebe zum Meer zu verletzen. Letzteres findet Michel nur langweilig und dessen literarische Gestaltung, in der ein gewis­ ser Jules Verne brillierte, von belangloser Oberflächlichkeit: »Nein gewiss: Die Betrachtung dessen, was man schön nennt, trifft die Augen, ohne bis zum Herz vorzudringen, und es ist aus dem Her­ zen, aus dem die Poesie hochsteigt! Hat Müsset am Grunde einer wilden Schlucht die verzweifelten Schmerzensschreie gesucht, die er in seinen Versen und Geschichten ausstößt? Das glaube ich nicht. Er hat sein eigenes Herz erforscht und dabei gelernt, die Schmerzen der anderen zu schildern.«287 - Der größte Fehler, den man Michel vorwerfen könne, hatte Jules Verne Kapitän Eymery gewarnt, »ist seine Verschwendungssucht. Er kann in keiner Weise den Wert des Geldes einschätzen und würde 500 F. wie 5 F. ausge­ ben.«288 50 F. monatliches Taschengeld sei zum Kauf von Souvenirs völlig ausreichend. Man blieb also in ständigem Briefkontakt, und so erfuhr die Familie in Nantes und Amiens auch von Besorgnis erregenden Vorfällen, wie ein Brief des Vaters an Kapitän Eymery belegt: »Michel hat sich in einem Maße vergessen, dass er sogar die Hand gegen seinen Vorgesetzten erhob. Es hätte nicht schlimmer kommen können, er hat bestraft werden müssen, wie er es ver­ diente. Aber ich muss Ihnen mitteilen, dass sich derartige Akte in der Existenz dieses unglückseligen Kindes schon mehrfach ereig­ net haben. Nach Meinung der Ärzte ist er Krisen ausgesetzt, wäh­ rend derer er zweifellos nicht mehr über seine Zurechnungsfähig­ keit verfügt.«289 — Auch Tausende Kilometer von zu Hause entfernt, hielt Michel seine Eltern in Atem.

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Faszination und heiliges Grauen: Jules Verne und die Wissenschaft

Als »Mann, der die Zukunft erfand« oder als »Erfinder der ScienceFiction«290 hat Jules Verne bis heute Furore gemacht, vermittelt doch allein die Erwähnung seines Namens die sympathisch anti­ quierte Vorstellung von einer unbeschwerten Fortschrittsbegeiste­ rung. Selbst für den unfehlbar sich dünkenden Arno Schmidt, der andere so gerne oberflächlicher Schummeleien überführte, war Verne, »wie sich’s zu seiner Zeit für einen besten Aufklärer gehörte, technischer Optimist; das heißt, es kam ihm so gut wie nicht in den Sinn, daß ein Mensch den andern schließlich auch mit einem Por­ table erschlagen könne.«291 Wer immer auch Verne als Künstler nicht sonderlich schätzt, zollt ihm zumindest Anerkennung dafür, über technische Errungenschaften geschrieben zu haben, noch ehe sie in das Reich der Wirklichkeit eingetreten sind. So gut gemeint das Kompliment ist, beruht es paradoxerweise auf einem funda­ mentalen Missverständnis. Und angesichts der Hartnäckigkeit, mit der es weiterhin verbreitet wird, bleibt es notwendig, die überflüs­ sig scheinende Feststellung zu wiederholen: Jules Verne war weder Ingenieur noch Wissenschaftler, hat weder den Mondflug noch das U-Boot erfunden, sondern Romane - belletristische Fiktionen — verfasst, die sich einerseits immer in eine zum Teil weit zurückrei­ chende literarische Tradition einreihten und andererseits auf die technischen Entwicklungen ihrer Gegenwart reagierten. Die Be­ hauptung, Jules Verne habe mit seinen bekanntesten Romanen wie ein Prophet technische Produkte vorausgesagt, die es noch gar nicht gab, lässt sich nur durch das Ausklammern der zeitgenössi­ schen Diskussion aufrechterhalten. Und diese fand nicht nur in wissenschaftlichen Kreisen, sondern auch in Periodika statt, die der Allgemeinheit ohne Einschränkung zugänglich waren, ihre Ergeb­ 247

nisse wurden publikumswirksam auf den großen Welt- und Indus­ trieausstellungen präsentiert. Die aus Unkenntnis über die historische Entwicklung erfolgte Mythos-Bildung hatte schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein­ gesetzt und den bisweilen entnervt wirkenden Schriftsteller veran­ lasst, Stellung zu beziehen, die durch ihre Schlichtheit entwaffnet: »Wie alle Welt weiß, ist es für den Schriftsteller ein Leichtes, Men­ schen von ungeheurem Reichtum zu kreieren, und nicht viel schwieriger ist es, durch entsprechende Mittel Probleme der Fort­ bewegung, der Chemie und Physik zu lösen. Bei der Lösung geisti­ ger Aufgaben durch die Einbildungskraft sollte der gewissenhafte Schriftsteller eines respektieren, und das ist Plausibilität.«292 Ohne Opfer seiner übertriebenen Bescheidenheit zu sein, zeigt sich Verne in diesem um 1903 verfassten Text als bodenständiger Realist, der die verantwortungsvolle Phantasie über die bloße Spe­ kulation stellte. Oder wie er es in Hinblick auf seinen Kollegen Paschal Grousset Hetzei junior gegenüber formulierte: »Ich erkenne die Phantasie im Wissenschaftlichen an, doch darf die erste dem letzteren nicht widersprechen.«293 Zumindest nicht gänzlich, denn eigentlich nahm es Verne mit diesem Prinzip selbst nicht immer genau... Ein anschauliches Beispiel für die oben beschriebene Me­ thode bietet Vernes »wagemutigste« Antizipation Paris im 20. Jahr­ hundert, in der fast jede Vorwegnahme zusammen mit der als Vor­ bild dienenden Realisation aus der Zeit um 1860 aufgeführt wird. Reisen auf den Mond, zu anderen Planeten, zum Meeresgrund oder ins Erdinnere hat es in der Literatur schon vor Verne reichlich gegeben, doch ist ihnen allen gemein, dass ihre Autoren die räum­ liche (oder zeitliche) Distanzierung, die spektakuläre Entdeckung neuer Gesellschaftsformen zur Formulierung von Staatsutopien nutzten. Ob Mondoberfläche, unbekannte Insel, Erdinneres, entle­ gene Vergangenheit oder ferne Zukunft — das Reiseziel war letzt­ lich gleichgültig, so lange die Beschreibung des Fremdartigen nur als Folie für mehr oder minder humorvolle, versteckte und (längst nicht immer) unterhaltsame Kritik an den politischen Zuständen der Gegenwart diente, die aufgrund der herrschenden Zensur di­ 248

rekt nicht geäußert werden konnte. Was hier ohne Belang oder nur exotisches Beiwerk war — Mittel und Weg —, rückt in den Außerge­ wöhnlichen Reisen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die symboli­ sche Bedeutung der Reise verlagert sich bei Verne mit der Schilde­ rung der realen wissenschaftlichen Voraussetzungen von der politischen Allegorie scheinbar auf die rein materielle Bewältigung des Vorhabens, stellt jedoch immer zugleich die Frage nach dem Verhältnis von Mittel und Zweck beim Vorstoß ins Unbekannte, thematisiert die ideologischen Implikationen des Anspruchs auf Beherrschung von Raum und Zeit. Dies zeigt auf unübertreffliche Weise die Reise zum Mittelpunkt der Erde, die es Verne ermöglichte, den zeitgenössischen Lernstoff von Geologie und Mineralogie im Sinne des vom Verleger definierten Programms abzuarbeiten und zugleich seine Skepsis über die letzte Enträtselbarkeit der Natur zu artikulieren. Ob der Autor selbst an die von Lidenbrock vertretene These eines erkalteten Erdinnern glaubte oder die von dessen Neffen auf­ rechterhaltene Überzeugung von einem glühenden Kern vertrat, wird durch die Handlung nicht entschieden: Zwar öffnen sich im Erdinnern Hohlräume, zugleich aber lässt tätiger Vulkanismus auf die Existenz eines heißen Kerns schließen. Die konkrete Entschei­ dung ist letztlich unerheblich, weil Verne sich auf die Präsentation der gegensätzlichen Lehrmeinungen beschränkt und den Freiraum, der sich zwischen beiden auftut, literarisch zu nutzen versteht. Um wieviel entschiedener war da das tatsächliche Projekt des Amerikaners John Cleves Symmes, der 1818 die wissenschaftliche Welt und den Kongress allen Ernstes aufforderte, ihn bei seiner Er­ kundung des Erdinnern zu unterstützen.294 Als einer der Nachfol­ ger des erfolglosen Symmes kehrte der amerikanische Sektengrün­ der Cyrus »Koresh« Teed die These um und behauptete nach einer Vision, die er 1869 erlebt haben will, dass die Menschheit bereits auf der konkaven Erdinnenfläche leben würde, Himmel und All beschränkten sich auf das, was von der Hohlwelt umschlossen werde - eine Hypothese, die noch bis in die 50er Jahre des 20. Jahr­ hunderts von den Deutschen Karl Neupert und Johannes Lang aus249

gebaut und mit dem Anspruch, das kopernikanische Weltbild »widerlegt« zu haben, verteidigt wurde. Das Projekt des Captain Symmes hatte Verne bereits in seinem Nordpolroman Kapitän Hatteras angesprochen (und als Unsinn ver­ worfen), einem Roman, in dem noch souveräner sein kompilatorisches Geschick zum Tragen kommt, die spannenden Höhepunkte seiner Handlung direkt aus den Schilderungen realer Reiseberichte abzuleiten, und in dem er die umstrittenene Hypothese eines eis­ freien Polarmeeres als gegeben vorfiihrt. Von der Erde zum Mond und Reise um den Mond bilden die geradlinige Fortführung dieser eigentümlichen Mischung aus detailreicher Wissenschaftsreportage und Unterhaltungsroman, die in ihrer Radikalität in der Literatur­ geschichte bis dahin einzig dastand. Systematische Abhandlungen über die Geschichte des Mondes, physikalische, ballistische und as­ tronomische Einzelfragen auf dem aktuellen Wissensstand werden jeweils in einem eigenen Kapitel behandelt, geschickt in Dialoge verlegt und teilweise als emotionsgeladene Debatten — zwischen Personen oder Periodica - inszeniert, sodass Von der Erde zum Mond trotz seines beachtlichen Faktenreichtums und der vergleichsweise dürftigen Handlung seinen unterhaltsamen Charakter bewahrt. Spannung wird in der Reise um den Mond durch eine Reihe von wissenschaftlichen Irrtümern erzeugt, die die Projektleiter bei ih­ ren Planungen verbrochen haben, und nach dem Erreichen der Mondumlaufbahn durch die Frage aufrechterhalten, ob und wie es den drei Passagieren des Geschosses gelingen mag, zur Erde zu­ rückzukehren. Die Fülle technischer Fakten täuschte den zeitge­ nössischen Leser darüber hinweg, dass zentrale Fragen wie die für die Insassen tödliche Beschleunigung des Projektils beim Abschuss und der durch eine Wasserschicht am Boden des Geschosses völlig unzulänglich abgefangene Rückstoß tatsächlich ungelöst blieben. Dass sich Verne dieser »Fehler« durchaus bewusst war, sie aber als literarische Tricks einsetzte, zeigt sich daran, dass er sich trotz stän­ diger Neuauflagen des Romans nicht veranlasst sah, seine Mondro­ mane jeweils dem aktuellen Kenntnisstand anzupassen. Da die Amerikaner exakt einhundert Jahre nach Erscheinen der 250

Reise um den Mond mit Apollo n die bemannte Landung auf dem Erdtrabanten realisierten (die bekanntlich in Vernes Roman selbst nicht stattgefunden hatte), erfuhr der Mythos vom Propheten seine scheinbar unwiderlegbare Bestätigung. Ein Übriges trug die Nähe der beiden Abschussorte in Florida bei: Vernes Moon City bei Tampa und Cap Canaveral liegen einander an West- und Ostküste ungefähr am 28. Breitengrad gegenüber. Diese Übereinstimmung ist jedoch kein Ergebnis von Hellseherei, sondern darauf zurück­ zuführen, dass der Abschussort aus Drehimpulsgründen des Erd­ körpers auf dem Boden der Vereinigten Staaten so äquatornah wie möglich gewählt werden musste — und dafür kam nur das spärlich besiedelte Florida in Frage. »Im Jahre 1865, als Vernes Roman erschien«, schreibt Peter Costello und rückt damit unsere in naiver Bewunderung verhar­ rende Sicht zurecht, »existierten bereits die Titel Voyage d Venus von Achille Eyraud; Voyage d la Lune [eine Erzählung] von Alexandre Dumas senior; Un Habitant de la planete Mars von Henri de Parville und zwei anonyme Werke, Voyage d la Lune in französischer Sprache und [deren englische, 1864 erschienene Vorlage] The History of a Voyage to the Moon. Der französische Astronom Camille Flamma­ rion veröffentlichte ebenfalls im selben Jahr Mondes imaginaire et mondes reels, ein Buch innerhalb einer Reihe über populäre Astro­ nomie, die er damals schrieb. Das Buch stellte eine Übersicht über sämtliche früheren phantastischen Schilderungen dar, die sich mit Astronomie, astronomischen Vorstellungen, Pluralität der Welten, der Bewohnbarkeit anderer Planeten und Versuchen interplanetarer Nachrichtenübermittlung befassten. All dies geschah im Jahr 1865. Verne war also keineswegs der einzige Schriftsteller, der sich mit diesen Spekulationen beschäftigte, aber es ist bezeichnend, dass er unter all diesen Autoren als einziger noch heute gelesen wird.«295 Gleiches gilt für Kapitän Nemo und seine Nautilus, jenes 70 m lange, elektrisch betriebene Unterseeboot. Bereits Robert Fultons mit Einschränkungen manövrierfähiges U-Boot vom Beginn des 19.Jahrhunderts hatte den traditionsbildenden Namen Nautilus ge­ tragen, und mit einer weiteren Nautilus unternahm der Amerikaner ¿51

Btt.«.

Taucherschiff von Wilhelm Bauer, 1851 im Kieler Hafen gesunken, ¡887 gehoben. Holzstich Samuel Hallet 1858 Tauchversuche in der Seine; sein Apparat, eine Mischung aus Taucherglocke und mechanisch betriebenem U-Boot, wurde während der Weltausstellung von 1867 auf dem Pa­ riser Marsfeld ausgestellt, desgleichen ein großes Modell des legen­ dären Plongeur, der mit seiner Zigarrenform und einem an der Nase angebrachten Spierentorpedo das direkte Modell für Vernes litera­ rische Schöpfung abgegeben hatte. Bis zur Konzeption des Plongeur im Jahre 1859 waren der zuständigen Behörde im französischen Marineministerium nicht weniger als 28 Pläne zur Konstruktion eines bemannten Unterseeboots unterbreitet — und meistens wie­ 252

der verworfen worden. Nach Entwürfen von Siméon Bourgois war dieses mit 42,5 m Länge, 6 m Breite und 135 Tonnen größte U-Boot des 19. Jahrhunderts 1863 vom Marineingenieur Charles Brun gebaut worden. Es erreichte, von einem Pressluftmotor mit 80 Pferdestärken betrieben und mit einer zwölfköpfigen Besatzung an Bord, eine Tauchtiefe von 12 Metern. Die Pressluftbehälter nah­ men gut zwei Drittel der Gesamtlänge ein und ließen wenig Platz für den gehobenen Luxus, dessen sich Kapitän Nemo an Bord seiner Nautilus erfreut. Bereits 1867 wurde der Plongeur aus dem Verkehr gezogen, im Hafen von Rochefort gelagert und zu einem Dampfbehälter umgebaut, als der er mehr als sechs Jahrzehnte überdauerte. Auf den Einfluss anderer Vorläufer ist hingewiesen worden: auf den Ingenieur Jacques François Conseil (dessen Namen Verne für Aronnax’ Diener übernahm), der Ende der 50er Jahre glücklos Ex­ perimente vor Le Tréport unternommen hatte, oder den aus Nan­ tes gebürtigen Brutus de Villeroi, dessen 15 m langer Alligator 1862 für den Einsatz im Sezessionskrieg konstruiert worden, aber bereits im Jahr darauf vor Kap Hatteras (North Carolina) gesunken war. Manche Autoren behaupten, Villeroi habe den jungen Jules Verne als Mathematiklehrer am Gymnasium von Nantes unterrich­ tet, doch ließ sich dies durch Recherchen nicht bestätigen. Das größte Handicap der im amerikanischen Bürgerkrieg eingesetzten U-Boote bestand darin, dass sie mechanisch über Pedalantrieb oder Kurbeln bewegt wurden und das Versenken von Kriegsschiffen meist selbst nicht überstanden. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gab es nur ein einziges Mittel, um diese unerwünschte Nebenwir­ kung zu vermeiden: den Einsatz der Phantasie. Welche Bedeutung hat es, dass man Verne immer wieder Detailfehler in der Raumbe­ rechnung seiner Nautilus nachweist, da diese lediglich als Vehikel für das imaginäre Eindringen in die Tiefsee dient und die Voraus­ setzungen schafft für deren poetische Gestaltung? Nur vier Charaktere bilden das durchgängige Personal von 20.000 Meilen unter den Meeren, und sie nutzt Jules Verne effektiv als Rollenträger, um unterschiedliche Aspekte der Wissenschaft mit­ 253

einander zu konfrontieren. Conseil, bezeichnenderweise als Die­ nerfigur eingefuhrt, beschränkt sich auf die systematische Kategorisierung der Lebewesen, die sich seinem Blick bieten, und vertritt damit die oft von Verne karikierte Figur des abgehobenen Gelehr­ ten: »Klassifizieren war sein Leben«, berichtet sein Herr, »auf mehr verstand er sich nicht.«296 Seinen Antipoden bildet Ned Land, der rustikale Harpunier, der als kritisches Korrektiv seines Freundes Conseil die Meeresbewohner lediglich danach beurteilt, ob und in welcher Form sie auf seinen Teller gelangen. Ich-Erzähler Aronnax, Professor der Naturgeschichte, nutzt die ungewöhnliche Reise nicht nur zur Befriedigung seiner Wissbegierde, sondern zeigt auch ein Gespür für die Reize der Natur, das seinen nüchternen Beglei­ tern weitgehend abgeht. - Durch diese Begeisterungsfähigkeit läuft Aronnax im Gegensatz zu Conseil und Ned Land allerdings Ge­ fahr, der Verführung durch seinen geheimnisvollen Entführer zu erliegen. Die Aussicht auf immer weiteres Eindringen in die Ge­ heimnisse der Tiefsee betäubt wiederholt seine kritische Distanz zu Nemo, der als genialistischer Übermensch nicht nur Künstler, Ingenieur und Wissenschaftler in einem ist, sondern während der Reise auch zunehmend paranoide Züge entblößt: Menschenhass, Despotismus, der im Gegensatz zu der für sich selbst in Anspruch genommenen Unabhängigkeit steht, Anmaßung gegenüber Gott, den Drang zur Selbstzerstörung — beängstigende Eigenschaften, zu deren Befriedigung er seine Technik missbraucht. Viel spricht da­ für, dass Verne in der Person des Pierre Aronnax (dessen Porträt der Illustrator Edouard Riou bekanntlich nach einer Fotografie des Schriftstellers anfertigte) seine eigene Zerrissenheit angesichts der Ambiguität wissenschaftlicher Möglichkeiten wiedergibt, ohne zu einer endgültigen und wirklich befriedigenden Lösung zu gelan­ gen: Die Reise auf der Nautilus offenbart nicht nur die Geheim­ nisse der Tiefsee, sie sondiert auch die Untiefen wissenschaftlicher Selbstvergessenheit aus der Sicht desjenigen, der sich in ihr zu ver­ lieren droht. Die Kategorie der Flugmaschinen wird in den Außergewöhnlichen Reisen von Roburs Propellermaschine Albatros (Robur der Eroberer) 254

Frontispiz aus Gabriel de La Landelles Aviation ou la naviation aérienne, Paris 1863

und in Herr der Welt von Roburs ultimativem Flugapparat Terror (im französischen Original Épouvanté) vertreten, der zugleich Automo­ bil und wassertauglich ist. Unter der Menge früherer literarischer Gestaltungen des Themas sollen hier zwei Beispiele genügen, von denen feststeht, dass Jules Verne sie kannte. In Prodigieuse Découverte et ses incalculables conséquences sur les destinées du monde (1867) des Notars Audoy, einer Satire auf die Pressezensur und den Einfluss der katholischen Kirche unter Napoléon III., entdeckt der IchErzähler und vorgebliche Autor X. Nagrien zwei neue chemische Elemente, die es ihm erlauben, die Gravitationskraft aufzuheben bzw. wieder einzusetzen und mit einem birnenförmigen Luftschiff »Négopos« eine Luftreise über Frankreich zu unternehmen. Weni­ ger die konkrete Beschreibung des Flugobjekts als der Umgang der Nationen mit dem seltsamen Erfinder, von dem nicht ganz klar ist, ob es sich um einen philanthropischen Wohltäter der Menschheit handelt oder um einen gemeingefährlichen Größenwahnsinnigen, weist auf Vernes Behandlung des Themas in Herr der Welt voraus; bemerkenswert ist, dass der Autor weitaus mehr Mühe auf die wis255

senschaftliche Rechtfertigung seines Apparates verwandte als sein populärer Nachfolger. — Verärgert zeigte sich Jules Verne 1875, als er feststellen musste, dass ihm ein Autor namens Alphonse Brown in La Conquête de l’air mit einer vierzigtägigen Weltreise im Luft­ schiff zuvorgekommen war. Darin entwickelt Ingenieur Valdy einen Ballon in Vogelform, den er mit zwei vierzig Meter langen Flügeln ausstattet, die den Apparat nicht mittels Elektrizität be­ wegen, sondern mit einem neuartigen Antrieb, der mit flüssiger Kohlensäure funktioniert. Im Gegensatz zu diesem Modell, das dem Leichter-als-Luft-Prinzip folgt, wird Roburs Albatros mit einer für die damalige Mehrheit der Ballonbefürworter provokanten Po­ lemik als Helikopter gefeiert, der geradewegs auf die Miniaturmo­ delle Ponton d’Amécourts und Gabriel de La Landelles zurück­ geht. Das Frontispiz, das Landelle seiner Schrift Aviation ou la navigation aérienne (1863) voranstellte und das ein bemanntes Luft­ schiff mit einer Kombination von vertikalen und horizontalen Schrauben abbildet, gab die direkte Vorlage für Vernes Beschrei­ bung der Albatros und die Illustrationen von Léon Benett ab. Im 6. Kapitel, »das Ingenieure, Mechaniker und andere Gelehrte besser überschlagen«, mogelt sich Verne auf ähnliche Weise wie in 20.000 Meilen unter den Meeren über konkrete Angaben zum Antrieb hin­ weg: »Es war die Elektrizität, jenes Agens, das eines Tages die Seele der industriellen Welt sein wird. Übrigens ist an ihrer Gewinnung keinerlei Elektromotor beteiligt, lediglich Säulen und Akkumula­ toren. Doch welche Elemente haben zum Aufbau dieser Säulen beigetragen, welche Säuren setzen sie in Bewegung? Das ist Ro­ burs Geheimnis. Ebenso wie bei den Akkumulatoren. Welcher Art sind ihre positiven und negativen Platten? Weiß man nicht.«297 Überhaupt trägt Robur der Eroberer ausdrücklich satirischen Cha­ rakter und ähnelt darin dem ersten der Mondromane: Er macht sich mit beißendem Spott über die Ballonbefürworter lustig, die weder über die Fähigkeit verfügen, wissenschaftlich erwiesene Fakten zur Kenntnis zu nehmen, noch über die Lauterkeit, die Be­ schränktheit ihrer Prinzipien zuzugeben. Robur der Eroberer ist zu­ 256

dem ein Roman, der ohne eigentliche Helden-Figuren auskommt: Das Charisma des wissenschaftlichen Genies (Robur) wird von sei­ nem spröden Charakter torpediert, das Mitgefühl des Lesers mit den von ihm entführten Ballon-Fanatikern (Onkel Prudent und Phil Evans) durch deren Borniertheit gezügelt. »Nicht ohne Grund habe ich dem Roman diesen Charakter gegeben«, antwortete Verne auf die Kritik des Verlegers, der das nötige Pathos vermisste: »Sie sehen ihn von seiner heroischen und erhabenen Seite, ich von der extravaganten, scherzhaften und nicht sehr ernst gemeinten. Ohne dies hätte ich ihn nicht geschrieben.«298 Roburs Albatros I und II verweisen namentlich auf die beiden Apparate, mit denen sich Vernes bretonischer Landsmann JeanMarie Le Bris vorgenommen hatte, die Luft zu erobern. Le Bris, ein ausgebildeter Seemann, hatte für die erste Albatros am 9. März 1857 sein Patent erhalten, einen vogelähnlichen Gleitapparat mit beweglichen Flügeln, der auf einem großrädrigen Wagen aufgebaut war (und damit verblüffend Roburs Terror aus Herr der Welt ähnelt). Von Pferdekraft gezogen, will er sich im Dezember 1856 am Strand von Trefeuntec für kurze Zeit in die Luft erhoben haben und wäh­ rend eines wiederholten Versuchs abgestürzt sein, bei dem er mit einem gebrochenen Bein davonkam. Von seiner zweiten Albatros aus dem Jahre 1868 sind vier Fotografien erhalten. Vor der Küste von Brest startete er zu neuen Versuchen, diesmal mit Hilfe von Schiffen, die seinen Apparat in die Luft ziehen sollten, wobei auch die zweite Albatros zerstört wurde. Ruiniert musste Le Bris aufge­ ben und überlebte seine Niederlage nur um vier Jahre. In Herr der Welt degeneriert der zwiespältige Robur eindeutig zum größenwahnsinnigen Terroristen und findet sein Ende, indem er sein Flugzeug in einen Sturm manövriert, wo er vom Blitz ge­ troffen wird. Bei der Beschreibung der Terror verfährt Jules Verne noch sparsamer als in Robur der Eroberer. Auch diesem Allzweck­ fortbewegungsmittel hegt eine reale - längst vergessene — Erfin­ dung zugrunde: das mit Kohlenwasserstoff betriebene Amphibien­ flugzeug, das sich Alphonse Penaud und Paul Gauchot 1876 patentieren ließen.299 Penaud (den Verne in Robur zweimal er­ 257

wähnt) war ein fruchtbarer Geist mit besonderer Vorliebe für die Entwicklung von Helikoptern, der 1875 für seine Theorien von der Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet wurde. Angesichts ausbleibender Anerkennung und mangelnder finanzieller Unter­ stützung bei der Verwirklichung seines Amphibienflugzeugs über­ mittelte Pénaud seine Pläne dem berühmten Luftschiffer Henry Giffard und beging unmittelbar danach Selbstmord. - Literarisch war das Prinzip des Allzweckfahrzeugs bereits in Deutschland um­ gesetzt worden: in einer Parodie auf In So Tagen um die Welt, die Moritz von Reymond 1879 veröffentlicht hatte. Hier bildet die Jules Verne eine »Universal-Yacht« aus Aluminium und Kautschuk, wird durch komprimiertes Knallgas betrieben und bei ihren Tauchfahrten mit komprimiertem Sauerstoff im Festzustand ver­ sorgt.300 Beenden wir die Entzauberung des überflüssigen Mythos mit der Betrachtung der Behauptung, Jules Verne habe 1892 in Das Karpatenschloss den Tonfilm vorweggenommen. Schon die ober­ flächliche Lektüre des Romantextes erweist, dass es sich bei der »übernatürlichen Erscheinung« der verblichenen Sängerin Stilla, mit der der melomane Baron von Gortz die abergläubischen Be­ wohner des rumänischen Dorfes Werst und seinen adligen Rivalen foppt, lediglich um die Kombination des von Edison bereits 1877 entwickelten Phonographen mit dem von Emile Reynaud im sel­ ben Jahr patentierten Praxinoskop handelt. Das Praxinoskop war ein Spielzeug, bei dem die Widerspiegelung der auf der Innenflä­ che einer drehbaren Trommel angebrachten Bilderfolge durch einen zentralen Spiegelkranz eine kurze Bewegung suggerierte. 1880 bereicherte Reynaud seine Erfindung durch die Projektion des optischen Eindrucks auf eine Bildfläche - ein Prinzip, das ver­ schiedene Abwandlungen in der zeitgenössischen Bühnenmaschi­ nerie erfuhr - und entwickelte 1888 mit seinem Théâtre optique einen Vorläufer des Zeichentrickfilms, indem er ein transparentes Bildband von einer Spule auf die andere abrollte und in Theatern öffentlich vorführte. Die Erfindung des Films durch die Gebrüder Lumière im Jahre 1895 verdrängte in wenigen Jahren Reynauds 25S

