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German Pages 342 [343] Year 2019
HEGEL-STUDIEN BEIHEFT 68
HEGEL-STUDIEN In Verbindung mit Walter Jaeschke und Ludwig Siep herausgegeben von Michael Quante und Birgit Sandkaulen Beiheft 68
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
SUBJEKT UND PERSON BEITRÄGE ZU EINEM SCHLÜSSELPROBLEM DER KLASSISCHEN DEUTSCHEN PHILOSOPHIE
Herausgegeben von OLIVER KOCH und JOHANNES-GEORG SCHÜLEIN
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3771-2 ISBN eBook 978-3-7873-3772-9
ISSN 0440 – 5927 © Felix Meiner Verlag Hamburg 2019. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: 3W+P GmbH, Rimpar. Druck und Bindung: Beltz, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.
INHALT
Zur Einleitung von Oliver Koch und Johannes-Georg Schülein . . . . . . . . . . . . . .
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CHARLES LARMORE Das philosophische Interesse an Selbsterkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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BRADY BOWMAN Spontaneität, Geschöpflichkeit, Unendlichkeit. Zu den Vorbedingungen des Cogito in Descartes’ Meditationen . . . . . . . .
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PETER ROHS Warum der Geist nur als Erscheinung kausal wirksam sein kann . . . . . . .
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DANIEL ELON Maimon und Bouterwek über Vernunft und Glauben . . . . . . . . . . . . . .
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LUCA ILLETTERATI Die Logik des Lebens. Hegel und die Grammatik des Lebendigen . . . . .
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JOHANNES-GEORG SCHÜLEIN Das Absolute, das Leben und das Bedürfnis der Philosophie. Zu Hegels philosophischem Programm in den frühesten Jenaer Vorlesungsfragmenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 LUCA CORTI Hegels Anthropologie im Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 PIRMIN STEKELER-WEITHOFER Individuum, Subjekt, Person: Hegels Logik und die begrifflichen Probleme der Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 FRANCESCA MENEGONI Der Begriff der Achtung für die Person bei Kant und Hegel . . . . . . . . . . 185
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Inhalt
JEAN-FRANÇOIS KERVÉGAN Konstitution der Subjektivität und Institutionen: Das „Recht der Welt“ . 201 SALLY SEDGWICK Maintaining Individuality in Hegelian Ethical Life . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 ANDREAS ARNDT Individualität bei Hegel und Marx . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 MAJK FELDMEIER „… das furchtbare darin, sich selbst unsterblich zu denken“. Kierkegaards Referenz auf Jacobi in Stadien auf des Lebens Weg . . . . . . . . 241 ÁGNES HELLER Beiträge zur Philosophie der autobiographischen Erinnerung . . . . . . . . . 261 OLIVER KOCH „Das Ich aber ist grundsätzlich ein vereinzeltes“. Wolfgang Cramers Überbietung des transzendentalen Idealismus als Ontologie des konkreten Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 JÜRGEN STOLZENBERG Über Humor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 GUIDO KREIS Das musikalische Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
Für Birgit Sandkaulen
ZUR EINLEITUNG
…hat der Mensch Vernunft; oder hat Vernunft den Menschen? F.H. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza… (JWA ,: )
„Nur die Vernunft ist ihr ewig; die Individualität aber muss unaufhörlich absterben.“ – Mit diesen berühmten Worten gibt Johann Gottlieb Fichte in der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre () einen tiefen Einblick in das Wesen seiner Philosophie. Allein die Vernunft, so erläutert er diesen Gedanken gegen die Männer, denen „ihre individuelle Person […] der letzte Zweck ihres Handelns“ ist, sei der wahre „Zweck“, die „Persönlichkeit“ aber bloß ein „Mittel“, „eine besondere Weise, die Vernunft auszudrücken, die sich immer mehr in der allgemeinen Form derselben verlieren muß“ (GA I,: f.). Bereits zwei Jahre zuvor hatte Fichte in diesem Sinne in einem Brief betont, dass sein „absolutes Ich“ selbstverständlich nicht das „Individuum“ sei (JBW I,: ). Das Ich, was er meint, ist vielmehr, so heißt es schon in § der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (/), „[d]asjenige dessen Seyn (Wesen) blos darin besteht, daß es sich selbst als seyend, sezt“, d.i. das „absolute Subjekt“ (GA I,: ). Aus der allgemeinen Struktur der Subjektivität, „aus der Möglichkeit des Ich“, lässt sich nach Fichte das Individuum, die ‚Persönlichkeit‘ deduzieren – und zwar als „Nothwendigkeit einer Beschränktheit desselben überhaupt“ (GA I,: ). Bestimmtheit und Einzelheit sind mithin nach Fichte begriffliche Momente der Ichheit, der Subjektivität selbst. Die jeweilige Bestimmtheit, die ein Ich zu einem so und so bestimmten, zu „diese[r] bestimmte[n] Person“ mache, entziehe sich als „das absolut Zufällige“, als „das bloß Empirische unserer Erkenntniß“, der philosophischen Ableitbarkeit (GA I,: ). Sie bleibt aus der Perspektive der Subjektivität ein blinder Fleck. Wie Hegels wenigstens ebenso bekanntes programmatisches Diktum aus der Vorrede der Phänomenologie des Geistes () unterstreicht, wonach „alles darauf an[komme], das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subject aufzufassen und auszudrücken“ (GW : ), trägt nicht nur die Wissenschaftslehre, sondern die gesamte Philosophie nach Kant wesentlich die Signatur der Subjektivität. Doch, so zeigen bereits die Äußerungen Fichtes an, dieser Signatur der Subjektivität ist zugleich wesentlich die Beziehung und konzeptionelle Spannung Hegel-Studien Beiheft · © Felix Meiner Verlag · ISSN -
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zum einzelnen, zum real und praktisch handelnden Subjekt, zum Subjekt als ‚Persönlichkeit‘ oder ‚Person‘, eingeschrieben. Der junge Schelling schildert diese Spannung in Vom Ich als Princip der Philosophie () samt der drastischen Konsequenz, die er ähnlich wie Fichte daraus zieht, pointiert und plastisch: „Im endlichen Ich ist Einheit des Bewußtseyns, d. h. Persönlichkeit. Das unendliche Ich aber kennt […] kein Bewußtseyn und keine Einheit des Bewußtseyns, Persönlichkeit. Mithin kann das lezte Ziel alles Strebens auch als Erweiterung der Persönlichkeit zur Unendlichkeit, d. h. als Zernichtung derselben vorgestellt werden.“ (AA I,: ) Wie systematisch grundlegend das Spannungsfeld von Subjekt und Person tatsächlich ist, zeigt schließlich ein Blick auf den Adressaten des zitierten Briefes Fichtes: Friedrich Heinrich Jacobi. Dieser pflichtet Fichte in seinem noch im selben Jahr veröffentlichten Brief Jacobi an Fichte zwar bei, dass „jene unpersönliche Persönlichkeit; jene bloße Ichheit des Ich ohne Selbst […] nothwendig zum Grunde gelegt werden müssen, wenn – ein allgemeingültiges, streng wißenschaftliches System“, genauer, da Jacobi an dieser Stelle die Ethik Kants und Fichtes fokussiert: ein „streng wißenschaftliches System der Moral zu Stande kommen soll“ (JWA ,: ). Zugleich erhebt er gegen dieses „Lebendigtodte der Vernünftigkeit“, das „leer und reine, nakt und bloße Ich“ im Namen des konkreten Menschen den entschiedensten Einspruch (JWA ,: ): Reine Vernunft, bloße Subjektivität, so Jacobi in der „Zugabe an Erhard O.“ zu Eduard Allwill’s Briefsammlung (), die er auszugsweise seinem Schreiben an Fichte noch einmal beigibt, könne nicht „der wirklichen Person ihren eigenthümlichen individuellen Werth ertheilen“ (JWA : ). Mit dem Insistieren auf die Person zeigt sich bei Jacobi eine gegenüber Fichte wesentliche Verschärfung des Problems des Verhältnisses von Subjekt und Person, indem er zugleich ihr Verhältnis umkehrt: Statt das personale Individuum (wenigstens hinsichtlich der Form der Individualität) aus dem absoluten Ich, aus der Struktur der Subjektivität abzuleiten, gilt, wie Jacobi am . März an Jean Paul schreibt, für seine Philosophie vielmehr: „Individualität ist ein Fundamentalgefühl; Individualität ist die Wurzel der Intelligenz und aller Erkenntnis; ohne Individualität keine Substanzialität, ohne Substanzialität überall nichts. […] Reine Selbstheit ist reine Derselbigkeit ohne Der. – Der oder das ist nothwendig immer ein Individuum. Also liegt der Identität Substanzialität, der Substanzialität Individualität schlechterdings zum Grunde.“(JBW I,: f.) Es ist vor allem Birgit Sandkaulen, die nicht nur die komplexe Architektur von Jacobis Denken als eine Philosophie der Person systematisch profiliert, sondern auch wiederholt nachgewiesen hat, dass Jacobis im Namen der konkreten Person erhobener Einspruch gegen ein philosophisches System, gerade auch gegen ein auf dem reinen Ich bzw. der reinen transzendentalen Subjektivität begründetes System, für die Entwicklung der gesamten nachkantischen Philosophie von entscheidendem, ja epochalem Einfluss war. Sein Insistieren auf der Irreduzibilität des
Zur Einleitung
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individuellen Personseins ist eine philosophische Provokation ersten Ranges, die in der klassischen deutschen Philosophie und über sie hinaus nicht einfach zu überwinden ist und bis heute ein Anstoß bleibt, grundsätzlich nach dem zu fragen, was es eigentlich heißt, ein Subjekt, eine Person, ein Individuum, ein Mensch zu sein. Weggefährten, Schüler und Kollegen von Birgit Sandkaulen haben sich zusammengefunden, um ihr mit dem vorliegenden Band herzlich für die vielen Anregungen und Einsichten zu danken, die sie aus ihren Veröffentlichungen und gemeinsamen Gesprächen gewonnen haben. Die Autorinnen und Autoren haben sich für ihre Beiträge teils direkter, teils indirekter von den philosophischen Arbeiten Birgit Sandkaulens anregen lassen und das breite Diskussionsfeld durchmessen, das sich im Spannungsfeld von Subjekt und Person eröffnet und um deren Fassung und Klärung die Philosophie nach Kant auf vielfältige Weisen ringt. Die Beiträge widmen sich entweder direkt Subjekt und Person oder aber grundlegenden Begriffen und Konzepten, die unmittelbar und intim mit ihnen verbunden sind. Neben dem Verhältnis der Allgemeinheit und Individualität des Ich betrifft dies etwa die Weisen des epistemischen Selbstbezugs, die Formen von Selbstgewissheit und die Rolle, die die Sprache dabei spielt. Es betrifft ferner die Frage, wie das Verhältnis des theoretischen und praktischen Selbst- und Weltbezugs, von Erkennen und Handeln, Verstand und Wille zu begreifen ist. Damit zusammen hängt auch die Frage nach Idealismus und Realismus. Einer Vielzahl weiterer Begriffe und Streitfragen, an deren Klärung die Philosophie nach Kant sich abarbeitet, ist die Signatur von Subjekt und Person einbeschrieben. Schon der bereits zitierte Brief Fichtes an Jacobi vom . August weist auf zentrale Motive wie etwa die Verfassung des Menschen als „Sinnenwesen“ hin (JBW I,: ). Dieser Ausdruck deutet auf die leibgeistige Einheit des Menschen ebenso hin wie auf seinen Status als Rechtssubjekt, als lebendiges Wesen, das seine Identität allererst innerhalb einer Gemeinschaft, in Anerkennungsverhältnissen und selbstgeschaf Zu Birgit Sandkaulens einschlägigen Büchern zählen Ausgang vom Unbedingten. Über den Anfang in der Philosophie Schellings (Göttingen, ), Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis (München, ) und Jacobis Philosophie. Über den Widerspruch zwischen System und Freiheit (Hamburg, ). Zu Fichte und Jacobi im Speziellen vgl. darüber hinaus u. a. „Ichheit und Person. Zur Aporie der Wissenschaftslehre in der Debatte zwischen Fichte und Jacobi“ (in: System und Systemkritik um , hg. v. Ch. Danz u. J. Stolzenberg, – . Hamburg, ). Zu Schelling und Jacobi vgl. u. a. „Dieser und kein anderer? Zur Individualität der Person in Schellings ‚Freiheitsschrift‘“ (in: „Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde“. Schellings Philosophie der Personalität, hg. v. Th. Buchheim u. F. Hermanni, – . Berlin, ) sowie „Daß, was oder wer. Jacobi im Diskurs über Personen“ (in: Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit, hg. v. W. Jaeschke u. B. Sandkaulen, – . Hamburg, ). Zu Hegel und der Frage nach Subjekt und Person vgl. u. a. „Die Ontologie der Substanz, der Begriff der Subjektivität und die Faktizität des Einzelnen. Hegels reflexionslogische ‚Widerlegung‘ der Spinozanischen Metaphysik“ (in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus/ International Yearbook of German Idealism (): – ) und „Modus oder Monade. Wie wirklich ist das Individuum bei Hegel?“ (in: Wirklichkeit. Beiträge zu einem Schlüsselbegriff der Hegelschen Philosophie, hg. v. L. Illetterati u. F. Menegoni, – . Frankfurt a. M., ).
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fenen Institutionen, voll ausbildet. Mit dem Kontrast zwischen Allgemeinheit und Ewigkeit der Subjektivität einerseits und der konkreten, vergänglichen Individualität der Person andererseits ist ferner nicht nur das Feld von Metaphysik und Religion eröffnet, sondern auch das der Kunst als Reflexionsmedium von Subjektivität, in dem nicht zuletzt auch gebrochene Formen einer Aussöhnung von Individualität und Allgemeinheit, Bedingtheit und Unbedingtheit des menschlichen Seins erprobt werden. Die Vielfalt der Phänomene, Konzepte und Perspektiven, die im Folgenden zur Sprache kommen, dokumentieren, wie breit und reich der Kontext ist, in dem die Arbeiten von Birgit Sandkaulen stehen und wirksam werden. Ihr ist dieser Band gewidmet. Als Herausgeber möchten wir uns herzlich bei allen Autorinnen und Autoren für ihre Mitwirkung und die vertrauensvolle Zusammenarbeit bedanken. Tief bewegt haben wir während der Redaktion des Bandes vom plötzlichen Tod Ágnes Hellers erfahren müssen. Mit ihr hat die Welt eine beeindruckende Persönlichkeit und die Philosophie eine große und engagierte Denkerin verloren. Wir sind sehr dankbar, dass sie sich an diesem Band sogleich beteiligen wollte, als sie im Juni bei ihrer Bochumer Hegel-Vorlesung, zu der Birgit Sandkaulen sie eingeladen hatte, von ihm erfuhr. Wir möchten uns herzlich bei Josef Mitterer für die freundliche Kommunikation und die Zusicherung bedanken, dass der Druck ihres Textes ganz in ihrem Sinne wäre und ihm nichts im Wege steht. Wir möchten auch Daniel Elon, Majk Feldmeier, Markus Gante, Andreas Giesbert, Yoonoh Kye und Nadine Schönemann für ihre tatkräftige und ausgesprochen wertvolle Mithilfe bei der Manuskripterstellung nicht nur kollegial, ja freundschaftlich und herzlich danken. Ein besonderer Dank geht schließlich an Michael Quante sowie an den Felix Meiner Verlag für die Aufnahme des Bandes in die Reihe der Hegel-Studien Beihefte. Den Auftakt des Bandes bildet der Beitrag von Charles Larmore, der kritisch den in der Neuzeit vorherrschenden, am privilegierten Zugang der Ersten-PersonPerspektive orientierten Begriff der Selbsterkenntnis hinterfragt. Dabei legt er seine aus dem epistemologischen Programm absoluter Wissensbegründung resultierenden fragwürdigen philosophischen Wurzeln frei und plädiert in Anknüpfung an Vorstellungen Platons und Hegels für ein objektives Verständnis im Modus der dritten Person. Danach unterscheide sich Selbsterkenntnis nicht grundlegend von der Art und Weise, wie wir die Gefühle, Überzeugungen und Wünsche Anderer erkennen. Selbsterkenntnis beruhe m.a.W. auf der Beobachtung des (eigenen) Verhaltens (im weiten Sinne) und dem Rückschluss auf die diesem zugrundeliegenden Überzeugungen und Wünsche. Denn, so Larmore, in der Perspektive der ersten Person verfügen wir über keine epistemische Selbstgewissheit, d. h. keine unmittelbare Vertrautheit mit unseren mentalen Zuständen. Vielmehr vollziehen wir praktische Festlegungen und Bekundungen, auf eine bestimmte Art denken und handeln zu wollen. Diese praktische Selbstbeziehung qua Bekundung sei
Zur Einleitung
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jedoch nicht zu verwechseln mit ihrem Gewahrwerden, das allererst Selbsterkenntnis sei. Dieses Gewahren vollziehen wir als Interpretation unserer Bekundungen. Eine solche interpretierende Selbstzuschreibung bestimmter mentaler Zustände, Überzeugungen und Wünsche sei prinzipiell aber auch Anderen möglich, sofern sie unsere Bekundungen beobachten. Stellt Selbsterkenntnis aber keine privilegierte, erstpersonale, innerlich-unmittelbare Erkenntnisform dar, sondern ein drittpersonales Wissen durch Beweise und Folgerungen, sollten wir nach Larmore zweierlei anerkennen: () Selbsterkenntnis bzw. Erkenntnis des Erkennens setze immer schon ein substantielles Wissen über die Welt und den Ort des Geistes in ihr voraus, so dass sich die Natur des Geistes bzw. des Selbst nur zusammen mit der Natur der Welt bestimmen lasse. () Das wirklich interessante Problem von Selbsterkenntnis bestehe in den Fällen, in denen es schwer sei, festzustellen, was wir eigentlich glauben und wünschen. Denn hier zeigt sich nach Larmore deutlich, dass Selbsterkenntnis ein komplexer Prozess ist, unsere eigenen Gedanken über unsere Person und unser Wissen von der Welt mit der Meinung anderer auszugleichen. Brady Bowman untersucht bei Descartes die der im ‚cogito‘ gefundenen unbezweifelbaren Selbstgewißheit vorausliegenden Bedingungen. Dabei arbeitet er () die grundlegende Bedeutung des Willens als Vermögen der Zustimmung und Zustimmungsenthaltung zu Ideen des Verstandes und () der Idee Gottes und des Bewusstseins einer depotenzierten Gottesebenbildlichkeit des endlichen Ich qua Wille heraus. Die zentrale Rolle des Willens drücke sich dabei zunächst in der methodisch leitenden Willensbekundung aus, die Macht der Gewohnheit und der Spontaneität unmittelbarer Überzeugungen vorübergehend zu suspendieren und nichts Falschem oder Trügerischem zuzustimmen. Bei der kritischen Prüfung meiner Überzeugungen gehe es um die Freilegung des meiner spontanen und freiwilligen Zustimmungsfähigkeit wahrhaft Naturgemäßen. Die Unbezweifelbarkeit der Selbstgewissheit bedeute damit, dass der Gedanke ‚Ich bin‘ keiner anderen Macht, ihn zu erfassen und zu bejahen, bedürfe als der Macht, durch die ich selbst geistig existiere. Bowman plädiert für eine kompatibilistische Interpretation von Descartes’ Willenstheorie: Die Freiheit des Willens fordere keine Indifferenz zwischen Entscheidungsmöglichkeiten, sondern die Freiheit der Beistimmung korrespondiere vielmehr der Neigung zu einer Option. Als durch keine fremde Macht zu verhindernde Bejahung ist die Selbstgewissheit dabei, so legt Bowman dar, intim mit dem Bewusstsein eines fremden absolut selbständigen Willens, der Idee eines allmächtigen Schöpfers als seiner Bedingung und Ziel seines Strebens verbunden. In der aus dem willentlichen Entschluss zur Erkenntniskritik resultierenden Hervorbringung meiner Selbstgewissheit erfahre ich meine relative Ebenbildlichkeit zur absoluten Schöpfungsmacht Gottes. Gegen den Epiphänomenalismus und gegen naturalistische Reduktionismen in der Leib-Seele-Diskussion ebenso wie gegen einen Substanzendualismus verteidigt
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Peter Rohs im kritischen Anschluss an Kants Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich die Überzeugung einer kausalen Wirksamkeit des Mentalen. Nach Rohs lassen sich die für die Debatte grundlegenden, aber scheinbar widersprüchlichen Annahmen der kausalen Geschlossenheit des Physischen, der Wesensdifferenz von Geistigem und Physischem und der kausalen Wirksamkeit des Willens auf körperliche Vorgänge genau dann miteinander vereinbaren, wenn das Mentale als phänomenale Realität, das Physische aber als transzendente, unabhängig vom Denken existierende Realität verstanden werden. Zwar ist nach Rohs in diesem Fall ausgeschlossen, dass physische Veränderungen direkt und allein durch mentale Ursachen hervorgerufen werden könnten. Akzeptiere man die Existenz von Phänomenen, die sich nicht allein aus physischer Kausalität verstehen lassen, z. B. Sprechakte, die zu ihrer vollständigen Erklärung die Kenntnis der Sprecherintentionen und damit Begriffe von mentalen Zusammenhängen und Sinnrelationen voraussetzen, widerspreche die Anerkennung eines Zusammenspiels von mentalen und physischen Ursachen, von Tätigkeiten und Naturprozessen nicht der kausalen Geschlossenheit des Physischen. Daniel Elon untersucht die Auseinandersetzung Friedrich Bouterweks, des ersten Herausgebers von Salomon Maimons Nachlass, mit Maimons Konzeption von Vernunft und Glauben und die sich daraus ergebenden Differenzen hinsichtlich der Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis und Individuum und Allgemeinem. Während Maimon, so zeigt Elon, einen radikal-rationalistischen Philosophiebegriff vertritt, der vorsieht, in einer unendlichen Approximationsbewegung allen (epistemischen) Glauben durch Vernunft, d.i. durch die gänzliche intellektuelle Durchdringung des Erkenntnisgegenstandes, aufzuheben, verteidigt Bouterwek in Anknüpfung an Jacobi den philosophischen Primat des Glaubens im Sinne einer nur im Gefühl zugänglichen Realitätsgewissheit. Dem korrespondieren nach Elon weitere grundlegende systematische Differenzen Bouterweks zu Maimon. Diese bestünden vor allem in der Anerkennung der philosophischen Vorrangstellung des Praktischen vor dem Theoretischen, insofern die unmittelbare Realitätsgewissheit nach Bouterwek aus dem aktiven, handelnden Umgang des Subjekts mit dem Realen entspringe. Zudem behaupte Bouterwek gegen Maimon ebenso den Vorrang des Individuellen vor dem Allgemeinen, da der Handelnde stets und wesentlich ein konkretes Individuum sei. Luca Illetterati betrachtet den Begriff ‚Leben‘ als einen Schlüsselbegriff der klassischen deutschen Philosophie. Er argumentiert dafür, dass es ein Fehler wäre, diesen Begriff allein als eine biologische Kategorie oder aber nur als eine Metapher für geistige Prozesse zu gebrauchen. Dem Lebensbegriff eigne vielmehr die kritische Funktion, sämtliche Dualismen wie Seele/Körper, Denken/Welt und Geist/ Natur zu überwinden. Im Rekurs auf Schiller, Herder, Goethe und auch Fichte, v. a. aber im Rückgriff auf Jacobi, arbeitet Illetterati im Sinne einer Grundlage heraus, dass ‚Leben‘ um als etwas betrachtet wird, das sich der begrifflichen
Zur Einleitung
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Erfassung entzieht. Kant in der teleologischen Urteilskraft und auch der junge Hegel, etwa in seinen Frankfurter Entwürfen, teilten diesen Befund. Zwar scheine Hegel die Unbegreifbarkeit des Lebens aufheben zu wollen, wenn er das Leben in der Wissenschaft der Logik als eine Kategorie behandelt. Wie Illetterati zeigt, ist aber gerade die Pointe, dass Hegel dem Leben eine widersprüchliche Dynamik zuspricht, die sich weiterhin nicht auf eine einfache Weise begrifflich erfassen lasse. Hegel versuche vielmehr, die reflektierende Logik der prädikativen Sprache zu überwinden und eine Form philosophisch-begrifflicher Rede zu entwickeln, die dem widersprüchlichen Charakter des Lebens gerecht zu werden vermag. Das Denken des Lebens bleibe für Hegel insofern ein aporetisches Denken. Gegen harmonistische Auffassungen beinhalte das Leben für ihn schließlich auch existentielle Erfahrungen wie Zerrissenheit und Schmerz. Sobald es alle Negativität verliere, höre das Leben auf und es bleibe nur noch der Tod. Aus den frühesten Vorlesungsfragmenten, die aus Hegels Jenaer Zeit überliefert sind, entwickelt Johannes-Georg Schülein die These, dass das Hegel’sche System insgesamt von einem Interesse an der menschlichen Lebenswelt und -praxis angetrieben ist. Grundsätzlich gelte zwar, dass das Leben nach Hegel nicht vom individuellen, sondern vom Standpunkt des Absoluten aus zu führen sei. Dies stehe aber nicht per se im Widerspruch zur lebensweltlichen Relevanz, die Hegel reklamiert. Der Standpunkt des Absoluten sei recht besehen nicht als ein Punkt, sondern als ein Ganzes zu verstehen, das in Hegels System zur Darstellung komme und dem Anspruch nach die gesamte natürliche sowie geistige Lebenswelt der Menschen zu erfassen suche. Der Standpunkt des Absoluten als eines Ganzen sei von Hegel ferner in einem spezifischeren Sinn als eine allgemeine geistig-kulturelle Welt konzipiert, als deren Teil sich das Individuum begreifen lernen müsse. Als Teil dieser allgemeinen geistigen Welt stünden dem Individuum sodann kulturell etablierte Praxen und gesellschaftlich gewonnenes Wissen zur Verfügung, um sein Leben zu meistern. Schülein argumentiert dafür, dass die Hegel’sche Systemphilosophie zu Recht eine lebensweltliche Relevanz für sich beanspruchen kann, verzeichnet jedoch auch kritisch deren Grenze. Sie liege dort, wo das Individuum als Individuum auftrete und sich entweder gegen den Standpunkt des Absoluten sperre oder sich zwar auf diesen Standpunkt begebe, dort aber nicht wiederfinde, was als ein unhintergehbarer Teil seiner individuellen Lebenswirklichkeit betrachtet werden muss. Luca Corti wendet sich dem anthropologischen Auftakt der Hegel’schen Philosophie des Geistes zu, deren Thema die Bestimmungen endlicher Subjektivität sind, die als Basis der höheren Formen des Geistes fungieren. Die grundlegende Bedeutung, die Hegel der Anthropologie in seiner Geistphilosophie einräumt, deutet er im Kontext einer anthropologischen Wende, die in der philosophischen und naturwissenschaftlich informierten Diskussion um zunehmend Gestalt gewonnen habe. Die systematische Grundfrage ist hierbei, inwieweit Hegel eine
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naturalistische Perspektive auf den Menschen einnimmt. Wie Corti durch die historische Kontextualisierung des Hegel’schen Textes zeigt, grenzt Hegel sich erstens von Kants nicht-empirischer und anti-naturalistischer Auffassung der Anthropologie ab. Zugleich interessiere Hegel sich zweitens, wie seine Bibliothek belege, in hohem Maße für die empirisch ausgerichteten und naturalistisch inspirierten anthropologische Ansätze seiner Zeit, wie etwa die Herders und Platners. Drittens, argumentiert Corti, sei Hegel aber dennoch kein naturalistischer Denker. Er kritisiere das bloße Sammeln und Aggregieren von empirisch gewonnenen Erkenntnissen als philosophisch unzureichend, denn es fehle ihm die Notwendigkeit. Indem er die natürlichen und geistigen Aspekte, die ein verkörpertes endliches Subjekt besitzt, in einem notwendigen Zusammenhang darzustellen versuche, sei sein Ansatz mit dem Bonnets und Condillacs verwandt, was Hegel jedoch zu verschleiern versucht habe. Pirmin Stekeler-Weithofer macht im kontrovers diskutierten Begriffsfeld von ‚Person‘, ‚Individuum‘ und ‚Subjekt‘ Vorschläge zu einem kanonischen Gebrauch dieser Wörter. ‚Subjekt‘ sei ich bereits als handelnder Akteur und ‚Individuum‘ aufgrund der Unteilbarkeit meines Leibes. Personale Identität setze hingegen ein denkendes, d. h. ein sprachlich artikuliertes und evaluatives tätiges Selbstverhältnis zu den Möglichkeiten meines Seins und damit den Erwerb eines mit Anderen geteilten Allgemeinwissens voraus. Während Subjekt- und Individuum-Sein mir von Geburt natürlicherweise zukomme, müsse ich mich zum Sein als Person allererst bilden. Eine Person bedürfe m.a.W. der Fähigkeit, eine gewisse Homogenität ihrer Überzeugungen, Lebensäußerungen und Handlungen selbst zu gestalten. Sowohl bei personaler Identität als auch bei Gruppenidentitäten warnt Stekeler zugleich vor der Illusion einer wirklichen Homogenität. Vielmehr habe bereits Hegel gezeigt, dass Identität die Abstraktion von Unterschieden voraussetze, die Rede von Gleichheit also reflexionslogisch konstituiert sei und ein normatives Element enthalte. Die Rede von ‚Person‘ sei letztlich nur in Relation zu relevanten Rollen, Statusfunktionen und Anerkennungsbeziehungen innerhalb funktionierender sozialer Gemeinschaften und vor allem des Staates sinnvoll, der als System aller rechtlich stabilisierten Institutionen die eigentliche Vermittlung zwischen Person und Menschheit leiste. In ihrer Analyse der Achtung arbeitet Francesca Menegoni eine Kontinuität zwischen der moralphilosophischen Position Kants und dem sozialphilosophischen Ansatz Hegels heraus. Sie zeigt zunächst bei Kant, inwiefern Achtung wesentlich für das ist, was eine Person ausmacht. Achtung verstehe Kant als Anerkennung der Würde der menschlichen Person, und die Würde der menschlichen Person gründe in deren autonomer Selbstbestimmung als moralisches Subjekt. Eine Person sein heißt für Kant mithin ein selbstbestimmt handelndes, moralisches Subjekt sein. Menegoni legt dar, dass Hegel den Ansatz Kants nicht etwa zurückweist, sondern erweitert, indem er die Auffassung, was eine Person ist, transformiert: Person sein
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heißt für Hegel nicht mehr nur, ein autonomes moralisches Subjekt sein, sondern als freies Individuum zugleich auch ein intersubjektiv anerkanntes Rechtssubjekt sein. Die Anerkennung der Person als Rechtssubjekt schließe zwischenmenschlichen Respekt sowie die rechtliche Sicherung des Besitzes, der Fähigkeiten und des Lebens von Personen ein. Gesellschaftliche Institutionen haben bei Hegel, wie Menegoni darlegt, die Aufgabe, das Recht der Individuen zu fördern und eine symmetrische, wechselseitige Anerkennung zwischen ihnen sicherzustellen. Der Beitrag schließt mit der These, dass was Hegel dergestalt als Anerkennung thematisiere, systematisch im Begriff der Achtung für die Person begründet bleibe und insofern sämtlichen kritischen Einlassungen zum Trotz immer noch in Kontinuität mit Kant stehe. Jean-François Kervégan situiert Hegels Einsicht in die soziale Konstitution von Individualität im Kontext der neueren Diskussion bei Charles Taylor und Vincent Descombes. Der Hegel’sche Grundgedanke, dass Individualität aus gesellschaftlichen Bildungsprozessen hervorgehe und uns dafür ausstattet, ein soziales und politisches Leben zu führen, sei heute immer noch von großer Relevanz. Wenn heute die Einbettung des Individuums in ein soziales System kommunikativer Handlungen diskutiert werde, stehe dahinter letztlich ein deflationierter Begriff dessen, was Hegel als objektiven Geist bezeichnet. Ob die Entlehnung dieses zugleich von allem spekulativen Ballast befreiten Begriffs aus der Hegel’schen Philosophie zulässig sei, müsse zwar aus Hegels eigener Perspektive kritisch bewertet werden. Heute könne eine von Hegel ausgehende Inspiration aber durchaus zu einer Überwindung individualistisch ausgerichteter Sozialphilosophien und zur Etablierung einer holistischen Metaphysik des Sozialen beitragen. Taylors Rückgriff auf Hegel sei in diesem Sinne verdienstvoll, ebenso die von Descombes eingeleitete soziologische, die institutionelle Ebene einbeziehende Umdeutung des objektiven Geistes. Systematisch komme es heute darauf an, Hegels Geist nicht als eine abstrakte Totalität zu begreifen, in der sich die Individuen auflösen würden, sondern in der die unpersönlichen, überindividuellen Aspekte, die für Individuen in komplexen Gesellschaften eine Rolle spielten, zur Geltung kommen. Der objektive Geist bei Hegel sei nicht als ein Kollektivgeist zu verstehen, der aus einer Menge von individuellen Geistern hervorgehen würde, sondern vielmehr als der soziale Rahmen, der eine gehaltvolle Form von Individualität allererst ermögliche. Während Individualität in der Moderne ohne Institutionen schlicht undenkbar sei, ist sie nach Kervégan gleichwohl nicht deren mechanisches Resultat. Individualität sei auch für Hegel nicht aus einem sozialen Zusammenhang einfach ableitbar. Die Freiheit des Individuums genieße auch bei ihm einen Spielraum, da sie niemals vollkommen vom Allgemeinen bestimmt sei, wie etwa in Situationen der Konfrontation und des Kampfes mit Institutionen deutlich werde. Sally Sedgwick widmet sich in ihrem Beitrag der Frage, welche Rolle Individualität in der sittlichen Sphäre bei Hegel spielt. Hegels Überzeugung, dass unsere
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Individualität von sozialen Beziehungen zu Anderen abhänge und nur in einer allgemeinen sittlichen Totalität zu leben sei, berge für viele eine Provokation. Wir seien es nämlich gewohnt, unsere Individualität als eine einzigartige Identität zu begreifen, die wir mit niemandem teilen und über die wir unabhängig von Anderen und einer allgemeinen sittlichen Ordnung verfügen. Bei Hegel könne es aber so scheinen, als würde das Individuelle dem Allgemeinen geopfert. Nach Sedgwick liegt die Pointe des Hegel’schen Ansatzes jedoch gerade darin, dass er Individualität nicht zugunsten des Allgemeinen preisgibt, sondern vielmehr zeigt, dass weder das Individuelle als etwas rein Individuelles, noch das Allgemeine als etwas rein Allgemeines existieren kann. Am Beispiel von Hegels Theorie sittlicher Liebe zeigt sie zunächst, dass Menschen nicht etwa ihre gesamte Individualität aufopfern müssen, sondern lediglich ihre isolierte Existenz überwinden. In der Liebe verstehe ein Individuum, dass es überhaupt nur in der Beziehung zu einem anderen Menschen eine gehaltvolle Form von Individualität realisieren kann. Ähnlich sei auch die sittliche Ordnung nach Hegel nicht als eine für sich bestehende, rein allgemeine Struktur gegeben, der die Individuen sich als einem Fremden unterwerfen müssten. Das Sittlich-Allgemeine werde nach Hegel vielmehr nur erzeugt, indem es auf die Bedürfnisse und Interessen der Individuen antworte. Andreas Arndt legt eine differenzierte Betrachtung des Individuums zunächst bei Hegel, dann in der nachhegelschen Philosophie bei Feuerbach, Bauer, Stirner und Marx vor. Leitend ist der Befund, dass Hegels Position weder als eine einseitige Affirmation des Allgemeinen noch des Individuellen angelegt sei. Vielmehr begreife Hegel das Verhältnis des Individuellen und Allgemeinen als einen Widerspruch, der nicht aufzulösen, sondern allenfalls zu beherrschen ist. Der Widerspruch bestehe darin, einerseits das Recht der Individuen gegen das Recht des Allgemeinen, welches zuletzt im Staat verkörpert sei, zu verteidigen, andererseits und zugleich aber auch die vernünftigen Ansprüche des staatlichen Gemeinwesens gegenüber den Individuen zur Geltung zu bringen. Diesen Widerspruch habe Hegel als zentrale Herausforderung moderner Gesellschaften erkannt und erweise sich damit sämtlichen nachhegelschen Ansätzen überlegen, die etwa wie Bauer ein reines Selbstbewusstsein postulierten, in dem der Unterschied von Allgemeinem und Individuellen aufgelöst sei, oder aber wie Stirner das Individuelle in gänzlicher Unabhängigkeit von einem Allgemeinen verabsolutiere. Näher an Hegel bewegten sich Feuerbach und v. a. Marx, der die Komplexität der auf den Widerspruch abstellenden Konzeption Hegels wiederherstelle. Wie Hegel begreife auch Marx die Gesellschaft nicht einseitig im Ausgang vom Primat des Allgemeinen, sondern auch vom vergesellschafteten Individuum her, dem nach Marx demokratische Kontrolle, Mitbestimmung und Selbstverwaltung zustehen. Dass Marx und Hegel das Verhältnis von Individuum und Allgemeinem nicht in eine Harmonie überführen, sondern in seiner für die Moderne charakteristischen Wider-
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sprüchlichkeit beschreiben, macht nach Arndt ihre Stärke und anhaltende Relevanz aus. Majk Feldmeier untersucht die im ersten Hauptstück von Kierkegaards Stadien auf des Lebens Weg entwickelte Theorie der Erinnerung und verweist auf ihre wesentlichen Bezüge zu Jacobi. Wie bei Locke gehe es in Kierkegaards Theorie der Erinnerung ganz wesentlich um die Frage personaler Identität als je zeitlich konkretes Individuum. Im Gegensatz zu Locke stehe dabei aber nicht einfach die diachrone Einheit und objektive Identifizierbarkeit der Person im Zentrum der Überlegungen, sondern die Frage nach dem Charakter einer Person. Dessen Ausbildung setze ein reflexiv-evaluatives und zugleich existenzielles Verhältnis zur eigenen Zeitlichkeit, d.i. die Aneignung vergangener Erfahrungen als meine Erfahrungen voraus. Der personale Charakter stelle daher ein narratives und darin aktives Selbstsein dar, das als ein genuin ethisch-normatives zugleich eine eschatologisch-metaphysische Dimension einschließe. Feldmeier arbeitet heraus, dass sich Kierkegaards Text dabei in dem Maße vollkommen zu Recht ausdrücklich auf Jacobi beruft, wie dieser bereits die Grundthese der Erinnerungstheorie Kierkegaards ausgesprochen habe, wonach nur die konkrete, narrativ sich konstituierende Person das Unendliche im endlichen Leben verwirklichen, ethisch Verantwortung für sein zeitliches Handeln übernehmen könne. Auch Ágnes Hellers Essay beschäftigt sich im Ausgang von der philosophischen Tradition mit der Bedeutung der Erinnerung für das menschliche Selbstverständnis. Vor allem der autobiographischen Erinnerung, die entsteht, wenn wir aus unseren zahlreichen einzelnen Erinnerungen immer wieder neu und anders eine Erinnerungskette schaffen und sie so zu unserer Geschichte verbinden, komme für die Identität der individuellen Persönlichkeit eine entscheidende Rolle zu. Im Gegensatz zur semantischen, die allgemein und objektiv sei, sei die autobiographische Erinnerung konstitutiv an die erste Person gebunden und daher grundsätzlich privat und subjektiv. Da autobiographische Narrative jedoch ganz wesentlich auch eine Art der Selbstpräsentation gegenüber Anderen und damit gegenüber gesellschaftlichen Erwartungen seien, gebe es zugleich eine ständige Wechselwirkung zwischen unserer subjektiven und objektiven Identität. Subjektive Erlebnisse und ihre Erinnerung seien nicht nur immer auch mit kollektiven Erinnerungen, sondern auch mit dem kulturellen Gedächtnis verschmolzen. Erinnerte Mithandelnde der von mir erlebten Ereignisse bestimmen als diese Mitdeutende und als sich ihrer Miterinnernde meine autobiographischen Erinnerungen genauso wie das kulturelle Gedächtnis, das Netz der Texte, Geschichten, Ideen, Phantasmen und Überzeugungen einer Gemeinschaft. Denn dieses sei der grundlegende Stoff jeder autobiographischen Erinnerung, sowohl für die Zusammenstellung der Narrative als auch für die Interpretation der eigenen einzelnen Erinnerungen. Ethisch bedeute diese Perspektivenverschmelzung das Zusammenfügen zweiter Autoritäten, der inneren Stimme (d.i. des Gewissens) und des
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Blicks der Anderen. Dabei sei es jedoch nur in historisch glücklichen Zeiten und politischen Umständen möglich, den objektiven Ansprüchen zu genügen, ohne der subjektiven Identität zu schaden. Oliver Koch analysiert den Begriff des Individuums bei Wolfgang Cramer und zeigt auf, dass die wesentliche Individualität des (transzendentalen) Subjekts, die Cramer gegen Kant behauptet, das entscheidende Motiv darstellt, das die verschiedenen Ebenen seiner Philosophie – die transzendentalidealistische Theorie des ‚Erlebens‘, die transzendentale Ontologie des (konkreten) Subjekts und die Theorie des Absoluten als Theorie von Bestimmtheit überhaupt – verbindet. Angesichts der in der jüngeren Forschung erzielten Einsicht in die grundlegende Bedeutung Jacobis und der von ihm initiierten Debatte über das Verhältnis von konkreter Individualität der Person und begrifflich-rationalem Wissen für die Entwicklung der philosophischen Systementwürfe nach Kant plädiert Koch dafür, auch Cramers Philosophie als späten Beitrag zu dieser Debatte zu verstehen. Gerade aufgrund ihrer Fokussierung auf das individuelle Subjekt erhebe Cramer selbst ausdrücklich den Anspruch, eine Alternative zu Spinoza und zum sogenannten deutschen Idealismus zu entwickeln, insofern beide die Individualität des Subjekts in ihren philosophischen Systemen nicht angemessen berücksichtigen und bewahren könnten. Koch zeigt auf, dass Cramer dabei einen komplexen Begriff des Individuums vertritt, der mehrere Momente – Einzelheit, Unteilbarkeit und Einzigkeit – umfasst. Zugleich vermag Cramer aufgrund seines methodisch objektiven Zugriffs nach Koch aber nicht alle diese Momente gleichermaßen zu erfassen. Vielmehr fokussiere er einseitig auf die Einzelheit, insofern sich diese in einer begrifflich-strukturellen Analyse des Verhältnisses von allgemeiner Bestimmtheit und individuellem Zu-Bestimmenden erschließe. Die Einzigkeit bleibe hingegen in dem Maße systematisch ortlos, wie sie die subjektive Innenperspektive des individuellen Subjekts voraussetze. Jürgen Stolzenberg zeichnet die neuzeitliche Entwicklung des Humorbegriffes von Sterne über Jean Paul bis zu Kierkegaard und Hegelianern wie Ruge und Vischer nach; dabei zeigt er, dass, anders als von der aktuellen Debatte angenommen, damit nicht nur ein eigenständiges und höchst facettenreiches Phänomen menschlichen Lebens konzeptualisiert worden ist, sondern ihm seit Jean Paul eine grundlegende systematische Rolle in der philosophischen Diskussion nach Kant zukommt. Die bereits bei Sterne entwickelte Konzeption des Humors erhält mit Jean Paul im Anschluss an Jacobis rationalitätskritischen ‚Realismus des Gefühls‘ eine subjektivitätstheoretische Grundlage. Danach erscheint der Humor als Ausdruck der Gewissheit von der Wirklichkeit und Wirksamkeit einer rational unverfügbaren Einheit absolut unterschiedener Sinndimensionen, von Unendlichem und Endlichem. Humor ist mithin eine geistige Haltung, die das Einzelne und Kontingente, das Fragmentarische und Endliche des Lebens als eine gebrochene Repräsentation des Unendlichen begreift. Dadurch gewinnt das individu-
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elle Subjekt selbst einen positiven Wert, ohne dass im Lachen des Humors die prinzipielle Inkongruenz des Kontingenten und des Unendlichen aufgehoben würde. Das Lachen des Humors ist daher eher ein Lachen unter Tränen. Die im Humor nicht aufgehobene, sondern nur existenziell erträglich gemachte ontologische Differenz von unbedingter Idee und vielfach bedingter konkreter Erscheinung ist der Grund, warum in der nachhegelschen Philosophie, die mit Hegel programmatisch am Gedanken einer vollständigen Darstellung und Objektivierung der Idee im Bereich der Erscheinung festhält, alle Versuche scheitern, Jeans Pauls Humorkonzept und Hegels Humorkritik mit Mitteln der Hegel’schen Philosophie selbst zu versöhnen. Der Beitrag endet mit einem Blick auf die antike literarische und neuzeitliche bildnerische Darstellung der beiden Seiten des Humors in den Gestalten des lachenden Demokrit und des weinenden Heraklit. In einer eingehenden Auseinandersetzung mit einer Klaviersonate Schuberts und im Rekurs auf Kant entwirft Guido Kreis den Begriff eines musikalischen Subjekts. Ein musikalisches Subjekt sei ein sich auf sich beziehendes und dabei selbst thematisierendes musikalisches Werk. Nach Kreis ist nicht etwa das Sujet des Werks, der Komponist oder ein imaginäres psychisches Ich, das seine Gefühle vermeintlich in der Musik ausdrücke, als Subjekt anzusehen, sondern im emphatischen Sinn das musikalische Werk selbst. Wie das Beispiel der vorletzten Klaviersonate Schuberts zeige, weisen Werke mitunter eine Form von Selbstbezüglichkeit auf, die strukturell derjenigen gleiche, die Kant für das ‚Ich denke‘ in der transzendentalen Apperzeption dargelegt habe. Während subjektive Selbstbezüglichkeit bei Kant jedoch eine propositionale Struktur besitze, beziehe sich das musikalische Werk auf eine nicht-propositionale Weise auf sich. Wie Kreis im Detail ausführt, realisiere Schuberts Sonate einen solchen Selbstbezug, der zugleich Selbstthematisierung einschließe, in einer Serie von kompositorisch gezielt gesetzten Pausen, in der die musikalische Ordnung und innere Anlage des Stücks insgesamt reflektiert und in Frage gestellt werde. Indem die Sonate sich in ihrer Komposition selbst thematisiere, werfe sie zugleich in den Hörern die Frage auf, ob sie sich letztlich als ein integrales Werk zu realisieren vermag. Musikalische Subjektivität ist nach Kreis nicht einfach auf andere Phänomene übertragbar. Musikalische Subjektivität habe nichts mit Animismus oder Mystik zu schaffen, sondern sei stets an ein konkretes Werk gebunden und damit eine individuelle Form ästhetischer Selbstreflexion, die von Menschen für Menschen geschaffen werde. Oliver Koch Johannes-Georg Schülein
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Literatur Fichte, Johann Gottlieb. [GA] ff. Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, herausgegeben von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky. Stuttgart-Bad Cannstatt. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. [GW] ff. Gesammelte Werke, in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hamburg. Jacobi, Friedrich Heinrich. [JBW] ff. Briefwechsel – Nachlaß – Dokumente, herausgegeben von Walter Jaeschke und Birgit Sandkaulen. Stuttgart. – [JWA] ff. Werke, herausgegeben von Klaus Hammacher und Walter Jaeschke. Hamburg/Stuttgart-Bad Cannstatt. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph. [AA] ff. Historisch-kritische Ausgabe, im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben von Hans Michael Baumgartner, Wilhelm G. Jacobs, Hermann Krings und Hermann Zeltner. Stuttgart.
Charles Larmore DAS PHILOSOPHISCHE INTERESSE AN SELBSTERKENNTNIS
Selbsterkenntnis, so wird allgemein angenommen, ist von unschätzbarem Wert. Es hat aber in der Geschichte der Philosophie sehr unterschiedliche Auffassungen der Art von Selbsterkenntnis gegeben, die unentbehrlich sein soll. In diesem Aufsatz werde ich zunächst einige dieser Auffassungen Revue passieren lassen. Ich werde aber hauptsächlich den Begriff der Selbsterkenntnis, der in der Neuzeit vorherrschend gewesen ist, kritisch hinterfragen. Mir geht es darum, seine fragwürdigen philosophischen Wurzeln an den Tag zu legen und eine bessere Auffassung vorzuschlagen. I. Begriff und Hintergrund Da mein Thema Selbsterkenntnis ist, fange ich ganz natürlich mit Sokrates und Delphi an. Als Sokrates sich die delphische Inschrift ‚Erkenne dich selbst‘ zu Herzen nahm und erklärte, Selbsterkenntnis sei das Wissen, das man vor jedem anderen erlangen müsse, so verstand er nicht unter Selbsterkenntnis, was moderne Philosophen weitgehend darunter verstanden haben: nämlich das reflexive Bewusstwerden der eigenen Seelenzustände, was auch immer sie sind. Er meinte im Gegenteil, dass es unentbehrlich sei, diejenigen grundlegenden Fähigkeiten und Interessen zu erkennen, in deren Verwirklichung das gute Leben eigentlich besteht. So kommt etwa im Ersten Alkibiades Platons die Überzeugung explizit zum Ausdruck, dass das Ziel der Selbsterkenntnis, von der die delphische Inschrift spricht, die Bildung des Individuums sei: Es gehe darum, die richtige Sorge um sich selbst (ten epimeleian heautou, e) ausüben zu können, und dafür sei es nötig, das Wesen des Selbst zu erkennen. Denn wir seien nicht imstande, uns um uns selbst angemessen zu sorgen, ohne erstens zu wissen, welche allgemeinen Aspekte des Lebens unser wirkliches Selbst ausmachen, und auch wenn wir das festgestellt haben – es handle sich um unsere „Seele“ (c), sagt Sokrates, da wir dabei nicht irgendeinen Besitz oder auch unseren Körper, sondern uns selbst besser machen Platon, Phaidros e-a: „Ich bin noch immer nicht soweit, dem delphischen Spruch gemäß mich selbst zu kennen, und es scheint mir lächerlich, nach Anderweitigem zu sehen, wenn man in dieser Hinsicht keine Erkenntnis hat.“ Hegel-Studien Beiheft · © Felix Meiner Verlag · ISSN -
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wollen (e) –, müssen wir zweitens wissen, was für Möglichkeiten zum Guten und zum Bösen das individuelle Selbst (auto hekaston, d), die eigene Seele, im Einzelnen enthalte. Dass gerade darin die Hauptschwierigkeit liegt, ist so offenkundig, dass Sokrates es nicht zu erwähnen braucht, zumal er sich in einem Gespräch mit dem notorisch verdorbenen Alkibiades befindet. Denn wenn das Selbst, um dessen Erkenntnis es uns geht, letztlich in denjenigen individuellen Fähigkeiten und Interessen besteht, deren Kultivierung uns persönlich ein gutes Leben ermöglichen wird, dann kann es uns schwerfallen, diese Elemente von den anderen, weniger günstigen Teilen unserer Seele deutlich zu unterscheiden, da wir selbst es sind, die mit allen unseren Mängeln und Fehlern eine solche Untersuchung ausführen. Darum sei, bemerkt Sokrates, die Selbsterkenntnis (to gnonai heauton) keine leichte Sache: Kein Einfaltspinsel habe die Inschrift am delphischen Tempel angebracht (a). Wir täten deshalb am besten, so lautet sein Vorschlag, wenn wir das „Erkenne dich selbst“ als ein „Schau dich selbst an“ (ide sauton, d) verstünden. Das heißt: Wie das Auge sich selbst erst in einem Spiegel sieht, so gelte es, das Selbst, das wir erkennen wollen, aber das wir zugleich auch sind, in etwas außerhalb uns zurückgespiegelt zu betrachten. Der nötige Spiegel könne nun nur ein anderes Selbst sein, das sich in diesen Sachen schon besser auskennt und das uns in einem Gespräch (wie eben Sokrates gegenüber Alkibiades) die Anerkennung unserer besten Möglichkeiten zu entlocken vermag (d-b). Obwohl die Echtheit dieses Dialogs in der modernen Forschung häufig bezweifelt worden ist, soll unbestritten sein, dass der Erste Alkibiades, wenn er nicht von Platon selbst, dann dennoch vom jemandem in seinem Umfeld verfasst wurde, und dass er aufschlussreich erklärt, warum die Dialogform zum Wesen von Platons Philosophieren gehört. Nur auf indirekte Weise, im Gespräch mit anderen, lässt sich nach Platon die Selbsterkenntnis erwerben, die philosophisch von Belang ist – nämlich die Erkenntnis unserer besten Fähigkeiten und Interessen. Es handelt sich also um eine Auffassung, die vom modernen Begriff einer durch Reflexion direkt zu erlangenden Selbsterkenntnis weit entfernt ist. Augustinus bietet ein weiteres Beispiel dafür, dass die Selbsterkenntnis, die von erster Bedeutung sein soll, von verschiedenen Philosophen unterschiedlich begriffen worden ist. Als sich Augustinus in seinen Bekenntnissen nach innen wandte, um seine Seele zu erkunden, waren sein Gegenstand nicht die Fähigkeiten und Interessen, deren Entwicklung zum Gedeihen des Menschen führten, aber auch nicht die Eigenarten seines individuellen Denkens oder die wesentlichen Merkmale des menschlichen Bewusstseins überhaupt. Ihm ging es allein um diejenigen Erinnerungen und Erlebnisse, die sein Verhältnis zu Gott enthüllten, denn nur auf einem solchen Wege nach innen sei die wichtigste Art von Wahrheit über sich selbst zu erfassen. Nur so lasse sich sogar die delphische Forderung ‚Erkenne dich selbst‘ erfüllen. Denn die Menschen, schrieb Augustinus, seien immer neugierig, von dem
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Leben anderer zu hören, aber in Bezug auf das, was sie selbst im Grunde anbelangt, von Natur her geneigt, sich selbst zu belügen, so dass man nur dann sicher sein könne, sein wahres Selbst zu erreichen, wenn man in sich selbst die bestätigende Stimme Gottes höre: „Von Dir zu hören, was man sei, ist, sich selbst zu erkennen“. Auch bei Augustinus ist daher die Stimme eines Anderen unentbehrlich in der Erlangung des Selbstwissens, das für uns belangvoll ist. Es handelt sich aber nicht wie bei Platon um ein Gespräch, weil der Andere eben Gott hieß, und zudem war der Gegenstand dieser Selbsterkenntnis nicht so sehr der Mensch selbst, als eher der Mensch in seinem Abhängigkeitsverhältnis Gott gegenüber. Wie die beiden Beispiele von Platon und Augustinus zeigen, richtet in der Regel jede Auffassung der Selbsterkenntnis ihr Augenmerk selektiv auf nur bestimmte Aspekte unserer Person, nämlich auf diejenigen, deren Erkenntnis uns wichtig sein soll. Dies ist so, weil sie immer Teil eines größeren philosophischen Vorhabens ist. So lautet in der Tat meine erste These.
II. Die Idee eines erstpersonalen Selbstwissens Insofern nun Selbsterkenntnis seit der frühen Neuzeit weitgehend als Erkenntnis der eigenen Gedanken und Gefühle, Überzeugungen und Wünsche, welcher Art sie auch seien, – also anscheinend unselektiv – begriffen wird, ist es ratsam, die zugrundeliegenden Interessen herauszustellen, die eine so grenzenlose und verschiedenartige Menge von Fakten über uns selbst zu einem besonders erstrebenswerten Bereich von Wahrheiten gemacht haben sollen. Eine erste Begründung kommt paradigmatisch bei Montaigne zum Ausdruck. Wenn es schwer wird, die Stellung des Menschen in einer umfassenden Zweckordnung der Natur oder des göttlichen Willens festzustellen, dann kann man Befriedigung darin finden, unsere Erfahrung in all ihrer Vielfältigkeit für sich selbst, ohne Hinblick auf irgendeine höhere Instanz, zu betrachten und zu genießen. „Je suis moy-mesmes la matiere de mon livre“, schreibt Montaigne im Vorwort zum Leser (Essais: ), denn wie er in einem seiner Essais (II.: ) erklärt: „Qui sera en cherche de science, si la pesche où elle se loge: il n’est rien de quoy je face moins de profession. Ce sont icy mes fantaisies, par lesquelles je ne tasche point à connoistre les choses, mais moy“. „Quid est enim a te audire de se nisi cognoscere se?“ (Confessiones X,); s. auch Confessiones X,: „Quod de me scio, te mihi lucente scio, et quod de me nescio, tam diu nescio, donec fiant tenebrae meae sicut meridies in vulto tuo“ („Was ich von mir weiß, das weiß ich nur durch Dich erleuchtet, und was ich von mir nicht weiß, das weiß ich so lange nicht, bis mein Dunkel wie der Mittag vor Deinem Angesicht sein wird“). Dt.: „Ich bin selbst der Stoff meines Buches“ und „Wer auf Wissenschaft jagen will, muss sie suchen, wo sie ihre Lage hat; ich wüsste nichts, womit ich mich weniger abgäbe. Dies hier sind meine Einfälle, wodurch ich nicht beabsichtige, die Dinge zu erkennen, sondern mich selbst“. S. auch Essais
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Bei Descartes findet sich eine unterschiedliche, aber auch bedeutende und für die nachfolgende Philosophie zweifellos einflussreichere Motivation: Die Kenntnis unserer eigenen psychischen Zustände soll eine besondere Gewissheit, eine Unmittelbarkeit und Unbezweifelbarkeit besitzen, die nicht nur in Zeiten intellektueller Verwirrung und Umwälzungen dafür geeignet sei, das sichere Fundament aller Erkenntnis und daher unseres Umgangs mit der Welt im Ganzen zu bilden. Offenkundig ist Selbsterkenntnis in diesem letzten Sinne weit entfernt von den Auffassungen, die bei Platon oder Augustinus zu finden sind. Welche Fähigkeiten und Interessen sich zur Bestimmung des menschlichen Guten eignen oder welche Gedanken und Gefühle uns in die Nähe Gottes bringen, ist uns weder unmittelbar zugänglich noch ohne allen möglichen Zweifel festzustellen, wie die Kenntnis der eigenen Seelenzustände nach Descartes und so vielen anderen modernen Philosophen es angeblich sein soll. Selbsterkenntnis im Sinne von Descartes unterscheidet sich ebenfalls von der von Montaigne ausgeübten Selbstbeschreibung, die keinen Anspruch auf Gewissheit erhob und keineswegs zu einer Erkenntnis der Welt selbst führen sollte. Heute mag uns das cartesianische Prinzip, dem zufolge all unser Wissen auf einem unerschütterlichen Fundament beruhen sollte, nicht mehr durchführbar oder sogar besonders zwingend erscheinen. Dies bedeutet aber nicht, dass man aufgehört hat, mit Descartes und seinen Nachfolgern anzunehmen, die unmittelbare Kenntnis der jeweiligen Inhalte des eigenen Geistes, was auch immer sie sind, sei wegen ihrer Gewissheit die philosophisch wichtigste Art von Selbsterkenntnis, die wir besitzen. Natürlich verneint man nicht, dass wir auf anderen, indirekten (inferentiellen) Wegen zu einer Erkenntnis des eigenen Geistes kommen können oder dass es bestimmte Aspekte unseres Wesens gibt – etwa unbewusste Gedanken oder allgemeine Charakterzüge –, die wir auf keine andere Weise zu erfassen vermögen. Man besteht aber darauf, dass die Überzeugungen und Wünsche, deren wir uns bewusst sind, in der Regel Gegenstand einer unmittelbaren Erkenntnis sind. Denn in ihrer angeblichen Unmittelbarkeit und daher Immunität gegen jeden möglichen Irrtum soll diese Art von Selbsterkenntnis die intime Vertrautheit mit uns selbst, die uns zu den denkenden und handelnden Wesen macht, die wir sind, zum Ausdruck bringen. Diese letzte Annahme, die den innersten Kern der cartesianischen sowie der noch heute vorherrschenden Auffassung der Selbsterkenntnis ausmacht, ist zu weit verbreitet und bekannt, als dass ich, etwas willkürlich, einige ihrer zahlreichen Vertreter zu nennen brauche (Ich stelle mir vor, viele meiner gegenwärtigen Leser gehören dazu). Die von Descartes herbeigeführte philosophische Revolution war tiefgreifend – sie ging über häufig II., : „Me trouvant entierement despourveu de toute autre matiere, je me suis presenté moimesmes à moi, pour argument et pour subject.“ (dt.: „Indem ich mich ohne jeden anderen Stoff finde, habe ich mich selbst als Argument und Gegenstand gewählt“).