Entwicklungen und ließ sie schließlich vollständig in Vergessenheit geraten. Nun geht es nicht darum, Jules Verne ein gewisses Geschick da­ für abzusprechen, aus der großen Anzahl der im 19. Jahrhundert diskutierten Projekte überwiegend jene ausgewählt zu haben, die sich im Nachhinein als praktikabel und erweiterungsfähig erweisen sollten. Die Faszinationskraft von Vernes Romanen liegt jedoch nicht so sehr in der für ihn typischen vorsichtigen Extrapolation, sondern vielmehr in der eigentümlichen Verarbeitung seiner Mo­ tive und Themen. In den Maschinen, die, wenn sie nicht unmittel­ bar der Zerstörung dienen, perfektionierte Fortbewegungsmittel sind, kristallisiert sich Vernes ambivalentes Verhältnis zu den Aus­ wirkungen der Industrialisierung. So fasziniert die Maschine zu­ nächst durch ihre fremde Ästhetik: Das Geheimnis, das ihr Auftau­ chen stets zu Beginn der Handlung umgibt, hat nicht ausschließlich eine spannungssteigernde Funktion, sondern trägt auch zum Auf­ bau ihrer unverwechselbaren Aura bei, die die eines Kunstwerkes ist. Vernes Maschinen sind niemals industriell gefertigte Massen­ ware, denen der Schweiß der Arbeiter und die schmierigen Rußreste ihrer Herstellung anhaften, sondern Unikate, die nicht beliebig reproduzierbar und unaufhebbar mit der Figur ihres cha­ rismatischen Erfinders verschmolzen sind, mit dessen Tod sie ebenfalls von der Erdoberfläche verschwinden. Dort, wo Verne sei­ nen späteren Maschinen den Charakter des einmaligen Kunstwerks nimmt - etwa bei den Electrics aus Mathias Sandotf - entledigt er sie auch ihrer Faszination und stellt bewusst ihre ernüchternde Trivia­ lität bloß. Die Propellerinsel des gleichnamigen Romans illustriert, als Prototyp einer Armada artifizieller Inseln, diesen Zusammen­ hang, indem sie nur noch der gehobenen Langeweile ihrer milliar­ denschweren Mieter dient — nicht obwohl, sondern weil sie ihnen allen materiellen Wohlstand bis zum Überdruss bietet. Die Vervoll­ kommnung der Maschine, die die göttliche Schöpfung mit dem Ziel imitiert, sie zu übertreffen, hat paradoxerweise zur Folge, dass die Maschine immer defizitärer wird: »Immer wenn sie durch ihre 259

Spaziergänge an das vordere oder hintere Ende der Insel, zur Rammsporn- oder zur Heck-Batterie geführt werden, stimmen Pinchinat und Frascolin darin überein, dass es hier an Kaps, Vor­ gebirgen, Landzungen, Buchten und Sandstränden fehlt. Diese Küste ist nichts weiter als eine stählerne Böschung, die von Millio­ nen von Schrauben und Nieten zusammengehalten wird. Wie sehr würde ein Maler die alten Felsen vermissen, zerfurcht wie die Haut eines Elefanten, denen die Brandung bei steigender Gezeit den Tang und die Algen liebkost! Wahrhaftig, die Schönheit der Natur lässt sich durch die Wunder der Industrie nicht ersetzen — das muss sich Yvernes trotz seiner anhaltenden Verehrung eingestehen. Das Gepräge des Schöpfers, das ist es, was dieser künstlichen Insel fehlt.«301 Die eigentliche Aufgabe der Maschine ist die Erschließung des Unbekannten, das Eindringen in den Weltraum, die Tiefen des Meeres oder auch in den Urwald. Sie ermöglicht den Reisenden die ungeahnte Entdeckung bislang verborgener Seiten der Natur und bietet ihnen über die stille, respektvolle Betrachtung eine äs­ thetische Teilhabe wie an einem überdimensionalen Schauspiel. Das visuelle Erfassen der Natur ist in allen Außergewöhnlichen Reisen ein Vorgang, in dem Rationalität und Emotionalität der Betrachter zur Deckung gelangen, ihr Gegensatz versöhnt und die zivilisa­ tionsbedingte Entfremdung des Menschen von der Schöpfung zeit­ weise überwunden wird. In den Beschreibungen von Phänomenen wie Eislandschaft, Vulkanausbruch, Seesturm oder Meteorexplo­ sion, die Verne wiederholt mit tiefer Ehrfurcht — und ohne die für ihn sonst so typische Ironie — zelebriert, erreicht er seine künstle­ risch überzeugendsten Momente: »Am Abend, wenn die elektri­ schen Lampen die lange Flucht der Bögen erleuchten, kann ich mich bei der Betrachtung der natürlichen Wunder dieser Höhle, die zu meinem Gefängnis geworden ist, kaum eines fast religiösen Gefühls erwehren.«302 Die Elektrizität, jene undurchschaubare Kraft, die Jules Verne wiederholt als »Seele des Universums« über­ höht, treibt nicht nur in domestizierter Form die Maschinen an, sie stellt auch, vom Menschen ungebändigt, ein mächtiges Wirkungs260

prinzip der Natur dar, durch das sich der göttliche Wille manifes­ tiert. In Form eines Blitzes vermag er die Wissenschaftler an der Nase herumzuführen, ihre Ergebnisse folgenschwer zu verfälschen, aber auch zu maßregeln und für eitle Anmaßung zu bestrafen. Durchwirkt die Elektrizität die Atmosphäre, schafft sie surreale Si­ tuationen, in denen man vom Wahnsinn geheilt werden kann oder das Objekt der menschlichen Begierde, Ursache sozialer Konflikte, verschwindet. Immer aber obsiegt ein ästhetisch beeindruckendes Erlebnis. Da die Maschine die Macht des Menschen in einem Maße er­ weitert, das nicht seinem ethischen Verantwortungsvermögen ent­ spricht, droht sie stets, als Katalysator seiner schlechten Eigenschaf­ ten zu dienen, seine Gier anzustacheln und zum Missbrauch zu verführen: Die Erschließung der unberührten Natur weicht dem ins Unermessliche steigerbaren Drang nach Überwindung von Grenzen — realen wie moralischen Ursprungs —, die ästhetische Teilhabe an der Natur wird ersetzt durch deren materielle Ausbeu­ tung. Die zunächst wissenschaftlich legitimierte Mission degene­ riert schlimmstenfalls zum gotteslästerlichen Größenwahn, führt zu Zerstörung und Selbstauslöschung des verantwortungslosen Wis­ senschaftlers - und wird mit schöner Regelmäßigkeit durch eine Naturkatastrophe eliminiert, der damit eine moralisch sanktionie­ rende Bedeutung innewohnt. So endet der Roman Kein Durch­ einander, in dem ein Kartell amerikanischer Industrieller mit einem überdimensionalen Kanonenschuss die Kappe des Nordpols ver­ schieben wollte, um unter dem Eis vermutete Kohlevorkommen auszubeuten, mit einem Fiasko der Projektbetreiber und einem doppeldeutigen Kommentar: »So scheinen denn die Bewohner des Erdballs in Frieden ruhen zu können. Die Bedingungen, unter de­ nen sich die Erde bewegt, zu modifizieren, das überschreitet die der Menschheit erlaubten Anstrengungen. Es kommt dem Menschen nicht zu, etwas zu ändern an der Ordnung, die der Schöpfer im System des Universums festgelegt hat.«303 Vorgebliche Wertneutra­ lität der Wissenschaft, ihre tatsächliche Vereinnahmung durch die gewinnorientierte Industrie und die Unfähigkeit der Politik zum 261

internationalen Interessenausgleich sind die Kritikpunkte dieses nie sehr populär gewordenen Romans an einer »tollwütig gewordenen Welt, die die Auswüchse der Nervosität - ihrem Hauptmerkmal zum Ende des 19. Jahrhunderts - empfänglich machte für jeden Blödsinn und alle möglichen epileptischen Verrenkungen.«304 Im wirklichen Leben stets auf Kriegsfuß mit der Mathematik, griff Verne auf die Hilfe von Spezialisten zurück, die in der Lage waren, im Bedarfsfall seine Defizite auszugleichen: Sein Vetter Henri Garcet wurde in Zusammenhang mit den Mondromane be­ reits erwähnt; der Astronom Joseph-Charles d’Almeida, Gründer der Physikalischen Gesellschaft, sah Hector Servadac durch; der Amienser Minenbauingenieur Albert Badoureau Robur der Eroberer und Kein Durcheinander. Badoureau ist ein besonderer Fall, weil er für den zweiten Roman eine umfangreiche theoretische Grundlage mit dem Titel Le Titan moderne ausgearbeitet hatte (die er sich mit stattlichen 2.500 F. vergüten ließ) und auch Einfluss auf den Inhalt zu nehmen versuchte, in den er als räsonnierender Wissenschaftler Aleide Pierdeux Eingang fand. Ein »ergänzendes Kapitel, von dem nur wenige Personen Kenntnis nehmen werden«, das dem Titan moderne entstammt, schließt Vernes Roman in der nicht illustrier­ ten Erstausgabe ab - auch dies ist in den Außergewöhnlichen Reisen einzigartig. Umgekehrt erwähnt Badoureau Jules Verne in Zu­ sammenhang mit der Entwicklung von U-Boot und Flugzeug in seinem seriösen Werk Les Sciences experimentales en 1889 (1889). Jules Verne hat sich den Naturwissenschaften als Laie genähert und daraus nie einen Hehl gemacht: »Ich kann nicht behaupten, dass ich mich jemals in die Wissenschaft sehr vertieft hätte - nein, das habe ich wirklich nicht. Ich meine damit, dass ich niemals rich­ tig Wissenschaft studiert oder praktiziert habe. Allerdings machte es mir schon als kleiner Junge großen Spaß, Maschinen beim Funktionieren zuzuschauen. (...) Diese Vorliebe ist mir mein gan­ zes Leben lang geblieben, und noch heute macht es mir ebenso viel Spaß, eine Dampfmaschine oder eine schöne Lokomotive zu be­ trachten wie ein Bild von Raffael oder Correggio.«305 Weder die bekannten Bücher seiner Bibliothek noch die bislang ausgewertete 262

Korrespondenz lassen darauf schließen, dass Jules Verne sich jemals ernsthaft mit Wissenschaftstheorie auseinander gesetzt hätte. Dem romantischen Wissenschaftsverständnis, das seine Grundlagen im ausgehenden 18. Jahrhundert hat, blieb er zeitlebens stärker ver­ bunden als dem Positivismus seines Zeitgenossen August Comte. Niemals wäre Verne der Gedanke gekommen, die Wissenschaft als Ersatzreligion an die Stelle des christlichen Glaubens treten zu las­ sen, wie es der späte Comte forderte. Mit plakativer Deutlichkeit tritt Vernes strikt entgegengesetzte Position in Voyage ä travers l’impossible zutage. Somit lässt sich Verne auch nicht als Paradepferd des Laizismus vereinnahmen, wie es noch immer einige Autoren tun, die damit mehr ihren lobenswerten eigenen Überzeugungen Ausdruck verleihen als die Außergewöhnlichen Reisen ernst zu neh­ men. Da die Naturwissenschaft aus Vernes Sicht keine ethischen Werte vermitteln kann, sondern — im Gegenteil — die menschliche Hybris fördert, hat sie sich stets am Maßstab des christlichen Mo­ ralverständnisses zu bewähren, muss sie notfalls ihren Ehrgeiz ein­ dämmen, wenn ihre uneingeschränkte Verwirklichung das huma­ nistische Primat bedroht. Vernes Romanwerk proklamiert die Utopie einer durchdachten Selbstbescheidung, die das Prinzip einer Wissenschaft als Selbstzweck dem Respekt vor der Schöpfung unterordnet, ohne in einen aufdringlichen Pietismus zu verfallen. Der Untertitel der programmatischen Jugenderzählung Meister Zacharius oder der Uhrenmacher, der seine Seele verlor spielt auf den Vers aus dem Matthäus-Evangelium an und ist für das gesamte Werk programmatisch: »Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?« (Matth. 16, 26) Das Zitat aus dem Sherard-Interview ist insofern bemerkens­ wert, als es mit dem Hinweis auf die Faszinationskraft der Maschine zu erkennen gibt, dass Vernes Interesse an ihr weitaus mehr ästhe­ tisch begründet war als praktisch. Ähnliches gilt für die Wissen­ schaft selbst, deren sozialer Nutzen bei verantwortungsvollem Ein­ satz Anerkennung findet, der als Mittel zur Erkenntnis aber nur beschränkter Wert beigemessen wird. Oberstes Prinzip bleibt in 263

Vernes Werk die Kunst: Dies ist das Thema des sehr zu Unrecht vergessenen Romans Der grüne Strahl, der im Rahmen einer Lie­ besgeschichte in Schottland die Suche nach einem seltenen (aber realen) Phänomen der am Meer untergehenden Sonne schildert. Die junge Helena Campbell hat sich in den Kopf gesetzt, dieses grüne Leuchten sehen zu wollen, ehe sie einer ehelichen Verbin­ dung zustimmt; in Wirklichkeit nutzt sie ihre Forderung als Vor­ wand, um sich der Hochzeit mit dem pedantischen Gelehrten Aristobulus Ursiclos zu entziehen, der für sich in Anspruch nimmt, alle Phänomene der Natur und damit auch die menschlichen Ge­ fühle auf mechanistische Gesetze zurückführen zu können. Dem grünen Leuchten wird der Wissenschaftler damit genauso wenig gerecht wie Helena, die die Natur allein als Spiegel ihrer Gefühle sieht und in sie ihre unerfüllten Wünsche projiziert. Zwischen die­ sen unversöhnlichen Gegensätzen einer haltlosen Emotionalität und eines trockenen Rationalismus fungiert die Kunst als Korrek­ tiv, in Person des auf der Reise dazustoßenden Olivier Sinclair, der mit seiner Malerei der Erkenntnis der Natur näher kommt als der selbstherrliche Wissenschaftler. Dieses Verhältnis wird durch eine Szene in der Ruinenstadt Iona sinnfällig, in der Ursiclos pietätlos das alte Gestein zerschlägt, um dessen Wesen zu »erkennen« (und nur zu einem trivialen Zirkelschluss gelangt), während Sinclair mit dem schöpferischen Prozess der malerischen Darstellung von Iona beschäftigt ist. Im Verlauf der Reise entlang der schottischen Küste, während der das Sichten des Himmelsphänomens immer wieder und gerade durch Ursiclos’ Dazwischentreten verhindert wird, erfolgt ein kon­ sequent sich steigernder Rückzug aus der Zivilisation in eine ar­ chaische Natur, der am Grund der Fingalshöhle auf Staffa seinen Höhepunkt erreicht: Hierhin hat sich Helena, ihrer schwärmeri­ schen Natur folgend, verirrt, und hier gerät sie während eines Sturms in Lebensgefahr, aus der sie nicht der Wissenschaftler rettet, sondern Olivier. Während des Sturmspektakels in der kathedralenhaften Höhle — eines von Vernes schriftstellerischen Glanzstücken — gestehen sich die beiden ihre Liebe, die später durch das Aufleuch264

ten des Grünen Strahls in dem Moment ihre Bestätigung findet, als das Paar sich in die Augen schaut. Abgeschlagen als Verlierer bleibt Ursiclos übrig, der weder dem Grünen Strahl etwas abzuverlangen noch Helenas Gefühle nachzuvollziehen vermag, sich nicht einmal der eigenen Defizite bewusst ist. Die Entdeckung des Geliebten hat die Sichtung des grünen Leuchtens für Helena unnötig gemacht, und was der Vermählung nachfolgt, muss nicht mehr durch das Sammeln von Erfahrungen auf anstrengenden Expeditionen er­ kämpft werden — die Kunst tritt an die Stelle des riskanten Wagnis­ ses, und das schont Gesundheit, Nerven und Finanzen. Das Ge­ mälde, das Olivier mit intuitiver Naturkenntnis vom Grünen Strahl anfertigt (den er selber ja nicht gesehen hat), fixiert das flüchtige Ereignis und macht es als künstlerischen Eindruck erfahrbar: »Die­ ses Gemälde rief zugleich Bewunderung und Diskussion hervor; die einen behaupteten, da sei die Wiedergabe einer Naturerschei­ nung wunderbar gelungen, während die anderen meinten, es handle sich um ein reines Phantasieprodukt, da die Natur derglei­ chen Effekt niemals hervorbrächte. Das rief den hellen Zorn der beiden Onkel auf den Plan, die den Grünen Strahl gesehen hatten und dem jungen Künsder Recht gaben: >Und außerdem^ sagte Bruder Sam, >ist es sogar besser, den Grünen Strahl auf dem Bild zu betrachten ...< — >...als in der Na­ tur, ergänzte Bruder Sib, >denn nacheinander so vielen Sonnen­ untergängen zuzuschauen, bereitet doch ziemliche Augenschmer­ zen. Dieses ebenso ausdrückliche wie augenzwinkernde Plädoyer für die künstlerische Mimesis sollte sich in Erinnerung rufen, wer dazu neigt, Jules Vernes Stellung in der Literaturgeschichte auf die Rolle eines Wegbereiters der Science-Fiction zu reduzieren.

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i6.

Mit Dampf und gelichteten Segeln (1878—1882)

Mit der dritten Saint-Michel hatte sich Jules Verne eine finanzielle Ausschweifung erlaubt, die die größte seines Lebens bleiben sollte; nach der vergeblichen Pflichtübung, den Preis um 15.000 F. zu drücken, war er auf die Forderung des Eigners von 55.000 F. einge­ gangen. Abel Le Marchand aus Le Tréport reagierte vergrätzt - das heißt zunächst einmal überhaupt nicht -, als Verne ihn bat, in sei­ nem Namen das Boot wieder zu verkaufen, das er erst im Voijahr extra für den Schriftsteller konstruiert hatte. Aber Verne bestand auf seinem Entschluss, da die Haltung zweier Schiffe seine Mittel über­ stieg. Im April 1878 trat das Boot in die Dienste der Gebrüder Lucas, Lotsen in Saint-Nazaire an der Loire-Mündung, bei denen es bis 1892 Verwendung fand. Danach wurde die Saint-Michel von einem Privatmann erstanden, in Cattleya umgetauft und erst 1913 im bretonischen Belle-Ile verschrottet. Die dritte Saint-Michel war eine zweimastige Dampfyacht von 31 m Länge, deren Maschine 120 Pferdekräfte und bei günstigem Meer eine Geschwindigkeit von 10 Knoten entwickeln konnte. Bis zu vier Gäste und einen Bediensteten konnte Verne auf seine Rei­ sen mitnehmen. Eine eingehende Beschreibung des Schiffes lieferte Paul Verne in seinem Reisebericht Von Rotterdam nach Kopenhagen an Bord der Dampf-Yacht »Saint Michel«, der in der Überarbeitung von Jules Verne als Anhang zu seinem Roman Die Jangada veröf­ fentlicht wurde. Die Mannschaft umfasste nicht weniger als zehn Personen: drei Matrosen, zwei Heizer, Koch, Mechaniker und Schiffsjunge, die vom Kapitän Charles Frédéric Ollive befehligt wurden, der seinen Sohn Francis als zweiten Offizier mitgebracht hatte. Jules Verne konnte seine Reisen im größeren Maßstab planen, büßte aber zu266

gleich an Spontaneität ein. Die Mannschaft musste für feste Zeit­ räume engagiert — und bezahlt — werden, die Vorbereitungen weit im Voraus stattfmden. Über Ostern unternahm Jules zusammen mit Paul und dessen Söhnen Maurice, Gaston und Marcel eine Probe­ fahrt entlang der bretonischen Küste. Einer ersten Kreuzfahrt ins Mittelmeer stand nichts mehr im Wege. Am 25. Mai legte die Samt-Michel im Hafen von Nantes ab, mit Jules und Paul Verne an Bord, Hetzei junior und dem bonapartistischen Politiker Edgar Raoul-Duval, einem langjährigen Freund Flauberts und Hetzeis, der durch seine Familie mit Amiens und Nantes verbunden war. Weder an den Landausflügen noch an Jagd­ belustigungen beteiligte sich Jules Verne, dem, wie er Hetzei schrieb, die Hitze zu schaffen machte. Für den Schriftsteller war die Reise ein Triumph, der in Gibraltar, Tanger, Oran und Algier mit Ehren und Empfängen überhäuft wurde. Während Paul auf der Saint-Michel nach Nantes zurückkehrte, schifften sich sein Bruder und die anderen Passagiere in Algier auf der Moeris ein und er­ reichten am 4. Juli in Sete wieder französischen Boden. Bis Ende September unternahm Verne auf der Saint-Michel weitere Ausflüge — zum großen Unwillen des Verlegers, der befürchtete, Verne werde seine schriftstellerische Arbeit vernachlässigen, weil dieser sich mehr Gedanken um das Theater als um seine Bücher machte, und nicht wusste, an welche Adresse er die zu korrigierenden Druckfahnen schicken sollte. Hetzeis Sorge war unbegründet. Während der Mittelmeerreise hatte Verne über sein neuestes Projekt nachgedacht, einen Roman, der den paradoxen Titel Derfreiwillig Ermordete tragen sollte, was für Hetzei aus moralischen Gründen nicht in Frage kam. Stattdessen wurde das Buch nach langem Hin und Her umständlich in Die Lei­ den eines Chinesen in China umgetauft und damit das Interesse auf Handlungsort und die Nationalität der Hauptperson gelenkt, ob­ wohl der Roman zunächst als Satire auf den Materialismus der USAmerikaner geplant gewesen war. In manchen Aspekten scheint die ursprüngliche Konzeption noch durch: So wäre etwa die Persi­ flage auf das Versicherungswesen, die Börsenspekulation und den 267

Presserummel um den lebensmüden Chinesen sehr viel überzeu­ gender, würde sie sich auf die amerikanische Mentalität beziehen; dennoch behält sie ihre romanimmanente Glaubwürdigkeit durch die Tatsache, dass die chinesischen Bräuche den zeitgenössischen Lesern nahezu unbekannt waren (was zugleich auch die Faszina­ tion dieser exotischen Kultur ausmachte) und ein Schriftsteller wie Jules Verne dieses Vakuum fast unhinterfragt mit seiner Phantasie auffüllen konnte. Das zugrunde liegende Thema des lebensüber­ drüssigen Schnösels, der wegen des Verlusts seines Reichtums einen Freund mit seiner Ermordung beauftragt, ehe er sich — zu spät? — eines Besseren besinnt, scheute sich Philippe Gille nicht philoso­ phisch zu nennen: »Das ist ein kleiner sehr anziehender philosophi­ scher Roman, eine Art Märchen in der Art Voltaires.«307 Aufjeden Fall handelt es sich um eines von Vernes amüsantesten Werken, dessen Wirkung auf seiner ausgeklügelten Spannungssteigerung be­ ruht, die die Situation des Helden Kin-Fo (von chien fou = toller Hund) immer verwickelter bis hin zur Ausweglosigkeit erscheinen lässt, ehe sie jäh aufgelöst wird, und auf der Trouvaille, einen Mord­ fall zum Gegenstand humorvoller Unterhaltung zu machen. Möglicherweise hat Jules Verne die Intrige des Romans einer Komödie von Albert Vanloo, Eugène Leterrier und Eugène Grangé entlehnt, die im Oktober 1871 nur zwei oder drei Aufführungen erlebt hatte.308 Sollte das der Fall sein, geschah es ihm nur Recht, dass sich das Kino seinerseits mehrfach des Plots bediente, ohne sich ausdrücklich auf den Chinesen zu beziehen: von Robert Siodmaks Der Mann, der seinen Mörder sucht (1930) über Ernst Neubachs Man lebt nur einmal (1952) bis zu Aki Kaurismäkis I Hired a Contract Killer (1990) hat sich die Schlagkraft des unterhaltsamen Themas je­ desmal wieder neu bestätigt. Vernes eigener Versuch, den Roman zusammen mit d’Ennery zu einem Spektaktelstück umzugestalten, scheiterte in den Jahren 1888 bis 1890 so nachhaltig, dass er danach keine weiteren Versuche mehr unternahm, für das Theater zu schreiben. Dennoch sollten Die Leiden eines Chinesen in China 1931 auf die Bühne des Pariser Théâtre Sarah Bernhardt gelangen, in einer romangetreuen Fassung von Claude Farrère und Charles 268

Méré, zu der der jüngste Sohn von Vernes Schwester Marie, Claude Guillon-Verne, die Musik komponierte. Nach den Erfahrungen des Jahres 1877 mit der schwierigen Ge­ burt des Kapitäns von 15 Jahren hatte sich Hetzei Gedanken darüber gemacht, wie er seinen offensichtlich überforderten Autor entlasten könnte. So stand seit 1870 noch die Fortsetzung der Geschichte der großen Reisen und großen Reisenden aus, und da Jules Verne von sich aus keine Anstalten machte, den vertraglich vereinbarten Zyklus zu komplettieren, überraschte Hetzei ihn mit der Ankündigung, einen Zuarbeiter gefunden zu haben: »Der Mann, an den ich mich ge­ wendet habe, ist sehr gebildet und scheint mir durchaus in der Lage, Ihnen vollständig die Mühe zu ersparen, die Ihnen diese Ver­ öffentlichung bereiten würde, und sie zu einem besseren Ende zu bringen, als es Ihnen alleine möglich wäre. (...) Anschließend ge­ hen Sie dann mit Ihrer Pranke darüber.«309 Verne war nicht begei­ stert von diesem Vorschlag, allein er fügte sich und unterschrieb einen Monat später den Vertrag, der einen Angestellten der Natio­ nalbibliothek mit den Recherchen beauftragte. Gabriel Marcel - nicht zu verwechseln mit dem Philosophen und Bühnendichter gleichen Namens — war für diese Arbeit schon allein durch seine Sprachkenntnisse qualifiziert, die es ihm ermög­ lichten, Quellen im Original zu nutzen, während Verne auf Über­ setzungen aus zweiter oder dritter Hand angewiesen gewesen wäre. Als Mitarbeiter an Tissandiers Zeitschrift La Nature hatte er seine Fachkenntnisse bereits unter Beweis gestellt, nur mit der Schreibe haperte es gewaltig. Verne korrigierte seinen Text auf den Druck­ fahnen, die für die Umstellungen der Satzgefüge und Neufor­ mulierungen nicht immer ausreichten. Auf diese Weise entstanden bis Ende 1879 die Revision des bereits 1870 erschienenen ersten Bandes (der um ein Kapitel über »Die Eroberung Indiens und der Gewürzländer« ergänzt wurde) und fünf weitere, die in den drei Werken Die Entdeckung der Erde (1878), Die großen Seefahrer des 18.Jahrhunderts (1879) und DerTriumph des 19. Jahrhunderts (im Fran­ zösischen weniger großspurig: Les Voyageurs du XIXe siècle, 1880) zusammengefasst wurden. Auch eine Erzählung über die Aben269

teuer der Meuterer von der Bounty, die 1879 als Zugabe zum Roman Die 500 Millionen der Begum erschien, war eine Auftrags­ arbeit aus Marcels Feder. Hetzei zahlte Marcel ein einmaliges Honorar von 8.000 F. (für Die Meuterer von der »Bounty« zusätzlich 300 F.), während Verne für 12.750 F. alle weiteren Rechte an dem Unternehmen abtrat. Die Trilogie erschien unter dem alleinigen Namen Jules Vernes, der in einem vertraglich vereinbarten Vorwort Marcels Mitwirkung würdigte. Das Projekt sollte eine Fortsetzung erleben, die noch heute Rät­ sel aufgibt: Vom Oktober 1880 existieren Verträge zwischen den drei Parteien, nach denen Marcel vier Bände verfassen sollte, zu de­ nen später weitere zwei hinzukamen. Vorgesehen war, dass sie unter dem Gesamttitel La Conquéte identifique et économique du globe pu­ bliziert werden und die Geschichte der Entdeckungen bis in die Gegenwart fortsetzen sollten. Über acht Jahre zog sich Vernes Kor­ rektur der Druckfahnen hin, doch das Ergebnis blieb unveröffent­ licht — für das Haus Hetzei eine Fehlkalkulation in Höhe von über 40.000 E, da nicht nur die Autoren ausbezahlt worden waren, son­ dern auch die Illustratoren George Roux und Léon Benett Goua­ chen angefertigt hatten. Im Gegensatz zur chronologisch aufgebau­ ten ersten Trilogie ging die zweite nach Regionen vor: die Ozeane und Polarregionen, beide Amerikas und Australien (Le Nouveau Monde, 1880/81), Afrika und Europa (Les Vieux Continents, 1881/82) und Asien (L’Anden Monde, 1887/88). Während vom zweiten Titel nur kurze Fragmente bekannt sind und vom dritten allein die zweite Hälfte erhalten ist, liegen vom ersten mindestens neun vollständig erhaltene Exemplare als Druckfahnen vor, die sukzessive zwischen 1881 und 1888 gesetzt wurden. Eine Veröffent­ lichung dieses Teils wäre möglich, zumal der Vergleich der ver­ schiedenen Fassungen darauf schließen lässt, inwieweit Jules Verne inhaltlichen Einfluss auf den Text genommen hat. Als Beispiel da­ für mag der folgende Auszug aus der apologetischen Einleitung stehen; kursiv und in eckigen Klammern werden die Korrekturen wiedergegeben, die Jules Verne am ursprünglichen Text vorgenom­ men hat310: 270

»Für unsere Großneffen [die kommenden Generationen] wird das 19. Jahrhundert [nicht weniger] durch die wunderbaren Fortschritte der Wissenschaften ttttrl [als es sich gehandelt ist< und noch andere nicht weniger absonderliche Dinge, die zur Erheite­ rung des Publikums beigetragen haben.«320 Ihrer Beliebtheit tat das keinen Abbruch, und als sie am 3. April 1880 ihre letzte Rolle ge­ spielt hatte, schrieb der Kritiker von Le Progrès de la Somme tags dar­ auf: »Wir würden es sehr bedauern, sie nicht mehr zu hören. Sie hat alles, was sich nicht lernen lässt, und die Zeit hätte ihr mit Sicher­ heit den Rest vermittelt.« Jules Verne verfolgte die skandalöse Verbindung seines Sohnes mit Entsetzen, ließ ihn polizeilich überwachen und befürchtete al­ len Ernstes, Michel werde noch im Irrenhaus enden. Er weigerte sich, für eine Heirat sein elterliches Einverständnis zu geben - was in Frankreich bei Heiratswilligen bis zum Alter von 25 Jahren vor­ ausgesetzt wurde, auch wenn mit 21 die Volljährigkeit erreicht war. Michel, noch nicht 19, verließ Amiens mit Thérèse Anfang April in Richtung Le Havre, wo sie ihre Sommertournee antrat; anschlie­ ßend setzte sich das Paar nach Nîmes ab. Verne ließ es geschehen, »aus Überdruss, Ekel, aus der Ohnmacht, irgendetwas zu errei­ 280

chen«321, überwies dem Sohn über Hetzei eine monatliche Unter­ stützung von zunächst 500, dann 1.000 F, die bis 1905 aufrecht­ erhalten blieb, aber trotzdem nicht reichte, um Michels Ansprüchen zu genügen. Michel und Thérèse heirateten schließlich — mit Zu­ stimmung ihrer beiden Eltern - am 15. März 1884 in Nîmes. Die Ehe funktionierte nicht lange, denn bereits ein halbes Jahr nach der Trauung entführte Michel eine minderjährige Pianistin, von der er behauptete, dass sie schwanger von ihm sei, ließ seine Frau sitzen und zog mit der Geliebten nach Paris... Das Jahr 1880 stand im Zeichen Michael Strogoffs, des Kuriers des Zaren. Den ganzen Februar hatte Jules Verne am Kap von Anti­ bes bei Adolphe d’Ennery zugebracht, um mit ihm das Manuskript seiner Bearbeitung noch einmal durchzugehen und gleichzeitig weiter an der Voyage à travers l’impossible zu arbeiten. Am 16. April las d’Ennery das Stück vor den Schauspielern des Châtelet, am 17. November erfolgte die triumphale Premiere. Da Jules Verne aktiv an der aufwändigen Inszenierung teilhaben wollte, deren Proben Mitte August begannen, fiel die diesjährige Kreuzfahrt aus. Im Vor­ feld der Aufführung war es zu Querelen gekommen, da Félix Duquesnel, der sich als ehemaliger Berater Vernes und als Initiator des Stückes verstand, die Rechte an Paul Clèves, den Direktor des Théâtre de la Porte Saint-Martin, abgetreten hatte. Als sich für ihn im Frühjahr 1880 die Möglichkeit bot, zusammen mit Emile Rochard das Châtelet zu übernehmen, das mit 3.600 Personen doppelt so viele Zuschauer fassen konnte wie das Porte Saint-Martin, bereute Duquesnel seine Entscheidung und berief sich auf eine Klausel des Vertrags, die ihm eine Aufführung des Stückes unter der Voraussetzung zusicherte, dass er es selbst inszenierte. Clèves protestierte und erreichte immerhin, dass ihm die Rechte von Der Kurier des Zaren für die Provinz sowie die Beneluxländer und der Voyage à travers l’impossible für Paris abgetreten wurden. Die Ent­ scheidung, sämtliche Rechte für den Kurier letztlich doch an Du­ quesnel zu veräußern, sollte Clèves bitter bedauern, da die Voyage nur eine Spielzeit erlebte, während Der Kurier des Zaren am Châte­ let bis 1939 durchhielt und 2.502 Aufführungen erreichte. 281

Seinem Verleger gegenüber hatte Verne behauptet, dass diesmal die Bühnenausstattung nicht im Mittelpunkt des Geschehens ste­ hen sollte; das Gegenteil war der Fall. Mit einem selbst für die größte Bühne von Paris unerhörten Aufwand wurde das Publikum auf ein spektakuläres Ereignis vorbereitet, das alle bisherigen Di­ mensionen sprengte. Bevor sich der Vorhang hob, lagen die Investi­ tionen bei unglaublichen 340.000 E, von denen allein 100.000 E vom Dekor und 160.000 F. von 1.500 Kostümen verschlungen wurden. Das Stück übertraf alle Erwartungen und füllte die Kas­ sen, bis die Schauspieler nach einem Jahr und 386 Vorstellungen vor Erschöpfung eine Zwangspause einlegen mussten. Marie Lau­ rent, neben Sarah Bernhardt die große Dame unter den Pariser Schauspielerinnen, verkörperte zur allgemeinen Rührung Marfa Strogoff, Léon Marais ihren Sohn und Titelhelden. Marais war da­ für bekannt, dass er sich mit seinen Rollen extrem identifizierte (was für viele in Verbindung mit seinem frühen Tod in einer Ner­ venheilanstalt gebracht wurde). Über sein Engagement als Kurier des Zaren bei der Premiere berichtete Direktor Rochard: »Sie er­ innern sich, dass er ganz erschöpft nach einem langen Lauf auf der Bühne erscheinen sollte. Tatsächlich unternahm er am Abend der Premiere nichts weniger als ein Rennen von Versailles nach Paris, unterbrach es nur am Louvre, um zum gegebenen Zeitpunkt ein­ zutreffen. Und tatsächlich trat er genau im richtigen Augenblick auf, halb tot vor Erschöpfung und Aufregung!«322 Von Beginn der 90er Jahre an profitierte das populäre Stück zu­ sätzlich von der politischen Annäherung zwischen Franzosen und Russen, deren Militärabkommen von 1892 sich ausdrücklich gegen das Deutsche Reich richtete und zu einer folgenreichen Spaltung Europas führte. Inszenierungen von Der Kurier des Zaren ab 1893 wurden in Ausstattung und musikalischer Untermalung zu Glau­ benskundgebungen für das neue Bündnis umfunktioniert, das Stück selbst mit einer politischen Dimension befrachtet, an die seine Autoren nicht im mindesten gedacht haben dürften... Nichtsdestotrotz: Der Erfolg von Der Kurier des Zaren war eine große Genugtuung für Jules Verne, der am Morgen nach der Pre­ 282

miere mit vielen seiner Kollegen und Freunde an einer vom Figaro organisierten Gedenkveranstaltung für den zwei Monate zuvor verstorbenen Jacques Offenbach im Théâtre du Vaudeville teil­ nahm. Etwas bescheidener, wenn auch ebenso herzlich gemeint, fiel der Empfang aus, den der konservative Unionszirkel, Vernes per­ sönlicher Reform-Club, am 10. Dezember für den Schriftsteller in Amiens gab. Von sehr viel größerer Bedeutung jedoch dürfte Jules Verne die Bekanntschaft mit der Familie des designierten französischen Thronfolgers, des Grafen von Paris, gewesen sein, die er 1878 in Le Tréport kennen gelernt hatte. Man lud ihn auf das Schloss von Eu ein und bekundete Sympathie für sein Werk, so wie Verne in dem jungen Grafen von Eu einen interessanten Gesprächspartner fand, der seinen Lebensschwerpunkt nach Brasilien verlegt hatte und dort in der Politik mitwirkte. Das Haus von Orléans, dessen Spross Louis-Philippe 1848 ungnädig aus dem Königsamt vertrieben wor­ den war, hatte nach seiner Verbannung erst 1872 nach Frankreich zurückkehren dürfen und zeichnete sich im Gegensatz zu den riva­ lisierenden Bonapartisten und Bourbonen durch einen gemäßigten Liberalismus aus; einige seiner Mitglieder huldigten dem Reisen und publizierten darüber hoch geschätzte Berichte. Der Graf Henry de Chambord, Repräsentant der Bourbonen, hatte in der Hoffnung auf Wiederherstellung der Monarchie 1873 den Grafen von Paris zu seinem legitimen Nachfolger bestimmt, da er selbst keine Nach­ kommen hatte, sich aber bei der Regierung alle Chancen auf eine Rückkehr an die Macht mit der unrealistischen Forderung ver­ scherzt, statt der Trikolore das Lilienbanner wieder als National­ fahne einzuführen. Nun wartete Philippe von Orléans, Graf von Paris, darauf, dass mit dem Tode des Alten die Reihe an ihn kom­ men möge. Dafür musste er sich noch bis zum Jahre 1883 gedul­ den. Unter dem Eindruck seiner wachsenden Popularität spielte die republikanische Regierung zu Beginn desselben Jahres mit dem Gedanken, sich der drei verbliebenen Prinzen von Orléans durch ein Exilgesetz zu entledigen, das mit knapper Mehrheit zunächst abgelehnt wurde. Stattdessen versuchte man, den adligen Herr­ 283

schäften den Dienst in der Armee zu untersagen. In diesem Zu­ sammenhang steht ein aufschlussreicher Brief, den Jules Verne an den »künftigen König« (wie er ihn in einem Schreiben an Dumas bezeichnete) richtete: »ln Erinnerung an die Gefühle, die die Mei­ nen und ich schon immer gegenüber der Familie von Orléans empfunden haben, in Erinnerung an den gütigen Empfang, den Eure Hoheit mir persönlich haben angedeihen lassen, werden Sie mir erlauben, mich allen Menschen von Herz und Verstand anzu­ schließen, die heute nur eine Pflicht und eine Hoffnung verspüren: die Pflicht, gegen die Unrechtmäßigkeit zu protestieren, die durch eine Niederträchtigkeit gegenüber Ihrer Familie verdoppelt wird, und die Hoffnung, dass eines Tages all diese Beleidigungen gerächt werden mögen.«323 Ein rechtschaffener Republikaner, den viele seiner Biographen gerne in Verne sehen wollten, hätte sich ein der­ art kompromittierendes Bekenntnis kaum freiwillig abgerungen. Dem Grafen von Paris soll Jules Verne eines seiner Manuskripte von 20.000 Meilen unter den Meeren geschenkt haben, der sich er­ kenntlich zeigte, indem er dem Schriftsteller die sieben Bände sei­ ner Geschichte des amerikanischen Bürgerkriegs (1874—1896) zu­ kommen ließ, in der Verne erklärtermaßen die Idee für seinen Roman Nord gegen Süd fand. Auf weniger Anklang stieß Vernes Versuch, während seiner drit­ ten Kreuzfahrt eine Audienz beim dänischen König Christian IX. gewährt zu bekommen, ein Wunsch, der am 25.Juni 1881 in einem Schreiben des dänischen Botschafters an den französischen Ge­ sandten in Kopenhagen aus Zeitgründen abschlägig beantwortet wurde. Über diese Enttäuschung lesen wir nichts in Paul Vernes Reisebericht, der zunächst im August in der Nantaiser Tageszei­ tung L’Union bretonne veröffentlicht wurde. Neben Paul und Gas­ ton war wiederum Robert Godefroy mit von der Partie; die sechs­ wöchige Reise sollte vom i.Juni an vom englischen Deal über die Niederlande (Rotterdam, Amsterdam, Den Haag), Deutschland (Wilhelmshaven, Rendsburg, Kiel) und Kopenhagen bis nach St. Petersburg fuhren. Vernes ursprünglicher Wunsch, das zwanzig Jahre zuvor besuchte Hamburg wiederzusehen, wurde aus Zeit­

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gründen durch die Durchquerung des Eiderkanals ersetzt. Bei aller Distanz zu den Bewohnern des Landes zeigte man sich von der Schönheit der Eiderlandschaft beeindruckt und nahm mit noch größerer Begeisterung am Störfest im Tivoli teil. Mit Kopen­ hagen — und nicht St. Petersburg, wie zunächst geplant — war der End- und Höhepunkt der Reise erreicht. Statt selbst vom König empfangen zu werden, musste sich Verne damit begnügen, auf der Saint-Michel und in einiger Entfernung den Besuch Christians IX. an Bord des englischen Admiralschiffes Herkules zu verfolgen, den dieser beim Herzog von Edinburgh abstattete. Offizielle Einla­ dungen auf diplomatisch niedrigerem Niveau ergingen an die Reisenden, ehe diese am 26. April die Rückkehr in die Heimat antraten. Den übrigen Sommer verbrachte Verne bei seiner Familie in Nantes. Der Reisebericht von Paul und Jules Verne liest sich noch heute mit Interesse; doch wie unspektakulär erscheint die Eiderreise an­ gesichts jener Fahrt auf einem Riesenfloß in Die Jangada, die die Leser des Magasin ¿’Éducation et de Récréation das ganze Jahr 1881 lang unternehmen konnten. Die Beschreibung des exotischen Amazonas verknüpfte Jules Verne zum ersten Mal in seinem Ro­ manwerk mit einer Kriminalgeschichte; damit tastete er sich an eine literarische Gattung heran, die ihrem Verfasser — immerhin ge­ lernter Rechtsanwalt, gelegentlicher Schöffe und regelmäßiger Be­ sucher von Strafprozessen in Amiens — in erster Linie dazu diente, Justizirrtümer und die Grenzen der menschlichen Rechtsprechung, weniger die Verbrechen selbst, zu thematisieren. Eher beiläufig und als Mittel humorvoller Spannungssteigerung hatte Verne dieses Thema mit Foggs Verfolgung durch den tölpelhaften Inspektor Fix in In 80 Tagen um die Welt aufgegriffen; mit der Beschuldigung des rechtschaffenen Joam Garral, dessen Rettung vom Schafott von der Entzifferung eines komplizierten Kryptogramms abhängt, rückt es hier in den Mittelpunkt der Handlung. Während alle Indizien und logischen Erklärungen gegen den Beschuldigten sprechen, gelingt die Befreiung im letzten Moment nicht durch den erfolglos sich mühenden Untersuchungsrichter Jarriquez, sondern durch eine 285

Verkettung von Zufällen, unter deren Decknamen, wie der auf­ merksame Verne-Leser weiß, die göttliche Vorsehung ihre Fäden zieht und allen menschlichen Ehrgeiz wieder mal in seine Schran­ ken weist. Mit dem Thema des Kryptogramms, das schon die Reise zum Mittelpunkt der Erde veranlasst und Die Kinder des Kapitäns Grant auf die Suche nach ihrem Vater geschickt hatte, bezieht sich Verne aus­ drücklich auf Edgar Allan Poes Erzählung Der Goldkäfer, dessen li­ terarische und analytische Verdienste im Roman ausdrückliche Würdigung erfahren. Sein drittes Kryptogramm, das auf einer Ab­ folge von Buchstaben beruht, die nach einem Schlüsselwort um unterschiedlich viele Stellen im Alphabet verrückt werden müssen, hielt Jules Verne für unentzifferbar. Umso überraschter war er, als ihm der Sohn seines Freundes Mortimer d’Ocagne noch vor Er­ scheinen des zweiten Bandes die Lösung präsentierte. Einem seiner Freunde an der Ecole Polytechnique war es nach dreimonatigem Tüfteln gelungen, das Rätsel zu lösen: »Höchstselbst kam |Verne] in die Schule, um sich von meinem Kameraden erklären zu lassen, wie ihm dieser Kraftakt an Wahrsagerei gelungen war, und ich sehe noch, wie er sich während der Darlegung mehrere Male zu mir umwandte und ausrief: Welch ein Analysevermögen! Ich bin buchstäblich platt! Welch ein Analysevermögen!«Da sieht man, was der Hass einer Frau ausrichten kann!««329 Wie auch im Fall von Voyage d travers l’impossible ist die Bühnen­ fassung von Keraban zu Vernes Lebzeiten unveröffentlicht geblie­ ben und wurde erst ein Jahrhundert später von Robert Pourvoyeur herausgegeben. Die Lektüre dieser Fassung ist nicht weniger amü­ sant als die des Romans, allerdings fehlt ihr der trockene Kommen­ tar des auktorialen Erzählers, der nicht wenig zum Humor des Ro­ mans beiträgt und die Komik mancher Dialoge noch steigert, wie das folgende Beispiel zeigt, in dem sich Keraban aus Gründen sei­ ner religiösen Überzeugung weigert, bei seiner Reise die Eisen­ bahn zu benutzen. »Keraban, sich in Rage redend. — Ahmet, schau mir in die Augen und lass dir gesagt sein: Wenn es keine Wagen mehr gäbe, würde ich im Karren fahren! Ohne Karren nähme ich das Pferd! Ohne Pferd eben einen Esel, ohne Esel ginge ich zu Fuß, ohne Füße krö­ che ich auf Knien, und ohne Knie... Van Mitten — Halten Sie ein! Keraban — ...rutschte ich eben auf dem Bauch! Hast du jemals gehört, dass Mohammed die Eisenbahn benutzt hätte, um nach Mekka zu reisen?«330 ln der Buchfassung wurden die letzten beiden Repliken überar­ beitet und um den Kommentar des Erzählers bereichert: »>Freund Keraban«, rief van Mitten aus und packte seinen Be­ gleiter am Arm, >hören Sie auf, aus Barmherzigkeit!« >... rutschte ich eben auf dem Bauch!« vervollständigte der eh­ renwerte Keraban und ergriff seinerseits Ahmet am Arm: Jawohl! ... auf dem Bauch! Hast du jemals gehört, dass Mohammed die Ei­ senbahn benutzt hätte, um nach Mekka zu reisen?« 29;