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zitierte Innovationen wie den Fundamentalismus und die allgemeine Suche nach Gewissheit weit hinaus – und ihr Einfluss lässt sich nicht so leicht abtun, wie man sich gemeinhin denkt. Gerade deshalb lohnt es sich, diese Konzeption der Selbsterkenntnis kritisch zu hinterfragen. Sie beruht auf der Ansicht, dass es zwei Weisen gebe, zur Kenntnis unserer eigenen Überzeugungen, Wünsche und anderen psychischen Zuständen zu gelangen. Wir können erstens, wenn wir wollen, einem solchen Wissen in derselben Weise nachgehen, wie wir zu einem Wissen von den Gedanken und Gefühlen, den Überzeugungen und Wünschen anderer Menschen gelangen, nämlich durch Schlussfolgerungen aus ihrem Verhalten, einschließlich der Äußerungen, durch die sie, aufrichtig oder nicht, erklären, was sie denken und fühlen. Eine Selbsterkenntnis dieser Art gründet darauf, die Perspektive der dritten Person gegenüber uns selbst einzunehmen, auf die wir bei unseren Bestrebungen, andere Menschen zu erkennen, angewiesen sind. Ebenso wie wir – so zumindest eine häufige Redeweise der fraglichen Auffassung – nicht in den Geist eines anderen eindringen können, um dort sozusagen wie er zu Hause zu sein, sondern verurteilt sind, ihn von außen zu beobachten und Schlüsse aus seinem Verhalten (im angedeuteten weiteren Sinne) zu ziehen, so können wir uns auch entschließen, uns selbst von außen zu beobachten, als ob wir lediglich eine Person unter anderen wären, und aus der Beobachtung unserer Handlungen und Äußerungen darauf zu schließen, was wir glauben oder wünschen. Die auf diese Weise erworbene Selbsterkenntnis unterscheidet sich mitnichten von unserer Erkenntnis anderer Menschen und besitzt daher keine besondere Art von Gewissheit. Dennoch verfügen wir dieser Auffassung zufolge auch über einen zweiten, natürlicheren Weg zur Erkenntnis der eigenen Seelenzustände, der angeblich eine weitaus größere Gewissheit besitze. Es handelt sich um eine Selbsterkenntnis, die wir aus der Perspektive der ersten Person gewinnen würden. Dabei gelangten wir zu einem Wissen von uns selbst, nicht indem wir uns von außen beobachten, sondern dadurch, dass wir nach innen blicken und insofern durch Reflexion feststellen, was wir fühlen, glauben oder wünschen, als wir eine unmittelbare, präreflexive, schon bestehende Vertrautheit mit den Inhalten des eigenen Geistes ausnutzten, die wir allein genössen, auch wenn andere Personen über eine ähnliche Selbstvertrautheit im eigenen Fall verfügten. Eine Selbsterkenntnis dieser Art besitze, so wird behauptet, eine Gewissheit, die jede Erkenntnis aus der Dritten-Person-Perspektive, ganz gleich, ob wir selbst oder andere ihren Gegenstand darstellen, unmöglich erlangen könne. Dies soll in zweierlei Hinsicht gelten: Wenn wir etwa reflektieren und erklären ‚Ich glaube, es wird regnen‘, so können wir natürlich einen Fehler in Bezug auf das Wetter begehen; das Geglaubte kann falsch sein. Es scheint jedoch, als könnten wir uns nicht darüber täuschen, wer es ist, dem wir diese Überzeugung zuschreiben, oder ebenfalls darüber, dass wir tatsächlich dieser Überzeugung sind. Diese beiden Arten von Irrtum – Fehlidentifikation und falsche Zuschreibung –
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seien immer dann möglich, wenn es darum geht, festzustellen, was andere glauben oder wünschen. Dies gelte jedoch nicht, wenn es um uns selbst gehe, wenigstens soweit wir uns erstpersonal auf die Reflexion stützen. Auch wenn mehr zu unserem Geist gehört, als das, dessen wir uns reflexiv bewusst sind, müsse das, was wir von uns selbst dann wahrnehmen, wenn wir unseren Blick nach innen wenden, notwendigerweise wahr sein. Ich glaube aber nicht, dass es eine Selbsterkenntnis dieser erstpersonalen Art wirklich gibt. Die fragwürdige Metapher des ‚Innen‘ und ‚Außen‘, der Gedanke, dass die Reflexion über uns selbst im Gegensatz zu allem Wissen über die Welt darin bestehe, unsere Aufmerksamkeit auf das zu richten, was ‚in‘ unserem Geist passiert und nicht in der Welt ‚außerhalb‘ unserer selbst, hat häufig eine wesentliche Rolle in der Formulierung dieser Konzeption gespielt. Dies allein ist ein Grund, ein bisschen skeptisch zu sein. Geist ist nur insofern etwas Inneres, als es sein Wesen ist, im Verhalten, in unseren Äußerungen und Handlungen, ausgedrückt zu werden. Wie Wittgenstein bemerkte: „Der menschliche Körper ist das beste Bild der menschlichen Seele“ (PU II, iv, ); und dasselbe Motiv findet sich auch bei Hegel, als er schrieb: „Wir wissen von unseren Gedanken nur dann, – haben nur dann bestimmte, wirkliche Gedanken, wenn wir ihnen die Form der Gegenständlichkeit, des Unterschiedenseyns von unserer Innerlichkeit, also die Gestalt der Aeußerlichkeit geben, und zwar einer solchen Aeußerlichkeit, die zugleich das Gepräge der höchsten Innerlichkeit trägt“ (Zus. z. § der Enzyklopädie, GW ,: ). Wenn ich aber den Gedanke einer Selbsterkenntnis aus der Erste-Person-Perspektive für einen Irrtum halte, dann vor allem aus systematischen Gründen, die ich jetzt zusammenfassend darlege. Die einzige Form von Erkenntnis, die wir von unserem eigenen Geist haben, ist – so lautet meine zweite These – eine Erkenntnis, die wir aus derselben drittpersonalen Perspektive gewinnen, aus der wir zur Erkenntnis der Gefühle, Überzeugungen und Wünsche anderer Menschen gelangen. Denn aus solcher Perspektive verfahren wir nicht nur dann, wenn wir – was ja eher außergewöhnlich ist – das eigene Verhalten beobachten, um daraus auf unsere Überzeugungen und Wünsche zu schließen. So verfahren wir auch, wenn wir uns, wie wir es ziemlich häufig tun, Gedanken und Handlungen in Erinnerung rufen, die, so unterstellen wir, jene seelischen Zustände, nach deren Bestehen wir uns fragen, verkörpern könnten. Oder wenn wir uns durch die sogenannte ‚Introspektion‘ der Betrachtung unserer gegenwärtigen Gedanken und Gefühlen zuwenden, davon ausge Vgl. auch GW : §: „Der Mensch, wie er äußerlich d. i. in seinen Handlungen (freilich nicht in seiner nur leiblichen Aeußerlichkeit) [ist], ist er innerlich […]“, sowie den Zusatz „[W]as der Mensch thut, das ist er […]“ (GW ,: ) und „Was das Subject ist, ist die Reihe seiner Handlungen“ (Grundlinien der Philosophie des Rechts, GW ,: §). Ich habe diese Gründe in anderen Schriften als Teil einer allgemeinen Theorie der Subjektivität ausführlicher entfaltet (Larmore ; ; , Kapitel I-II).
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hend, dass sie erkennen lassen, was wir glauben oder wünschen. In beiden Fällen stützen wir uns auf Belege, die wir erst interpretieren müssen, um zu bestimmen, welche Überzeugungen oder Wünsche sie ausdrücken und ob, im Fall der Erinnerung, wir diese immer noch haben. (Wir können uns nicht direkt an unsere Überzeugungen oder Wünsche erinnern oder sie selbst introspektiv wahrnehmen.) Und obwohl die Erinnerungen und Gedanken, auf die wir uns stützen, zunächst einmal uns allein zur Verfügung stehen, könnten wir sie aussprechen, wodurch jeder andere dann dieselben Belege hätte und dieselben Schlüsse ziehen könnte wie wir – oder sogar Gründe sehen könnte, unser Selbstverständnis zu korrigieren. Zudem kann es auch passieren, dass wir unsere Erinnerungen oder introspektierten Gedanken selbst falsch erfassen, wie es deutlich wird, wenn die Berichte, die wir von ihnen eventuell abgeben, von anderen aufgrund ihres besseren Wissens infrage gestellt werden: ‚Wie kannst Du glauben, Du denkst an Maria, wenn wir alle wissen, dass Du in Hildegard verliebt bist!‘. Soweit ‚Reflexion‘ eine dieser beiden Tätigkeiten – Erinnerung oder Introspektion – bedeutet, ist sie darum ein wesentlich drittpersonales Verfahren. Zwar ist es selten sinnvoll, die Äußerungen einer Person anzuzweifeln, die hingegen unmittelbar – d. h. aufgrund einer Art von Reflexion, die nicht wie Selbstbeobachtung, Erinnerung oder Introspektion von einer drittpersonalen Perspektive ausgeht – erklärt, dass sie etwas glaubt, fühlt oder wünscht. Aber die besondere Autorität, die sogenannte ‚Autorität der ersten Person‘, die solchen Äußerungen innewohnt und sie gegen jeden Zweifel schützt, besteht nicht in einer epistemischen Gewissheit. Denn sie drücken in der Tat kein Selbstwissen aus. Sie zielen nicht darauf ab, das eigene Seelenleben richtig zu beschreiben oder davon zu berichten. Sie haben eher den Charakter von Bekundungen: Sie dienen dazu, unsere Gefühle, Überzeugungen oder Wünsche bekanntzugeben. Insbesondere drücken sie die Festlegung aus, so zu denken und zu handeln, wie es den Implikationen des bekundeten Gefühls, der unterstellten Wahrheit des Geglaubten oder dem anscheinenden Gutsein des Gewünschten entspricht. Wenn ich erkläre ‚Ich hoffe, dass er bald ankommt‘, beschreibe ich nicht meine Hoffnung, sondern drücke sie aus, und zwar in der Form einer Äußerung, die die Absicht ankündigt, mich dementsprechend zu verhalten. Wenn sich Äußerungen dieser Art nicht als falsch anzweifeln lassen, dann deshalb, weil sie strenggenommen weder wahr noch falsch sind. Vielmehr sind sie Absichtserklärungen, und wenn sie angezweifelt werden können, dann allein aus dem Grund, dass sie unaufrichtig oder dass wir nicht wirklich darauf festgelegt sind, ihnen entsprechend zu denken und zu handeln. Jede Bekundung ist notwendigerweise erstpersonal: Man kann nicht bekunden, was ein Anderer denkt oder beabsichtigt. Gleichwohl kann der Sprecher einer Organisation bekunden, was sie denkt oder beabsichtigt: ‚die Firma hofft im nächsten Quartal ihre Gewinne zu steigern‘. In diesem Fall beschreibt der Sprecher nicht die Hoffnungen der Firma, sondern gibt sie bekannt, weil er aufgrund
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In diesem Zusammenhang ist es wichtig, eine Bekundung nicht mit dem Gewahrwerden derselben zu verwechseln. Einen Geisteszustand zu bekunden, besteht nicht darin, ihn sich zuzuschreiben; die Selbstzuschreibung kann erst danach kommen (s. dazu Larmore , Kapitel II, § – ). Wenn wir erklärt haben, dass wir etwas glauben oder wünschen, dann sind wir in der Regel imstande, auf dieser Basis zu erkennen, dass wir eine solche Überzeugung oder einen solchen Wunsch haben. Das können aber auch andere, die unsere Bekundung gehört oder zufällig mitgehört haben, gleichfalls tun, und zwar auf derselben Basis. Die Selbsterkenntnis, die wir dadurch erwerben, hat somit – auch in diesem Fall – einen wesentlich drittpersonalen Charakter. Nur weil ich bemerke, dass ich etwa wiederholt sage oder sagen will ‚Ich liebe sie‘, komme ich, in Anbetracht auch meines weiteren Verhaltens, zu der Erkenntnis, dass ich in diese Person verliebt bin. Hier liegt also, nebst der Selbstbeobachtung, dem Gedächtnis und der Introspektion, eine vierte Methode zur Selbsterkenntnis – die Berücksichtigung von bereits erfolgten Bekundungen –, durch die wir uns aber wie bei den anderen in keiner prinzipiell besseren Position als unsere Mitmenschen finden, die eigenen Geisteszustände zu erfassen. Nun dürfte es schließlich nicht überraschen, dass wir alle unsere Selbsterkenntnis aus derselben drittpersonalen Perspektive erlangen, die auch andere einnehmen können. Dadurch erklärt sich die altbekannte Tatsache, dass sich unsere Freunde und manchmal auch Unbekannte, wenn es darum geht zu ermitteln, was wir glauben oder wünschen, häufig viel scharfsinniger zeigen als wir selber. Hinsichtlich der Selbsterkenntnis sind wir weit davon entfernt, Experten zu sein. Es ist nur einfach so, dass wir auf die Erforschung unseres lieben Ichs mehr Zeit und Energie verwenden und dadurch zu Spezialisten werden. Die Fähigkeit, dieser Evidenz gerecht zu werden, ist nicht der geringste Vorzug der Theorie der Selbsterkenntnis, die ich hier skizziere. Ich verneine nicht, dass unsere Bekundungen von einem intimen Verhältnis zeugen, das wir als denkende und handelnde Wesen zu uns selbst haben, das wir zu niemand anderem und andere niemals zu uns haben können und das uns eben zu einem Selbst macht. Entgegen der hier kritisierten Auffassung aber besteht dieses konstitutive Selbstverhältnis nicht darin, dass wir mit unseren eigenen mentalen Zuständen unmittelbar vertraut seien und daher einen – wie man dann sagt – ‚privilegierten Zugang‘ zu ihnen hätten, der unseren reflexiven Äußerungen darüber, was wir fühlen, glauben, oder wünschen, eine Gewissheit verleihen würde, die unsere Behauptungen über die Seelenzustände anderer nicht besitzen können. Die intime Beziehung, die wir zu uns selbst unterhalten, besteht eher
bestimmter Konventionen berechtigt ist, im Namen der Organisation zu sprechen. Die Bekundung bleibt erstpersonal, insofern er in dieser Rolle als eine Verkörperung der Organisation gilt.
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darin, dass wir allein, niemand anderes an unserer Stelle, imstande sind, uns darauf festzulegen, so oder anders zu denken und zu handeln. In der Tat ist es diese wesentlich praktische Selbstbeziehung, nicht – wie die neuzeitliche Philosophie weitgehend angenommen hat – die kognitive Beziehung einer intimen Selbstvertrautheit, die jeden von uns zu einem Selbst oder Subjekt macht. In den Bekundungen, in denen wir erklären, was wir fühlen, glauben oder wünschen, kommt demnach diese grundlegend praktische Selbstbeziehung reflexiv zum Ausdruck. III. Geist und Welt Die vorangehende Kritik betraf die Auffassung, der zufolge wir eine unmittelbare, erstpersonale Erkenntnis unserer jeweiligen Geisteszustände haben. Ich möchte jetzt der Frage nach den Annahmen, die das Aufkommen dieser Auffassung der Selbsterkenntnis begünstigt haben, weiter nachgehen. Denn wie meine erste These lautet, tritt jede Auffassung der Selbsterkenntnis als Teil eines größeren philosophischen Vorhabens auf. Wenn Selbsterkenntnis paradigmatisch als das unmittelbare Erfassen unserer jeweiligen Gedanken und Gefühle, Überzeugungen und Wünsche begriffen wird, dann unterscheidet sich ihr Gegenstand erheblich von dem, was etwa Platon oder Augustinus unter Selbsterkenntnis verstanden. Welche sind also die philosophischen Interessen, die diese besondere Auffassung so attraktiv gemacht haben? Ein Teil der Antwort ist schon vorhanden. Die erstpersonale Selbsterkenntnis, über die wir vermeintlich verfügen, soll nämlich wegen ihrer Unmittelbarkeit in sich selbst – d. h. abgesehen von dem besonderen Wissen, das wir dadurch über uns selbst erlangen – unser innerstes Wesen deutlich zum Ausdruck bringen. Denn sie soll von der intimen Vertrautheit mit uns selbst zeugen, die jeden von uns zu einem Selbst oder Subjekt mache. Ohne diese grundlegende Selbstvertrautheit wären wir, so der Gedanke, nicht imstande, ganz allgemein als die denkenden und handelnden Wesen, die wir sind, mit der Welt auf sinnvolle Weise umzugehen. In Wirklichkeit, wie schon angedeutet wurde, ist das intime Selbstverhältnis, das uns zu einem Selbst macht, eher praktischer Natur, insofern wir im Grunde Wesen sind, die in allem ihrem Denken und Tun, ehe sie zu irgendeiner Erkenntnis davon gelangen, zu sich selbst in einer Beziehung des Sich-selbst-Festlegens stehen. Aber sehen wir von diesem Einwand ab. Denn es kommt jetzt darauf an, die Herrschaft der üblichen Denkweise zu erklären, und die erste Antwort lässt sich noch erweitern. Wenn wir uns in allem unseren Denken und Tun derart festlegen, dann dadurch, dass wir uns nach Gründen richten, so oder anders zu denken und zu handeln. Die Selbstbeziehung, die jeden von uns zu einem Selbst macht, lässt sich daher näher als ein Sich-Richten nach Gründen charakterisieren. Diese These habe ich in den in Anm. zitierten Veröffentlichungen eingehend entfaltet. Ich kann sie aber hier beiseitelassen.
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Man hat nämlich gedacht, dass die so begriffene Selbsterkenntnis eine Schlüsselrolle in jedem anderen Wissen spielen müsse, das wir nicht nur über uns selbst, sondern auch über die Welt im Ganzen erlangen können. Damit kommt eben ein weiterer Grund, der für die Attraktivität dieser Konzeption der Selbsterkenntnis anscheinend spricht, in den Blick: Die unmittelbare Erkenntnis, die wir von den eigenen Geisteszuständen hätten, ist als die Grundlage alles Wissens überhaupt angesehen worden. Diese leitende Annahme, die sicherlich bekannt vorkommt, gilt es aber in ihrer wahren Bedeutung richtig zu begreifen, damit klar wird, wie sie immer noch weitgehender akzeptiert ist, als man vielleicht zunächst vermutet, und dennoch recht fragwürdig bleibt. Die Vorstellungen einer unmittelbaren Selbsterkenntnis sowie der ihr angeblich zugrundeliegenden intimen Vertrautheit mit uns selbst habe ich schon zurückgewiesen. Durch die Analyse der vorliegenden Annahme kann ich noch weiter gehen. Denn ich werde dann in der Lage sein, wenigstens im Umriss anzudeuten, wie die Natur der Selbsterkenntnis besser anzugehen ist. Wie zuvor bemerkt, war es für jemanden wie Descartes wichtig, dass sich die besondere Gewissheit, die der Kenntnis unserer jeweiligen Seelenzustände gehöre, auf die daraus zu entwickelnde Erkenntnis der Welt ausdehnen lasse: Alles Wissen, wenn es wirklich als Wissen gelten soll, müsse gegen jeden möglichen Zweifel gefeit sein. Eine solche Forderung kann man nun als unerfüllbar preisgeben, ohne von der Annahme abzuweichen, dass alle Erkenntnis der Welt und daher unser Umgang mit der Welt überhaupt letztendlich auf der intimen Kenntnis beruhe, die wir angeblich von unseren eigenen Geisteszuständen haben. Denn diese Annahme hat auch, und zwar vor allem, die Form eines Prinzips angenommen, das (unabhängig von der cartesianischen Suche nach Gewissheit) eine der Grundüberzeugungen der modernen Philosophie ausmacht. Man hat nämlich geglaubt, dass unsere unmittelbare Vertrautheit mit den eigenen Geisteszuständen es uns ermögliche, nicht nur den jeweiligen Inhalt unseres Denkens, sondern auch seine allgemeinen Strukturmerkmale – seine Kapazitäten und Beschränkungen – direkt zu erfassen. Auf dieser Grundlage wären wir daher fähig, durch die Reflexion allein, ohne uns auf irgendein schon unterstelltes Wissen über die Welt zu stützen, die Bedingungen im Voraus zu bestimmen, unter denen jedes Wissen von der Welt und deshalb auch jeder sinnvolle Umgang mit der Welt überhaupt möglich sei. Kurz, die von Descartes herbeigeführte Revolution in der Philosophie, die unsere vermeintlich unmittelbare Vertrautheit mit dem eigenen Geist zum herrschenden Begriff der Selbsterkenntnis gemacht hat, bestand nicht wesentlich in der Forderung nach Gewissheit. Sie bestand eher in dem Primat, das er und andere Philosophen in seiner Folge Fragen der Erkenntnistheorie – Fragen wie zuallererst ‚Was heißt Wissen?‘ und ‚Wie ist Wissen möglich?‘ – zugewiesen haben. Unsere grundlegende Beziehung zur Welt, nicht weniger als unsere Grundbeziehung zu uns selbst, sei eine Beziehung des Wissens. Wie wir mit der Welt umgehen, hänge
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folglich davon ab, was wir über die Welt zu wissen glauben, und deshalb grundsätzlicher von unserer (impliziten oder reflektierten) Auffassung der Bedingungen, unter denen wir Wissensansprüche erheben dürften, sowie der Bedingungen, unter denen diese Ansprüche als erfüllt gelten würden. Dadurch wird das größere Vorhaben, das diesem Begriff der Selbsterkenntnis seine Wichtigkeit gegeben hat, deutlich erkennbar. Denn ohne das angeblich unmittelbare Wissen von unserem eigenen Denken und seinen wesentlichen Vermögen wäre die im Voraus zu erfolgende Bestimmung des Wesens des Wissens, die der Philosoph jetzt explizit vorzunehmen hat, unausführbar. Wie Descartes selbst diesen Ansatz in einer seiner frühesten Schriften prägnant formulierte: „[N]ichts kann vor dem Intellekt erkannt werden, da die Erkenntnis alles anderen von dem Intellekt abhängt, und nicht umgekehrt“. Es ist manchmal – von Michael Dummett (, f., ) unter anderen – gesagt worden, dass die sprachanalytische Wende des . Jahrhunderts dieses Primat der Erkenntnistheorie abgelöst habe. Ich bin mir nicht sicher, wie viel in der hier relevanten Hinsicht dadurch geändert wurde. Soweit dieser Wende zufolge unser Umgang mit der Welt nicht primär auf dem beruht, was wir über die Welt zu wissen glauben, sondern auf der Beherrschung einer Sprache, mit der wir über die Welt erst einmal sprechen können, und soweit daher die philosophische Reflexion über ein bestimmtes Thema immer von einer Untersuchung darüber ausgehen soll, wie wir über die Gegenstände seines Bereichs überhaupt sinnvoll reden können, behält die Bestimmung unseres Zugangs zur Welt – so sehr sie jetzt kollektiv statt individuell sein soll – immer noch einen epistemischen Vorrang vor dem, was wir über die Welt selbst behaupten dürfen. Dieser Vorrang kommt nämlich in der Annahme zum Ausdruck, dass sich die Bedeutungen unserer Worte unabhängig von allem Tatsachenwissen feststellen ließen, da das Beherrschen einer Sprache, als Bedingung jedes sinnvollen Umgangs mit der Welt, es uns unter anderem erst ermögliche, etwas über die Welt zu wissen. In dieser Hinsicht ist also die sprachanalytische Wende nicht die radikale Abkehr von der cartesianischen Revolution, die zu sein sie sich häufig eingebildet hat. Darüber hinaus: Die Bedenklichkeit der Annahme, dass Bedeutungen unabhängig von allem Tatsachenwissen festgestellt werden können – denn worin besteht die Bedeutung eines Begriffs, wenn nicht in den elementaren Wahrheiten, die wir über seinen Gegenstand zu wissen glauben? – lässt vermuten, dass etwas mit diesem ganzen Ansatz gar nicht stimmt. In der Tat sollte das Primat von Erkenntnisfragen (oder auch von Sinnfragen), wie selbstverständlich es uns in seinen verschiedenen Formen auch erscheinen mag, durchaus infrage gestellt werden. Es versteht sich nicht von selbst. Die Fragen ‚Was heißt Wissen?‘ und ‚Wie ist Wissen möglich?‘ stehen zum Beispiel nicht im Mit Descartes, Regulae ad directionem ingenii (AT X: VIII, ): „nihil prius cognosci posse quam intellectum, quia ab hoc caeterum omnium cognitio dependeat, et non contra“.
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telpunkt der antiken Philosophie (ebenso wenig wie die mit dem angeblichen Primat dieser Fragen verbundene Vorstellung der Selbsterkenntnis). Bei Platon gibt es nur einen einzigen Dialog, den Theätet, der sich als ganzer mit Fragen der Erkenntnis ausführlich beschäftigt, und dies ohne die Andeutung, dass alle anderen philosophischen Unterfangen letztendlich auf der Lösung solcher Fragen beruhen. Platons allgemeine Auffassung der Philosophie kommt in der Politeia zum Vorschein, wo Erkenntnisfragen als ein Thema unter anderen in dem größeren Zusammenhang dieser grundsätzlich ethisch angelegten Untersuchung nach dem Wesen der Gerechtigkeit und sogar, allgemeiner, des guten Lebens behandelt sind. Bei Platon lässt sich eher von einem Primat der Ethik reden, wie wir bereits bezüglich seines Begriffs der Selbsterkenntnis im Ersten Alkibiades festgestellt haben. Bei Aristoteles gibt es gleichfalls keinen Vorrang von Fragen nach dem Wesen und den Methoden der Erkenntnis. In der Tat kann man nur schwer so etwas wie eine ‚aristotelische Erkenntnislehre‘ aus seinen verschiedenen Schriften zusammenbasteln. Freilich befasst sich die Analytica posteriora mit dem Wesen des Wissens, wenn es einmal die Gestalt einer vollendeten Wissenschaft angenommen hat. Aber in dieser Schrift sowie in seiner sogenannten Metaphysik gibt es nur verstreute Äußerungen darüber, wie man erst zu einem Wissen über etwas gelangt. In der Metaphysik, deren Thema die grundlegende Struktur der Welt ist, behandelt er ganz beiläufig – was aus einer modernen Perspektive erstaunen muss und in der Tat als erstaunlich angesehen wurde – die Frage danach, durch welche Mittel und mit welcher Art von epistemischer Begründung man so etwas wie Metaphysik oder ‚Erste Philosophie‘ betreiben kann. Bei den Stoikern und Epikureern steht es nicht grundsätzlich anders: Wenn sie vielleicht Erkenntnisfragen eine größere Aufmerksamkeit schenkten, packten sie doch diese Fragen, wie auch Aristoteles, immer vor dem Hintergrund einer Auffassung der Naturordnung an, in der man irgendein Wissen erwerben kann. Was sollten wir also von diesen Unterschieden halten? Waren Platon und Aristoteles philosophisch unernst und Amateure? Natürlich nicht. Im Gegenteil ist das neuzeitliche Primat der Erkenntnistheorie selbst äußerst fragwürdig. Um diese Einschätzung zu rechtfertigen, möchte ich zunächst auf ein allgemeines psychologisches Prinzip aus Aristoteles’ eigener Abhandlung über die Seele hinweisen, das im vorliegenden Zusammenhang besonders aufschlussreich ist: Jedes geistige Vermögen (dynamis), bemerkt er, bestimmt sich durch die Tätigkeit (energeia), die als seine charakteristische Ausübung gilt, und diese Tätigkeit selbst wiederum durch die Art von Gegenständen (ta antikeimena), auf die sie sich richtet (De anima, II,, a – ). Das heißt, man kann nicht die Natur des Geistes erfassen, ohne zu begreifen, wie er sich in die Welt einfügt. Wenn dieses Prinzip auf die Grundfragen der Erkenntnistheorie – ‚Was heißt Wissen?‘ und ‚Was können wir wissen?‘ – angewendet wird, dann ergibt sich daraus, dass man nicht hoffen kann, diese Fragen zu beantworten, ohne schon ein Verständnis
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der Welt im Ganzen zu haben, in der Wissen erworben wird. Genau ein solcher Ansatz erklärt meines Erachtens, warum antike Philosophen wie Platon und Aristoteles, so sehr sie sich auch in bestimmten Kontexten mit Fragen der Erkenntnis beschäftigten, keine Neigung zeigten, solchen Fragen einen Vorrang vor anderen philosophischen Anliegen zuzuweisen. Aber darüber hinaus: Ist nicht diese entgegengesetzte Auffassung auf der richtigen Spur? Können wir das Wesen des Wissens, seine Bedingungen und Ziele überhaupt definieren, ohne von irgendeiner Vorstellung auszugehen, wie die Welt selbst als Gegenstand unserer Bemühungen sowie die Weisen, in denen unsere Wahrnehmungs- und Denkvermögen von ihr kausal abhängen, wenigstens in ihren allgemeinen Zügen beschaffen sind? Wenn wir etwa annehmen – wie wir annehmen müssen, wenn wir die cartesianische Forderung nach absoluter Unbezweifelbarkeit zurückweisen –, dass man berechtigt ist, einen Satz als wahr zu akzeptieren, wenn man zwar alle voraussichtlichen, nicht aber alle logischen Möglichkeiten des Irrtums ausgeschlossen hat, dann muss man, um etwas erkennen zu können, schon ein Bild des gewöhnlichen Laufs der Dinge haben. Denn sonst kann man nicht sagen, welche Arten von Fehlern voraussichtlich sind. Es lässt sich leicht verstehen, warum ein derartiges Verfahren vielen Philosophen zirkelhaft erscheinen muss. Nach ihrer Ansicht liefe es darauf hinaus, den Wagen vor das Pferd zu spannen. Es setze nämlich voraus, dass man sich, um das Wesen der Erkenntnis zu bestimmen, auf ein schon bestehendes Wissen über die Welt, und zwar ein Substantielles, berufen müsse, während die Frage – so ihr Einwand – eben heiße, was Wissen überhaupt sei und wie man es überhaupt erwerben könne. Freilich gehe man im alltäglichen Leben davon aus, dass man viele Dinge wisse, ohne eine philosophische Analyse des Wissens vorgenommen zu haben. Wenn man aber entscheidet, eine solche Analyse vorzunehmen, sei es verkehrt, sich dabei auf irgendein angebliches, vorhandenes Wissen zu stützen, da es darauf ankomme, den Sinn und die Geltungsbedingungen von Wissensansprüchen überhaupt erst zu bestimmen. Das war übrigens der Grund, warum Descartes darauf bestand, dass die Grundlagen der Erkenntnis der Forderung nach Unbezweifelbarkeit genügen müssten: Jede schwächere Forderung, die zwischen ernstzunehmenden und nur müßigen Zweifeln unterscheidet, würde verlangen, dass man auf seine Vormeinungen über die Verfassung der Welt zugreife. Seine Forderung nach Gewissheit
Es wäre falsch, anzunehmen, dass der Gedanke, man könne nicht die Natur des Geistes erfassen, ohne zu begreifen, wie er sich in die Welt einfügt, ausschließlich ein Thema der antiken Philosophie war. Es hat auch moderne Philosophen gegeben, die einen ähnlichen Gedanken vertreten haben. Ein gutes Beispiel ist Friedrich Heinrich Jacobi, dessen Wichtigkeit in dieser Hinsicht – wegen seines Realismus und seiner Kritik an der Bewusstseinsphilosophie Cartesianischer Provenienz – Birgit Sandkaulen in einer Reihe von bahnbrechenden Veröffentlichungen hervorgehoben hat (s. zuletzt Sandkaulen ).
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war zwar nicht die Grundlage, aber doch ein Ausdruck des Primats, das er der Erkenntnistheorie zuschrieb (s. Larmore , – ). Dieses Gegenargument ist zwar nicht ohne Gewicht. Wenn es sich aber hingegen herausstellt, dass Unbezweifelbarkeit im Sinne von Abwesenheit jeder logischen Möglichkeit des Irrtums die Unmöglichkeit von Erkenntnis überhaupt bedeutet, dann empfiehlt es sich, die Wahrheit in der Mitte zwischen den, sagen wir, aristotelischen und cartesianischen Positionen zu suchen. Es gilt nämlich, die Notwendigkeit eines Hin und Her einzusehen. Wir müssen uns einerseits, um das Wesen der Erkenntnis zu ergründen, auf die Kenntnisse verlassen, die wir von der Welt schon zu haben glauben, und uns andererseits gleichzeitig bereithalten, die Gültigkeit oder Bedeutung dieser Kenntnisse nötigenfalls zu revidieren, wenn das systematische Nachdenken über die Erkenntnis als solche – das Bemühen etwa, verschiedene Fälle zu vergleichen oder bestimmte Kriterien zu explizieren – dies verlangt. Prägnanter ausgedrückt: Um zu lernen, wie man lernt, muss man erst tatsächlich lernen, aber in dem Maße, wie man daher zu lernen lernt, lernt man besser, was man vorher gelernt zu haben dachte. Die Natur der Erkenntnis und die Natur der Welt lassen sich nur wechselseitig bestimmen. So lautet meine dritte These. Dieser Gedanke ähnelt den Überlegungen, mit denen Hegel (der alte Vermittlungsspezialist) in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes seine eigene Kritik an der modernen Erkenntnistheorie beginnt. „Es ist eine natürliche Vorstellung“, bemerkt Hegel im ersten Satz, „daß, eh in der Philosophie an die Sache selbst, nemlich an das wirkliche Erkennen dessen, was in Wahrheit ist, gegangen wird, es nothwendig sey, vorher über das Erkennen sich zu verständigen“ (GW : ). Eine solche Vorstellung, aus der „Furcht zu irren“ entsprungen, sei aber „der Irrthum selbst“, da sie voraussetze, dass die Wirklichkeit auf der einen Seite stehe, das Erkennen auf der andern Seite, und zwar in einer ursprünglichen Trennung, die in Ermangelung jeder vermittelnden Erkenntnis der Welt unüberbrückbar bleiben müsse (GW : ). Da man aber nicht bloß versichern dürfe, dass eine solche Erkenntnis schon vorhanden sei („ein trocknes Versichern gilt aber gerade so viel als ein anderes“), liegt nach Hegel die einzige Lösung darin, „eine Darstellung des erscheinenden Wissens“ vorzunehmen (GW : ). Eine solche Darstellung – welche eben eine „Phänomenologie des Geistes“ hieße – werde „den Weg des natürlichen Bewußtseyns […] zum wahren Wissen“ beschreiben, einen Prozess, in dem das Bewusstsein „seinen Maßstab an ihm selbst [gibt]“, so dass „die Untersuchung dadurch eine Vergleichung seiner [des Bewusstseins] mit sich selbst“ sei (GW : ). Oder zeitgenössischer ausgedrückt: Es handelt sich um einen Prozess der gegenseitigen Revision und Anpassung, in dem das Wissen über die Welt in Verbindung mit der Entwicklung des Wissensbegriffs selbst fortschreitet, bis zum Punkt, wo (wieder in Hegels eigenen Worten) das Wissen „sich selbst findet und
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der Begriff dem Gegenstande, der Gegenstand dem Begriffe entspricht“ (GW : ). Ich habe diesen schnellen Abriss der Argumentation von Hegels Einleitung gegeben, um weiter zu erläutern, warum man gute Gründe hat, die moderne Priorisierung von Fragen nach den Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis zurückzuweisen. Ich beeile mich aber hinzuzufügen, dass diese Konvergenz zwischen Hegel und mir eine beschränkte ist. In den idealistischen Folgerungen, die Hegel aus solchen Argumenten zog, in seiner Auffassung, der zufolge die Wirklichkeit selbst irgendwie Geist sei, kann ich ihm nicht folgen. Meines Erachtens ist das Wirkliche das, was ohnehin der Fall ist, unabhängig von unserer Erkenntnis davon. Aber so viel zum Wesen der Erkenntnis überhaupt. Ich habe das vermeintliche Primat der Erkenntnistheorie deshalb kritisiert, weil es den größeren Rahmen bildet, aus dem die moderne Auffassung der Selbsterkenntnis als einer unmittelbaren Erkenntnis der eigenen Geisteszustände eine ihrer Hauptmotivationen geschöpft hat. Jetzt kehre ich zum Thema der Selbsterkenntnis zurück, um aufgrund der vorhergehenden Betrachtungen eine attraktivere Auffassung in aller Kürze vorzuschlagen. IV. Selbsterkenntnis als Errungenschaft Ich habe am Anfang die Ansicht vertreten – es handelt sich um meine erste These –, dass jede Auffassung der Selbsterkenntnis ihr Augenmerk selektiv auf diejenigen Aspekte unserer Person richtet, die aufgrund eines größeren philosophischen Vorhabens von besonderem Interesse sein sollen. Hier am Schluss geht es mir darum, im Einklang mit dieser These ein Gesamtbild der menschlichen Situation zu skizzieren, das die Bedeutung meiner zweiten These, der zufolge Selbsterkenntnis niemals aus der Erste-Person-Perspektive zu gewinnen, sondern immer wesentlich drittpersonal ist, weiter erklären wird. Soweit nun bloß behauptet wird, dass alle Erkenntnis, die wir von uns selbst haben, aus einer Dritte-Person-Perspektive gewonnen ist, ist keine Unterscheidung angedeutet zwischen etwa meiner Erkenntnis, dass ich ein Meter neunzig groß bin, und meiner Erkenntnis, dass ich diesen Aufsatz bald zu Ende bringen will. Offensichtlich aber hat die Selbsterkenntnis, die nicht nur für die Philosophie, sondern auch letzten Endes im Leben selbst interessant ist, mit unserem Denken und Fühlen und nicht mit unseren physischen Eigenschaften zu tun. Gleichwohl wird nur ein Philosoph, und zudem nur einer, der einer bestimmten Tradition angehört, sagen, dass mein Wissen, dass ich diesen Aufsatz bald beenden will, irgendwie interessant sei. Das Interesse würde für ihn darin liegen, dass ich diesen Wunsch aufgrund einer unmittelbaren Vertrautheit mit meinen jeweiligen mentalen Zuständen erkennen würde und daher auf eine Weise, auf die niemand
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anderes ihn erkennen könnte. Diese weitverbreitete Vorstellung, wie vorher gezeigt wurde, ist ein Irrtum. Zwar kann ich allein, niemand an meiner Stelle, bekunden – das habe ich gerade getan –, dass ich den oder den Wunsch habe. Bekundungen sind ja wesentlich erstpersonal. Aber einen Wunsch zu äußern, ist nicht dasselbe, wie zu wissen, dass man diesen Wunsch hat. Insofern ich es in der Regel merke, wenn ich einen Wunsch laut oder zu mir selbst ausdrücke, erkenne ich freilich damit, dass ich diesen Wunsch habe. Andere Leute können es jedoch in gleicher Weise erkennen, wenn ich den Wunsch äußere, und obwohl sie es nicht mithören können, wenn ich zu mir selbst rede, ist der Unterschied zwischen den beiden Fällen nicht derart, dass meine Kenntnisnahme des ausgedrückten Wunsches in dem einen weniger aus einer drittpersonalen Perspektive erfolgt als in dem anderen. Im Fall des lautlosen Wunsches fehlt den Anderen allein das nötige Beweismaterial. Das alles sollte jetzt deutlich sein. Dennoch scheint mein Wissen, dass ich den erwähnten Wunsch habe (ich meine nicht die Tatsache selbst, dass ich bald enden werde!), weder für mein Leben noch für das Leben Anderer besonders interessant zu sein. Dieses Selbstwissen ist auch nicht einmal von philosophischem Belang. Daraus lässt sich aber ein positives Fazit ziehen. Denn wenn einmal zugegeben ist, dass das Wissen der eigenen Überzeugungen und Wünsche keine besondere, von jeder anderen Art von Wissen ganz verschiedene Form der Erkenntnis darstellt und dass es wie alles drittpersonale Wissen auf Beweisen und Folgerungen beruht, wird der Weg freigelegt zur Anerkennung – so lautet meine vierte und letzte These –, dass die wirklich interessanten Fälle von Selbsterkenntnis, für die Philosophie nicht weniger als für das Leben überhaupt, diejenigen sind, in denen es im Gegenteil schwer ist, festzustellen, was wir glauben oder wünschen. Dies sind Fälle, in denen die Beweise schwach oder zweideutig, die Folgerungen unsicher und die Bekundungen, wenn es überhaupt welche gibt, unzuverlässig oder auch vielleicht unaufrichtig sind. Nun ist das Gesamtbild der menschlichen Situation, das solche Fälle zum Paradigma der Selbsterkenntnis macht, ziemlich überzeugend: Wir sind uns einerseits in unseren Interessen und Motivationen in einem großen Ausmaß verwirrt und undurchsichtig, aber andererseits davon überzeugt, dass wir besser leben würden, wenn wir im Lichte der Wahrheit lebten. Wir genießen keine intime Vertrautheit mit uns selbst, aber wir wollen mit uns selbst vertrauter werden. Die Selbsterkenntnis, die uns im Leben wie in der Philosophie wichtig ist, ist daher diejenige, die die Hindernisse, die in uns selbst liegen, überwindet und die zur Klarheit des Geistes führt. Zur Überwindung dieser Hindernisse müssen wir zudem dieselbe Art von Hin und Her, denselben Wechsel zwischen Innen- und Außenperspektive üben, der sich bezüglich der Erkenntnis überhaupt als notwendig erweist: Wir müssen unsere eigenen Gedanken über die Person, die wir sind, und unser Wissen von der Welt, in der wir uns befinden, sowie die Meinungen Anderer über unsere Person gegeneinander ausgleichen. Am Ende ist dieses Bild des Menschseins nicht
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so weit von dem Rahmen entfernt, in dem Platon oder auf gewisse Weise auch Hegel philosophierten.* Literatur Descartes, René. [AT X] . Regulae ad directionem ingenii. Band X der Œuvres de Descartes, herausgegeben von Charles Adam und Paul Tannery. Paris. Dummett, Michael. . Origins of Analytical Philosophy. Cambridge Mass. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. [GW] ff. Gesammelte Werke, in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hamburg. Larmore, Charles. . Les pratiques du moi. Paris. – . Vernunft und Subjektivität. Berlin. – . „The First Meditation: Skeptical Doubt and Certainty“. In: The Cambridge Companion to Descartes’ Meditations, herausgegeben von David Cunning, – . Cambridge. – . Das Selbst in seinem Verhältnis zu sich und zu anderen. Frankfurt am Main. – . „Inwiefern soll Selbsterkenntnis philosophisch wichtig sein?“. Hegel-Jahrbuch ,: – . Montaigne, Michel de. [Essais] . Les Essais, herausgegeben von Pierre Villey. Paris. Sandkaulen, Birgit. . „Ich bin Realist, wie es noch kein Mensch vor mir gewesen ist“. Friedrich Heinrich Jacobi über Idealismus und Realismus. Paderborn. Wittgenstein, Ludwig. [PU] . Philosophical Investigations / Philosophische Untersuchungen. The German text, with an Endlish translation by G.E.M. Anscombe, P.M.S. Hacker and Joachim Schulte. . Aufl. Chichester.
* Dieser Text ist die stark überarbeitete und erweiterte Fassung eines Aufsatzes, der unter dem Titel „Inwiefern soll Selbsterkenntnis philosophisch wichtig sein?“ (Larmore ) erschienen ist.
Brady Bowman SPONTANEITÄT, GESCHÖPFLICHKEIT, UNENDLICHKEIT Zu den Vorbedingungen des Cogito in Descartes’ Meditationen *
I. Einleitende Bemerkungen zur Bedingtheit und Vermitteltheit des Cogito ergo sum „Dieser Satz: ‚Ich bin, ich existiere‘, so oft ich ihn ausspreche oder in Gedanken fasse, ist notwendig wahr.“ Das sogenannte Cogito hat große Berühmtheit erlangt. Es wird häufig, aber m. E. irrtümlich für jenen „festen und unbeweglichen“, „gewissen und unerschütterlichen“ (/AT VII, ) Archimedischen Punkt genommen, welchen aufzudecken ein Hauptziel der Meditationen ist. Aber Descartes selbst – oder vielmehr der Ich-Meditator, wie ich im Folgenden stets zur Kennzeichnung der für das Werk konstitutiven erst-personalen Perspektive schreiben werde – erachtet jenen Satz noch nicht für ausreichend zur Grundlegung der Wissenschaften. So oft er sich die Klarheit und Deutlichkeit der Sache vergegenwärtigt, bricht er zwar „unwillkürlich“ oder „von selbst“ – sponte lautet der fragliche Ausdruck im lateinischen Original – in die Worte aus: „Täusche mich, wer es kann! Niemals wird er doch bewirken, daß ich nichts bin, solange ich das Bewußtsein habe, etwas zu sein“ (/AT VII, ). Aber die Unbezweifelbarkeit dieses Gedankens und die Spontaneität des Gewissheitsgefühls reichen ihm doch noch nicht aus; er beschließt, weiter zu untersuchen, „ob es einen Gott gibt, und * Mein philosophisches Interesse an Descartes geht auf Gespräche zurück, die ich mit Birgit Sandkaulen am Rande ihrer Lehrveranstaltung zu Spinoza – geführt habe. Im Mittelpunkt stand damals die Frage nach der Wirklichkeit des freien Willens. Diese Frage bestimmt noch heute meinen Zugang zum Denken Descartes’; erst von ihr her fällt Licht auf seine Metaphysik und Erkenntnislehre. Manche der in diesem Aufsatz entwickelten Gedanken sind im Gespräch mit Omri Boehm weitergereift; unsere Übereinstimmung bezüglich der für die Cartesianische Erkenntnislehre grundlegenden Bedeutung des Willens hat mich in dem Vorsatz bestärkt, in diese Richtung weiter zu denken. Gespräche mit Uygar Abaci haben weitere Anregungen gebracht. Der gedankliche Austausch mit Anne Clausen, insbesondere über Levinas’ Deutung der Meditationen, trug zur Konzeptionierung vorliegenden Aufsatzes Entscheidendes bei; ihr gilt mein besonderer Dank. Descartes, Meditationen ([] , ). Diese deutsche Übersetzung wird im Text in Klammern unter Angabe der Seitenzahl zitiert, gefolgt von der Seitenangabe des entsprechenden Bandes der kritischen Edition (AT VII, hier: ). Stellenweise ist die deutsche Übersetzung hier und im Folgenden stillschweigend modifiziert worden. S. z. B. Larmore (, ): „[…] cogito, ergo sum forms the cornerstone of the Meditations’ new, non-empiricist conception of knowledge.“
Hegel-Studien Beiheft · © Felix Meiner Verlag · ISSN -
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wenn, ob er ein Betrüger sein kann. Denn solange ich das nicht weiß, scheint es nicht, daß ich über irgend etwas anderes jemals völlig gewiß sein kann“ (/AT VII, ). Dieselbe Überzeugung drückt er abermals im Anschluss an seine Darlegung des ontologischen Arguments für das Dasein Gottes aus: „Die Gewißheit aller übrigen Dinge“, lesen wir, hänge „gerade hiervon so durchaus ab […], daß man ohne das niemals irgend etwas vollkommen wissen kann“ (/AT VII, ). Höchst bemerkenswert ist außerdem der Satz: „Die Wahrnehmung Gottes [geht] derjenigen meiner selbst [mei ipsius] in gewisser Weise vorher“ (/AT VII, ). Ganz gleich, wie man den Gedanken letztlich zu verstehen hat, dass die Wahrnehmung Gottes der Wahrnehmung meiner selbst vorausgehen soll, es spricht in jedem Fall dagegen, das Cogito ergo sum mit dem gesuchten fundamentum inconcussum zu identifizieren, denn wie soll das, was nachfolgt, das sein, was vorhergeht und fundiert? Fast ebenso bemerkenswert ist die Willensbekundung, die dem Cogito vorausgeht und es einleitet: „Ich werde hartnäckig in dieser Meditation beharren, und ob es zwar nicht in meiner Macht steht, irgendetwas Wahres zu erkennen, so werde ich mich doch, soviel an mir liegt, festen Sinnes davor in Acht nehmen, nichts Falschem zuzustimmen, noch wird jener Betrüger, so mächtig und verschlagen er auch sein mag, mir irgendetwas aufzwingen [imponere] können“ (/AT VII, ). Um diese dem eigentlichen Cogito vorausliegenden und es fundierenden Bedingungen soll es nun im Folgenden gehen. Der nächste Abschnitt (II) befasst sich mit der Zweideutigkeit der Spontaneität, spielt diese doch eine entscheidende Rolle bei der Bestimmung der Klarheit, Deutlichkeit und Unbezweifelbarkeit der einzelnen Erkenntnisse. Das Thema der Spontaneität, der Leichtigkeit oder dessen, was von selbst erfolgt, verbindet Abschnitt (III) mit dem Thema der Willensfreiheit und deren Charakter als Freiwilligkeit. Dies wird in Abschnitt (IV) vertieft, indem die Freiheit und Leichtigkeit des Vollzugs in der Dimension der (Selbst-)Macht und (Un-)Abhängigkeit betrachtet wird: Was heißt es für den Willen, sich ursprünglich als bedingten, näher: als erschaffenen, nicht aus und durch sich selbst seienden, seine Zwecke letztlich nicht selbst setzenden zu entdecken? Der abschließende Abschnitt (V) deutet die Priorität des Bewusstseins des Unendlichen vor dem endlichen Selbstbewusstsein vom praktischen Primat des Willens her. Ich deute die im Cogito formulierte Gewissheit seiner selbst als vermittelte Folge des Entschlusses, rein denken zu wollen, der zum unmittelbaren Gegenstand nicht Ich, sondern das Unendliche, das Sein hat.
Zur weiteren Diskussion dieser Stelle s. Lennon (, bes. f.). Die Formulierung klingt absichtlich an diejenige Hegels an (vgl. GW : §).
Spontaneität, Geschöpflichkeit, Unendlichkeit
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II. Leichtigkeit und Mühe. Zur Bedeutung der Spontaneität Mühevoll sei das Unternehmen, wenn man sich einmal entschließt, alles, was man in seinem bisherigen Leben als wahr hat gelten lassen, „von Grund aus umzustürzen und von den ersten Grundlagen wieder neu anzufangen“ (/AT VII, ). Schwierig wird es vor allem gerade durch die Leichtigkeit, mit der man sich von seinem Vorsatz immer wieder abbringen lässt, „kehren doch die gewohnten Meinungen unablässig wieder und nehmen meinen leichtgläubigen Sinn, den sie sich ohnedies durch das Recht der langen Gewohnheit und der Freundschaft verbunden haben, auch wider meinen Willen in Besitz“ (/AT VII, ). Will ich daher in meinem Vorsatz beharren, so muss ich gegen die „Trägheit [desidia]“ ankämpfen, die mich gern in die alten „Lebensgewohnheiten“ zurückfallen lässt: [W]ie ein Gefangener etwa im Traume einer eingebildeten Freiheit genoß, und wenn er zu argwöhnen beginnt, daß er nur träume, sich fürchtet, aufzuwachen und sich den schmeichlerischen Vorspiegelungen solange als möglich hingibt, so gleite ich von selbst [sponte] in die alten Meinungen zurück und fürchte mich vor dem Erwachen […] (/AT VII, ). Gerade im Hinblick auf das mir Vertrauteste, und zwar gerade weil es mir das Vertrauteste ist, muss ich besonders auf der Hut sein, „daß ich nicht etwa unvorsichtigerweise etwas anderes an Stelle meiner selbst annehme [assumam in locum mei] und auf diese Weise sogar in der Erkenntnis abirre, von der ich behaupte, sie sei die gewisseste und evidenteste von allen“ (/AT VII, ). „Mühevolle Wachsamkeit“ gilt es mithin nicht nur gegenüber den angewöhnten Meinungen zu wahren; noch bis in die dritte Meditation prägen Vorsicht und Verdacht die Einstellung gegenüber allem, was sich meinem Denken „von selbst und naturgemäß [sponte & naturâ]“ (/AT VII, f.) darbietet. Selbst das scheinbar Allerevidenteste gilt es zu problematisieren. Descartes evoziert die Spontaneität der Überzeugung: So oft ich mich […] den Gegenständen selbst, die ich völlig klar zu erfassen vermeine, zuwende, lasse ich mich so vollkommen von ihnen überzeugen, daß ich von selbst [sponte] in die Worte ausbreche: Täusche mich, wer es kann! Niemals wird er doch bewirken, daß ich nichts bin, solange ich das Bewußtsein
Nach neuzeitlich-europäischer Rechtsauffassung begründet das Freundschaftsrecht ( jus familiaritatis) keinen Besitzanspruch und gestattet dem Eigentümer der zum Gebrauch überlassenen Sache überdies, seine Erlaubnis jederzeit nach Belieben und ohne förmliche Erklärung zu widerrufen (s. z. B. Gruchot (Hamm , Bd. , , inkl. Fn. mit Verweis u. a. auf die diesbezügliche Disputationsschrift von Christian Wolff)). Zur sachlichen Relevanz solcher Anklänge an die Sprache des Rechts (vor allem im Zusammenhang mit Descartes’ Verwendung der Worte revocare und admittere), s. Lennon (, f.).
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habe, etwas zu sein, oder daß es irgend einmal wahr ist, daß ich nie gewesen bin, wenn es jetzt wahr ist, daß ich bin […] ( f./AT VII, ). Unmittelbar darauf ermahnt er sich jedoch zur Zurückhaltung: Zwar sei der „Grund zum Zweifel in der Tat recht schwach und, sozusagen, metaphysisch“, aber solange nicht entschieden sei, „ob es einen Gott gibt, und wenn, ob er ein Betrüger sein kann“, solange könne man unmöglich „über irgend etwas anderes jemals völlig gewiß sein“ (/AT VII, ). Mühevoll ist das Unternehmen also im Grunde genommen deshalb, weil es einen Kampf und ein Ringen mit der Spontaneität impliziert. Von Beginn an begegnet sich das Denken in Konfrontation mit Kräften, Trieben, Neigungen, Impulsen, die es nicht mit Sicherheit beherrscht, ja zu denen es noch nicht einmal im klaren Verhältnis der Identität oder Differenz steht. Weil die Macht der Gewohnheit so groß sei, dass man sich ihrer niemals würde entschlagen können, wenn man seine bisherigen Meinungen nach ihrem wohl tatsächlichen Wert als wahrscheinliche und vernünftig anzunehmende behandelte, beschließt der Ich-Meditator, „sich freiwillig [voluntate] in die gerade entgegengesetzte Richtung“ (/AT VII, ) zu drehen und sich selbst zu täuschen (me ipsum fallam), um dadurch ein Gegengewicht zu schaffen, durch das er sie gleichsam aushebeln und somit außer Kraft setzen kann (vgl. /AT VII, ). Wer oder was er sei, steht indessen in Frage; er nimmt sich daher in Acht, nicht etwas anderes als sich selbst unvorsichtigerweise „an Stelle seiner selbst“ (in locum mei) anzunehmen oder mit sich zu verbinden (assumam: AT VII, ). „Allerdings ist es in der Tat recht wunderbar“, heißt es in diesem Zusammenhang, „daß ich die Dinge, die sich mir als zweifelhaft, unbekannt, mir fremd [dubias, ignotas, a me alienâs] ergeben“ – das sind „die körperlichen Dinge, deren Bilder sich in meinem Bewußtsein gestalten“ – „deutlicher erfassen sollte, als das Wahre, das mir Bekannte [cognitum], kurz als mich selbst“ (/AT VII, ). In solchem Befremden liegt der Grund für die Zurückhaltung gegenüber dem, was (wie man sagt:) „die Natur lehre“ (/AT VII, ), denn genauer besehen verbirgt sich hinter der Phrase nur das Eingeständnis, „daß ich von einem gewissen Trieb spontan dazu gebracht werde [spontaneo quodam impetu me ferri], [etwas] zu glauben“ (/AT VII, ). Die Mühe und Arbeit entstehen also durch den Verdacht, dass nicht alles, was spontan und freiwillig und naturgemäß geschieht, darum auch so wird, wie es wohl sein soll. Die „natürlichen Triebe“ führen mich häufig genug „nach der schlechten Seite, wenn es sich darum handelt, das Gute zu erwählen“ (/AT VII, ). Sie können mich leicht ins ‚Fremde‘ verführen, in das, was nicht ich selbst bin; sie gehören zwar nach der einen Seite wohl schon zu mir, aber nach der anderen Seite doch so, dass sie mich in Anderes, zu meinem Wesen nicht Zugehöriges verwickeln. Gebe ich ihnen nach, so geschieht es zwar freiwillig und spontan, aber nicht darum schon zum Besten und womöglich auch auf Kosten meiner Selbständigkeit.
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Dieses Umstands innezuwerden, bedeutet keine vollständige Unterbrechung jener Triebe; dazu genügte auch die größte Mühe nicht. Gänzlich indifferent kann kein Mensch werden. Daher die Notwendigkeit einer besonderen, in den Meditationen vorgeführten Disziplin. Diese sucht innerhalb der Spontaneität und Freiwilligkeit den Unterschied zwischen dem, was zu mir gehört, und dem, was nicht zu mir gehört, aufzuweisen und diesen Unterschied wiederum zu einem zweiten ins Verhältnis zu setzen, nämlich zwischen dem, was ich vermag, und dem, was ich nicht vermag. Implizit vorausgesetzt wird dabei ein Entsprechungsverhältnis zwischen Sein und Können, zwischen Wesen und Macht. In den Meditationen geht es also letztlich nicht um eine Erhebung über die Natur, sondern um die Freilegung des wahrhaft Naturgemäßen – dessen, was spontan aus den mich wesentlich ausmachenden Kräften fließt und darum auch das Leichteste ist. Die Mühe und Arbeit haben nur den Zweck, diese Leichtigkeit zu entdecken und zu gewinnen. Nirgends ist das klarer zu fassen, als an der Stelle der vierten Meditation, wo Descartes die Spontaneität der klaren und deutlichen Erkenntnis abermals beschwört und diese als die Erfahrung der Freiheit im eigentlichen Sinn bejaht: […] da habe ich mich nicht enthalten [können], zu urteilen, daß alles, was ich so klar einsähe, wahr sei. Nicht als ob ich von irgendeiner äußeren Macht dazu wäre gezwungen worden, sondern weil aus der großen Klarheit, die meinem Verstande aufleuchtete, eine große Neigung in meinem Willen folgte, und so habe ich dies um so spontaner und freier [tanto magis sponte et libere] geglaubt, je weniger ich dagegen unentschieden [indifferens] gewesen bin (/AT VII, f.). Diese auffällig starke Affirmation der Spontaneität und Freiwilligkeit wirft ein anderes Licht auf die „mühevolle Wachsamkeit“, die im Vordergrund der vorausgegangenen Meditationen stand; zugleich lässt sie die Bedeutung einiger sonst unauffälliger Äußerungen über Leichtigkeit und Macht hervortreten. Zum Beispiel wird in der ersten Meditation die „alte Meinung“ von der Existenz eines unendlich mächtigen Gottes, „der alles vermag, und von dem ich so, wie ich bin, geschaffen sei“, eigens dazu auf den Plan gerufen, um den skeptischen Gedanken plausibel zu machen, dass „ich mich täusche, so oft ich und addiere oder die Seiten des Quadrats zähle, oder was man sich noch leichteres denken mag“ (/AT VII, ; Herv. v. Verf.). Freilich scheint selbst eine unendliche Macht mich nicht über meine eigene Existenz täuschen zu können oder „zu bewirken, daß ich nichts bin, solange ich das Bewußtsein habe, etwas zu sein“ (/AT VII, ). Aber warum nicht? Offenbar deshalb, weil dieser Gedanke ‚Ich bin, ich existiere‘ selbst von unendlicher Leichtigkeit ist, so dass keine weitere Macht dazu gehört, ihn in seiner Wahrheit zu erfassen, als eben die Macht, durch die ich selber unmittelbar bewusst bin und geistig existiere, so verschwindend gering sie auch sein möchte. In der Tat sagt Descartes selbst fast wortwörtlich dasselbe, wenn er es am Ende der zweiten
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Meditation als offenbar hinstellt, „daß ich nichts leichter und mit größerer Evidenz [facilius aut evidentius] erfassen kann als meinen Geist“ (/AT VII, ). Welche Macht nun aber tatsächlich dazu gehöre, dass ich unmittelbar bewusst bin und geistig existiere, ist wiederum eine Frage für sich. Gesetzt, ich bin, so ist die Wahrheit des Gedankens ‚Ich bin‘ unendlich leicht zu erfassen. „Offenbar viel schwerer“ sei es, so Descartes, „daß ich, d. h. ein Ding oder eine Substanz, die denkt, aus nichts auftauchte [ex nihilo emergere], als zu der Erkenntnis von vielen mir bekannten Dingen zu gelangen, die nur Accidentien jener [denkenden] Substanz sind“ (/AT VII, ) – inklusive jenes leichtesten aller Gedanken ‚Ich bin‘. Hätte ich also meine eigene Existenz durch mich selbst, aus eigener Macht oder Kraft – so die Überlegung weiter – dann „würde ich doch [sicherlich], wenn ich jenes Größere [sc. die Existenz] von mir allein hätte, mir das nicht versagt haben, was leichter zu erwerben [facilius haberi] ist […]“ (/AT VII, ; Herv. v. Verf.). So unendlich leicht es daher auf der einen Seite ist, jenen Gedanken ‚Ich bin‘ in seiner Wahrheit zu erfassen – in der Tat so leicht, dass selbst eine unendliche Macht mich darin nicht zu täuschen vermöchte –, ebenso unendlich schwer ist es auf der anderen Seite, jenen Gedanken wahr zu machen. An dieser Stelle ist förmlich zu spüren, wie sich die beiden Gedanken berühren und zu der einzigen Gewissheit werden, dass mir dort, an der Grenze, wo meine eigene Macht zur Indifferenz gegen Null verschwindet, in der unbezweifelbaren Wahrheit zugleich eine unerschütterliche Macht begegnet. Der Begriff der Gewißheit verbindet sich hier mit dem der Macht; darum wird die Leichtigkeit und Spontaneität des Erkennens zur Qualität, zum Kriterium der Wahrheit. Die in den ersten Meditationen beschworene Mühe und Arbeit, die Disziplin und Enthaltsamkeit, Selbstmacht und Selbstbesitz erhalten ihren Grund und ihren Wert also schließlich nur durch das, was von selbst, spontan und der Natur gemäß geschieht, und können gar nicht ohne dies sein. Diese Einstellung kommt unter anderem in dem bereits zitierten Schlusspassus der zweiten Meditation zum Ausdruck: Und siehe da! So bin ich schließlich ganz von selbst dahin zurückgekommen [sponte sum reversus], wo ich hinaus wollte. Denn da ich jetzt weiß, daß ja selbst die Körper […] einzig und allein durch den Verstand erfaßt werden, […] so erkenne ich offenbar, daß ich nichts leichter und augenscheinlicher erfassen kann – als meinen Geist (/AT VII, – ). Vergegenwärtigt man sich diesen Gedankengang, so klingen Descartes’ Versicherungen im Widmungsbrief an die hochgelehrten und weltberühmten Herren Theologen der Sorbonne ebenfalls gleich voller, nämlich wenn er schreibt, er habe im Einklang mit der Heiligen Schrift „den Weg erforschen wollen, wodurch Gott leichter und gewisser als die irdischen Dinge erkannt wird“ (/AT VII, ; vgl. /AT VII, ). Zur biblischen Untermauerung seiner Behauptung, die Erkenntnis Gottes sei „so einfach, daß diejenigen, die es nicht erwerben, sich dadurch schuldig machen“ (/AT VII, ), zitiert Descartes Weis. , und Röm. , – .
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Die Stelle verweist auf eine vorausgegangene zurück, wo der Ich-Meditator unter Anklängen an eine lange, bis auf den Platonischen Phaidros zurückreichende, aber durch den hier davon gemachten Gebrauch zugleich umgewertete Bild-Tradition den Entschluss fasst, die Zügel einmal schießen zu lassen (vgl. Platon, Phaidros, a–e): Ich sehe schon, wie es sich damit verhält: meinem Geiste macht es Freude, abzuirren, er verträgt es noch nicht, sich in den Schranken der Wahrheit zu halten. Sei es also! Lassen wir ihm noch einmal die Zügel locker, um sie dann zur rechten Zeit wiederanzuziehen, damit er es leichter duldet, sich geraden Weges lenken zu lassen [facilius se régi patiatur] (/AT VII, f.). Die Triebe und Neigungen treten nie eigentlich zurück; sie sollen stattdessen gezähmt oder vielmehr zu sich selbst geführt werden, d. h. zu dem, was sie selber sind und was ihnen naturgemäß ist. Nur dadurch erhalten Arbeit und Disziplin einen Sinn und einen Halt. So zielen die Meditationen insgesamt darauf ab, das in den Trieben selbst gelegene eigene Gesetz, die ihnen selbst immanente eigene Grenze aufzuweisen und ins Denken eingreifen zu lassen.