Auf dieses letzte Argument war offensichtlich nichts zu entgeg­ nen. Sicher hätte Ahmet antworten können, dass Mohammed sich bestimmt der Eisenbahn bedient haben würde, wenn es sie zu sei­ ner Zeit schon gegeben hätte, aber er zog es vor zu schweigen, während Keraban in seiner Ecke weiter vor sich hin brummte und mit Hingabe damit beschäftigt war, das Fachchinesisch der Eisen­ bahnersprache zu verunstalten.«331 Wahrscheinlich wäre es Keraban mit seiner ins Absurde spielen­ den Komik besser bekommen, wenn Verne sich darauf beschränkt hätte, eine schwungvolle Komödie zu schreiben, statt sich auf die Schwerfälligkeit eines Ausstattungsstückes einzulassen, in dem der Text nur Beiwerk war. Wiederholt sind die Leiden des bedauernswerten van Mitten unter den Tobsuchtsanfällen seines cholerischen Freundes und un­ ter einer herrschsüchtigen Gattin, der eine noch schlimmere Hochzeitsanwärterin namens Saraboul an die Seite gestellt wird, in Zusammenhang mit Vernes familiären Problemen gebracht wor­ den. Selbst Jean Jules-Verne stellte eine Beziehung zwischen Ker­ aban und seinem Vater Michel her: »Als Modell für Keraban wird er ihn sicher nicht gewählt haben«, relativiert er. »Aber dass er an einen Starrkopf dachte, weil er es mit einem Starrkopf zu tun hatte, dessen Ausfälle ihn ständig beschäftigten, das ist wahrscheinlich. Kerabans Antworten rufen in mir zu viele Erinnerungen wach, als dass ich daran zweifeln könnte.«332 In Anlehnung an Charles-Noël Martin hält es Olivier Dumas für möglich, dass die zerrüttete Be­ ziehung des Ehepaars van Mitten das Ergebnis von Vernes Versuch war, sich in literarischer Form mit seinen eigenen Eheproblemen auseinanderzusetzen.333 Tatsächlich ähnelt der hilflose van Mitten, der sich durch Reisen seiner Gattin entzieht, frappierend seinem Schöpfer, der es seit 1868 gewohnt war, mit demselben Mittel rea­ ler oder fiktionaler Ausflüge der ehelichen Problembewältigung aus dem Wege zu gehen. »Hier folgt ein Sturm auf den anderen«, vertraute Verne seinem Verleger im Januar 1883 an, »und der Auf­ ruhr betrifft ebenso sehr die physischen Elemente wie die morali­ schen. Nur werden die einen verschwinden, wenn die schöne Jah­ 2Q2

reszeit wiederkehrt. Aber was die anderen betrifft, so glaube ich nicht mehr daran!«334 Im Oktober 1882 hatte das Ehepaar Verne sein seit Herbst 1874 bewohntes Reihenhaus am Boulevard Longueville 44 verlassen und war keine zweihundert Schritte entfernt in ein großräumiges Ge­ bäude an der Ecke zur Rue Charles-Dubois gezogen, das von nun an als offizieller Wohnsitz galt. Seine Schreibwerkstatt hatte Verne im zweiten Stockwerk mit Blick auf die Kathedrale eingerichtet, in einer winzigen Kammer, deren karge Ausstattung alle Besucher in Erstaunen versetzte, die ein museales Arbeitszimmer in der Art eines Zola, Hugo oder Sardou vermuteten: Ohne jegliches Gespür für Repräsentation hatte Verne diesen Raum nur mit dem ausge­ stattet, was ihm die Enge seiner Kajüte auf der Saint-Michel ver­ gegenwärtigte. Neben dem Schreibtisch und ein paar Stühlen be­ schränkte sich die Möblierung auf ein simples Eisenbett, in dem der Schriftsteller nur dann nicht schlief, wenn er ernsthaft krank war. Die räumliche Trennung von Honorine war offensichtlich vollzogen. Zudem: Weshalb sprach Hetzei in der Korrespondenz vom neuen Haus als »Haus von Frau Verne«335, und weshalb wurde Jules Vernes Post weiterhin an die alte Adresse gesandt, bis sich das Paar 1900 entschloss, wieder zurück an den Boulevard Longueville zu ziehen? Möglich, dass sich der Schriftsteller ein Refugium in vertrauter Umgebung verfügbar hielt, wenn die Lebensstürme wie­ der einmal allzu heftig über das Dach der Rue Charles-Dubois hinwegzogen... Dem Verdruss über den Reinfall seines Keraban folgte kaum drei Wochen später der Schock über den Tod eines guten Bekannten, der Jules Verne zu einem für seine Verhältnisse einmaligen sozialen Engagement veranlasste. Der 1856 in Amiens geborene Louis Thuillier hatte für seine Ausbildung an der Pariser Ecole Normale supérieure ein Stipendium seiner Heimatstadt erhalten und war 1880 auf eigene Initiative in den Dienst von Louis Pasteur getre­ ten. Seinen Forschungen war die Entdeckung der Klauenseuchen­ erreger bei Schweinen zu verdanken gewesen, und im August 1883 hatte er zusammen mit seinem Kollegen Emile Roux an einer 293

Mission nach Ägypten mit dem Ziel teilgenommen, den Verursa­ cher der Cholera zu entdecken, um dessen Isolierung ein Wettlauf zwischen Pasteur und Robert Koch ausgebrochen war (und der schließlich zu Gunsten Kochs ausfiel). Während in Alexandria die Cholera bereits rückläufig war, hatte sich Thuillier am 17. Septem­ ber infiziert und war binnen kurzem seiner Krankheit erlegen. In Briefen, die er an das Journal d’Amiens und das Paris-Journal rich­ tete, wies Jules Verne auf den Dank hin, den das Land der Familie des Gestorbenen schuldig sei, zitierte aus dem letzten Schreiben, das die Thuilliers erst nach der Nachricht seines Todes erhalten hatten, und erklärte Hetzei: »Thuilliers Familie ist im Elend. Der gestorbene Sohn schickte ihr monatlich 200 F. von den 500, die er verdiente. Das gab mein Brief zu verstehen. Der Vater hat 1.200 F. Rente, und das ist alles!«336 Auf Vernes Initiative schrieben die Zeitungen von Amiens eine Sammlung aus, aber in der Absicht, die Familie materiell zu unter­ stützen, hatte der Schriftsteller sich ungewollt einen Fauxpas ge­ leistet. So klagte Louis’ Schwester Felicie vor Pasteur: »Sehr geehr­ ter Herr und lieber Meister meines armen Bruders, als ich Ende letzter Woche nach Amiens zurückkam, habe ich meine Eltern noch immer niedergeschlagen vorgefunden, dazu auch noch mora­ lisch leidend wegen der Subskription, die nach dem Anstoß der Zeitung Paris auf Betreiben von Herrn Verne in Amiens ausge­ schrieben worden ist, mit der er uns seine Zuneigung zeigen wollte, um uns mit allen Mitteln das Leben etwas erträglicher zu machen, und weil er der Meinung ist, dass die Geburtsstadt von Louis Thuillier für seine Familie tun sollte, was jener in der Zu­ kunft selbst getan hätte; >außerdem< - so gab er mir zu verstehen, als ich ihn am Tag nach meiner Rückkehr besuchte, um ihn zu bitten, diese Subskription wieder zu unterbinden (...) — »außerdem haben nicht wir den Stein ins Rollen gebracht, sondern wir sind nur der Initiative des Ministerialblatts Paris gefolgt, und Sie können die An­ gelegenheit jetzt nicht mehr aufhalten; später, wenn die Subskrip­ tion geschlossen ist, werden Sie Ihre Absicht bekannt geben, auf welche Weise Sie das Geld anzulegen gedenken, und jene, die auf 294

Sie den ersten Stein werfen, zeigen nur, dass sie kein Herz haben. Denn allen sollte daran gelegen sein, der Familie aus der prekären Lage zu helfen, in der sie sich befinden (Herr Verne kann einfach nicht verstehen, dass unser Feingefühl dadurch verletzt worden ist, denn wir haben immer ehrbar von der Frucht unserer Arbeit ge­ lebt, ohne jemals um irgendetwas zu bitten). (...) Ich leide fürch­ terlich darunter, vor allem wenn ich an unseren armen Louis denke, der so selbstlos war und so bescheiden.«337 Am 30. September nahm Jules Verne an einem Gedenkgottes­ dienst für den jungen Wissenschaftler teil, dessen Leichnam aus Gründen der Seuchengefahr erst zwei Jahre später nach Amiens überführt und beigesetzt werden sollte. Das gesammelte Geld 7.750 F, von denen über drei Fünftel in Amiens gespendet worden waren (300 F. hatte Jules Verne an erster Stelle gegeben, 100 F. Hetzei) — wurde für die Anfertigung eines Grabmals mit Büste des Verstorbenen verwendet. Kurz vorher, am 3. September, war auch der Schriftsteller Iwan Turgenjew verstorben, ein alter Freund von Hetzei, den dieser vergeblich versucht hatte in Frankreich populär zu machen. Dass Turgenjew Verne sonderlich geschätzt hätte, geht aus seiner Korrespondenz mit Hetzei nicht hervor, wurde aber 1891 von seinem Schriftstellerkollegen Leo Tolstoi bezeugt. »Hät­ ten Sie nur hören können«, äußerte er in einem Gespräch, »mit welchem Enthusiasmus er von ihm sprach! Er wies ihm eine außergewöhnliche Stellung zu. Ich erinnere mich nicht daran, dass er jemals einen anderen so wie Jules Verne bewundert hätte!« Eines Tages sei es zu einem Zusammentreffen auf einem Fest gekommen. »Turgenjew war sehr aufgeregt und las nochmals all seine Werke, um gut vorbereitet zu sein für die Begegnung, die dann trotzdem eine große Enttäuschung wurde. Turgenjew fand ihn unzugänglich, langweilig und sehr schweigsam. Von seinen Werken hat er über­ haupt nicht sprechen wollen, sondern zog es vor, mit Interesse Tur­ genjew zuzuhören, der nun wirklich ein vortrefflicher Erzähler war. Turgenjew hatte kein Verlangen mehr, Jules Verne wiederzuse­ hen, fuhr aber fort, bis zum Ende seines Lebens ein Bewunderer seiner Werke zu sein.«338 295

Es war wahrhaftig keine glückliche Zeit für Jules Verne, dem al­ les, was er in bester Absicht und mit viel Enthusiasmus unternahm, zu misslingen schien. So spürte er den Boden unter seinen Füßen schwinden, als Hetzei im Herbst 1883 seinen neuen Roman Der Archipel in Flammen scharf wie selten zuvor kritisierte. Es war Ver­ nes bislang konsequentester Vorstoß zur Gattung des historischen Romans, der eine Episode aus dem griechischen Freiheitskampf gegen die Türken behandelte. Wie die Korrespondenz mit Hetzei zeigt, sah der Autor das Hauptinteresse nicht so sehr in den poli­ tischen Umständen, die nur den allgemeinen Rahmen abgeben sollten, sondern in der emotionalen Verstrickung seiner Haupt­ personen; was nicht verwundert, da für ihn selbst mit dem Piraten Starkos das Thema des unwürdigen Sohnes, der von seiner Mutter verstoßen wird, von größter Aktualität war. Und noch jemand zeigte sich äußerst unzufrieden mit dem Ar­ chipel: die Griechen selbst, zu deren Ehre Verne den Roman doch geschrieben zu haben meinte. Nachdem er in der zweiten Jahres­ hälfte 1884 in der Athener Tageszeitung Kari erschienen war, erhob sich ein Sturm patriotischer Entrüstung; vor allem die Bewohner des Dorfes CEtylos fühlten sich als Piratenbande verunglimpft. Das ganze Dorf versammelte sich und entwarf zwei Protestbriefe: 294 Männer wiesen die »Lüge« zurück, dass sich jemals einer ihrer Mit­ bürger 55 Jahre zuvor durch Kollaboration mit den Türken oder gar als Pirat kompromittiert habe; 330 Frauen empörten sich über die Übersetzerin Helena Canellides, die es gewagt hatte, den eh­ renrührigen Roman Jules Vernes im Organ ihres Gatten zu veröf­ fentlichen. Jules Verne konterte am 16. April 188$ mit einem offe­ nen Brief in Le Tetnps, in dem er sich auf sein Recht als Romancier berief und für die beanstandeten Passagen die von ihm genutzten Quellen offenlegte.339 Die Eroberung einer Gattung, in der der ältere Dumas brilliert hatte, wurde von Vernes Publikum nicht honoriert, was sich in sinkenden Absatzzahlen niederschlug, die den Autor selbst aber keinesfalls dazu verleiteten, klein beizugeben. Schon der nächste Roman Mathias Sandoif nimmt in seinem Prolog die Auseinander296

Setzung zwischen Österreichern (als Unterdrückern) und Ungarn (als Unterdrückten) zum Ausgangspunkt seiner Handlung und ist nicht nur ausdrücklich Alexandre Dumas gewidmet (Vater wie Sohn), sondern zugleich der Versuch einer Umsetzung des Romans Der Graf von Monte Cristo (1845/46) im Geiste der Außergewöhn­ lichen Reisen. So wie Edmond Dantès als steinreicher Graf wieder aufersteht, beginnt der ungarische Graf Mathias Sandorf nach ver­ lorenem Widerstand gegen die Habsburger und zeitweiligem Untertauchen ein neues Leben als berühmter Mediziner Dr. Antekirtt, der auf einer Mittelmeerinsel eine Kolonie für Freunde und ehemalige Gönner errichtet hat und die damaligen Verräter seines Freiheitskampfes verfolgt. Vernes 1885 in drei Bänden erschienener Roman hat es schwer, im Vergleich zum Modell zu bestehen, zu sehr zehrt er von der Vorlage, ohne sie um wesentlich neue Aspekte zu bereichern. Der vergleichsweise blässliche Eindruck wird nicht zuletzt durch die Hauptfigur hervorgerufen, die weit davon ent­ fernt ist, in ihrem Wandel vom Eingekerkerten zum einflussreichen Rächer so mitzureißen wie Dumas’ volkstümlicher Held. »Es kommt nicht überraschend«, urteilt Volker Klotz, »wenn Sandorf, der vor seinem Sturz mächtig war, jetzt um einige Grade mächtiger ist. Wobei sein Machtzuwachs einhergeht mit dem Verlust seiner vormaligen patriotischen Fortschrittsideen.«340 Die technischen Mittel, derer sich der kühl berechnende Dr. Antekirtt bei der Ver­ wirklichung seiner Rache bedient, wirken wie ein Substitut der Leidenschaft, die einst Dumas’ Hauptfigur vorantrieb. Es gibt also zwei Sandorfs, den agilen Rebell und den abgeklär­ ten Inselpatriarchen, und für beide hielt sich Verne an ganz kon­ krete Vorbilder: »Der junge Sandorf«, schrieb er seinem Verleger, als es darum ging, dem Illustrator Léon Benett Orientierungshilfe zu geben, »das sind Sie mit 35 Jahren, mit Ihrem vollen Bart, den schwarzen Augen, so wie im Buch beschrieben, und Ihrer Statur, ganz und gar.«341 Aber wohl noch eine weitere Persönlichkeit floss in die Figur ein; sie lässt sich über Sandorfs paradox erscheinenden Namen identifizieren: Als Ungar wäre der Protagonist wesentlich glaubwürdiger, wenn er auf den Namen Sandor getauft worden 297

wäre; das angefugte -f verleiht ihm jedoch eine deutsch-österrei­ chische Note, die angesichts von Sandorfs patriotischem Engage­ ment ganz unangemessen erscheint. Mehr noch: Für das Leben des Grafen Sandorf als Antekirtt orientierte sich Verne möglicherweise an dem, was die Presse über das Leben eines authentischen Habs­ burgers berichtete, nämlich am Erzherzog Ludwig Salvator, der aus der toskanischen Linie des Hauses Habsburg-Lothringen stammte. Dieser Adlige hatte sich früh von den Gepflogenheiten des höfi­ schen Lebens abgewandt und sich mit kaiserlicher Erlaubnis von Beginn der 70er Jahre an eine Existenz als Forschungsreisender im Mittelmeerraum eingerichtet, den er auf seiner Luxusyacht Nixe durchkreuzte. Seine hervorragend recherchierten und selbst illus­ trierten Veröffentlichungen über die Mittelmeerinseln genossen hohes Ansehen in der Fachwelt und dürften auch Verne ihrer Exis­ tenz nach bekannt gewesen sein, zumal sein Werk über die Balea­ ren auf der Weltausstellung von 1878 mit einer Goldmedaille aus­ gezeichnet worden war. Nicht nur benutzte Ludwig Salvator das Pseudonym des Grafen Neudorf (was den unpassenden Auslaut von Sandorf erklären mag). Er hatte sich außerdem auf Mallorca eine abgeschottete kleine Kolonie aufgebaut, mit der er sich der öffent­ lichen Aufmerksamkeit entziehen wollte, deren unkonventionelle Organisation aber umso mehr die Gerüchteküche der Klatschko­ lumnen reizte. Es wäre übertrieben, in Mathias Sandorf irgendeine Art von Schlüsselroman in Zusammenhang mit dem Erzherzog zu vermuten; Jules Verne nahm, wo er fand, und die Person Ludwig Salvators in ihrer Kombination aus einem Angehörigen des Kai­ serhauses und einem reisenden Gelehrten musste ihm schillernd genug erscheinen, um Eingang in die Außergewöhnlichen Reisen zu finden — selbst wenn es sich um einen Habsburger handelte. Auf unvermutete Weise sollte die Realität Jules Vernes Fiktion einholen, als dieser sich entschloss, auf seiner nächsten Kreuzfahrt im Jahr 1884 einen Teil der Handlungsorte seines in Entstehung begriffenen Romans in Augenschein zu nehmen. Hätte er sich, als er Ende 1883 damit begann, Mathias Sandorf zu schreiben, träumen lassen, dem Erzherzog Ludwig Salvator jemals in Person zu begeg­ 298

nen? Dieses Treffen fand Mitte Juli in Venedig auf Initiative des jungen Erzherzogs statt, und Jules Verne, der wie gewohnt einen unter vielen Bewunderern vor sich zu sehen meinte, erfuhr erst im Nachhinein, mit wem er es zu tun gehabt hatte.342 Abgesehen da­ von, dass sich der Schriftsteller geschmeichelt gefühlt haben dürfte, von einem Mitglied des Hochadels beehrt zu werden, verband die beiden Männer in mehrfacher Hinsicht eine Geistesverwandtschaft: ihre Liebe zum Meer und zum Reisen auf der eigenen Yacht, ihre Abneigung gegen alles Repräsentationsgehabe, die von Zeitgenos­ sen in erster Linie als Vernachlässigung ihrer äußeren Erscheinung wahrgenommen wurde, die Begeisterung für Geographie und Wis­ senschaft, die nicht Selbstzweck war, sondern im Dienst der Gesell­ schaft stehen sollte, schließlich das zweifelhafte Privileg, mit ihren Veröffentlichungen — jeder auf seine Weise und ohne dies beab­ sichtigt zu haben — zu Wegbereitern des Massentourismus gewor­ den zu sein. Jules Verne und Ludwig Salvator blieben ihr Leben lang in brieflichem Kontakt und schickten einander ihre neu er­ schienenen Werke zu. Mitte Januar 1884 war Jules Verne in Paris, um die Neuinszenie­ rung von In 80 Tagen um die Welt zu überwachen, anschließend begab er sich nach Nantes, um erste Vorbereitungen für seine Mittelmeerreise zu treffen: »Jules Verne hat seinen diesjährigen Sommerausflug sorgfältig geplant, und dieses Mal wird er nach der Abfahrt von Saint-Nazaire nacheinander folgende Orte anlaufen: Lissabon, Cadiz, Oran, Algier, Tunis, Malta, Korfu, Sizilien. Diese Kampagne wird die letzte auf der Dampfyacht Saint-Michel sein: Ju­ les Verne empfindet die Dampfschifffahrt als allzu bequem, zu sehr das Unvorhergesehene entbehrend, und für das kommende Jahr hat er sich in Aussicht auf eine Reise, deren Ziel er noch nicht ange­ ben will, vorgenommen, sein derzeitiges Schiff durch einen großen Segler zu ersetzen.«343 Da Hetzei junior seine Teilnahme absagte, fuhr an seiner Stelle Pauls Sohn Maurice mit. Dass auch Michel mit dabei sein sollte, überrascht, denn seiner Hochzeit am 15. März scheint Jules Verne nur zugestimmt zu haben, um dem ihm uner­ träglichen Zustand einer wilden Ehe und den Drohungen seines 299

Sohnes ein Ende zu setzen. Verne selbst war bei der Trauung nicht zugegen; einige Tage zuvor, am 12. März, hatte er in Paris an der konstituierenden Sitzung der Alliance française teilgenommen, in dessen Gründungskomitee er neben anderen Prominenten wie Fer­ dinand de Lesseps und Louis Pasteur saß. Diese — letzte — große Kreuzfahrt wurde zu einem Triumphzug, der Vernes inzwischen internationales Renommee unter Beweis stellte, selbst wenn sie von unerfreulichen Ereignissen nicht ver­ schont blieb. Zusammen mit Paul und Maurice legte Jules Verne Mitte Mai in Saint-Nazaire ab und erreichte nach Zwischenauf­ enthalten in Vigo, Lissabon und Gibraltar am 27. Juni Oran, wo Honorine dazustieß, die hier ihre Schwester Aimée und ihren Schwager Auguste Leiarge wiedergesehen hatte. Jules hingegen traf auf seine Cousins Maurice und Georges Allotte de la Fuÿe, die als Offiziere in der Armee dienten, nahm an einem Empfang der Geo­ graphischen Gesellschaft zu seinen Ehren teil. Weiter ging es nach Algier, wo die Gruppe um Michel und Robert Godefroy berei­ chert wurde und Honorine auf Tochter Valentine und ihren hier stationierten Schwiegersohn traf. »Maulend«, wie Godefroy berich­ tet, stattete Verne seine offiziellen Visiten ab. Kohlemangel machte am 6. Juni einen Zwischenaufenthalt in Philippeville (heute Skikda) erforderlich. Ein neuerlicher Empfang durch die Notabilitäten, ein weiterer Toast und das wiederholte Versprechen, die von der französischen Literatur so sträflich vernachlässigte Kolonie im Rahmen der Außergewöhnlichen Reisen zu würdigen. Als die SaintMichel am 10. Juni in Böne einlief, ließ die schwere See die Weiter­ fahrt nach Tunis als Risiko erscheinen, und auf Honorines Drängen entschloss man sich, die Reise im Zug fortzusetzen — eine Ent­ scheidung, die Verne bereuen sollte: »Die Eisenbahn transportiert uns bis nach Soukahras; dort werden wir in einem für stattliches Geld gemieteten Wagen durchgeschüttelt, in dem es zwischen herrlichen Bergen und nach Überwindung von zweiunddreißig Furten bis nach Oued-Mougras geht. Der Weg ist von Regenfällen fortgewaschen, und über 30 Kilometer müssen wir die kleinen Araberpferde nehmen, die zwar sicheren Schrittes, aber mit etwas 300

Die »Saint-Michel« im Hafen von Le Tréport, 1880 hartem Trott marschieren; dann setzt uns ein vom örtlichen Chef­ ingenieur für uns bestellter Zug im tunesischen Ghardimaou ab.«344 Die Bahnstrecke hatte sich in Soukharas als unvollendet her­ ausgestellt — so wie in einer berühmten Szene, die Phileas Foggs Weltreise im Innern Indiens gefährdet — und die Übernachtung in einer verlausten Herberge erzwungen. »Wir essen unnennbare Sa­ chen«, notierte Maurice in sein Tagebuch, »danach herrscht allge­ meine Vergiftung. Mein Onkel gibt die Schuld meiner Tante, die ihn veranlasst hat, über dieses dreckige Land zu reisen.«345 Vielleicht erinnerte sich Michel an diese unerquickliche Episode, als er zwölf Jahre später seine Tourismus-Parodie Reisebüro Thompson and Co. (1907) schrieb... Nach den Anstrengungen der Reise lagen die Nerven blank; umso größer war die Überraschung, als der Bey von Tunis den angeschlagenen Touristen seinen mit Blumen ge­ schmückten Privatwaggon zur Weiterreise in die tunesische Haupt­ stadt zur Verfügung stellte. Bei der Überfahrt von Tunesien nach Italien erlebte Honorine dann doch noch den Seesturm, den sie aufjeden Fall hatte vermeiden wollen. Nordöstlich von Malta, vor der Insel Gozzo, geriet die Saint-Michel in der Nacht vom 16. zum jot