III. Freiwilligkeit oder Indifferenz? Zum Wesen der menschlichen Freiheit Der Wille oder die Entscheidungsfreiheit (voluntas, sive arbitrii libertas) besteht darin (so Descartes), […] daß wir dasselbe entweder tun oder nicht tun können – d. h. es bejahen oder verneinen, befolgen oder meiden – oder sie besteht vielmehr [vel potius] darin, daß wir zu dem, was uns der Verstand uns zum Bejahen oder Verneinen, Befolgen oder Verneinen vorlegt [ab intellectu proponitur], in einer Weise bewogen [feramur] werden, daß wir uns durch keine äußere Macht [vi externâ] dazu bestimmt fühlen [determinari sentiamus] (/AT VII, ). Manche Interpreten finden die Definition zweideutig oder gar widersprüchlich. Die erstere Formulierung (vor dem vel potius) setzt die Freiheit allem Anschein nach mit der Fähigkeit zur Indifferenz, d. h. mit der Möglichkeit, sich jederzeit anders entscheiden zu können, gleich; frei wäre ich demnach immer nur dann, wenn ich mich zu keiner Handlung eher als zu einer anderen bestimmt weiß oder fühle. Nach der letzteren Formulierung (hinter dem vel potius) verträgt sich die Freiheit dagegen sehr wohl damit, dass ich mich bestimmt weiß oder fühle, vorausgesetzt, die Bestimmung meines Willens (bzw. meiner Wahl) kommt in der relevanten Hinsicht nicht durch äußeren Zwang oder Gewalt zustande. Vgl. Kenny (); Ragland (). Für die kritische Diskussion s. Lennon ().
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Im Zusammenhang der vierten Meditation löst Descartes selbst die Zweideutigkeit zugunsten dieser letzteren, kompatibilistischen Formulierung auf, indem er setzt: „Es ist aber für mich, um frei zu sein, auch nicht nötig, daß ich nach der einen wie nach der anderen Seite bewegt werden kann. Im Gegenteil, je mehr ich nach der einen Seite neige [propendeo] […] um so freier wähle ich“ (/AT VII, f.). Restlos zerstreut sind die Irritationen dadurch allerdings noch nicht. Behauptet der Ich-Meditator zu Beginn seiner Meditationen nicht gerade dadurch seine Willensfreiheit, dass er sich entgegen seiner eigenen inneren Neigung dazu entschließt, selbst dem, was er klar und deutlich einsieht (z. B. den Satz: + = ), seine Zustimmung vorzuenthalten? Wie wir schon bemerkt haben, klammert er in der dritten Meditation sogar die Wahrheit des Cogito solange noch als problematisch ein, wie die Frage nach der Existenz eines allgütigen Schöpfergottes nicht entschieden werden kann. Falls man hierin die Spuren einer dem Kompatibilismus der vierten Meditation widerstreitenden Freiheitskonzeption zu erkennen meint, dann wird man seinen Verdacht durch einen wenige Jahre später (vermeintlich als Brief an Denis Mesland) verfassten Text erhärtet finden. Dort unterscheidet Descartes zweierlei Bedeutungen von „Indifferenz“ und räumt ein, dass sie dem menschlichen Willen in beiderlei Sinn auch zukommt. Grundsätzlich habe man unter „Indifferenz“ den „Zustand des Willens“ zu verstehen, „wenn dieser von keiner Wahrnehmung des Wahren oder des Guten nach der einen oder der anderen Seite getrieben [impellitur] wird“ (AT IV, ). In einem weiteren Sinn werde zudem darunter „ein positives Vermögen [positiva facultas]“ verstanden, „sich im Falle von zwei entgegengesetzten [sc. Handlungen] zu der einen oder anderen (also zum Bejahen oder Verneinen, Befolgen oder Meiden) zu bestimmen. Dass ein solches positives Vermögen im Willen liegt, bestreite ich nicht [non negavi].“ Descartes’ unmittelbar hierauf folgende Erklärung scheint vollends der für den Gang der Meditationen entscheidenden Evidenzregel direkt zu widersprechen: Ich meine sogar, [der Mensch] hat [dies Vermögen] nicht allein in Fällen, bei denen er von keinem evidenten Grund [evidentibus rationibus] nach einer der Unter ‚Kompatibilismus‘ verstehe ich die Lehre, die Freiheit des Willens setze nicht voraus, dass man in Bezug auf alternative Handlungsmöglichkeiten immer die Fähigkeit habe, anders zu wählen, als man es tatsächlich tut; oder mit anderen Worten die Lehre, dass sich Notwendigkeit und Freiheit nicht notwendig und in jeder Hinsicht widerstreiten. Der theologische Streit um das Zusammenspiel von göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit, der Mitte des . Jahrhunderts um den Jansenismus entbrannte, verleiht dem Begriff des Kompatibilismus eine gegenüber der heutigen Diskussion um Willensfreiheit besondere Nuance, wenn es um Positionen im geschichtlichen Umfeld von Descartes geht. Zum Kontext und Hintergrund s. Lennon (). Zu den Gründen, die dagegen sprechen, den Text als Brief an Mesland zu bestimmen, s. Lennon (, – ). Deutsche Übersetzung v. Verf. Diese und die nächstfolgenden Zitate stammen sämtlich aus dem Passus AT VII, .
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beiden Seiten stärker getrieben wird, sondern in allen anderen auch, und zwar so, dass, wenn uns ein völlig evidenter Grund nach der einen Seite bewegt [movet], wir uns zwar moraliter kaum nach der entgegengesetzten Seite richten können, aber absolute können wir es doch. Denn gestattet ist es uns immer, uns davor zurückzuhalten [licet nos revocare], etwas, dass wir klar als gut erkennen, zu befolgen oder eine deutlich erkannte Wahrheit zuzugestehen [admittendâ], insofern wir es für gut befinden, auf diese Weise unsere Entscheidungsfreiheit zu bezeugen [libertatem arbitrii … testari] (AT IV, ). Nimmt man diese Erklärung wörtlich, so scheint sie den Verdacht auf eine in den Meditationen selbst nur halb entwickelte, der kompatibilitischen Willenslehre der vierten Meditation widerstreitende Auffassung von Freiheit als (radikaler) Indifferenz in einer Weise zu bestätigen, welche Descartes’ Anspruch, die Wahrheit in der Unbezweifelbarkeit klarer und deutlicher Wahrnehmung zu begründen, zunichte machen würde. Doch das Gegenteil ist der Fall, wie Thomas Lennon nachgewiesen hat. Descartes räumt im nächsten Absatz des fraglichen Textes ein, dass der Wille in den Zustand der Indifferenz allerdings versetzt werden kann: Dies geschieht so oft, wie dem Verstand eine klare und deutliche, zur Entscheidung hinreichende Einsicht fehlt. Überdies kann sich der Wille selbst sogar willentlich in diesen Zustand versetzen; dafür ist der methodische Zweifel, von dem der Ich-Meditator Gebrauch macht, selbst das beste Beispiel: Man ersinnt („fingiert“) skeptische Szenarien, um das Gewicht der „alten Meinungen“ oder sogar auch das der klaren und deutlichen Wahrnehmung aufzuwiegen und einen Zustand der Indifferenz herbeizuführen (wie z. B. in dem bereits zitierten Passus der dritten Meditation: f./AT VII, ). Weil man von der Einsicht, es sei gut auf diese Weise die Entscheidungsfreiheit zu bezeugen, dazu bewogen wird, die Indifferenz derart anzustreben, macht man von dieser Methode Gebrauch und „dreht sich freiwillig [voluntate] in die gerade entgegengesetzte Richtung“ (/AT VII, ; vgl. AT IV, ). In praktischer Beziehung (moraliter) können solche Fiktionen uns zwar kaum davon abhalten, dem klar Erkannten Folge zu leisten, aber „wenn es nicht auf ein Handeln, sondern nur auf ein Erkennen ankommt“ (/AT VII, ), dürften sie ausreichen. – Auch die hierzu komplementäre Fähigkeit des Willens erkennt Descartes an, sich im Falle einer unfreiwillig eintretenden Situation des Gleichgewichts von selbst und ohne eine sachlich ausschlaggebende Einsicht zu einer der beiden Alternativen zu bestimmen, um sich dadurch aus der Unentschiedenheit zu befreien. Dies sei aller-
Vgl. Lennon (, ). Descartes verweist auf eine analoge Situation praktischer Indifferenz, die dadurch zustandekommen könnte, dass etwa die Überzeugung, es sei gut, einem Befehl zu gehorchen, durch die entgegengesetzte Überzeugung aufgewogen wird, es sei gut, sich dem Leichteren hinzugeben (s. auch Shapiro , – ).
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dings „der niedrigste Grad der Freiheit“, wie er in Übereinstimmung mit der Position von Meditation IV nochmals unterstreicht (AT IV, ; vgl. AT VII, ). Aus diesen weiteren Erklärungen geht die Eindeutigkeit und Kohärenz der in den Meditationen gegebenen Erklärung der Willensfreiheit klar hervor. Die Indifferenz ist in dem eben erläuterten Sinn eine tatsächliche und wichtige Eigenschaft des menschlichen Willens; sie gründet in seinem Wesen als facultas eligendi (vgl. / AT VII, ). Aber sie selbst macht nicht das Wesen der menschlichen Freiheit aus (vgl. AT VII, ). Wie hier, so bereits in den Meditationen: Die Entscheidungsfreiheit ist wesentlich Spontaneität, Freiwilligkeit. Sie mag sich unter besonderen Umständen als (relative) Indifferenz bzw. als gleichsam unbegründete Aufhebung der Indifferenz äußern, aber ebenso und mehr noch äußert sie sich als das Gegenteil – als eine Leichtigkeit des Vollzugs (operandi facilitas: AT IV, ), deren wirkliche Gegenwart eine unabänderliche Bestimmtheit bewirkt und alle bloß denkbaren Alternativen kategorisch ausschließt: „In jenem Moment sind Freiheit und Spontaneität und Freiwilligkeit eines und dasselbe. In diesem Sinne habe ich geschrieben, dass ich um so freier zu etwas bewegt werde [ferri], je mehr die Gründe sind, die mich dazu treiben [impellor], denn gewiss bewegt sich unser Wille dann mit größerer Leichtigkeit und größerem Schwung [maiori … facilitate atque impetu]“ (AT IV, ). Im Hinblick auf die in der ersten Meditation beschworene „mühevolle Wachsamkeit“ wäre die Sache so zu pointieren: Im Gegensatz zur „eingebildeten Freiheit“, die man als Gefangener der eigenen Gewohnheiten im Traum genießt und die sich statt durch Schwung, durch Trägheit und Schwäche ankündigt (vgl. /AT VII, ), äußert sich die wahrhafte Spontaneität als eine Energie des Vollzugs, durch welche sich die wirkliche Freiheit als unendlich viel leichter als der bloße Schein von ihr zu sein erweist.
IV. Was in meiner Macht steht. Geschöpflichkeit und die Grenze der Indifferenz Sum creatus. Das Thema der Geschöpflichkeit ist von Anfang an präsent. Die skeptische Möglichkeit, ich könnte mich sogar auch dann täuschen, „so oft ich und addiere oder die Seiten des Quadrats zähle, oder was man sich noch leichteres [facilius] denken mag“, vergegenwärtigt sich der Ich-Meditator zusammen mit der in seinem Geiste „eingeprägten“ (infixa) alten Meinung, „daß ein Gott sei, der alles vermag [potest omnia], und von dem ich so, wie ich bin, geschaffen sei [quo talis, qualis exifto, sum creatus]“ (/AT VII, ; Herv. v. Verf.). Bereits in der ersten Meditation wird die Allmacht eines Schöpfers als Bedingung aller möglichen Gewissheit ausgesprochen, denn „je geringere Macht [minus potentem] man dem Urheber meines Seins [originis meae authorem] zuschreibt, um so wahrscheinlicher [wird es] sein, ich sei so unvollkommen, daß ich mich stets täusche“ (/AT VII, ).
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Definitorisch festgeschrieben wird die Beziehung zwischen endlichem Geschöpf und allmächtigem Schöpfer in der dritten Meditation, wo Descartes sein erstes Argument für die Existenz Gottes einleitet: „Unter dem Namen Gottes verstehe ich eine Substanz, die unendlich, unabhängig, von höchster Einsicht und Macht [summe potentem] ist, und von dem ich selbst […] geschaffen worden bin [ego ipse (sum) creatu(s)]“ (/AT VII, ). Die in der ersten Meditation zunächst nur problematisierend eingeführte „alte“, mir „eingesetzte“ Meinung von einem allmächtigen Wesen, „von dem ich so, wie ich bin, geschaffen sei“, – also just die „Meinung“, derer ich mich dort bediente, um mir meine evidentesten Erkenntnisse als möglicherweise eitlen Schein vorstellen zu können, d. h. als Folgen meiner Ohnmacht, den Irrtum aufzudecken, den ein mir fremder Geist „einzusetzen“ (imponere: AT VII, ) trachtete – eben jene Meinung schlägt nun selbst, und zwar als solche, in der dritten Meditation um und wird zum Beweisgrund für die Existenz des meine Erkenntniskräfte stiftenden und gewährenden Schöpfers: Die ganze zwingende Kraft des Beweisgrunds [totaque vis argumenti] liegt darin, daß ich anerkenne [agnoscam], daß ich selbst mit dieser meiner Natur – insofern ich nämlich die Idee Gottes in mir habe, – unmöglich existieren könnte [non posse ut existam talis naturæ qualis sum], wenn nicht Gott auch wirklich existierte ( f./AT VII, f.; Herv. v. Verf.). Auffällig, dieses Spiel zwischen Leichtigkeit und Mühsal, Macht und Ohnmacht, Sein und Nichtsein. Unendlich leicht ist es, von meiner eigenen Existenz zu wissen; selbst eine unendliche Macht vermag es nicht zu bewirken, „daß ich nichts bin, solange ich denke, daß ich etwas sei“ (/AT VII, ). Steht es zwar nicht in meiner Macht (in potestate meâ), irgendetwas Wahres positiv zu erkennen, so vermag ich es immerhin, mich gefestigten Sinnes (obfirmatâ mente) gegen jedwede Imposition negativ zu behaupten (nec mihi … possit imponere: /AT VII, ) und selbst der erhabensten äußeren Macht eine Grenze zu setzen, wenn es um meinen Willen geht. Ich fühle meine Existenz, indem ich mich als eine allem mir Fremden absolute Schranken setzende Willensmacht erlebe – als Macht, nichts in mich hereinzulassen (admettere: AT VII, ). Doch gerade diese Gewissheit meiner Existenz, die mir im Akt der Selbstbegrenzung und der Abschließung nach Außen wird, markiert zugleich die Grenze meines Vermögens, alles überhaupt sich mir Darbietende in Zweifel zu rufen (in dubium revocare: AT VII, ) und mich im Zustand absoluter Indifferenz zu halten. Die Ambivalenz dieser Grenze hängt mit Descartes’ Auffassung vom Verstand als einem durch und durch passiven Vermögen zusammen, durch welches uns Ideen als zum Bejahen bzw. Verneinen vorgesetzt werden. Im eigentlichem Sinne aktiv Man beachte den wörtlichen Anklang an den oben zitierten Passus der ersten Meditation: / AT VII, .
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sind wir nur als Wille, indem wir dem Bejahen bzw. dem Verneinen entweder zustimmen oder aber unsere Zustimmung enthalten. Nun wird mir aber zusammen mit meinem Entschluss, jedweder fremden Imposition eine Schranke zu setzen, zugleich auch die reine Idee meiner eigenen Existenz zum ersten Mal objektiv im Verstand. Dass sie mir so wird, ist zwar Folge meines eigenen Tuns (also Folge der Ausübung meiner eigenen Macht), aber zugleich auch so, dass mein Tun sich hier selbst begrenzt und von der Passivität des Annehmens ununterscheidbar wird: Ich kann nicht anders. Mein eigenes Streben nach Indifferenz verunmöglicht es mir, die Indifferenz erst zu erreichen, geschweige denn, mich darin zu halten. Und zwar auf doppelte Weise. In und durch meinen Entschluss, mich gegen alles zu verschließen, was mir von außen durch einen noch so mächtigen fremden Willen „eingesetzt“ (mihi imponere) werden könnte, begegnet mir die unbezweifelbare Gewissheit meiner eigenen Existenz. Bedingt ist diese Gewissheit indes durch eben jene mir von alters her „eingesetzte“ (infixa) Idee eines allmächtigen Schöpfers, deren große Klarheit mich „anerkennen“ (agnoscam) lehrt, Gott selbst habe sie mir bei meiner Erschaffung „eingesetzt“ (indidisse: AT VII, ). Diesen Akt der Anerkennung oder Einwilligung müsste man als einen höchst unvermittelten Wendungspunkt im Gang der Meditationen werten, wenn er den Sinn hätte, als würde der Ich-Meditator, als bereits konstituierter und für sich bestehender Wille und Verstand, eine ihm von außen her vorgesetzte Idee nun willig empfangen und ihr den bislang sonst verweigerten Eingang bei sich gewähren. Aber so verhält es sich nicht. Das ‚Einsetzen‘ geschieht nach Descartes nicht in der Weise, als sei ich selbst schon da als Verstand und Wille, um eine vorgesetzte Idee etwa zu empfangen oder auch nicht zu empfangen. Das ‚Einsetzen‘ jener Idee ist vielmehr selbst der Akt meiner Erschaffung: Es ist ein und derselbe Akt, durch den ich erschaffen werde, und durch den die Idee des Unendlichen eingesetzt wird. Es geschieht mir deshalb auf eine Weise, die von allem anderen Geschehen kategorial verschieden ist, denn es setzt mich, bevor ich bin, der mir etwas geschehen könnte; oder es wird damit ein Sein gegeben, welches Geben die Möglichkeit erst kreiert, dasselbe zu empfangen. Mein gesamtes Können – mein Tun- und Lassen-Können ebenso wie mein Sein-Können – wird erst durch jenen Akt.
Vgl. den Brief an Mesland vom . Mai : „So wie es im Falle des Waches nicht eigentlich ein Tun [action], sondern ein Leiden [passion] bedeutet, wenn es verschiedene Gestalten annimmt [recevoir], so scheint es mir ebenfalls im Falle der Seele ein Leiden zu bedeuten, wenn sie diese oder jene Idee annimmt, und dass sie nur im Wollen eigentlich tätig ist [qu’il n’y a que ses volontez qui soient des actions]; und dass sie ihre Ideen eingesetzt [!] bekommt [ses idées sont mises en elle], teils durch die Gegenstände, welche die Sinne berühren […] und teils auch […] durch die Bewegungen des Willens“ (AT IV, f.). Vgl. hierzu Lennon (, ); Rosenthal (, – ).
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Dass dies der eigentliche Gedanke ist, der sich hinter der Rede von „Einsetzen“ verbirgt, ersehen wir aus Descartes’ Vergleich jener Idee mit dem „Zeichen [nota artificis], das der Künstler seinem Werke aufgeprägt [impressa] hat“ (/AT VII, ). Denn er präzisiert den Vergleich in einer Weise, welche die mit dem Ausdruck: imprimere (auch imponere, infigere, indere usw.) sonst verbundene Konnotation entfernen soll, nämlich die Vorstellung, als sollte hier auf oder in ein bereits bestehendes, fertig daseiendes Ding hineingewirkt werden: Übrigens braucht jenes Zeichen gar nicht etwas von dem Werke selbst Verschiedenes zu sein, sondern einzig und allein daher, daß Gott mich geschaffen hat [Deus me creavit], ist es recht glaubhaft, daß ich in gewisser Weise nach seinem Bilde und seiner Ähnlichkeit geschaffen bin [ad imaginem & similitudinem ejus factum esse] (/AT VII, ). Mit anderen Worten bin ich selbst – ich, dieser sich in seiner Mittelstellung zwischen Sein und Nichts als Streben nach Selbständigkeit gewahrende Wille – ich selbst bin das Zeichen, durch das sich der Schöpfer bezeugt (vgl. /AT VII, ; /). Jenes vom Ich-Meditator gesprochene: ego sum (/AT VII, ) heißt also vollständiger: ego sum creatus, aber ebenso auch: ego sum nota. Mein differentes Sein verweist in sich selbst und unmittelbar auf das indifferente – in sich vollkommene, allmächtige – Sein, von dem her ich bin, auf das hin ich strebe: „Die Wahrnehmung [perceptionem … Dei] Gottes [geht] dem meiner selbst [mei ipsius] in gewisser Weise vorher“ (/ AT VII, ). Indem ich strebe, differiere ich vom Nicht-Sein wie vom vollkommenen Sein. Durch dieses Streben und Differieren verweist meine Existenz zugleich auf eine andere, unendliche, in Bezug worauf mein Selbstbezug erst möglich wird. Darin mag – wenigstens zum Teil – die Bedeutung der Rede von „Bild und Ähnlichkeit“ liegen, aber auch von Descartes’ sonst rätselhafter Feststellung, der zufolge „diese Ähnlichkeit, in welcher die Idee Gottes enthalten ist, von mir durch dieselbe Fähigkeit [facultatem] wahrgenommen wird, durch die ich von mir selbst wahrgenommen werde“ (/AT VII, ). Mein Sein wird mir als Endlichem gegeben: Creatus sum.
V. Imago Dei. Menschlicher Wille und die Idee des Unendlichen Der menschliche Wille braucht nicht indifferent zu sein, um frei zu sein. Wie wir bereits gesehen haben, räumt Descartes zwar sowohl die Fähigkeit des Willens ein, durch das Gleichgewicht entgegengesetzter Gründe (Isosthenie) zur Indifferenz passiv bestimmt zu werden, als auch dessen positives Vermögen, sich wohl oder übel gerade auch in solchen Fällen für eine der beiden Seiten zu entscheiden, d. h.
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sich selbst willkürlich zu bestimmen. Die Willkür bewertet er allerdings als den „niedrigsten Grad der Freiheit“ – sie bezeuge keine „Vollkommenheit“ (perfectionem), „sondern nur einen Mangel oder eine gewisse Negation im Denken [cogitatione]“ (/AT VII, ). Im Gegensatz zur Indifferenz steht die Freiheit der Spontaneität: [J]e stärker meine Neigung zu der einen Seite – sei es nun, daß ich den Grund des Wahren und Guten darin mit Klarheit erfasse [evidenter intelligo], sei es, weil Gott mein innerlichstes Denken so eingerichtet [intima cogitationes meæ ita disponit] hat – um so freier ist meine Wahl; weder die göttliche Gnade noch das natürliche Erkennen [naturalis cognitio] schmälern jemals die Freiheit, sondern sie mehren und stärken sie vielmehr“ (/AT VII, ). In seiner Auffassung vom Wesen der menschlichen Freiheit ist Descartes also klarerweise Kompatibilist. Aber darin erschöpft sich sein Verständnis von Freiheit noch nicht. Seine Auffassung von der menschlichen Willensfreiheit steht im Zusammenhang mit seinem Verständnis der göttlichen Freiheit und zumindest implizit entwickelt er sie auch in den Meditationen im Rahmen dieses weiteren Verständnisses. Grundlegend für Descartes’ Verständnis der göttlichen Freiheit ist die göttliche Allmacht. Das ersehen wir mit besonderer Deutlichkeit aus seiner Lehre von der Erschaffung der ewigen Wahrheiten (s. Frankfurt ). Wenn Gott es so gewollt hätte (so Descartes), dann hätte er bei der Erschaffung der Welt die Dinge auch so einrichten können, „dass es unwahr sei, dass die drei Winkel eines Dreiecks zusammengenommen zwei rechten gleich seien, oder allgemeiner, dass sich Widersprechendes nicht zusammen zu bestehen vermag“ (AT IV, ). Wie Gott darin „frei und indifferent“ gehandelt hätte, verstehe man leichter (so weiter Descartes), wenn man bedenkt, „dass die Macht Gottes keine Grenzen haben kann“ (AT IV, , Herv. v. Verf.). Denn „Gott kann nicht dazu bestimmt gewesen sein, es wahr zu machen, dass Widersprechendes nicht zusammen bestehen könne […] und folglich hätte er auch das Gegenteil machen können“ (AT IV, ). Nun vermöge zwar der erschaffene, d. h. der endliche Verstand eine derart uneingeschränkte Möglichkeit nicht zu begreifen und solle es nicht erst versuchen; aber soviel sei klar: Dass Gott gewollt habe, dass etwelche Wahrheiten notwendig seien, heißt nicht, er habe dies notwendigerweise gewollt; denn eines ist es, zu wollen, eine Sache
Um genau zu sein, kann ich nach Descartes () durch unbeabsichtigtes Eintreten der Isosthenie in den Zustand der Indifferenz passiv versetzt werden, aber auch () durch willentliches Herbeiführen der Isosthenie mich gezielt und freiwillig in den Zustand der Indifferenz versetzen, wenngleich nur vorübergehend und zu Zwecken der Erkenntnis, nicht aber in praktischer Hinsicht. Hiervon ist wiederum () das positive Vermögen der Willkür zu unterscheiden.
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sei notwendig, und etwas ganz anderes, eine Sache notwendigerweise zu wollen oder dazu genötig zu sein [d’estre necessité], es zu wollen (AT IV, f.). Die Lehre von der göttlichen Erschaffung der ewigen Wahrheiten, d. h. von Gottes Macht und Erhabenheit selbst über die logische Notwendigkeit, findet man in den gedruckten Schriften Descartes’ zwar nicht. Aber in seinen Erwiderungen auf die sechsten Einwände gegen die Meditationen rührt er daran, indem er anhand eines seiner üblichen Beispiele erklärt, Gott hätte die Freiheit gehabt, die Dinge so zu erschaffen, dass die drei Winkel des Dreiecks nicht gleich zwei rechten gewesen wären (vgl. /AT VII, ). In diesem Kontext geht er näher auf den Zusammenhang zwischen Freiheit, Indifferenz und Allmacht ein: Mit dem Worte ‚Freiheit‘ verhält es sich ganz anders bei Gott als bei uns. […] Denn man kann sich kein Gutes oder Wahres […] ausdenken, dessen Ideen im göttlichen Verstande gewesen, bevor sein Willen sich entschlossen, zu bewirken, dass es so wäre. Und zwar rede ich hier nicht von einer zeitlichen Priorität, sondern ich behaupte, daß auch keine Priorität der Ordnung oder der Natur oder der ‚ratio ratiocinata‘ nach […] vorhanden ist, so nämlich, daß diese Idee des Guten Gott dazu bewogen [impulerit] hat, das eine eher als ein anderes zu wählen. […] So ist die höchste Indifferenz in Gott der höchste Beweis für seine Allmacht (–/AT VII, – ; Herv. v. Verf.). Der Unterschied zwischen göttlicher und menschlicher Freiheit ist ein Wesensunterschied. Gott ist allmächtig, infolgedessen schlechthin wirklich, ohne Potentialität, ohne Passivität, unbestimmbar. Deshalb entfällt bei Gott auch jeder Unterschied zwischen Willen und Verstand: „In Gott sind Wollen und Erkennen eins [en Dieu ce n’est qu’un de vouloir & de connoiftre]“ (AT I, ; zit. in Jayasakera , ). In den Prinzipien (§ ) erklärt Descartes gleichlautend, Verstehen und Wollen (intelligere & velle) seien in Gott nicht verschieden: „Durch einen einzigen, immer gleichen, höchst einfachen Akt versteht, will und bewirkt er alles zugleich [per unicam semperque eandem & simplicissimam actionem, omnia simul intelligat, velit & operetur]“ (AT VII, ; zit. in Jayasakera , ; vgl. AT IV, ). Eben deshalb wäre es auch sinnlos, anzunehmen, der Wille Gottes sei durch irgendeine Idee des Wahren oder Guten bestimmt. Vom endlichen, menschlichen Willen entwerfen die Meditationen ein damit stark kontrastierendes Bild. Von Anfang an kündigt sich der menschliche Wille als Streben an (vgl. /AT VII, ) – und zwar zunächst als Streben nach Wahrheit, aber sofern diese etwa nicht zu erlangen sein sollte, dann immerhin nach demjenigen Descartes fährt an der Stelle fort: „Anders aber steht es mit dem Menschen. […] Er wird also niemals indifferent sein, außer wenn er nicht weiß, was das Bessere oder Wahrere ist […] Und so bedeutet die Indifferenz etwas ganz andres bei der menschlichen als bei der göttlichen Freiheit“ (/ AT VII, ).
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Gut, welches darin liegt, ein selbständiges, durch nichts Fremdes bestimmtes Wesen zu sein. Der Ich-Meditator strebt mit anderen Worten zunächst nach dem Ideal des Verstands und, sofern sich dieses nicht realisieren lassen sollte, nach dem Ideal des Willens. Das voluntative Ideal ist von beiden jedoch das fundamentalere, denn die Idealität impliziert schon als solche ein Sollen und Streben, welches vom bloßen Trieb und Begehren dadurch verschieden ist, dass es seine Befriedigung an eine normative Bedingung knüpft. Der endliche Wille erscheint mithin von Anfang an als different, d. h. als wesentlich bezogen auf eine Bedingung (das Ideal der Selbständigkeit, der Selbstbestimmung), welche, wenn überhaupt, so erst durch ein davon verschiedenes, subjektives Tun zu erfüllen ist. Im Gegensatz zum göttlichen Wesen erscheinen also im Endlichen Wille, Verstand, und Tun von allem Anbeginn als zwar real getrennte, aber ideal zu vereinigende Kräfte. Trotz dieser Wesensverschiedenheit sieht sich der Ich-Meditator aufgrund des in erst-personaler Perspektive erfahrenen Willens zu dem Gedanken berechtigt, er sei nach dem Bilde und der Ähnlichkeit [ad imaginem & similitudinem]“ Gottes geschaffen [factum] worden (/AT VII, ). Manche Interpreten halten das für problematisch: Ist Gott dem Wesen nach vom Menschen verschieden, wie Descartes meint, so dass Freiheit und Indifferenz bei ihnen eine jeweils völlig andere Bedeutung hat, dann besteht auch keine Analogie zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Willen; Descartes’ Rede von Bild und Ähnlichkeit entbehrte in diesem Fall jeglicher Grundlage, sie wäre ohne bestimmte Bedeutung. Von der Beobachtung ausgehend, dass Descartes selbst in diesem Zusammenhang nicht von einem analogischen Verhältnis spricht, sondern nur von Bild und Ähnlichkeit, sucht deshalb Marie Jayasakera die Untersuchung auf eine andere Grundlage zu stellen, indem sie Descartes in die Tradition eines AugustinischThomistischen Bildverständnisses einordnet. Ausschlaggebend ist hier das Verhältnis nicht der Analogie, sondern der Abhängigkeit und Abbildlichkeit (Imitatio) (vgl. Jayasakera , – , f.). Jayasakera fokussiert ihre Diskussion auf den Begriff des Unendlichen und unterstreicht vor allem zwei Hinsichten, in denen der menschliche Wille zum göttlichen in einem Verhältnis der Ähnlichkeit oder Abbildlichkeit steht. In erkenntnistheoretischer Hinsicht weiß der Ich-Meditator sowohl um die Unendlichkeit Gottes als auch um die Unendlichkeit des eigenen Willens – im ersteren Fall aufgrund reiner Verstandeseinsicht (/AT VII, ; vgl. Prinzipien I, § : AT VIII, ), im letzteren aber durch Erfahrung: „Ich erfahre doch an mir selbst, daß [der Wille] in keine Schranken eingeschlossen ist“ (/AT VII, ; zit. in Jayasakera , ). In metaphysischer Hinsicht ist es wichtig, dass Descartes das Wort ‚unendlich‘ nach eigener Auskunft niemals gebraucht, „um das zu bezeichnen, was lediglich keinen Endpunkt hat (was etwas Negatives ist, für das ich S. zum Beispiel Schmaltz (). Für Diskussion und weitere Literatur zum Thema s. Jayasakera ().
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das Wort ‚unbestimmt‘ verwende), sondern um eine Realität [une chose réelle] zu bezeichnen, die unvergleichlich größer ist als alles, was irgend eine Grenze hat“ (AT V, ; zit. in Jayasakera , ). Im eigentlichen und vollen Sinne ist zwar nur Gott unendlich (AT VIII, ); aber wie Jayasakera unter Verweis auf den Text der Meditationen betont, kommt dem menschlichen Willen eine spezifische, in sich bestimmte, affirmative Unendlichkeit im Vergleich zu den anderen menschlichen Vermögen ebenfalls zu: Allein den Willen, d. h. die Entscheidungsfreiheit [arbitrii libertas] erfahre ich an mir so groß, daß ich keine Idee einer größeren zu fassen vermag, so daß sie es vorzüglich ist, durch die ich erkenne, daß ich gleichsam ein Abbild und ein Gleichnis Gottes bin (/AT VII, ; zit. in Jayasakera , ). Die Ähnlichkeit erfordert mithin keine Wesensanalogie zwischen menschlicher und göttlicher Freiheit; es reicht aus, dass ich im Gegensatz zu allen anderen in mir vorhandenen, durch Rezeptivität bedingten Vermögen, bei denen immer ein größerer Grad der Vollkommenheit denkbar bleibt, allein die Entscheidungsfreiheit als unmittelbar ganz, vollkommen und durch keine Grenzen bestimmt erfahre. Darin gründet die Wahrnehmung der Gottesebenbildlichkeit. Im Streben erfahre ich zwar eine Grenzenlosigkeit in dem schlechten Sinne, dass etwas bloß noch unbestimmt sei; darin bin ich „ein unvollständiges, von einem andren abhängiges Ding […], ein Ding, das nach Größerem und Größerem oder nach Besserem und Besserem ohne Grenzen strebt [indefinite aspirantem]“ (/AT VII, ). Doch der Entschluss zum Streben nach Vervollkommnung des Verstandes (d. h. nach wahrer Erkenntnis) durch willentliche Indifferenz gegenüber allem, was sich nicht durch seine Klarheit und Deutlichkeit als mir entweder wesensverwandt oder wesenszugehörig ausweist – dieser Entschluss selbst ist unmittelbarer Ausdruck eben jener Entscheidungsfreiheit, größer oder vollkommener als welche ich keine andere in mir selber vorstellen kann. Schon darum also, weil ich in Bezug auf alles, was außerhalb der Grenzen des mir klar und deutlich Erkennbaren fällt, nach Indifferenz strebe, kann ich niemals absolut indifferent sein; dies Streben selbst hält mich in der Differenz und weist mich als unvollkommenes, endliches, abhängiges Wesen aus, das „gleichsam als ein Mittleres zwischen Gott und das Nichts, d. i. zwischen das höchste Seiende und das Nicht-Seiende“ (/AT VII, ) gestellt ist. Aber durch eben den willkürlich gefassten Entschluss, in diesem Sinn und auf diese Art zu streben, entsteht mir die reine Idee – das noetische Bild – meiner eigenen Existenz ‚Ich bin‘. So bin ich zwar nicht die Ursache meines Seins (diese Vorstellung verwirft Descartes nach strenger Prüfung im Anschluss an sein erstes Argument für das Dasein Gottes: Zur These, dass das Cogito das Verfahren des methodischen Zweifels nicht lediglich abschließt, sondern durch dieses Verfahren bedingt und in volitionaler Weise begründet wird, s. Boehm ().
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vgl. – /AT VII, – ), aber immerhin bin ich die Ursache des Bildes meines Seins, und zwar durch das einzige Vermögen in mir, das eigentlich tätig und wirklich ist, durch den Willen. Also auch in diesem freilich depotenzierenden Sinn bin ich Abbild und Gleichnis des Unendlichen, nämlich indem ich selbst meine durch Gott gegebene und ihm abbildliche volitionale Existenz noch einmal als intellektuale Existenz, als „objektive Realität“, als Bild hervorrufe. Anders als in Gott, der causa sui ist (vgl. , AT VII, ), fallen in mir Wille und Verstand, formale und objektive Realität, als Tun und Leiden auseinander. Dennoch sind sie im Cogito in einer Weise verbunden, dass ich hier von einer Neigung, Trieb oder Affektion affiziert werde, dass ich nicht anders denn als Selbstaffektion begreifen kann, die, statt meinen Willen zu begrenzen, vielmehr die Art und Weise ist, in welcher mein Wille sich selbst ursprünglich präsent ist. So kommen wir schließlich zu einem vertieften Verständnis davon, was es wohl bedeutet, wenn Descartes schreibt, „der Begriff des Unendlichen“ gehe „dem des Endlichen, d. i. der Gottes dem meiner selbst in gewisser Weise vorher“ (/AT VII, ). Nun ist es zwar richtig, diese Aussage in rein ontologischen Kategorien auszulegen, wie Descartes dies an anderer Stelle selber tut: Nun sage ich, dass mein Begriff vom Unendlichen vor dem des Endlichen in mir ist, denn indem ich bloß das Sein oder das, was ist [ce qui est], begreife, ohne daran zu denken, ob es endlich oder unendlich ist, ist das, was ich begreife, schon das unendliche Sein. Aber um ein endliches Sein begreifen zu können, muss ich etwas von diesem allgemeinen Begriff abziehen [retrancher], welcher folglich schon vorher da sein muss (AT V, ). Aber diese Art Erklärung erschließt weder den Gehalt des Gedankens noch den Grund, warum er notwendig zu denken ist. Anders der freie Entschluss und die Forderung an sich selbst, nichts als nur das Wahre für sich gelten zu lassen. Denn eben darin drückt sich ein Wille aus, der sich als eine so einfache und vollkommen in sich bestimmte Kraft mir ankündigt, „daß ich keine Idee einer größeren zu fassen vermag“ (/AT VII, ). Dieses reine, an nichts als der Wahrheit orientierte Wollen, durch welches die klare und deutliche Idee meiner eigenen Existenz: ‚Ich bin‘, erst hervorgerufen wird, vergegenwärtigt nicht nur an sich, als seine eigene Qualität, die Unendlichkeit, sondern es ist unmittelbar für sich mit dem Gedanken des Unendlichen als objektivem Gehalt verknüpft. Wie Descartes an der soeben zitierten Stelle fortfährt, „besteht Wahrheit ausschließlich in Sein und Falschheit in Nicht-Sein, dergestalt, dass die Idee des Vgl. Leidenschaften der Seele, § : AT XI, : „[…] unsere Gedanken […] unterscheiden sich nach zwei Hauptgattungen, und zwar sind die einen die Handlungen [les actions] der Seele, die anderen ihre Leidenschaften [passions]. Diejenigen, die ich als Handlungen bezeichne, sind allesamt unsere Willensakte [nos volontez], denn wir erfahren [experimentons], dass diese direkt von unserer Seele kommen, und sie scheinen nur von ihr abzuhängen.“ Ebenfalls zit. in Jayasakera (, ).
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Unendlichen, die alles Sein in sich befasst, eben auch alles begreift, was an den Dingen Wahres ist“ (AT V, ). Dem freien Entschluss, sich an nichts als der Wahrheit zu orientieren, entspricht mit anderen Worten unmittelbar die Idee: ‚Sein‘, ‚Unendliches‘, und erst mittelbar die Idee: ‚Ich bin, ich existiere‘. Dies aber nicht lediglich aus dem verstandesmäßigen Grund, weil die Idee des Unendlichen einfacher sei als die des Endlichen – was, wenn man es allein für sich genommen als ausreichende Erklärung gelten ließe, den wahren Grund intellektualistisch verfälschen würde –, sondern weil die Idee eines in sich vollkommenen und ohne äußere Grenzen dennoch in sich vollständig abgeschlossenen Seins mir notwendig nur zusammen mit dem reinen Willen, d. h. in dem Entschluss, rein denken zu wollen, zur Gegenwart wird. Wo das Denken im Sinne der Meditationen – will sagen: im Sinne der Philosophie – beginnt, ist dieser Anfang immer schon präsent.
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Ragland, C. P. . „Is Descartes a Libertarian?“. In: Oxford Studies in Early Modern Philosophy, herausgegeben von Daniel Garber und Steven Nadler, – . Oxford Rosenthal, David. . „Will and the Theory of Judgment“. In: Essays on Descartes’ Meditations, herausgegeben von Amélie Oksenberg Rorty, – . Berkeley/Los Angeles/London. Schmaltz, Tad. . „The Disappearance of Analogy in Descartes, Spinoza, and Regis“. Canadian Journal of Philosophy : – . Shapiro, Lisa. . „‚Turn My Will in Completely the Opposite Direction‘: Radical Doubt and Descartes’s Account of Free Will“. In: Contemporary Perspectives on Early Modern Philosophy, herausgegeben von Paul Hoffman, David Owen und Gideon Yaffe, – . Peterborough.
Peter Rohs WARUM DER GEIST NUR ALS ERSCHEINUNG KAUSAL WIRKSAM SEIN KANN
Bei wohl keinem anderen Gegenstand kollidiert das intuitive Verständnis, das wir von uns selbst haben, so sehr mit dem Weltbild der modernen Wissenschaft wie bei dem Problem der mentalen Verursachung. Intuitiv ist es völlig selbstverständlich, dass wir aufgrund von Absichten unseren Körper bewegen können. Dass und wie wir uns als verantwortlich handelnde Akteure verstehen, beruht auf diesem Gedanken. Die Physik dagegen scheint eine solche Art von Kausalität auszuschließen. Es sei undenkbar, dass nichtphysische mentale Prozesse kausal auf physische einwirken, dass mentale Vorgänge physische Bewegungen in Gang setzen. Die These von der kausalen Geschlossenheit des Physischen, in der diese Auffassung zum Ausdruck kommt, darf als das Prinzip aller naturalistischen philosophischen Theorien gelten. Sie besagt (in einer Formulierung von Sven Walter , ), dass physikalische Wirkungen keine nichtphysikalischen Ursachen erfordern, so dass man für das Auftreten jeder physikalischen Wirkung aufkommen kann, ohne den Bereich des Physikalischen verlassen zu müssen. Dass sich materielle Partikel bewegen, ist ein physischer Prozess. Auch wenn das im Kontext einer Handlung geschieht, sollte das also rein physikalisch erklärbar sein. Es ist dann aber nicht zu sehen, worin die kausale Relevanz der dabei vorkommenden Absichten und Intentionen bestehen soll. Dass die Seele den Körper bewegen kann, hat schon für Platon als evident gegolten. Berühmt ist die Passage aus dem Phaidon (c), in der Sokrates erklärt, dass er hier im Gefängnis sitze, könne nicht mit dem Zustand seiner Sehnen und Knochen erklärt werden; man müsse stattdessen anführen, dass es ihm als richtig erschienen ist, die Strafe zu akzeptieren. Andernfalls wären die Sehnen und Knochen, durch die Vorstellung des Besseren in Bewegung gesetzt, schon längst in Megara oder bei den Böotiern. Platon sieht darin, dass die Vorstellung des Besseren Sehnen und Knochen bewegen kann, noch kein schwieriges Problem. Unbefangen vertraut er auf die Möglichkeit einer solchen Verursachung. Das ändert sich mit Descartes. In seiner Zeit und wesentlich durch ihn selbst ist die Vorstellung von strengen Naturgesetzen entwickelt worden. Kausalbeziehungen bestehen darin, dass Vorgänge nach solchen Gesetzen erfolgen. Damit wird aber die Frage, wie eine mentale Verursachung von physischen Vorgängen möglich ist, zu einem der zentralsten philosoHegel-Studien Beiheft · © Felix Meiner Verlag · ISSN -
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phischen Probleme, denn auch Freiheit und Verantwortlichkeit hängen wie gesagt von dieser Möglichkeit ab. Ohne mentale Verursachung auch keine Freiheit. Wie aber soll im Rahmen strikter Naturgesetze eine Vorstellung des Besseren Sehnen und Knochen in Bewegung setzen können? In einem späten Brief an Arnauld schreibt Descartes: Dass der Geist, der unkörperlich ist, den Körper antreiben kann, zeigt uns zwar kein Gedankengang und keine Vergleichung mit anderen Dingen; aber die sicherste und evidenteste Erfahrung zeigt es uns jeden Tag. Denn dieses ist einer der Gegenstände, die uns von selbst bekannt sind und die wir verdunkeln, sobald wir sie durch andere erklären wollen. (AT V: ; zitiert nach der Übersetzung von Specht , ) In der Schrift über die Leidenschaften der Seele hat Descartes dennoch konkretere Überlegungen vorgetragen: „Und eine jede Tätigkeit der Seele besteht darin, dass sie bloß dadurch, dass sie etwas will, die kleine Eichel, mit der sie eng verbunden ist, in der Weise bewegt, wie es zu der Wirkung nötig ist, die diesem Willen entspricht.“ (AT XI: Teil , Art. , zitiert nach der Übersetzung von Buchenau (Descartes [] ) Diese interaktionistische Konzeption ist jedoch sehr bald von seinen Nachfolgern und dann bis heute immer wieder kritisiert worden. Schon Spinoza weist darauf hin, dass es undenkbar sei, dass es eine kausale Wechselwirkung zwischen unausgedehnten und ausgedehnten Entitäten gibt (Ethica, pars , praefatio). Für ihn gilt, dass weder der Körper auf die Seele noch diese auf jenen einwirken kann (Ethica, pars , prop. ). Auch Leibniz wendet sich wiederholt gegen die Vorstellung von Descartes. In der Theodizee z. B. heißt es, er habe gefunden, dass die Seele ohne eine völlige Störung der Naturgesetze nicht physisch auf den Körper einwirken kann (Theodizee, I, B, § ). Um den klaren Evidenzen zu genügen, nimmt Spinoza einen Parallelismus zwischen ordo rerum und ordo idearum an, der auf der Identität der Substanz für beide Bereiche beruht, Leibniz dagegen einen, der in einer von Gott eingerichteten prästabilierten Harmonie begründet ist. Gegen beide Konzeptionen lässt sich jedoch vieles einwenden, für heutige Naturalisten sind sie beide nicht akzeptabel. Außerdem setzen beide Konzeptionen einen strikten Determinismus voraus, ohne den eine derart stabile Zuordnung nicht möglich ist. Mit einer Freiheit, die das Vorliegen von Alternativen einschließt, sind also beide nicht verträglich. Wie in der aktuellen Philosophie des Geistes das Problem der mentalen Verursachung behandelt wird, wird in dem genannten Buch von Sven Walter () ausführlich dargestellt. In großer Vielfalt und mit oft enormem Einsatz von formalen Mitteln sind zahlreiche Konzeptionen entwickelt worden, die zwei scheinbar miteinander unvereinbaren Forderungen zugleich genügen sollen: Sie sollen den Rationalitätsstandards moderner Wissenschaft und zugleich unseren
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Intuitionen gerecht werden. Zwei Prinzipien spielen dabei eine grundlegende Rolle: das schon genannte der kausalen Geschlossenheit des Physischen und ein Exklusionsprinzip, das besagt, dass es keine systematische Überdetermination geben kann, dass also, wenn das Auftreten eines bestimmten Ereignisses mit bestimmten Begriffen und Gesetzen vollständig erklärt werden kann, weitere Begriffe und Gesetze kausal irrelevant sein müssen. Wenn man also z. B. die Bewegungen von Muskeln und Sehnen rein physikalisch zureichend erklären kann, dann kann eine Vorstellung des Besseren nicht auch noch eine kausale Rolle spielen. Es kann nicht sein, dass es für einen bestimmten Vorgang eine vollständige physikalische Erklärung gibt und trotzdem auch noch mentale Prozesse für ihn kausal relevant sind. Aufgrund dieser beiden Prinzipien haben die diversen Konzeptionen durchgängig mehr oder weniger starke epiphänomenalistische Konsequenzen. Unter einem Epiphänomenalismus versteht man einen Dualismus, der besagt, dass das Mentale von neurophysiologischen Ereignissen verursacht wird, selbst aber nichts verursacht (Walter , ). Dafür, dass Sokrates im Gefängnis sitzt, spielen seine Vorstellungen vom Besseren also keine Rolle. Dieser Dualismus widerspricht ohne Zweifel sehr unseren Intuitionen; er erlaubt es nicht, uns Freiheit und Verantwortlichkeit zuzuschreiben. Das Fazit von Walter: „Wenn jedoch irgendetwas offensichtlich ist, dann nur, dass wir auch nach vier Jahrhunderten intensiver philosophischer Auseinandersetzung mit dem Problem der mentalen Verursachung scheinbar nicht die geringste Ahnung haben, wie unser Geist in unserem Wollen oder Handeln etwas bewegen könnte.“ (Walter , ) Auch Kant hat für die Behandlung dieses Problems Vorschläge gemacht. Es war ihm ja durch die Theorien seiner Vorgänger vorgegeben. Diese Vorschläge werden allerdings, soweit ich sehe, in den gegenwärtigen Diskussionen kaum berücksichtigt. In dem Buch von Walter wird Kant nirgendwo erwähnt, und das gilt wohl auch für die vielen darin referierten Arbeiten. Das ist, wie ich zeigen möchte, einerseits nicht unverständlich, andererseits aber doch ein erheblicher Mangel. Kants Vorschläge sind so, wie sie vorliegen, sicherlich unbefriedigend, enthalten aber doch Hinweise auf theoretische Möglichkeiten, die – zumal angesichts der Ergebnislosigkeit der bisherigen Bemühungen – nicht übergangen werden sollten. Auch für dieses Problem geht Kant aus von der für seine gesamte Philosophie grundlegenden Opposition zwischen Erscheinungen und Dingen an sich, zwischen, wie ich sagen möchte, phänomenaler und transzendenter Realität. Erscheinungen existieren nicht unabhängig von unserem epistemischen Zugang zu ihnen, bei Dingen an sich ist das anders. Kant möchte nun zeigen, dass es auf der Basis dieser Unterscheidung und nur so möglich ist zu verstehen, wie eine kausale Wechselwirkung zwischen mentalen und physischen Vorgängen möglich ist. Dabei unterstellt er von vornherein ein interaktionistisches Modell. Schon zu Beginn seiner Theorie nimmt er an, dass äußere Gegenstände unser Gemüt kausal
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affizieren können, aber auch, dass der Wille kausal wirksam sein kann. Unterstellt wird ebenfalls, dass das Mentale nicht auf Physisches reduzierbar ist. Gegebenheiten des inneren Sinnes können nicht auf solche des äußeren zurückgeführt werden; der Materialismus muss falsch sein. Eine wichtige Aufgabe seiner Theorie ist daher zu zeigen, dass der transzendentale Idealismus einen solchen Interaktionismus zu verstehen erlaubt. Die einschlägigen Texte finden sich in dem Abschnitt über die Paralogismen der Seelenlehre in der Kritik der reinen Vernunft, also an erstaunlich später Stelle, nicht dort, wo es um die Grundlegung der Theorie geht. In diesem Abschnitt soll eigentlich die Unhaltbarkeit der traditionellen Beweise für die Unsterblichkeit der Seele aufgewiesen werden. Kant benutzt diesen Zusammenhang aber auch, um allgemeiner den Realitätsstatus des Ich zu erörtern. In diesem Kontext soll dann auch gezeigt werden, wie eine Wechselwirkung zwischen Seele und Körper möglich ist. Für die zweite Auflage der Kritik von hat Kant diesen Abschnitt völlig neu geschrieben, wobei auch die fraglichen Argumente ganz neu gefasst worden sind. Man könnte schon deswegen vermuten, dass Kant selbst mit ihnen nicht restlos zufrieden war. In der A-Version (KrV A ff.) interpretiert Kant den transzendentalen Idealismus so, dass sowohl das Seelische als auch das Physische nur den Status von Erscheinungen haben. Sie unterscheiden sich zwar dadurch, dass das Seelische eine Vorstellung im inneren Sinn ist, das Physische eine im äußeren, sie kommen aber darin überein, dass es sich in beiden Fällen nur um Vorstellungen handelt. Beide Arten Vorstellungen gehören als solche nur zum denkenden Subjekt. Es soll bei ihrer Gemeinschaft also nicht wie bei Descartes um eine zwischen verschiedenen Typen von Substanzen (also zwischen transzendent realen Entitäten), sondern um eine gesetzlich bestimmte Gemeinschaft zwischen unterschiedlichen Typen von Vorstellungen gehen. Kant sagt deswegen, dass die Schwierigkeiten, die man in dieser Gemeinschaft sieht, auf einem bloßen Blendwerk beruhen, nach welchem man das, was in bloßen Gedanken existiert, hypostasiert, und in eben derselben Qualität, als einen wirklichen Gegenstand außerhalb dem denkenden Subjekt annimmt, nämlich Ausdehnung, die nichts als Erscheinung ist, vor eine, auch ohne unsere Sinnlichkeit, subsistierende Eigenschaft äußerer Dinge, und Bewegung vor deren Wirkung, welche auch außer unseren Sinnen an sich wirklich vorgeht, zu halten. (KrV A f.) Vor einem ‚hypostasieren‘ bloßer Vorstellungen warnt Kant in diesem Zusammenhang mehrfach; dadurch werde das Problem unlösbar. „Sobald wir aber die äußeren Erscheinungen hypostasieren, sie nicht mehr als Vorstellungen, sondern in derselben Qualität, wie sie in uns sind, auch als außer uns vor sich bestehende Dinge“ nehmen (KrV A), wird die Verbindung zwischen ihnen unverständlich. Kurz und gut, die Schwierigkeit soll eine selbstgemachte sein, die dadurch entsteht,
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dass man Vorstellungen in uns zu Gegenständen außer uns ‚hypostasiert‘. Auf diese Weise komme es zu einem „transzendentalen Dualismus“ (wie Kant das nennt, KrV A), der die äußeren Gegenstände vom Subjekt gänzlich abtrennt. Kant versteht seine Grundthese von der Idealität des Raumes also so, dass ein physischer Gegenstand zwar im Raum außer uns sein kann, mitsamt dem Raum aber dennoch nur in uns ist. Er spricht deswegen auch von der Zweideutigkeit des Ausdrucks „außer uns“ (KrV A). Physische Gegenstände sind zwar im empirischen Sinn außer uns, nicht aber so außer uns wie Dinge an sich, die nach Kant keine räumlichen Eigenschaften und keinen Ort im Raum haben, also nicht als transzendent real. Der Haupteinwand gegen diese Konzeption ist, dass sie voraussetzt, dass die These, dass physische Objekte nur Vorstellungen in uns sind, streng wörtlich verstanden werden muss. Nur dann, wenn beide Seiten wirklich nur Vorstellungen sind, ist ja diejenige Gleichartigkeit gegeben, die die Wechselwirkung möglich machen soll. Außerdem geht Kant auf das Problem der Gesetze, die ja seiner Theorie zufolge zu Kausalität gehören, nicht weiter ein. Dem Argument von Leibniz, dass eine physische Einwirkung der Seele auf den Körper die Naturgesetze stören würde, hat er also nichts entgegenzusetzen. Diese seine Lösung wird in jedem Fall unhaltbar, wenn man annimmt, dass physische Gegenstände einschließlich des Gehirns nicht nur Vorstellungen in uns sind, sondern eine denkunabhängige transzendente Realität besitzen. In der B-Version von , in der Kant generell die idealistischen Tendenzen der erste Auflage abzumildern versucht, wird eine andere Auflösung der Schwierigkeit vorgeschlagen (KrV B f.). Das Problem soll wieder in der Ungleichartigkeit beider Seiten bestehen – die Seele existiert als Gegenstand des inneren Sinnes nur in der Zeit, physische Dinge als Gegenstände des äußeren Sinnes dagegen in Raum und Zeit. Dieser Unterschied ist ihnen jedoch äußerlich und betrifft sie nur als Erscheinungen. Für Dinge an sich gibt es weder Raum noch Zeit, dort mag diese Ungleichartigkeit und mit ihr die ganze Schwierigkeit also wegfallen. Es bleibe nur die Frage, wie überhaupt eine Gemeinschaft von Substanzen möglich ist, die jedoch, wie Kant versichert, „ohne Zweifel außer dem Felde der menschlichen Erkenntnis liegt“ (KrV B). Auch dieses Argument ist unbefriedigend. Es stützt sich zwar wiederum auf den transzendentalen Idealismus mit seiner Unterscheidung von Erscheinungen und Dingen an sich, verschiebt aber die ganze Sache auf die Seite der unerkennbaren Dinge an sich. Die für eine Lösung vorauszusetzende Gleichartigkeit von Seele und Körper soll nun nicht darin bestehen, dass beide nur Vorstellungen sind, sondern darin, dass beiden Dinge an sich zugrundeliegen, die nicht in Raum und Zeit existieren. Die Gemeinschaft dort kann wegen der Unerkennbarkeit der Dinge an sich auch nur als möglich unterstellt und nicht als wirklich vorliegend erwiesen werden. Könnte es nicht sogar so sein, dass die Ungleichartigkeit bei ihnen noch
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größer ist? Dass der Wille eine Kausalursache für Körperbewegungen sein kann, bleibt auch so unverständlich. Angesichts der Unzulänglichkeit dieser Argumente ist es nicht verwunderlich, dass sie in den aktuellen Diskussionen über das Problem mentaler Verursachung kaum Beachtung finden. Insbesondere die These, dass allen physischen Objekten von Elementarteilchen bis zu Galaxien jede vorstellungsunabhängige Realität abgesprochen wird, dass sie alle nur in Vorstellungen in uns bestehen sollen, sei nicht akzeptabel. Demgegenüber gilt, wie es scheint, fast eher noch der Kartesianismus mit seinem Dualismus zweier Typen von Substanzen als rational vertretbar. Im Folgenden möchte ich die Auffassung vertreten, dass der transzendentale Idealismus mit seiner Unterscheidung von phänomenaler und transzendenter Realität dennoch Chancen bietet einsichtig zu machen, wie mentale Kausalität möglich ist, freilich nicht in der kantischen Version, der gemäß sowohl das Mentale wie das Physische nur phänomenale Realität besitzen, sondern in der restringierten Form, dass nur das Mentale einen solchen Status besitzt. Physische Prozesse sind real unabhängig davon, ob sie erkannt werden oder nicht, ob es Geist gibt oder nicht, das Denken dagegen existiert nicht unabhängig davon, dass es selbst gedacht wird, und vor allem auch nicht unabhängig davon, dass es innerlich angeschaut wird. Ich möchte zeigen: Der Geist kann nur deswegen im Bereich des Physischen kausal wirksam sein, weil er als Erscheinung existiert und nur als solche in raumzeitlichen Vorgängen (nämlich Tätigkeiten) kausal wirksam sein kann. Um dies zu begründen, möchte ich drei Fragen erörtern: Erstens, was bedeutet es, dass der Geist nur als Erscheinung existiert? Zweitens, worin besteht die Eigenart mentaler Verursachung? Und drittens, wie hängt beides zusammen, warum also kann der Geist nur als Erscheinung kausal wirksam sein? Zur ersten Frage: Dass der Geist nur als Erscheinung existiert, bedeutet nach Kant, dass mentale Prozesse in der Zeit ablaufen, diese aber eine Anschauungsform des inneren Sinnes ist. Wenn das richtig wäre, könnten aber auch physische Prozesse, ob in Atomen oder in Galaxien, nur phänomenal real sein. Auch sie wären ja auf die Anschauungsform angewiesen, wie immer sich die des inneren Sinnes auf äußere Prozesse beziehen soll. Das hätte jedoch die angezeigten sehr unplausiblen Konsequenzen. Und Kant hat für seine Auffassung auch keine guten Argumente. Auf diese erste Frage ist jedoch eine andere Antwort möglich. Es gibt zwei Arten von Zeitbestimmungen – solche, die auf dem zeitlichen Werden beruhen, und solche, für die das nicht gilt, die unabhängig von ihm sind. Diese letzteren Zeitbestimmungen sind die, die in einem gängigen Raumzeit-Koordinatensystem dargestellt werden können, dessen t-Achse sie beschreibt. Das zeitliche Werden dagegen kann nicht auf diese Weise dargestellt werden. Dieser spezifische Prozess kann nicht durch eine Kurve in einem solchen System erfasst werden, schon weil er keine räumliche Bahn hat. Die t-Achse sagt nichts darüber, welcher Zeitpunkt soeben gegenwärtig ist, und auch nichts darüber, in welcher Weise diese Gegen-
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wärtigkeit vergeht. Bei ihr handelt es sich um eine offenkundig perspektivische Bestimmung, die durch ein Koordinatensystem nicht dargestellt wird. Sowohl mit zeittheoretischen wie mit physikalischen Argumenten kann deswegen begründet werden, dass, wie Brian Greene das formuliert, „its only place of refuge seems to lie within the human mind“ (Greene , ). Während es also in Wahrheit keine überzeugenden Gründe dafür gibt, dass die Zeit als solche und insgesamt eine Anschauungsform des inneren Sinnes ist, lassen sich sehr gute Gründe dafür angeben, dass das zeitliche Werden auf eine solche Anschauungsform zurückgeht. Und es wird dann auch – anders als in der kantischen Theorie – bedeutsam, dass es sich um eine Anschauungsform des inneren Sinnes handelt, denn der menschliche Geist ist nicht nur der Zufluchtsort für diesen Prozess, er lebt auch in ihm und von ihm. Rein physische Prozesse lassen sich, wie die Physik lehrt, in Koordinatensystemen darstellen, also ohne Bezugnahme auf das zeitliche Werden. Die Gesamtheit des so Darstellbaren bezeichnet man als Blockuniversum, sie besitzt transzendente Realität, existiert nicht nur als Erscheinung. Es gäbe sie auch dann, wenn es keinen Geist und keine Anschauungsform des inneren Sinnes gäbe. Anders dagegen der Geist selbst. Für mentale Prozesse hat das zeitliche Werden konstitutive Bedeutung. Besonders einleuchtend ist das für an Zwecken orientierte Tätigkeiten, zu denen offenkundig ein Sich-Voraussein in Zukunft und ein Gegenwärtigwerden dieser Zukunft gehört. Aber auch das spontane Denken hat die Prozessstruktur einer Tätigkeit. Ich habe diese konstitutive Funktion des zeitlichen Werdens für mentale Prozesse als die ‚Nunczentrizität des Geistes‘ bezeichnet. Aus ihr, aus dem damit verbundenen Perspektivismus folgt, dass der Geist den Status einer Erscheinung hat. Mentale Prozesse existieren, um Searle (, ) zu zitieren, „only as subjective, first-person phenomena“. Das gilt auf diese Weise für sie, ohne dass auch alle physischen Prozesse (Prozesse im Blockuniversum) diesen Status haben müssen. Diese existieren nicht nur als Erste-Person-Phänomene. Es gibt demnach zwei unterschiedliche Formen von Prozessen, solche, die nur durch das zeitliche Werden möglich sind, und solche, für die das nicht gilt, die auch im Blockuniversum möglich und darum transzendent real sind. Dass der Geist nur als Erscheinung existiert, heißt also, dass er nunczentrisch verfasst ist. Daraus, dass die zum zeitlichen Werden gehörigen Zeitbestimmungen nicht auf die von ihm unabhängigen reduziert werden können, ergibt sich auch, dass die Begriffe für Mentales nicht auf physikalische Begriffe reduziert werden können. Die zweite Reduktion müsste die erstere in sich schließen. Erscheinungen besitzen stets eine Abhängigkeit nach zwei Seiten hin. Was sie aufgrund der nach innen besitzen (was, wie Kant sagen würde, wir selbst in die Dinge hineinlegen), kann nicht mit Hilfe der nach außen definiert oder erklärt werden. Damit zur zweiten Frage: Was heißt, dass der Geist kausal wirksam ist? Man darf davon ausgehen, dass irgendwelche Begriffe dann kausal relevant sind, wenn es Vorgänge gibt, die nicht zureichend erklärt werden können, ohne einen solchen
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Begriff heranzuziehen. Begriffe für Mentales sind also dann kausal relevant, wenn es Vorgänge gibt, die nicht vollständig erklärt werden können, ohne in der Erklärung einen solchen Begriff zu verwenden. Als einleuchtendes Beispiel mögen Sprechakte dienen. Die für eine dualistische Position wesentliche These ist, dass sie nicht erklärt werden können, ohne dabei zu erwähnen, welche Sprache der Sprecher spricht und was er sagen will. Entsprechendes soll für alle mentalen Prozesse gelten. Dies soll einschließlich der physischen Aspekte der fraglichen Prozesse gelten. Ein Sprechakt ist aus dieser Perspektive ein Vorgang, bei dem bestimmte Schallwellen entstehen. Die These soll also einschließen, dass auch eine genaue Erklärung dafür, welche Schallwellen im Einzelnen entstehen, ohne Kenntnis der Sprecherintentionen nicht möglich ist. Wenn dies zutrifft, sind die Begriffe, mit denen diese Intentionen beschrieben werden, kausal relevant. Dass sie dies sind, schließt nicht aus, dass auch andere Begriffe, etwa physiologische Begriffe über den Zustand der beteiligten Organe, kausal relevant sind. Die Begriffe für Mentales müssen nicht für sich allein ausreichen, um zu erklären, welche Schallwellen bei dem Sprechakt entstehen, es soll nur gelten, dass es ohne sie keine vollständige Erklärung geben kann. Tätigkeitsverben spielen unter den in Frage kommenden Begriffen eine zentrale Rolle. Einerseits ist bei ihnen das Bezogensein auf das zeitliche Werden unbestreitbar deutlich; zu Tätigkeiten gehört wie schon gesagt evidentermaßen ein Sich-Voraussein in Zukunft. Sie charakterisieren andererseits auf elementare Weise das, was mentale Prozesse ausmacht. Man kann mit Fichte die Seinsweise des Geistes grundsätzlich als in sich zurückgehende Tätigkeit fassen. Der Dualismus der Prozesstypen ist so eigentlich einer von Tätigkeiten und rein physischen Bewegungen. Die physischen Korrelate von Tätigkeiten können in Raumzeit-Koordinatensystemen dargestellt werden, bei Tätigkeiten als solchen ist das nicht möglich, weil dadurch das für sie konstitutive zeitliche Werden nicht erfasst wird. Auch reine Denkprozesse sind ein Fall von Tätigkeit und also durch mentale Kausalität bestimmt. Sie nehmen ja einen sinnbestimmten Verlauf (oder können wenigstens einen solchen Verlauf nehmen). Welche Gedanken aufeinander folgen, hängt dann von Sinnbeziehungen zwischen ihnen ab. Wenn der Ablauf der korrelierten Gehirnzustände rein physikalisch determiniert wäre, wäre kaum einzusehen, wie das möglich ist. Es müsste ja stets, wenn der Gedanke g sinnvoll auf den Gedanken f folgt, der dem Gedanken g (etwa als Supervenienzbasis) korrelierte Gehirnzustand nach physikalischen Gesetzen auf den zum Gedanken f gehörigen folgen. Eine solche ‚prästabilierte Harmonie‘ zwischen Sinnbeziehungen und physikalisch determinierten Abläufen wäre jedoch ein reines Wunder. Man muss also auch in diesem Fall rationalerweise annehmen, dass mentale Verursachung vorliegt, dass man also die Sinnbeziehungen beachten muss, um zu erklären, was im Gehirn physisch geschieht. Das müsste sogar für die Fortdauer mentaler Prozesse gelten, wenn aus physikalischer Sicht eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür be-
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steht, dass sich Gehirnzustände entwickeln, die gar nicht als Basis für sinnvolle mentale Zustände in Frage kommen. Durch diese mentale Verursachung wird selbstverständlich nicht ausgeschlossen, dass es zu Störungen im Gehirn kommen kann, die die Fortexistenz des Mentalen unmöglich machen. Dass die mentale Kausalität gegen eine in den Kopf geschossene Bleikugel nichts ausrichten kann, bedeutet nicht, dass sie überhaupt machtlos ist. Es ist aber wichtig, horizontale mentale Kausalität zu unterscheiden von vertikaler, von einer downward causation. Im ersten Fall müssen Begriffe für Mentales und Begriffe für Physisches zusammen verwendet werden, um den zeitlichen Ablauf eines Prozesses (etwa eines Sprechaktes) zu erklären. Im anderen Fall soll der Geist irgendwie direkt auf den Körper bzw. das Gehirn wirken (oder auch umgekehrt dieses auf jenen). Es müsste also mit ausschließlich mentalen Begriffen eine physische Änderung im Gehirn oder mit ausschließlich physischen Begriffen eine Änderung im mentalen Bereich erklärt werden. Das letztere ist nun in manchen Fällen offenkundig möglich (nicht nur im rabiaten Fall der Beendigung der mentalen Prozesse bei einer Person durch eine in ihren Kopf geschossene Bleikugel). Es fragt sich aber, ob der andere Fall (der der vertikalen mentalen Kausalität) ebenfalls möglich ist. Ich möchte im Folgenden dafür argumentieren, dass das nicht so ist. Unabhängig davon muss jedoch zwischen horizontaler und vertikaler mentaler Kausalität unterschieden werden. Beide haben schon in formaler Hinsicht eine unterschiedliche Struktur, da nur im vertikalen Fall das Mentale isoliert wirksam sein soll. Die Frage der Möglichkeit stellt sich also in beiden Fällen auf unterschiedliche Weise. Damit sind wir bei der dritten der genannten Fragen: Warum kann der Geist nur als Erscheinung kausal wirksam sein? Die Antwort, die ich rechtfertigen möchte, lautet: Nur weil der Geist den Status einer Erscheinung hat, ist die horizontale mentale Kausalität möglich, ohne dass ihr eine vertikale zugrundegelegt werden muss. Es wird also behauptet, dass es zwar keine vertikale mentale Kausalität gibt, wohl aber die horizontale, und dass das so sein kann, weil das Mentale und das Physische einen unterschiedlichen Realitätsstatus haben: Das Mentale ist abhängig von einer Anschauungsform und deshalb als Erscheinung phänomenal real, das Physische ist nicht abhängig von einer Anschauungsform und deswegen transzendent real. Also mit Kant: Das denkende Subjekt ist ihm selbst nur als Erscheinung gegeben; gegen ihn: Physische Körper, physische Prozesse sind nicht nur Erscheinungen, existieren nicht nur ‚in uns‘, nicht nur als Vorstellungen. Mentale Zustände dagegen existieren trivialerweise nur als Vorstellungen – der Ausdruck ‚Vorstellung‘ ist eigentlich nur ein anderes Wort für ‚mentaler Zustand‘. So verschwindet auch das unklare kantische ‚in uns‘. Meine mentalen Zustände sind nicht in uns, sondern in mir. Der Mond dagegen ist weder in uns noch in mir. In der Fähigkeit zur Verwirklichung eigener Absichten kommt die Individualität einer Person am Ursprünglichsten zum Ausdruck. Die Sachverhalte, die diese Form von
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Kausalität ermöglichen, können darum (in kantischer Ausdrucksweise) als ‚transzendentale Bedingungen der Möglichkeit von Personalität‘ bezeichnet werden. Zunächst ist festzuhalten, dass eine horizontale mentale Kausalität nicht den Gesetzen der Physik widersprechen würde. Dass man mit einem Stabmagneten einen Nagel hochheben kann, widerlegt nicht die Gravitationstheorien von Newton oder Einstein. In beiden sind zwar keine magnetischen Kräfte vorgesehen, es wird aber durch sie auch nicht ausgeschlossen, dass es welche gibt. In derselben Weise ist es möglich, dass in einer denkbaren Gesamtheit strikter naturwissenschaftlicher Gesetze zwar keine mentalen Kräfte vorgesehen sind, es aber durch sie ebenfalls nicht ausgeschlossen wird, dass es welche gibt. Ein Argument dafür, dass es so sein könnte, ist, dass es in dem zeitlichen Werden selbst einen phänomenal unbestreitbar realen Prozess gibt, dessen Existenz nicht physikalisch erklärt werden kann. Dass es transzendent reale irreversible Prozesse gibt, erklärt ihn nicht. Wie Greene (, ) feststellt, ist deshalb aus der Perspektive der Physik anzunehmen, dass der Fluss der Zeit „gefroren“ ist. Es gibt ihn für sie nicht. Dadurch wird jedoch nicht ausgeschlossen, dass er die Basis mentaler Prozesse ist. Dass es auch außer dem zeitlichen Werden naturalistisch nicht vollständig erklärbare Prozesse gibt – das Beispiel der Sprechakte wurde schon erwähnt –, ist eine naturwissenschaftliche Prämisse für die Möglichkeit mentaler Verursachung. Als solche lässt sie sich prinzipiell naturwissenschaftlich widerlegen. Als eine solche Widerlegung müsste z. B. gelten, dass sich Sprechakte über einen größeren Zeitraum hinweg zuverlässig mit rein physikalischen Mitteln prognostizieren lassen. Ein Proband wird etwa aufgefordert, nach Minuten einen Satz worüber auch immer zu äußern bzw. aufzuschreiben. Die Naturwissenschaftler, die ihn nicht kennen, nichts über seine Sprache, sein Geschlecht, seine Hautfarbe usw. wissen dürfen, machen aufgrund von Beobachtungen der Vorgänge im Gehirn zu Beginn der Minuten eine Prognose darüber, welche Schallwellen bzw. graphischen Figuren entstehen werden. Wenn sich diese Prognosen bei vielen Wiederholungen des Experimentes als überwiegend korrekt herausstellen würden, müsste man zugeben, dass die fragliche Prämisse sich als falsch herausgestellt hat. Aber auch nur nach solchen Experimenten müsste man das zugeben, nicht schon deswegen, weil sie etwas so Unklarem wie dem ‚physikalischen Weltbild‘ widersprechen soll. Das kann angesichts der starken intuitiven Evidenz für mentale Verursachung nicht als ernst zu nehmendes Argument gelten. Es sei also angenommen, dass die genannte Prämisse akzeptiert werden kann. Da sie nur negativ ist, bleibt noch offen, ob und gegebenenfalls wie mentale Verursachung möglich ist. Für die Beantwortung dieser Frage scheint es mir nun erforderlich zu sein, sowohl auf den Unterschied im Realitätsstatus von Geist und Körper als auch auf den zwischen horizontaler und vertikaler mentaler Verursachung zurückzugreifen. Der erstere Unterschied ist deswegen von Bedeutung, weil er mit epistemischen Konsequenzen verbunden ist, wie aus der Perspektive der
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kantischen Theorie selbstverständlich ist. Daraus, dass der Geist nur eine phänomenale Realität besitzt, folgt, dass eine direkte vertikale Einwirkung von ihm auf etwas Körperliches kein transzendent realer Prozess sein könnte. Etwas selbst nur phänomenal Wirkliches kann nicht rein aus sich durch einen transzendent realen Kausalvorgang eine transzendent reale physische Bewegung in Gang setzen. Eine solche Einwirkung müsste auch mit naturwissenschaftlichen Gesetzen erklärt werden können, was der Nunczentrizität des Geistes widerspricht. Eine vertikale Einwirkung könnte also, wenn es sie gäbe, kein transzendent realer Vorgang sein. Um ein phänomenal realer Prozess zu sein, müsste sie in der inneren Anschauung gegeben sein können. Auch das ist aber unmöglich. Eine kausale Einwirkung des Geistes auf irgendetwas im Gehirn kann nicht innerlich in der Selbstanschauung erfahren und gesetzmäßig bestimmt werden. In der kartesischen Version sieht es fast so aus, als müsste die Seele wissen, wie sie den Zustand der Zirbeldrüse zu beeinflussen hat, damit eine bestimmte Armbewegung zustande kommt. Das ist aber offenkundig absurd. Vertikale mentale Kausalität kann also auch nicht als Phänomen existieren. Wenn der Geist selbst nur als Phänomen existiert, macht es keinen Sinn, zu der phänomenal gegebenen Wirksamkeit eine weitere hinzu zu konstruieren, die nicht so gegeben sein kann. Aus dem unterschiedlichen Realitätsstatus von Geist und Körper folgt also, dass sie weder phänomenal noch transzendent real sein kann. Sie ist weder als geformt durch die Anschauungsform des inneren Sinnes möglich noch als nicht so geformt. Also gibt es eine solche vertikale mentale Kausalität überhaupt nicht – in diesem Punkt hatten Spinoza, Leibniz und Malebranche ohne Frage recht. Was weder phänomenal noch transzendent real ist, existiert überhaupt nicht. In diesen parallelistischen Theorien soll weder die Seele auf den Körper noch dieser auf jene wirken können. In den heute vielfach vertretenen epiphänomenalistischen Konzeptionen dagegen wird angenommen, dass zwar neurophysiologische Ereignisse auf das Mentale wirken, dieses aber nichts verursacht (vgl. die oben zitierte Definition dieser Position bei Walter). Eine solche Asymmetrie könnte damit begründet werden, dass zwar die neurophysiologischen Wirkungen als transzendent real zu gelten haben, die entgegengesetzten dagegen nicht. Diese Asymmetrie wäre dann eine Folge der Asymmetrie im Realitätsstatus beider Relata. Es gibt sicherlich Fälle einer rein physischen Manipulation des Mentalen, nicht nur beim groben Fall einer Erschießung, sondern auch bei Drogen, Narkose usw. Frankfurt () diskutiert Gedankenexperimente mit Gehirnimplantaten, die Entscheidungen beeinflussen können. In Geist und Gegenwart (Rohs , ) habe ich als „grundlegendes naturwissenschaftliches Prinzip“ angeführt, dass Kausalwirkungen von a auf b nur möglich sind, wenn auch b auf a wirken kann. Es gibt also Gründe dafür, dass dieses Prinzip im vorliegenden Fall höchstens modifiziert gilt – die eine Richtung ist auch vertikal möglich, die entgegengesetzte nur
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horizontal, nicht isoliert. Andernfalls wären epiphänomenalistische Konzeptionen schon deswegen abzulehnen, weil sie diesem Prinzip widersprechen. Entscheidend ist aber nun, dass aus dieser Asymmetrie nicht folgt, dass eine horizontale mentale Verursachung ebenfalls unmöglich ist. Sie ist ja als phänomenal reale möglich. Alles, was für Freiheit, Personalität und Verantwortlichkeit erforderlich ist, bleibt also möglich. Die fraglichen Prozesse können ja durchaus erklärt werden, allerdings nicht – so die dualistische Grundthese – ohne dass in den Erklärungen Begriffe für Mentales zur Anwendung kommen. Eingriffe Gottes, die ja ebenfalls für Freiheit bedrohlich wären, müssen allerdings nicht angenommen werden. Dass die Kausalwirkung horizontal erfolgt, bedeutet wie gesagt, dass ein zeitlich dauernder Prozess nicht ohne gleichzeitige Anwendung von Begriffen für Mentales und Physisches erklärt werden kann. Dass Erscheinungen kausal wirksam sein können (eine im Horizont der kantischen Theorie selbstverständliche Tatsache) erkennt man daran, welche Begriffe in den Erklärungen benutzt werden müssen. Wenn also z. B. Sprechakte nicht ohne Begriffe für Mentales erklärt werden können, muss es so sein, dass der Geist kausal wirksam ist, obwohl er nur als Erscheinung existiert. Das allgemeine Kausalprinzip erzwingt, dass auch die fraglichen Prozesse kausal erklärbar sein müssen. Der Unterschied im Realitätsstatus beider Seiten schließt aus, dass vertikale Einwirkungen von oben dabei eine Rolle spielen. Andererseits haben auch rein physikalische Erklärungen für sie als unmöglich zu gelten. Die horizontale mentale Kausalität muss also möglich sein ohne die vertikale, und zwar gerade deswegen, weil der Geist nur als Phänomen existiert. Es gibt Prozesse wie Sprechakte, die sich nicht erklären lassen, ohne Begriffe für Mentales heranzuziehen, es gibt jedoch keine Prozesse, die allein mit solchen Begriffen erklärt werden können, wie es der Fall sein müsste, wenn die Seele für sich auf den Körper wirkt. Es gibt sogar keine mentalen Zustände, die für solche Erklärungen in Frage kommen könnten. Die traditionellen Einwände gegen die Möglichkeit mentaler Verursachung sind stets gegen die vertikale Version gerichtet. Spinoza behauptet z. B. gegen Descartes, es sei undenkbar, dass eine ausdehnungslose Seele auf einen ausgedehnten Körper einwirke. Diese Einwände werden aber gegenstandslos, wenn es zwar mentale Kausalität gibt, nicht jedoch in der vertikalen Form. Wenn die Existenz mentaler Kausalität behauptet wird, muss nicht zugleich behauptet werden, dass eine ausdehnungslose Seele auf einen ausgedehnten Körper einwirkt. Die beiden grundlegenden Typen von Prozessen – Tätigkeiten und physische Bewegungen – unterscheiden sich in formaler Hinsicht vor allem durch ihre Zeitstruktur. Die einen sind durch die Anschauungsform des inneren Sinnes geformt, die anderen sind das nicht. Die letzteren können deswegen – wie in der Physik üblich – durch Kurven in Raumzeit-Koordinatensystemen dargestellt und mit Hilfe von stetigen Sukzessionsgesetzen erklärt werden. Physische Prozesse
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laufen entweder im strengen mathematischen Sinn stetig ab oder haben – in der aktuellen Physik gibt es Zweifel an dieser Stetigkeit – Zeitelemente, die so klein sind, dass sie weit entfernt sind von jeder Möglichkeit, anschaulich erfahren zu werden. Die Planck-Zeit soll - Sekunden betragen (Lesch/Müller , ). Eine solche „kleinste natürliche Zeit-Einheit“ ist nur in der transzendenten Realität möglich – mit Anschaulichkeit hat sie nichts zu tun. Mentale Prozesse dagegen existieren wegen ihrer phänomenalen Realität nur im Horizont möglicher Anschauung. Das muss selbst für unbewusste mentale Prozesse gelten, wenn sie in der üblichen mentalen Begrifflichkeit und nicht naturwissenschaftlich beschrieben werden. Dadurch werden sowohl die mathematische Stetigkeit wie eine Körnigkeit in der Größenordnung der Planck-Zeit für sie ausgeschlossen. Die andersartige Zeitstruktur mentaler Prozesse ist mindestens seit Bergson von zahlreichen Autoren beschrieben worden. Konstitutiv für sie ist das zeitliche Werden, das eine Ablaufform nach sich zieht, die nicht in einer stetigen Folge distinkter mentaler Zustände, sondern in einer Kontinuität von sinnhaft ineinander greifenden Einheiten besteht. Bergson hat dafür den Ausdruck durée (Dauer) benutzt. Sie kann nicht durch stetige Funktionen erfasst werden. Auch dieser Unterschied spricht gegen eine vertikale mentale Kausalität. Auf der physischen Seite gibt es zwar die Zustände zu Zeitpunkten, die dafür erforderlich sind, auf der mentalen Seite könnte ihnen jedoch nichts exakt entsprechen. Wenn man den Zustandsbegriff so versteht, wie er üblicherweise in der Physik definiert wird, erweist sich der Ausdruck ‚mentaler Zustand‘ als gegenstandslos. Man kann nicht schließen: Wenn jemand Minuten lang über etwas nachdenkt, dann denkt er auch in jeder Nanosekunde innerhalb der Minuten darüber nach. Ein Denken innerhalb von Nanosekunden gibt es nicht, weil es kein ‚subjektives Erste-PersonPhänomen‘ sein könnte. Das steht auch hinter der traditionellen Unterscheidung zwischen Ursachen und Gründen. Eine Tätigkeit, die Minuten dauert, hat nicht in der zweiten Minute einen anderen Grund als in der ersten, sondern im gesamten Ablauf stets denselben. Ursachen im physikalischen Sinn dagegen sind Momentanereignisse, so dass zu jedem Zeitpunkt eine andere vorliegt. Dass es keine vertikale mentale Kausalität gibt, schließt ebenfalls nicht aus, dass zwischen phänomenaler und transzendenter Realität Supervenienzbeziehungen bestehen. Diese müssen ja nicht als solche entweder phänomenal oder transzendent real sein; es handelt sich bei ihnen eben nicht um Kausalvorgänge. Sie sind zudem auch neutral gegenüber dem Unterschied zwischen Spontaneität und Passivität innerhalb des Mentalen, und sie determinieren ebenfalls nicht, welche Kausalbeziehungen auf der Seite des Physischen gelten. Solche Supervenienzrelationen sollten jedoch so beschrieben werden, dass sie verträglich sind mit den unterschiedlichen Zeitstrukturen auf beiden Seiten. Es können nicht momentane mentale Zustände auf momentanen physischen supervenieren, wenn es jene nicht gibt. Es müssen Prozesse auf Prozessen supervenieren. Es sollte also gelten: Bei zwei
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Personen, in deren Gehirnen genau dieselben physischen Prozesse ablaufen, finden notwendig auch dieselben mentalen Prozesse statt. Eine solche Supervenienz hindert für sich nicht, dass es horizontale mentale Verursachung gibt, und nicht einmal, dass es starke Freiheit gibt. Über die Kausalstrukturen im Gehirn wird ja nichts gesagt. Es kann deswegen gelten, dass die Entwicklung der Zustände im Gehirn nicht erklärt werden kann, ohne in der Erklärung Begriffe für Mentales zu benutzen. Und das wiederum ist nach der hier vertretenen Auffassung nur möglich, weil das Mentale phänomenale Realität besitzt. Dass auch Tätigkeiten erklärbare Prozesse sein müssen, folgt wie gesagt aus dem Kausalprinzip. Dies muss dafür allerdings auf eine Weise formuliert werden, die es geeignet macht, auf Prozesse beiderlei Typs angewendet zu werden. Eine von mir dafür vorgeschlagene Formulierung (Rohs , f.) lautet, dass alle Vorgänge in Raum und Zeit maximal informativ erklärt werden können. Die Wendung ‚maximal informativ‘ soll im Fall physischer Prozesse bedeuten, dass die in der Physik übliche Begrifflichkeit von Zuständen, Zustandsräumen, Zustandsfunktionen usw. zum Einsatz kommt. Ich nehme an, dass eine entsprechende Idealisierung auch bei Tätigkeiten sinnvoll ist. Auch sie sollten auf eine Weise erklärt werden können, die nicht durch die Hinzufügung weiterer Informationen verbessert und vervollständigt werden kann. Insbesondere einem göttlichen Richter, der vollkommen gerechte Urteile fällen soll, müssten solche Erklärungen möglich sein. Kant spricht in diesem Sinn von Gott als einem ‚Herzenskündiger‘, der unsere ‚Herzen‘ (aber auch unsere Gehirne) vollständig durchschaut. Ein solcher Herzenskündiger sollte mindestens denkbar sein, so dass das Kausalprinzip in der angegebenen Form auch als für Handlungen gültig angesehen werden kann. Wie schon für Kant feststeht, legt das allgemeine Kausalprinzip nicht fest, wie die konkreten Kausalgesetze beschaffen sind. Durch das Prinzip wird impliziert, dass es welche geben muss, aber nicht festgelegt, wie sie genau lauten. Das festzustellen bleibt Sache der empirischen Forschung. Das Prinzip lässt sogar in gewissen Grenzen die formale Struktur der konkreten Gesetze offen. Die für physische Bewegungen zuständigen werden gemäß der Zeitstruktur dieser Prozesse stetige Sukzessionsgesetze sein, wie sie in physikalischen Theorien formuliert werden. Wenn die physikalische Zeit sich als unstetig herausstellen sollte, müssten die Physiker überlegen, wie die mathematische Formulierung der Gesetze abzuändern ist. Da in Tätigkeiten eine andere zeitliche Struktur vorliegt, sollten die Gesetze auch eine andere Form haben, also keine stetigen Sukzessionsgesetze sein. Wie gesagt, können Tätigkeiten nicht erklärt werden (gar maximal informativ), ohne dass in den Erklärungen, und also auch in den Gesetzen, Tätigkeitsverben vorkommen. Gesetze, in denen solche Begriffe enthalten sind, können jedoch keine stetigen Sukzessionsgesetze sein. In den Gesetzen muss die spezifische Zeitstruktur mentaler Prozesse berücksichtigt sein. Das bedeutet, dass die Strukturgleichheit von Erklärung und Prognose, die im Fall physikalischer Gesetze vorliegt, bei ihnen
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nicht gegeben sein kann. Erklärungen durch Gründe bzw. Motive können nur ex post gegeben werden. Es handelt sich dennoch um Erklärungen, die den Forderungen des allgemeinen Kausalprinzips genügen. Dass der Geist nur als Erscheinung existiert, schließt also Kausalerklärungen, in denen Begriffe für Mentales wesentlich vorkommen, nicht aus, es schließt aber sehr wohl Kausalerklärungen aus, bei denen im Explanans nur Mentales erwähnt wird, im Explanandum nur Physisches. Dass es etwas Derartiges nicht geben kann, liegt letzten Endes an dem ambivalenten Status von Erscheinungen. Solche Erklärungen wären weder nach den Regeln der Naturkausalität möglich noch nach denen der mentalen Verursachung. Das Kausalprinzip erzwingt also keineswegs, dass es sie gibt, es erzwingt jedoch, dass auch Tätigkeiten erklärbare Prozesse sind, lässt aber zu, dass in diesen Erklärungen, auch wenn sie maximal informativ sein sollen, keine stetigen Sukzessionsgesetze verwendet werden müssen, weil die zu erklärenden Prozesse eine andere innere Zeitstruktur haben. Im Rahmen eines Substanzen-Dualismus, wenn Geist und Körper transzendent reale Entitäten sein sollen, müssten alle Kausalbeziehungen zwischen ihnen durch stetige Sukzessionsgesetze beschrieben werden können. Da jedoch der Geist nur als Erscheinung existiert, kann es sich so verhalten, wie wir alle als selbstverständlich voraussetzen, dass es sich verhält.
Literatur Descartes, René. [AT] – . Œuvres de Descartes, herausgegeben von Charles Adam und Paul Tannery. Paris. – [] . Über die Leidenschaften der Seele, übers. von Artur Buchenau. . Aufl. Hamburg. Frankfurt, Harry. . Freiheit und Selbstbestimmung. Frankfurt am Main. Greene, Brian. . The Fabric of the Cosmos: Space, Time, and the Texture of Reality. New York. Kant, Immanuel. [KrV] . Kritik der reinen Vernunft, nach der . und . Originalausgabe herausgegeben von Jens Timmermann. Hamburg. Leibniz, Gottfried Wilhelm. [Theodizee] – . Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels. Die Philosophischen Schriften. Band , herausgegeben von Carl Immanuel Gerhardt. Berlin. Lesch, Harald, und Jörn Müller. . Kosmologie für helle Köpfe: Die dunklen Seiten des Universums. München. Rohs, Peter. . Geist und Gegenwart: Entwurf einer analytischen Transzendentalphilosophie. Münster. Searle, John R. . The Rediscovery of the Mind. Cambridge Mass. Specht, Rainer. . René Descartes. Hamburg. Spinoza, Baruch de. [Ethica] . Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. LateinischDeutsch, herausgegeben von Wolfgang Bartuschat. Hamburg. Walter, Sven. . Mentale Verursachung: Eine Einführung. Münster.
Daniel Elon MAIMON UND BOUTERWEK ÜBER VERNUNFT UND GLAUBEN
Einleitung Die kritische Diskussion um die Transzendentalphilosophie Kants hat mit der Frage nach Individualität und Person schon früh einen ihrer thematischen Brennpunkte gefunden. Zentrale Figur ist hierbei Friedrich Heinrich Jacobi: Dieser schließt in jener Angelegenheit u. a. ausdrücklich an Gottfried Wilhelm Leibniz’ Philosophie an, gibt der Thematik jedoch eine eigene, entschieden praktische Gestalt. Mit Salomon Maimon ( – ) und Friedrich Ludewig Bouterwek ( – ) sollen im vorliegenden Beitrag zwei Autoren besprochen werden, die gerade in ihrer intensiven Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants innerhalb dieses weiteren prägungshistorischen Kontextes zu verorten sind: Maimon ist in verschiedenen Hinsichten klar durch Leibniz’ zentrale Theoreme vorgeprägt; Bouterwek knüpft deutlich an die Überlegungen Jacobis an. Damit stellt sich die in der bisherigen Forschung noch nicht explizit aufgeworfene Frage, ob der Aspekt von Individualität auch für Maimon und Bouterwek in einem signifikanten Maße relevant werde. In diesem Beitrag soll gezeigt werden, dass dies in der Tat der Fall ist, auch wenn sich jene Signifikanz nicht offensichtlich zeigt und umständlicher herausgearbeitet werden muss. Als argumentativer Ansatzpunkt bietet sich hierfür der Themenkomplex um Vernunft und Glauben in Relation zueinander an: In den verschiedenartigen Positionierungen Maimons und Bouterweks hierzu manifestieren sich, vermittelt über die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis, die grundlegenden Auffassungen der beiden Autoren zur Rolle und Bedeutsamkeit des Individuums. Zunächst soll an dieser Stelle die publikatorische und philosophische Interaktion Bouterweks und Maimons beschrieben werden, die u. a. gerade um jene Thematik von Vernunft und Glauben kreist und von der aus sich der Gedankengang der vorliegenden Betrachtung weiter entwickeln lässt: Bouterwek, der ab eine Professur in Göttingen besetzt (vgl. Lyssy , X) und v. a. für die populärwissenschaftliche Verbreitung der kantischen Philosophie bekannt geworden ist, gibt in den Jahren bis die Zeitschrift Neues Museum der Philosophie und Litteratur in drei Bänden heraus. Zuvor war mit der
Hegel-Studien Beiheft · © Felix Meiner Verlag · ISSN -
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Idee einer Apodiktik Bouterweks transzendentalphilosophisch ausgerichtetes, zweibändiges Hauptwerk erschienen. In den ersten beiden Bänden des Neuen Museums erscheinen diverse Schriftstücke aus dem Nachlass Maimons. Dieser war wenige Jahre zuvor nach einem sehr bewegten Leben, das in Polen-Litauen begann und ihn durch weite Teile Europas, ab v. a. zu seinem primären Ziel Berlin brachte, nahe Glogau in Schlesien zu früh verstorben, vermutlich infolge einer Alkoholkrankheit (vgl. Harel , f.). Bouterwek steht damit am Anfang der Geschichte der Herausgabe von Maimons Werken – eine Geschichte, die im Übrigen bis heute noch zu keinem vollends zufriedenstellenden Verlauf gebracht werden konnte. Bouterwek kommt zudem das Verdienst zu, zum Überdauern zumindest eines kleinen Teils von Maimons „hinterlassenen Papieren“ (Maimon , ) beigetragen zu haben. Maimons handschriftlicher Nachlass, der später in der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin aufbewahrt worden war, wurde in den er Jahren fast vollständig zerstört (vgl. Engstler b, (Anm. )). Unter den zwei zweiteiligen von Bouterwek herausgegebenen Texten Maimons befindet sich auch die „Geschichte seiner philosophischen Autorschaft“: In einem fiktiven Dialog berichtet Maimon, der „Verfasser“, seinem „Recensenten“ dort von seinem intellektuellen Werdegang und den prinzipiellen Grundzügen seiner Philosophie. Für das Verständnis dieser Philosophie ist das kurze Schriftstück v. a. deswegen von Interesse, weil sich dort wichtige explizite Positionierungen Maimons zum besagten Verhältnis von Vernunft und Glauben finden. So schreibt er dort u. a.: Die sogenannte Harmonie zwischen Glauben und (theoretischer) Vernunft ist seiner [sc. des Verfassers; D. E.] Meinung nach, nichts anders, als die gänzliche Aufhebung des erstern durch die letztere. (Maimon a, / MGW VII: ) Dies ist eine der wenigen Stellen der Nachlassstücke, an denen sich der Herausgeber Bouterwek genötigt sieht, in Form einer Anmerkung in eigener Sache einzugreifen und die Positionierung Maimons unmittelbar zu kommentieren:
Bouterwek [a] (im Folgenden zitiert unter der Sigle ‚A I‘); Bouterwek b (im Folgenden zitiert unter der Sigle ‚A II‘). Der erste Band des bereits in den er und frühen er Jahren geplanten Projekts einer Maimon-Gesamtausgabe, das auf sieben deutsche und drei hebräische Bände angesetzt ist, ist momentan für angekündigt. Maimon a / MGW VII: – . Da Maimon im Text auf sein Werk Kritische Untersuchungen über den menschlichen Geist (MGW VII: I–; vgl. ebd., ) von verweist, muss das Schriftstück zwischen und verfasst worden sein. Maimon war gut ein Jahrzehnt zuvor, in den Jahren und , selbst als Mitherausgeber eines philosophischen Journals tätig, und zwar bei den Bänden und des von Karl Philipp Moritz begründeten Magazins zur Erfahrungsseelenkunde (Alternativtitel „Γνωϑι σαυτον“).
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Aus dem Zusammenhange sieht man zwar, wer nicht flüchtig lieset, deutlich genug, daß der Verfasser nur vom Offenbarungsglauben spricht. Aber es that doch vielleicht Noth, aufmerksam darauf zu machen. (Maimon a, / MGW VII: ) So eindeutig wie Bouterwek diesen Aspekt darstellt, gestaltet sich der Sachverhalt letztlich nicht. Dies sei hier ausblicksweise bereits erwähnt. Doch zumindest wird durch diesen Kommentar ein, wenn auch postumer, Dialog zwischen Maimon und Bouterwek zur Thematik des Verhältnisses von Vernunft und Glauben initiiert. Denn immerhin entwickelte Bouterwek zuvor in der Apodiktik, d. h. in seinem eigenen, zunächst kantianisch geprägten Versuch eines Vernunftsystems, mit seiner Konzeption von Überzeugung ein Modell eines epistemologisch relevanten Glaubens. Dieses Modell wiederum ist, wie bereits angedeutet, in deutlichem Maße durch Bouterweks Rezeption der Schriften Jacobis geprägt. Dem in Rede stehenden Dialog wurde bisher weder in der inzwischen prosperierenden, extensiven Maimon- noch in der deutlich spärlicheren BouterwekForschung detaillierter nachgegangen. Generell wurde der Verbindung von Maimon und Bouterwek bislang kaum Beachtung geschenkt. Lediglich der lose Zusammenhang der beiden Kant-Rezipienten hinsichtlich ihres Einflusses auf den Göttinger Bouterwek-Schüler Arthur Schopenhauer wurde zu Beginn des letzten Jahrhunderts bereits ausführlicher besprochen (vgl. Schröder ). Dabei bietet die systematisch nachweisbare Verknüpfung der Werke der beiden mit- und frühnachkantischen Philosophen eine durchaus interessante Gelegenheit, durch eine genauere Betrachtung dieser Verbindung neues Licht auf die Positionen Maimons und Bouterweks in Gegenüberstellung zueinander zu werfen. Zunächst soll dementsprechend konkret der Frage nachgegangen werden, wie sich Maimons gewissermaßen radikal-rationalistisch motivierter Versuch einer ‚Aufhebung‘ von Glauben durch Vernunft und Bouterweks Glaubensbegriff im Kontext seines Realismusmodells zueinander verhalten. Grundlage hierfür sollen kurze Skizzierungen der einschlägigen Ausführungen der beiden Autoren sein. In der Folge wird sich ergeben, dass darin einander entgegengesetzte philosophische Konzeptionen vom generellen Verhältnis von Theorie und Praxis zum Ausdruck gebracht werden. Dies wiederum verweist auf den eingangs genannten Aspekt von Individualität, in dem sich ein zentrales philosophisches Anliegen sowohl Maimons als auch Bouterweks verorten lässt. Hierin wird die zentrale These dieser Erörterung bestehen. Der Einfachheit der Gegenüberstellung halber werden sich die ersten beiden Abschnitte mit „Maimons Idealismus“ und „Bouterweks Realismus“ auseinandersetzen. Dabei muss natürlich auf die Gefahr einer Verkürzung des eigentlichen Sachverhalts durch eine solche binäre Klassifizierung hingewiesen werden. Gleichwohl können gerade durch diesen Modus der Gegenüberstellung durchaus
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klare Differenzen der zu vergleichenden Positionen deutlicher erarbeitet werden. Im dritten und vierten Abschnitt werden davon ausgehend die Aspekte von Theorie und Praxis bzw. von Individualität bei Bouterwek und Maimon besprochen. I. Maimons Idealismus Mit Achim Engstlers Untersuchungen zum Idealismus Salomon Maimons (b) liegt bereits eine umfangreiche Besprechung der epistemologischen Grundzüge der Theorie Maimons vor. Was dort nicht näher zur Sprache kommt, für die vorliegende Betrachtung allerdings systematischer Ausgangspunkt sein muss, ist eine genauere Erörterung von Maimons spezifischer Verwendung des Vernunftbegriffs. Hierzu empfiehlt sich insbesondere eine Auseinandersetzung mit Maimons früher konzeptioneller Hauptschrift Versuch über die Transzendentalphilosophie von / sowie mit dem Antwortschreiben (Maimon ) aus dem Berlinischen Journal für Aufklärung von . In diesem Schreiben reagiert Maimon auf die im selben Band der Zeitschrift abgedruckte Kritik am Versuch durch den Herausgeber Andreas Riem und nimmt diesbezüglich wichtige Präzisierungen, Ausführungen und Akzentiuerungen vor. Von Interesse ist an dieser Stelle zunächst Maimons generelle Auffassung des Verhältnisses von Verstand und Vernunft, das sich anhand der genannten Schriften prägnant skizzieren lässt: In kritischer Problematisierung des kantischen Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand sowie in Anlehnung v. a. an die Position Gottfried Wilhelm Leibniz’ geht Maimon von einer epistemologisch-monistischen Konzeption von Intellektualität aus. Dieser Konzeption zufolge ist Sinnlichkeit als verminderte Verstandestätigkeit, d. h. lediglich als graduelle, nicht spezifisch verschiedenartige Abstufung derselben aufzufassen (vgl. VT: ; ). Als grundsätzlich endlichem Verstandeswesen (vgl. v. a. VT: ; ) inhäriert dem menschlichen Erkenntnissubjekt dabei prinzipiell die „Idee des allervollkommensten Denkvermögens“ (Maimon , ), mithin die Annahme „(zum wenigsten als Idee) eine[s] unendlichen Verstand[es]“ (VT: ; vgl. VT: f.) als Modell gänzlicher intellektualer Spontaneität. Dieses Modell steht dem eingeschränkten, stets auf etwas extern ‚Gegebenes‘ angewiesenen und damit bloß limitiert spontanen menschlichen Verstand gegenüber. Dabei erscheint es insgesamt plausibel, dieses für Maimons Denken zentrale Konzept eines unendlichen Verstandes nicht als positiv-metaphysisches Theorem etwa eines göttlichen intellectus infinitus aufzufassen. Durch ein solches Theorem Maimon [/] (im Folgenden zitiert unter der Sigle ‚VT‘). In eine solche Interpretationsrichtung gehen Achim Engstler (b, v. a. ) und, explizit auf
Engstler bezugnehmend, Manfred Frank (, – ).
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würde Maimon die Resultate der Vernunftkritik, von denen er in seiner eigenen Argumentation ja ausgeht, schlicht ignorieren. Vielmehr impliziert die gemäß Maimons epistemologischer Konzeption zwar durchaus vorliegende, jedoch graduell variable und modifizierbare Limitation menschlicher Erkenntnis bereits prinzipiell den Gedanken einer kompletten Neutralisierung dieser Limitation: Diese soll durch eine approximierende Vervollständigungsbewegung geschehen, d. h. durch eine Verringerung des Mangels an intellektualer Spontaneität in Richtung null. Jener Status kann dabei zwar annäherungsweise, allerdings nicht komplett erreicht werden. Die Eingeschränktheit des menschlichen Erkenntnisvermögens bleibt konstitutiv (vgl. v. a. VT: ; ). Somit ist nicht etwa die Idee eines unendlichen Verstandes Beweggrund oder Motivationsbasis für besagte Approximationsbewegung, sondern diese Bewegung ist laut Maimons Modell vielmehr selbst Ausgangslage und Möglichkeitsbedingung der Idee (vgl. Duffy , v. a. ). In diesem Sinne bestimmt Maimon „die Vorstellung eines unendlichen Verstandes und folglich auch die beständige Näherung zu demselben“ in einem weiteren Artikel, ebenfalls von aus dem Berlinischen Journal, als „ein Desideratum, das in unserer Natur gegründet ist“ (MGW II: ). Als diejenige Instanz, die diese Approximationsdynamik des Verstandes durch normative Bestimmung anleitet und vorantreibt, identifiziert Maimon die Vernunft. Von dieser ausgehend tritt die Steigerung intellektualer Spontaneität, d. h. zugleich die Reduktion des Grades der Angewiesenheit des endlichen Erkenntnisvermögens auf ein extern ‚Gegebenes‘, richtiggehend als ‚Gebot‘ auf: „Die Vernunft gebietet uns daher einen Fortschritt ins Unendliche, wodurch das Gedachte immer vermehrt, das Gegebne hingegen bis auf ein unendlich Kleines vermindert wird.“ (Maimon , ) Im Kontext dieser Auseinandersetzung mit der Problematik des Gegebenen gerät auch Kants Konzeption der Dinge an sich in den kritischen Fokus Maimons: Nach Herrn Kant ist das Ding an sich dasjenige ausser unserm Erkenntnisvermögen, worauf sich der Begriff oder die Vorstellung in demselben bezieht. Ich behaupte hingegen, daß das Ding an sich in diesem Verstande ein leeres Wort ohne alle Bedeutung ist, indem man nicht nur das Daseyn dieses Dinges nicht beweisen, sondern sich auch von demselben gar keinen Begriff machen kann […]. (Maimon , ) Wohlgemerkt geht es an dieser Stelle lediglich um das Ding an sich „in diesem Verstande“, also in Kants Verständnis. Gemäß der oben beschriebenen Vervollständigungsbewegung von Intellektualität schlägt Maimon eine Alternative zur Position Kants vor:
„Baco und Kant“, MGW II: – .
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[N]ach mir sind Dinge an sich, und Begriff oder Vorstellung eines Dinges objektive eines und eben dasselbe, und nur subjektiv, d. h., in Beziehung auf die Vollständigkeit unsrer Erkenntnis von einander unterschieden. […] Nach mir […] ist die Erkenntnis der Dinge an sich nichts anders als die vollständige Erkenntnis der Erscheinungen. Die Methaphysik ist also nicht eine Wissenschaft von etwas ausser der Erscheinung, sondern blos von den Gränzen (Ideen) der Erscheinungen selbst, oder von den letzten Gliedern ihrer Reihen. […] Wir nähern uns immer zu ihrer Erkenntnis nach dem Grade der Vollständigkeit unsrer Erkenntnis der Erscheinungen. (Maimon , ; f.; Hervorhebung: D. E.) Wenn also, wie durchaus legitim erscheint, von Maimons transzendentalphilosophischer Positionierung als ‚Idealismus‘ gesprochen wird, ist stets die hier zu findende spezifische Begriffsverwendung der Idee zu berücksichtigen: Als ‚Grenzen der Erscheinungen selbst‘ bedeuten Ideen im epistemologischen Modell Maimons in erster Linie die per se ebenfalls intellektualen Elemente von Gegenständlichkeit, auf deren Grundlage Erscheinungserkenntnis prinzipiell entspringt (vgl. Engstler a, f.; b, v. a. – ). Auf die hier umrissene Approximationsdynamik als signifikanten Zug der Philosophie Maimons wird im späteren Verlauf dieser Betrachtung zurückzukommen sein, v. a. hinsichtlich der Fragestellung, wie diese Vervollständigungsbewegung seiner Vorstellung nach überhaupt vollzogen werden kann und soll. Von primärem Interesse ist an dieser Stelle unterdessen Maimons Vernunftkonzeption im oben erläuterten Sinne: Vernunft ist dementsprechend diejenige Instanz, die das eingeschränkte Verstandeswesen zur Maximierung der graduell abgestuften Vollständigkeit seiner Erkenntnis bewegt. Das anvisierte, faktisch jedoch nicht einlösbare Ziel dieser Maximierung ist dabei eine vollständige Erkenntnis der Erscheinungen, m. a. W. also eine gänzlich intellektuale Durchdringung des Erkenntnisgegenstands. Diese ließe nichts mehr am Gegenstand als ‚gegeben‘, extern oder epistemisch intransparent übrig. Eben hierin besteht Maimons ‚rationaler Dogmatismus‘, der aufgrund der prinzipiellen Unerreichbarkeit des Status des unendlichen Verstandes stets mit einem ‚empirischen Skeptizismus‘ koexistieren muss (vgl. v. a. VT: f.; Franks a; b): Die anvisierte vollständige Erscheinungserkenntnis bleibt unerreichbar. Deshalb muss auch zweifelhaft bleiben, ob die Kategorien des Verstandes de facto auf das in der Erscheinung Gegebene, persistent Heterogene angewandt werden (vgl. VT: f.; ), oder ob gerade diese generelle Heterogenität von Gegebenem und Kategorie eine solche Applikation prinzipiell verunmöglicht. Wird der Vernunftbegriff in der hier vorgestellten Fassung nun allerdings in Verbindung zum eingangs zitierten Textabschnitt über das Verhältnis von Vernunft und Glauben gesetzt, dann erscheint Bouterweks Ergänzung, Maimon spreche
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wohl bloß vom Offenbarungsglauben, durchaus problematisch: Vernunft wird von Maimon als diejenige Instanz aufgefasst, die dem endlichen Erkenntnissubjekt intellektuale Vervollständigung in Richtung einer kompletten epistemischen Durchdringung des Gegenstands als Ziel auferlegt. Die Harmonie zwischen dieser so verstandenen Vernunft und dem Glauben sei nun die Aufhebung des letzteren durch erstere. Dementsprechend erscheint es plausibel, dass Glaube hier, über Bouterweks Interpretation hinausgehend, als spezieller epistemischer Gegenstandszugriff verstanden werden kann. Dieser belässt zumindest ‚etwas‘ am Gegenstand als unzugänglich und vollzieht sich damit abseits der beschriebenen intellektualen Durchdringung des Gegenstands. Indem Maimon somit einerseits intellektuale Vervollkommnung im Erkenntnisakt, andererseits die Aufhebung von Glauben durch Vernunft als philosophische Desiderate bestimmt, wendet er sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht bloß gegen den Offenbarungsglauben der Schriftreligionen. Vielmehr hat er auch Glauben im allgemeiner gefassten epistemologischen Verständnis eines Erkenntnismodus im Blick, der prinzipiell auf komplette Transparentwerdung des Gegenstands und damit absoluten rationalen Zugriff auf denselben verzichtet. Dabei ist zu betonen, dass die Positionierung Maimons gegen eine solche Konzeption von Glauben nicht gleichbedeutend ist mit der etwaigen Behauptung, den gänzlichen Verzicht auf einen solchen epistemischen Modus tatsächlich philosophisch ermöglichen und reliabel gewährleisten zu können: Schließlich ist der anvisierte Zustand einer Vollständigkeit intellektualer Erkenntnis, damit auch einer gänzlichen Aufhebung des Glaubens durch die Vernunft, für Maimon grundsätzlich Desiderat, nicht etwa real Erreichbares oder sogar faktisch Erreichtes. Bouterwek mag unterdessen in seiner Herausgeberanmerkung einer Motivation in eigener Sache nachgegangen sein: Seine eigene, im Gegensatz zu Maimons rationalistisch orientierter Auffassung durchaus positiv konnotierte Konzeption von Glauben im hier umrissenen Verständnis soll einem möglichen Angriff damit entzogen und gegenüber Maimons Positionierung ex post immunisiert werden: Bezöge Maimon sich tatsächlich bloß auf Offenbarungsglauben, ginge von der Kritik an demselben keine Gefahr für Bouterweks eigenes Glaubenstheorem aus. Diese Konzeption, von Bouterwek im epistemologischen Modell der Überzeugung entwickelt, soll im Folgenden auf Grundlage der Apodiktik thematisiert werden.
Gegen diese Lesart ließe sich einwenden, dass Maimon an besagter Stelle lediglich von „(theoretischer) Vernunft“ (s. o.) spricht. Da er dies jedoch nicht weiter von seinem Vernunftbegriff im Antwortschreiben differenziert, erscheint es plausibel, dass auch letzterer als Form ‚theoretischer Vernunft‘ zu verstehen sei. Damit lässt sich die systematische Verknüpfung der hier angeführten Passagen legitimieren.
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II. Bouterweks Realismus Charakteristisch für Bouterweks philosophischen Ansatz ist die deutlich hervorgehobene Differenz von Denken und Wissen, wobei dem letzteren eine maßgeblich höhere Bedeutung zugeschrieben wird. In dieser Wertung sieht Bouterwek ein wichtiges Tätigkeitsfeld der Vernunft. Über die Logik als „Wissenschaft der Form des Denkens“, „wie man sich kantisch ausdrückt“ (A I: ), schreibt er in diesem Sinne: Ihre Grundsätze sind Formeln, die durch das Merkmal des Widerspruchs zwar vereinigt und, soviel es für den Verstand nötig ist, begründet, aber nicht so bestimmt werden, dass das Wissen, das die Vernunft dem bloßen Denken entgegenstellt und über das Denken erhebt, jemals aus ihnen hervorginge. (Ebd.) Auf der Unterscheidung von Denken und Wissen gründet sich nun die Einteilung des ersten Bandes der Apodiktik in eine „Logische“ und eine „Transzendentale Apodiktik“. Ersterer kommt dabei eine rein negative Funktion zu, eben weil bloße Formalität des Denkens als Forschungsfeld der Logik letztlich kein positives Wissen begründen könne: Dasjenige, was der Logik erst eigentlichen Gehalt gibt, müsse außerhalb derselben gesucht werden. Schließlich werde dies in der Logik selbst immer schon als „= x“ (A I: ) vorausgesetzt. In seiner Erörterung der grundsätzlichen Frage nach dem, was als Grund von Wissen zu bestimmen sei, geht es Bouterwek in der Transzendentalen Apodiktik (A I: – ) um nicht weniger als um „das Absolute“ (A I: ). Dieses Absolute ist philosophisches Hauptanliegen der Vernunft (vgl. ebd.). Zugleich erkennt die Vernunft an, dass dieses Absolute prinzipiell außerhalb der rationalen Tätigkeitssphäre des verständigen Erkenntnissubjekts lokalisiert werden muss: Aber so gewiss der Polarstern nicht im Kompass zu suchen ist, so gewiss sucht der Philosoph das Absolute vergebens im Verstand. Sofern es gedacht ist, ist es im Verstand ohne Zweifel. Aber sofern es gedacht, d. i. Begriff ist, ist es nicht mehr das Absolute, das der Verstand allen Begriffen voraussetzt. (A I: ) Bouterwek fasst das Absolute somit ganz explizit als absolute Realität auf, und zwar als „absolute Realität, die immer als ein und dieselbe einzig und allein auf sich selbst beruht“ (A I: ) – der beanspruchte „Spinozismus“ (vgl. A I: – ) Bouterweks wird hierin deutlich. Entscheidend ist an dieser Stelle unterdessen, dass dieses Absolute als absolute Realität, in seiner Grundlegungsfunktion bezüglich möglichen positiven Wissens, jeder epistemischen Aktivität eines Subjekts klar extern gegenübersteht. Auf diese Weise grenzt Bouterwek die Programmatik der Apodiktik schließlich auch von der Transzendentalphilosophie Kants ab:
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Beweisen und Wissen beziehen sich notwendig in der Vernunft auf ein Sein. Die Apodiktik beschäftigt sich vorzüglich mit dem Begriff des Seins oder der Realität, diesem Grundbegriff aller Wissenschaft, den die leibnizsche Philosophie zu weit verfolgte, die kantische aber nicht weit genug. (A I: ) Auch von Fichtes philosophischem Grundlegungsprojekt der Wissenschaftslehre distanziert er sich in diesem Kontext entschieden: In der Voraussetzung einer „notwendige[n] Tätigkeit des Ich“ (ebd.) bestehe eine Täuschung darüber, dass diese Tätigkeit selbst wiederum etwas ihr Externes voraussetzen müsse. Erst so könne überhaupt Wissen konstituiert werden (vgl. ebd.). In ebendiesem Sinne bezeichnet Bouterwek seine philosophische Position daher, wie gesagt partiell gegen Kant und Fichte gerichtet, explizit als Realismus: […] Und so muss man wenigstens den Versuch des tiefsinnigen Mannes ehren, der, weil er einsah, dass die kantische Philosophie durch sich selbst nicht gerettet werden kann, zu einer notwendigen Tätigkeit des Ich seine Zuflucht nahm. Die Apodiktik wird, wenn es ihr anders gelingt, die kantische Formalphilosophie durch einen von dieser Philosophie, wie von jeder anderen, unabhängigen Realismus begründen. (A I: ) Oben wurde bereits erwähnt, dass Bouterwek seine Position aufgrund der Einheit des Absoluten als absoluter Realität und der Gründung dieses Absoluten allein auf sich selbst als „Spinozismus“ charakterisiert. An dieser Stelle ist zu ergänzen, dass er dabei klar von „negative[m] Spinozismus“ redet: negativ nämlich wegen der „Anerkennung des absoluten Unvermögens der Vernunft, den letzten Grund aller Urteile [d. h. das Absolute; D. E.] den Bedingungen eines Urteils zu unterwerfen“ (A I: ). Die Vernunft räumt als übergeordnete Instanz des Erkenntnisvermögens also selbstreferenziell ein, dass das Absolute als absolute Realität gerade wegen seines Begründungscharakters hinsichtlich möglichen Wissens prinzipiell außerhalb der Zugänglichkeitssphäre urteilender Verstandestätigkeit zu verorten sei. Damit kommt der Vernunft innerhalb der Konzeption der Apodiktik zugleich die wichtige Funktion zu, Philosophie vom Absoluten als entschieden realistische Philosophie klassifizieren zu können. Es bleibt die Frage, auf welche Weise dann überhaupt ein philosophischer Zugang zum Absoluten möglich sei. Durchaus kann das Absolute nicht begriffen, wohl aber ergriffen werden, und zwar im Sinne eines „apodiktische[n] Ergreifen[s] der Realität in uns und mit uns“ (A I: ). – Hierin spricht sich zugleich aus, dass das Absolute als absolute Realität, zugleich als prinzipielle Einheit, das Erkenntnissubjekt ebenso begründet wie das diesem Subjekt entgegenstehende Objektive: Realität als In-uns und als Mit-uns gründet gleichermaßen im Absoluten. Hinsichtlich des Ergreifenkönnens dieses Absoluten spricht Bouterwek nun von einem
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Gefühl, das immerhin in der Lage ist, uns eine „Idee des Absoluten“ (A I: ) zu verschaffen: Wir nennen dieses Gefühl Überzeugung. […] Wir fühlen uns, wenn wir überzeugt sind, in unserem Innersten durch ein unnennbares Etwas gebunden und doch so wenig gedrückt oder erniedrigt, dass wir gerade dann den Triumph unserer Geistesfreiheit feiern, wenn wir stehen bleiben müssen bei dem, was uns überzeugt. Wir finden dann in diesem Gefühl die Ruhe, die der Preis allen geistigen Strebens ist, mit dem Ziel, nach dem wir strebten. (Ebd.) Im Sinne dieses Gefühls der Überzeugung wird das allem Sein zugrundeliegende Absolute schließlich in der Form eines „absoluten Realprinzip[s]“ (A I: ) festgehalten. Da dieses Prinzip letztlich nichts anderes leisten soll, als bloß Sein auszudrücken, handelt es sich in begrifflicher, damit ‚uneigentlicher‘ Ausführung lediglich um das simple, „[n]ur tautologisch[e]“ Diktum „Es ist etwas.“ (A I: ) Indem Überzeugung im Sinne einer gefühlten Bindung durch das Absolute als „ein unnennbares Etwas“ hier somit innerhalb des Argumentationsrahmens der Apodiktik verankert wird, entwickelt Bouterwek die Konzeption eines nicht-rationalen Fürwirklichhaltens von Dasein: Dieses fungiert als zentraler Zugriffsmodus auf dasjenige, was, als schlicht ‚real‘, dem Erkenntnissubjekt grundsätzlich extern sowie durch rationale Operationen dieses Subjekts unzugänglich und opak bleiben muss. Und indem es laut Bouterwek nun gerade die Vernunft ist, die diese konstitutive Unzugänglichkeit aktiv anerkennt, gibt sie den Weg frei für besagten Zugriffsmodus der Überzeugung. In dessen Ausführung manifestiert sich letztlich Bouterweks Konzeption von Glauben: Geradlinig und resümierend ausgedrückt wird dasjenige, was Wissen begründet und gerade wegen dieser Funktion selbst nicht eigentlich gewusst werden kann, nämlich das Absolute als absolute Realität, schlicht geglaubt. Schließlich sind wir grundsätzlich davon überzeugt, ‚dass etwas ist‘. In Gegenüberstellung zu Maimon, der eine gänzliche Transparentwerdung des Gegenständlichen innerhalb der Sphäre des Intellektualen als durch die Vernunft gebotenes Desiderat eingeschränkter menschlicher Erkenntnis bestimmt, lehnt Bouterwek eine solche Transparentwerdung prinzipiell ab. Stattdessen beharrt er auf dem Realen als demjenigen, was der Erkenntnis auf konstitutive Weise extern und rational ungreifbar bleibt. Von diesem Ungreifbaren ist das Erkenntnissubjekt fühlend jedoch unweigerlich überzeugt. Wenn Bouterwek Maimons anvisierte Aufhebung des Glaubens durch die Vernunft als auf Offenbarungsglauben beschränkt bestimmt, versucht er somit, die eigentlich klare Diskrepanz zwischen Maimons epistemologischer Grundposition und seiner eigenen zu kaschieren. Denn ganz im Gegensatz zu einer Aufhebung von Glauben durch Vernunft behauptet Bouterwek eine durch die Vernunft unternommene Anerkennung der Legitimität von Glauben im Sinne eines nicht-rationalen Fürwirklichhaltens von
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„Dasein überhaupt“ (A I: ) qua Überzeugung. Dies wiederum widerspricht Maimons oben erläuterter Vernunftkonzeption deutlich.