17-Juni so schwer in Seenot, dass sie ernsthaften Schaden nahm und in Valletta repariert werden musste — ein Ereignis, das eindrucks­ voll genug war, um in die Kapitel IV und V des dritten Teils von Mathias Sandoif eingebaut zu werden. Mit einem dreiwöchigen Aufenthalt in Italien holte Jules Verne bis Mitte Juli nach, was auf der Mittelmeerreise von 1878 zu sei­ nem großen Bedauern hatte ausgespart bleiben müssen: Einem Aufenthalt in Rom vom 3. bis zum 9. Juli gingen der Besuch von Neapel, Syrakus, Catania und Pompeji sowie eine Exkursion zum Vesuv und zu den Grotten von Capri voraus. Während sich die Saint-Michel wieder nach Nantes aufgemacht hatte, sollten die Pas­ sagiere ihre Rückreise im Anschluss an Rom über Florenz, Venedig und Turin antreten. Die Ankunft in Rom ließ sich nicht gut an. Verne hatte in Anzio zehn Kisten Gepäck aufgegeben, die man ihm im Hotel d’Angleterre nicht ausliefern wollte, weil in Frankreich die Cholera ausgebrochen war und alle französischen Touristen un­ ter Generalverdacht standen, Virenüberträger zu sein. Ein bürokra­ tisches Hin und Her folgte im Hotel: »Jules Verne verlangte nach seiner Wäsche und behauptete, dass er kein Hemd zum Wechseln habe. Der Inspektor für öffentliche Sicherheit versuchte ihn zu be­ ruhigen, indem er ihm eines seiner eigenen Hemden anbot. Erst gegen weit über ein Uhr morgens, als der Angestellte des Amtes für öffentliche Sicherheit aus Porto d’Anzio zurückgekehrt war, gab man Anweisung, Herrn Verne seine zehn Kisten gegen Vorlage des Speditionsnachweises auszuhändigen.«346 Weder ein Diebstahl von 500 F. noch eine fiebrige Erkrankung konnten Jules Verne davon abhalten, sein touristisches Pflichtpro­ gramm zu erfüllen und am Nachmittag des 7. Juli eine Privat­ audienz bei Papst Leo XIII. wahrzunehmen. Leo XIII., Papst seit 1878, war, obschon kein Reformer, darum bemüht, die katholische Kirche aus der Isolation zu führen, in die sie der starrköpfige Kon­ servatismus seines Vorgängers Pius IX. hineinmanövriert hatte, und versuchte sich an einem behutsamen Ausgleich mit den modernen Regierungen. Die Beziehungen zwischen der französischen Repu­ blik und dem Vatikan waren bis zum Ende des Jahrhunderts auf­ 302

grund der kontrovers geführten Laizismus-Debatte besonders ge­ spannt, und vor diesem Hintergrund wird man Vernes Gesuch um eine Audienz nicht nur als Ausdruck seiner Religiosität, sondern auch als ausdrückliches Bekenntnis zum römischen Katholizismus werten müssen, selbst wenn das einigen Biographen nicht gefällt. So übergeht Jean-Paul Dekiss die Audienz mit Stillschweigen, während Olivier Dumas, quasi zum Ausgleich, auf eine angebliche Karikatur des Papstes verweist, die er in Das Dorf in den Lüften 1901 ausmacht.347 ln diesem Roman herrscht der deutsche Dr.Johausen im Zustand geistiger Verwirrung über eine Horde afrikanischer Af­ fenmenschen, lässt sich gar auf einer sedia gestatoria — die Bezeich­ nung für den päpstlichen Tragesessel, Vorläufer des aktuellen Papamobils — durch die Landschaft befördern. Im ersten Teil seines Namens Msélo Tala-Tala liest Dumas ein Anagramm von »S[a] M[ajesté] Leo«, während tala umgangssprachlich ein geringschät­ ziger Ausdruck für Mönch ist. Msélo liest sich freilich auch als »Melos« — es ist der zeremoniell auf einer Drehorgel gespielte Freischütz-Walzer, durch den sich Johausen seinen Einfluss auf die Wagddis sichert —, und die Darstellung lässt sich schlüssiger als Satire auf einen Wissenschaftler interpretieren, der erst als pompös verehrter Schwachsinniger die Anerkennung erfährt, die ihm von der Fachwelt versagt bleibt. Das Dorf in den Lüften diskutiert am Beispiel des hypothetischen Stamms von Affenmenschen die Frage, wo Menschsein beginnt - als Kriterien dafür werden Religiosität, Kunstsinn und Emotionalität angeführt —, und richtet sich weder gegen den römischen Katholizismus noch gegen die christliche Religion schlechthin; vielmehr polemisiert Verne gegen die als Anmaßung verstandene »Doktrin« des Darwinismus und den Anspruch seiner Vertreter, die kirchliche Lehrmeinung zu ersetzen, indem sie sie wörtlich »nachäffen«. Zurückgeholt auf den Boden der irdischen Realität wurde Jules Verne im Oktober durch einen Besuch von Mutter und Onkel des jungen Mädchens, das Michel in Nîmes kennen gelernt und nach Paris »mitgenommen« hatte — unter Zurücklassung seiner An­ getrauten und 30.000 E Schulden, für die der Vater aufkommen 303

durfte. Die Familie Reboul drohte mit einem Prozess wegen Ent­ führung Minderjähriger: »Eine Art Erpressungsversuch. Ich habe mich absolut geweigert einzugreifen.«348 Verne kürzte die Pension seines Sohnes um 200 E, die er der verlassenen Thérèse in Avignon zukommen ließ. Gegen den Widerstand der Kirche hatte das fran­ zösische Abgeordnetenhaus ein Scheidungsgesetz gerade erst am 29. Juli verabschiedet — wie geschaffen für das junge Paar, das jedoch erst am 20. Juli 1889 von dieser Möglichkeit Gebrauch ma­ chen sollte. Zu diesem Zeitpunkt waren Jules und Honorine durch Jeanne Reboul bereits zwei Mal zu Großeltern gemacht worden. Erst jetzt - 1884 — ergab sich eine Annäherung zwischen dem Schriftsteller und seiner legalisierten Schwiegertochter, die er fünf Jahre hindurch, starrköpfig wie ein Keraban, abgelehnt hatte. In angespannter Atmosphäre veranstalteten die Vernes am 8. März 1885 in ihrem großen Haus einen zweiten Kostümball. Als Motto diente eine ländliche Hochzeit, der Gastgeber selbst trat als Küchenchef auf, seine Gattin als Köchin. »Ab neun Uhr abends kommen die Wagen in der Rue Charles-Dubois an. Trotz des strö­ menden Regens hat sich ein kompakter Wall aus Schaulustigen ge­ bildet, die die Schutzmänner alle Mühe haben von der Eingangstür fern zu halten. (...) Bald schon wird der Verkehr in den eigentlich großräumigen Salons fast unmöglich, und dennoch steigt die Flut der Eingeladenen immer noch weiter an. (...) Um vier Uhr mor­ gens findet ein prächtiger Cotillon statt, der von einer der Töchter von Frau Verne angeführt wird, und um 6 ein charmantes Souper an riesiger Tafel. (...) Erst um 7 Uhr 30 nimmt man Abschied von Herrn und Frau Jules Verne, deren Gastfreundlichkeit schon sprich­ wörtlich ist, und kann sich dazu überwinden, diese exzellente Her­ berge zur Reise um die Welt zu verlassen, in der jeder, und zwar so bald wie möglich, wieder einzukehren hofft.«349 In diesen Genuss kamen jedoch nur wenige Auserwählte gele­ gentlich jener Mittwoch-Abend-Soireen, die Honorine künftig gab, an denen bisweilen auch der Gatte teilnahm, zuhörte und ein wenig Klavier spielte, wobei ihn aber nichts davon abhalten konnte, sich spätestens um 22 Uhr in seine Schreibkammer zurückzuzie­ 304

hen. Der Salon von Madame Verne konkurrierte mit den Salons ei­ niger adliger Damen, in denen sich die Elite der Stadt zusammen­ fand, um Kammermusik zu spielen, Lieder zu singen, Gedichte zu deklamieren oder anderweitig den Musen zu huldigen. Die Investition in den Ball, mehr noch jenes finanzielle schwarze Loch mit Namen Michel scheinen Jules Verne im Juli 1885 dazu bewogen zu haben, sich von der Saint-Michel zu trennen. Für 23.000 F. wechselte das Schiff in den Besitz des Nantaiser Mak­ lers Martial Noe und wurde im März des folgenden Jahres an den Fürsten Nicholas L, den späteren König von Montenegro, weiter­ verkauft, der auf der in Sybila umgetauften Yacht bis 1890 in der Adria umherkreuzte. Zwischen 1891 und 1913 versah die ehema­ lige Saint-Michel ihren Dienst unter dem Namen Sokol in verschie­ denen Schifffahrtsgesellschaften in Senj (Kroatien), dann wurde sie von einem gewissen Marko Martinolic in Mali Losing erstanden und Toto genannt.350 Plante Jules Verne wirklich, wie Le National gemeldet hatte, sich ein Segelschiff zuzulegen? Die Umstände soll­ ten ihm keine Gelegenheit mehr dazu geben. Im Alltag fest auf dem Boden von Amiens verankert, erhob sich Jules Verne in Robur der Eroberer geistig in die Lüfte. Was um alle Welt mochte ihn dazu bewogen haben, mit der unsympathischen Figur von Onkel Prudent seinem eigenen Onkel eine zweifelhafte Würdigung zu verpassen? Und weshalb lässt besagter Onkel Pru­ dent, um auf seine Entführung aufmerksam zu machen, seine Ta­ bakdose über Paris fallen, die in der prächtigen Rue de Rivoli niedergeht, exakt vor der Nr. 210, dem Haus seines Freundes Char­ les Wallut? — Weitaus nachvollziehbarer scheinen da zunächst Re­ miniszenzen an die eigene Vita im ebenfalls 1886 veröffentlichten Roman Ein Lotterielos, in dem sich Jules Verne an seine Skandina­ vienreise von 1861 erinnert und der dem Zusammenwirken von Zufall und göttlicher Fügung gewidmet ist. Vernes hartnäckige Weigerung, die Nummer des Loses 9672 auf Hetzeis Geheiß zu än­ dern, hat zu Spekulationen darüber geführt, ob sich hinter der Zif­ fer möglicherweise ein Datum von besonderer biographischer Bedeutung verbirgt. Etwa der 9. 6. [18)72, an dem Verne im Är­ 305

melkanal kreuzte und vielleicht die Insel Jersery besuchte, auf der Victor Hugo sein Exil verbracht hatte; oder der 9. 7. [i8]62, dem möglichen Zeitpunkt des Zusammentreffens mit Hetzei? Wir wis­ sen es nicht. Im Roman jedenfalls ist der 9. Juli 1862 das ungefähre Datum, an dem der verschollene Oie Hansen gerettet wird, wo­ raufhin er in Bergen seiner Verlobten Hulda das siegreiche Los aus­ händigen kann. In Meister Antfers wunderbare Abenteuer (1894) begibt sich der titelgebende Held — wie in Ein Lotterielos auf einem Schiff namens Liken — auf seiner glücklosen Schatzsuche am selben Da­ tum nach Bergen, wo er, so wie Jules Verne auf seiner tatsächlichen Reise, im Hotel de Scandinavie absteigt... Für den erklärungs­ wütigen Exegeten bleiben all diese vorerst nicht auflösbaren An­ spielungen im Kontext von Zufall, Fügung, Schatzsuche und dem »großen Los« höchst ärgerlich. Fast ein Vierteljahrhundert war vergangen, seitdem der Schrift­ steller sich in Nadars Luftfahrtgesellschaft engagiert hatte. Inzwi­ schen hatten sich seine Aktivitäten vollständig nach Amiens verla­ gert, insbesondere auf die dortige Akademie, die Jules Verne in den Jahren 1875 und 1881 als Vorsitzender geleitet hatte. Für die Zuhö­ rer der öffentlich zugänglichen Jahreshauptversammlungen war beide Male eine amüsante Erzählung abgefallen — 1875 Eine ideale Stadt, in der Verne die städtebaulichen Mängel von Amiens auf sa­ tirische Art in das Jahr 2000 transponiert, und 1881 Zehn Stunden aufJagd, eine »harmlose Plauderei« über einen missglückten Jagd­ ausflug im Jahre 1859, in der Dichtung und Wahrheit eng beieinan­ der liegen. Während Hetzei den ersten Text als zu lokal gebunden ablehnte, reicherte die zweite Geschichte den Roman Der grüne Strahl an. Nachdem Jules Verne ihnen 1874 seine unveröffentlichte Komödie Monna Lisa vorgelesen hatte, kamen die Mitglieder der Akademie 1885 in den Genuss von Frritt-Flacc, einer knappen Schauergeschichte, die die Moral von Dickens’ Weihnachtslied in Prosa mit der Pointe aus Poes Erzählung William Wilson verbindet und von Vernes an Sarkasmus grenzender Ironie abgerundet wird. Die Geschichte des hartherzigen Dr. Trifulgas, der sich weigert, einem mittellosen Kranken beizustehen, sich erst nach dreifacher 306

Aufforderung und Bezahlung im Voraus dazu aufmacht und schließlich am eigenen Sterbebett anlangt, ohnmächtig, sich selbst zu retten, ist nicht nur sprachlich ein Höhepunkt in Vernes Schaf­ fen, sondern stellt einmal mehr eine symbolisch verdichtete Ab­ rechnung mit dem Materialismus der Wissenschaft dar. Mehr noch als in anderen Werken werden Wortspiele und symbolische Namen zu einem integralen Bestandteil der Handlung: Der Name des Pa­ tienten Vort Kartif (von frz.fort craintif: sehr ängstlich) spiegelt einen Teil des Namens seines Arztes Trifulgas (von lat. trifulgores: drei Blitze) wieder; beide schließen das titelgebende Frritt in sich, das zusammen mit Flacc auffric, den Zaster, verweist, der das Geschehen beherrscht wie die mit den beiden Wörtern lautmalerisch um­ schriebenen Naturgewalten Sturmwind und Regen. Die Straße, in der der Arzt wohnt, die rue Messaglière, bildet als Anagramm den »Weg, die Botschaft zu lesen«: (Messag[lier]e = lire message). Die Stadt Luktrop wird vom Glockenturm ihrer Schutzheiligen Sainte Philfilène überragt (ville vilaine: niederträchtige Stadt) und liegt am Mégalocride-Meer, eine Zusammenziehung der Vokabeln mégalo­ mane (größenwahnsinnig) und hypocrite (heuchlerisch). Trifulgas’ Haus, das »Sechs-Vier« (Six-Quatre), suggeriert durch die Tatsache, dass es doppelt existiert, den Ausdruck à la six-quatre-deux, mit dem im Französischen eine fahrlässige, verantwortungslose Handlung bezeichnet wird. Die religiöse Dimension kommt neben der drei­ fachen Heimsuchung durch Blitze durch den Vulkan Vanglor zur Geltung, dessen Name auf die Vergeblichkeit menschlicher Ruhm­ sucht und irdischen Ehrgeizes (lat. rwia gloria) hinweist. Von Hetzei zunächst als »etwas zu gekünsteltes Pasticcio«351 verschmäht, wurde Frritt-Flacc schließlich als Anhang zu Ein Lotterielos in die Reihe der Außergewöhnlichen Reisen aufgenommen. Im Januar 1886 hatte Verne noch Gelegenheit, in seiner Akade­ mie die einschneidendsten Reformen seit ihrer Gründung anzure­ gen, darunter die Reduzierung der Sitzungen mit Anwesenheits­ pflicht und ihre Öffnung für das allgemeine Publikum. Sie wurden im Februar beschlossen, unmittelbar bevor Jules Vernes Leben durch ein unvorhersehbares Ereignis völlig aus der Bahn geriet. 307

i8.

Die Odyssee des Erfolgs, das Labyrinth des Ruhms

Jules Vernes Aufnahme durch die Kritik war zunächst von Sympa­ thie gekennzeichnet. Die Kritiker zeigten sich während der ersten zwölf Jahre nach 1863 eingenommen von der Neuartigkeit der Außergewöhnlichen Reisen, die bisweilen auch als verstörend aufge­ fasst wurde, und überrascht, auf wie amüsante Weise es möglich war, wissenschaftliche Fakten zu präsentieren. Allerdings sind die in den französischen Zeitungen abgedruckten Besprechungen in ihrer Oberflächlichkeit recht ermüdend: Die immer wiederkehrende Bezeichnung von Verne als »unser junger Gelehrter« und die Ein­ ordnung seiner Werke unter die Begriffe Unterhaltung und Beleh­ rung, mit der jede weitere Auseinandersetzung obsolet erschien, sind nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die meisten dieser Artikel auf Textvorlagen basieren, die Hetzei selbst an die Zeitun­ gen und Zeitschriften lancieren ließ. Nur selten hat man den Ein­ druck, dass die Beurteilungen auf tatsächlicher Leseerfahrung be­ ruhen. Ausnahmen bestätigen die Regel: So veröffentlichte Théophile Gautier bereits 1866 eine differenziertere Besprechung des Kapitäns Hatteras, die Jules Verne ausdrücklich als einen Künstler würdigt, der jenseits von Poe, Swift und Defoe »seine eigene Ausdrucks­ weise gefunden und sie von Beginn an auf die höchste Stufe der Vollkommenheit geführt« habe.352 Und dieses Urteil begründet er in einer eingehenden Textbetrachtung. Allerdings wissen wir inzwischen, dass auch dieser Artikel als Auftragsarbeit für Hetzei entstanden war. Gautiers positive Besprechung ist umso verwun­ derlicher, als Hetzei in seinem Vorwort zum Kapitän Hatteras mit einiger Chuzpe für Vernes künftige Werke eine Gegenposition zum Prinzip des l’art pour l’art, ein Kunstideal, für das gerade »der 308

alte Théo« stand, in Anspruch genommen und als Fortschritt in der Kunst proklamiert hatte. Seriöse und ausführliche Versuche einer kritischen Auseinander­ setzung mit Vernes Werk unter inhaltlichen wie ästhetischen Ge­ sichtspunkten traten geballt in den Jahren 1875 und 1883 auf, wohl nicht zufällig nach dem großen Erfolg von In 80 Tagen um die Welt (als Theaterfassung) und dann im zeitlichen Umfeld einer mög­ lichen Kandidatur für die Académie française. Die wichtigsten Autoren - der Schriftsteller Jules Claretie (1875 und 1883), der schweizerische Literaturhistoriker Johann Jakob Honegger (1875), der Journalist Georges Bastard (1883), der Historiker Charles Seignobos (1886) und der Geograph Lucien Dubois (1875) — ver­ suchten sich neben einer Kurzbiographie des Autors und Zu­ sammenfassungen seiner bislang erschienenen Werke an einer gat­ tungsmäßigen Zuordnung, die den Zeitgenossen nicht eben leicht fiel. In der Regel zeigten sie sich offen für Vernes Umgang mit der Wissenschaft, wobei ihnen dieser vor allem unter didaktischen Ge­ sichtspunkten von Wert schien und ideologische Fragen praktisch ausgespart blieben; sensibel reagierten die meisten Autoren zu­ gleich aufVernes literarische Qualitäten, die sie - noch unbeschadet einer Literaturbetrachtung, die ihre Objekte von vornherein in triviale und gehobene Literatur unterteilte - mit überraschender Unvoreingenommenheit behandelten. So charakterisierte der Historiker Marius Topin Verne 1876 wie folgt: »In den Romanen von Herrn Verne harmonisiert die Wis­ senschaft mit der Kunst umso mehr, als sie ihr zu Nutzen ist und als fruchtbares Hilfsmittel, man könnte sagen: als Komplize dient. Tat­ sächlich hat Herr Jules Verne alle Kombinationen, alle Kunstgriffe, die sich gewöhnliche Schriftsteller ausdenken, um eine Situation verwickelt zu machen und wieder aufzulösen, der Wissenschaft entlehnt. Die abgenutzten Wunder des Feenspiels hat er durch die realen Wunder der Natur ersetzt, die gängigen Verbrechen des Abenteuerromans durch Verfahren abgelöst, für deren Kosten die neuesten Errungenschaften der Wissenschaft aufkommen. Das neue Wunderbare hat er in den unzähligen Entdeckungen der Wissen­ de

schaftler aufgespürt; und dies auf eine Weise, dass seine Romane wissenschaftlich nicht nur durch die in ihnen enthaltenen Be­ schreibungen und die in ihnen verfolgten Ziele sind, sondern auch durch die Mittel, mit denen das Interesse immer wieder erregt und erneuert wird. Das ist Herrn Vernes ureigene Originalität, das Ge­ heimnis seines Erfolgs. Dieses Verfahren scheint ganz einfach und natürlich, jetzt, da es gefunden ist; aber man musste erst einmal dar­ auf kommen.«353 Problematisch an dem wohlwollend gemeinten Bild vom »jun­ gen Gelehrten« war, dass es sich schnell zum Klischee verfestigte und einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhob, dem Verne gar nicht gerecht werden konnte. Zudem war die von Topin postu­ lierte Vereinbarkeit von Kunst und Wissenschaft im Medium des Unterhaltungsromans eine theoretische Annahme, die von den führenden Kritikern nicht geteilt wurde. Nach allgemeinem Ver­ ständnis setzte die Bezeichnung des Romanciers die Gestaltung einer Liebesromanze notwendigerweise voraus. Konsequenterweise verweigerten die Hohepriester der offiziellen Literaturkritik Verne die Aufnahme in den zeitgenössischen Kanon der echten Literatur mit dem Voraus-Urteil, dass Wissenschaft per se nicht kunstwürdig sei. Hetzeis Verkaufsstrategie, Vernes Romane als »Bildungslektüre im angenehmen Gewände« und ihren Autor als außerschulischen Nachhilfelehrer anzupreisen, brachte ihnen den vernichtenden Ruf rein zweckorientierter Lektüre ein, die im krassen Gegensatz zum be­ reits angesprochenen Prinzip der zweckfreien Kunst (l’art ponr l’art) stehen musste, einer Kunst, die aller alltäglichen Quisquilien entle­ digt nur in sich selbst zu sich selbst findet: »Es gibt nichts wahrhaft Schönes als das, was zu nichts zu gebrauchen ist; alles was nützlich ist, ist hässlich, weil es Ausdruck eines Bedürfnisses ist, und die Be­ dürfnisse des Menschen sind schmutzig und widerlich, so wie seine armselige, unvollkommene Natur. — Der nützlichste Ort eines Hauses sind die Latrinen.«354 Für die einflussreichen Kritiker, die diesem Ideal anhingen, standen die Außergewöhnlichen Reisen Adressverzeichnissen und Mathematikfibeln entschieden näher als 310

den Unterhaltungsromanen eines Dumas oder Paul Féval. Dass selbst Théophile Gautier bis zu seinem Tode Verne gerne gelesen hatte, änderte nichts am Bannspruch der offiziellen Kritik - oder an ihrem demonstrativen Desinteresse. Letzteres zeigt sich stellvertretend an dem Publizisten Émile Montégut aus dem ebenso konservativen wie für die französische Literaturgeschichtsschreibung einflussreichen Umkreis der Revue des Deux Mondes, die von Charles Buloz und Ferdinand Brunetière geleitet wurde. Während Montégut bereitwillig eine lange Studie über das Schaffen P.-J. Stahls angefertigt hatte, ließ er sich von Het­ zei jahrelang bitten, einen vergleichbaren Artikel über Vernes Werk zu verfassen. »Sie können Herrn Verne ausrichten, dass ich alles von ihm gelesen habe und wohl in irgendeinem der nächsten Monate die Zeit und nötige Gesundheit finden werde, um zu sagen, was ich von ihm halte«, liest man im Postskriptum eines Briefes aus dem Jahr i8 78355;aber noch 1882 hatte sich die nötige Muße nicht ein­ gestellt und sollte es trotz aller gegenteiligen Beteuerungen auch danach nicht mehr tun. Während Vernes Name schnell Eingang in die großen Perso­ nennachschlagwerke und Enzyklopädien fand, blieb er von ton­ angebenden Literaturhistorikern wie dem erwähnten Ferdinand Brunetière und Gustave Lanson demonstrativ unbeachtet und wurde nicht einmal in ihren summarischen Aufzählungen der zweitrangigen Autoren erwähnt; eine Tradition, die sich noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts fortsetzte. Die Außer­ gewöhnlichen Reisen erregten nicht die Gemüter, weil sie einer kri­ tischen Auseinandersetzung gar nicht erst für würdig befunden wurden, und nur ganz vereinzelt gerieten sie im Zuge der Lai­ zismus-Debatten der 70er und 80er Jahre ins Visier der kirchlichen Kritik. Eine Schund-Kampagne wie im Falle Karl Mays hat es ge­ gen Vernes Werk nie gegeben, dem auch seine Verächter eine vor­ bildlich familientaugliche Moral zugestanden. Jules Verne, der persönlich sehr darunter litt, von offizieller Seite ignoriert zu werden, hatte bereits in den 60er Jahren die Gewohn­ heit angenommen, sich für Kritiken bei ihren Verfassern brieflich 311

zu bedanken, Ergebenheitsbekundungen, deren Lektüre bisweilen peinlich berührt: »Mein lieber Herr«, schrieb etwa der 67-jährige Verne an den 33-jährigen Léo Claretie, der seinem Roman Die Propellerinsel eine ausführliche Besprechung gewidmet hatte, »ich fühle mich sehr geehrt, von Ihnen beurteilt worden zu sein, und stimme sehr gerne einigen Mängeln zu, auf die Sie in diesem neuen Werk hinweisen. Es ist ein wenig allzu geographisch gewor­ den, das gebe ich zu. Aber das war eine zu schöne Gelegenheit, die wichtigsten Archipele des Pazifiks mittels einer beweglichen Insel zu verbinden und zu beschreiben, als dass ich sie hätte ungenutzt verstreichen lassen können. Was den Vorwurf angeht, vielleicht zu unbedacht die Verehrung der Jugend für die enorme Macht des Goldes angestachelt zu haben, so ist er richtig; ich hoffe immerhin, dass ich nicht allzu viele Opfer dieser Milliardärsepidemie auf dem Gewissen habe.«356 Die Ironie des letzten Satzes verschwindet fast gänzlich hinter der ausgesuchten Höflichkeit angesichts eines Vor­ wurfs, der nicht nur ungerechtfertigt ist, sondern lächerlich, da er den Sinn des ganzen Romans in sein Gegenteil verkehrt. Im Jahr darauf richtete Verne einen ähnlichen Brief an seinen al­ ten Freund Paul Perret, der es selten versäumte, die neu erschiene­ nen Außergewöhnlichen Reisen im Feuilleton der Zeitung /.Und doch ist das Altisländisch!< murmelte er zwischen den Zähnen. Der Professor Lidenbrock musste das sehr wohl wissen, denn er galt als wahrhaft polyglott. Nicht dass er die zweitausend Sprachen und viertausend Idiome fließend sprach, die auf der Erdoberfläche Anwendung finden, aber immerhin kannte er einen Gutteil davon.«372 324