III. Theorie und Praxis Diese Differenz der Positionen Maimons und Bouterweks schlägt sich parallel auch in den jeweiligen Ausführungen zum Verhältnis von Theorie und Praxis nieder: Naheliegend ist die Vermutung, dass Maimon in seiner Konzeption der approximierenden Steigerung intellektualer Spontaneität einen primären Fokus auf das Theoretische richtet, Bouterwek hingegen mit seinem Modell eines nicht-rationalen philosophischen Zugriffsmodus auf das absolut Reale dem Praktischen erhöhte Geltung zukommen lässt. Diese Hypothese lässt sich bei näherer Betrachtung klar verifizieren: Durchaus kommt der Praxis innerhalb der Konzeption der Apodiktik eine maßgebliche Bedeutung zu. An die Transzendentale Apodiktik schließt sich als erstes Buch des zweiten Bandes die „Practische Apodiktik“ (A II: – ) an. Strukturell zeigen sich hier abermals Parallelen zur Grundkonzeption der kritischen Philosophie Kants. Ansgar Lyssy stellt dazu fest, dass Bouterwek „ebenso wie Kant das Primat der praktischen Philosophie“ betone (Lyssy , XXII). Zentrale Konzeption ist für Bouterwek dabei der Wille als dasjenige, durch das sich das Ich als „lebendige Kraft“ realisiere (vgl. ebd.): Soll der Gedanke: ‚Ich will‘; mehr als Einbildung seyn, so muß das Ich durchaus als Etwas, und zwar als lebendige Kraft gedacht werden; denn wenn Ich will, so will kein anderes Wesen als Ich. Von Mir geht alle Wirkung aus. Ich strebe, die Natur mir zu unterwerfen. (A II: ) Auf Grundlage dieser Ausführungen stellt Lyssy nun heraus, wie eng die in der Praktischen Apodiktik vorgelegte Willenskonzeption mit dem von Bouterwek grundsätzlich thematisierten Absoluten korreliert: Bei Bouterwek wird der Wille als Kraft gedacht und ist damit der Grundbegriff der Praxis und identisch mit dem Leben selbst. Da Bouterwek die Kraft so vor allem der Einheit von Realität und Wissen als gemeinsames Merkmal zuschreibt, erhebt er sie zum grundlegenden Prinzip der Realität selbst. Wille bzw. Kraft ist die Grundkonstitution von Denken und Sein gleichermaßen. (Lyssy , XXI) Eben in dieser unmittelbaren Verknüpfung von Willen als lebendiger Kraft im Sinne einer „höchste[n] und reinen Thätigkeit“ (A II: ) einerseits und dem Absoluten als Realgrund „von Denken und Sein gleichermaßen“ andererseits besteht besagte von Bouterwek vertretene Vorrangstellung des Praktischen vor dem Theoretischen. Ergänzend ist dabei zu nennen, dass Bouterwek im Kontext seiner
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Willenskonzeption auch Aspekte des Triebes als fundamental Ich-bezogener Dimension dieses Willens mitberücksichtigt: „Der Trieb ist mein Trieb. Er entdeckt sich im Bewußtseyn, wenn ich leide. Wird er befriedigt, so bin ich es, der erfreuet wird. Daß ich mir dies sagen und in Begriffen verdeutlichen kann, ist das Werk meiner Vernunft. Aber auch ehe ich es mir sagen konnte, fühlte ich Freude und Schmerz, und strebte nach jener“ (A II: ). In der hier angerissenen Ausführung des Willenskonzepts im Rahmen transzendentalphilosophischer Reflexion wird zum einen deutlich, inwieweit Arthur Schopenhauer durch seinen Lehrer Bouterwek geprägt gewesen ist: Von Schopenhauer wird der per se nicht-rationale Wille schließlich zum ungeteilten Substrat der gesamten Erscheinungswelt mitsamt Erkenntnissubjekt erklärt. Bouterweks Bedeutung auf dem Weg von der Vernunftkritik zur Willensmetaphysik ist daher philosophiegeschichtlich nicht zu vernachlässigen. Zum anderen muss jedoch auch festgestellt werden, dass sich Bouterwek in seiner Betonung des Primats des Praktischen weitgehend im Fahrwasser derjenigen Autoren bewegt, die den philosophischen Diskurs der Zeit schon in den beiden Jahrzehnten vor Erscheinen der Apodiktik maßgeblich bestimmten, also v. a. Kants, Jacobis und Fichtes. Ebenso wie Bouterweks epistemologisches Modell von Überzeugung auf Jacobis vorangegangene Ausführungen zum Glauben sowie auf dessen Realismus (vgl. Sandkaulen , – ; Sandkaulen ) verweist – im Übrigen ohne hinreichende Referenzen –, ist auch die Gesamtkonzeption der praktischen Philosophie Bouterweks im Kern wenig innovativ. Nun muss jedoch in Erinnerung gerufen werden, dass die oben besprochene Perspektive Bouterweks hinsichtlich der Relation von Vernunft und Glauben letztlich als Manifestationsform ebendieser Vorrangstellung des Praktischen vor dem Theoretischen aufgefasst werden kann. Schließlich ist das Gefühl der Überzeugung vom absolut Realen stets an den aktiven, handelnden Umgang des Subjekts mit diesem externen Realen gebunden. In der Folge ergibt sich erneut eine interessante Entgegensetzung zur Position Maimons: In eben dem Maße, wie sich Maimon und Bouterwek bezüglich des Verhältnisses von Vernunft und Glauben diametral gegenüberstehen, unterscheidet sich Maimons Position auch in der Thematik von Theorie und Praxis deutlich von derjenigen Bouterweks. Während letzterer also gewissermaßen das Paradigma seiner Zeit aufgreift und fortführt, nimmt ersterer in dieser Angelegenheit eine Außenseiterposition ein. So betont Maimon verschiedentlich die von ihm vertretene Vorrangstellung des Theoretischen vor dem Praktischen, auch unter Rekurs auf Aristoteles’ Modell des βίος ϑεωρητικός: „Ich erkenne kein andres Interesse der Menschheit als das Interesse der Wahrheit.“ (MGW IV: ) – „Vergebens wird man also die Würde des Menschen und seinen Rang vor den bloßen Thieren anderwärts suchen, als wo ihn Aristoteles gesucht und gefunden hat, im Denkvermögen.“ (MGW V: ). In einer weiteren von Bouterwek herausgegebenen Nachlassschrift, dem „Kritischen Gutachten
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über die Kantische Philosophie“, wendet Maimon diese Prämisse seines eigenen Denkens gegen das von Kant wesentlich geprägte Paradigma vom Primat des Praktischen: Sie [die ‚Kantische kritische Philosophie‘; ebd.] legt einen zu großen Werth auf das praktische, und einen zu geringen auf das theoretische Erkenntnißvermögen; da doch die Spontaneität von diesem nicht minder, als die Autonomie von jenem – dessen Gebrauch noch immer bezweifelt werden kann – die Würde des Menschen und seinen eigenthümlichen Charakter ausmacht. (Maimon b, f. / MGW VII: f.) Mehr noch als dies: In der Einleitung zum Versuch über die Transzendentalphilosophie erklärt Maimon die Spontaneität des Denkens, mithin theoria als solche, gewissermaßen zum Radikalvermögen jeder menschlichen Aktivität: „Alle menschliche Beschäftigungen sind, als solche, bloß ein mehr oder weniger Denken.“ – Dabei sei „das Bestreben eines denkenden Wesens: nicht nur überhaupt zu denken, sondern dieses Maximum im Denken zu erreichen.“ (VT: ) Auf dieser Funktion der theoria als Radikalvermögen basiert nun Maimons Konzeption einer vollständigen Aufhebung von Glauben durch Vernunft. Dies verhält sich parallel zum erläuterten Relationskomplex bei Bouterwek, jedoch gewissermaßen in gespiegelter Konstellation: Schließlich ist besagtes „Maximum im Denken“ nichts anderes als die oben beschriebene vollständige intellektuale Durchdringung und Transparentwerdung des Gegenständlichen, die Maimon als epistemischen Zielwert festlegt. Für Bouterwek bleibt die Überzeugung vom Realen, das nicht gewusst werden kann, demgegenüber an die Praxis gebunden. Vermittelt über die Aspekte des ‚mehr oder weniger‘ sowie des ‚Maximums im Denken‘ lässt sich nun zudem der Bogen zu der in Abschnitt I noch offengebliebenen Fragestellung schlagen, wie die von Maimon dargestellte approximierende Vervollständigungsdynamik intellektualer Spontaneität konkret zu verstehen sei: Auf Grundlage der hier unternommenen Betrachtungen erscheint es durchaus plausibel, diese Dynamik als konsequente Umsetzung der vita contemplativa auszulegen. Progressive intellektuale Vervollkommnung im Sinne Maimons ist dieser Lesart gemäß daher in der Tat die rein theoretische Betätigung des Wissenschaftlers mit dem Ziel der Erkenntnis der Wahrheit um ihrer selbst willen. Hierzu passt im Übrigen, dass Marcus Herz, seinerseits Arzt, Philosoph und Schüler sowie Freund Immanuel Kants, in einem Brief an diesen über Maimon schreibt, er lebe „sehr kümerlich […], ganz der Spekulation“ (AA XI: ). Vgl. auch MGW V: f.: „Was würde ein Neuton, ein Leibnitz dazu sagen, wenn sie hören sollten, daß man ihre herrliche Erfindung (Differentialrechnung) nicht als einen Funken der Gottheit, als einen Adelsbrief, wodurch die hohe Abstammung des menschlichen Geistes von den reinen Intelligenzen bewiesen wird, sondern bloß des Nutzens wegen schätzen will, daß man dadurch (in der Artillerie)
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Wenn von Theorie als Lebenspraxis oder von Lebenspraxis als Fundament theoretischen Wissens gesprochen wird, drängt sich die Frage auf, wie diese Lebenspraxis hinsichtlich der konkreten Umsetzung durch den Einzelnen vorzustellen sei. Im letzten Schritt dieses Beitrags soll daher erörtert werden, welche Position das Individuum in den Philosophiekonzeptionen der beiden Autoren einnimmt. Damit kann zur einleitenden Fragestellung der Untersuchung zurückgegangen werden. Grundlage sind dabei die bisherigen Überlegungen zu den klar divergierenden Positionierungen Maimons und Bouterweks zum Verhältnis von Theorie und Praxis.
IV. Individualität bei Bouterwek und Maimon Bei Bouterwek gestaltet sich der Sachverhalt hierzu relativ eindeutig: Die „Fundierung der Philosophie in der Praxis“ funktioniere dort, so Lyssy, „durch wirkliches Wollen und individuelle, konkrete Subjekte.“ (Lyssy , XXII) Gerade in Abgrenzung zu Kant sieht Bouterwek Praxis in ihrer philosophischen Grundlegungsfunktion somit als allein durch Individualität realisiert. Damit wird nicht nur eine Priorität der Praxis vor der Theorie eingeräumt, sondern auch eine Vorrangstellung des Individuellen vor dem Allgemeinen. Dies konnotiert Bouterwek abermals mit den Begriffen von Streben und Tätigkeit: Folglich ist entweder unsre ganze Praxis, und mit ihr aller Werth, den wir uns als selbstständige Wesen in uns selbst erwerben können, im Grunde Nichts, oder das strebende Subject ist selbst der reelle Grund seines Strebens und seiner Thätigkeit, das heißt: es ist practisches Individuum, und Individualität ist die practische Realität in bloß subjectiver Bedeutung, durch die auch das denkende Subject oder Ich in sich selbst realisirt ist. (A II: ; vgl. Lyssy , XXII) Individualität ist also zwar lediglich „in subjectiver Bedeutung“ als praktische Realität aufzufassen. Gerade durch die praktische Realität in dieser Bedeutung wird aber das Ich auch als denkend realisiert. Dies bedeutet zugleich, dass es ein denkendes Subjekt, mithin Denken überhaupt, außerhalb der Sphäre von Individualität prinzipiell nicht geben kann. Damit vertritt Bouterwek letztlich eine relativ starke Position von Individualität. Bei Maimon gestaltet sich jene Thematik ungleich intransparenter und lässt an dieser Stelle v. a. Raum für eine abschließende Spekulation über seine Philosophie,
berechnen kann, wie man die größte mögliche Anzahl Menschen in der kürzesten Zeit tödten kann? Wer kann die Ausübung der Seelenkräfte an sich, sollte sie auch keinen andern Nutzen haben, unnütz nennen? und wer kann die mit dieser Ausübung verknüpfte Glückseligkeit wegraisoniren? Gewiß nur der, der sie nie genossen hat.“
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die diese in einem potenziell andersartigen Licht erscheinen lassen kann, als in der Forschung ansonsten zumeist vorgeschlagen: So nimmt beispielsweise Florian Ehrensperger im Schlusswort seiner Schrift über Maimons Theoreme von Weltseele und unendlichem Verstand () an, bei Maimon „drück[e] sich eine Überzeugung aus, welche die Bestimmung des Menschen und seine Würde nicht in der Erfüllung von Individualität und Subjektivität sieht, sondern in deren Aufhebung.“ (Ehrensperger , ) Ausgehend von der Annahme durchgehender Rationalität und vollständiger Objektivität in der theoria als Erkenntnisideal bei Maimon erscheint Subjektivität qua Individualität dieser Lesart gemäß als Kontingenz in negativer Hinsicht, deren Auflösung anzustreben sei. Hiergegen kann jedoch eingewandt werden, dass es Maimon letztlich, wie dargestellt, nicht etwa um das faktische Erfüllen jenes Erkenntnisideals geht. Vielmehr steht für ihn die Approximationsdynamik des nach wie vor eingeschränkten, endlichen, daher auch kontingenten menschlichen Subjekts im Vordergrund. Damit ergibt sich ein anderes Bild: Demgemäß ist hier letztlich doch der Einzelne von maßgeblicher Bedeutung, der dieser Approximationsbewegung entsprechend stets ‚unterwegs‘ bleibt und ‚nicht ankommt‘. Nicht ohne Grund beendet Maimon den Versuch mit einem für sich sprechenden Zitat aus dem Babylonischen Talmud, womit überdies dann doch eine gewisse Dimension von Religiosität zur Geltung gebracht wird: „Die Schüler der Weisheit finden keine Ruhe, weder in diesem noch in dem künftigen Leben.“ (VT: f.) Inwieweit Maimons Denken in dieser Linie auch als Philosophie der Existenz und der Person gelesen werden könnte, bleibt als Untersuchungsgegenstand in der Forschung bislang Desiderat. Diese mögliche interpretative Herangehensweise an Maimons Werk kann an dieser Stelle zwar nicht weiter ausgearbeitet werden. Als abschließendes Resultat der Erörterung ist jedoch festzuhalten, dass sich mit der positiv konnotierten Rolle von Individualität ein systematischer Berührungspunkt der Philosophien Maimons und Bouterweks herausstellen lässt, der in dieser Form bisher noch nicht benannt worden ist. Literatur Bouterwek, Friedrich L. [A I; a] . Idee einer Apodiktik. Ein Beitrag zur menschlichen Selbstverständigung und zur Entscheidung des Streits über Metaphysik, kritische Philosophie und Skeptizismus. Erster Band. Herausgegeben von Ansgar Lyssy. Stuttgart-Bad Cannstatt. – [A II] b. Idee einer Apodiktik. Ein Beytrag zur menschlichen Selbstverständigung und zur Entscheidung des Streits über Metaphysik, kritische Philosophie und Skepticismus. Zweyter Band. Halle.
Vgl. Goldschmidt (, Bd. , „Berakhot IX“, Fol. a): „Die Schriftgelehrten haben keine Ruhe, weder in dieser Welt, noch in der zukünftigen Welt“.
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Duffy, Simon. . „Maimon’s Theory of Differentials as the Elements of Intuitions“. International Journal of Philosophical Studies ,: – . Ehrensperger, Florian. . Weltseele und unendlicher Verstand. Das Problem von Individualität und Subjektivität in der Philosophie Salomon Maimons. Diss., München. Engstler, Achim. a. „Salomon Maimons Versuch einer ‚Vereinigung der Kantischen Philosophie mit dem Spinozismo‘“. In: Die goldene Regel der Kritik. Festschrift für Hans Radermacher zum . Geburtstag, herausgegeben von Harald Holz, – . Bern et al. – b. Untersuchungen zum Idealismus Salomon Maimons. Stuttgart-Bad Cannstatt. Frank, Manfred. . „Unendliche Annäherung“. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt am Main. Franks, Paul W. a. „Does Post-Kantian Skepticism Exist?“ Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus : – . – b. „What should Kantians learn from Maimon’s Skepticism?“. In: Salomon Maimon. Rational Dogmatist, Empirical Skeptic. Critical Assessments, herausgegeben von Gideon Freudenthal, – . Dordrecht et al. Goldschmidt, Lazarus (Hrsg. u. Übers.). – . Babylonischer Talmud, Bde. Den Haag. Harel, Aza. . „Maimon, Salomon“. In: Neue Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie für Wissenschaften, Bd. , – . Berlin. Lyssy, Ansgar. . „Einleitung des Herausgebers“. In: Bouterwek [a] , VII– XXVIII. Maimon, Salomon. . „Antwort des Hrn. Maimon auf voriges Schreiben“. Berlinisches Journal für Aufklärung : – . – . „Ideen und Plane zu neuen Untersuchungen. Aus Salomon Maimon’s hinterlassenen Papieren [Teil , herausgegeben von Friedrich L. Bouterwek]“. Neues Museum der Philosophie und Litteratur ,: – . – a. „Salomon Maimon’s Geschichte seiner philosophischen Autorschaft, in Dialogen. Aus seinen hinterlassenen Papieren [herausgegeben von Friedrich L. Bouterwek]“. Neues Museum der Philosophie und Litteratur ,: – . – b. „Salomon Maimon’s kritisches Gutachten über die Kantische Philosophie. Als Beschluss der Geschichte seiner philosophischen Autorschaft [herausgegeben von Friedrich L. Bouterwek]“. Neues Museum der Philosophie und Litteratur ,: – . – [MGW] – . Gesammelte Werke. Bände, herausgegeben von Valerio Verra. Hildesheim. – [VT; /] . Versuch über die Transzendentalphilosophie, herausgegeben von Florian Ehrensperger. Hamburg. Sandkaulen, Birgit. . „Ich bin Realist, wie es noch kein Mensch vor mir gewesen ist“. Friedrich Heinrich Jacobi über Idealismus und Realismus. Paderborn et al. – . „‚Ich bin und es sind Dinge außer mir‘. Jacobis Realismus und die Überwindung des Bewusstseinsparadigmas“. In: Jacobis Philosophie. Über den Widerspruch zwischen System und Freiheit, – . Hamburg. Schröder, Wilhelm. . Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Philosophie Schopenhauers mit besonderer Berücksichtigung einiger wichtiger frühnachkantischer Philosophen (Maimon, Beck, G. E. Schulze, Bouterwek und Jacobi). Diss., Rostock.
Luca Illetterati DIE LOGIK DES LEBENS Hegel und die Grammatik des Lebendigen
I. Wovon reden wir, wenn wir von Leben reden? Der Lebensbegriff zeichnet sich durch eine besondere, komplexe Polysemie und durch seine spezifische Tendenz aus, in verschiedenen Themenbereichen zu einer Metapher zu werden. Das liegt an einer gewissen mit ihm verbundenen Zweideutigkeit, die man auch dort findet, wo der Begriff im wissenschaftlichen Rahmen verwendet wird. Versucht man, die besonderen Eigenschaften von Lebewesen zu bestimmen, so muss man sich nämlich mit einer Reihe nicht einfach zu lösender Probleme auseinandersetzen. So gibt es zum Beispiel Wesen, die zwar Eigenschaften des Lebens besitzen, aber trotzdem nicht als Lebewesen betrachtet werden (Kristalle sind beispielsweise höchst organisierte Strukturen, die einem Wachstumsprozess unterliegen, aber dennoch nicht als Lebewesen gelten); andererseits gibt es Wesen, die zwar als Lebewesen betrachtet werden, die aber einige der Grundeigenschaften von dem, was man unter Leben versteht, nicht besitzen (Viren sind zum Beispiel mit Genen und einer Entwicklungsgeschichte ausgestattete Wesen, aber sie sind nicht in der Lage, sich selbst zu ernähren und fortzupflanzen). Im Dezember hat der populärwissenschaftliche Autor Ferris Jabr auf dem Blog des Scientific American einen Artikel mit dem Titel „Why life does not really exist“ veröffentlicht. Jabrs These besagt, dass das Leben keine bestimmte Realität in der Welt ist. Um behaupten zu können, dass es das Leben gibt, bräuchten wir nämlich klare Kriterien zur Bestimmung seines Begriffs. Keine Definition des Lebens ist jedoch Jabr zufolge dazu in der Lage, genau zu bestimmen, was das Leben im Vergleich zu dem ist, was es nicht ist. Das Leben existiert also nicht, behauptet Jabr nachdrücklich, wobei er ein bisschen mit den Worten spielt und Realität mit Existenz identifiziert. Es existiert deshalb nicht – so seine Schlussfolgerung –, weil es nur ein Begriff ist. Es ist klar, dass Jabr damit sagen will, dass das Leben keine Realität ist, die mit einer vom Denken unabhängigen Objektivität ausgestattet wäre. Das, was wir ‚Leben‘ nennen, sei nicht so sehr eine objektive Bestimmung als Der Artikel kann auf dem Blog des Scientific American eingesehen werden: https://blogs. scientificamerican.com/brainwaves/why-life-does-not-really-exist/# (letzter Besuch auf der Seite: . . ). Hegel-Studien Beiheft · © Felix Meiner Verlag · ISSN -
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vielmehr eine subjektive Konstruktion, das heißt ein Wort, mit dem wir kein bestimmtes Wesen oder eine bestimmte Materie – und in diesem Sinne eben auch keine bestimmte Realität –, sondern vielmehr bloß eine Organisationsform bezeichnen. Wenn noch nie eine befriedigende Definition des Lebendigen in seiner spezifischen Unterschiedlichkeit zu dem, was es nicht ist, gefunden worden ist, dann liegt das – so Jabr – daran, dass es nicht wirklich etwas gibt, was wir als Wesen des Lebens isolieren könnten, wie wir zum Beispiel sehr wohl sagen können, dass eine aus zwei Wasserstoffatomen und einem Sauerstoffatom bestehende Flüssigkeit Wasser ist. Dass das Leben keine Realität, sondern ein Begriff ist, könnte man auch so ausdrücken: Der Lebensbegriff hat nicht primär mit der Ontologie – also mit dem, was ist –, als vielmehr mit der Epistemologie – also mit unserer Erkenntnisbeziehung zu dem, was ist – zu tun. ‚Leben‘ – so könnte man mit Jabr sagen – ist kein Sein, sondern vielmehr eine Beschreibungsweise von bestimmten Wesen, eine kategoriale Struktur, mit der das Denken (auf notgedrungen ungenaue Weise) verschiedene Niveaus der komplexen Organisation der Realität unterscheidet. Auch wenn Jabrs Überlegungen im Vergleich zu Ausdrücken wie ‚Existenz‘, ‚Realität‘ oder ‚Begriff‘ philosophisch naiv sind, können sie als problematischer Hintergrund für den Gedankengang, der hier dargelegt werden soll, nützlich sein: ein Gedankengang, der auf Hegels Lebensbegriff, auf die Art, wie er die Erörterung des Lebensbegriffs organisiert, und dabei letztlich auf die in der Wissenschaft der Logik darlegte Möglichkeit zielt, die besondere Grammatik der Seinsart des Lebens zum Vorschein zu bringen. II. Das Leben denken Der Lebensbegriff ist sicher einer der Schlüsselbegriffe der ganzen klassischen deutschen Philosophie. Nach der hier vertretenen These ist er das gerade aufgrund seiner besonderen Verflechtung von epistemologischer und ontologischer Dimension, oder anders ausgedrückt: aufgrund der dem Leben eigenen Notwendigkeit, die strenge Trennung zwischen der epistemologischen und der ontologischen Ebene zu durchbrechen. Die Verbindung von Ontologie und Epistemologie, die Überzeugung, dass es keine von der Epistemologie getrennte Ontologie und keine von der Ontologie getrennte Epistemologie geben kann, kennzeichnet viele Wege der von Kants Philosophie ausgehenden Diskussionen. Der Lebensbegriff spielt in der Tat eine wichtige Rolle innerhalb der postkantischen Debatte: So steht er im Mittelpunkt von Schillers Denken, für den das Leben die Gesamtheit der Beziehungen ist, die das phänomenale Leben der Menschen bildet, welches durch Erziehung mit dem moralischen Ideal in Einklang gebracht werden muss, die keine Zwangsform annehmen darf; ebenso bei Herder,
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wo das Leben eine geistige Verbindung bedeutet, die keiner mechanischen Erklärung zugänglich ist und die ihre tatsächliche Verwirklichung nur im Menschen findet, also dort, wo es Identität zwischen Fühlendem und Gefühltem gibt; und natürlich bei Goethe, wo das Leben der Ort der Verwandlung und des Ausdrucks der untrennbaren Verbindung zwischen den Teilen und dem Ganzen ist. Besonders bedeutsam ist jedoch die Position Jacobis. Jacobis Vernunftkritik gründet im Wesentlichen auf der Überzeugung, dass es dem Verstand unmöglich ist, so etwas wie das Leben zu verstehen (vgl. Sandkaulen ; Jaeschke, ). Für Jacobi, der dabei dem Kant des Einzig möglichen Beweisgrunds folgt, können das Sein und das Dasein, da sie gesetzt sind, nicht zu beweisbaren oder ableitbaren Beziehungen herabgesetzt werden. Aber das, was für Kant allgemein das Dasein war, ist für Jacobi das, was lebendig ist, gegenüber dem, was tot ist, die unerschöpfliche Lebendigkeit, die als solche notgedrungen zerlegt wird. Jacobi konzipiert sie als spontan und unvorhersehbar, während die Begriffswelt nur steif, fest und vollkommen konsequent sein kann. In diesem Sinne ist das Leben also das, was auf Grund seiner Seinsart nicht auf den Begriff herabgesetzt werden kann. So schreibt Jacobi im David Hume: Von dem, was Leben ist, haben wir gewiß das innigste Bewustseyn; aber wer kann sich vom Leben eine Vorstellung machen? […] Ich weiß nichts verkehrteres, als das Leben zu einer Beschaffenheit der Dinge zu machen, da im Gegentheil die Dinge nur Beschaffenheiten des Lebens, nur verschiedene Ausdrücke desselben sind; denn das Mannichfaltige kann im Lebendigen allein sich durchdringen und Eins werden. Wo aber Einheit, reale Individualität aufhört, da hört alles Daseyn auf, und wenn wir uns etwas, das kein Individuum ist, als ein Individuum vorstellen, so legen wir einem Aggregat unsere eigene Einheit unter. (JWA ,: f.) Für das Leben kann es Jacobi zufolge keinen Beweis, sondern nur Offenbarung geben. Will man das Leben beweisen und ableiten, so kann man nicht anders, als es in mechanische Beziehungen einzusperren, die zwar beweisbar und begrifflich sind, die aber auf Grund ihrer inneren Notwendigkeit das Lebendige in etwas Totes verwandeln. Das Leben ist Jacobi zufolge nicht beweisbar, weil es nicht objektiviert werden kann; vielmehr ist das, was man in dem Moment, in dem man es als Objekt betrachtet, vor sich hat, nur ein Gespenst, also ein Bildnis des Lebens und nicht das Leben an sich. Das Leben als ein Objekt zu denken, bedeutet, das Leben, welches nur es selbst ist, wenn es vom Geist belebt wird, in reine Natur zu verwandeln, das
Bei Jacobi ist der Begriff der Vernunft mit dem der Offenbarung verbunden und dem des Verstandes entgegengestellt. Die Vernunft offenbart, so Jacobi, das, was der Verstand nicht beweisen kann.
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heißt in eine tote Objektivität, zu der sich der Verstand auf kantische Weise als gesetzgebend verhält. In einer gewissen Kontinuität zu Jacobis Reflexion erhält das Wort ‚Leben‘ auch in Fichtes Denken eine entscheidende Bedeutung, vor allem wenn man die Überarbeitungen der Wissenschaftslehre in den Jahren zwischen dem Ende des . und dem Anfang des . Jahrhunderts betrachtet (vgl. Ivaldo ). Entgegen einer Auffassung von Fichtes Philosophie als einem extremen und radikalen Versuch, die Realität auf das Bewusstsein zurückzuführen und somit das Sein auf die Strukturen des Ichs und wiederum die Ontologie auf die Epistemologie zu reduzieren, gibt es nunmehr zahlreiche wissenschaftliche Beiträge, die hervorheben, dass es bei Fichte ganz im Gegenteil eine Ontologie gibt (Cesa ; Lauth ; Zöller ). Und innerhalb dieser Ontologie kann man die Rolle erkennen, die in ihr ein Begriff wie der des Lebens spielt. Mit dem Wort ‚Leben‘ bezeichnet Fichte nämlich das Absolute selbst oder, wenn man so will, die Unmöglichkeit, das Absolute auf den Begriff zu reduzieren. Die Begriffsbestimmung kann nur bestimmen und begrenzen und deshalb das Absolute in eine für es widersprüchliche Dimension einschließen. Vom Absoluten als Leben zu sprechen, das Absolute als das Zusammentreffen von Sein und Leben zu erfassen, bedeutet für Fichte, das Absolute durch einen Blickwinkel zu denken, der das Übermaß des Absoluten im Vergleich zum Begriff ausdrückt; ein Übermaß, das sicherlich im Begriff erscheint – und, wenn man so will, auch durch den Begriff –, das aber niemals auf einen Begriff reduziert werden kann. Ein Übermaß also, das der Begriff selbst hervorbringt, das aber dennoch notwendigerweise jenseits des Begriffs, jenseits jeglicher Bestimmung ist, die es in irgendeiner Form von Wesentlichkeit objektiviert. ‚Leben‘ ist für Fichte die Negation der begrifflichen Bestimmung des Absoluten durch den Begriff selbst, jedoch nicht in dem Sinne – man beachte –, dass das Leben das absolut Andere des Begriffs darstellen würde. Es offenbart sich wenn überhaupt als unerschöpflich und niemals ganz zu identifizieren mit der begrifflichen Bestimmung. Noch einmal anders gesagt: Wenn man annimmt, dass das Denken Begreifen (begrifflich Darstellen und somit Bestimmen und Definieren) ist, dann ist das Leben für Fichte nicht denkbar, beziehungsweise nur denkbar, wenn man seine Reduktion auf ein Nicht-Leben in Kauf nimmt. Und dennoch tritt es in seiner Spezifizität gerade durch diese Unmöglichkeit, vom Denken beherrscht zu werden, hervor. Von Fichtes Standpunkt aus ist das Leben also nur in der aporetischen Erfahrung denkbar, dass das Leben unmöglich als Begriff bestimmt werden kann. Daher stammt die Idee, dass sich das Leben nicht so sehr begrifflich erfassen lässt, als vielmehr erlebt und erfahren werden muss. Das Leben zu denken, bedeutet also, die Unmöglichkeit anzuerkennen, an ein Sein zu denken, das sich nicht in einer Substanz verwirklicht, da es das beständige Sich-Bilden und Sich-Erzeugen ist, das niemals endet, da es sonst in einer endlichen Ruhe verschwinden würde.
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III. Die kritische Funktion des Lebensbegriffs In diesem Sinne scheinen die Autoren, von denen hier die Rede ist, im deutschen Substantiv ‚das Leben‘ und im Verb ‚leben‘ nicht nur die beiden Wörter einzuschließen, die im Begriffshorizont der Griechen spezifisch das Leben bezeichnen (und zwar bìos und zoé), sondern es auch als Lebensart und -gliederung der Bereiche der psyché, des politeuein und im Sinne der allgemeinen Bestimmung Hölderlins eines Einsseins des Teils mit dem Ganzen zu verstehen. Auf dieser Grundlage wäre es ein genauso gravierender Fehler, den Lebensbegriff auf eine ausschließlich biologische Perspektive zu reduzieren, wie zu denken, dass das Wort ‚Leben‘ rein metaphorisch verwendet und man sich damit auf eine rein geistige Dimension beziehen würde. ‚Leben‘ ist in diesem Zusammenhang vielmehr ein Wort, das am stärksten und nachdrücklichsten das Bedürfnis artikuliert, alle Dualismen, die für das moderne Denken charakteristisch sind, zu überwinden: zwischen Seele und Körper, zwischen Denken und Welt und sicher auch zwischen Geist und Natur. Das Leben ist für alle diese Autoren verkörperte Seele oder beseelter Körper, Denken, das niemals etwas anderes als die Welt oder von ihr getrennt ist, und Welt, die sich nur in ihrem Verhältnis zum Denken wiederfindet und wiedererkennt, Geist, der Natur ist, und Natur, die Geist ist, um einen berühmten Ausdruck Schellings zu gebrauchen (vgl. SAA I,: ). Folglich kann man sagen, dass das Insistieren auf dem Erfahrungshorizont des Lebens gewissermaßen eine kritische Funktion hat, die sich vor allem gegen das moderne Denken und die theoretischen Strukturen wendet, um die herum es sich entfaltet. Den Denkern zufolge, die sich in der sogenannten postkantischen Konstellation versammeln, gründet das moderne Denken auf der autoritativen Macht einer Subjektivität, die sich als gespalten und von der Welt getrennt zeigt. Das Denken der Neuzeit zeichnet sich durch einen Bruch und eine Spaltung aus, wodurch Subjektives und Objektives, Denken und Sein, Kategorie und Wirklichkeit Formen sind, von denen die eine auf der einen und die andere auf der anderen Seite steht. Deshalb ist ein solches Denken strukturell unfähig, etwas wie das Leben zu denken, das in seiner Erfahrungsdimension immer zugleich subjektiv und objektiv ist. Für ein von der Spaltung von Subjekt und Objekt und somit von Denken und Wirklichkeit gezeichnetes Denken, liegt die einzige Art, das Leben zu denken, wie Jacobi sagte, darin, es durch die Geradlinigkeit des Begriffs und dessen innere und sogar widersprüchliche Dynamik und Spontaneität zu töten, festzulegen und einzufrieren. Das von der wechselseitigen Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt beherrschte Denken ist also unfähig, jene komplexe Dimension des Seins zu denken, in der das Subjekt auch Objekt und das Objekt auch Subjekt ist, das Leben eben.
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Die Funktion des Lebensbegriffs als kritische Instanz gegenüber den typischen Spaltungen der Neuzeit geht aus dem Gebrauch hervor, der von ihm oder von mit ihm verbundenen Begriffen im politischen Bereich gemacht wird. Nicht zufällig versucht Kant im berühmten Paragraphen der Kritik der Urteilskraft, in dem die „Schönheit als Symbol der Moralität“ behandelt wird, den Unterschied zwischen den Begriffen ‚Schema‘ und ‚Symbol‘ zu verdeutlichen, und bietet das folgende Beispiel für ein Symbol: So wird ein monarchischer Staat durch einen beseelten Körper, wenn er nach inneren Volksgesetzen, durch eine bloße Maschine aber (wie etwa eine Handmühle), wenn er durch einen einzelnen absoluten Willen beherrscht wird (AA V: ). Wenn auch nur implizit, birgt diese Stelle ein axiologisches Element. Kant beschreibt nämlich ausdrücklich nur zwei verschiedene Bildungs- und Organisationsarten der Macht. Aber dabei hebt er mit dem Bezug auf die Maschine ein despotisches Element und mit dem Bezug auf den beseelten Körper (also auf den lebendigen Organismus) ein Element hervor, das nicht von außen auferlegt wird, sondern zur Selbstorganisation der Teile gehört. Im Vergleich zu Kants sehr vorsichtiger Anwendung ist die normative und axiologische Funktion des Organismusbegriffs bei Schiller offensichtlich, für den die Darstellung des organischen Staats, der mit der Erfahrung des politischen Lebens der Griechen identifiziert wird, das Vorbild wird, das die Grenzen, die Unzulänglichkeiten und damit die ‚Pathologien‘ einer modernen Auffassung des Staates offenbart, der interpretiert wird wie ein kunstreiches Uhrwerk, „wo aus der Zusammenstückelung unendlich vieler, aber lebloser, Teile ein mechanisches Leben im Ganzen sich bildet“ (Schiller [] , ). Der organische Staat, der selbst ein lebendiges Ganzes ist, wird von Schiller beschrieben, um die Dyskrasien einer mechanischen Auffassung des Staates zu unterstreichen, in der die Teile nur im Dienst des Ganzen stehen. Die Verwendung der Modelle der Maschine und des Organismus als soziale und politische Metaphern, die sich durch eine starke normative Funktion auszeichnen, tritt auch häufig bei Hegel auf, vor allem in den sogenannten Frühen Schriften. In der von Nohl betitelten Schrift „Die Positivität der Christlichen Religion“ beschreibt Hegel beispielsweise die „Verkalkung“ der jüdischen Nation, die er mit dem Betrieb von „todten Maschinen“ vergleicht, in denen die Individuen „mit mönchischer Geschäftigkeit eines geist- und wesenlosen Mechanismus kleinlicher Gebräuche ein Daseyn ohne Selbstbewusstseyn […] leben“ (GW : ). Während der Jenaer Zeit und insbesondere in der Schrift über die Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie greift er in der Kritik an Fichtes Staatstheorie die Worte Kants wieder auf:
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[J]ener Verstandes-Staat ist nicht eine Organisation, sondern eine Maschine; das Volk nicht der organische Körper eines gemeinsamen und reichen Lebens, sondern eine atomistische lebensarme Vielheit (GW : ). Die Stelle, an der die Metapher des Organismus in Bezug auf das Problem des Staates bei Hegel wahrscheinlich am stärksten hervortritt, ist jedoch der Aufsatz „Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts“. Hier greift er ganz wie Schiller auf die Modelle des griechischen Denkens zurück und stellt sich Fichtes Formalismus entgegen, indem er eine ‚organizistische‘ Auffassung der Sittlichkeit vorschlägt, in der sich das mit einem Organismus verglichene sittliche Leben nicht in voneinander getrennten Klassen entfalten kann und immer vermeiden muss, dass sich ein Teil der Herrschaft des Ganzen entzieht und zu einem unbedingten und absoluten Prinzip erhebt, wodurch es eine Pathologie des sittlichen Organismus hervorrufen würde (vgl. Bourgeois ).
IV. Die Undenkbarkeit des Lebens Die Betrachtungen Jacobis, Fichtes und des jungen Hegel scheinen einen Berührungspunkt in der Idee der Unbegreiflichkeit des Lebens zu finden: Das Leben ist – wie gesagt – das, was der Begriff nicht erfassen kann, das Übermaß eines jeglichen Versuchs der kategorialen Bestimmung, jenseits von jedem Definitionsansatz und jedem Vorsatz des Verstandes, der zur Bestimmung das Subjekt von seinen Prädikaten trennt. Wenn auch in unterschiedlichen Formen, die nicht aufeinander zurückgeführt werden können, unterstreichen sowohl Jacobi als auch Fichte und der junge Hegel, dass ein spezifischer Zug des Lebens, seine Besonderheit, in seinem Widerstand gegenüber dem Begriff liegt, in seiner Undurchdringlichkeit gegenüber einer Form der Rede, die sich anmaßt, das Leben innerhalb irgendeiner Definition und Bestimmung zu klären. Die Wurzel dieser Betrachtungsweise kann in Kants Denken gefunden werden. Wenn Kant nämlich einerseits derjenige ist, der die Betrachtung des Lebendigen aus dem Bereich des mechanizistischen Weltbilds herausgeführt und damit die Notwendigkeit erkannt hat, sich beim Lebendigen auf eine teleologische Begriffsform zu beziehen, dann ist er zugleich auch derjenige, der diesem einzig möglichen Erklärungsmodell für die Seinsart der Lebewesen, das heißt dem teleologischen Modell, keinerlei konstitutiven Wert beimisst, sondern ihm, wie bekannt, nur einen regulativen Wert zuschreibt. Deshalb lohnt es sich zu verstehen, in welchen Koordinaten diese Art innere Spannung im Denken Kants entsteht. Der Organismus ist laut Kant die Seinsart jener Naturprodukte, die nicht ausgehend von einem Erklärungsmodell, das sich ausschließlich auf wirkende Kau-
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salität gründet, begriffen werden könnten. Die Organismen verlangen nämlich, um verstanden zu werden, die Anwendung der Zweckkausalität. Genauer gesagt, implizieren die Organismen den Bezug auf den Begriff der inneren Zweckmäßigkeit, aufgrund dessen sie die Ursache ihrer eigenen Entwicklung sind und weshalb sie nur im Verhältnis zu der dem Organismus inneren Zweckmäßigkeit gedacht werden können, die diese Entwicklung präfiguriert. Kant zufolge leisten die Organismen einem rein mechanischen Verständnis Widerstand, eben weil sie Wirkung und Ursache ihrer selbst sind. Und das sind sie in dreifacher Hinsicht: a) erstens in Bezug auf die Gattung – in dem Sinne, dass ein Organismus, wenn er einen anderen Organismus produziert, „sich als Gattung beständig erhält“ (AA V: ) (und somit zugleich Ursache der Erhaltung der Gattung aber auch deren Wirkung ist); b) zweitens in Bezug auf das Individuum selbst, und zwar in dem Sinne, dass sich im Wachstum jeder Organismus entwickelt (und folglich Ursache seiner selbst ist), „vermittelst eines Stoffes, der seiner Wirkung nach sein eignes Produkt ist“ (AA V: ); c) drittens auch in dem Sinne, dass im Organismus die Erhaltung eines jeden Teils „von der Erhaltung der andern wechselweise abhängt“, weshalb die Teile zweckmäßig für das Ganze sind und das Ganze wiederum zweckmäßig für die Teile ist. So sind zum Beispiel, sagt Kant, die Blätter „zwar Produkte des Baums“ (also seine Wirkung), sie „erhalten aber diesen doch auch gegenseitig“ (und sind so Ursache) (AA V: ). Diese Eigenschaften – die Elemente, die aus den organischen Systemen autopoietische Strukturen machen, welche eben Ursache und Wirkung ihrer selbst sind – bestimmen die Besonderheit der Seinsart des Lebendigen und sind folglich auch die Eigenschaften, von denen man nach Kant ausgehen kann, um die ontologische Struktur eines organisierten Naturproduktes von einem Kunstprodukt zu unterscheiden. Obwohl letzteres auch ein organisiertes Produkt ist, wendet sich sein Zweck dennoch niemals sich selbst, sondern immer etwas anderem zu. Beim Kunstwerk hat man es nie mit einer inneren Zweckmäßigkeit, sondern immer nur mit einer äußeren Zweckmäßigkeit zu tun. Die Maschine – Paradigma des organisierten Kunstproduktes – kann keine andere Maschine durch Selbstorganisation ihrer Materie produzieren, so wie sie auch – von sich aus – nicht ihre Teile ersetzen . Vgl. AA V: . Die äußere oder relative Zweckmäßigkeit tritt auf, wenn ein Wesen oder ein Naturereignis auf den Nutzen eines anderen zweckgerichtet ist. Die innere Zweckmäßigkeit tritt hingegen auf, wenn ein und dieselbe Sache „von sich selbst […] Ursache und Wirkung ist“ (AA V: ), das heißt wenn der Zweck, den die Sache verwirklichen soll, das ist, was sie in sich selbst ist.
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oder spontan ihre Ordnung ändern kann. Vor allem aber ist in der Maschine zwar ein Teil das Instrument zur Bewegung der anderen, nie aber die wirkende Ursache zur Produktion der anderen, während im Organismus jeder Teil „als ein die andern Theile (folglich jeder den andern wechselseitig) hervorbringendes Organ“ gedacht werden muss (AA V: ). Das heißt, während in der Maschine „ein Theil […] zwar um des andern willen, aber nicht durch denselben da [ist]“, ist im Organismus, „als organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen“ (AA V: ), jeder Teil „nur durch alle übrigen“ denkbar und „um der andern und des Ganzen willen existirend“ (AA V: ). Das in der Erklärung der organisierten Naturwesen ins Spiel gebrachte Modell der inneren Zweckmäßigkeit kann also nicht auf das Zweckmäßigkeitsmodell zurückgeführt werden, das die Grundlage für die Seinsart der Kunstprodukte bildet. Im Gegenteil, wenn man die den Organismen eigene Zweckmäßigkeit dächte, indem man die der Struktur der Kunstwerke zu Grunde liegende äußere Zweckmäßigkeit als Modell nähme, hätten wir schon versucht, die Seinsart des Lebendigen außerhalb des Horizonts der wissenschaftlichen Rede zu erfassen. Die Anwendung der äußeren Zweckmäßigkeit auf die Naturwelt würde nämlich Annahmen implizieren (die Idee eines der Natur äußeren Designers oder einer absichtlich handelnden Natur), die die wissenschaftliche Rede der von Kant auf der Erkenntnisebene verteidigten naturalistischen Perspektive nicht übernehmen kann. Es lohnt sich hier jedoch, bei der Struktur des teleologischen Urteils zu verweilen, das Kant für die Betrachtung der organisierten Naturwesen als notwendig erachtet. Wie bereits erwähnt, hat dieses Urteil keinen konstitutiven, sondern nur einen regulativen Wert gegenüber den von ihm betrachteten Wesen: Es ist ein reflektierendes Urteil, kein bestimmendes Urteil. Wenn das teleologische Urteil über die Naturwesen auch dort, wo es notwendig ist, nichts anderes als ein reflektierendes Urteil sein kann, dann liegt das daran, dass eine solche Anerkennung – das teleologische Urteil als bestimmendes Urteil – notwendigerweise auch die Anerkennung einer Absicht hinter jenem Objekt mit sich bringen würde. Für Kant ist ein Zweck nämlich nur ausgehend von der Absicht eines Urhebers denkbar, und einen Zweck ohne Urheber zu denken (wozu uns in mancherlei Hinsicht der Begriff der inneren Zweckmäßigkeit zwingt), bedeutet, den Zweck ohne die ihn tragende Struktur zu denken. Die Unmöglichkeit, der Zweckmäßigkeit der Natur irgendeinen konstitutiven Wert zuzuschreiben und sie folglich nur als einen Grundsatz des reflektierenden Urteils zu betrachten, welcher in Bezug auf die Konstitution der lebendigen Natur keinen konstitutiven Wert hat, findet eben deshalb ihre Rechtfertigung in der Unmöglichkeit – zumindest aus Kants Perspektive –, die Zweckmäßigkeit unabhängig von der Absicht zu denken. Kants Position scheint in diesem Sinne durch eine besondere Spannung gekennzeichnet zu sein. Durch die Unterscheidung zwischen innerer und äußerer
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Zweckmäßigkeit und durch die Idee, dass die organisierten Naturprodukte sich durch Zweckmäßigkeit auszeichnen, die sie in einem mechanischen, auf die wirkende Ursache gründenden Erklärungsmodell unbegreiflich macht, denkt Kant einerseits, dass die Seinsart des Lebendigen nicht auf die Seinsart des Künstlichen reduziert werden kann. Andererseits nimmt er durch die Anerkennung eines rein regulativen und heuristischen Wertes für das Prinzip der inneren Zweckmäßigkeit (was den Organismus in seinem Unterschied zum Kunstprodukt auszeichnet) implizit das Modell der künstlichen Zweckmäßigkeit als einziges Modell an, das bezüglich der Konstitution der zweckmäßig organisierten Wesen ein bestimmendes Erkenntnisurteil produzieren könnte (vgl. Illetterati b). Die Seinsart der Organismen durch die Annahme der inneren Zweckmäßigkeit rechtfertigen zu können, ermöglicht aus Kants Sicht dennoch nicht, das Leben zu erkennen. Bei Kant gibt es einen Unterschied zwischen Organismus und Leben. Der Organismus bezeichnet die Seinsart der organisierten Naturwesen (die im Übrigen nicht nur die Lebewesen sind, da wir dazu auch die Kristalle zählen können), sagt aber nicht, was das Leben ist, das heißt, was diese organisierten Naturwesen, welche die Lebewesen sind, lebendig macht, was also der Ursprung der Organisation und der spezifischen Seinsart der Lebewesen ist. Die Struktur des Lebendigen (also des Wesens, das lebt) und das Leben sind zwei verschiedene Dinge für Kant. Und wie sehr man auch versuchen mag, den Begriff des Lebendigen zum Vorschein zu bringen, das Leben als solches bleibt aus Kants Sicht doch ein Geheimnis. Das sind die Schritte, die Kant in dem ebenso berühmten wie komplexen § der Kritik der Urteilskraft darstellt: a) „Ein organisirtes Wesen ist also nicht bloss Maschine“ (AA V: ). Die Maschine ist zur Bewegung fähig, sagt Kant, aber im Vergleich zur bewegenden Kraft der Maschine zeichnet sich der Organismus durch eine bildende Kraft aus, die nicht durch ihr Bewegungsvermögen, also durch einen Mechanismus, erklärt werden kann. b) „Man sagt von der Natur und ihrem Vermögen in organisirten Producten bei weitem zu wenig, wenn man dieses ein Analogon der Kunst nennt“ (AA V: ). Wenn man die Natur und insbesondere die organisierten Naturwesen ausgehend von einer Analogie zur Technik denkt, muss man an ein vernünftiges Wesen, an einen Künstler denken, der sie von außen organisiert. Die organisierten Naturwesen werden aber zu dem, was sie sind (und zwar Naturwesen), gerade durch die Selbstorganisation. c) „Näher tritt man vielleicht dieser unerforschlichen Eigenschaft, wenn man sie ein Analogon des Lebens nennt“ (AA V: ). Die Selbstorganisation der Natur sollte nicht so sehr in Analogie zur Technik, zur Produktion des Kunstwerks und
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somit zum Modell des Handwerkers, als vielmehr in Analogie zum Leben, das heißt zum Fortschreiten des Lebens selbst gedacht werden. Das erklärt aber laut Kant gar nichts. Denn das Leben zu denken, würde bedeuten, entweder in der Materie eine Eigenschaft zu denken, die ihrem Wesen widerspricht (und das ist der Widerspruch aller Vitalismen), oder der Materie ein ihr fremdes Prinzip (zum Beispiel eine Seele) zuzuschreiben, das irgendwie am Ursprung der Organisation der Materie selbst stünde. Diese zweite Hypothese fällt aber derselben Aporie zum Opfer, zu der die Analogie zur Kunst führte, da die Seele zum Handwerker der organisierten Naturwesen würde, die so dem Naturbereich entzogen würden. d) „Genau zu reden, hat also die Organisation der Natur nichts analogisches mit irgend einer Causalität, die wir kennen“ (AA V: ). Die bildende Kraft, die Selbstorganisation, das Leben ist also etwas, das für Kant eine unerforschliche Eigenschaft bleibt, etwas Undurchschaubares und folglich Geheimnisvolles. Das Leben ist für Kant unbegreiflich: Wir können davon keinen Begriff haben. Wir können die Lebewesen, ihre Organisationsstruktur, das komplexe Verhältnis zwischen dem Ganzen und den es bildenden Teilen und ihre spezifische Autopoiesis begreifen. Aber damit haben wir noch nicht das Leben begriffen.
V. Das heilige Geheimnis Das Leben, die Idee des Lebens, in die Wissenschaft der Logik einzufügen, stellt zwar einen problematischen und spannungsvollen Zug in der Entwicklung der Hegel’schen Lehre vom Begriff dar, scheint sich aber vor allem dieser Idee der Unergründlichkeit, der Undurchschaubarkeit und des Geheimnisses widersetzen zu wollen; eine Idee, die – wie wir gesehen haben – ihre Wurzeln bei Kant hat und dann in den verschiedenen Artikulationen des postkantischen Denkens zum Ausdruck kommt. Das Leben als eine Art matten Grund aufzufassen, den das Denken in keiner Weise durchdringen kann, bedeutet Hegel zufolge, sich einerseits der Idee zu ergeben, dass das Denken einfach ein äußeres Analyseinstrument der Wirklichkeit ist, das dort Halt machen muss, wo die Wirklichkeit eine für es unzugängliche Komplexität annimmt, und andererseits Verhaltensformen des Subjekts zur Welt Platz einzuräumen, die sich dem Logos komplett entziehen und die deshalb notwendigerweise subjektivistische, esoterische und fideistische Neigungen provozieren. Diese Idee der Undurchschaubarkeit des Lebens und damit ihrer Undurchdringlichkeit von Seiten des Denkens ist ein Punkt, der auch – wie schon erwähnt – die Reflexion des jungen Hegel stark prägt.
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Dieser Bezug auf die Undurchdringlichkeit macht für den jungen Hegel aus dem Leben die konkrete Offenbarung einer Wirklichkeit, die es vermag, die Grenzen des intellektualistischen Denkens zu markieren, das die Welt auf ein Bildnis seiner selbst reduzieren will. Der vielleicht stärkste Ausdruck dieser Unmöglichkeit für den Verstand, eine Seinsart wie die des Lebens zu erfassen, ist im Text der Frühen Schriften zu finden, ein Text, der auf die Frankfurter Jahre zurückgeht. Hier erörtert Hegel die menschliche und zugleich göttliche Natur Jesu und schreibt: [D]as Göttliche in einer besonderen Gestalt erscheint als ein Mensch; der Zusammenhang des Unendlichen und des Endlichen ist freilich ein heiliges Geheimnis, weil dieser Zusammenhang das Leben selbst ist (GW : ). Aber das Leben ist ein heiliges Geheimnis – fügt Hegel sofort hinzu – für die Reflexion, nicht für die Wahrheit. Bei der Betrachtung des Lebens spaltet die Reflexion nämlich die Einheit und trennt das Unendliche vom Endlichen in einer Gegenüberstellung; „außerhalb der Reflexion“ – schreibt Hegel hier – „in der Wahrheit findet sie nicht statt“ (GW : ). Das Denken des Lebens ist für ihn ein notgedrungen aporetisches Denken: Die Denkbarkeit des Lebens (wenn das Denken mit der Reflexion identifiziert wird) impliziert nämlich, wie für Jacobi, sein Wegfallen als Leben. Das Leben ist eine Struktur, die durch kein intellektualistisches Denken ausgedrückt werden kann, da sie ein Verhältnis zwischen dem Allgemeinen und dem Einzigartigen sowie zwischen dem Ganzen und den Teilen impliziert, das nicht, wie der Verstand denkt, eine Ausschluss- und Gegensatzbeziehung ist. Der Teil muss im Leben immer in seinem innigen Verhältnis zum Ganzen gedacht werden, so dass er, wenn er vom Ganzen getrennt ist, tot wird, so wie das Ganze immer in seiner innigen Beziehung zu den Teilen gedacht werden muss: [N]ur von Objekten, von todtem gilt es, dass das Ganze ein anderes ist, als die Theile; im Lebendigen hingegen der Theil desselben ebensowohl und dasselbe Eins, als das Ganze (GW : ). Wenn man vom Leben spricht, steht also eine unterschiedliche Weise auf dem Spiel, die Gegensätze, das Verhältnis zwischen dem Ganzen und den Teilen, zu denken, wobei das Ganze nicht unabhängig von den Teilen und die Teile nicht unabhängig vom Ganzen sind. Und dennoch behauptet Hegel hier noch, dass diese unterschiedliche Betrachtungsweise der Gegensätze in Wirklichkeit nicht gedacht werden kann, weil man sonst in jene Logik des Verstandes zurückfiele, die genau das ist, was überwunden werden muss, wenn man das Leben denken will. Wenn man das Leben denkt, ohne jene tiefe Verbindung zwischen Identität und Unterschied, zwischen Ganzem und Teilen, welche das Leben ist, zu erfassen, tötet man entweder das Leben oder die Reflexion, welche nicht akzeptieren kann,
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gemeinsam jene gegensätzlichen Bestimmungen zu denken, die das Leben impliziert. Das ist ganz offensichtlich ein wesentlicher Punkt. Der Versuch, das zu denken, was der Verstand nicht denken kann, führt den Verstand dazu, sich zu widersprechen und folglich sich zu vernichten. Aber der Verzicht auf das, was der Verstand nicht denken kann, und die Verankerung im Denkbaren (und damit am Verstand) verhindert, die Wahrheit zu erfassen. Man könnte also sagen, dass Hegels Übergang zur Philosophie der großartige Versuch ist, ein Rationalitätsmodell zu erarbeiten, das jenseits der Grenzen der reflexiven Vorgehensweise in der Lage ist, jene Wahrheit zu denken, die für die Reflexion undenkbar ist; das heißt das Leben zu denken.
VI. Jenseits der Reflexion Vor dem Übergang zur systematischen Auffassung jedoch, das heißt vor der konkreten Artikulation des Rationalitätsmodells, das in der Lage sein muss, die Einheit und den Unterschied, das Ganze und die Teile, das Allgemeine und das Einzigartige jenseits der vom Verstand gesetzten Gegensatzbeziehung zu denken, lohnt es sich, bei dem Text zu verweilen, der gewissermaßen die Phase, die wir die ‚vorphilosophische‘ Phase von Hegels Denken nennen können, abschließt. Es geht um das Fragment, das Nohl als Systemfragment betitelt hatte und das jetzt den Texten und der kritischen Ausgabe entspricht. Dieses Fragment bildet die spekulativ bedeutendste Stelle in Hegels frühen Schriften, da dort alle in den Jahren seiner wissenschaftlichen Bildung gereiften Instanzen in einem Gesamtbild zusammenfließen, das direkt und ausdrücklich die Frage des Lebens und einer Logik, oder zumindest einer sprachlichen Form, anpackt, die dessen Ausdruck zu sein vermag. Die beiden überlieferten Blätter dieses Textes, die Hegel selbst am Ende auf den . September datiert, drehen sich nämlich ganz um den Begriff des Lebens, der für den Frankfurter Hegel den konkreten Ausdruck des Ganzen bildet, die Struktur also, die mehr als andere die Totalität ausdrücken kann. Die Fähigkeit des Lebens, sich zum Ausdruck des Ganzen zu erheben, wird dadurch gerechtfertigt, eine Seinsart zu sein, die in ihrem Inneren das Gewicht und die Kraft des Negativen ertragen kann. In ihr muss das, was einer reflexiven Vorgehensweise wie gegensätzlich, gespalten und widersprüchlich erscheint, in einer Einheit eingefasst werden: „Was im Reich des Todten Widerspruch ist“ – sagt Hegel mit berühmt gewordenen Worten –, „ist es nicht im Reich des Lebens“ (GW : ). Das originelle Element dieses Textes ist der Versuch, die bestimmende und wesentliche Eigenschaft des Lebens zu erhellen, und zwar seine Fähigkeit, Einheit mit dem zu sein, was als sein Gegensatz erscheint. Um das Leben ohne Reduktion auf intellektualistische Schemata in seiner konkreten und tatsächlichen Seinsart zu
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denken, ist es notwendig, es in der Einheit mit den Gegensätzen zu denken, die es als Leben mit sich und in sich trägt. Das Leben des individuellen Organismus – behauptet Hegel – besteht darin, dass sich das Individuum, um zu sein, was es ist, und sich von der Vielfalt der anderen individuellen Leben außerhalb seiner selbst zu unterscheiden, nicht nur ihnen, sondern überhaupt allem, was ihm äußerlich ist, widersetzt und sich davon trennt. Gleichzeitig ist dieses Leben nur im Verhältnis zu diesem Anderen seiner selbst Leben und muss deshalb als etwas gedacht werden, das auch die Möglichkeit hat, in Beziehung zu dem, was von ihm ausgeschlossen ist, zu treten, die Möglichkeit also, seine Individualität zu verlieren und mit dem Ausgeschlossenen vereint zu werden. Gerade das ist aber ein Problem für den reflektierenden Verstand: [W]enn ich sage, es [das Leben] ist die Verbindung der Entgegensetzung und Beziehung, so kann diese Verbindung selbst wieder isoliert und eingewendet werden, daß [sie] der Nichtverbindung entgegenstünde (GW : ). Wird in der Reflexion irgendeine Bestimmung gesetzt, so wird gleichzeitig eine andere, nämlich gegensätzliche und von ihr ausgeschlossene gesetzt. Auf diese Weise erzeugt jeder Satz, insofern er ein Produkt der Reflexion ist, einen Gegensatz, der sich immer als etwas anderes als ihn bestimmt. Da die Totalität und somit das als Gestalt der Totalität aufgefasste Leben nur dann wirklich ist, wenn es außerhalb seiner selbst keine gegensätzliche Form findet, die seinen Ganzheitscharakter beeinträchtigen könnte, muss der Reflexion das Erfassen einer solchen Struktur unmöglich sein. Hegel versucht, die Grenzen einer Logik und einer Sprache zu überwinden, die die Seinsart, an die sie sich wenden, notwendigerweise auf etwas anderes als das, was sie tatsächlich ist, reduzieren. Das setzt sich in einen Versuch um, die syntaktische Struktur des Satzes zu sprengen, indem er eine Widerspruchsform einführt. Die sprachliche Formel, mit der Hegel das Wesen des Lebens zum Vorschein bringen will, besagt nämlich „das Leben sey die Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung“ (GW : ) – eine Formel, in der der Gegensatz, den jeder Ausdruck des Verstandes im selben Moment, in dem er gesetzt wird, erzeugt, in seinem Inneren angenommen und gedacht und somit in seiner Form des reinen Gegensatzes aufgehoben wird. Damit das aber geschieht und der Satz tatsächlich als passender Ausdruck des Lebens verstanden werden kann, reicht es nicht, dass er gesetzt wird; es ist nötig, dass er jenseits der Grenzen einer intellektualistischen Logik verstanden und gedacht wird:
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[W]as Verbindung der Synthesis und Antithesis genannt wurde, sey nicht ein gesetztes verständiges, reflektirtes, sondern sein für die Reflexion einziger Charakter sey, dass es ein Seyn außer der Reflexion ist (GW : ). Das ist wahrscheinlich das bedeutendste und originellste Ergebnis, das Hegel am Anfang seines philosophischen Wegs erreicht. Nicht nur weil hier das erste Zeichen für die Notwendigkeit einer spekulativen Logik aufscheint, die die Grenzen und Abstraktheiten eines intellektualistischen Denkens überwinden kann, sondern auch weil sich Hegel bei dem Unterfangen, die Seinsart des Lebens zum Vorschein zu bringen, und dem anschließenden Versuch, die Totalität zu denken, ohne sich in den Gegensätzen der Reflexion zu verfangen, nicht darauf beschränkt, noch einmal den Weg von Kants Kritik zu gehen – auch wenn sie nachdrücklich die Unmöglichkeit bekräftigt hat, dass das Lebendige ausgehend von einer intellektualistischen Logik definiert werden kann, welche auf einer wirkenden Kausalität und somit auf einem mechanizistischen Fundament gründet. Er überwindet vielmehr auch diese Einstellung, indem er versucht, die zutiefst widersprüchliche Struktur des Lebens zu erfassen und ihr einen passenden begrifflichen Ausdruck zu verleihen. Für Hegel ist das Leben eben so, weil es die Fähigkeit ist, in sich die Negation, den Gegensatz, das, was sich dem Verstand als das Andere zeigt, das Ausgeschlossene oder den Widerspruch aufzunehmen. Und der – widersprüchliche und für die Logik des Verstandes unzulässige – Ausdruck ist der, nach dem das Leben Identität der Identität und der Nichtidentität ist. Damit versucht Hegel, die Satzstruktur aufzuheben: Der Satz als etwas Gesetztes setzt in sich selbst auch schon seinen Gegensatz und kann deshalb nicht die Totalität, die Einheit, das Absolute ausdrücken. Um die Totalität, die Einheit, das Absolute sagen zu können, muss sich der Satz als solcher aufheben und zur Antinomie werden: [D]er Grundsatz [ist] eine Antinomie, und dadurch nicht ein Satz, er steht als Satz unter dem Gesetz des Verstandes, dass er sich nicht in sich widerspreche, nicht sich aufhebe, sondern ein Gesetztes seye, als Antinomie aber hebt er sich auf (GW : ). VII. Logik und Leben Mit dem soeben betrachteten Frankfurter Text scheint Hegel sich den Weg zu einer Möglichkeit, das Leben zu verstehen, freizumachen: Wenn er sich einerseits der Grenzen einer intellektualistischen Betrachtung desselben bewusst ist – und somit der Schwierigkeit, mit einer im Denken des Verstandes verwurzelten Satzform etwas zu sagen, das sich strukturell jenseits davon setzt –, dann ist er andererseits nicht bereit, das Leben einfach der Stille oder Ausdrucksformen anzuvertrauen, die irgendeiner Form logischer Notwendigkeit entrinnen. In diesem Sinne ist es nicht
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übertrieben zu behaupten, dass sich die Idee der Wissenschaft der Logik selbst um die Notwendigkeit dreht, einen Vernunftbegriff zu entwickeln, der das sagen kann, was die traditionelle Logik verhindert, also jene Verbindung von Endlichem und Unendlichem, jene Einheit des Ganzen und der Teile, wie auch des Identischen mit dem Unterschiedlichen, welche das Leben ist. Dieser Punkt wird in den Eröffnungszeilen der Abhandlung der Idee des Lebens in der letzten Abteilung der Wissenschaft der Logik bekräftigt. So beginnt das Kapitel „Das Leben“: Die Idee des Lebens betrifft einen so konkreten und, wenn man will, reellen Gegenstand, daß mit derselben nach der gewöhnlichen Vorstellung der Logik ihr Gebiet überschritten zu werden scheinen kann (GW : ). Ist das Leben nicht etwas – scheint Hegel sich unter Vorwegnahme der Frage des Lesers zu fragen –, das sich notwendigerweise jenseits des Logischen setzt? Ist das Leben also – in seiner Konkretheit, seiner Spontaneität und seiner Zufälligkeit – nicht etwas, das notwendigerweise anders ist als jene Rede und wissenschaftliche Artikulation, die die reine Idee thematisiert, das heißt, um die einleitenden Worte der Wissenschaft der Logik in ihrer enzyklopädischen Version aufzugreifen, die „Idee im abstrakten Elemente des Denkens“? (GW : §) So antwortet Hegel ebenfalls am Anfang der Abhandlung der Idee des Lebens in der Wissenschaft der Logik: Sollte die Logik freilich nichts als leere, tote Gedankenformen enthalten, so könnte in ihr überhaupt von keinem solchen Inhalte, wie die Idee oder das Leben ist, die Rede sein (GW : ). Gerade hierbei tritt Hegel zufolge der Unterschied auf zwischen der traditionellen Art, die Logik zu denken und der spekulativen Logik, die in der Wissenschaft der Logik ihren Ausdruck findet. Die spekulative Logik muss ein Begriffsgeflecht hervorbringen, das die Wirklichkeit selbst ausdrückt, eine noetische Struktur, die die Wirklichkeit nicht auf etwas anderes als das, was sie tatsächlich ist, herabsetzt und die das Leben, welches die komplexeste Offenbarung der Wirklichkeit ist, demnach nicht in einen Raum der Unbegrifflichkeit verbannen, der den Weg für Unmittelbarkeitsformen bereitet, die sich einbilden, außerhalb des Lógos zu stehen. Die spekulative Logik ist eine Logik des Lebens, die die Pflicht auf sich nehmen muss, die Struktur und die Seinsart des Lebens zu gliedern, ohne deren Elemente tiefer Widersprüchlichkeit in einer undifferenzierten Wesentlichkeit zu annullieren (vgl. Sell ). Dass die Betrachtung einer Seinsart wie der des Lebens, sowie die Betrachtung des Teils, der in der Wissenschaft der Logik der Idee des Lebens vorausgeht, das heißt die „Objektivität“ (welche sich, wie bekannt, in Mechanismus, Chemismus und Teleologie gliedert), als unrechtmäßige Einmischungen gegenüber einer Wissenschaft
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der reinen Idee, wie die der Logik betrachtet werden müssen, ist von vielen (auch sehr ‚treuen‘) Interpreten der Hegel’schen Logik behauptet worden. Schon Karl Rosenkranz bemerkt beispielsweise in seiner zwischen und veröffentlichten Wissenschaft der logischen Idee, dass Begriffe wie Mechanismus, Chemismus und Teleologie, und mit ihnen dann auch die Idee des Lebens, eine „Metaphysik der Natur“ und nicht, wie Hegel will, „den Begriff der Objektivität“ bilden (Rosenkranz ). Bei dem Versuch, diese Schwierigkeit der Hegel’schen Logik zu rechtfertigen, bezieht er sich auf eine Dichotomie zwischen Subjektivem und Objektivem innerhalb der Wissenschaft, was typisch für die phänomenologische und nicht für die logische Sphäre ist, wo diese Spreizung gänzlich aufgelöst und aufgehoben sein sollte. Wenn auch in einem zutiefst veränderten kulturellen Umfeld werden die von Rosenkranz hervorgehobenen Schwierigkeiten in den Achtziger Jahren des . Jahrhunderts auch von Rüdiger Bubner aufgegriffen, der einerseits meint, dass eine Auseinandersetzung mit der Hegel’schen Logik im Wesentlichen eine Auseinandersetzung mit jenem Teil der Logik erfordere, der die tatsächliche Krönung des ganzen Prozesses ist, und zwar die Logik des Begriffs; andererseits betrachtet er die Fortsetzung der Lehre vom Begriff über die Abhandlung des Schlusses hinaus sozusagen als unrechtmäßig (Bubner ). Im Übergang vom Schluss – die letzte Denkbestimmung der Subjektivität – zur Objektivität gehe die Logik, so Bubner, über sich selbst, also über ihre Aufgabe und ihre Möglichkeiten hinaus. Bubners These lautet also, dass die Abteilung zur Objektivität und folglich auch die der Idee gewidmete Abteilung eine Art unrechtmäßige Grenzüberschreitung der Logik in das Gebiet der Philosophie der Natur und des Geistes darstellten. Und dennoch implizieren diese Korrektur- und Verbesserungsforderungen eine radikale Reduktion von Hegels Projekt einer Wissenschaft der Logik, welche, genau betrachtet, gerade den spezifischen Charakter der Wissenschaft der Logik aufheben würde. Einstellungen wie diese scheinen in der Tat auf die ‚Rettung‘ von Hegels spekulativer Logik abzuzielen, indem sie sie von den Elementen reinigen, die in ihr als außerlogisch interpretiert werden. Aber eine solche Handlung bringt nicht nur eine Kritik an der Hegel’schen Auffassung der Objektivität und der Idee mit sich, sondern vielmehr eine radikale Infragestellung der Auffassung selbst der Logik in ihrer Komplexität. Die Logik, so wie Hegel sie auffasst, ist nämlich – programmatisch – Wissenschaft des Denken als Lógos, als Vernunft dessen, was ist. Der titanische Versuch Hegels besteht darin, „den Gedanken, insofern er die Sache in sich selbst ist, oder die Sache an sich selbst, insofern sie ebensosehr der reine Gedanke ist“ zu denken (GW : f.). Hegels Logik von dem zu reinigen, was über die Logik selbst hinausgeht (und sie folglich als Lehre der Denkformen als Eigenschaften des
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Subjekts zu bestimmen), würde bedeuten, Hegels Logik von der Idee selbst zu reinigen, um die herum sie sich entwickelt. Für Hegel bilden Mechanismus, Chemismus und Teleologie logische Organisationsstrukturen der Wirklichkeit, die die subjektiven Denkformen auf der Ebene der Objektivität gliedern. Das konkrete Zusammenspiel von Subjektivität und Objektivität findet man jedoch nicht nur im Leben. Das Leben ist die erste Form der Idee, die erste und unmittelbarste Form einer Seinsart, eben die Idee, die zugleich und untrennbar Subjekt und Objekt, Seele und Körper, wirklicher Widerspruch ist. In der Hegel’schen Semantik ist die Idee alles andere als eine Bestimmung der Subjektivität, also etwas, das sich nur auf die Seinsart der Subjekte bezieht; sie ist vielmehr die absolute Einheit von Begriff und Objektivität, das heißt sie wird zum äußeren Dasein der begrifflichen Struktur und damit zur Untrennbarkeit dessen, was der Reflexion immer als Gegensatz erscheint. So schreibt Hegel im § der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse in der Berliner Ausgabe von : Die Idee kann als die Vernunft (dies ist die eigentliche philosophische Bedeutung für Vernunft), ferner als Subjekt-Objekt, als die Einheit des Ideellen und Reellen, des Endlichen und Unendlichen, der Seele und des Leibs, als die Möglichkeit, die ihre Wirklichkeit an ihr selbst hat, als das, dessen Natur nur als existierend begriffen werden kann usf., gefaßt werden, weil in ihr alle Verhältnisse des Verstandes, aber in ihrer unendlichen Rückkehr und Identität in sich enthalten sind (GW : §). In der dem Paragraphen folgenden Anmerkung kann man den von der spekulativen Logik eingeführten Unterschied zu den frühen Schriften klar erkennen. Hegel bemerkt hier, dass alles, was über die Idee gesagt wird, vom Verstand nur als Widerspruch aufgefasst werden kann. Das System der Gegensätze, auf das sich der Verstand stützt, lässt nicht zu, dass man etwas sagt, das zugleich Subjektives und Objektives, Körper und Seele, Endliches und Unendliches ist. Aber wenn das beim jungen Hegel eine Art Sackgasse für das Denken und insbesondere die Satzform erzeugte, die die Seinsart der Wirklichkeit ausdrücken sollte, dann ist die spekulative Logik nun in der Lage, die Widersprüchlichkeit des Verstandes selbst zu zeigen, das heißt die Selbstwidersprüchlichkeit der vom Verstand erzeugten Denkbestimmungen, die sich isoliert nicht erhalten können und deshalb in ihr Die Möglichkeit eines angemessenen Verständnisses der logische Strukturen der Objektivität erfolgt durch ein angemessenes Verständnis nicht so sehr oder nicht nur der einzelnen Abteilungen als vielmehr des systematischen Ganzen, des Verhältnisses zwischen der Wissenschaft der Logik und des anderen Teilen des Systems, das heißt sie erfolgt im Wesentlichen durch ein angemessenes Verständnis des Begriffs selbst des objektiven Denkens. Dazu erlaube ich mir auf den folgenden Beitrag zu verweisen (Illetterati c).
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Gegenteil übergehen müssen, wobei sie sich als stabile Bestimmungen auflösen. Hegel kann also jetzt zeigen, dass der Widerspruch schon in den intellektualistischen Bestimmungen aktiv ist und dass nur die Vernunft ihn rechtfertigen kann; dass also nur die Vernunft eine Redeform artikulieren kann, in der dieser Widerspruch tatsächlich enthalten ist. Der Verstand sieht in der Idee nur Widerspruch, denn er betrachtet erstens „die Extreme der Idee […] noch in dem Sinne und der Bestimmung […], insofern sie nicht in ihrer konkreten Einheit, sondern noch Abstraktionen außerhalb derselben sind“ und zweitens, da er sich auch gegenüber der Idee als äußere Reflexion bewegt und deshalb nicht sieht, dass „die Idee […] selbst die Dialektik [ist], welche ewig das mit sich Identische von dem Differenten, das Subjektive von dem Objektiven, das Endliche von dem Unendlichen, die Seele von dem Leibe, ab- und unterscheidet und nur insofern ewige Schöpfung, ewige Lebendigkeit und ewiger Geist ist“ (GW : § Anm.). Die Idee ist also in der Hegel’schen Begrifflichkeit weder etwas, was dem Verstand gehört, noch etwas, was außerhalb unserer Köpfe besteht wie ein Modell, ein Paradigma oder etwas, was unsere Bewegungen in der Welt orientiert, ohne dazuzugehören. Ebenso ist die Idee nichts Wesentliches, ein Ort, an dem die Identität der Gegensätze einfach gegeben, erreicht und befriedigt wären. Die Idee ist diese Identität in Form ihrer inneren Prozessualität, das heißt in ihrer Eigenschaft als Dialektik; es ist die Allgemeinheit, die sich Individualität gibt und zugleich die Individualität, die sich in der Allgemeinheit wiederfindet, also auch das SichObjektivieren des Subjektes und die Anerkennung der Subjektivität in der Äußerlichkeit. Das Leben ist für Hegel nicht einfach das Objektiv- und Wirklich-Werden der logischen Bestimmungen. Das Leben ist das konkrete Aufheben der subjektiven und der objektiven Seite. Begriff, Urteil und Schluss sind zwar konkrete und nicht nur formale Strukturen, aber sie neigen dennoch alle zur Seite der Subjektivität. Mechanismus, Chemismus und Teleologie sind zwar begriffliche Formen und nicht einfache Seinsarten einer Welt ohne Denken, aber sie neigen dennoch alle zur Seite der Objektivität. Erst beim Leben kann man nicht mehr konkret zwischen subjektiver und objektiver Seite unterscheiden. Also erst beim Leben ist der Begriff Objekt und das Objekt Begriff. Das Leben ist in diesem Sinne verwirklichter Begriff, existierender Begriff, aber es ist das in einer Form, in der in ihr keine Bewegung, die sich mit der subjektiven Dimension identifiziert, und keine Materie, kein Körper, der sich mit der objektiven Dimension identifiziert, erkennbar sind: Es ist organisierter Körper, Materie, die sich nach einer inneren Logik und durch eine Entwicklungsbewegung strukturiert, die nicht von ihm getrennt werden kann. Das Leben ist verwirklichter Begriff, da es innere Zweckmäßigkeit ist: Es ist die Sache, die sie selbst wird, der Prozess, durch den die Sache durch die Trennung ihrer selbst von sich selbst, durch Das-
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Andere-ihrer-selbst-Werden, zur Selbstverwirklichung, zur Verwirklichung ihrer Seinsart gelangt. VIII. Leben und/als Praxis In der Anmerkung zum § der Enzyklopädie schreibt Hegel: Mit dem Begriffe von innerer Zweckmäßigkeit hat Kant die Idee überhaupt und insbesondere die des Lebens wieder erweckt. Die Bestimmung des Aristoteles vom Leben enthält schon die innere Zweckmäßigkeit und steht daher unendlich weit über dem Begriffe moderner Teleologie, welche nur die endliche, die äußere Zweckmäßigkeit vor sich hatte (GW : § Anm.). Der Bezug auf Aristoteles ist hier wie immer bei Hegel entscheidend. Zu sagen, dass die Seele die Ursache und das Prinzip des lebendigen Körpers sei, bedeutet für Aristoteles nicht, wie etwa bei der Seinsart der Wesen, die technai sind, dass die Seele der Erzeuger wäre, der von außen einem Körper Form gibt. Die Seele ist Ursache, sagt Aristoteles in De Anima, „als Bewegungsprinzip, als Zweck und als Wesen“ (B,,b). Die Seele ist also nach allen drei Bestimmungen Ursache, weshalb man sagen kann, dass das Leben die Verwirklichung seiner selbst ist, der Prozess, durch den es in jedem Moment die Verwirklichung seines eigenen Wesens ist. Ebenfalls mit Aristoteles’ Worten gesagt: „Dass die Seele als Wesen Ursache ist, ist offensichtlich. In der Tat ist das Wesen für alle Sachen die Ursache ihres Seins, und das Sein für die Lebewesen ist das Leben, und Ursache und Prinzip des Lebens ist die Seele“ (Ivi, B, , b – ). Der Satz ‚das Sein für die Lebewesen ist das Leben‘ verweist auf eine andere sehr berühmte Stelle in Aristoteles’ Politik: „[D]as Leben ist praxis, nicht poiesis“ (I,,a). Dem Leben die konkrete Form der praxis zuzuschreiben, bedeutet, vor allem auf negative Weise zu sagen, dass das Leben keine Bewegung in Richtung von etwas ihm Äußeren ist und dass das Leben deshalb kein Ort oder Umstand ist, zu dem das Leben führt. Das Leben ist praxis und das Wesen des Lebens ist leben, was bedeutet, dass das Leben in jedem Moment seiner selbst die eigene Vollkommenheit ist. Mit nicht aristotelischen Worten ausgedrückt bedeutet das, dass das Leben innere Zweckmäßigkeit, der Prozess eines eigenen Sich-Bildens ist. Zu sagen, dass das Leben praxis ist und damit innere Zweckmäßigkeit, bedeutet für Hegel aber auch – und hier zeigt sich vielleicht eine gewisse Distanz zu Aristoteles –, dass das Leben eine Dynamik ist, die das Bedürfnis, die Entzweiung, den Zu dieser aristotelischen Stelle und ihren Folgen vgl. Chiereghin (). Chiereghin bemerkt u. a., dass für Aristoteles zwar jede praxis Leben ist, aber nicht jedes Leben praxis ist: „Gott hat nämlich Leben, aber nicht deshalb hat er praxis“ (Chiergin , ). In diesem Sinne ist die Verbindung zwischen Leben und praxis der endlichen Seinsart eigen, all jener Seinsarten, die sich in der Welt der Dinge abzeichnen, die Veränderung erleiden.
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Schmerz, den Mangel und das Negative miteinschließt, weil das Leben in seiner tiefsten Seinsart eine negative Einheit ist: eine Einheit, die ein beständiges Sich-vonsich-selbst-Unterscheiden ist, ihr beständiges Aufspalten in eine Mehrzahl und Vielfältigkeit, die dennoch entscheidend für ihre Bildung als Einheit ist. Das geschieht, wenn man das Leben des lebendigen Individuums betrachtet, das eben in der Unterschiedlichkeit seiner Teile und im Gegensatz zur Äußerlichkeit, der es sich entgegenstellt, Individuum ist. Das geschieht, wenn man das Leben dessen betrachtet, was Hegel den Lebensprozess nennt, in dem das Leben mit der Objektivität in Beziehung tritt und sie aufnimmt. Und das geschieht, wenn man das Leben in Form des Gattungsprozesses betrachtet, in dem das Leben seine Individualität in einem Allgemeinen aufhebt, das „sein objektives Dasein“ ist (GW : ). Deshalb ist das Lebendige Subjekt: als Fähigkeit, das Negative zu ertragen, den Widerspruch in sich aufzunehmen; als Identität, die die Unterscheidung nicht ausschließt, sondern vielmehr impliziert. Das Lebendige ist Subjekt, weil seine Tätigkeit nicht nach etwas Anderem seiner selbst strebt. Auch wenn es sich ganz nach außen wendet, auch wenn das Lebendige ausgehend vom Bedürfnis und somit vom Mangel, den es in sich selbst spürt, aus seiner Individualität heraustritt und dem, was das Andere seiner selbst ist, entgegengeht, so strebt das Lebendige immer danach, sich selbst zu verwirklichen. Das Lebendige hat immer, wenn es sich nach außen lehnt, in sich selbst und nicht in etwas anderem seinen Zweck und damit seinen Mittelpunkt. Und das, was in sich den Drehpunkt seiner Bewegung hat, was in sich den Zweck seines Sich-nach-außen-Lehnens hat, ist eben für Hegel das Subjekt. Die Subjektivität des Lebendigen ist also eng verbunden mit seiner inneren Zweckmäßigkeit. Deshalb kann man es nicht durch die Begriffsformen des Mechanismus, des Chemismus und der Teleologie betrachten (wobei die Teleologie in der Hegel’schen Begriffskonstellation – das sollte unterstrichen werden – von Grunde auf die äußere Zweckmäßigkeit und genauer noch die dem technischpraktischen Handeln zu Grunde liegende Zweckmäßigkeit bezeichnet). Besser gesagt kann auch das Lebendige, wie jede Objektivität, mechanisch, chemisch oder teleologisch betrachtet werden. Aber auf diese Weise erfasst man das Lebendige nicht als Lebendiges oder, was dasselbe ist, man erfasst es „als ein Totes“ (GW : ). IX. Bedürfnis und Mangel Die lebendige Subjektivität ist innere Zweckmäßigkeit in dem Sinne, dass sie eine Tätigkeit ist, deren Zweck das Verewigen derselben Tätigkeit, das Erhalten jener Prozessualität ist, in der allein das Leben es selbst ist.
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Dieser Prozess, sagt Hegel, „fängt mit dem Bedürfnis an“ (GW : ). Das Bedürfnis impliziert offensichtlich einen Mangel, identifiziert sich aber nicht mit ihm. Das Bedürfnis ist vielmehr die nur der Subjektivität eigene Fähigkeit, den Mangel zu fühlen. Im Bedürfnis ist das Lebendige also zugleich in Einheit mit sich selbst und von sich selbst entzweit; es ist ein Selbst, das zur Bewältigung eines Mangels das Bedürfnis und den Trieb fühlt, aus sich heraus zu gehen. Bei diesem Herausgehen bleibt das Lebendige aber zugleich in Einheit mit sich selbst. Deshalb „ist es der absolute Widerspruch“ (GW : ). Und deshalb ist es wirklich Subjekt. Mangel, Bedürfnis, innere Zweckmäßigkeit und Widerspruch bilden einen Begriffskomplex, dessen komplexester Sinn in der Semantik des Lebens liegt. In der berühmten Anmerkung zum § der enzyklopädischen Naturphilosophie schreibt Hegel: Nur ein Lebendiges fühlt Mangel; denn nur es ist in der Natur der Begriff, der die Einheit seiner selbst und seines bestimmten Entgegengesetzten ist. […] Mangel aber ist sie, insofern in einem ebenso das Darüberhinaussein vorhanden, der Widerspruch als solcher immanent und in ihm gesetzt ist. Ein solches, das den Widerspruch seiner selbst in sich zu haben und zu ertragen fähig ist, ist das Subjekt; dies macht seine Unendlichkeit aus (GW : §). Auf den dem Leben gewidmeten Seiten der Wissenschaft der Logik nimmt der Widerspruch den Namen ‚Schmerz‘ an: Der Schmerz ist daher das Vorrecht lebendiger Naturen; (…). Wenn man sagt, daß der Widerspruch nicht denkbar sei, so ist er vielmehr im Schmerz des Lebendigen sogar eine wirkliche Existenz (GW : ). Der Schmerz ist das Gefühl der lebendigen Subjektivität und er ist die Offenbarung der Entzweiung, die sie in ihrer Identität bildet:
Der Bezug auf den Widerspruch, der hier auch eine wirkliche Existenz genannt wird, ist besonders bedeutungsvoll, da er nochmals ausdrücklich den Unterschied zwischen der Einstellung des jungen Hegel im Vergleich zu dem der Wissenschaft der Logik unterstreicht. Für den jungen Hegel ist der Widerspruch die Offenbarung einer Grenze des Denkens, das Zeugnis der Unmöglichkeit für das Denken, die Wirklichkeit in ihrer tiefsten Konstitution zu erfassen und zu verstehen, und insbesondere der Unmöglichkeit, das Leben zu erfassen und zu verstehen. Wie wir gesehen haben, ist es kein Zufall, dass das Leben in jenem Zusammenhang als ein heiliges Geheimnis bezeichnet wurde. Der Hegel der Wissenschaft der Logik hat seine Meinung zur Seinsart des Lebens und zu deren Verhältnis zur Reflexion nicht geändert, aber er meint nun, dass der Widerspruch nicht als eine Art Hindernis gedacht werden darf, das das Denken in eine ruhige Kohärenz drängt. Das Denken muss, wenn es wirklich ein solches sein will, mit dem Widerspruch rechnen und über denselben hinausgehen. Und wenn es das Leben denken will, muss es den Widerspruch denken. Zum Problem des Widerspruchs bei Hegel vgl. Bordignon (). Ich erlaube mir auch, auf einen meiner Beiträge hinzuweisen: Illetterati (a).
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[I]ndem er die absolute Identität in dieser Entzweiung ist, so ist das Lebendige für sich selbst diese Entzweiung und hat das Gefühl dieses Wiederspruchs, welches der Schmerz ist (GW : ). Der Schmerz ist im Lebendigen der Ursprung des Bedürfnisses und des Triebs. Im Schmerz fühlt das Lebendige seine Endlichkeit, seine ontologische Zerbrechlichkeit, und während es sie fühlt, wird sie Trieb zu ihrer Überwindung und bestimmt sich in Richtung ihrer Unterdrückung. In diesem Sinne ist mit dem Lebendigen Hegel zufolge ursprünglich eine Dimension der Gewalt verbunden (GW : ). Um es selbst zu bleiben, um sich in seinem Wesen zu verwirklichen, welches eben Leben ist, wendet sich das Lebendige an das, was sich ihm als Anderes zeigt, an die äußere Objektivität, in dem Versuch, in ihr, in ihrem Verbrauch und ihrer Aneignung, das zu finden, was in der Lage ist, das entzweiende Bedürfnis zu befriedigen, von dem es ausgeht, das, was in der Lage ist, jenen Leiden und Spaltung erzeugenden Mangel zu bewältigen. In dem Verhältnis, das das Lebendige zum Anderen seiner selbst aufbaut (was sowohl ein anorganisches Anderes ist als auch in der geschlechtlichen Beziehung ein Anderes, das wiederum ein Lebendiges ist), tritt also klar die Eigenschaft der wesentlichen Endlichkeit, der konkreten Begrenztheit und der strukturellen Unzulänglichkeit hervor, die der lebendigen Subjektivität eigen ist. Wenn man aber hierbei anhielte, würde man die Seinsart des Lebens nicht komplett verstehen. Da es die Fähigkeit ist, dieses Elend zu sein und zu leben, da es im Schmerz und in der Entzweiung die eigene Endlichkeit fühlt, ist das Lebendige das beständige Streben, über diesen Umstand hinauszugehen, die Grenze zu überschreiten, seinen Unruhe- und Elendszustand in einer Beziehung mit der Andersheit und der Äußerlichkeit zu befriedigen, in der allein das Lebendige das ist, was es tatsächlich ist. In einem vorbereitenden Fragment der Wissenschaft der Logik, das auf die Jahre datiert werden kann, die Hegel in Bamberg und Nürnberg verbrachte und das als Beilage zur kritischen Ausgabe der Wissenschaft der Logik unter dem Titel „Zum Mechanismus, Chemismus, Organismus und Erkennen“ veröffentlicht wurde, benutzt Hegel einen Ausdruck, der vielleicht mehr als andere über die Seinsart des Lebendigen und somit über das Leben im Allgemeinen aussagt: „Thätigkeit des Mangels“ (GW : ). Das Leben ist Tätigkeit des Mangels, das Aktiv-Werden eines Mangels, der nicht einfach die ein Wesen betreffende Negation ist, sondern vielmehr das, was konstitutiv für die Seinsart jenes Wesens ist und deshalb sein Handeln selbst bestimmt. Das bedeutet – man beachte –, dass das Leben nicht irgendeine Form von Vollständigkeit ist, die dann eine Entzweiung erfährt und daraufhin eine Tätigkeit entwickelt, die die Wiederherstellung der verlorenen Vollkommenheit bezweckt. Das Leben ist es selbst, es ist vollkommen es selbst, nur insofern es mangelnd ist und folglich nur in der Wunde, in der Entzweiung, in der
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die Spaltung verursachenden und erzeugenden Bewegung. Das meint Hegel, wenn er auf der Bestimmung des Lebens als negativer Einheit besteht. Die Einheit und die Vollkommenheit des Lebens sind also nicht das Ergebnis dieses unvollständigen Zustands, der sich im Mangel offenbart: Die Einheit und die Vollkommenheit des Lebens drücken sich im Mangel selbst aus, sind eins mit der Entzweiung, die der Mangel impliziert. Der Mangel ist deshalb für das Leben nicht die Offenbarung eines Fehlers, der repariert werden kann, um ihm zu erlauben, in seiner vollkommenen Form zu bestehen, oder die Feststellung, dass ein Teil fehlt, das das System an seinem korrekten Betrieb hindert; da der Mangel konstitutiv für die Seinsart des Lebens und ihm natürlich ist, ist das Dasein des Mangels selbst eins mit der vollkommenen Form, die das Leben von sich selbst bietet. Noch anders und mit einer nur anscheinend paradoxen Formel ausgedrückt ist das, was dem Leben nicht fehlen darf, um vollständig und vollkommen es selbst zu sein, eben der Mangel. Wenn das Leben nicht mehr den Mangel fühlt, ist das Leben nicht mehr, es hat aufgehört zu sein: Das Fehlen des Mangels ist für das Lebendige das Zeichen seines Todes. Wenn es stimmt, dass wir mit Aristoteles das Wesen vollkommen nennen, dem nichts fehlt, was von seiner Konstitution verlangt wird und dass das Leben konstitutiv die Tätigkeit eines Mangels ist, dann ist das, was dem Leben nicht fehlen darf, um das zu sein, was es ist, das Mangeln selbst. Ohne diese Tätigkeit des Mangels, ohne das sie bildende Negative, wäre das Leben nicht.
X. Schluss In der Naturphilosophie sagt Hegel ausdrücklich, dass das Leben Begriff ist. Aber im Gegensatz zu dem, was Jabr behauptet und was am Anfang dieses Beitrags zitiert worden ist, bedeutet das nicht, dass das Leben nicht existiert. Hegel behauptet nicht, dass der Begriff des Lebens etwas ist, das nur in unseren Köpfen existiert und keinerlei objektive Wechselbeziehung mit der Welt unterhält. Für Hegel würde es keinen Sinn machen, zu behaupten, dass etwas wie das Schwerkraftgesetz, das spezifische Gewicht, die Organisation des Sonnensystems oder die chemische Neutralität, die alle begriffliche Strukturen sind, keine Wirklichkeit hätten. Aber im Falle des Lebens ist Hegels Zug noch stärker: Für ihn ist es existierender Begriff, Wenn Hegel das Leben als absoluten Widerspruch definiert, will er offensichtlich die Unveräußerlichkeit dieses Widerspruchs unterstreichen, die Tatsache, dass er nicht entfernt werden kann. In diesem Sinne können alle Versuche des Lebens, sich gegenüber der Gefahr, dem Risiko oder der Gewalt abzusichern, keine komplette Immunisierung erzeugen. Eine Immunisierung des Lebens gegenüber der Gefahr, dem Risiko oder der Gewalt würde das Erlöschen des Lebens selbst implizieren. So als ob der Kampf zum Schutz des Lebens notwendigerweise bei seiner höchsten Vollendung in die Zerstörung des Lebens selbst übertreten würde.
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ein Begriff, der sich in der Objektivität gliedert. Mit Hegels Worten ausgedrückt bedeutet das, wie wir gesehen haben, dass das Leben Idee ist: Das Leben ist die erste und unmittelbarste Form der Idee. Der Begriff der Idee bedeutet bei Hegel, wie schon erwähnt, die Aufhebung der Trennung zwischen Subjektivität und Objektivität. Aber nicht als ein desideratum. Die Idee zeigt nämlich das, was strukturell weder als rein subjektiv, also nur auf die Dimension der Subjektivität bezogen, noch als rein objektiv gedacht werden kann, das heißt als unabhängig und getrennt von der Subjektivität existierend. Die Idee ist weder eine Substanz im klassischen Sinne noch ein Begriff, der als solcher einem anderen und von der Wirklichkeit getrennten Gedanken angehört; weder eine rein ontologische, noch eine rein epistemologische Bestimmung. Das Wort, das bei Hegel die Idee vielleicht am radikalsten definiert, ist das Wort Wahrheit: Die Idee ist der adäquate Begriff, das objektive Wahre, oder das Wahre als solches. Wenn irgend etwas Wahrheit hat, hat es sie durch seine Idee, oder etwas hat nur Wahrheit, insofern es Idee ist. (GW , ) Die Behauptung, dass die Idee Wahrheit ist, ist die mächtigste Art, auf die Hegel die Untrennbarkeit der epistemologischen von der ontologischen Dimension aufzeigt. Die Wahrheit ist in ihrem radikalsten Sinne für Hegel nämlich nicht die Anpassung zwischen einem Satzinhalt und einem Sachverhalt. Das ist sicherlich eine mögliche Bedeutungen der Wahrheit. Man möchte sagen, eine ‚epistemologische‘ Bedeutung, in der die Angemessenheit eines Satzes des Subjekts im Vergleich zu einem objektiven Sachverhalt auf dem Spiel steht. Aber neben dieser Auffassung der Wahrheit kann man bei Hegel noch eine originellere und radikalere Bedeutung als die epistemologische finden, die auch die ‚ontologische‘ Bedeutung genannt worden ist (vgl. Halbig ). Von ihr spricht Hegel in Bezug auf die Idee, und nach ihr ist etwas wahr, wenn es seinen Begriff verwirklicht, wenn es der konkrete Ausdruck seiner begrifflichen Seite ist, das heißt wenn etwas tatsächlich das ist, was es sein muss. Hegels Bemerkungen zu Begriffen wie Freundschaft und Staat sind berühmt. Ein Freund ist nur dann ein wahrer Freund, wenn er in seiner Seinsart den Begriff der Freundschaft verwirklicht. Und wir behaupten nicht zufällig, dass ein falscher Freund derjenige ist, der gewissermaßen dem Begriff der Freundschaft zu entsprechen schien, der sich aber dann mit seinem konkreten Verhalten, also in der Wirklichkeit, als anders entpuppte als man gedacht hätte. Ebenso ist ein Staat nur dann wirklich ein Staat, wenn er seinen Begriff verwirklicht, wenn er jene Durchdringung der Teile mit dem Ganzen verwirklicht, die der Begriff des Staates ist. Ein Staat, der seine begriffliche Konstitution verleugnet, ist nicht wirklich ein Staat. Und wenn wir dennoch von einem Freund sagen, dass er nicht wirklich ein Freund ist und von einem Staat sagen, dass er nicht wirklich ein Staat ist, dann bedeutet die Tatsache, dass wir jene Wirklichkeiten mit dem Begriff der Freund-
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schaft und des Staates verbinden, dass jene Wirklichkeiten, wenn auch unangemessen, an dieser Idee teilhaben: Der schlächteste Staat, dessen Realität dem Begriff am wenigsten entspricht, insofern er noch existiert, ist er noch Idee; die Individuen gehorchen noch einem machthabenden Begriff. (GW , f.) Wahrheit im radikalsten Sinne ist also in Hegels Begriffskonstellation die Einheit des Begriffs und der Wirklichkeit der Sache: Man möchte sagen, sie besteht darin, dass die Sache das ist, was sie wirklich ist, die Möglichkeit für die Sache, ihr Sein vollständig auszudrücken (Miolli ). So aufgefasst hat die Wahrheit offensichtlich eine normative Komponente: Das Wesen ist wahr, wenn es seinen Begriff verwirklicht, den Begriff, der es bildet. Das Leben ist laut Hegel die erste und unmittelbarste Form der Idee, insofern das Leben nur dann ist, wenn es seinen Begriff verwirklicht. Das Leben ist Einheit der Teile und des Ganzen, ein Prozess, der in seiner Spaltung und Teilung immer in Einheit mit sich selbst bleibt, eine konstitutive Beziehung zur Äußerlichkeit und zur Andersheit, so dass das Lebendige außerhalb dieser Beziehung keine Möglichkeit hat, als Lebendiges zu sein. Ein Leben, das seinen Begriff nicht verwirklicht, ist kein Leben. Während ein Staat, der seinen Begriff nicht verwirklicht, dennoch ein Staat ist, wenn auch ein unangemessener, ist ein Leben, das nicht lebt, kein Leben. Ein Leben, das keine Tätigkeit des Mangels ist, das den Prozess, den das Fühlen des Mangels impliziert, nicht verwirklicht, ist kein Leben. In gewissem Sinne könnte Ferris Jabr, der, wie anfangs erwähnt, behauptete, dass das Leben nicht existiert, da es laut Hegel nur ein Begriff ist, sogar Recht haben: in dem Sinne nämlich, dass das Leben kein Wesen, keine Wirklichkeit ist, das bzw. die auf dieselbe Art wie ein Objekt in der Welt erkannt werden könnte; und in dem Sinne, dass das Leben tatsächlich ein Begriff, eine Form der begrifflichen Artikulation ist. Der Begriff ist aber für Hegel nicht einfach etwas, das in unserem Kopf ist, das also einem Denken angehört, das anders und von der Wirklichkeit getrennt ist. Der Begriff ist vielmehr die Seinsart des Lebens, der das Leben zu dem macht, was es ist. Das impliziert jedoch, dass das Leben nicht nur ein Begriff ist, sondern ein verwirklichter Begriff, eine nach einer spezifischen begrifflichen Dynamik strukturierten Wirklichkeit. Diese Dynamik ist die der Tätigkeit des Mangels, der negativen Einheit, der in sich unterschiedenen Identität, des Widerspruchs; und folglich, wie wir gesehen haben, des Schmerzes, des Hungers, der Begierde, des unaufhörlichen Triebs zur Überwindung der Entzweiung, die das Lebendige in jedem Fall ist, um zu sein. Eine Dynamik, die sich in dem Moment, in dem man sie von den sie bildenden negativen Elementen reinigen wollte – sie also gegen das Leiden, die Gefahr und die Unbeständigkeit immunisieren wollte –, auflösen würde, entweder in einer
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anorganischen Verschwommenheit oder in einer neuen Seinsform, die wir aber nicht mehr Leben nennen könnten.
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LUCA ILLETTERATI
Schiller, Friedrich. [] . Werke und Briefe Band , herausgegeben von Rolf-Peter Janz. Frankfurt am Main. Sell, Annette. . Der lebendige Begriff. Leben und Logik bei G.W.F. Hegel. Freiburg / München. Zöller, Günter. . Fichte lesen. Stuttgart-Bad Cannstatt
Johannes-Georg Schülein DAS ABSOLUTE, DAS LEBEN UND DAS BEDÜRFNIS DER PHILOSOPHIE Zu Hegels philosophischem Programm in den frühesten Jenaer Vorlesungsfragmenten Hegel kommt nach Jena und betritt dort zunächst im Schatten Schellings die Bühne der Philosophie. In der ersten Jahreshälfte verfasst er seine erste Publikation, die Differenz-Schrift. In der zweiten Jahreshälfte beginnt er seine Vorlesungstätigkeit an der Universität. Von Hegels Vorlesungen aus dem Wintersemester / und dem Sommersemester sind Fragmente erhalten, die für die Entwicklung seines Denkens außerordentlich bedeutend sind, wie etwa Walter Jaeschke (, f.; ) betont. Nachdem sie vor allem kurz nach ihrer Wiederentdeckung in den er Jahren einiges Forschungsinteresse auf sich gezogen haben, stehen sie heute im Hintergrund der weiter ausgearbeiteten Veröffentlichungen aus der Jenaer Zeit, von der Differenz-Schrift über Glauben und Wissen bis zur Phänomenologie des Geistes, und auch der postum erschienenen, umfangreichen Jenaer Systementwürfe, die ab / einsetzen und mit denen sie nicht zu verwechseln sind. Ich bin der Auffassung, dass die Vorlesungsfragmente von / und nicht allein interessante entwicklungsgeschichtliche Einsichten in die Werkstatt des Hegel’schen Denkens gewähren, sondern auch ein grundlegendes systematisches Anliegen Hegels so unverstellt wie sonst wohl nirgends zum Ausdruck bringen. Anhand von vier Fragmenten möchte ich im Folgenden zeigen, inwiefern Hegel mit seinem philosophischen Ansatz ein eminent praktisches Interesse verbindet. Dieses praktische Interesse kommt nicht etwa nur in den im engeren Sinn ‚praktischen‘ Teilen seiner Philosophie zum Ausdruck, sondern betrifft seine Philosophie als Ganze. Hegel entwirft in den Fragmenten eine Philosophie des Absoluten, die insgesamt, also auch dort, wo sie anspruchsvolle theoretische Probleme traktiert, auf ein praktisches Bedürfnis zu antworten beansprucht, das im individuellen Leben der Menschen seinen Ursprung hat: das Bedürfnis, die Zerrissenheit, die Entzweiungen und Gegensätze, durch die das individuelle Leben geprägt ist, zu überwinden. Sich auf seine Philosophie des Absoluten einzulassen, bedeutet dem S. zum Fund der Fragmente Ziesche (). Eine ausführliche Analyse legten Baum und Meist () vor. S. auch einige Beiträge in dem Band von Henrich und Düsing (), insb. die Texte von Düsing und Meist. Wichtige neuere Studien, die im engeren Sinn auf die frühen Fragmente fokussieren, sind Jaeschke () und Arndt (). S. auch einige Beiträge, insb. von Jonkers und Neuser, in dem Band von Kimmerle (). Hegel-Studien Beiheft · © Felix Meiner Verlag · ISSN -
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Anspruch nach erstens und grundsätzlich, das Leben nicht vom individuellen, sondern vom Standpunkt des Absoluten aus zu führen und dabei neu zu lernen, was ein versöhntes Leben ist (I), zweitens auf dem Standpunkt des Absoluten keine singuläre Erleuchtung zu erwarten, sondern vielmehr die wissenschaftliche Anstrengung auf sich zu nehmen, die natürliche und geistige Welt, in der das Leben stattfindet, intellektuell vollständig zu durchdringen und als ein System zu erfassen (II), drittens und näher sich selbst nicht als isoliertes Individuum, sondern als Teil einer allgemeinen geistigen Kultur zu begreifen (III), und viertens schließlich eine Macht des menschlichen Geistes über die Natur anzunehmen, die sich auf deren umfassende Erkenntnis stützt (IV). Diese vier Punkte bleiben charakteristisch für Hegels Philosophie bis in das System hinein, das er in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse , und vorlegt. Die Fragmente aus den frühesten Jenaer Vorlesungen regen daher dazu an, Hegels systemphilosophisches Projekt auch in seiner reifen enzyklopädischen Form nicht nur als ein überaus ambitioniertes theoretisches Unterfangen, sondern auch als Antwort auf ein ursprünglich lebenspraktisches Bedürfnis zu verstehen. Nimmt man diesen Anspruch ernst, gilt es ihn nicht kritiklos zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch nach seinen Grenzen zu fragen. Sie zeichnen sich ab, wo das Individuum als Individuum auftritt und entweder den Standpunkt des Absoluten nicht zu beziehen vermag oder ihn zwar bezieht, aber keine Antworten findet auf das, was gleichwohl ein unhintergehbarer Teil seiner Lebenswirklichkeit ist. I. Eine der beiden Vorlesungen, die Hegel an der Jenaer Universität zu halten beginnt, trägt den Titel Introductio in Philosophiam. Es entbehrt nicht der Ironie, dass er gleich zu Beginn des ersten überlieferten Fragments erklärt, die „Vorlesungen, in welchen ich eine Einleitung in die Philosophie vorzutragen versprochen habe, Dass zwischen System und Leben ein wesentlicher Zusammenhang besteht, legt Birgit Sandkaulen in vielen ihrer Texte auf überzeugende Weise dar. In einem Aufsatz, der auf den ersten Vortrag zurückgeht, den ich von ihr hörte, nachdem ich noch in Jena gerade meine Dissertation begonnen hatte, heißt es etwa nachdrücklich, dass die Systeme der klassischen deutschen Philosophie auf „die Interessen der Lebenswelt zielen“ und somit, wie auch in den systemkritischen Ansätzen Jacobis u. a., „die übergreifende Hinsicht auf die Selbstverständigung des realen Lebens bereits impliziert“ sei (Sandkaulen , ). Von einer angeblichen „Weltfremdheit“ des sog. „deutschen Idealismus“ könne daher keine Rede sein (Sandkaulen , ). In einem noch unveröffentlichten Manuskript hat Birgit Sandkaulen () zuletzt dafür argumentiert, dass ‚Leben‘ in der klassischen deutschen Philosophie nicht auf die biologische Dimension des Begriffs reduziert werden darf, wie es in der gegenwärtigen Hegel-Diskussion häufig geschieht, sondern die Autoren um allem voran ein genuines Interesse an der menschlichen Lebenswelt in einem umfassenden Sinn antreibt. Die Überlegungen, die Hegel in seinen frühesten Vorlesungsfragmenten anstellt, belegen dies m. E. eindrucksvoll.
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können mit keiner andern Bemerkung anfangen, als daß die Philosophie als Wissenschaft weder einer Einleitung bedarf, noch eine Einleitung verträgt“ (GW : ). Eigentlich könne man gar nicht in die Philosophie einleiten, sondern nur versuchen, die „subjectiven Standpunkte über sich selbst aufzuklären und sie mit dem objectiven der Philosophie zu verständigen“ (GW : ). Zu der Skepsis gegenüber Einleitungen, die bekanntlich viele seiner Werke durchzieht, gelangt Hegel, weil er ähnlich wie Schelling eine emphatische Auffassung von Philosophie zugrunde legt: Philosophie ist für ihn „absolute[] Philosophie“ (GW : ) und als solche „Centralpunkt“ (GW : ) aller Wissenschaften. Sie hängt von keiner anderen Wissenschaft ab, sondern als „wahre Wissenschaft“ gehört sie, wie auch die Kunst, „der Vernunft, das ist, dem Allgemeinen und Absoluten, das also zu seiner Produktion keines andern bedürfen, noch ein fremdes gebrauchen kan, weil ausserhalb ihrer Quelle ausser der Vernunft nichts ist“ (GW : ). In dem Maße wie Philosophie als eine umfassende, absolute Vernunftwissenschaft aufgefasst wird, ist klar, dass „ausserhalb des eigentlichen Philosophirens“ bleiben muss (GW : ), wer seine Zeit mit dem Einleiten verbringt. Philosophieren lässt sich, wie auch schwimmen, nur, indem man sich ins Wasser bzw. ins Absolute wagt. Die originellsten Ausführungen in diesem Fragment kreisen um die Frage, worin das „Bedürfniß der Philosophie“ besteht (GW : f.). Selbstverständlich ist es genauso trivial wie wahr, dass es ganz unterschiedliche Gründe geben mag, aus denen Menschen sich der Philosophie zuwenden. Dies weiß auch Hegel, gleichwohl identifiziert er ein ‚allgemeines‘ und ‚wahres‘ Bedürfnis: Was das allgemeine des Bedürfnisses der Philosophie betrifft, so wollen wir es in der Form einer Antwort auf die Frage, welche Beziehung hat die Philosophie aufs Leben? klar zu machen suchen, eine Frage, die eins ist mit der: inwiefern ist die Philosophie praktisch? Denn das wahre Bedürfniß der Philosophie geht doch wohl auf nichts anders als darauf, von ihr und durch sie leben zu lernen. (GW : ) An wahrscheinlich keiner anderen Stelle seiner Schriften bestimmt Hegel die Erwartungshaltung, die Menschen an die Philosophie haben, derart unmissverständlich als eine lebenspraktische. Dass Hegel dieser praktischen Erwartung tatsächlich eine große Bedeutung zumisst, zeigt sich auch darin, dass er die Vorlesung Introductio in Philosophiam in einem Aushang als „Vorlesungen über das praktische Auch wenn es umstritten ist, ob Hegel Schellings Darstellung meines Systems der Philosophie ebenfalls von bereits zur Kenntnis genommen hat, lassen sich Parallelen zwischen den programmatischen Bemerkungen in den beiden Schriften nicht abweisen. Vgl. exemplarisch den §, in dem Schelling erklärt: „Außer der Vernunft ist nichts, und in ihr ist Alles. […] Es gibt keine Philosophie als vom Standpunkt des Absoluten […] die Vernunft ist das Absolute“ (AA I,: §, ). Dies betonen auch Baum und Meist (, ), die im Titel ihres Beitrags die aussagekräftige Stelle bei Hegel aufgegriffen haben: „Durch Philosophie leben lernen“.
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Interesse der Philosophie“ (GW : ) ankündigt. Das praktische Interesse, von der Philosophie leben zu lernen, hebt Hegel von der Erwartung ab, durch die Philosophie eine „Einleitung in Wissenschaften, als eine Art aüsserer Verstandesbildung“ (GW : ) zu erhalten. Zwar leistet die Philosophie auch dies durchaus, sie würde sich selbst aber missverstehen, wenn sie sich ausschließlich als ein theoretisches, szientifisches Unternehmen verstünde. In ihrem praktischen Bezug auf das Leben hat sie nämlich „ein weitumfassenderes und würdigeres Ziel vor sich“ (GW : ). Was ‚leben‘ genau bedeutet, definiert das Fragment nicht. Klar ist aber, dass ‚leben‘ in diesem Kontext frei von biologischen Konnotationen ist und sich umfassend auf das menschliche Sein in der Welt bezieht. Wenn man ‚leben‘ in diesem Sinn nach Hegel allererst lernen muss, liegt ferner auf der Hand, dass die Menschen nicht von vornherein immer schon ein Leben führen, wie er es sich vorstellt. Was ‚lernen‘ bedeutet, erläutert Hegel indessen näher, indem er präzisiert, was die Versöhnung des subjektiven Standpunkts mit dem objektiven der Philosophie, von der er im Kontext des Einleitungsproblems spricht, impliziert: Es gehe darum, dass die Menschen sich „in grösserm und allgemeinerm Standpunkte fassen lernen, und sich in dem Gegenstand der Philosophie erkennen lernen“ (GW : ; Hervorhebung J.S.). Der Gegenstand der Philosophie ist das Absolute. Mithin müssen die Menschen lernen, sich aus ihren individuellen, subjektiven und beschränkten Standpunkten auf den allgemeinen und umfassenden Standpunkt des Absoluten zu versetzen. Dass sie sich im Absoluten erkennen können, zeigt an, dass der absolute Standpunkt in Hegels Augen eigentlich nichts Fremdes für sie ist. Dem Individuum muss es mithin möglich sein, ein Leben des Absoluten zu führen, das keine Entfremdung bedeutet. Dies zumindest ist Hegels Überzeugung. Zugleich betont Hegel die Schwierigkeit, in die Philosophie des Absoluten wenigstens insofern einzuleiten, als die Menschen von ihren subjektiv-individuellen Standpunkten abzuholen und mit dem Absoluten bekannt zu machen sind. Diese Schwierigkeit hängt für ihn letztlich damit zusammen, dass auf dem Standpunkt des Absoluten keine prägnante Erleuchtung wartet, die wie unvoll Hegels Affirmation des engen Zusammenhangs von Philosophie und Leben wäre einmal ausführlich im Kontext der Diskussion zu untersuchen, die Fichte im Briefwechsel mit Jacobi führt. In seinem Brief vom . . fragt Fichte bereits rhetorisch: „Wozu ist denn nun der spekulative Gesichtspunkt und mit ihm die ganze Philosophie, wenn sie nicht für’s Leben ist?“ (JBW I,: ). Und im Brief vom . . erklärt er: „Leben ist ganz eigentlich Nicht-philosophiren; philosophiren ist ganz eigentlich Nicht-leben“ (JBW I,: ). Jaeschke (, ) verweist knapp auf letztere Briefstelle. Zum Verhältnis von Philosophie und Leben bei Fichte s. Breazeale () sowie Ivaldo (). Damit greift Hegel einen Gedanken auf, den er in dem aus der Frankfurter Zeit stammenden, ehemals als „Systemfragment“ (Nohl ) von bekannten Text als „Erhebung des Menschen […] vom endlichen Leben zum unendlichen Leben“ bezeichnet und noch der „Religion“ angewiesen hatte (GW : ). in Jena fällt die Aufgabe dieser ‚Erhebung‘ nunmehr der Philosophie zu. Siehe hierzu auch die Rekonstruktion von Sans (, ff.).
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kommen auch immer antizipiert werden könnte. Um das Bedürfnis der Philosophie in umfassender Weise zu verdeutlichen, müsse man vielmehr immer sogleich „das ganze der Philosophie produciren“ (GW : ). Der Standpunkt des Absoluten, auf dem das Leben, das es zu lernen gilt, stattfinden soll, ist insofern eigentlich gar kein Punkt, sondern ein Ganzes (s. hierzu auch Sandkaulen , f.). Und wenn man letztlich ein Ganzes aufrufen muss, um das praktische Interesse, von der Philosophie leben zu lernen, angemessen vor Augen führen zu können, kommt auch diesem Ganzen, der Philosophie in ihrem Gesamtumfang, eine lebenspraktische Relevanz zu. Das praktische Interesse, von der Philosophie leben zu lernen, kann daher nicht in Form einer verdichteten Lehre oder im Rahmen einer praktischen Philosophie, einer Ethik, politischen Philosophie oder Handlungstheorie bereits befriedigt werden. Vielmehr tritt Hegel mit dem durchaus kühnen Anspruch auf, dass grundsätzlich alles, was die Philosophie des Absoluten überhaupt leistet, in einem Bezug zur Praxis des Lebens steht. Soll dieser zweifellos starke Anspruch keine leere Behauptung sein, muss er sich inhaltlich füllen lassen. Was also leistet die Philosophie des Absoluten, das Hegel berechtigt, für sie insgesamt eine lebenspraktische Bedeutung zu reklamieren? Zur Beantwortung dieser Frage drängt sich zunächst ein Exkurs zur DifferenzSchrift auf, in der es bereits um das Bedürfnis der Philosophie geht, über das Hegel an berühmten Stellen schreibt: Entzweiung ist der Quell des Bedürfnisses der Philosophie (GW : ); Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet, und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben, und Selbstständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfniß der Philosophie (GW : ). Das Bedürfnis der Philosophie zielt demnach auf eine Überwindung von Gegensätzen und Entzweiungen, die sich in allerlei fixierten Differenzen im Leben der Menschen niederschlagen. Exemplarisch nennt Hegel „Geist und Materie, Seele und Leib, Glauben und Verstand, Freyheit und Nothwendigkeit usw.“ sowie die Gegensatzpaare „von Vernunft und Sinnlichkeit, Intelligenz und Natur, […] von absoluter Subjektivität und absoluter Objektivität“ (GW : ). Programmatisch erklärt er: „Solche festgewordenen Gegensätze aufzuheben, ist das einzige Interesse der Vernunft“ (GW : ). ‚Aufheben‘ heißt selbstverständlich nicht ‚beseitigen‘. Hegel legt alles Gewicht darauf, dass es nicht darum geht, „sich gegen die Entgegensetzung und Beschränkung überhaupt“ zu wenden, „denn die nothwendige Entzweyung ist Ein Faktor des Lebens, das ewig entgegensetzend sich bildet, und die Totalität ist, in der höchsten Lebendigkeit, nur durch Wiederherstellung aus der höchsten Trennung möglich“ (GW : f.). Wie die Entzweiung gehört somit grundsätzlich auch die Vereinigung zum Leben. Das Bedürfnis der Philosophie
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entsteht dann, wenn Differenzen sich zu bleibenden Gegensätzen verhärten, weil die Macht der Vereinigung aus dem Leben verschwunden ist. Für das Schwinden der vereinigenden Kraft, die eigentlich ein Teil des Lebens ist, macht Hegel eine Kultur verständiger Rationalität verantwortlich, die sich nicht zu einer vernünftigen Perspektive erhebt (s. hierzu auch Sandkaulen , ff.). Verständiges Denken ergeht sich ihm zufolge in Unterscheidungen, die es als starre Differenzen bestehen lässt und – anders als ein vernünftiges Denken – nicht zu überbrücken vermag. Es ist insofern nicht Differenz überhaupt, sondern „das absolute fixiren der Entzweyung durch den Verstand“ (GW : ), gegen das Hegel im Namen der Vernunft vorzugehen beansprucht. Aus den vielfältigen Gegensätzen und Entzweiungen, die der Verstand produziert, errichtet er nach Hegels Diagnose allmählich ein intellektuelles „Gebäude, das er zwischen den Menschen und das Absolute stellt“, und dadurch beide voneinander trennt (GW : ). Das verständige Denken ist mithin nicht allein deshalb problematisch, weil es auf der operativen Ebene in fixen Gegensätzen denkt. Indem es dies tut, bringt es auf der Metaebene zugleich eine tiefergreifende Entzweiung hervor, in der dieses Denken und die mit ihm zusammenhängende Kultur verständiger Rationalität in einen Gegensatz zum Absoluten gerät. Diese Entzweiung führt Hegel in der Differenz-Schrift auf ein „Herausgetretenseyn des Bewußtseyns [des Menschen; J.S.] aus der Totalität“ des Absoluten zurück (GW : ). Als „Aufgabe der Philosophie“ bestimmt er, die Trennung zwischen den Menschen und dem Absoluten zu überwinden, indem „die Entzweyung in das Absolute, als seine Erscheinung, – das Endliche in das Unendliche – als Leben“ gesetzt wird (GW : ). Was Hegel damit fordert, ist eine Integration der endlichen Gegensätze in die unendliche Perspektive des Absoluten, wobei er diese Integration nicht als eine Auflösung des Gegensätzlichen, sondern als Leben bestimmt. Das Leben erweist sich programmatisch als ein Zusammenhang, in dem das Absolute als eine Totalität firmiert, zu der von Grund auf Entzweiung und Endlichkeit gehören. In diesem Leben ist auch das Individuum vom Absoluten nicht abgetrennt, sondern existiert in ihm, ohne sich dabei – so zumindest die Programmatik – gänzlich aufzulösen. Wie viel Individualität sich im Leben des Absoluten tatsächlich aufrechterhalten lässt, ist freilich noch eine offene Frage. Im Licht der Differenz-Schrift ergibt sich soweit das folgende Bild: Wenn Leben im emphatischen Sinn nach Hegel sowohl Gegensatz als auch Versöhnung in sich birgt, es unter dem Regime verständigen Denkens aber dazu kommt, dass die Versöhnung ausbleibt und die Gegensätze fortbestehen, findet Leben bestenfalls noch in einer zerrissenen, defizitären Form statt. Unter dieser Voraussetzung muss Diese Auffassung wird im sog. „Systemfragment“ von vorbereitet, wo es heißt, „das Leben sey die Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung“ (GW : ). S. hierzu auch Sans (, ).
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das praktische Interesse, von der Philosophie leben zu lernen, darauf zielen, den defizitären Charakter dieses Lebens zu überwinden, indem neu in Erfahrung gebracht wird, wie Gegensätze versöhnt werden können. Dazu müssen die Menschen ihre individuellen Standpunkte aufgeben und die Perspektive des Absoluten einnehmen, die kein Punkt, sondern ein Ganzes, eine Totalität, ist. Die Perspektive des Absoluten als eines Ganzen einzunehmen, bedeutet, die Kraft einer Versöhnung zu aktivieren, die eigentlich Teil des Lebens ist, aber durch das trennende Wirken des Verstandes aus ihm verdrängt wurde. Was es von der Philosophie in allen ihren Teilen zu lernen gibt, ist mithin ein versöhntes Leben im Zeichen der Vernunft.
II. Das zweite Fragment der Vorlesung Introductio in Philosophiam enthält einen Systemgrundriss der Philosophie des Absoluten, die nach den Ausführungen des ersten Fragments insgesamt in einem konstitutiven Bezug zur Praxis des Lebens steht und in seinem Gesamtumfang das Bedürfnis der Philosophie verdeutlichen soll. Mit diesem Grundriss präzisiert Hegel seine noch stark von Schelling’scher Terminologie durchzogenen Überlegungen zur Systemgestalt der Philosophie in der Differenz-Schrift (GW : ff.) in einer weitaus eigenständigeren Sprache und sachlichen Ausrichtung. Es ist bemerkenswert, wie sehr dieser Grundriss bereits die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften antizipiert (s. hierzu auch Jaeschke , ). Die Grundidee seines reifen Systems steht Hegel bereits vor Augen: Er nimmt ein absolutes Wesen an, das zuerst „als speculative Idee, und dann als Universum dargestellt“ wird (GW : ). Hegel beschreibt diesen Zusammenhang näher so, dass das absolute Wesen sich „in der Idee sein Bild gleichsam entwirft, sich in der Natur realisirt, oder in ihr sich seinen entfalteten Leib erschafft, und dann als Geist sich resumirt, in sich zurükkehrt und sich selbst erkennt“ (GW : ). Am Anfang steht „die einfache Idee der Philosophie“ sowie die „Bestimmtheiten der Form, die die Idee in sich schließt“ (GW : ), dies sind logisch-metaphysische Grundbestimmungen. Daran schließt sich „die Wissenschaft der Realität der Idee an“, dies sind Natur- und Geistphilosophie (GW : ). Die Naturphilosophie nennt Hegel „den realen Leib der Idee“ (GW : ) und gibt einen kurzen Aufriss ihrer Inhalte von der Theorie der Himmelskörper bis zur Physik der Erde, in der es insbesondere auch um den lebendigen, individuellen Organismus geht. Aus der Sphäre der organischen Natur werde sich die Idee zuletzt „als Geist emporreissen und als absolute Sittlichkeit sich organisiren; und die Philosophie der Natur wird in die Philosophie des Geistes übergehen“ (GW : ). In der sittlichen Sphäre des Geistes unterwerfe sich die Idee „das Reich des Bedürfnisses und des Rechts“ und konstituiere sich dadurch „als ein freyes Volk […], welches endlich im ten Theil in der Philosophie der Religion und Kunst zur
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reinen Idee zurükkehrt, und die Anschauung Gottes organisirt“ (GW : ). Es fällt auf, dass Hegel hier anders als in seinem reifen System einen vierten Systemteil projektiert, der die Funktion innehat, die er später dem absoluten Geist zuweist und in den dritten Teil des enzyklopädischen Systems eingliedert. In diesem Vorlesungsfragment betrachtet er die Philosophie des sittlich-objektiven Geistes dagegen noch als eine eigenständige Sphäre, von der die Welt des absoluten Geistes abgehoben wird (s. hierzu auch Jaeschke , ). Sachlich viel entscheidender als diese Differenz ist, dass Hegel bereits eine Strukturgesetzmäßigkeit betont, die auch für sein reifes System prägend bleibt: Er charakterisiert das absolute Wesen wesentlich als Bewegung. Nachdem er geschildert hat, wie die Idee die Sphären der Natur und des Geistes durchläuft, hebt er hervor, dass das absolute Wesen allererst „als diese Bewegung das absolute Wesen ist“ (GW : ; Hervorhebung J.S.). Mithin ist das Absolute, von dem Hegel spricht, nicht als eine zugrundeliegende Gottheit oder Substanz zu verstehen, die für sich selbst Bestand hätte und von der dann eine Bewegung ausgehen würde. Worauf es ankommt, ist, dass vom Absoluten gar keine Bewegung ausgeht, sondern es vielmehr selbst Bewegung ist. Es selbst besteht in eben der Bewegung, in der es sich in Natur und Geist manifestiert. Von seinen Manifestationen kann es mithin nicht nur nicht abgetrennt werden, es bildet eine Einheit mit ihnen – es ist sein Manifestieren (s. hierzu auch Jaeschke ). Obwohl sich in Hegels Ausführungen nach wie vor Echos der Schelling’schen Philosophie vernehmen lassen, wird in dieser dynamischen Auffassung des Absoluten eine eigenständige Position greifbar. Hegels dynamische Auffassung des absoluten Wesens, das nicht unabhängig von seinen Manifestationen existiert, schlägt sich in der näheren Bestimmung der Idee nieder, die zunächst Gegenstand des ersten Systemteils ist und ausgehend von ihm die weiteren prägt. So heißt es zunächst, die Idee übe „Herrschaft“ über die weiteren Systemteile aus, indem sie ihnen eine notwendige Struktur verleiht und dafür sorgt, dass „wir in disem Aussereinander die Einheit nicht verlieren“ und nicht zuletzt „die ganze Entfaltung der sittlichen und geistigen Natur in der Einen Die Frage, wie das Absolute sich zu seinen Manifestationen verhält, markiert einen grundlegenden Unterschied zwischen Schelling und Hegel. Während Schellings identitätsphilosophische Konzeption auf einen Akosmismus hinausläuft, indem er die Einheit des Absoluten als reines In-sichSein entwirft, das keinerlei Differenzierung zulässt, fallen alle Unterschiede, einschließlich der einzelnen Dinge, aus dem Absoluten heraus und verfügen über einen allenfalls prekären ontologischen Status. Dies lässt sich exemplarisch anhand der Würzburger Identitätsphilosophie von zeigen, wo es heißt, dass die Dinge „ein gedoppeltes Leben: ein Leben in der Substanz und ein Leben in sich selbst oder ein besonderes Leben“ führen, wobei das Leben der Dinge in ihnen selbst ein „bloßes Scheinleben“, ein „kraftloses Zerfallen“ in Differenz und Mannigfaltigkeit sei (SW VI: ). Dagegen nimmt Hegel offensichtlich bereits ein Immanenzverhältnis zwischen dem Absoluten und den Dingen an, das als ein Reflex auf die Konzeption der causa immanens Spinozas zu deuten ist, die Jacobi in seinem die SpinozaRezeption um auslösenden Buch treffend beschreibt als „immanentes Ensoph“ und damit als „Ursache der Welt, welche mit allen ihren Folgen zusammengenommen – Eins und dasselbe wäre“ (JWA ,: ).