Den Anfang macht jene Übersetzung, die von März bis Juni 1868 im Ungarischen Lloyd erschien und 1873 bei den Gebrüdern Legrädy in Pest nachgedruckt wurde: »Nicht etwa das [sic] er die zweitausend Sprachen und viertausend Mundarten, die auf unserem Erdball im Gebrauche sind, geläufig gespro­ chen hätte, aber eine gute Anzahl derselben verstand er so ziemlich.«373 Der namenlose Übersetzer zeigt sich nicht nur sprachlich, son­ dern auch fachlich kompetent, indem er einige Fußnoten über geologische Fragen einfügt, die nicht im Original vorhanden sind, während er Vernes eigene Anmerkungen fortlässt. Von 45 Kapiteln wird der Umfang auf 37 zum Teil neu zugeschnittene und mit Ti­ teln versehene Kapitel verkürzt. Zusätzlich wurden, wohl im Zuge einer überhasteten Drucklegung, zwei Kapitel übergangslos über­ sprungen und die Kapitel 29 und 30 miteinander vertauscht, was die Lektüre des Romans für die Leser zu einer eigenen Kryptogrammentzifferung machen musste, die aber rezeptionsgeschichtlich belanglos war: Als ausgesprochene Rarität hat diese Ausgabe nicht im Entferntesten den Einfluss der Übersetzung aus dem Hartleben-Verlag erreicht. Diese Übersetzung des Leipziger Privat­ gelehrten Karl Lanz, die ab Januar 1874 bis in die vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts verkauft wurde, macht aus dem polyglotten Professor ein Sprachgenie mit Ausnahmecharakter: »Die zweitausend Sprachen und viertausend Dialekte, die man auf der Erde kennt, verstand er nicht nur geläufig, sondern sprach auch deren einen guten Theil.«374 Die 98-bändige Werkausgabe von Hartleben hält sich mit weni­ gen Ausnahmen an den vollständigen Text der französischen Ori­ ginale, wirkt sprachlich bisweilen aber hölzern und uninspiriert. Außerdem enthält sie eine beträchtliche Anzahl zum Teil sinn­ entstellender Flüchtigkeitsfehler (für die der zitierte Satz typisch ist), die auf den Zeitdruck zurückzufuhren sind, dem die verschie­ denen Übersetzer unterlagen. Da die Übertragungen der Reihe ab 1877 auf Grundlage von Druckfahnen des Hauses Hetzei angefer­ tigt wurden, die Jules Verne in der Folge noch weiter korrigierte, ergaben sich in manchen Fällen Abweichungen von der defmiti325

ven französischen Textgestalt (was auch seinen Reiz hat: Auf diese Weise hat man im Deutschen bisweilen einen Verne avant la lettre). Es bleibt heute der Eindruck einer Sprache, die Vernes Prosa zwar unangemessen wiedergibt, aber immerhin geeignet ist, mit dem Inhalt seiner Werke vertraut zu machen — zumal es, was die Voll­ ständigkeit der Titel angeht, keine Alternative gibt. Die Textaussage des Zitats voll erkannt zu haben, konnte Walter Heichen 1901 für sich in Anspruch nehmen; er sollte eine glorrei­ che Ausnahme bilden: »Die zweitausend Sprachen und viertausend Idiome, die auf der Erdo­ berfläche angewandt werden, sprach er freilich nicht geläufig, aber er kannte doch ein gutes Teil davon.«375 74 Bände umfasst diese zweite deutsche Verne-Ausgabe im Weichert Verlag (1901—1909). Paul Heichen und sein Sohn Walter ver­ sprachen explizit eine »einheitliche, sorgfältige und durchaus neue Verdeutschung, die frei von irgendwelchen Auslassungen ist« (so das Vorwort zum 1. Band). Faktisch trifft das jedoch nur auf die er­ sten Bände zu, während sich der Rest zunehmend durch eine ma­ nipulative Wiedergabe auszeichnet, wann immer das die Herausge­ ber durch Aktualität und patriotische Korrektheit für angebracht hielten. Die Sprache stört durch ihre Betulichkeit und wirkt damit noch zeitgebundener als die des Wiener Konkurrenzunternehmens. Die Reise zum Mittelpunkt der Erde bietet einen rühmliche Sonder­ fall, allerdings beruht ausgerechnet sie auf der nicht definitiven Textgestalt der kleinformatigen Hetzei-Ausgabe, die zwar die 1867 von Verne für die illustrierte Ausgabe hinzugefügte Mammutherden-Episode (Kap. 37 bis 39) enthält, nicht aber eine Reihe von kleineren Korrekturen, was inhaltlich zu Widersprüchen führt. Auf jeden Fall bilden die beiden Buchausgaben von Hartleben und Weichert die Redaktionsgrundlage für sämtliche in der Folge ver­ öffentlichten Kinderbuchfassungen wie etwa die auflagenstarke DDR-Edition im Verlag Neues Leben (1954/1973), wobei dem willkürlichen Einkochen des Romantextes bis auf das nackte Handlungsgerüst keinerlei Grenzen gesetzt waren. 1966 verkündete der Frankfurter Verlag Bärmeyer & Nikel, 326

einen »Jules Verne für das 20. Jahrhundert« anbieten zu wollen. Heraus kam dabei eine 20-bändige Reader’s-Digest-Fassung von vierzig Titeln (1966—1968), die den Text um etwa 60% seiner ursprünglichen Wörter erleichterte, dafür aber mit Kalauern und aktuellen politischen Anspielungen aufmotzte. Das war spaßig zu lesen (und stellt mit einigem Abstand ein Schmankerl der Re­ zeptionsgeschichte dar), mit Jules Verne hatte es nur noch entfernt etwas zu tun. Vor diesem Hintergrund wurde die Absicht des Zür­ cher Diogenes-Verlags, die wichtigsten Titel von »Jules Verne, ungekürzt, originalgetreu, mit allen Stichen der französischen Erst­ ausgabe« (so die Verlagswerbung) vorzulegen, von der Presse ein­ hellig begrüßt. Um den Mittelpunkt der Erde bemühte sich 1973 das Duo Hansjürgen Wille und Barbara Klau; offensichtlich ver­ gebens: »Nicht nur, daß er die zweitausend Sprachen und viertausend Dialekte, die es auf der Erde gibt, fließend sprach, er verstand auch sehr viel davon.«37(> Neben der maßlosen Übertreibung von Lidenbrocks sprach­ licher Kompetenz (die noch die euphorische Hartleben-Version hinter sich lässt) stellt sich die Frage, wie es möglich sein soll, eine Sprache — geschweige denn zweitausend - fließend zu sprechen, wenn man sie nicht auch versteht. Eine Menge weiterer Fehler, Ungenauigkeiten und Textauslassungen der vollmundig angeprie­ senen Neuausgabe hat mit gebührendem Hohn Arno Schmidt er­ örtert, sodass an dieser Stelle der Hinweis auf sein lesenswertes Es­ say genügen mag.377 Dass es gegen Ende des 20. Jahrhunderts auch anders geht, zeigte 1994 Fritz R. Glunk: »Natürlich beherrschte er nicht alle zweitausend Sprachen und viertau­ send Dialekte unserer Erde, aber immerhin einen ordentlichen Teil da­ von.«3713 Glunk neigt zu systematischer Binnenkürzung, hat aber immer­ hin verstanden, was Verne schrieb. Der Eindruck einer simplifizie­ renden Textwiedergabe bestätigt sich im Rest dieser Version, die sich an ein jugendliches Publikum wendet, worauf auch das Ver327

fahren des Übersetzers hindeutet, erklärungsbedürftige Namen, Zi­ tate und Begriffe im Text selbst oder durch zusätzliche Fußnoten zu erläutern. 1996 versuchte sich der Fischer Taschenbuch Verlag mit einer »neuen ungekürzten Übersetzung« einiger Romane an einer Wiedergutmachung des Schadens, den er seit Ende der 60er Jahre durch eine über alle Maßen erfolgreiche Lizenzausgabe ausgewähl­ ter Titel aus der Bärmeyer & Nikel-Reihe angerichtet hatte (Ge­ samtauflage bis 1986: 2.117.000 Exemplare, davon der Mittelpunkt an zweiter Stelle allein 181.000). Die Verantwortung für die neue Ex­ pedition durch die Widrigkeiten der Sprache übernahm diesmal Manfred Kottmann, dem es gelang, in Sachen Sprachmacht mit sei­ ner Fassung den Vogel abzuschießen: »Er sprach nicht nur fließend alle zweitausend Sprachen und viertau­ send Dialekte, die es auf unserem Globus gibt, sondern wußte auch alles darüber.«379 Der Übersetzer mag sich bei diesem Zitat auf eine inzwischen institutionalisierte Gewohnheit des Verballhornens berufen; aber auch sonst leistet sich Kottmann Textparaphrasen statt pointierter Übersetzung, verharmlost, wo Verne Ironie und Biss bietet, gibt den Namen von Axels Liebchen Graüben - ein Alptraum aller Übersetzer — gar als »Gudrun« wieder (Legrädy: »Gertrud«, Hartle­ ben und Diogenes: »Gretchen«, Glunk: »Griselda«); dabei hätte es genügt, aus Rücksichtnahme auf das Zartgefühl des deutschen Lesers die zwei Pünktchen über dem ü auf das voranstehende a zu transponieren ... »Genau auf die Stelle, wo sie sprachliche Ohn­ macht offenbaren«, stellte Zunftgenosse Hanns Grössei in einer Hörfunkbesprechung fest, »projizieren die Übersetzer Träume von sprachlicher Allmacht: Das macht den Lapsus zur Freudschen Fehl­ leistung.«380 Wie der Mittelpunkt der Erde noch immer seiner Ent­ deckung harrt, wartet die Mehrheit von Vernes Werken weiterhin auf eine adäquate Übersetzung.

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Die »schwarze Periode« (1886—1887)

Das Polizeiprotokoll von Amiens vom 9. auf den 10. März 1886 vermerkt unter der Rubrik »Verschiedenes« den folgenden Vorfall: »Gestern gegen fünf Uhr nachmittags, als Herr Jules Verne vom Unionszirkel nach Hause in die Rue Charles-Dubois Nr. 2 zu­ rückkehrte und gerade an seiner Haustür anlangte, wurde er zum Opfer eines Mordanschlags durch seinen Neffen Verne, Gaston Jo­ seph Maurice, 25 Jahre alt, Rechtsstudent, wohnhaft in Nantes, Rue Jean-Jacques Rousseau Nr. 13, bei seinem Vater, Börsenmakler. Der Beschuldigte, der in Amiens selbigen Tags um 12 Uhr 30 mit dem Zug von Paris angekommen war, erklärte, den Entschluss zu seinem Verbrechen am Vortag gefasst zu haben, aus familiären Gründen, die er sich anzugeben weigerte. Zu diesem Zweck hatte er sich einen Revolver mit sechs Schuss verschafft und diesen mit sechs Kugeln geladen; er zielte auf seinen Onkel aus zehn Metern Entfernung und feuerte auf ihn zwei Mal in Folge; die erste Kugel wurde plattgedrückt auf dem Bürgersteig wiedergefunden, die zweite traf das Opfer ins linke Bein, aus dem sie bislang noch nicht wieder entfernt werden konnte. Diese Verletzung ist von einer ge­ wissen Erheblichkeit. Der Beschuldigte, den ich gleich einer Befragung unterzogen habe, hat ein Geständnis abgelegt, aber behauptet, dass es nicht seine Absicht gewesen sei, seinen Onkel zu töten, sondern ihn nur zu verletzen, um einen Racheakt auszuführen, den er seit langem gehegt habe. Er war, abgesehen vom Revolver, mit einer Geld­ börse, die 40 F. 90 enthielt, sowie einer Büchse Patronen ausgestat­ tet. Bei dem Revolver handelt es sich um eine Zentraldruckfeuer­ waffe, das Kaliber ist 7 mm. — Unverzüglich nach der Befragung habe ich ihn dem Herrn Staatsanwalt zugeführt.«381 329

Diese nüchternen Worte fassen ein Ereignis zusammen, das das Leben des Schriftstellers mit einem Schlag von Grund auf ändern sollte. Aus dem aktiven Mann, der sich einmal monatlich für ein paar Tage nach Paris aufmachte und leidenschaftlich Reisen unter­ nahm, war nach der langwierigen Genesung ein depressiver, an unterschiedlichen Krankheiten laborierender Greis geworden, der sich gänzlich in seine Provinzstadt zurückzog. Jules Verne war mit dem Leben davongekommen, aber er sollte für den Rest desselben auf Gehstützen angewiesen bleiben. So schwer die Wunde auch war, die die Kugel im linken Bein gerissen hatte, die psychische Belastung muss für alle Beteiligten noch weitaus traumatisierender gewesen sein. Existierende Briefwechsel bleiben bis in die Gegen­ wart unzugänglich, was weiterhin Spekulationen provoziert, statt diesen ein Ende zu bereiten.382 Indessen verwundert die Haltung der Angehörigen kaum: Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein galten psychisch Kranke und geistig Behinderte in der Familie als Makel, den man vor der Öffentlichkeit besser verbarg. Der junge Mann, der seit einer gewissen Zeit wegen psychischer Probleme unter Aufsicht stand, hatte sich auf der Reise von Blois — wo er seit November 1885 bei der Schwester seiner Mutter wohnte — nach Paris — wo er an der Hochzeit einer Cousine teilnehmen wollte — der Aufmerksamkeit seiner Tante entzogen und war ver­ schwunden. »Wir haben ihn vierundzwanzig Stunden lang gesucht und erhielten erst Neuigkeiten von ihm durch eine Depesche von Jules, die mich nach Amiens rief«, schrieb Paul Verne seinem Schwager Léon Guillon in Nantes.383 In einem Hotel im Quartier Latin scheint er die Nacht verbracht zu haben. Mit einem Revol­ ver, den Gaston, wie die anschließenden Ermittlungen ergaben, bereits im Dezember 1883 in Paris erworben hatte, hatte er sich am folgenden Morgen auf die Reise nach Dover gemacht und war in Amiens ausgestiegen. Zweimal hatte er vor dem Unionszirkel am Nachmittag nach seinem Onkel gefragt, dann vor seinem Haus ge­ wartet, indem er die Rue Charles-Dubois auf- und abspazierte. Die Tatsache, dass unter Gastons Papieren das erwähnte Bahnbillet nach Dover gefunden wurde, könnte daraufhinweisen, dass er beabsich­ 330

tigt hatte, sich nach der Tat nach England abzusetzen, und dass der Anschlag in Wirklichkeit, statt das Ergebnis einer spontanen Ein­ gebung gewesen zu sein, schon früher geplant worden war. Nachdem die Schüsse gefallen waren, war es Verne trotz seiner Verletzung zusammen mit einem Nachbarn, Gustave Frézon, ge­ lungen, den Neffen zu überwältigen, der keinen Widerstand leis­ tete. Während Jules Verne zu Hause medizinisch versorgt wurde, ließ man Gaston nach einem ersten Verhör auf Weisung des Ver­ letzten im Krankenhaus von Amiens unterbringen, wo er von zwei Polizisten bewacht wurde. Dem angereisten Vater gegenüber be­ hauptete er später, er habe die Aufmerksamkeit auf seinen Onkel ziehen wollen, damit dieser in die Académie française aufgenom­ men werde, doch lässt Pauls bereits zitierter Brief angesichts dieser Begründung nur Hilflosigkeit erkennen: »Das arme liebe Kind ist sich der Tat, die es begangen hat, nicht bewusst.« Gaston, dem Jules Verne über Hetzeis Beziehungen im De­ zember 1884 eine Beschäftigung im Ministerium für auswärtige Angelegenheiten verschafft hatte, habe, so berichtete die Presse, seit einiger Zeit unter psychischen Auffälligkeiten gelitten: »Seine Kar­ riere ließ sich vielversprechend an, bis er vor ungefähr einem Jahr begann, Zeichen geistiger Verwirrung zu zeigen. Als Opfer von Verfolgungswahn wähnte er sich dem Spott seiner Kameraden aus­ geliefert, und sein bis dahin charmanter Charakter verdüsterte sich von Tag zu Tag mehr, sodass er bald das Ministerium verlassen mus­ ste, um sich zu einer Verwandten nach Blois zurückzuziehen.«384 Diese Darstellung wird durch Vernehmungen und Zeugenaussagen bestätigt. Zudem scheint Gaston extremen Stimmungsschwankun­ gen ausgesetzt gewesen zu sein: Während ein Angestellter des Uni­ onszirkels, Gustave Lephe, erklärte, dass »der junge Mann, der sich mir vorstellte, eine sehr korrekte Haltung an den Tag legte, die in nichts erahnen ließ, dass er eine böse Absicht hegte«385, hob Gus­ tave Frézon dessen außerordentliche Erregung hervor. Beim ersten Besuch seines Vaters verharrte Gaston in Schweigen, während er beim zweiten überschwängliche Gefühle zeigte. So musste auch das zweite Verhör unterbrochen werden, weil Gaston nicht auf die 331

Fragen antwortete — was der Untersuchungsrichter mit einem möglichen Einfluss seines Vaters in Verbindung brachte. Aber so­ wohl davor als auch danach äußerte sich Gaston wieder bereitwil­ lig. Seine Unterschriften unter die Protokolle sind von fester Hand geschrieben, während jene nach der Unterbrechung der Befragung von äußerster Irritation zeugt. Offensichtliche Widersprüche in sei­ nen Antworten — über den Zeitpunkt der Beschaffung seiner Waffe, die Tatplanung, angebliche Misshandlung durch seine Eltern, die er unfähig war näher zu spezifizieren — sprechen ebenso für einen erheblichen Realitätsverlust. Jules Vernes Neffe Raymond Ducrest de Villeneuve machte für Gastons Verhalten einen psychischen »Atavismus« verantwortlich und behauptete, einer vom Nervenarzt Charcot vertretenen und im damaligen Frankreich weit verbreiteten Vererbungstheorie folgend, etwas vage, in der Familie von Gastons Mutter habe es »Fälle von Überspanntheiten gegeben, die man als bloße Exzentrizitäten an­ gesehen hatte, die aber an Wahnwitz grenzten«. Auffällig ist dabei, dass der Autor zugleich äußert, er werde sich hüten, »die Hinter­ gründe dieser für die ganze Familie so traurigen Angelegenheit« darzulegen, womit er implizit den Schluss nahelegt, dass sich die Sache nicht auf Gastons geistige Unzurechnungsfähigkeit be­ schränken lässt und die Familie zumindest 1930 von etwaigen »Hintergründen« wusste.386 Von jeher hat Gastons Motiv für die Tat die Gerüchteküche an­ geheizt. Ein sorgfältig gehütetes Geheimnis verführt allzu leicht zur Formulierung von skandalträchtigen Hypothesen, die ihre Wirk­ samkeit daraus beziehen, dass sie nicht nachprüfbar — aber eben auch nicht zu widerlegen sind. Gastons Erklärung im ersten Verhör (im zweiten verweigerte er die Aussage über seine Motive, wobei Untersuchungsrichter Magnaud nicht weiter nachhakte, als sich der Täter später auf die Befragung wieder einließ) bleibt interpreta­ tionsbedürftig. Aus dem Zusammenhang gelöst und wörtlich ge­ nommen, ließe sie sich im Extremfall als Indiz für die immer wie­ der hinter vorgehaltener Hand geäußerte — niemals gedruckte — Vermutung deuten, ein Sexualdelikt sei Gastons Tat vorausgegan332

gen: »Indem ich so handelte, wie ich es getan habe«, erklärte er un­ mittelbar nach den Schüssen, »wollte ich einen Racheakt ausführen, den ich seit langem gegen ihn wegen Familienangelegenheiten gehegt habe, die so heikel sind, dass ich sie unmöglich zur Kenntnis bringen kann und die ein paar Monate zurückhegen.« Sollte Gaston in Wirklichkeit gar nicht psychisch krank und auch keine Bedrohung für seine Mitmenschen gewesen sein, son­ dern nur aus dem Licht der Öffentlichkeit verbannt werden387, so würde das eine konzertierte Vertuschungsaktion von Familienan­ gehörigen, Freunden, Außenministerium, Strafverfolgung und Justiz voraussetzen, die im gemeinsamen Einvernehmen und in still­ schweigender Duldung eines unerhörten Delikts gehandelt hätten, um Jules Vernes Ruf zu retten. Dieses schon wegen seines enormen Aufwands unwahrscheinliche Konstrukt steht und fällt mit der Wahrhaftigkeit von Gaston Vernes Verfolgungswahn. An diesem lassen die polizeilichen Unterlagen meines Erachtens jedoch keinen ernsthaften Zweifel zu. Nimmt man Gastons psychische Erkrankung als gegeben hin, ergibt sich die Notwendigkeit, die zitierte Aussage als Ausdruck seiner hermetischen Sicht zu werten: Dann muss die von ihm angeführte Familienangelegenheit als An­ lass für seine Rachegefühle nicht wirklich heikel im Sinne einer als unaussprechlich empfundenen Tat gewesen sein, sondern er kann sie als solche aufgrund seiner nach eigenen Regeln funktionieren­ den Wahrnehmung ausgelegt haben. Dieselben Dokumente weisen auf den bislang völlig unbekann­ ten Umstand hin, dass Jules Verne nicht allein im Zentrum von Gastons Rachegefühlen stand, sondern ebenfalls der gemeinsame Freund Robert Godefroy, denn von beiden fühlte er sich verfolgt, wie er im zweiten Verhör ausdrücklich und auf Nachfrage angab. Was mag diese Angst veranlasst haben? Aus Godefroys Aussage geht hervor, dass Gaston bereits im Sommer 1885, einige Wochen vor seinem Ausscheiden aus dem Außenministerium, nach Amiens gekommen war, um bei ihm um Unterstützung für ein Duell nachzusuchen, was sich dieser und Jules Verne bemühten ihm aus­ zureden. Zeitlich passt dieses Ereignis zu jener »Familienangele333

genheit«, die Gaston als »ein paar Monate« vor seiner Tat angesetzt hatte. Duelle waren in Frankreich offiziell seit 1837 verboten, was an ihrer praktischen Ausübung allerdings kaum etwas änderte; sogar Tötungsdelikte in ihrer Folge wurden weiterhin nur in Ausnahme­ fällen verfolgt. Godefroys und Vernes in bester Absicht vorgenom­ mener Beschwichtigungsversuch dürfte von Gaston als Affront auf­ gefasst worden sein und könnte einen für unter Verfolgungswahn Leidende typischen Automatismus ausgelöst haben: Die Freunde, die den Beistand verweigerten, hatten offenbar die Seite gewechselt und waren zu Kollaborateuren der Feinde geworden. Insbesondere der geliebte Onkel musste in Gastons Augen als umso größerer Verräter dastehen und sich in die Schar der angeblichen Verfolger einreihen. Dies scheint mir als eine plausible Erklärung für das Attentat in Betracht gezogen werden zu können. Weitere Zweifel wurden in Zusammenhang mit der Strafverfol­ gung formuliert. Die zuletzt von Eric Weissenberg vertretene Hy­ pothese einer Niederschlagung der Anklage durch die damalige Justiz auf Geheiß des Verletzten stützt sich neben einem wertvollen Buchgeschenk Vernes an den Untersuchungsrichter Decai'eu (der allerdings nicht für die Sache zuständig war) aus dem Jahre 1887 auf die Feststellung, die Presse habe zunächst ausführlich berichtet und dann unvermittelt von der Affäre abgelassen.388 Letzteres ist frei­ lich gängige Praxis in der damaligen Tagespresse und lässt sich insbesondere in der lokalen Berichterstattung — damit erklären, dass sich das öffentliche Interesse schnell vom Täter auf den Gesund­ heitszustand des prominenten Opfers verlegte. Die Namen der Be­ teiligten und ihre Verwandtschaftsbeziehungen waren von Beginn an oder mit kurzer Verzögerung in allen Zeitungen genannt wor­ den. Nachdem der erste Eindruck Gastons zerrütteten Geisteszu­ stand nahegelegt hatte389 und weitere Untersuchungen durch Arzte angeordnet worden waren, die den Befund bestätigen sollten, war klar, dass sich der Fall nicht wie bei politisch motivierten Revol­ verattentaten als anarchistische Bedrohung würde ausschlachten lassen. Diese hatten zwischen Oktober 1885 und dem 5. März 1886 Frankreich erschüttert und können möglicherweise Vorbildfunk­ 334

tion für Gastons Tat gehabt haben.390 Einen Monat später — für die Untersuchung durch die Arzte eine angemessene Frist — wurde die Nachricht veröffentlicht, dass die Strafverfolgung Gastons einge­ stellt worden und »die Unterbringung des armen jungen Mannes auf Präfekturbeschluss in eine staatlich anerkannte Anstalt von Pa­ ris angeordnet worden« sei.391 Das entsprach nach dem Gesetz über die Geisteskranken vom 30.Juni 1838 dem normalen Lauf der Dinge und legt nicht nahe, dass irgendeine Manipulation vorgenommen worden ist. Gaston wurde in verschiedenen »Irrenanstalten« — so der dama­ lige Terminus - untergebracht, zunächst in der Anstalt des Dr. Goujon in Paris, der ihn am 12. August 1886 nach Vanves an den reputierten Jules Philippe Falret überstellte; in diesem Heim, das um 1880 als angesehenste Anstalt in ganz Europa galt, sollte Gaston auf lange Jahre hinaus bleiben. Erhalten haben sich vier Register, in denen die ärztlichen Befunde der Patienten in monatlichen Ab­ ständen notiert wurden und die den Zeitraum von Oktober 1889 bis Februar 1911 abdecken.392 Diese stichwortartigen Eintragungen wandeln über zwanzig Jahre hinweg die folgende Beschreibung vom Oktober 1889 ab: »Geistige Zerrüttung; Verfolgungsideen; hy­ pochondrische Sorgen; hartnäckiges Schweigen; bizarre Gesten; Lachanfälle, wenn er sich allein wähnt; Neigung zur Absonde­ rung.«393 Eine einzige Bemerkung vom März 1904 fällt aus dem Rahmen: »Will nicht in die Messe gehen, weil eine barmherzige Schwester, die er manchmal auf seinen Spaziergängen trifft, es ihm verbiete.«394 Im Gegensatz zu vielen anderen Patienten fiel Gaston nicht durch aggressives Verhalten auf, sondern durch seine extreme Introvertiertheit; erst ab 1907 wurden nächtelange Schrei- und Niesanfälle registriert, mit denen er vorgab, Feinde »aus seinem Schlund« vertreiben zu wollen (August 1909)395. Der deprimie­ rende Ausklang einer Laufbahn, die vielversprechend begonnen hatte. Jean Jules-Verne gibt an, dass Gaston später auch in Anstalten in Belgien und Luxemburg untergebracht gewesen sei, wo er während des Ersten oder Zweiten Weltkriegs starb.396 Die ungewöhnliche 335

Dauer seiner Unterbringung verblüfft, da die Sterberate psychisch Kranker in den Anstalten des 19. Jahrhunderts bei ohnehin niedriger Lebenserwartung sehr hoch war, wie Dumas und Weissenberg — beide selber Ärzte - in ihren Veröffentlichungen betonen. Für das Jahr 1859 und das Departement Seine gibt Vernes Freund Victor Mareé in seinem Standardwerk der Psychiatrie die Mortalität von Internierten gegenüber Gesunden im Verhältnis 7 zu 1 an. Bei 39,5 % der Sterbefälle war der Tod bereits im ersten Jahr der Unter­ bringung eingetreten, bei lediglich 2,8% nach mehr als 20 Jahren.397 Grundsätzlich änderte sich die Situation eher zum Schlechteren: Während die Zahl der eingewiesenen Patienten in Frankreich zwi­ schen 1864 und 1889 von 32.000 auf 75.000 anstieg, stagnierten die Anzahl der Einrichtungen und die Höhe der für sie vorgesehenen staatlichen Ausgaben.398 Für den speziellen Fall der Anstalt von Vanves, die zwischen 1889 und 1911 konstant um 280 männliche und weibliche Kranke beherbergte, lässt sich immerhin feststellen, dass im Jahr 1894 allein 16 Patienten und Patientinnen (5,7%) zwi­ schen 25 und 40 Jahre interniert waren und sechs unter ihnen über 80 geworden sind bzw. in diesem Alter verstorben waren, was die Allgemeingültigkeit der zitierten Statistik doch wieder relativiert. Das Bild, das Jules Verne mit dem amerikanischen »Healthful House« in seinem Roman Die Erfindung des Verderbens von einem mustergültigen psychiatrischen Sanatorium zeichnete, mochte viel­ leicht seinem Wunschdenken entsprechen, mit der zeitgenössischen Realität auch privater Einrichtungen, deren Behandlung sich unab­ hängig vom speziellen Krankheitsbild größtenteils auf warme und kalte Bäder beschränkte, hatte es wenig zu tun. Glaubwürdiger mu­ tet dagegen seine Beschreibung der dort untergebrachten französi­ schen Hauptfigur Thomas Roch an: »Dieser Thomas Roch war nur noch ein der Vernunft entledigtes Wesen, völlig unselbständig, be­ raubt selbst des natürlichen Instinkts der Selbsterhaltung, der nicht einmal dem Tier abgeht, und man musste auf ihn wie auf ein Kind aufpassen, das man nicht aus den Augen verlieren durfte. (...) Ge­ wöhnlicher Wahnsinn, sofern er nicht unheilbar ist, kann nur durch moralischen Einfluss kuriert werden. Medizin und Heilkunde be33b

wirken nichts, und ihre Unwirksamkeit ist unter Fachleuten seit langem anerkannt. Waren diese moralischen Mittel aber im Fall von Thomas Roch anwendbar? Man musste daran zweifeln, sogar in der stillen und reinen Umgebung von Healthful House. Denn all die verschiedenen Symptome wie Besorgnis, Launenhaftigkeit, Reiz­ barkeit, Wunderlichkeit des Charakters, Traurigkeit, Apathie, Wider­ wille gegen ernsthafte oder vergnügliche Beschäftigungen, alle tra­ ten sie deutlich zutage. (...) Man hat zu Recht gesagt, dass der Wahnsinn ein Übermaß an Subjektivität darstellt, das heißt einen Zustand, in dem der Geist zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist und nicht genügend auf die Einflüsse von außen eingeht. Bei Thomas Roch war diese Indifferenz nahezu vollständig. Er lebte nur noch innerhalb seiner selbst, als Beute einer fixen Idee, die so sehr von ihm Besitz ergriffen hatte, dass sie ihn dorthin gebracht hatte, wo er sich jetzt befand.«399 Auch wenn so genannte Irre allgemeiner Bestandteil der populä­ ren Unterhaltungsliteratur sind und so auch in den Außergewöhn­ lichen Reisen von Beginn an ihre regelmäßigen Auftritte haben, ist es kaum vorstellbar, dass Jules Verne bei dieser speziellen und für seine Verhältnisse ungewohnt eingehenden Beschreibung nicht an seinen unglücklichen Neffen gedacht haben sollte. Reales Vorbild für die Figur des größenwahnsinnigen Wissenschaftlers war der Chemiker Eugène Turpin, der Jules Verne später wegen Verleumdung verkla­ gen (und den Prozess verlieren) sollte. Auch ihm unterstellte die zeitgenössische Presse — in seinem Fall zu Unrecht, wie noch zu zei­ gen bleibt - »Verfolgungswahn«, womit sich der Kreis von Thomas Roch über Turpin zu Gaston schließt. Ist es zudem ein Zufall, dass der Pfleger von Roch den Namen Gaydon trägt, möglicherweise ein Anagramm von »gardien« (Aufpasser), aber eben auch frappierend nah am Namen Gasten? Festzuhalten bleibt, dass Jules Verne das Attentat in späteren Interviews keinesfalls als Tabuthema behandelte, sondern in Zu­ sammenhang mit seiner Invalidität meist von sich aus ansprach und dabei ebenso wenig verschwieg, dass es sich bei dem Attentäter um seinen eigenen Neffen gehandelt habe, »ein großartiger Junge, der JJ7

mich sehr liebte und für den ich auch große Zuneigung emp­ fand«400 — diese Formulierung findet sich ebenso in den Gesprä­ chen wie in den Verhören nach der Tat. Laut Jean Jules-Verne soll Gaston in späteren Jahren zusammen mit seinem jüngeren Bruder Maurice mehrfach bei seinem Onkel zu Gast gewesen sein; dies wäre wohl kaum erfolgt, wenn sich Jules Verne gegenüber seinem Neffen tatsächlich etwas Ernsthaftes hätte zu Schulden kommen lassen. Ein anderer Bruder von Gaston und Maurice, der 1866 geborene Marcel, verschwand im September 1903 unter mysteriösen Um­ ständen zusammen mit seiner Geliebten im See von Neuchâtel; ein leeres Boot und ein Abschiedsbrief wurden gefunden, aber keine Leichen. Ob es sich um einen gemeinschaftlichen Selbstmord han­ delte oder seine Vortäuschung mit dem Ziel, nach einem Bruch mit der Vergangenheit ein neues Leben zu beginnen, ist niemals geklärt worden.401 — Die Tabuisierung des Verwandtschaftsverhältnisses von Attentäter und Opfer erfolgte erst 1928 in der Biographie von Marguerite Allotte de la Fuÿe. Alle drei Söhne von Paul Verne blie­ ben unverheiratet und ohne Nachkommen, allein Tochter Marie heiratete einen Emile Gary de Faviès und hatte mit ihm zwei Kin­ der, von denen nur die Tochter zwei Söhne auf die Welt brachte. Jules Vernes körperliche Wiederherstellung sollte sich über Jahre hinziehen. Neben den befreundeten Medizinern Lenoël, Froment und Peulevé kümmerte sich der Militärarzt Cortis um die Be­ handlung, dann wurde aus Paris der angesehene Aristide Verneuil gerufen, der als einer der ersten französischen Chirurgen die anti­ septische Operationsmethode vertrat. Ein schmerzhafter, eine Dreiviertelstunde währender Eingriff erfolgte zwei Tage nach dem Attentat unter Betäubung mit Chloroform. Dabei wurde eine Ap­ paratur am Fuß angebracht, die die nahe am Gelenk im Schienbein steckende Kugel unterstützen sollte, von selbst aus der Wunde zu treten — vergebens: Die Kugel sollte nie entfernt werden, die Wunde nach immer wiederkehrenden Entzündungen sich nicht dauerhaft schließen, und dies nicht wegen der Schussverletzung, sondern wegen des bei der Operation durchbohrten Knochens. 338

Ein weiterer schwerer Schicksalsschlag erfolgte kaum eine Wo­ che nach dem Attentat. Halbseitig gelähmt hatte sich Hetzei noch im Januar 1886 nach Monte Carlo aufgemacht, von düsteren Vor­ ahnungen erfüllt: »Ich umarme Sie, mein lieber Verne«, hatte er in seinem letzten Brief geschrieben. »Übermitteln Sie meine Grüße an Ihre Familie. Ich breche ohne Begeisterung auf. Ich habe Angst vor der Länge des Wegs. Wie weit liegt die Zeit zurück, als wir frohgemut zusammen diese Reise unternommen haben und am Golf Juan, hoch aus den Fenstern gelehnt, unsere Augen aufsperr­ ten, um am Horizont Korsika zu entdecken.«402 Während des Auf­ enthalts am Mittelmeer hatte sich sein Leiden verschlimmert, am 17. März war Pierre-Jules Hetzei seiner fortschreitenden Lähmung erlegen, deretwegen er bereits seit 1880 seine Korrespondenz hatte diktieren müssen. Michel hatte seinem Väter die Nachricht so scho­ nend wie möglich beizubringen versucht und Louis-Jules Hetzei noch am selben Tag mitgeteilt: »Noch nie habe ich meinen Vater so erschüttert gesehen wie bei der Ankündigung dieses Unglücks. Traurig sagte er: >So sollten wir uns nicht mehr Wiedersehens Seit­ dem spricht er kein Wort mehr. Das Bedauern, nicht bei ihm gewesen zu sein, quält ihn.«403 Michel war es auch, der seinen Vater am 22. März bei der Trauerfeier in der Pariser Kirche Saint-Germain-des-Pres und dem Begräbnis auf dem Montparnasse-Friedhof vertrat. Der überwälti­ gende Zulauf von Persönlichkeiten aus dem kulturellen und politi­ schen Leben bei dieser Gelegenheit zeigte, dass das republikanische Frankreich sich bewusst war, nicht nur einen verdienten Verleger und nach dem Tode Victor Hugos 1885 einen der letzten großen Namen der literarischen Romantik verloren zu haben, sondern auch einen seiner geistigen Wegbereiter. Zwar setzte sich der Be­ trieb des Verlags bruchlos fort, zu dessen Geschäftsführer Hetzeis Sohn Louis-Jules bereits im Januar 1873 erklärt worden war, doch war Hetzei junior eher ein Technokrat mit Sinn für organisatori­ sche Fragen als ein Feingeist mit literarischem Gespür. Das VaterSohn-Verhältnis zwischen Verleger und Autor kehrte sich unverse­ hens um, mit der Folge, dass die Mitteilsamkeit des Schriftstellers 339

fühlbar abnahm. Größere schriftstellerische Freiheit war für Verne mit dem Tod des alten Hetzei indes nicht verbunden. Was die Themenauswahl und den moralischen Rahmen betrifft, sollte sich Hetzei junior sogar noch engstirniger zeigen als sein Vater. Auf die Nachricht aus Nantes, seine Nichte Edith Guillon habe sich entschlossen, ihren Cousin Georges Allotte de la Fuye zu hei­ raten, entgegnete Verne seinem Schwager wenig diplomatisch: »Wir geben ihnen schon im Voraus unseren Segen, sie werden voll und ganz glücklich sein, vor allem dann, wenn sie niemals Kinder haben werden. Das ist zumindest meine Sichtweise — sicher nicht Deine, weil Du über eine undefinierbare Anzahl davon verfügst (ich könnte noch nicht einmal sagen, wie viele es sind). Möge Gott also das Brautpaar vor einem derartigen Exzess himmlischer Segnung verschonen.« Honorine fügte ein entschuldigendes Postscriptum hinzu: »Mein armer Jules ist noch weit von jeder Genesung ent­ fernt, sein Leben ist sehr eintönig, er hat nur die Arbeit, um sich zu zerstreuen, und ich fürchte, das wird ihn mit der Zeit erschöpfen; seine Gelassenheit ist bewundernswert, niemals eine Klage, aber ich beklage mich für ihn und bejammere tagein, tagaus das Verhängnis, das ihn für diesen Schlag ausgewählt hat.«404 Verne, der ein halbes Jahr das Bett nicht verlassen konnte, wurde mit Morphium gegen die Schmerzen behandelt, was zu einem ku­ riosen Dankschreiben an das »heilige« Medikament in Sonettform führte, das am 26. Mai anonym im Journal d’Amiens erschien. In einem heftigen Ausbruch von Nostalgie hatte Jules Verne seine zwei Alben mit Gedichten aus der Jugendzeit hervorgeholt, den einen oder anderen Vers korrigiert und neue Gedichte auf den leergebliebenen Seiten hinzugefügt, zunächst milde bis bissige Spottverse auf seine Ärzte und andere Freunde (oder Widersacher), dann das erwähnte Sonett. Jenem Dr. Lenoel bescheinigte er einen so gesunden Humor, dass man als sein Patient nur lachend sterben könne, und riet seinem Freund Dr. Froment, statt all der Irren doch lieber die Weisen einzusperren — dann hätte er weniger zu tun. Anatole Froment war im Vorjahr in die Akademie von Amiens auf­ genommen worden, wobei ihm Jules Verne als Pate zur Seite ge34°

standen hatte. Seinen Aufnahmevortrag hielt er nach dem Attentat am 26. März 1886, ausgerechnet über das Thema »Der Wahnsinn und seine Behandlung«, in dem er die Zunahme der Geisteskrank­ heiten in ursächliche Verbindung mit dem zivilisatorischen Fort­ schritt brachte. Obwohl monatelang ans Bett gefesselt, stellte Jules Verne den Roman Nord gegen Süd fertig, korrigierte die Druckfahnen von Robur der Eroberer, schrieb die erste Fassung des Märchens Die Aben­ teuer der Familie Ratón und den Roman Le Chemin de France über die Flucht einiger Franzosen aus Preußen, das dem revolutionären Frankreich 1792 den Krieg erklärt hatte. Im Anschluss daran, und noch immer im Jahr 1886, verfasste er die für das Neujahrs-Sup­ plement des Petit Journal vorgesehene Kurzgeschichte Gil Braltar, in der ein englischer General die Rückeroberung der britischen Ko­ lonie durch Affen nur deshalb verhindert, weil er selber einem Af­ fen so ähnlich sieht, und entwickelte den Plan zu Zwei Jahre Ferien. Nach dem im Ansatz stecken gebliebenen Onkel Robinson, der Geheimnisvollen Insel und der Schule der Robinsons widmete sich Verne ein weiteres Mal der Gattung der Robinsonade, in diesem Fall mit fünfzehn Kindern zwischen acht und vierzehn Jahren als Protagonisten — wobei es ihm ausgesprochen schwer fiel, Habitus und Duktus seiner jungen Helden zu treffen. Hetzei junior bemän­ gelte die Charakterisierung der Kinder nach einer ersten Lektüre und bewegte Verne, große Teile des Buches neu zu bearbeiten. Zu­ gleich schickte er die Druckfahnen im September 1887 an Jean Macé, um den Rat des eminenten Pädagogen einzuholen. Der teilte Hetzeis Bedenken nicht und schrieb ihm stattdessen: »Ich rate Dir, das Buch zu lassen, wie es ist, und Verne nicht die Hinzufü­ gung abzuverlangen, von der Du schriebst; er hätte einige Pro­ bleme, sie seiner Handlung einzuverleiben.«405 Macé bezog sich da­ bei auf die Person eines kleinen Ingenieurs, den Hetzei Verne in einem Brief vom 3. Oktober aufzudrängen suchte - mit Hinweis auf das noch nicht identifizierte literarische Vorbild eines engli­ schen Jugendlichen, der sich durch seine Kühnheit auszeichnete und den Namen... Harry (oder Henry) Potter trug.406 34 t

Der Hinweis auf ein angelsächsisches Modell ist insofern inter­ essant, als der Beststeller Die Koralleninsel (1858) von Robert Michael Ballantyne Vernes Personenkonstellation im kleineren Maßstab vorweggenommen hatte und dessen optimistisch-natio­ nalistisches Sendungsbewusstsein später von William Golding in Der Herr der Fliegen (1954) ins Düstere verkehrt werden sollte. Vernes Roman liegt zwischen den beiden Extremen, indem er im Gegensatz zu Ballantynes harmonischer Robinsonade sehr wohl die Konflikte und Rivalitäten der auf sich selbst gestellten Kinder unterschiedlicher Nationalitäten thematisiert. Als Ursache für ihre Probleme stellt er Nationalismus und Chauvinismus heraus, beschränkt sich jedoch darauf, die Überheblichkeit der »Söhne Albions« anzuklagen, was die Vorzeichen lediglich umkehrt und die grundsätzliche Kritik verpuffen lässt. Zudem erweisen sich alle Schwierigkeiten ganz im hetzelschen Sinne als bewältigbar, durch Eigenschaften wie Mut, Selbstlosigkeit und eine unbeugsame Moral. Wie weit befand sich Verne da von Goldings destruktiver Gruppendynamik entfernt. Im Gegensatz zu Verne hatte sich Golding selbst allerdings auch niemals in ein Verlagsprogramm zu fügen, über dem weiterhin der geheiligte Geist eines P.-J. Stahl schwebte... Zwei Jahre Ferien wurde 1888, so wie es Jean Macé in seinem Brief vorausgesagt hatte, zu einem von Vernes größten Erfolgen seiner späteren Jahre. Die Reihe von Schicksalsschlägen setzte sich mit dem Tod der 87-jährigen Mutter am 15. Februar 1887 fort. Verne, der den schmerzlichen Verlust hatte kommen sehen, befürchtete, damit werde das letzte Band, das die weit verzweigte Familie zusammen­ hielt, auseinander reißen, und behielt Recht damit. Da er selbst zu schwach war, um sich zum Begräbnis in die Heimat zu begeben, trat Honorine die traurige Reise nach Nantes an. Drei Wochen später folgte der Jahrestag des Anschlags. Für Mi­ chel Verne war es insofern ein besonderes Datum, als zum ersten Mal sein Name auf dem Plakat des Theaters von Amiens stand: Als Zwischenspiel führte das Orchester einen von ihm komponierten Walzer mit dem Titel En mer auf, den der Kritiker des Echo de la 342

Somme am n. März vorsichtig als »originell« lobte, bei dem er aber den massiven Einsatz der Bläser beklagte: »Da befinden wir uns nun wirklich nicht mehr auf dem Meer, es sei denn, wir stellen uns ein Negerkonzert auf einem Steamboat vor. Aber eine Menge hüb­ scher Motive, die von reicher Hand auf das Werk verteilt worden sind, machen diesen Exzess an Blechbläsern schnell wieder verges­ sen.« Der einmalige Versuch eines Tausendsassa, der sich aufgrund mangelnder Ausdauer auf keine längerfristige Betätigung festlegen ließ? Auch eine Oper soll Michel nach Mitteilung seines Sohnes komponiert haben. Das Attentat hatte Vater und Sohn vorübergehend enger zu­ sammenrücken lassen. Trotzdem sollte es Jahre dauern, bis Jules Verne sich darauf einließ, die neue Verbindung seines Sohnes zu akzeptieren und seine ab 1889 auch offizielle Schwiegertochter Nr. 2 samt beiden Enkeln, von denen Michel Junior 1885 und Georges 1886 zur Welt gekommen war, näher kennen zu lernen. Aufgrund seines als unmoralisch kritisierten Verhaltens war die Ver­ bindung zwischen Michel und der Familie in Nantes abgebro­ chen, auch Honorines strenggläubige Töchter verweigerten jeden Kontakt, selbst dann noch, als 1893 die Versöhnung zwischen den beiden Familien Verne erfolgte. Michels Unbeständigkeit stand in erbarmungsloser Konkurrenz zu seiner Intelligenz und seinen vielen Talenten, die Vater Verne zunächst kaum beachtete, geschweige denn würdigte. Immerhin hatte er eine Sammlung von Gedichten seines Sohnes an Hetzei nach Monaco weitergeleitet, der sie kurz vor seinem Tod aber nicht mehr zur Kenntnis nahm. Ein einziges, beachtliches Gedicht aus dieser Sammlung ist bekannt, das 1889 in Lu Nouvelle Revue veröf­ fentlicht wurde und mit dem Titel Les Fossoyeurs du Gange wohl auf Erinnerungen an die Reise von 1878 zurückgeht. Die achtzehn Strophen finden ihr prosaisches Gegenstück in einer Passage aus 20.000 Meilen unter den Meeren, in der Jules Verne beschrieben hatte, wie die Leichen mehr schlecht als recht verbrannter Inder den Ganges heruntertreiben und von Aasgeiern angefressen werden. In Versen von hoher melodiöser Qualität und atmosphärischer Dichte 343

stellt Michel zunächst die Vereinigung von Ganges und Meer als sexuellen Akt dar, dessen Sinnlichkeit mit dem Auftauchen der halbverwesten Leichen ins Groteske verkehrt und mit ihrer detail­ lierten Schilderung ins Ekelhafte gesteigert wird; dann beschreibt er, wie die Tierwelt sich an den Kadavern gütlich tut, schließlich menschliche Leichenfledderer eingreifen und nach getaner Arbeit ihre Reisportion verzehren. — Es ist nicht anzunehmen, dass der alte Hetzei, der bereits Zola als moralisch verkommen ablehnte, von dieser Art Poesie eingenommen gewesen wäre. Andererseits ist man überrascht, auf jene exotischen und selbst »außergewöhn­ lichen« Seiten, die den Gedichten des Verfassers der Außergewöhn­ lichen Reisen gänzlich abgehen, ausgerechnet in einem Werk des »missratenen« Sohnes zu stoßen. Über seinen Freund Philippe Gille vermittelte Jules Verne dem Sohn Anfang 1888 eine Stelle als freier Mitarbeiter am Supplement des Figaro, für das Michel eine Reihe von unterhaltsam und hu­ morvoll geschriebenen wissenschaftlichen Artikeln verfasste. Auch diese Tätigkeit blieb eine Episode, mit der er immerhin in den Au­ gen Jules Vernes unter Beweis stellte, dass er zu schreiben verstand. Einer dieser Artikel, Un Express de l’avenir über eine unterseeische Schnellzugverbindung, erlebte mehrere Nachdrucke in französi­ schen, englischen und russischen Zeitschriften, in denen er unter dem Namen Jules Vernes erschien — was auf die beabsichtigte Dop­ peldeutigkeit zurückzuführen war, dass Michel trotz seiner Taufna­ men Michel Jean Pierre als »M. Jules Verne« signierte, wobei das In­ itial natürlich nicht für »Monsieur«, sondern für seinen Vornamen stand. Dies geschah mit Einverständnis des Schriftstellers. Das be­ legt die kuriose Veröffentlichungsgeschichte der Erzählung Ein Tag aus dem Leben eines amerikanischen Journalisten im Jahre 2889, einer Auftragsarbeit für den amerikanischen Verleger Lorettus Metcalf, die im Februar 1889 unter dem Titel In theYear 2889 im New Yor­ ker Forum veröffentlicht worden war. Dieses gerne als solches bezeichnete Paradebeispiel für Jules Vernes technische Vorwegnahmen (Lichtreklame am Himmel, Kontaktaufnahme mit Außerirdischen, Lufttaxi, Fernsehtelefon, .444

IBtîOÏHEQUE SCIENTIFIQUE

I desEcoles^desFamilles

DIRECTEUR

GUSTAVE PHILIPPON Docteur ôt ¿cicncé».

NAVIGATION A VOILES ET A VAPEUR Michel-Jules VERNE

'€GR1 GflUTICR,diffü(^QüaidejÇ*flufr^nj.]