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Idee“ zusammengefasst bleiben kann (GW : ). Insofern sie dies leistet, beschreibt Hegel die Idee als „das schlechthin wesentliche […], auf das sich alle Erörterung bezieht“, „das höchste, ein heiliges Denken“ und „die erste Bedingung des Philosophirens“ (GW : ). Diese Schilderung spricht zunächst dafür, dass der Idee im Verhältnis zu den sich an sie anschließenden Systemteilen ein systematisches Primat zukommt. Im Licht der dynamischen Auffassung des absoluten Wesens ist aber gerade die Pointe, dass die Idee trotz ihrer für das System strukturgebenden Bedeutung nicht mit dem Absoluten gleichzusetzen und ihr Primat zumindest kein absolutes ist. Wie es sich in Wahrheit verhält, macht Hegel deutlich, indem er betont, dass die Betrachtung der Idee im ersten Systemteil „in ihrer höchsten Einfachheit vorgetragen“ und „um dieser Einfachheit willen […] ihre Darstellung unscheinbar seyn“ wird. Mehr noch: Die Darstellung der Idee „wird keine Bedeutung zu haben scheinen“, denn „ihre vollkommene Bedeutung ist die ganze Philosophie und das Leben selbst“ (GW : ). Worin die Bedeutung jener Idee besteht, die dem gesamten System die Struktur verleiht, erschließt sich demnach nicht, wenn wir allein auf sie und die ihr zugehörigen logisch-metaphysischen Grundbestimmungen blicken. Erst die Philosophie in ihrem Gesamtumfang, d. h. einschließlich der Natur- und Geistphilosophie, und vor allem auch das Leben selbst, legen die Bedeutung dieser idealen Bestimmungen offen. Hegels Philosophie interessiert sich mithin nicht allein für die Grundbestimmungen des Lebens, sondern immer auch dafür, wie diese Grundbestimmungen in ihm realisiert sind. Nur zusammen mit ihrer Realisierung konstituieren die Grundbestimmungen das Absolute. Insofern das Absolute Gegenstand der ganzen Philosophie ist, gehört sein Manifestieren in der Natur, im Geist und nicht zuletzt im Leben von Grund auf zu ihm. Diese Ausführungen ergänzen, was Hegel im ersten Fragment und in der Differenz-Schrift darlegt. Sich auf den Standpunkt des Absoluten zu stellen, bedeutet weder einen göttlichen noch einen rein logisch-metaphysischen Blick auf die Welt einzunehmen. Der Standpunkt des Absoluten geht vielmehr mit der philosophischen Anstrengung einher, sich auf ein philosophisches System einzulassen, das die natürliche und geistige Welt insgesamt zu durchdringen sucht und sich dabei zugleich dem Leben der Menschen verpflichtet weiß. Selbst dort, wo sie logischmetaphysische Grundbestimmungen behandelt, tut sie das nicht aus einem rein theoretischen, sondern aus einem wirklichkeitsbezogenen, letztlich lebenspraktischen Interesse heraus. Sie will die Welt begreifen, in der sich das Leben der Menschen abspielt.
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III. Angesichts des skizzierten Programms sind Zweifel berechtigt, inwieweit es der Sache nach tatsächlich überzeugend ist, von einer lebensweltlichen, lebenspraktischen Relevanz des Hegel’schen Ansatzes zu sprechen. Wird das Leben, das von der Philosophie zu lernen ist, im Geist der Differenz-Schrift als ein versöhntes Leben verstanden, haftet dem von Hegel skizzierten Programm durchaus eine gewisse Abstraktheit an: Sollen Gegensätze überhaupt versöhnt werden, ist fraglich, ob tatsächlich alle Gegensätze dieselbe Relevanz für das Leben haben. Wird im Sinne des systemphilosophischen Ansatzes eine ‚lebensweltliche Relevanz‘ allem zugestanden, was auf irgendeine Weise mit der Welt zu tun hat, in der das menschliche Leben stattfindet, droht die These trivial zu werden. Ein logisches Verhältnis oder ein Forschungsbeitrag in der höheren Mathematik wären dann per definitionem für das Leben genauso relevant wie ein Gefühl oder eine soziale Beziehung. Dass Hegel neben der lebenspraktischen Bedeutung, die er für sein System im Ganzen reklamiert, auch eine spezifischere Auffassung vertritt, die sich im engeren Sinn an das Sein des Individuums in der Welt wendet, lässt sich anhand des ersten Fragments von zeigen, das sich, wie auch die weiteren Fragmente aus diesem Jahr, keiner bestimmten Vorlesung mehr eindeutig zuordnen lässt. Hegel kommt dort erneut auf das Bedürfnis der Philosophie zu sprechen, von dem er erklärt, es sei auf die „Einzelnheit des Menschen gegründet“ und erwache, sobald der Mensch „sich als ein isolirtes, für sich seyendes, als absolute Person erkennt“ und Fragen über „sein Verhältniß zu Gott und zu der Welt“ zu stellen beginnt (GW : ). Das isolierte Individuum beschreibt Hegel als „absolut einzelnes, und verlassnes“, das zugleich „Alles“ begehrt (GW : ). ‚Alles‘ steht hier für die Fülle einer Welt, von der es sich in seiner Isolation getrennt vorfindet. Die Welt erscheint ihm einerseits als eine „Sammlung von Zufälligkeiten, deren keine einzeln betrachtet Gewißheit und Sicherheit in sich hat, sondern in ihrer Erscheinung unzuverlässig, in ihrem Daseyn vergänglich ist“ (GW : f.) – andererseits macht es die Erfahrung, dass „eine blinde verborgene Macht den einzelnen in ihr verwirrtes Spiel unwiderstehlich mit fortreißt und wie alles andere verschwinden macht“ (GW : ). Im Vergleich zu den Fragmenten von / fällt auf, dass es immer noch um das Grundproblem der Entzweiung geht, Hegel nun aber anstelle des Absoluten von der Welt spricht: Nicht mehr vom Absoluten, von der Welt hat sich das Individuum entzweit. Als „Aufgabe der Philosophie“ bestimmt er entsprechend, „die Einzelnheit des Individuums“ nicht mehr ausdrücklich mit dem Absoluten, sondern „mit dem allgemeinen der Welt zu versöhnen“ (GW : ). Dass der Begriff des Absoluten durch den der Welt geradezu verdrängt wurde, vermag angesichts der programmatischen Verbindung, die Hegel bereits / zwischen dem Absoluten, der Welt und dem Leben herstellt, kaum zu verwundern. Diese Ver-
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drängung unterstreicht vielmehr nur, dass das Hegel’sche Absolute der Welt selbst immanent ist, so dass eine Entfremdung vom Absoluten zugleich eine Entfremdung von der Welt, wie sie in Wahrheit ist, bedeutet. Die lebensweltliche Relevanz dieser Entfremdung zeigt Hegel nun in einem spezifischeren Sinne auf, indem er die existentielle Situation eines in die Welt geworfenen Individuums schildert, das sich über diese Wahrheit nicht im Klaren ist und dem die Welt deshalb fremd erscheint. Aus seiner Perspektive erfährt das Individuum die Welt als eine chaotische Wirklichkeit, in der es zugleich mit einer Notwendigkeit konfrontiert ist, der es keinen Sinn abzugewinnen vermag. Die leitende Frage, mit der das Fragment sich befasst, kreist darum, wie ein versöhntes Verhältnis des Individuums zu der ihm scheinbar fremden Welt möglich ist. Das fehlgeleitete Verhältnis, in dem sich das Individuum fremd gegenüber der Welt fühlt, führt Hegel auf das Erwachen des individuellen Bewusstseins zurück: Sobald das Bewusstsein eines Menschen erwacht, erfährt sich dieser Mensch unmittelbar als Individuum, das sich sogleich in den Gegensatz zur Welt begibt, sich der „Nothwendigkeit [der Welt; J.S.] entreißt, und jener blinden ungeheuren [Macht] seinen Willen entgegensetzt, eine Eigengewalt gegen die Einzelheiten des Zufälligen ausübt, und sich aus ihnen als aus Materialien einen eigenen Krais erbaut“ (GW : ). Es ist demnach für Hegel ein ursprünglicher Impuls, dass Individuen sich, indem sie sich als Einzelne erfahren, kraft ihres Willens eine eigene, der Notwendigkeit der Welt entzogene Sphäre zu errichten suchen. Dieser Impuls führt in Hegels Augen gleichwohl in die Irre. Freiheit, die individuell gegen die Welt realisiert werden soll, sei „nur ein Betrug“, „nur eine Taüschung“, weil gilt, wie er plötzlich in direkter Ansprache an die Leserinnen schreibt, was seinen Ausführungen eine gewisse Eindringlichkeit verleiht: [J]ene Fäden die du meynst in dein Gewebe verflochten zu haben, sind der Macht der Welt, der sie angehören nicht entgangen, und deine Thätigkeit des Zurechtrichtens derselben ist nichts anderes als daß du dich selbst in sie hineingeflochten und dich jener Macht vollkommen zu eigen gegeben hast (GW : ). Wenn man wie Hegel von der Ohnmacht des Individuums überzeugt ist, liegt die existentielle Bedeutung, sich über den fatalen Irrglauben klar werden zu müssen, dass man der Notwendigkeit der Welt nicht einfach entkommen kann, auf der Hand. Einzusehen, dass der „Kampf und das Abringen“ mit der Welt (GW : ) immer eine Beziehung mit der Welt unterhält und das Individuum dabei grundsätzlich unter ihrer Gewalt verbleibt, ist nicht nur theoretisch aufschlussreich, sondern auch von eminenter Wichtigkeit für das Leben, das ein Individuum zu meistern hat. Hegel dehnt seine Kritik an der prätendierten Freiheit des Individuums auch auf das absolute Ich
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Im Hinblick auf die angemessene Form des Verhältnisses zwischen Individuum und Welt hält Hegel zunächst grundsätzlich im Sinne dessen, was er als Aufgabe der Philosophie definiert, fest, dass „kein entgegengesetztes Verhältniß des Einzelnen zur Natur und zur objectiven Welt möglich“ sei (GW : ). Dass sich das Individuum von der Welt nicht einfach abkehren kann, gilt demnach sowohl für die natürliche als auch die objektive Welt, die für Hegel näher eine sittliche geistigkulturelle Welt ist. Es wird schnell deutlich, dass er der letzteren einen Vorrang einräumt. Die geistig-kulturelle Welt ist in seinen Augen nämlich diejenige Sphäre, in der „die Welt selbst […] die Auflösung des Gegensatzes der Einzelnheit gegen sie“ enthält und die Individuen das angemessene Weltverhältnis schon vorfinden können (GW : ). Im Einzelnen vertritt Hegel die Auffassung, dass in dem Systeme der Gesetze des zweckmäßigen Betragens gegen die Natur, und der Klugheit, alsdenn in dem Systeme der Sitten und dessen, was als gerecht und gut gilt, in dem Ganzen der Wissenschafften und endlich in der Gestaltung der religiösen Anschauung […] die Organisation eines Ganzen und Allgemeinen errichtet [ist], das als allgemeines für sich ist, und wieder, indem es der Geist jedes einzelnen ist, die gefoderte Harmonie vollkommen leistet (GW : ). Hegel gibt hier einen Aufriss des geistphilosophischen Systemteils, der sich von praktischer Klugheit über Sittlichkeit bis zu Wissenschaft und Religion auf sämtliche Bereiche des menschlichen Lebens erstreckt. Die Natur selbst gehört offenkundig nicht in diesen Systemteil. Wenn das System des Geistes aber eine ‚vollkommene Harmonie‘ zwischen Individuum und Welt verbürgen soll, und die Welt, wie Hegel erklärt, nicht nur als eine geistige, auch als eine natürliche zu betrachten ist, muss die Natur vom System des Geistes zumindest indirekt miterfasst sein. Dies ist sie tatsächlich, und zwar in praktischer Hinsicht, insofern das hier geschilderte Geistsystem zwar nicht die Natur als solche, wohl aber das einschließt, was sich im Umgang mit der Natur als zweckmäßig bewährt hat. Indem Menschen sich an Regeln und Verhaltensweisen halten, die sich kulturell herausgebildet haben, stehen ihnen etablierte Praxen zur Verfügung, die einen kulturell vermittelten Umgang mit den Herausforderungen des Lebens ermöglichen, einschließlich denen, die die Natur an sie stellt. Wenn die Menschen ihre Entzweiung von der geistigen Welt der menschlichen Kultur überwinden, können sie mithin zumindest auf eine praktisch-zweckmäßige Weise zugleich den Gegensatz zur Welt der Natur
aus, wie es insbesondere Fichte, aber in einer eigenständigen Variante auch der junge Schelling angenommen haben. Das absolute Ich ist für Hegel lediglich die „Einzelnheit auf das höchste gesteigert“ und vermag deshalb „nicht das Bedürfniß der Philosophie, das aus dem Bewußtseyn der Einzelnheit stammt“, zu befriedigen. Vielmehr verschärfe es nur das Problem und sei „der höchste Ausdruck jener Taüschung“ (GW : ).
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bewältigen. Die Frage, wie Geist und Natur sich nach Hegel zu einander verhalten, ist in Abschnitt IV anhand des zweiten Fragments von noch zu vertiefen. Die zentrale These Hegels, dass das System des Geistes den Gegensatz zwischen Individuum und Welt aufhebt, stützt sich auf die weitreichende Annahme, dass der Geist dieses Systems in Wahrheit auch der Geist des Individuums ist. Hegel betrachtet dies als ein Faktum: „[D]urch die Natur ist das Leben jedes Einzelnen ein Seyn in diesem Allgemeinen, was als Gesetz und Recht aufgestellt ist, ist zugleich Maxime eines jeden, was er will, ist allgemeiner Wille, und seine Einzelnheit ist mit ihr vollkommen eins“ (GW : ). In dieser Einheit von Individuum und Allgemeinem, in der der einzelne Wille ausdrücklich ‚vollkommen eins‘ mit allgemeinen Maximen, Regeln und Gesetzen sein soll, kann am Ende wohl kein großer Spielraum für ein Leben bleiben, in dem Individualität als solche noch eine gehaltvolle Rolle spielt. Angesichts derart starker Formulierungen fällt es schwer, noch einen konkreten Niederschlag der programmatischen Leitidee nachzuweisen, nach der das Endliche im Unendlichen, das Einzelne im Allgemeinen zu begreifen sei, ohne sich darin aufzulösen. In jedem Fall hat Hegel in dem Fragment nichts dazu zu sagen, wodurch Individuen sich innerhalb der Welt des Geistes über ihre Identität mit dem Allgemeinen hinaus noch auszeichnen. Die Form, in der Individualität im engeren Sinn zur Geltung kommt, bleibt in Hegels Schilderung der Konflikt mit dem Allgemeinen, der sich in Spannungen zwischen dem allgemeinen Geist einerseits und den individuellen Erfahrungen und Selbstverständnissen, die Menschen je von sich und der Welt haben, andererseits entlädt. Am Ende des Fragments wird deutlich, dass bereits der Konflikt, den Hegel zu Beginn geschildert hat, auf eben dieses spannungsgeladene Verhältnis zurückzuführen ist. Es ist die Einheit mit dem Allgemeinen des Geistes, aus der das Individuum heraustritt, sobald sein Bewusstsein erwacht. Die Entfremdung vom Allgemeinen ist insofern aufs Engste mit dem, was es im emphatischen Sinn heißt, ein Individuum zu sein, verbunden. Die Sitten, Gesetze und religiösen Überzeugungen, die im System des Geistes liegen, können sich dem zur Eigenständigkeit erwachten Bewusstsein des Menschen darstellen als „etwas zufälliges“, als „Werk einer fremden Willkühr“, als „formlose, blinde Nothwendigkeit“ und als etwas „geschichtliches, das nicht für ihn ist“ (GW : ). Entwickelt das Individuum aufgrund dieser Entfremdung von der Welt eine Gleichgültigkeit gegenüber seiner Stellung in ihr, drohe es „unglücklich“ zu werden, da es dieser Welt gleichwohl ausgeliefert bleibt; beginnt es gar im Sinne seines isolierten Selbstbewusstseins gegen die sittlich-objektive Ordnung der Welt zu opponieren, wird es zum „Verbrecher“ (GW : ). Hegel räumt in dem Fragment auch eine Abhängigkeit des Allgemeinen von den Individuen ein. Grassieren nämlich diese Spannungen in der „grössern Menge des Volkes, welches die lebendige Organisation eines solchen Geistes ist, so sind die Stände und Gesetze, die Sitten und die Religion
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Diese Ausführungen erlauben es, die Frage, was es nach Hegel heißen kann, von der Philosophie leben zu lernen, präziser zu beantworten: Der Standpunkt des Absoluten, den das Individuum beziehen soll, erscheint nun als Standpunkt einer geistig-kulturellen Welt. Wenn Individuen sich fremd in dieser Welt fühlen, beansprucht die Philosophie Hegels überzeugend darlegen zu können, dass sie diese Fremdheit zu Unrecht empfinden und ihr Leben in Wahrheit nicht für sich als Einzelne, sondern in der Einheit mit dem allgemeinen Leben des Geistes führen sollen. Hegels Philosophie darf als der großangelegte Versuch angesehen werden, ein Argument für diese Lehre auszuarbeiten, die bis in die Grundlinien der Philosophie des Rechts hinein virulent bleibt, wo es bekanntlich immer noch heißt: „[D]ie Bestimmung der Individuen ist ein allgemeines Leben zu führen“ (GW ,: §). Es ist zu unterstreichen, dass Hegels Affirmation des Allgemeinen nicht per se im Widerspruch zur lebenspraktischen Relevanz steht, die er reklamiert. Denn wenn es sich verhält, wie er meint, ist es für ein Individuum tatsächlich von eminenter Bedeutung, die Entzweiung von der Welt zu überwinden und sich im Allgemeinen wiederzufinden. Vollzieht es diesen Schritt nämlich nicht, leidet es unter vermeintlicher Fremdbestimmung, führt ein unglückliches Leben und wird womöglich gar zum Verbrecher. Brisant ist indessen die Frage, ob die Befreiung vom Unglück individuellen Lebens nicht neues Leid nach sich zieht – dergestalt, dass das allgemeine Leben um den Preis erkauft werden muss, dass das Individuum von sich als Individuum auf eine Weise abzusehen hat, die es überfordert. Indem Hegel den Individuen beibringen will, dass sie nicht bleiben können, als was sie sich unmittelbar erfahren, hat er sich in jedem Fall ein ehrgeiziges Ziel gesteckt. Man darf skeptisch sein, ob er es vollumfänglich zu erreichen vermag.
IV. Hegels These, dass das Individuum den Gegensatz zur Welt insgesamt dadurch überwinden kann, dass es das allgemeine Leben des Geistes führt, wirft die Frage auf, welche Rolle die Natur als solche noch spielt. Im zweiten Fragment von stellt er vertiefte Überlegungen zum Verhältnis von Geist und Natur an und erklärt unumwunden, dass die Natur eigentlich keine Bedeutung im Leben eines Individuums hat:
dahin, und das Ganze seines Zusammenhalts, seine Verfassung ist verlohren; der Geist des lebendigen Lebens […] muß sich eine neue Gestalt suchen, und eine neue Organisation sich geben“ (GW : ). Es bleibt an dieser Stelle offen, ob ein solcher Zusammenbruch des Gemeinwesens dazu führt, dass nicht nur irgendein neues, sondern auch ein besseres Gemeinwesen entsteht, in dem die Individuen sich eher wiederfinden können.
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[I]n der That kann der einzelne Geist, als Energie des Charakters, fest auf sich halten, und seine Individualität behaupten, die Natur sey was sie wolle […]. Und in der That ist der einzelne nur insoweit groß und frey, als groß seine Naturverachtung ist. (GW : ) Der Vorzug, den Hegel dem Geist gegenüber der Natur zuerkennt, kommt hier überdeutlich zum Ausdruck. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass Hegel keinen kruden Spiritualismus vertritt, in dem er eine Dominanz des Geistes über die Natur einfach postulieren würde. Die Naturverachtung, die er dem geistigen Individuum gestattet, steht keinesfalls auch dem Geist im Allgemeinen zu. Hegel argumentiert, dass ein Geist, der die Natur verachtet, im Gegensatz zur Natur verharrt und allenfalls eine negative Freiheit realisiert. Solange der Geist sich im Gegensatz mit der Natur befindet, ist er für Hegel ausdrücklich „nicht wahrhaffter Geist“ (GW : ), denn die Natur, die er verachtet, besteht gleichsam als Natur neben ihm fort und konfrontiert ihn weiterhin mit ihren fremden Zwängen. Der wahrhafte Geist müsse sich dagegen als „das absolut allgemeine“ beweisen (GW : ), das den Gegensatz zur Natur wirklich überwunden hat. Nur dann ist seine Befreiung für Hegel keine bloß negative, in der der Geist „das leere wird, das die ganze Natur gegen sich hat“, sondern eine „lebendige Befreyung“, in der „er dieses Ganze als ihm selbst gleich setzt“ (GW : ). Die grundlegende Frage, die Hegels Konzeption aufwirft, lautet vor diesem Hintergrund, wie der Geist als absolut allgemeiner den Gegensatz zur Natur genau zu überwinden vermag. Daran schließt sich die weitergehende Frage an, weshalb das Individuum diese Überwindung nicht auch selbst noch einmal zu vollziehen braucht und die Natur in Hegels Augen getrost ignorieren darf. Hegels allgemeine These zu Geist und Natur besagt: „Das Wesen des Geistes ist diß, daß er sich einer Natur entgegengesetzt findet, diesen Gegensatz bekämpft, und als Sieger über die Natur zu sich selbst kommt.“ (GW : ) Festzuhalten ist, dass Hegel als Wesen des Geistes keine einfache Essenz bestimmt, sondern drei Momente anführt. So gehört nicht etwa nur die Überwindung des Gegensatzes, sondern bereits dieser Gegensatz selbst sowie der Kampf mit ihm zum Wesen des Geistes. Hegel vertritt in diesem Zusammenhang die radikale These: „Der Geist ist nicht, oder er ist nicht ein Seyn, sondern ein gewordenseyn“; „[s]ein Wesen ist nicht die Sichselbstgleichheit, sondern sich zu einem sichselbst gleichen zu machen.“ (GW : ). Es verdient Beachtung, dass Hegel ‚Sein‘ groß- und ‚geworden sein‘ kleinschreibt, ‚Sein‘ mithin eindeutig als Substantiv, ‚geworden sein‘ im Kontrast dazu wie ein Verb im Infinitiv Perfekt gebraucht und damit einen abgeschlossenen Prozess andeutet. Der Sache nach konzipiert Hegel den Geist entsprechend nicht als eine Entität, die von vornherein über Sein verfügte und immer schon wäre, was sie ist. Als Gewordener besitzt der Hegel’sche Geist keine gegebene Identität, sondern muss sich in einem Prozess allererst zu dem machen, was er ist. Und er
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macht sich zu dem, was er ist, indem er aus dem konfliktreichen Gegensatz mit der Natur als Sieger hervorgeht. Dass der Geist diesen Sieg tatsächlich davongetragen hat, steht für Hegel außer Frage. Den Sieg über die Natur trägt der Geist davon, indem er, wie Hegel erklärt, „sein Andersseyn, die Natur aufhebt“ (GW : ). Diese Aufhebung gelingt ihm, indem er erkennt, dass die Natur in Wahrheit „nichts anderes ist, als er selbst, gesetzt als ein entgegengesetztes“ (GW : ). Der Geist muss demnach zu der Einsicht gelangen, dass die Natur, die ihm gegenübersteht, in Wahrheit er selbst ist. Hat er sich in der Natur gefunden und die Einsicht erreicht, dass die Natur nichts anderes als er selbst ist, „wird der Geist frey“ und in dieser Freiheit allererst zu dem, was er ist: „Er entreißt sich der Macht der Natur, indem sie aufhört, ein anderes zu seyn als er ist“, und die Notwendigkeit, mit der die Natur ihn konfrontiert, verwandelt sich für ihn in eine „freye[] Nothwendigkeit“ (GW : ). Wie im Verhältnis zur geistigen Welt kommt es mithin auch im Verhältnis zur natürlichen Welt darauf an, dass diese in Wahrheit nichts Fremdes ist. Sie verliert ihre Fremdheit dadurch, dass sie sich als Geist erweist. Wenn Hegel davon spricht, dass die Natur nichts anderes als Geist sei, könnte man zunächst meinen, dass er von vornherein eine ontologische Einheit von Geist und Natur annehmen würde. Die Natur wäre dann ihrem ganzen Sein nach nichts Eigenständiges, sondern an sich oder substantiell Geist. Hegels Ausführungen sprechen jedoch dagegen, dass er diese These vertritt. Deutlich wird dies etwa in der Zurückweisung eines Einwands, den er sich in dem Fragment selbst vorlegt. Der Einwand besagt, dass der Findungsprozess des Geistes in der Natur „als eine Art von Überfluß“ und „nur als eine Bestätigung dessen“ erscheinen könnte, was der Geist ohnehin schon ist, und insofern als „eine Bestätigung, die eben darum unnöthig ist, indem er seiner selbst sicher auf sich beruht“ (GW : ). Diesen Einwand kann Hegel im Verweis auf die Grundbestimmung entkräften, dass der Geist über gar keine Identität verfügt, bevor er nicht den Gegensatz zur Natur überwunden hat. Zudem gehört eben dieser Gegensatz und nicht etwa eine vorgängige, die Natur immer schon umgreifende Einheit nach Hegel zum Wesen selbst des Geistes. Ferner führt Hegel aus, dass für die Überwindung des Gegensatzes nicht allein maßgeblich sei, dass der Geist sich in der Natur finde, sondern dabei vor allem auch „sich selbst ein anderes geworden“, „ganz ausser sich gekommen“ sei (GW : ). Es ist mithin essentiell, dass der Geist eine Entäußerung erlebt – und zwar eine Entäußerung in eben der Natur, der er sich zunächst entgegengesetzt findet. Zu einer solchen Entäußerung kommt es gerade nicht, solange er die Natur nur verachtet, „nur negirt“, aber „sich selbst nicht ein fremdes geworden“ ist, sich nicht „verliert“ (GW : ). Wenn es sich verhält, wie Hegel beschreibt, dann muss es zumindest initial eine gewisse Form von Natur geben, die nicht von vornherein mit
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dem Geist identisch sein kann. In ihr muss er sich verlieren können. Ohne den Verlust in einer solchen Natur kann er nicht sein, denn allein kann er sich nicht finden. Mithin setzt Hegel weder eine ontologische Identität von Natur und Geist voraus, wie Schelling es durchaus variantenreich getan hat, noch nimmt er ein prästabiliertes Geist-Sein der Natur an. Die Rede von einem Sich-Finden, einem Aufheben, einem Kampf und einem Erkennen zeigt an, dass er das Verhältnis des Geistes zur Natur vielmehr als eine Aktivität beschreibt, die vom Geist ausgeht und mit der Natur als einem nicht von vornherein depotenzierten Anderen konfrontiert ist. Auf diese Weise schildert Hegel auch noch in seinen auf der Enzyklopädie basierenden Vorlesungen über die Philosophie der Natur das elementare Verhältnis von Geist und Natur, etwa wenn es in der Nachschrift Griesheim von / heißt: „Der Geist ist nicht im Anfang diese Einheit [mit der Natur; J.S.], sondern er hat sie erst durch seine Thätigkeit hervorgebracht, er ist nur, was er ist, durch die Ueberwindung des Gegensatzes. Nur der Geist ist fähig die Einheit seiner und der Natur zu sein.“ (GW ,: ) Im vorliegenden Fragment beschreibt Hegel die ausschlaggebende Aktivität des Geistes als eine philosophische Erkenntnistätigkeit, die er von der empirischen Erforschung und auch der poetischen Anschauung der Natur abgrenzt (vgl. GW : f.). Das zentrale Merkmal, anhand dessen er seine Naturphilosophie programmatisch auszeichnet, ist die umfassende Erkenntnis des Ganzen der Natur, das „allein in der Philosophie auszusprechen und darzustellen“ sei, da nur sie die „Natur als Leben in ihrem ganzen Reichthum“ thematisiere (GW : ). In dieser holistischen Form der Naturerkenntnis kommt es dazu, dass der Geist „in seinem ganzen Inhalte ein anders“ wird (GW : ). Insofern das Anders-Werden und Sich-Finden des Geistes in einer restlosen Erkenntnis der Natur geschieht, verwandelt er sich nicht etwa in einer ontologischen Transmutation in die Natur, sondern er ‚vergeistigt‘ die Natur dadurch, dass er sie auf Begriffe und Theorien bringt und dadurch erkennend bewältigt. Ist die Natur vollständig erkannt und auf Begriffe gebracht, bleiben keine Bestimmungen in ihr zurück, die nicht vom Geist erfasst wären. Umgekehrt findet der Geist, was er über die Natur als Erkenntnis besitzt, auch vollständig in ihr realisiert. Dabei hört die Natur nicht
In diesem Sinn interpretiert auch Arndt (, f.) die einschlägigen Passagen des Fragments: „Die Natur, so ist festzuhalten, ist konstitutiv für das Werden des Geistes. Ohne Naturverhältnis kein Geist.“ Schon in den Ideen zu einer Philosophie der Natur spricht Schelling von „der absoluten Identität des Geistes in uns und der Natur außer uns“ (AA I,: ). In der Würzburger Identitätsphilosophie von erklärt er exemplarisch für seinen Ansatz zu der Zeit, dass „[d]as reale und das ideale All“, also Natur und Geist, „nur ein und dasselbe All“ bzw. „beide, das reale und das ideale All nur eine und dieselbe Substanz, nämlich Gott“ seien (SW VI: ). Eine weitere Form, der Hegel sich an anderen Stellen zuwendet, ist die Arbeit (vgl. hierzu Arndt , ff.).
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etwa gänzlich auf zu sein, sondern sie wird nur insofern Geist, als sie vollständig auf den Begriff gebracht und erfasst worden ist. Es liegt auf der Hand, dass kein Individuum unmittelbar zu einer solch umfassenden Naturerkenntnis befähigt ist. Wenn es sie gibt, wovon Hegel überzeugt ist, kann sie nur in einer Gesellschaft mit einer ausdifferenzierten Wissenschaftskultur erreicht werden, mithin in einer solchen allgemeinen geistigen Welt, wie sie von Hegel beschrieben wird und sie sich in seiner Systemphilosophie reflektiert. Der zweite, naturphilosophische Teil dieses Systems ist genau der Ort, der die von Hegel projektierte Gesamtschau der Natur leisten soll. In Bezug auf „das erkennende Individuum“ merkt er an, dass es in die umfassende Erkenntnis der Natur involviert ist, indem es „den Geist in seinem Andersseyn als ein Ganzes“ und dabei zugleich auch „jede seiner Bestimmtheiten, als ein ausser sich“ anschaut (GW : ). Damit kann Hegel nur meinen, dass Individuen zwar nicht für sich alleine, aber durchaus insofern, als sie am allgemeinen Leben des Geistes teilhaben, auch an der umfassenden Erkenntnis der Natur partizipieren. Mehr noch als der zweckmäßige Umgang mit der Natur, von dem im letzten Abschnitt die Rede war, steht ihnen auch ein gesellschaftlich vermitteltes Wissen über die Natur zur Verfügung, das sie alleine niemals zu erreichen vermöchten. Die Pointe ist, dass das Individuum sich nach Hegel in genau dem Maße nicht selbst um die Natur zu kümmern braucht, in dem es teil am allgemeinen Leben des Geistes nimmt. Es kann sich pragmatisch darauf verlassen, dass die Natur bereits innerhalb der Kultur geistig bewältigt wurde, zu der es gehört. Als Teil einer allgemeinen geistigen Welt sieht sich das Individuum keiner unberührten, reinen Natur gegenüber, sondern vielmehr einer Umwelt, die immer schon begrifflich erfasst und geformt ist. Die lebenspraktische Relevanz dieser Position liegt darin, dass Individuen sich anhand des Wissens über die Natur, das in ihrer Gesellschaft hervorgebracht und kultiviert wird, natürliche Phänomene und Ereignisse verständlich machen, denen sie ausgesetzt sind. Das Wissen um das Klima und seine tiefgreifenden Veränderungen ist ein aktuelles Beispiel, das heute durchaus in diesem Sinn einen Einfluss auf das Leben vieler Menschen hat. Ein anderes und zeitloses Beispiel ist ein körperliches Leiden, das Individuen im Sinne der Hegel’schen Position nicht einfach als opakes Schicksal zu ertragen haben, sondern nach der Konsultation eines Arztes wissend einordnen und praktisch behandeln können. Entscheidend ist, dass Hegels Position nicht ausschließt, dass Ereignisse wie Krankheiten oder Naturkatastrophen die Menschen heimsuchen. Da die Natur nicht aufgehört hat zu sein, kann der Geist dies nicht verhindern. Der Die Nachschrift Uexküll von / stellt dies so dar: „Das Innere der Natur ist nämlich in der That nichts als das Allgemeine. […] Eben das Allgemeine aber ist unser eigenes Element, das Allgemeine sind Gedanken. […] Indem nun so das Allgemeine das Innere der Natur ist, so sind wir in diesem Innern beim Gedanken, bei uns selbst.“ (GW ,: f.).
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allgemeine Geist ermöglicht aber einen durch umfassendes Wissen vermittelten, bewussten und vernünftigen Umgang mit der Natur. Wer natürliche Ereignisse durchschaut und begreift, kann ihnen zwar nicht die Notwendigkeit nehmen, mit der die Natur uns konfrontiert, sich durchaus aber in ein freieres Verhältnis zu ihr setzen. Wenn leben lernen in dieser Perspektive also heißt, im Vertrauen auf gesellschaftlich gewonnene Erkenntnisse mit natürlichen Widerfahrnissen umgehen lernen, geht damit zweifellos ein hohes Maß an lebenspraktischer Relevanz einher. Eine unhintergehbare lebensweltliche Dimension bleibt dabei gleichwohl noch ganz unberührt: die Perspektive der ersten Person, des Individuums als Individuum. Ein natürliches Ereignis wie eine Krankheit vernünftig einzuschätzen und zu behandeln wissen, ist offenkundig etwas anderes als sie in ihren konkreten Qualitäten zu erleben. Letzteres markiert eine Grenze des Hegel’schen Ansatzes, der dazu wenig bis nichts zu sagen hat. Dies kann nicht als äußerlicher Einwand abgetan werden, denn in der Sphäre konkreten Erlebens wird auf die Probe gestellt, was Hegel dem Individuum so freimütig erlaubt: die Natur zu verachten und ganz auf das Allgemeine des Geistes zu vertrauen. Ob es dieser Verachtung fähig ist, hängt nicht daran, was das Individuum über die Natur weiß, sondern wie es sich jeweils anfühlt, von ihr betroffen zu sein. Das konkrete ‚Wer‘ eines solchen Erlebens scheint in Hegels Denken keinen Ort zu haben.
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Darin kann man ein Echo der nezessitaristischen Ethik Spinozas sehen, der in p der Ethica erklärt: „Insofern der Geist einsieht, daß alle Dinge notwendig sind, hat er eine größere Macht über seine Affekte, anders formuliert, erleidet er weniger von ihnen.“
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Luca Corti HEGELS ANTHROPOLOGIE IM KONTEXT
Einleitung Wie Hegel selber wusste, ist seine Anthropologie sowohl aus historischen als auch systematischen Gründen ein überaus reicher und zugleich äußerst schwieriger Teil seines Systems. Inhaltlich behandelt Hegel eine Vielzahl an Themen und erforscht ein umfangreiches Feld, in dem es nicht immer einfach ist, den roten Faden zu finden. Und auch schon die Entstehungsgeschichte des Textes gibt ein Rätsel auf. Mit Franco Chiereghin gesprochen, scheint er „fast aus dem Nichts entsprungen, im Unterschied zu den reichen Weiterverarbeitungen aller anderen Teile des Systems zwischen und “. Darüber hinaus bereitet auch die Frage nach seiner Stellung im System und seiner Methode einiges Kopfzerbrechen. In der früheren Auseinandersetzung mit Hegel waren diese Umstände für eine vertiefende Auseinandersetzung mit der Anthropologie hinderlich. Jedoch spielt sie nach Hegels eigener Aussage eine zentrale Rolle. Die Gewichtung der Textlage bestätigt dieses Urteil: Hegel widmete der Anthropologie zwei Drittel seiner Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes und die Texte zeigen die Mühe, die sich Hegel gibt, um seine Anthropologie auszubuchstabieren. Auch ihre Stellung im System macht die Anthropologie besonders relevant, da sie die Frage nach dem „Geist in seinem natürlichen Sein“ (GW ,: ) „[D]er Geist liegt uns näher“ – sagt Hegel ganz am Anfang seiner Vorlesungen von –, „denn wir sind es selbst, worin wir sind“ (GW ,: ). Zugleich aber warnt er in der Enzyklopädie, dass die Erkenntnis des Geistes die „höchste und schwerste“ sei (GW : § ). Zur Entstehungsgeschichte des Texts vgl. die Erläuterungen von Bauer im Anhang von GW , sowie Rameil (), Chiereghin (a; b), Jaeschke (, ff.), Fetscher (), Wolff (, ff.), Hespe/Tuschling (). Für weitere Gründe, die die „geringe Aufmerksamkeit“ für die Anthropologie erklären sollen, vgl. Wiehl (, ff.). Odo Marquards Bemerkung, dass bei Hegel eine Degradierung der Anthropologie stattfinde, hat eine zentrale Rolle gespielt. Zur Problematisierung von Marquards These vgl. Bauer () und Martinelli (). In seinen und gehaltenen Vorlesungen über den subjektiven Geist hat Hegel den ersten Paragraphen zu Beginn der Philosophie des Geistes immerhin doppelt so viel Zeit eingeräumt (zwischen % und %) wie den verbleibenden , da sie die Grundlage der gesamten Vorlesung ausmachten (vgl. GW : ; sowie GW ,: Anhang). Es ist also unzweifelhaft, dass er dieses Feld für bedeutsam hielt. Allerdings kommt es in den Vorlesungen von / wieder zu einem Gleichgewicht. Hegel-Studien Beiheft · © Felix Meiner Verlag · ISSN -
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adressiert. An diesem Ort kann unter anderem eine Einsicht in die vieldebattierte Frage des sogenannten ‚Hegel’schen Naturalismus‘ gewonnen werden. Denn die anthropologische Bestimmung endlicher Subjektivität artikuliert sich nach Hegel genau an dieser Schwelle von Natur und Geist. Dabei bleibt sie im Fortgang als Basis der höheren Dimensionen des Geistes bestehen und ist somit zentral für deren Verständnis. Wie Birgit Sandkaulen treffend feststellt, verleiht dies der Hegel’schen Anthropologie ihre „systematisch attraktive[n] und provokative[n] Potentiale“ (Sandkaulen , ). Grundlage für das Verständnis solcher Potentiale hinsichtlich der oben genannten Debatten ist aber, den allgemeinen methodischen Ansatz Hegels zu klären, der uns „gleichsam die Naturgeschichte des Geistes“ (GW ,: f.) bietet. Das ist, was ich in diesem Aufsatz leisten möchte. Eine bisher wenig erforschte Perspektive für diesen Zweck besteht darin, sich dem historischen Kontext zu widmen. Diesbezüglich kann daran erinnert werden, dass Hegel seine Ideen in einer Zeit entwickelte, die vom Phänomen der sogenannte ‚Anthropologischen Wende‘ geprägt war. Diese Bezeichnung bezieht sich auf den riesigen und beispiellosen Zuwachs, den der Begriff ‚Anthropologie‘ in der wissenschaftlicher Debatte der Epoche erlebt – ein Prozess, der schon in der Spätaufklärung begonnen hatte und sich um zuspitzte. Diese Wende hat eine massive Tragweite und umfasst eine Vielzahl verschiedener Ansätze, die die Frage des Menschen neu diskutieren und beantworten wollten. Von den neuen empirischen Entdeckungen und andere Faktoren genährt (wie etwa die Reiseberichte von Expeditionen), geriet das tradierte Bild vom Menschen allmählich ins Wanken: eine Wende, deren Wirkung bis in die Literatur und Ästhetik reichte. Zu Wortführern der Anthropologie werden die ‚philosophischen Ärzte‘ (medecins-philosophes), die hier ihre eigentliche Domäne entdecken. Mit ihnen verbünden sich Philosophen (insbesondere ‚Philosophen für die Welt‘), Psychologen, Theoretiker der Ästhetik, Ethnologen, Pädagogen, Theologen, Physiognomisten und nicht zuletzt die Literaten, in Theorie und poetischer Praxis. Kaum ein Autor, der nicht an dieser Bewegung teilhat. Nicht wenige sind bedeutende Anreger der Anthropologie. (Schings , ) Das Phänomen der ‚Anthropologischen Wende‘ wurde in den letzten Jahren deutlich in den Vordergrund der anthropologiegeschichtlichen Forschung gehoben und intensiv untersucht, besonders im Feld der Literaturwissenschaften und Zur Bedeutung der anthropologischen Begriffe für die Gestaltung der Hegel’schen Ästhetik, besonders den Begriff ‚Schönheit‘, vgl. Peters (, Kap. I); bezüglich der anthropologischen Wurzel des Begriffes des Komischen vgl. Hebing (, Kap. V). Für die Grundlagen der Normativität des Geistes in der Anthropologie – besonders durch Gewohnheit – vgl. Khurana ().
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seit jüngerer Zeit auch aus philosophischer Perspektive. Die Auseinandersetzung mit dieser Wende beschränkt sich hier jedoch auf einige wenige Autoren der klassischen deutschen Philosophie, wobei sich kaum etwas zur Bedeutung für Hegel finden lässt. Daher werde ich versuchen, an bisherige Studien zu eben dieser Wende anzuknüpfen, um den Hegel’schen Ansatz zu erhellen. Hegels Texte und Vorlesungen sowie seine Bibliothek zeigen deutlich, dass er zum Teil sehr detaillierte Kenntnisse von den vielfältigen Hauptdebatten der anthropologischen Diskussion hatte – sowohl von der physiologisch und ethnologisch orientierten Anthropologie, als auch von der ärztlichen und literarischen Anthropologie. Im Folgenden werde ich versuchen, seine Stellung zu manchen relevanten Ansätzen in dieser Diskussionslandschaft zu rekonstruieren, besonders bezüglich der Methodenfrage und der Implikationen für die Frage nach dem Hegel’schen Naturalismus. Schlusswort für die Epoche ist bekanntlich die „Empirisierung der Anthropologie“, aber auch die „Rehabilitation der Sinnlichkeit“ und „Naturalisierung der Menschen“. Hegels eigenes Verständnis von Anthropologie kann daher wichtige Erkenntnisse bieten, um näheres über seine Stellung zum Projekt der Naturalisierung menschlicher Subjektivität herauszufinden. Ich werde versuchen, den relevanten Kontext in drei Schritten zu umreißen. Als Einstieg werde ich zunächst kurz Hegels Verhältnis zu Kants Begriff der Seele betrachten. Kant gilt oft als paradigmatischer Denker eines anti-naturalistischen Projekts, das, aufgrund des transzendentalen Ansatzes, jede empirische Betrachtung menschlicher Subjektivität für „subtile und in meinen Augen auf ewig vergebliche Untersuchung über die Art wie die Organe des Körpers mit den Gedanken in Verbindung stehen“ (AA X: ), hält. Gleichzeitig gilt Kant als derjenige, der der rationalen Psychologie ein Ende bereitet hat. Wie von Birgit Sandkaulen gezeigt wurde, ist Hegel mit Kants Urteil über die rationale Psychologie einverstanden, nicht aber mit der Methode, die zu diesem Urteil führt. Durch seine besondere (und selbstverständlich nicht neutrale) Lektüre von Kant eröffnet Hegel sich den Raum, einen anderen Weg zu beschreiten. Daher
Es existiert eine kaum überschaubare Anzahl von Studien zu verschiedenen Aspekten der ‚Anthropologischen Wende‘. Siehe insbesondere Schings (), Linden (), Riedel (, ,), Košenina (), Eckardt et. al. (), Beetz et. al. (), Garber/Thoma (), Mann/ Dumont (), Bergengruen et al. (), Regenspurger/van Zantwijk (), Nowitzki (), Marquard (; ), Vermeulen (), Gaukroger (), Martinelli (), Gingrich (), Riedel (), van Hoorn (), Faull (). Die geschichtsphilosophische Forschung ist meistens auf Herder und seine ‚Rehabilitierung‘ als Großvater moderner Anthropologie fokussiert. Siehe dazu Zammito (), Zammito et al. (), Heise (), Forster (), DeSousa/Waldow (). Bezüglich der romantischen Anthropologie vgl. Engel (, ), Richards (), Wellmon (), Schings (, ); für das Projekt der „naturalisation of the human“, vgl. Gaukroger ().
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kann die Frage gestellt werden, wie es mit Hegels Verhältnis zu naturalistischen Projekten der Anthropologie seiner Zeit steht. Im zweiten Teil des Aufsatzes werde ich die Frage mit Rücksicht auf die anthropologischen Ansätze Platners und Herders beleuchten. Beide gelten traditionell als entgegensetze Alternativen zu Kant (teils wegen Kants eigener Rezensionen) und wurden vor kurzem als solche in der gegenwärtigen Debatte wiederaufgenommen und neu verteidigt. Besonders in Fall Herders hat die Forschung die übliche Ansicht widerlegt, seine Einsichten wären bloß als eine schlechte Lektüre Kants zu beurteilen. Stattdessen wurden sie aus einer modernen naturalistischen Betrachtungsweise rehabilitiert. Ich werde beide Projekte kurz vorstellen, um Hegels Position zu rekonstruieren. Hegels Projekt einer Thematisierung menschlicher Subjektivität bedient sich eines großen Materialreichtums, welcher der empirischen Forschung zwischen dem . und . Jahrhundert entstammt. Mit besonderer Rücksicht auf Hegels methodologische Aussagen wird sich aber zeigen, dass er sich – obwohl er auf solche Projekte zurückgreift und sich einer Reihe von Einsichten und Beispielen bedient – nicht nur gegen naturalistische Anthropologien im Sinne Platners und Herders wendet, sondern auch gegen andere, teilweise weniger physiologisch ausgerichtete Spielarten empirischer Psychologie oder Anthropologie, wie sie von Philosophen wie Schmid und Eschenmeyer praktiziert wurden. Abschließend werde ich versuchen zu zeigen, dass solches Material bei Hegel eine andere Rolle spielt, insofern Hegels Projekt noch auf gewisse Weise an der notwendigen Bedingung einer in der Welt verkörperten endlichen Geistigkeit interessiert ist. Das Projekt zieht bekanntlich die natürlichen Komponenten der Subjektivität in Betracht, nimmt aber solche Inhalte nicht direkt aus den Naturwissenschaften, sondern leitet sie in einer von begrifflicher Notwendigkeit charakterisierten Entwicklung des Geistes ab. Um ein solches Modell der progressiven Betrachtung verschiedener geistiger Tätigkeiten zu erläutern, kann man die Beziehung zu einer anderen Tradition herstellen, die in Hegels Bibliothek vorhanden war und auf die er auch in seinen Vorlesungen Bezug nimmt. Ich werde mich dabei auf Charles Bonnets Essai analytique sur les facultés de l’âme () beschränken, der ins Deutsche übersetzt wurde. Eine kurze Betrachtung von Hegels Auslegung dieser Tradition – aus welcher auch Condillacs Traité des Sensations () stammt – und ein Vergleich des Hegel’schen methodischen Vorgehens mit dem von Bonnet, kann abschließend einige Aspekte klarer machen.
Zur Herder-Renaissance vgl. Zammito et al. (), Zammito (), Forster ().
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II. Hegel und Kant über die Seele Hegels Anthropologie hat in Kants berühmter Analyse des Seelenbegriffs einen festen Bezugspunkt. Hegels Auseinandersetzung mit Kants Behandlung der Seele findet in verschiedenen Werken statt, besonders im enzyklopädischen „Vorbegriff“ und in der Wissenschaft der Logik. Hegel scheint bekanntlich Kants Verdikt über den der rationalen Psychologie zugrundeliegenden metaphysischen Begriff der Seele zuzustimmen: Daß Kant durch seine Polemik gegen die alte Metaphysik jene Prädikate von der Seele und vom Geist entfernt hat, ist als ein großes Resultat zu betrachten (TWA : Zus. zu §, ) Gleich danach fügt Hegel jedoch hinzu: „aber das ‚Warum‘ ist bei ihm ganz verfehlt“ (TWA : Zus. zu §, ). Die Rekonstruktion von Birgit Sandkaulen () zeigt, dass die prima facie bestehende Nähe zwischen den zwei Denkern einen tiefen und grundsätzlichen Abstand verdeckt. Sowohl im „Vorbegriff“ als auch besonders in der Wissenschaft der Logik richtet sich Hegels Kritik gegen die Konzeption des ‚Ich denke‘, von welchem das kantische Paralogismuskapitel ausgeht. Hegel meint, dass die kantische Methode eine Methode der Abstraktion wäre, welche in der unbestimmten Idee des ‚Ich denke‘ kulminiert. Nach Hegel geht Kant dabei von einer empirischen Vorstellung des Ichs aus, die er mittels einer Methode der Abstraktion von sämtlichem Inhalt entkleidet, so dass nur eine leere Vorstellung übrig bleibt. Von kantischer Seite wäre gegen diese Rekonstruktion einzuwenden, dass Hegel das Argument verfehlt, indem er Kants Ich-Begriff empirisch versteht und die transzendentale Methode als bloße Abstraktionsmethode missdeutet, in dem manche Merkmale einer bestimmten Vorstellung einfach beseitigt werden. Diese Missdeutung eröffnet aber den Raum für Hegels eigenes Projekt. In den Worten Sandkaulens: „Die Kritik der kantischen Paralogismus-Kritik, so hat sich gezeigt, eröffnet Hegel zufolge eine neue Sicht auf die Seele und somit auf den Geist im Ganzen.“ (Sandkaulen , ) Der Zugang zum ‚Ich-denke‘ oder vielmehr zum Begreifen endlicher Subjektivität kann nicht durch eine Abstraktionsmethode – wie sie Hegel Kant attestiert – gesichert werden, sondern vielmehr nur durch ein alternatives Denkverfahren, welches sich ausgehend von der Wissenschaft der Logik in der Philosophie des subjektiven Geistes entfaltet. Lassen wir also beiseite, ob die Hegel’sche Kritik Kant trifft oder nicht, und konzentrieren uns auf die Frage der Methode. Denn diese ist auch abgesehen von der Frage nach der Korrektheit der Hegel’schen Kritik von großer Wichtigkeit. Diese Fragegestellung scheint außerdem auch hinsichtlich eines anderen Zusammenhangs interessant zu sein. Kants Konzept des ‚Ich denke‘ (und der damit
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verbundene Paralogismus) begründet bekanntlich nicht nur Kants Kritik der Pneumatologie, sondern auch die kantische Zurückweisung empiristischer Versuche eines Zugangs zum Ich. Es motiviert Kants Skepsis gegenüber dem Projekt der philosophischen Ärzte und anderer Anthropologen, das Problem des commercium von Seele und Körper naturalistisch zu lösen. Genau das Paralogismus-Argument begründete – wie Reinhardt Brandt behauptet hat – die progressive Entfernung der kantischen Anthropologie von der empirischen Psychologie (die noch zentral in den ersten Vorlesungen zur Anthropologie war) und seine Herausarbeitung des Programmes einer pragmatischen Anthropologie. Für Kant kann die Wirkung des Physischen und des Physiologischen auf das Entstehen von Geist nicht weiter bestimmt werden. In dieser Hinsicht bleibt Kant agnostisch und skeptisch gegenüber Versuchen, diese Beziehung zu erforschen, wie etwa durch Platner und Bonnet. Schon in einer Marginalie zu der Nachschrift der Anthropologie von Philippi (/) liest man: Der Übergang der körperlichen Bewegung bis zur geistigen läßt sich nicht weiter erklären, folglich Bonnet und verschiedene andre irren sehr, wenn sie vom Gehirn auf die Seele, mit Sicherheit glauben schließen zu können. Das antizipiert Kants berühmte Stellung gegen Platner in seinem Brief an Herz (AA X: ). In Bezug auf Hegel liegt damit die Fragestellung vor: Wird Hegel, nun da er – auch durch seine Kritik an Kants Paralogismus – ein anderes Projekt eröffnet, das sich des Begriffs der Seele bedient und dabei bewusst auf eine andere methodologische Basis stellt, auch Kants transzendentale und nicht-naturalistische Einstellung zurückweisen? Eröffnet sich die Möglichkeit für Hegel, eine Art Naturalismus zu verfolgen? Und wenn ja, welcher Art?
II. Hegel und die Empirisierung der Anthropologie Das Phänomen einer maßgeblichen Zunahme des Interesses am Menschen und die Verbreitung des Begriffs ‚Anthropologie‘ zwischen dem . und . Jahrhundert wurde mit verschiedenen Namen bezeichnet, meist wird es als ‚Anthropologische Wende‘ oder „Rise of Anthropology“ (Zammito , ) bezeichnet. Dass der Mensch ins Zentrum eines neuen wissenschaftlichen Fokus rückt, hat in der Früh- und Spätaufklärung seinen Ursprung und wurde von den neuen Vgl. Brandt (, ). Über Kants Stellung zur empirischen Psychologie vgl. auch Hatfield (). Zit. n. Brand (, ). Brandt bemerkt: „Kant hält am Agnostizismus im Hinblick auf die Zuordnung physischer und psychischer Vorgänge fest (vgl. auch die Vorrede der publizierten Anthropologie, VII , und die Antwort an Samuel Thomas Sömmering vom . August , XII – )“ (Brand , Fn. ).
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wissenschaftlichen Ergebnissen der Medizin und Physiologie sowie von den neuen geographischen und ethnographischen Entdeckungen und anderen Faktoren bedingt, die das vorherige Standardbild des Menschen als untauglich erwiesen. ‚Anthropologie‘ wurde allmählich zum Schlagwort der wissenschaftlichen Diskussion, und diese Tendenz zeigt sich besonders nachdrücklich zu Beginn des . Jahrhunderts. Obwohl die wissenschaftliche Debatte darüber, wann genau die ‚Anthropologische Wende‘ stattgefunden hat, noch offen ist, ist zumindest die Tragweite dieser Wende unverkennbar. Zwischen und wurden in deutschsprachigen Ländern Zeitschriften und „zumindest Bücher veröffentlicht, die im Titel die Worte Anthropologie, Menschenkunde, oder gleichbedeutende enthalten“ (Vermeulen , , ; meine Übersetzung). Im Vergleich zu den vorhergehenden Jahren nahm die Anzahl von Büchern mit dem Wort ‚Anthropologie‘ im Titel um das hundertfache zu. ‚Anthropologie‘ war dabei ein Name für verschiedene und teilweise widersprüchliche Ansätze. Wie schon oben erwähnt, beseelte die Vielfalt von Forschungsansätzen, die sich ‚Anthropologie‘ nannten, eine lebendige Debatte. Außer Kants pragmatischem Verständnis der Disziplin (die man mit anderen Ansätzen zusammenstellen könnte, die die Anthropologie als praktische Welt- und Menschenkenntnis verstanden), spielte die von Medizinern praktizierte Anthropologie eine zentrale Rolle, dessen zentraler Akteur Ernst Platner war. Darüber hinaus wurden neue physiologische Entdeckungen (etwa von Albrecht von Haller), die Darstellung und Erforschung von bedeutenden Einzelfällen und Krankheiten (etwa Karl Philipp Moritz’ Erfahrungsseelenkunde) sowie die von Blumenbach angefachte Diskussion zur Rassenkunde unter dem Namen ‚Anthropologie‘ diskutiert. Darüber hinaus war die Debatte für die Felder der Literatur (die sogenannte ‚literarische Anthropologie‘) und der Ästhetik offen (vgl. Košenina ). Enlightenment anthropology was not a ‚unified science of man‘, such as the Boasians developed in the early twentieth century. Instead, the word ‚anthropology‘ was polyvalent and was used for diverse approache Medical, physical (or biological), theological, and philosophical approaches developed parallel to each other, often without mutual influence. Anthropology in the eighteenth century was a multifaceted field dealing with humankind; its diversity of peoples, nations, and races; and its ethnic, moral (social), and physical (racial) characteristic The study of human varieties and races, of the differences between humans and Zu den verschiedenen Anlassfaktoren der anthropologischen Wende vgl. Schings (), Košenina (); zur Entwicklung des Begriffes ‚Anthropologie‘ vgl. Marquard (; ), Linden (), Martinelli (). Zum Vorschlag einer Vordatierung der anthropologische Wende in der Frühaufklärung vgl. Zelle (, – ) und die darauf folgende Debatte. Für eine Übersicht vgl. van Hoorn (, ).
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apes, was in flux and crystallized in a number of directions. (Vermeulen , ) Verschiedene Klassifikationsschemata dieser Landschaft sind bereits entwickelt worden. Für uns ist eine solche Systematik jedoch nicht von weiterem Interesse, sondern vielmehr soll der Fokus auf den Impuls zur sogenannten ‚Empirisierung der Anthropologie‘ sowie die zugrundeliegende naturalistische Einstellung und Methode gelegt werden. Ernst Platners Position ist eines der berühmtesten und einflussreichsten Beispiele aus dieser Debatte und soll daher im Folgenden kurz in seinen Kernthesen zusammengefasst werden. Platners programmatische Definition von Anthropologie ist berühmt: „Endlich kann man Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zusammen betrachten, und das ist es, was ich Anthropologie nenne“ (Platner [] , XIV). Interessanter ist aber der grundlegende Forschungsansatz, den Platner in der Einleitung seiner Werke darstellt. Inspiriert von der Ergebnissen physiologischer Forschungen (vor allem von Haller), stellt Platner im Vorwort und den einleitenden Paragraphen seiner Anthropologie für Ärzte und Weltweise eine naturalistische Methode zur Untersuchung des menschlichen Geistes vor. Auf überraschende Weise ist sich Platner hier mit Kant darüber einig, dass kein endgültiges Ergebnis über das Körper-Seele-Problem zu erreichen ist: Denn ich bin überzeugt, daß alle Untersuchungen über die Natur der geistigen und materiellen Substanzen, und über die Gemeinschaft beyder Arten, niemals zu einem festen Lehrgebäude geraten werden. (Platner [] , XIV) Diese Feststellung stellt für Platner jedoch keineswegs einen Grund dafür dar, ein solches Unterfangen aufzugeben. Er verteidigt die Möglichkeit, auf Basis von Beobachtung und Sammlung der relevanten Fakten einige Thesen auszuformulieren, die einen gewissen, obwohl beschränkten, aber immerhin pragmatischen Wahrheitsgehalt haben. Empirischer Zugang ist das einzige Mittel, um eine Untersuchung des Geistes durchzuführen („das Wesen der Seele lässt sich nicht aus der Vernunft, sondern einzig und allein aus der Erfahrung erkennen“), wobei Platner ein fallibilistisches Verständnis der daraus gezogenen Einsichten hat.
Je nachdem ob der Fokus auf den Menschen als Gattungswesen oder Individuum gelegt wird, ändert sich die Systematik; ein anderes Klassifikationskriterium betrifft den Fokus auf den Körper allein, die Gemeinschaft von Körper und Seele oder die Seele allein (vgl. van Hoorn ). Ein ‚Held‘ für diese Generation von philosophischen Ärtzen (vgl. Zammito , ff.). Platner [] , §: „Die einzigen Mittel der Erfahrung sind ) das eigene Selbsgefühl ) das richtige Zeugnis anderer von ihrem Selbstgefühl, ) die Beobachgung des Körpers in Absicht auf den Beytrag den er der Seele leistet, und die Hindernisse die er ihr in der Äußerung ihrer Kräfte entgegensetzt“.
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Aus dieser Voraussetzungen folgt, dass es Platner zufolge in der Anthropologie „mehr [um] Fakten als Spekulationen“ (Platner [] , XVIII) geht. Darum ist seine Anthropologie ausdrücklich „mehr historisch als spekulativ“ (Platner [] , XXVI), d. h. mehr beobachtend und sammelnd als systematisierend – und deshalb in „aphoristischer Schreibart“ (Platner [] , XVIII) verfasst. Platner führt ein naturalistisches Programm durch, das auf klaren Erfahrungen beruht und versucht, geistige Ereignisse mit körperlichen Zusammenhängen zu korrelieren. Eine naturalistische und empirisch orientierte Einstellung, die sich auf Fakten beruft, war keine Ausnahme in der Debatte und kann ebenso bei vielen anderen anthropologischen Autoren gefunden werden, die Hegel kannte. Diese Einstellung prägte bekanntlich nicht nur Karl Philipp Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, das unter dem Motto „Fakta, und kein moralisches Geschwätz“ stand, sondern lag auch Herders Programm zugrunde. Für Herder galt der Spruch „nicht Vernünfteln, sondern Sammeln“ nicht nur für seine Ästhetik, sondern auch für das, was er „menschliche Philosophie“ nannte (vgl. Adler , ). Besonders in dem Aufsatz „Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele“ führt diese methodische Einstellung zu einer Art reduktionistischem Bild, das von Hallers neuen physiologischen Entdeckungen motiviert ist. Herder lobt Haller für die Entdeckung der physiologischen Basis geistiger Verfahren, wie etwa der Empfindung. Nach dem Herder’schen Paradigma „ist keine Psychologie, die nicht in Jedem Schritte Bestimmte Physiologie sei, möglich“ (SWS : ). Eine Analyse von der Seele muss daher „Hallers physiologisches Werk zur Psychologie erh[e] ben“ (SWS : ). Wenn auch nicht immer so reduktionistisch geprägt, verteidigt Herder der Forschungsliteratur zufolge auch in anderen Teilen seiner Werke eine stark naturalistische Einstellung (vgl. Zuckert ). Formen des anthropologischen Naturalismus im Sinne einer Aufnahme von aus den Naturwissenschaften herkommenden Theorien, zusammen mit einer (für uns besonders wichtigen) methodischen Einstellung, die auf Beobachtung und Erfahrung beruht, fanden in dieser Zeit viele Fürsprecher. Auch die empirische Psychologie im Anschluss an Baumgarten und Kant – wie sie z. B. von Carl Christian Erhard Schmid praktiziert und systematisiert wurde – legte ein zentrales Augenmerk auf empirische Beobachtung und Erfahrung. In seiner einflussreichen Empirischen Psychologie von vertritt Schmid (einer der ersten Jenaer Kantianer) einige Kerneinsichten der Transzendentalphilosophie. Er versucht aber, diese zu erweitern und mit naturalistischen Aussagen zu kombi „Tiefer können wir wohl die Empfindung in ihrem Werden nicht hinabbegleiten als zu dem sonderbaren Phänomenon, das Haller ‚Reiz‘ genannt hat. Das gereizte Fäserchen zieht sich zusammen und breitet sich wieder aus; vielleicht ein stamen, das erste glimmende Fünklein zur Empfindung, zu dem sich die todte Materie durch viele Gänge und Stufen des Mechanismus und der Organisation hinaufgeläutert“ (SWS : ).