Titelblatt einer Broschüre von Michel Terne über die Schiffahrt aus der Bibliothèque scientifique des Écoles et des Familles, iffb/97

Wiedererweckungsversuche an eingefrorenen Toten usw. - nahezu allesamt Ideen aus Albert Robidas Werk Le XXe Siede von 1882) ging lediglich in seinem Entwurf auf den Schriftsteller zurück, der die Ausführung ganz dem Sohn überließ. Auf diese Weise strich der ständig von Schulden verfolgte Michel die eine Hälfte des Ho­ norars von i .000 F. ein, während die andere zu gleichen Teilen auf den Vater und Hetzei verteilt wurde. Später überarbeitete Jules Verne das Original, das er um satirische Elemente wie die Episode um die elektrische Hinrichtung und Seitenhiebe auf Zolas Natura­ lismus bereicherte, las es in dieser Fassung vor der Akademie von Amiens und veröffentlichte es in deren Annalen des Jahres 1890. Diese Version nahm Michel ihrerseits zur Grundlage für eine neu­ erliche Umarbeitung, die 1910 erschien und in diesem Zustand auch ins Deutsche übersetzt worden ist. Michels unablässige Geldnot fügte sich zu den Sorgen in einer Zeit, die Jules Verne Ende 1886 gegenüber Hetzei als die »schwarze Periode« seines Lebens bezeichnet hatte. Anlass dieser resignativen Äußerung war, dass Vorstöße von Hetzei und befreundeten Politi­ kern, für Jules Verne die Erhebung in den Stand des Offiziers der Ehrenlegion zu erwirken, ergebnislos im Sande verliefen. Eine Er­ nennung zum Ritter war bereits fünfzehn Jahre zuvor im Kaiser­ reich erfolgt, die republikanische Regierung aber hielt sich mit einem vergleichbaren Schritt zurück, verwehrte ihn auch im De­ zember 1887 und holte ihn erst am 19. Juli 1892 nach, mit aus­ drücklichem Hinweis auf Vernes inzwischen angesammelte Ver­ dienste als Lokalpolitiker. Von fünf möglichen Graden in dieser sehr französischen Auszeichnungshierarchie sollte Jules Verne niemals über den zweiten hinauskommen, förmlich auf unterem Niveau stecken bleiben, wie Vater Raton auf der Stufenleiter der Lebewesen, der — so wie er gerne von sich behauptete — alles »ganz philosophisch« nimmt: »Ich gebe zu«, liest man im Brief über die schwarze Periode, »dass ich sehr zu beklagen wäre, wenn ich mich nicht in eine verbissene Arbeit flüchten könnte, eine Arbeit, die mir gefällt.«407 Bereits im Herbst 1886 hatte Jules Verne das Angebot einer Le­ 346

setournee nach Belgien und Holland angenommen, für diesen An­ lass das Märchen Die Abenteuer der Familie Raton ausgewählt und an seiner Wahl festgehalten, als die Reise aus Gesundheitsgründen erst im November 1887 verwirklicht werden konnte. Verne las - auf Französisch - in Antwerpen, Brüssel, Lüttich, Den Haag und Gro­ ningen, und mochte nicht wahrhaben, dass die erwartete Begeiste­ rung ausblieb. Er musste erleben, wie sich die Zuhörer in Brüssel in Anwesenheit der Gräfin Marie von Flandern und des Prinzen Bau­ douin, befremdet und gelangweilt, mit Beifall zurückhielten. Der Figaro, sonst dem Autor stets wohlgesonnen, urteilte am 30. No­ vember vernichtend: »Er hatte die ärgerliche Idee, an seiner Zuhö­ rerschaft die Wirkung einer Kindergeschichte auszuprobieren, die er wohl bald im Verlag Hetzei veröffentlichen wird und bei der es um die Familie von Raton, Ratin, Ratine und Raté geht. >Stellen Sie sich vor, meine Damen und Herrem, hatte der Redner zu Be­ ginn gesagt, >dass Sie heute Abend nur sieben Jahre alt sind.< Die Herrschaften haben sich alle Mühe gegeben, sich dies vorzustellen, doch scheint sie die Anstrengung überfordert zu haben, und vor Ende der Lesung hatte die Hälfte der Zuhörerschaft das Weite ge­ sucht.« Da erwies sich das Publikum von Amiens doch als dankbarer, vor dem der inzwischen in den Stadtrat gewählte Schriftsteller die Lektüre am 1. Dezember 1889 in einem Heimspiel zu Gunsten des Armenhilfswerks wiederholte, das immerhin 300 F. von einer ebenso viele Köpfe umfassenden Zuhörerschaft verbuchen konnte. Möglicherweise hatten die Amienser einige der Anspielungen bes­ ser verstehen und die »Austernbank von Samobrives« auf Samarobriva, die alte Bezeichnung für Amiens, beziehen können; abgese­ hen davon, dass sich Jules Verne in der gichtigen Ratte, die auf Krücken humpelt, selbst zu erkennen gab. Im Januar 1891 erschien die Erzählung schließlich in der Weihnachtsausgabe des Figaro illus­ tré, nachdem Hetzei jahrelang den Vorschlag seines Autors ignoriert hatte, sie in einem kleinen Album mit farbigen Illustrationen her­ auszubringen. Die Tournee hatte Jules Verne davon abgehalten, am 27. Novem347

IVilliatn Busnach. Fotografie, um 1887

ber 1887 der Premiere einer Theaterbearbeitung seines Romans Mathias Sandorf am Pariser Théâtre de l’Ambigu-Comique beizu­ wohnen, einer Bearbeitung, die, wie er hoffte, »die Aufmersamkeit wieder auf Ihren alten Freund lenken wird, die von Tag zu Tag im­ mer mehr abnimmt.«408 Vernes Anteil am Stück war diesmal denk­ bar gering. Ein befreundeter Verwaltungsbeamter aus Amiens, der inzwischen im Pariser Innenministerium arbeitete, Jules Henry, hatte Verne ein Szenario in 15 Bildern vorgelegt und ihn gebeten, ein Stück daraus machen zu dürfen. Unter dem Pseudonym Georges Maurens hatte Henry 1885 mit einem Roman über das Leben eines Provinzpolitikers schlagartig Erfolg gehabt, nur verfügte er über keinerlei dramatische Erfahrung. Verne, der sich damit begnügte, das Szenario durchzusehen, vermittelte Henry/Maurens den Kon­ takt zu seinem alten Freund William Busnach, der durch die Büh­

nenbearbeitung mehrerer Romane von Zola hervorgetreten war und damit als Vater des naturalistischen Gesellschaftsdramas galt. Das Stück wurde insgesamt 94 Mal gespielt, musste damit keinen Reinfall verschmerzen, erlangte aber ebenso wenig den erhofften Sensationserfolg. Der Einfluss von Busnach tritt besonders in der ungewohnt differenzierten Personenzeichnung hervor, die den po­ sitiven Figuren auch Schwächen zugesteht, während im Gegenzug die Bösewichter nicht ausschließlich intrigant sein müssen. Im Vergleich zum Roman hatten die beiden Autoren die melodra­ matischen Elemente betont, für den Geschmack vieler allzu sehr; zudem setzte die Übertragung ins visuelle Medium die Kenntnis der literarischen Vorlage voraus, ohne die — wie Hetzei junior sich ausdrückte — viele Zusammenhänge in den Kulissen stecken blie­ ben. Der anfängliche Erfolg veranlasste Jules Verne, Busnach und Maurens zu autorisieren, auch eine Bearbeitung von Le Chetnin de France in Angriff zu nehmen, die zur vierten Pariser Weltausstellung anlässlich der 100-Jahr-Feier der Großen Revolution im Jahre 1889 einigen Zuspruch zu finden versprach. Trotzdem verlief das Pro­ jekt im Sande.

149

20.

Im Stadtrat von Amiens (1888—1891)

Die Invalidität ließ sich bisweilen gut vorschützen, um unliebsamen Verpflichtungen aus dem Wege zu gehen. Etwa als Hetzei junior am ii. April 1888 in Paris Hochzeit feierte und Jules Verne mit Hinweis auf den wenig präsentablen Hinkefuß sein Versprechen zurückzog, dem Freund als Trauzeuge zu dienen (bei einem offi­ ziellen Empfang des Malers Puvis de Chavannes am 5. Februar zur Einweihung seiner Fresken im Museum von Amiens schien dies keine Rolle gespielt zu haben). Neben der Verlagsleitung, seinem Engagement im französischen Verlegerverband und den Pflichten eines stellvertretenden Bürgermeisters des 6. Arrondissements von Paris (1886-92) hatte Louis-Jules Hetzei reichlich spät Zugang zur Liebe gefunden, die unter dem Namen Aimée Arnault als Witwe des Malers Edward-Théophile Blanchard mit einer 10-jährigen Tochter in sein Leben getreten war. Auch für Jules Verne markierte das Jahr 1888 mit seinem Eintritt ins politische Leben von Amiens eine Neuorientierung, die viele seiner Freunde überraschte. Dabei hatte sich Verne schon seit län­ gerem in das offizielle Treiben der picardischen Hauptstadt einge­ mischt, besuchte zusammen mit seiner Frau regelmäßig gegen Ende Juli vor Beginn der großen Ferien die Preisverleihungen in den Schulen, nicht nur der beiden Gymnasien für Mädchen und Knaben, sondern auch verschiedener kommunaler Schulen in der Umgebung. Seit 1877 war der Schriftsteller Amtsmitglied des Schulvereins, der das Ziel verfolgte, die Kinder der am meisten be­ dürftigen Familien materiell zu unterstützen, seit 1879 Mitglied im örtlichen Sparkassenvorstand, nach Auflösung des Unionszirkels von Mai 1889 an Funktionär der Industriellen Gesellschaft, die 1861 auf Anregung seines Freundes Edouard Gand gegründet wor­ 350

den war und die mit der Organisation von Sprachkursen und öf­ fentlichen Vorträgen die Funktion einer Volkshochschule wahr­ nahm. Das Theater von Amiens hatte Vernes Aufmerksamkeit von jeher geweckt, und trotz der mittelmäßigen Qualität der Bühne gehörte er seit 1871 zu ihren eifrigsten Besuchern. Der Rat entschied jedes Jahr über die Direktion der subventionierten Bühne, die Schau­ spielertruppe wurde daraufhin vom Direktor vorgeschlagen. Über das Engagement der jeweiligen Künstler stimmten die festen Abonnenten (des männlichen Geschlechts) nach einer Probevor­ stellung ab - ein basisdemokratisches Verfahren, das leider für die Saison 1884/85 zu versagen drohte, weil sich das Publikum aus Op­ position gegen den Direktor Froment darauf versteifte, alle Künst­ ler buhend abzulehnen. Der Bürgermeister bestimmte schließlich eine Kommission, die sich aus vier Ratsherrn und zehn treuen Theatergängern — darunter Jules Verne — zusammensetzte und die auf vier Sitzungen im Oktober und November 1884 über das neue Ensemble entschied. Mit dem Ausscheiden von Froment nach Ab-

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lauf der Saison erübrigte sich weiterer Protest, und das herkömm­ liche Verfahren wurde wieder eingeführt. — Einer weiteren Wei­ sung des seit 1881 amtierenden Bürgermeisters und Senatsmitglieds Frédéric Petit verdankte Jules Verne seine Ernennung zum Auf­ sichtsratsmitglied des Städtischen Museums am 28. Oktober 1886, eine Funktion, die er bis zur Jahrhundertwende mit großem Enga­ gement ausfüllte. Was Mitbürger und Zeitgenossen in Verwunderung versetzte, war, dass Jules Verne im Mai 1888 auf der Liste der Republikaner kandidierte, da er an seinen Sympathien für das Haus Orléans nie­ mals Zweifel gelassen hatte. Zu seinem engsten Freundeskreis ge­ hörten aktive Royalisten wie der Graf Emile de Kératry, ehemaliger Polizeipräfekt von Paris, der 1871 die Flucht von Kaiserin Eugénie und der Familie von Orléans nach England begünstigt hatte, oder der Historiker Alfred Dubois de Jancigny, der seit 1877 Mitglied in der Akademie von Amiens war. Noch 1883 hatte er in einem Brief an Dumas über »diese widerwärtigen Republikaner«409 geschimpft, weil sie dem Grafen von Paris das Leben so schwer machten. War diese mit soviel Inbrunst vorgetragene Überzeugung nun auf ein­ mal hinfällig geworden? Die Durchsetzung der französischen Republik hatte 1880 mit der Verlegung der Regierung vom ehemaligen KönigshofVersailles nach Paris ihren symbolischen Ausdruck bekommen, nachdem der konservative Marschall Mac Mahon bei dem Versuch, die Monar­ chie zu restaurieren, als Staatspräsident im Vorjahr hatte zurück­ treten müssen. Die Gegensätze zwischen Republikanern und Mo­ narchisten waren keinesfalls ausgeräumt, aber dadurch entschärft worden, dass sich unter ersteren die um politischen Ausgleich bemühten »Opportunisten« unter Léon Gambetta durchgesetzt hatten, die die meisten Forderungen der Linken nach sozialen Reformen einer am praktischen Erfolg orientierten Realpolitik unterordneten. Unversöhnlich zeigte man sich allenfalls in der Frage der Exilgesetze für die Angehörigen des Hauses Orléans und in der Säkularisierung des Bildungswesens. Die Bedeutung der konservativen Opposition schwand angesichts der Auseinanderset­ 352

zungen unterschiedlicher Lager innerhalb der Republikaner, was bis zur Jahrhundertwende Instabilität und häufige Regierungs­ wechsel mit sich brachte. Von dieser Unsicherheit profitierte ein Mann namens Georges Boulanger, der als Kriegsminister der Jahre 1886 und 1887 eine wachsende Zahl von Anhängern jenseits der politischen Lager durch einen extremen Nationalismus hinter sich vereinigte. Der vor allem an die französische Armee gebundene Chauvinismus schwelte nach Boulangers Selbstmord 1891 weiter und erwies sich im Innern Frankreichs als kleinster gemeinsamer Nenner, auf den sich die ungeliebten Regierungen berufen konn­ ten, um im Äußeren mit verstärkter Kolonialpolitik Terrain zu ge­ winnen. Jules Verne betrieb — nach dem Vorbild seiner republikanischen Antagonisten — nichts weiter als einen »Opportunismus von rechts«, um ein rein administratives Mandat auszuüben, das durch eine Kandidatur auf der Liste seiner politischen Heimat nicht zu erlangen war. Vor seinem alten Freund Charles Maisonneuve in Nantes rechtfertigte er sich: »Meine einzige Absicht ist es, mich nützlich zu machen und bei der Umsetzung einiger städteplaneri­ scher Reformen zu helfen. Warum immer Politik und Christentum mit Fragen der Verwaltung vermischen? Du kennst mich zur Ge­ nüge, um zu wissen, dass ich, was die wesentlichen Punkte anbe­ trifft, niemals irgendeinem Einfluss unterworfen gewesen bin. (...) Glaube mir, dass ich meine Denkweise über die Exilgesetze nicht verbergen werde; ebenso bin ich fest entschlossen, bei jeder Gele­ genheit die Gewissensfreiheit eines jeden zu verteidigen.«410 Erst Ende Januar 1888 hatte Freund Robert Godefroy in einem Brief an Frédéric Petit diesem eine mögliche Kandidatur Vernes schmackhaft zu machen versucht. Petit war als Textilfabrikant in Amiens zu Reichtum gekommen, hatte 1864 die Freimaurerloge seiner Stadt und 1869 die republikanisch gesinnte Zeitung mit dem programmatischen Titel Le Progrès de la Somme gegründet — und sich in seinen verschiedenen politischen Funktionen allen Erwar­ tungen zum Trotz als moderater Taktiker erwiesen, was ihm in Ver­ nes Augen hohes Ansehen verschafft hatte. Anders als sein größter J5J

Rivale in den eigenen Reihen, Alphonse Fiquet, der — Textilfabri­ kant wie Petit — für eine radikale Republik stand, sich aber erst nach dessen Tod als Bürgermeister und Senator durchsetzen konnte. »Ich habe Verne gegenüber behauptet, der für Sie übrigens große Bewunderung hegt«, schrieb Godefroy an Petit, der 1880 ei­ genhändig Nonnen aus den städtischen Schulen herausgeworfen hatte, »dass Ihr Geist viel zu offen ist, als dass er sich an Kleinigkei­ ten aufhalten würde, wie beispielsweise seiner Meinung zur Tren­ nung von Staat und Kirche, die außer acht bleiben kann, da es das Gesetz übernommen hat, die Kommunen von dieser Last zu be­ freien. (...) Wenn Sie also einer Unterredung mit Verne zustim­ men, schreiben Sie ihm, dass er im Rathaus vorbeikommen möge; er wartet auf diese Einladung und hofft darauf.«411 Der Aussprache folgte Vernes Nominierung und am 6. Mai die Wahl. Am selben Tag hatte Le Progrès de la Somme Verne Schützen­ hilfe geben wollen und behauptet, Jules Verne sei gar kein Orleanist. Da es für eine direkte Erwiderung zu spät war, ließ Verne sein Dementi auf eilig gedruckten Flugblättern verbreiten und in einem Brief an den Redakteur veröffentlichen: »Ich weiß nicht, was es Ih­ rer Zeitung erlaubt hat zu meinen, dass ich jemals etwas an meinen politischen Vorstellungen geändert hätte, die die meines ganzen Le­ bens sind. Ich gehöre dem konservativen Lager an, und obgleich ich Konservativer bin, hat man mich auf die Liste des Herrn Bür­ germeisters mit dem Ziel aufgenommen, ein rein administratives Mandat zu erlangen. Diese Aufnahme gereicht, so scheint mir, Herrn Frédéric Petit voll und ganz zur Ehre, und ich glaube, als gu­ ter Bürger zu handeln, wenn ich ihm meine Unterstützung im Kampf gegen den städtischen Radikalismus anbiete. Nun, da keine Zweideutigkeit mehr zwischen den Wählern und mir besteht, ver­ bleibe ich hochachtungsvoll, Jules Verne.«412 Das von den entsetzten Parteigenossen mit Beklommenheit ge­ schluckte Bekenntnis sorgte weder für einen Eklat, noch schadete es Vernes Ansehen. War er am 6. Mai, so wie auch der Bürgermeis­ ter, lediglich in die engere Wahl gekommen, erfolgte in der Nach­ wahl am 13. Mai mit 8.591 von 14.000 Stimmen seine Aufnahme 354

in den Stadtrat, während Petit selbst mit 6.884 an letzter Stelle der Gewählten stand. Cécile Compère hat entdeckt, dass Verne bei der Nachwahl nicht nur an 25. Stelle auf der republikanischen Liste ge­ standen hatte, sondern — wie einige seiner zukünftigen Kollegen auch — zugleich an 16. Stelle auf der Liste des Patriotischen Pro­ tests, die für die Politik des General Boulanger antrat. Wahrschein­ lich handelte es sich dabei um ein mit dem Bürgermeister abge­ sprochenes Manöver, um bei einem befürchteten Wahlsieg des populären Boulanger den Schaden durch »gemäßigte U-Boote« in Grenzen zu halten.413 Derartige Doppelkandidaturen wurden ein paar Jahre darauf gesetzlich unterbunden. Einen Monat später fiel mit dem überraschenden Tod von Albert Deberly das Sprachrohr der Amienser Monarchisten fort, die zwar von da an keinen Fuß mehr aut den politischen Boden der Stadt bekommen sollten, sich aber bis in die Gegenwart in einigen Exemplaren erhalten haben. Unmittelbar nach seiner Wahl beantragte der Schriftsteller seine Aufnahme in den Ausschuss für kulturelle Angelegenheiten (4'' Commission), der für Bildung, Theater, Museen, Festlichkeiten und Straßenbenennungen zuständig war. Vier Jahre dauerte Vernes erstes Mandat; 1892, 1896 und 1900 wurde er mit immer größerem Zuspruch durch die Wähler in seinem Amt bestätigt. An den durchschnittlich einmal im Monat stattfindenden Sitzungen des Stadtrats nahm Verne regelmäßig teil, hielt sich aber mit Redebei­ trägen zurück, woran sich bis 1903 kaum etwas ändern sollte: Von 48 Sitzungen der ersten Amtszeit nahm der Schriftsteller an 41 teil, ergriffjedoch nur in 18 das Wort. Immerhin füllen die Debatten, in denen Jules Verne interveniert hatte, über 720 Seiten des städtischen Bulletins. Von Anfang bis Ende seiner ehrenamtlichen Tätigkeit war Verne ein Stadtrat, der auf den offiziellen Sitzungen eher reagierte und nachfragte, statt anzuregen, und nur selten Initiativen entwickelte. Seine stets gut vorbereiteten Wortmeldungen zeigen ihn alles an­ dere als ideologisch verbohrt, großsprecherisch oder um rhetori­ sche Effekte bemüht. Pragmatische und konkrete Fortschritte im Stadtbild von Amiens interessierten ihn mehr als politische Pro355

gramme, den Erhalt des kulturellen Angebots verteidigte er gegen soziale Gießkannenprojekte, wobei er sich gegen den Vorwurf ver­ wahrte, als überheblicher Bildungsbürger den armen Teil der Be­ völkerung vernachlässigen zu wollen. So arbeitete Verne neben sei­ ner Stadtratstätigkeit zusammen mit Honorine in verschiedenen Wohltätigkeitsvereinen mit, war von 1892 bis 1904 im Vorstand des Armenhilfswerks und verteidigte in öffentlichen Aufrufen Anfang 1890 die Einrichtung eines Nachtasyls für obdachlose Frauen, dem viele Bürger ablehnend gegenüberstanden, weil sie fürchteten, auf diese Weise »Gesindel« in die Stadt zu locken. Trotzdem zeigt die­ ses Engagement Jules Verne als einen Verfechter jener Ideologie, welche die Opfer des sozialen Elends, das im Zuge der Industria­ lisierung entstanden war, durch barmherzige Almosen ruhig zu stellen suchte, statt einschneidende Maßnahmen zu ergreifen, um die Ursachen der Verarmung zu beseitigen. Kleinhändler und In­ dustrielle wurden durch die Politik der Stadt begünstigt, die Masse der Industriearbeiter fand erst Beachtung, als sie 1893 und vor al­ lem 1898/99 mit Streiks auf sich aufmerksam machte, für eine Zeit lang die Straßen beherrschte und zu einer Bedrohung für die bür­ gerliche Mitte wurde. Weitaus stärker begeistern konnte sich Verne für Diskussionen um Straßenbenennungen und architektonische Maßnahmen unter ästhetischen Gesichtspunkten, wie etwa die Ausrichtung der Fas­ sade der Kirche von Saint-Rémi, die im Herbst 1888 die Gemüter erhitzte. Am 13. Mai 1891 wandte er sich mit dem für seine Ver­ hältnisse weit gehenden und hartnäckig verteidigten Vorschlag an die Kollegen, Gemälde aus dem Rathaus ins Museum zu überfüh­ ren: »Ich glaube immerhin, dass mein Vorschlag im Interesse der Öffentlichkeit ist, und hoffe, von mehreren meiner Kollegen Unterstützung zu bekommen.«414 Vernes generelle Zurückhaltung während der Debatten verdeckt, dass seine Haupttätigkeit im Hintergrund des Kulturausschusses und in nicht weniger als sech­ zehn mehr oder minder regelmäßig tagenden Sonderausschüssen stattfand.415 Seinen Einstand in der Öffentlichkeit hatte der frisch­ gebackene Stadtrat am 13. August 1888 mit einer Rede zur Preis356

Verleihung an der Knabenschule von Noyon, deren Text nicht überliefert ist. Was wohl nicht weiter schlimm ist, denn der veröf­ fentlichte Vortrag aus demselben Anlass im Folgejahr glänzt nicht unbedingt durch Originalität. Interessanter ist der Rechenschafts­ bericht, den Jules Verne in seiner Eigenschaft als Vizepräsident des Schulhilfswerks am 12. Mai 1889 hielt, denn hier galt es nach der Aufzählung von Geld- und Kleiderspenden Stellung zu beziehen zum republikanischen Bildungsideal, eine Aufgabe, der sich Verne mit einem eleganten konservativen Schlenker entledigte: »Frankreich feiert gerade den hundertsten Geburtstag von 1789. Dieses Datum ist mit dem bedeutendsten Ereignis der modernen Zeiten verbunden. Aus ihm hat sich jener demokratische Geist als Grundlage unserer aktuellen Gesellschaft entwickelt, der nunmehr jeder Regierung gebietet, wie immer diese auch aussehen mag. Eine Konsequenz dieses Geistes ist selbstverständlich die Elemen­ tarbildung für alle, die allen unentgeltlich gewährt wird und die je­ dem die Möglichkeit bietet, in der sozialen Ordnung durch eigene Leistung aufzusteigen. Die Leiter lehnt an der Wand: Alle können sie erklimmen. {Applaus.) (...) Wir müssen unsere Kinder in ihren Pflichten gegenüber sich selbst, ihren Eltern und ihresgleichen unterweisen. Den jungen Mädchen, aus denen einmal Frauen werden, müssen wir ihre Pflichten im Haushalt und den Jungen, aus denen Männer werden, ihre Pflichten gegenüber der Hei­ mat vermitteln. Vor allem müssen wir sie vor dem Materialismus bewahren, >dieser Krankheit des menschlichen Geistesdass sie besonders eine demokratische Bevölkerung gefährdeth (...) Dieses Prinzip zu ver­ stehen und auch anzuwenden wird den Gang der Menschheit in die Zukunft sichern. Der Fortschritt darf nicht einfach in einer Umwandlung des Missbrauchs bestehen. Er würde seinem Namen nicht mehr gerecht, wenn er die Seele nicht auch zum Wahren, Gerechten, Schönen erhebt. {Applaus.)«416 Fünf Wochen darauf, am 23. Juni, weihte Jules Verne mit einer flammenden und humorvollen Rede den neuen Stadtzirkus ein ein gelungener Schachzug von Bürgermeister Petit, der unter er­ 357

heblichen Druck geraten war, weil das Prachtgebäude das Dreifa­ che der ursprünglich angesetzten Kosten verschlungen hatte und nach Urteil seiner Kritiker nicht nur grottenhässlich, sondern auch einsturzgefährdet war. ln der erhitzten Stimmung wollte Petit sich weder die Finger verbrennen noch die Eröffnung dem Architek­ ten Emile Ricquier überlassen, der nicht weniger im Kreuzfeuer stand. Jules Verne dagegen, so dachte Petit zu Recht, würde es ge­ lingen, als Schöngeist die Querulanten in Zaum zu halten. Man tut Verne zu viel der Ehre an, wenn man den Zirkus seiner Initiative zuschreibt, denn die Entscheidung zum Bau war bereits im Mai 1887 ohne sein Zutun gefallen. Nichtsdestoweniger verteidigte er den steinernen Zirkus, der eine hinfällige Holzkonstruktion an der Place Longueville (heute Place du Cirque) ersetzte, und dies aus politischen, ästhetischen und praktischen Gründen. Und aus Überzeugung, denn Verne war ein unbeirrbarer Besu­ cher von Zirkus- und Akrobatenvorstellungen, die in Amiens im Juli auf dem Jahrmarkt von Saint-Jean stattzufmden pflegten, wo Ende der 90er Jahre auch die ersten kinematographischen Vorstel­ lungen erfolgten. Nun konnten bis zu 3.000 Zuschauer auf sieb­ zehn Rängen auch in der kühlen Jahreszeit Platz nehmen, ohne von der nasskalten Witterung der Picardie beeinträchtigt zu wer­ den. Vernes Rede wurde von einem Konzert mit Repertoirestücken von Mendelssohn, Meyerbeer, Gounod und anderen umrahmt, die eigentliche Inbetriebnahme des Neubaus fand drei Tage später durch das Zirkusunternehmen Rancy auf seiner alljährlichen Tour­ nee durch Frankreich statt. Im Vorjahr noch war die Familie Rancy im alten Holzzirkus aufgetreten und hatte am 10. Juli mit dem Ver­ wandlungskünstler Cascabel im Mittelpunkt ihres Programms einen spektakulären Erfolg errungen. Der Feuilletonist des Journal d’Amiens mit dem passenden Pseudonym Nemo berichtete voller Begeisterung zwei Tage darauf: »Das Publikum feierte gestern die­ sen originellen Artisten, und wir glauben behaupten zu dürfen, dass es niemanden in Amiens geben wird, der den unglaublichen Ver­ wandlungen von Cascabel nicht de visu wird beiwohnen wollen. Er 358

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