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nieren, die aus einer spezifisch auf Beobachtung begründeten Methode stammen. Genau diese naturalistische Betonung empirischer Beobachtung verursachte einen Streit mit Fichte, der einer solchen Beobachtung keinen Raum ließ.
III. Hegels anthropologischer Ansatz Hegels Anthropologie zeigt eine umfassende Kenntnis der anthropologischen Debatte seiner Zeit. Obwohl Hegel bekanntlich die Autorität über psychologische Fragen ausschließlich Aristoteles zuspricht – und obwohl es eine große thematische Schnittmenge mit Aristoteles gibt –, weist der Hegel’sche Text zahlreiche Inhalte, Themen und Diskussionen auf, die spezifisch für die anthropologische Debatte seiner Zeit waren. Sowohl die Enzyklopädie als auch die Vorlesungen über den subjektiven Geist zeigen eine tiefe und manchmal fachlich-spezifische Kenntnis der wissenschaftlichen Theorien und meistdiskutierten Themen der Anthropologie seiner Zeit. Nicht nur generelle Theorien, sondern Erwähnungen von Einzelfällen finden in der Anthropologie mehr als in anderen Systemteilen ihren Platz. Hegels Bibliothek, die die Texte von Platner, Herder und vieler anderer Autoren der Anthropologie und empirischen Psychologie der Zeit enthält, bestätigt den Eindruck einer ausführlichen Auseinandersetzung mit der anthropologischen Diskussion seiner Zeit. Diese detaillierte Auseinandersetzung und Kenntnis der Debatten verleiht dem Hegel’schen Blick auf das Projekt der Anthropologie einen starken empirischen Gehalt. Somit kann die Frage gestellt werden, inwiefern Hegels Abschied von Kants anti-naturalistischem Verständnis von Anthropologie in ein Programm umschlägt, das naturwissenschaftlich informiert ist und eine grundlegende naturalistische
Schmid ist hier besonders entscheidend. Er war Vertreter der ersten Welle des Kantianismus in Jena, Student von Herder (der seine Berufung als Professor beim Minister unterstützte) und Hauslehrer des jungen Novalis veröffentlichte er eine Empirische Psychologie (. Aufl. ), die ihm und einigen Kollegen als Vorlage für Vorlesungen diente. wurde Schmid nach Jena berufen und war Rektor, als Hegel sich in Jena habilitierte. Hegel besaß den Text der Empirischen Psychologie und kannte höchstwahrscheinlich die Fichte–Schmid Kontroverse. Über Schmid und dessen Debatte mit Fichte vgl. John () und Van Zantwijk-Ziche (). Nicht nur aus De Anima sondern vor allem aus Parva Naturalia, wie Chiereghin () gezeigt hat. Nicht nur Themen wie der animalische Magnetismus, auch die Diskussion über Albinismus, Schafwandel, mütterliche Merkmale und viele andere case studies werden in den Vorlesungen erwähnt. Der berühmten Anfang der Philosophie des subjektiven Geistes – mit der Erwähnung des delphischen Spruchs – könnte in dieser Hinsicht (nicht ausschließlich, aber auch) als Anspielung auf das Gnoti Seauton im Titel von Moritzs Magazin zur Erfahrungsseelenkunde gesehen werden, aus welchem Hegel viele Beispiele entnimmt. Natürlich stellt Moritz nicht die einzige Quelle für solche Beispiele dar.
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Neigung mit der ‚Empirisierung der Anthropologie‘ teilt. Kann man in diesem Sinn von ‚Hegel’s naturalism‘ in der Anthropologie reden? Im Folgenden werde ich versuchen zu zeigen, dass dies nicht möglich ist, was besonders klar wird, wenn man nicht nur auf die inhaltlichen Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen, sondern auch auf die methodische Differenz achtet, welche Hegel selbst unterstreicht. In dem methodischen Abschnitt der Philosophie des Geistes (sowohl in der Enzyklopädie als auch in den Vorlesungen) kritisiert Hegel die methodische Vorgehensweise verschiedener Wissenschaften, die den Geist zum Objekt ihrer Untersuchung haben. Hegel unterscheidet bekanntlich drei allgemeine Arten solcher Ansätze, nämlich Weltkenntnis, Pneumatologie und empirische Psychologie. Die dritte ist die für uns interessante. Denn Hegels expliziter Adressat ist die ‚empirische Psychologie‘, wobei er auch die empirisch ausgerichtete Anthropologie mit einbezieht. Die Kritik richtet sich, wie er sagt, gegen „die Empirische Psychologie, wozu die Anthropologie gerechnet werden kann“ (GW ,: ). Hegel richtet sich spezifisch gegen die in diesem Kontext vertretene Methode, die von der Beobachtung kognitiver Fähigkeiten ausgeht und diese dann in Klassen ‚sammelt‘ und Begriffe von bestimmten ‚Vermögen‘ oder ‚Kräften‘ herausarbeitet, die mit solchen empirischen Beobachtungen assoziiert werden. Sowohl die Postulierung geistiger Vermögen (die mit der Beobachtungen zu korrelieren sind), als auch die Korrelation von physiologischen Vorgängen mit ebendiesen geistigen Vorgängen sind nach Hegel untauglich den Geist zu beschreiben. Solche Erklärungsverfahren produzieren vielmehr ein Bild vom Geist als einer bloßen Sammlung oder, so Hegel, eines „Aggregat[s]“. „Es erscheint der Geist in der empirischen Psychologie als Sammlung selbständiger Vermögen“ (GW ,: ). Hegel kritisiert „die Zersplitterung desselben [des Geistes] in die verschiedenen, gegeneinander selbständig vorgestellten Vermögen, Kräfte“ (GW : §). Sowohl in den Vorlesungen als auch in der Enzyklopädie wiederholt Hegel mehrmals seine Kritik an jedem Ansatz, der versucht, den Geist auf Basis empirischer Phänomene zu erklären: Das Isolieren der Tätigkeiten macht den Geist ebenso nur zu einem Aggregatwesen und betrachtet das Verhältnis derselben als eine äußerliche, zufällige Beziehung. (GW : §) Das folgt nach Hegel aus einer falschen Methode für das Verständnis des Geistes. In den Vorlesungen (sowohl von als auch von ) unterstreicht er, ein wesentlicher Grund, aus dem die empirische Betrachtungsweise scheitert, sei [d]ie Revolution in der Philosophie überhaupt; indem man empirische Kenntnisse dieser Art nicht mehr zur Philosophie rechnete. Sie sind freilich nötig nützlich und wünschenswert, aber doch noch nicht der Standpunkt der
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Wahrheit. Das Höhere ist, das alles als Idee, Notwendige Entwicklung der Idee betrachtet wird. (GW ,: ) führt er dasselbe Argument noch unmissverständlicher aus: Der eine Umstand ist der Fortschritt der Philosophie überhaupt, der lebendige Begriff, das Bewusstsein der Idee stellt jetzt andere Methoden auf, macht ganz andere Forderungen an die Erkenntnisweise, so dass jene Betrachtungsweisen, wie in der empirischen Psychologie durch Erfahrungen und in der rationellen Psychologie durch Verstands-Abstraktionen den Geist zu erkennen, dagegen als unzureichend sich zeigen. (GW ,: ) Dass eine echte philosophische Betrachtungsweise des endlichen Geistes sich nicht der beobachtenden Methode empirischer Anthropologie bzw. Psychologie (und nicht der Abstraktionen alter Metaphysik) bedienen kann, ist für Hegel zentral. Während Platner sein Vorgehen selber als historisch und nicht spekulativ bezeichnet und als Kernaspekt seiner Methode empfiehlt, „sich der klaren Erfahrungen […] zu beruhigen, und sich da in dem Gebiete der Gesunden Vernunft einzuschränken“ (Platner [] , XIII), und Herder die Sammlung von Beobachtungen als notwendige Basis jeder Kenntnis des Geistes fordert, kritisiert Hegel sowohl das historische Verfahren als auch das Sammeln und die Erfahrung als Ausgangspunkte einer philosophischen Theorie des endlichen Geistes. Solche Verfahren, betont Hegel, sind mit einer ungerechtfertigten naturalistischen Voraussetzung verbunden: Es kann den Missverstand veranlassen, als wenn der Geist so Produkt der Natur ist, wie es oft geschehen ist ihn anzusehen, daß man das Materielle, Sinnliche, Natürliche als das behauptet, was nur wahrhafte sei, real, während man dann den Geist ansieht als eine Kombination, ein Aggregat von natürlichen Tätigkeiten, Kräfte … so dass wenn solche sich nur verfeinern bis auf einen gewissen Grad das Geistige, das Bewusstsein entsteht. (GW ,: ) Hegel nennt diese Stellung Naturalismus: „Diese[r] Naturalismus, Materialismus, sieht das Geistige an, als ein bloß Hervorgebrachtes, als ein Resultat von Kombinationen, als ein Grad von Verfeinerung natürlicher Kräfte“. Hegel ist demgegenüber nicht nur kritisch, sondern nennt diese Stellung „sogar ganz falsch“ (GW ,: ). Diese Aussagen scheinen die Lesarten zu unterstützen, nach denen Hegels seine Methode nicht als erklärend versteht – sei es im Sinne einer kausalen Erklärung oder im Sinne einer jeden wissenschaftliche Erklärung (psychologisch usw.), die von Erfahrung ausgeht. Zur Hegel’schen Verwendung von „Naturalismus“ im selben Sinne vgl. GW ,: .
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Wie soll Hegels Methode in der Anthropologie dann also verstanden werden? Die Anthropologie stellt prima facie die Betrachtung einer Reihe von Tätigkeiten – bekanntlich von Empfindung über Gefühl und Selbstgefühl bis zur Gewohnheit – vor, die eine Form von Subjektivität ausmachen, welche zunehmend an Selbstbeziehung gewinnt. Diese lineare Betrachtung ist nicht als eine Beschreibung der Ontogenese des Menschen zu verstehen. Hegel betont diesen Punkt, wenn er davon spricht, dass es sich hierbei nicht um die Etappen der Entwicklung vom Kind zum vernünftigen Wesen handelt. Eine Weise, wenn auch nicht die einzige, um sich einem Verständnis dieser Argumentationsstruktur anzunähern, könnte darin bestehen, sich noch einmal dem ideengeschichtlichen Kontext zu widmen. In dieser Hinsicht kann Fichtes Modell einer Geschichte des Selbstbewusstseins in Betracht gezogen werden. Schon hinsichtlich der erschienenen Phänomenologie wurde gezeigt, dass ein solches Paradigma im Hintergrund von Hegels Argumentation steht. Hier möchte ich mich nicht auf Fichtes Idee einer „pragmatischen Geschichte des menschlichen Geistes“ konzentrieren, sondern auf einen anderen, damit zusammenhängenden, aber anders ausgerichteten Text aufmerksam machen, der ebenfalls in Hegels Bibliothek zu finden ist – nämlich Charles Bonnets Essai analytique sur les facultés de l’âme. Methodisch beschreitet Bonnet einen Weg, der zuvor schon von Condillac begangen wurde. In der Einleitung erklärt er, dass eine Untersuchung menschlicher seelischer Tätigkeiten große methodischen Schwierigkeiten mit sich bringt. Mit der empirischen Betrachtung konkreter Menschen anzufangen, sei unzureichend, da der ‚ganze Mensch‘ schlichtweg zu kompliziert ist, was ein solches Projekt vor unüberwindbare Hindernisse stellen würde:
Die von Hegel dargestellte Entwicklung umfasst bekanntlich auch das Phänomen des Wahnsinns; in dem Kontext weist Hegel ausdrücklich jede ontogenetische Auslegung seines Textes als „unsinnig“ zurück und sagt, dass es „natürlicherweise nicht so zu verstehen [sei (L.C.)], als ob damit behauptet würde, jeder Geist, jede Seele müsse durch diesen Zustand […] hindurchgehen“ (GW ,: Zus. zu §, ). Gegen eine ontogenetische Auslegung der Hegel’schen Anthropologie vgl. Wolff (). Zur historischen Analyse des Konzepts einer Geschichte des Bewusstseins vgl. Behler (). Düsing () hat diesen Aspekt betont. Die Übersetzung des Werkes wurde von Christian Gottfried Schütz ( – ) besorgt. Schütz ergänzte den Text mit eigenen Bemerkungen zur Methode und Beobachtung in der Psychologie und fügte auch ausführliche Ausführungen über die Werke Condillacs hinzu. Hegel bezieht sich auf Bonnet schon in der Phänomenologie des Geistes und später in der dritten Ausgabe der Enzyklopädie (vgl. GW : und GW : sowie GW ,: ; die Übersetzung von Bonnets Essai befand sich in Hegels Bibliothek). Schütz wird dann in Jena als Herausgeber der Allgemeinen Literaturzeitung tätig sein und „mit Schmid und Reinhold gehört er zur Jenaer Gruppe des früheren Kantianismus in Deutschland. In der Allgemeinen Literaturzeitung wird darüber hinaus der Psychologie, insbesondere der im Sinne Kants, viel Raum gewidmet“ (John , ).
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Lasst uns nicht den Mensch in seinem ganzen Umfange, mitten auf einem großen Feld, von tausend verschiedenen Objekten umgeben, uns vorstellen. Die Untersuchung […] eines solchen Menschen, würde für uns viel zu sehr verwickelt werden. Wir wollen Stufenweise gehen, und vereinfachen (simplifier); und könnte man wohl in der Vereinfachung eines so wunderbar zusammengesetzten Wesens zu weit gehen? (Bonnet [] , §; Übersetzung leicht verändert) Er fügt gleich darauf hinzu, dass auch eine ontogenetische Beobachtung, die vom Kind ausgeht, die Aufgabe nicht vereinfachen würde. Wir wollen es nicht einmal unternehmen, die Kinder zu studieren; sie sind noch zu schwer zu beobachten. Kaum sind die Kinder geboren, so öffnen sich ihre Sinne mit einem Male einer großen Menge verschiedener Eindrücke. Hieraus entsteht eine Kette von Bewegungen, eine Verbindung von Ideen, die man unmöglich verfolgen und entwickeln kann. (Bonnet [] , §) Daher führt Bonnet die zuvor schon von Condillac genutzte Methode an, die er mit dem Motto „recurions donc à une fiction“ einführt: Lasst uns daher zu einer Erdichtung (fiction) unsere Zuflucht nehmen. Sie wird nicht die Natur selbst, aber doch in der Natur gegründet sein. Wir werden Dingen voneinander trennen, die in ihrem natürlichen Zustand mit einander verbunden sind, wir werden sie hernach stufenweise wieder zusammensetzen und also der Natur immer wieder näher kommen. Lasst uns einen Menschen einbilden, dessen Sinne insgesamt in gutem Zustande sind, der aber noch nicht angefangen hat, davon Gebrauch zu machen. Wir wollen voraussetzen, dass wir das Vermögen hätten, die Sinne dieses Menschen gefesselt zu halten, oder sie nach einer Ordnung, zu einer Zeit, und auf eine Art, die uns gefällig ist, in Freiheit zu setzen. Lasst uns jedem Sinne, einem nach dem anderen […] die Gegenstände, welche fähig sind sie zu rühren, vorhalten; lasst uns dann sehen, was aus diesen Eindrücken entstehen müsste, und gleichsam mit unserem Blicke der Entwickelung der Seele dieses Menschen nachgehen […]. Dieser Mensch wird eine Art von Statue sein, und wir wollen ihm diesen Namen geben. Die Philosophie wird die Göttin sein, welche diese Statue beleben wird, und uns helfen wird, sie stufenweise zu dem Range eines denkenden Wesens zu erheben. (Bonnet [] , §) Bonnet führt verschiedene Geistestätigkeiten seiner fiktionalen Seele ein – von Empfindung zum Denken –, um sie dann begrifflich zu entfalten. Zu betonen ist die Tatsache, dass Bonnets Fiktion – wie auch schon die Condillacs – zwei wichtige methodische Elemente enthält. Erstens muss der Leser sich darin üben, sich mit der sogenannten Statue zu identifizieren. Obwohl es wie ein
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Paradox klingen könnte, soll der Leser sich in die fiktive Statue gleichermaßen einfühlen. Bei Condillac ist diese Bedingung folgendermaßen ausgesprochen: J’avertis donc qu’il est très important de se mettre exactement à la place de la statue que nous allons observer. Il faut commencer d’exister avec elle, n’avoir qu’un seul sens, quand elle n’en a qu’un ; n’acquérir que les idées qu’elle acquiert, ne contracter que les habitudes qu’elle contracte : en un mot, il faut n’être que ce qu’elle est. Elle ne jugera des choses comme nous, que quand elle au- ra tous nos sens et toute notre expérience ; et nous ne jugerons comme elle, que quand nous nous supposerons privés de tout ce qui lui manque. Je crois que les lecteurs, qui se mettront exactement à sa place, n’auront pas de peine à entendre cet ouvrage ; les autres m’opposeront des difficultés sans nombre. (Condillac , ) Zweitens betont Bonnet, dass die Folge und die Entwicklung der menschlichen Grundtätigkeiten notwendig sind: In einer Untersuchung von dieser Art, besteht […] die große Kunst des Psychologen hauptsachlich darin, daß er seine Statue keinen Schritt thun lässt, der nicht notwendig sei; daß er die Glieder in der Kette ihrer Wirklichkeit so an einander hängt, daß diese Kette überall in einem fortlaufe. (Bonnet [] , §) Wer die Hegel’sche Argumentation und seine methodischen Aussagen in der Anthropologie kennt, wird hier unschwer eine gewisse Nähe erkennen. So stellt Hegel in seinem Angriff auf die empirische Anthropologie die Notwendigkeit seiner Methode als zentral hervor und kontrastiert sie mit der historischen Vorgehensweise: Wie den Geist überhaupt, so nimmt die empirische Psychologie auch die besonderen Vermögen, in welche sie denselben zerlegt, als gegebene aus der Vorstellung auf, ohne durch Ableitung dieser Besonderheiten aus dem Begriff des Geistes den Beweis der Nothwendigkeit zu liefern, daß im Geiste gerade diese und keine anderen Vermögen sind. (GW ,: Zus. zu §, ) Auch Hegel versucht die Begriffe sowie die begrifflichen Implikationen und die Entwicklung der seelischen Tätigkeiten also als notwendig zu verstehen. Genauso wie bei Bonnet (und Condillac) werden einzelne Tätigkeiten eingeführt und die Analyse vom Standpunkt eines Subjektes geführt, dessen Fähigkeiten auf die seines jeweiligen Standpunktes beschränkt sind. Auf gewisse Weise wird auch Hegels Beschreibung und Analyse teilweise ‚von innen‘ durchgeführt. In der Enzyklopädie erwähnt Hegel Condillac und das sensualistische Programm allerdings in kritischer Weise, da er den von Condillac beschriebenen Prozess als natürlich und erklärend versteht. Condillac wäre demnach ein Naturalist (im He-
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gel’schen Sinne), da er die Ontogenese und Entwicklung natürlicher Kräfte im Individuum zu erklären versuchte: Es ist hierbei nicht an die mit der anthropologischen zusammenhängende Entwicklung des Individuums zu denken, nach welcher die Vermögen und Kräfte als nacheinander hervortretend und in der Existenz sich äußernd betrachtet werden, – ein Fortgang, auf dessen Erkenntnis eine Zeitlang (von der Condillacschen Philosophie) ein großer Wert gelegt worden ist, als ob solches vermeintliche natürliche Hervorgehen das Entstehen dieser Vermögen aufstellen und dieselben erklären sollte. (GW : §) Diese naturalistische und ontogenetische Auslegung Condillacs und Bonnets scheint die beiden Autoren allerdings in entscheidender Hinsicht zu verfehlen, da, wie oben gezeigt wurde, der beschriebene Prozess nicht zunächst als ein naturalistischer Prozess, sondern – ausdrücklich – „une fiction“, also kein wirkliches Individuum betreffend, begriffen wird. Gleichzeitig ist dennoch eine naturalistische Grundhaltung in den Texten zu finden. Zu Hegels Auslegung ist somit zweierlei zu bemerken: Auf der einen Seite verstellt Hegels explizite Zurückweisung Condillacs aufgrund seines vermeintlichen Naturalismus eine Ähnlichkeit, auf der anderen Seite scheint Hegel methodologisch betrachtet für seine Anthropologie mehr Inspiration aus dieser Zugriffsweise zu ziehen, als er gewillt ist zuzugeben. Er rekonstruiert ähnlich wie Condillac den endlichen Geist durch eine progressive Betrachtung einzelner Tätigkeiten, die eine Form von Subjektivität ausmachen, die er Seele nennt. Hegels Kritik der Sensualisten weist jede Form von Naturalismus zurück. Er macht klar, dass seine Rekonstruktion des endlichen Geistes nicht empirisch vorgehen kann und der Inhalt der Begriffe wie Empfindung, Gefühl, Gewohnheit usw. nicht aus der Erfahrung gewonnen werden kann. Die Begriffe von den einzelnen Tätigkeiten des Geistes können daher auch nicht einfach aus der Naturwissenschaft aufgenommen werden. Sie sind logisch zu entwickeln und benutzen die empirischen Kenntnisse lediglich als Erläuterungen oder Beispiele und nicht als Erklärungen. Kurz gesagt: Hegel nimmt manche methodischen Kernaspekte von Bonnet und Condillac auf, aber scheint naturalistische Aspekte zurückzuweisen und die Argumentationsstruktur in Richtung einer notwendigen Rekonstruktion der
Die naturalistische Interpretation von Bonnet und Condillac ist auf gewisse Weise bereits in den Texten angelegt und wurde bereits zeitgenössisch angemerkt. Herder schrieb beispielswiese in der oben erwähnten Passage von , dass „Hallers physiologisches Werk zur Psychologie erhoben und wie Pigmalions Statue mit Geist belebt“ wurde (SWS : ). Zum Verhältnis Herder-Condillac vgl. Stückrath (). Die Inspiration fällt größer aus als diejenige, die in der Phänomenologie von aufweisbar ist.
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Möglichkeitsbedingungen (verkörperter) geistiger Subjektivität zu modifizieren. Diese nennt er eine Ableitung, die sich mit Notwendigkeit ergibt: Die Philosophie fordert, dass die Nothwendigkeit des Geistes bewiesen wird, nicht dass es einen Geist gibt, sondern dass es einen Geist geben muss, dass er sich in seinen Werken zeigt (GW ,: ). Indem er naturalistische Aspekte zurückweist, nimmt Hegels Argument die Gestalt einer logisch entwickelten Rekonstruktion der Möglichkeitsbedingungen vollkommener menschliche Erfahrung an. In der Anthropologie zieht dieses Argument die leibliche Dimension des Menschen in Betracht und weist sie als Basis (und Möglichkeitsbedingung) für die Verwirklichung höherer Formen des Geistes aus. Diese höheren Stufen umfassen die anthropologische Dimension und gestalten sie neu (vgl. Khurana ). Erst am Ende dieses Prozesses wird man imstande sein, von Hegels Theorie des „ganzen Menschen“ zu sprechen. In diesem Sinne ist solch eine Rekonstruktion aber nicht prima facie naturalistisch – nicht nur nicht in dem Sinn, wie Hegel das Wort ‚Naturalismus‘ verstand, sondern auch in einem gegenwärtigen Verständnis von Naturalismus. Die Verbindung mit der Natur muss daher auf einem anderen Weg verstanden werden. IV. Schluß: Hegels Anthropologie als ‚Anthropologia transcendentalis‘ Am Ende seiner methodischen Darstellung sagt Bonnet: Ich bin zufrieden, wenn man dieses Werk auch bloß für einen philosophischen Roman ansieht. Kann man doch hoffen, dass die Zeit kommen werde, wo man imstande sein wird, die Geschichte an die Stelle dieses Romans zu setzen? (Bonnet, XIII; Übersetzung leicht verändert) Hegels Anthropologie stellt sozusagen das erste Kapitel einer solchen Art von Geschichte dar, die der endliche Geist auf dem Weg zum vollständigen Subjekt durchläuft. Der Bezug auf Bonnet hilft in dieser Hinsicht, um einige Aspekte von der Struktur und dem Ursprung Hegel’scher Argumentation zu verstehen. Gleichzeitig spricht sie dafür, dass Hegels Ansatz nicht als naturalistisch zu verstehen ist. Meine Analyse zeigt, dass Hegels methodischer Ansatz trotz der Bezugnahme auf empirische Literatur, die Hegels Anthropologie den Schein eines naturalistischen Projekts verleihen, nicht als ein schlicht naturalistisches verstanden werden Wie bemerkt wurde, benutzt Hegel fast nie das Wort ‚Mensch‘, um die Form von Subjektivität zu bezeichnen, die sich in der Anthropologie entfaltet (vgl. Wolff , ). Es ist darum bezweifelt worden, dass solche Subjektivität eine Komplexität hat, die ausreicht, um als ‚menschlich‘ zu gelten. Das Bild vom Menschen kann nur im Kontext des Systems und ausgehend von der anschließenden Bestimmungen des subjektiven und objektiven Geistes aufgefasst werden.
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kann. Die Geschichte des endlichen Geistes ist nach Hegel nicht empirisch zu verstehen. Die Tätigkeitsbegriffe können nicht von der Erfahrung oder aus den Wissenschaften aufgenommen werden. Hegels Anthropologie stellt dagegen eine logische Entwicklung dar, die die leibliche Komponente menschlicher Subjektivität als Bedingung einer in der Welt denkenden und handelnden rationalen Subjektivität rekonstruiert, indem sie bei den einfachsten Formen von Selbstbeziehung anfängt und diese notwendig entwickelt. In einer Notiz von / führt Kant den Begriff der „Anthropologia transcendentalis“ für „die Selbsterkenntnis des Verstandes und der Vernunft“ ein. Dieser Begriff ist „spielerisch“ gemeint und wird von ihm schnell verworfen. Hegels Anthropologie kann man allerdings in gewisser Weise so verstehen, als ob es das kantische Projekt derart umgestaltet, dass es dieses Vorhaben realisiert, indem es die leibliche Dimension menschlicher Subjektivität streng begrifflich nachvollzieht. Literatur Adler, Hans. . „Fundus Animae. Der Grund der Seele. Zur Gnoseologie des Dunklen in der Aufklärung“. Deutsche Vierteljahrschrift für Literaturwissenschaft und geistesgeschichte ,: – . – . „Aisthesis, steinernes Herz und geschmeidige Sinne: Zur Bedeutung der ÄsthetikDiskussion in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts“. Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im . Jahrhundert, herausgegegeben von H.-J. Schings, – . Heidelberg. Bauer, Christoph J. . „Eine ‚Degradierung der Anthropologie‘? Zur Begründung der Herabsetzung der Anthropologie zu einem Moment des subjektiven Geistes bei Hegel“. Hegel-Studien : – . Beetz, Manfred, Jörn Garber und Heinz Thoma, Hgg. . Physis und Norm. Neue Perspektiven der Anthropologie im . Jahrhundert. Göttingen. Behler, Ernst. . „Die Geschichte des Bewusstseins – Zur Vorgeschichte eines Hegelschen Themas“. Die Grenzen des Menschen: Anthropologie und Ästhetik um , herausgegeben von Maximilian Bergengruen, Roland Borgards und Johannes Friedrich Lehmann. Frankfurt am Main. Bonnet, Charles. [] . Analytischer Versuch über die Seelenlehre, aus dem Französischen übersetzt und mit einigen Zusätzen vermehrt von M. Christian Gottfried Schütz. Bremen/Leipzig.
„Es ist auch nicht genug, viel andre Wissenschaften zu wissen, sondern die Selbsterkenntnis des Verstandes und der Vernunft. Anthropologia transcendentalis“ (AA XV: , Refl. ). „Kant hat die Disziplin einer Transzendentalanthropologie in keiner Vorlesung oder Druckschrift erwähnt oder gar als Disziplin ausgearbeitet“ (Brandt (, ). Brandt nimmt auch die Datierung der Notiz vor.
Hegels Anthropologie im Kontext
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Hegels Anthropologie im Kontext
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Pirmin Stekeler-Weithofer INDIVIDUUM, SUBJEKT, PERSON Hegels Logik und die begrifflichen Probleme der Identität
I. Kanonische Kernbedeutungen und deren Übertragungen In der folgenden Überlegung geht es nicht um eine am Text im Detail belegte Interpretation, wie sie an anderer Stelle mit viel mehr Raum und Geduld zu entwickeln ist, sondern um eine Skizze des Gesamtrahmens der noch immer aktuellen Denkansätze Hegels. Im Zentrum des Zugangs steht der Unterschied zwischen einer Person, die – gemäß der definitorischen Kernbedeutung des Wortes – als solche denkend handelt, zu einem bloßen Individuum einerseits, einem selbsttätigen Subjekt, andererseits. Unteilbar individuell sind wir als leibliche Wesen. Das Wort ‚Subjekt‘ steht im personalen Fall zunächst für den handelnden Akteur. Aber auch animalische Lebewesen sind Subjekte ihres Tuns und Leidens. In den üblichen Verwendungen der Wörter geht es freilich drunter und drüber. Noch Max Scheler verkehrt z. B. die Wörter ‚Person‘ und ‚Subjekt‘. Eine kritische Aufklärung der immer etwas verblasenen, weil metaphorischen, Rede davon, dass man nach einer Identität suchen, Subjekt werden oder seine Individualität entwickeln solle, ist
Das semantische Muster für ein aktives Tun ist das Tun eines animalischen Lebewesens, also von Menschen und Tieren, nicht das ‚Tun‘ eines Steins oder der Sonne, auch wenn wir sagen, dass eine Steinlawine ein Dorf zerstört oder die Sonne die Äcker verbrannt habe. Die Sonne und Lawinen sind keine Subjekte. Noch nicht einmal Pflanzen sind Subjekte im paradigmatischen, die Kernbedeutung konstituierenden, Sinn. Das semantische Muster für ein Handeln ist das bewusst geplante Tun einer Person. Nur eine Person kann im vollen Kompetenzsinn des Wortes handeln, da sie dazu selbstbewusst sprechen und ihre eigenen symbolischen Vorwegnahmen der Handlungsziele und dann auch der Wunscherfüllungen verstehen muss. Theoretisch bzw. symbolisch vermittelt denken und denkend handeln können nur Personen. Allen Fällen der Verwendung oder gar Zurichtung von Mitteln zur Verfolgung präsentischer Ziele zum Trotz können Tiere nichts im inferentiellen Vollsinn der Wörter (also ohne metaphorische Abschwächung der Inferenzen) machen oder schaffen. Tiere sind allerdings ihrem Wesen nach Subjekte, die, wie Menschen, etwas tun können. Bei Scheler ist die Person „die unmittelbar miterlebte Einheit des Er-lebens“ (das Zitat ist aus Martin Heideggers Sein und Zeit (SuZ: )). Erleben ist aber kein personaler Begriff, er bezieht sich nicht spezifisch auf die geistigen Kompetenzen der Teilnahme an einer personalen Welt kommunikativen Wissens und Kooperation, ist daher bloß erst subjektförmig und taugt daher nicht zur Artikulation der Differenz zwischen (animalischem) Subjekt und (menschlicher) Person. Hegel-Studien Beiheft · © Felix Meiner Verlag · ISSN -
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daher bitter nötig, aber dann auch der Rede Kants von einem empirischen und intelligiblen Charakter. Seine gesamte Metaphysik der Freiheit hängt daran. Die generisch-allgemeine materialbegriffliche Grundlage einer kanonischen Unterscheidung zwischen Person und Subjekt lässt sich wie folgt formulieren: Als animalische Lebewesen sind wir Menschen schon von Geburt her Subjekte. Wir brauchen also unsere Subjektivität nicht eigens auszubilden. Sie ist uns vorgegeben. Aber zu Personen müssen wir uns erst bilden. Der berühmte Spruch ‚Werde, der du bist‘ ist daher schon bei Pindar ergänzt durch das Wort mathōn in der Bedeutung von ‚durch Bildung‘. Die Person ist damit schon hier, wie in Heideggers Dasein, als eine Möglichkeit angesprochen, sich zu seinem Seinkönnen tätig zu verhalten. Tiere sind und werden keine Personen, die bewusst auf ihr Seinkönnen und auf andere Zwecke abzielend handeln könnten. Dazu müssten sie Möglichkeiten des Seins im Allgemeinen, konkrete Zwecke im Besonderen symbolisch repräsentieren und ihre Erfüllung kontrollieren können und sich nicht nur in Verfolgung gegenwärtig empfundener Begierden benehmen. Eine symbolische Vergegenwärtigung von zukünftigen Möglichkeiten gibt es nur auf der Grundlage eines gemeinsamen Allgemeinwissens, das kodiert ist in der leicht und überall reproduzierbaren Lautsprache. Später kommen dann auch Schriftsprachen und diagrammatische Symbolsysteme wie Notenschriften oder mathematische Formeln hinzu. Heraklit, der nicht ganz geheime Stichwortgeber Hegels (und Pindars), erkennt dabei schon, dass das Denken allen Menschen im Sinn gebildeter Personen gemeinsam ist. Es ist methodisch und logisch von öffentlichen und gemeinsamen symbolischen Handlungsformen abhängig. Das ist es schon in der leisen Planung von möglichen Sprechakten und Bildproduktionen. Das zu bezweifeln ist nur eine Denk- und Sprachverwirrung. Sie beruht auf einem sophistischen Gerede, das Inferenzen von Kernbedeutungen rein willkürlich außer Kraft setzt oder anwendet, ohne die damit verbundenen Übergänge in metaphorische oder gerade auch mythische Reden zu bemerken.
Einer Metaphysik der Freiheit im Sinne Kants geht es um den Nachweis des realen Sinnes des Wortes ‚frei‘, also der Bedingungen seiner sinnvollen Anwendungen. Eine Metaphysik der Sitten ist dementsprechend eine grundbegriffliche Analyse der Ethik als Praxisform oder Institution. Schon in Kants Metaphysik geht es nicht um einen Glauben, etwa an eine transzendente Hinterwelt. Metaphysische Erörterungen sind logische Erläuterungen von Grundbegriffen, den archai des Aristoteles, die Hegel in einen Kontext allgemeinsten Wissens einbettet. Die Probleme, die wir mit Kant haben können und sollten, betreffen nicht das allgemeine Projekt, sondern nur seine konkrete Durchführung. Vgl. Heidegger (SuZ: ) mit Pindar (. Pyth. Ode, Zeile ); in anderer Übersetzung: Die Dichtungen und Fragmente. Ed. L. Wolde, Leipzig, Dieterich, , S. . Vgl. Heraklit (Frgm. , , , , ). Hegel selbst erklärt, dass er alle Sätze bzw. Gnomen Heraklits auf die eine oder andere Weisen in seine Logik aufgenommen habe.
Individuum, Subjekt, Person
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Dabei weiß schon Heraklit, dass die Disambiguierung mehrdeutiger Ausdrucksweisen und besonders der kompetente Umgang mit im weiten Sinn übertragenen Ausdrucksformen sowohl Grundlage als auch Ziel von wahrer Wissenschaft als „Arbeit des Begriffes“ ist, wie Hegel sagt (GW : ). Der extrem dichte Ausdruck ‚der Begriff‘ steht bei Hegel gerade auch hier metonymisch für das Kollektivsubjekt der Teilnehmer an einer Praxisform, nämlich des allgemeinen Wissens, damit auch der Wissenschaft als spezialisierter Institution. Die Arbeit des Begriffs ist damit sozusagen gerade unsere gemeinsame Arbeit am Begriff. Es ist z. B. schon die übliche Rede darüber, dass auch Tiere ‚denken‘, begrifflich verwirrt bzw. eine anthropomorphe Metapher. Aber auch die moderne Kognitionsforschung überschätzt die Analogie des Denkens und des Rechnens eines Computers und dann auch die Leistungsfähigkeit bildgebender Hirnforschung. In Unterschätzung logisch-hermeneutischer Geisteswissenschaft verkennt man damit das begriffliche Wissen und Erkennen. Die Missachtung des Begriffs macht den Aberglauben unserer Zeit aus, der sich als wissenschaftliche Aufklärung darstellt, aber schon als pseudomethodischer Individualismus in den psychologischen und sozialen Wissenschaften weit dramatischere Folgen hat als ein bloß erst kindliches Reden von Gott und ein entsprechender naiver religiöser Glaube in entsprechend ‚wörtlichen‘ Verständnissen religiöser Literatur. Es wäre daher für das gemeinsame Reden und Denken äußerst hilfreich, die oben skizzierten begrifflichen Regeln als kanonisch anzuerkennen und dabei zwischen bloß häufigen Verwendungen und einem (a fortiori ‚guten‘) Gebrauch zu unterscheiden: Die Titelwörter ‚Subjekt‘, ‚Individuum‘ und ‚Person‘ benennen dann folgende Aspekte oder Momente eines in der natürlichen und kultürlichen, sozialen, Welt handelnden Akteurs: Ich bin Subjekt, indem ich die Rolle des Ausführenden einer möglichen Handlung performativ übernehme, schlichter gesagt, etwas handelnd tue. Ich bin so Sprecher oder Hörer, Teilnehmer an einem Spiel oder Handelnder in einer Arbeitsteilung. Individuum bin ich auf der Grundlage meines Leibes, der, wie die Körper von (höheren) Tieren, bekanntermaßen nicht in zwei Teile geteilt werden kann, ohne dass mindestens ein Teil nicht weiterlebt. Individuen und Subjekte sind wir also von Natur aus, als animalische Wesen. So gesehen ist die Frage nach je meiner Identität also überaus einfach, da wir als höhere Lebewesen nicht in zwei Teile teilbar sind, womit die Identität des Individuums jenseits aller metaphorischen Reden über verschiedene Seelen in einer Brust oder der Teilung einer Persönlichkeit schon klar und deutlich im leiblichen Leben bestimmt ist. Man wird einwenden, dass wir immer auch anders zu reden belieben und z. B. noch nicht einmal klar zwischen einem kanonisch richtigen Gebrauch (wie gerade auch Wittgenstein das Wort gebraucht) und einzelnen Verwendungen unterscheiden. Erst recht schwierig ist die Unterscheidung zwischen Kernbedeutung und Übertragung, zwischen wörtlicher und metaphorischer, kanonischer und
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idiosynkratischer Rede. Alles Sprechen ist generisch, orientiert sich an Proto- oder Idealtypen, und die Sprache selbst ist schematisch. Aber eben deswegen ist das Verstehen von Sprache, also von Reden, nie nur schematisch. Die Kontextabhängigkeit jedes Sinns macht hier eine grundsätzliche Schwierigkeit aus und bedingt die Grenzen der Leistungskraft verbaler Definitionen, wie schon Platon im Nachgang zu Heraklit und Parmenides erkennt: Wir können jeweils nur den Kernsinn einer Ausdrucksform durch Paradigmen für das eidos, den idealen Typus, angeben und müssen dann jeweils die ‚metaphorischen‘ Übertragungen oder Anwendungen der Wörter auf bloß analoge Fälle sozusagen in ihrem ‚Abstand‘ zum eidetischen oder auch generischen Kernsinn im Kontextbezug frei und kritisch beurteilen. Anders gesagt, jedes Verstehen operiert mit Kern- oder Normalfällen und verlangt eine selbständige Messung des genannten metaphorischen ‚Abstandes‘ in den jeweiligen Anwendungen der Wörter.
II. Paradoxien der Selbstbezugnahme durch Pronomen Ein für unsere Überlegung relevanter Anwendungsfall dieses allgemein wichtigen Hinweises zu Sinn und Grenze kanonischer Begriffserläuterungen zeigen schon die schematischen Schlüsse, die mit dem Gebrauch des personalen Frageworts ‚wer‘ verbunden sind. Es wird nämlich präsupponiert, dass es sich bei dem Erfragten um eine Person, ein personales Subjekt, handelt. Aber schon die Personalpronomen im Singular sind nicht einfach zu verstehen. Das zeigen auf zunächst überzeugende Weise einige Aphorismen aus den Sudelbüchern Georg Christoph Lichtenbergs, die auf im Detail unbekannte Weise ihren Weg ganz offenbar bis in das Denken Ludwig Wittgensteins im . Jahrhundert gefunden haben: Ich und mich. Ich fühle mich – sind zwei Gegenstände. Unsere falsche Philosophie ist der ganzen Sprache einverleibt; wir können sozusagen nicht raisonnieren, ohne falsch zu raisonnieren. Man bedenkt nicht, dass Sprechen, ohne Rücksicht von was, eine Philosophie ist. Jeder, der Deutsch spricht, ist ein Volksphilosoph, und unsere Universitätsphilosophie besteht in Einschränkungen von jener. Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs, also, die Be-
Diese scheinbar harmlose logische Beobachtung hat große Relevanz, gerade für die Rede von Gott. So ist es völlig sinnvoll zu fragen: ‚Was hat dazu geführt, dass die Welt heute so ist, wie sie ist?‘ Höchst problematisch ist es, die Frage so zu formulieren: ‚Wer hat die Welt geschaffen?‘ Diese zweite Formulierung unterstellt nämlich schon, und das logisch völlig ungeprüft, eine Art personalen Schöpfergott und setzt diesen als Demiurgen in Analogie zu einem Handwerker, der die Welt gemacht haben soll.
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richtigung einer Philosophie, und zwar der allgemeinsten. Allein die gemeine Philosophie hat den Vorteil, daß sie im Besitz der Deklinationen und Konjugationen ist. Es wird also immer von uns wahre Philosophie mit der Sprache der falschen gelehrt. Wörter erklären hilft nichts; denn mit Wörtererklärungen ändere ich ja die Pronomina und ihre Deklination noch nicht. (Sudelbücher Heft H, Nr. : ) Was an dem Satz ‚ich fühle mich‘ philosophisch falsch sein soll, ist zunächst aber noch unklar. Immerhin werden rein formal zwei ‚Gegenstände‘ in dem Satz genannt, nämlich das Sprecher-Ich und das Objekt des Fühlens, das mein Leib insgesamt oder ein Teil meines Leibes sein mag. Das kann zur falschen Vorstellung führen, es gäbe ein vom Leib nicht bloß verbal unterschiedenes, sondern irgendwie von ihm losgelöstes denkendes Subjekt, eine cartesische res cogitans oder eine christliche Seele. Lichtenberg selbst führt das so aus: „Ehemals zeichnete mein Kopf (mein Gehirn) alles auf, was ich hörte und sah, jetzt schreibt er nicht mehr auf, sondern überlässt es Mir. Wer ist dieser Ich? Bin ich und der Schreiber nicht einerlei?“ (Sudelbücher Heft K, Nr. : ) Lichtenberg ersetzt als ‚wissenschaftlicher‘ Aufklärer zunächst die denkende Seele durch den Kopf. Er behauptet (hier nur implizit), dass das Gehirn das eigentliche Subjekt des Erinnerns sei. Er schildert dann aber gleich auch, wie wir durch den Gebrauch der Pronomina ‚ich‘, ‚mich‘ und ‚mir‘ und deren Nominalisierungen ‚das Ich‘ oder ‚dieser Ich‘ in Probleme geraten. Die zentrale Frage lautet: ‚Wer ist dieser Ich?‘ Die Gegenfrage lautet, ob die Frage sinnvoll formuliert ist. Lichtenberg sieht aber ganz richtig, dass die Pronomina (ich, du, es) und ihre Deklination (mich, dich, sich) Probleme verursachen, gerade im Blick auf die in den obigen Sätzen ausgedrückten ‚reflexiven‘ Beziehungen und auf die Frage nach der ‚Identität‘ von ‚Geist‘ und ‚Gehirn‘, von ‚Seele‘ und ‚Subjekt‘, von ‚Person‘ und ‚leiblichem Individuum‘.
Während der Titel philosophia von Platon und Aristoteles bis Newton und Leibniz im Sinne des Projekts theoretischer Wissenschaft zu verstehen ist und in der Universität die niedere, die philosophische oder eben wissenschaftliche Fakultät verantwortlich war für wissenschaftliche Bildung vor der juristischen, medizinischen oder theologisch-pädagogischen Fachausbildung in den ‚höheren‘ Fakultäten, etabliert sich Philosophie seit Kant (und Hegel) als Disziplin jenseits der theoretischen und berufsorientierten Sachwissenschaften. Ihr besonderes Thema ist ab jetzt das der expliziten begrifflichen Reflexion. Sie verfolgt dabei das Ziel einer Vertiefung des Selbstbewusstseins personalen Seins, besonders in der Form des Wissens um die Begriffe, die Bedeutungen der Wörter, was seinerseits in engem Kontakt steht zum Wissen über Institutionen und Praxisformen. Daher gibt es, wie die Erneuerer des höheren Bildungswesens in Deutschland, vom Gymnasium bis zur Universität, um noch alle wussten, von Friedrich Schiller bis Wilhelm von Humboldt, von Friedrich Schleiermacher bis Johann Gottlieb Fichte und Hegel, keine moderne Wissenschaft ohne moderne Philosophie.
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Wir werden uns gewisser Vorstellungen bewußt, die nicht von uns abhängen; andere glauben, wir wenigstens hingen von uns ab [sic!]; wo ist die Grenze? Wir kennen nur allein die Existenz unserer Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken. Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen, cogito, ist schon zu viel, so bald man es durch Ich denke übersetzt. Das Ich anzunehmen, zu postulieren, ist praktisches Bedürfnis. (Sudelbücher Heft K, Nr. : ) Von welchem praktischen Bedürfnis ist hier die Rede? Meint Lichtenberg nur, es sei irgendwie praktisch, Personalpronomina wie ‚ich‘ und ‚du‘ und dann etwa auch die zugehörigen Possessivpronomen wie ‚mein‘ und ‚dein‘ zu gebrauchen? In der Reflexion auf den Gebrauch des Wortes ‚ich‘, ‚mich‘, ‚selbst‘ und auch ‚wir‘ und ‚uns‘ ist es praktisch, Nominalisierungen wie ‚das Ich‘, ‚das Selbst‘ und ‚das Wir‘ zu gebrauchen, ohne dabei etwas Anderes zu postulieren als ein grammatisches Subjekt für die Artikulation gewisser allgemeiner Kommentare über uns. Diese Sprachtechnik wird aber häufig nicht als solche verstanden, besonders wenn man meint, alle Ausdrücke mit dem definiten Artikel seien als Kennzeichnungen von irgendwie in der Welt präsupponierten Gegenständen zu lesen. Wir kommen darauf noch einmal zurück. Die Frage, wie die ‚Identität‘ von mir und meinem Gehirn zu verstehen sein soll, ist offen. Es sind zwar meine Finger, die den vorliegenden Text gerade tippen; aber das widerfährt weder mir noch meinen Fingern. Sie schreiben zwar den Text, entwerfen ihn aber keineswegs. Zwar fällt mir beim Reden und Schreiben allerhand ein, das nicht ich nach bestimmten Schemata selbst erzeuge. Und doch sage und schreibe ich nicht alles, was mir einfällt, sondern wähle aus Einfällen aus. Lichtenbergs Formulierung ‚es denkt‘, die Friedrich Nietzsche später begeistert übernimmt, passt also bestenfalls zu ‚es fällt mir ein‘ oder ‚das Gehirn tut etwas beim Denken‘, vielleicht wie die Finger beim Schreiben oder die Zunge beim Sprechen. Der Sinn von ‚ich sag(t)e, dass p‘ ist dennoch klar verschieden von ‚meine Finger schreiben (oder schrieben) ‚p‘‘ oder ‚meine Zunge sag(t)e ‚p‘‘. Da Denken schon als leises Sprechen ein Handeln ist und Handeln ein praktisches Denken, wie Descartes so schön sagt, ist es am Ende einfach falsch zu sagen: ‚es denkt‘. Das Subjekt des Handelns ist das Subjekt als Akteur, der eine partiell von ihm selbst vorbedachte Handlungsform aktualisiert, die generische Handlung also instanziiert. Die ganze Person mit ihrer geistigen Bildung, also mit ihrem Denk-
Es müsste eigentlich heißen: ‚andere, glauben wir wenigstens, hingen von uns ab‘. Mit der Frage nach dem personalen Ich bzw. der geistigen Person wird das logische Grund-
problem personaler Identität virulent, samt der formalen Verschiedenheit der Bezugnahme im Ausdruck ‚sich selbst‘ (dabei besonders auch ‚mich selbst‘). Die psychologische Relevanz der logischen Analyse besteht darin, dass nur sie zu einem rechten Verstehen der Rede von mir, meinem Ich oder meiner Seele führen kann.
Individuum, Subjekt, Person
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vermögen, ist das handelnde Subjekt, nicht nur das Gehirn, auch wenn dessen Funktionstüchtigkeit notwendige Bedingung des Handelns bleibt.
III. Das Ich als das Meinige Die wohl wichtigste allgemeine Beobachtung zum Gebrauch des Wortes ‚ich‘ ist wohl diese: Grundsätzlich kann das Personalpronomen ‚ich‘ eine so allgemeine Ausdehnung haben wie das Possessivpronomen ‚mein‘. Ich kann zu einem Bild von mir in frühester Jugend sagen ‚das bin ich‘, auch wenn mancher das ‚ist‘ überscharfsinnig zu einem ‚war‘ verbessern mag. Ich kann verletzt sein, wenn jemand meine Tochter verletzt. Wer mein Eigentum schädigt, schädigt mich. Hieraus ergibt sich schon rein logisch, wie Hegel sieht, dass ein gewisses Maß an Sicherung des Meinigen für mich und meine personale Freiheit schlechtweg konstitutiv ist, auch wenn daraus z. B. keineswegs folgt, dass Eigentum auch in allen seinen Formen ökonomischer Macht sakrosankt wäre. Wohl aber gibt es ohne Eigentum keine freie Person und keinen freien Bürger. Das wäre dann aber ein eigens zu besprechendes Thema. Hier geht es nur um die denkwürdige Ausdehnung meiner Identität auf alles Meinige und die damit zusammenhängende Plastizität der Pronomen ‚ich‘, ‚mich‘ und ‚mir‘. Aus ihr entstehen kontextbedingte Verschiedenheiten der Bezüge, welche uns gerade dann irritieren, wenn wir dem logischen Aberglauben anhängen, das Wort ‚ich‘ benenne im Gebrauch durch mich eine feste ‚Entität‘, zum Beispiel meinen Leib oder mein Gehirn, oder dann auch meine Seele oder meinen Geist, was immer diese sein mögen. Ich kann mich mit beliebigen Teilen oder dem Ganzen des Meinigen sowohl identifizieren als auch distanzieren, am Ende sogar von meinem Leib. Ich kann zum Beispiel sagen, dass ich nicht bloß mein Körper bin; und ich kann mein Leben beenden, mich töten. Ich bin dann tot, ohne dass ich das dann noch als Subjekt reden oder denken könnte. Wenn ich jetzt sage, dass ich mich fühle oder spüre, dann unterscheide ich mich als Sprecher von dem, was ich an mir leiblich fühle oder spüre. Wenn ich mich um mich selbst sorge, geht es mir darum, wer ich in der Zukunft sein kann oder sein werde, genauer, wie ich in einer möglichen Zukunft leben kann oder leben werde. Ich beziehe mich dabei, wie wir sagen, als die Person, die ich heute bin, auf die Person, die ich in der Zukunft sein kann oder sein werde. Vielleicht geht es mir dabei sogar auch schon darum, wie man sich an mich erinnern könnte, genauer, wie durch mein Sein und Tun eine wahre derartige Erinnerung definiert ist. Es ist die Sorge um sich daher ein Sich-zu-sich-Verhalten in genau dem Sinn, wie Heidegger das in Sein und Zeit explizit macht, nämlich als tätige Bezugnahme von mir hier und jetzt zu meinem zukünftigen Sein-Können. Diese Figur kennen wir von Sokrates, bei dem es – anders als bei seinen Gesprächspartnern Simmias und Kebes
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in Platons Phaidon, und wohl auch anders als bei Heidegger – das eigene Sein als (potenzielles) Erinnerungsobjekt umfasst und nicht bloß auf mich als zukünftiges Lebensvollzugssubjekt beschränkt bleibt. Während Lichtenberg – und in diesem Fall Hegel mit ihm – noch sieht, dass eine ‚falsche Philosophie‘ gerade auf Kommentare zu den Formen der Alltagssprache zurückgehen kann, nämlich den Personalpronomen selbst, glauben Russell, Wittgenstein, Carnap und die analytische Philosophie im . Jahrhundert, in der (philosophischen) Bildungssprache, konkreter in den Nominalisierungen ‚das Ich‘ oder dann auch ‚das Bewusstsein‘, die Ursachen der Fehler ausmachen zu können. Da das Problem aber längst schon in allen intuitiven Reflexionen des common sense auftritt, hilft trotz aller möglicher Missverständnisse philosophischer und wissenschaftlicher Kommentarsprache die Abschaffung von nominalen Ausdrucksformen nicht weiter. Das Plädoyer Humes und seiner empiristischen Anhänger für ein Autodafé vermeintlich ‚metaphysischer‘ Ausdrucksformen zielt daher ins Leere.
IV. Entwicklung reflexionslogischer Kommentierungen Nach meinem Vorschlag zur Lektüre der Phänomenologie des Geistes und dann auch der Wissenschaft der Logik steht die logische Analyse der Rede von einer kollektiven Vernunft und einem gemeinsamen Geist im Zentrum der Analysen Hegels – samt der zugehörigen Säkularisierung der Rede von Gott. Kulturgötter wie Apollo und Halbgötter wie Herakles stehen ja schon in rein mythischen, d. h. erzählungsförmigen, Reflexionen auf die Geschichte der Menschheit im Grund für ein Kollektivsubjekt, ein personales Wir, ob das die Leute wissen oder nicht, ob sie es anerkennen oder aus ihrem vermeintlich tiefen Glauben heraus als oberflächlich ablehnen. Sogar die Menschwerdung des Gottes im Christentum ist noch mythisierender Ausdruck dafür, dass je ich nur eine Person bin in der Teilnahme am Wir personaler Menschheit. Dazu gehört, dass die Person, die je ich bin, sakrosankt, und das heißt: für andere unantastbar ist. Aber darin steckt auch, dass, umgekehrt, alles Heilige und Göttliche am Ende durch unsere Personalität vermittelt ist. Dabei ist der wahre Wert einer Person relativ unabhängig von den sich häufig irrenden, bloß faktischen Beurteilungen anderer Personen. Wir mögen daher dem Volksgericht, das Sokrates verurteilte, nicht zustimmen, obwohl das Verfahren legal war, und schon gar nicht der aufgebrachten Masse, die offenbar den Tod des Jesus von Nazareth forderte. Die Rede von personaler Identität hat am Ende eine mikrosoziologische, z. B. gruppenrelative, Grammatik. Sie verweist auf eine gute Vernetzung der Person in einer funktionierenden Gemeinschaft. Leuten, die in einem offenbar metaphorischen Sinn eine (oder ihre) Identität suchen oder sich um Individualität bemühen,
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geht es also in Wahrheit um die Entwicklung ihres Status als Person. Die Rede von der Persönlichkeit hebt dabei die individuelle Besonderheit, ja Einzigartigkeit, je meiner geistigen Fähigkeiten und personalen Leistungen in der Lebensführung hervor. Was es aber je konkret heißt, über Personen zu sprechen, ist angesichts der Vielfalt der dabei möglicherweise relevanten Rollen und Statusfunktionen außerhalb des Kontextes der zu treffenden Urteile und Orientierungsvorschläge durchaus unklar. In gewissem Sinn ist der Ausdruck ‚Person‘ daher eine Art Operator. Die Nominalisierung ‚die Person X‘ kann in kontextsensitiver Weise zu verschiedenen Redegegenständen führen. Das verführte schon John Locke und seine Anhänger bis zu Derek Parfit () dazu, von verschiedenen Personen zu sprechen, die ich gewesen bin und sein werde, und die Einheit der Person über eine gewisse Kontinuität von Erinnerungen zu definieren – übrigens ohne auf das Problem der Begriffe der Erinnerung und des Gedächtnisses selbst ausreichend einzugehen, da es sich nicht um unmittelbare Empfindungen oder animalische Gefühle handelt, sondern um sprachlich vermittelte Selbstaussagen. Tiere haben keine derartigen Erinnerungen – obwohl der Empirismus in seinem ‚(un)methodischen‘ Individualismus eben das unterstellt. Und wenn wir ihnen von außen ein Gedächtnis zuschreiben, so handelt es sich nur darum, dass natürlich auch schon bei Tieren das präsentische Verhalten durch vergangene ‚Erfahrungen‘ im Sinne von ‚experiences‘ bestimmt ist, aber eben nicht im Sinne der tätigen symbolischen Vergegenwärtigung von Vergangenem, also von Eigenerfahrungen, oder dann auch von sprachlich gelerntem allgemeinem Wissen. Ein personales Individuum kann offenbar viele verschiedenen Rollen spielen. In diesem Sinn kann es in einander widersprechende ‚Persönlichkeiten‘ zerfallen, wie etwa in Dr. Jekyll und Mr. Hyde, und dabei kann es den Zusammenhang kappen, also je präsentisch reagieren, ohne sich an die anderen Rollen zu erinnern. Wir unterscheiden entsprechend in Bezug auf psychologische und ethischmoralische Eigenschaften ‚schizophrene‘ oder ‚multiple‘ Persönlichkeiten. Daher Das Streben nach Identität wird hier zu einem Streben nach Authentizität im Sinne von authentes, als voll bewusster ‚Urheber meines eigenen Handelns‘ und zu einem Streben nach personeller Kohärenz, wie sie der Idee personeller Vervollkommnung inhäriert. Wir können z. B. zwischen dem jungen, frühen, mittleren oder späten Cäsar unterscheiden. Der Anhänger der Popularen ist noch kein ehrgeiziger Politiker, der geniale Feldherr und mediale Selbstvermarkter im Gallischen Krieg ist noch nicht der Rebell, der sich für die Versorgung seiner Soldaten zum Aufstand gegen den Senat gezwungen sieht, und dieser ist noch nicht der Diktator auf Lebenszeit nach dem Sieg im Bürgerkrieg. So sprechen wir z. B. auch über Leibniz als Mathematiker, Wissenschaftler, Logiker, Bibliothekar, Organisator, Politiker oder, wie man im Fall der Rede über den Privatmann sagt, als Menschen und als Person. Wenn wir über die ‚Gesamtperson‘ urteilen, dann müssen wir uns im Allgemeinen auf sehr generelle Urteile über den ‚Gesamtcharakter‘ beschränken, so dass diese Urteile gerade nicht sehr fein differenzieren. Meine personale Identität ist dann über meine leibliche Individualität vorgegeben.
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ist die Personenidentität nicht kurzerhand und generell mit der Leibidentität zu identifizieren, wie das etwa P. F. Strawson () noch tut, auch wenn in Aufzügen das Wort ‚Person‘ aus Höflichkeitsgründen dasselbe wie ‚Individuum‘ bedeutet – so wie die Adelstitel ‚Herr‘ und ‚Frau‘ (bzw. ‚Mr.‘ und ‚Mrs.‘) aus Höflichkeitsgründen die Ausdrücke ‚Mann‘ und ‚Weib‘ (bzw. ‚man‘ und ‚woman‘) ersetzen. Die Rede von einer ‚Persönlichkeitsspaltung‘ wird allerdings in der Tat erst durchsichtig, wenn wir explizieren, in Bezug auf welche Sachen eine authentische, mit sich identische, kompetente Person nicht mal so, mal so handeln oder urteilen darf. Wenigstens in einem gewissen Ausmaß setzt das, was wir manchmal auch ‚Ichidentität‘ nennen, eine gewisse Kohärenz im Urteilen und Planen, in den Überzeugungen, expliziten Absichten und dem wirklichen Tun voraus. Ein Streben nach der Vermeidung von Selbstwidersprüchen verlangt freilich Erinnerung und Gedächtnis. Würden Locke und Parfit nur das sagen wollen, könnten wir sie unterstützen. Was schon Platons Sokrates unter dem Titel der Sorge für die Seele artikuliert, kann man mit dem Streben nach einer perfekten Einheit des Gesamtcharakters, der vollen Person identifizieren. Hegel formuliert eben daher seine Version eines kategorischen Imperativs personaler Ethik auf leicht orakelhafte Weise so: „[S]ey eine Person und respectire die andern als Personen.“ (GW ,: §) Das Wort ‚sei‘ ist hier deswegen begrifflich tief, weil es sowohl sagt, dass ich nicht einfach durch mein Dasein als Individuum eine (volle) Person bin, sondern als Subjekt nur dadurch zur Person werde, dass ich entsprechend handle. Als Personen haben wir grundsätzlich alle Menschen in ihrer Würde anzuerkennen und zu schützen. Menschen als Personen anzuerkennen, bedeutet dennoch schon mehr, nämlich sie im Normalfall als gleichberechtigte Mitspieler in möglichen Kooperationen zuzulassen. Damit geht die Anerkennung unserer Mitmenschen als Personen schon weit über das bloße Hilfegebot so genannter Nächstenliebe hinaus. Das Hilfegebot besagt, dass Mitmenschen, die alle auch mal hilfsbedürftig sind, immer wie unsere Nachbarn unserer Hilfe wert sind. Als Personen voll anerkennen wir andere Menschen aber erst, wenn wir sie als mögliche Partner in einem gemeinsamen Lebensprojekt zulassen. Hegels Imperativ enthält, so gesehen, die urbane Norm, auf Menschen zumindest prima facie offen zuzugehen und nicht rural, wie im Dorf, also z. B. wie in Negativ gewendet werden wir z. B. einer Person, die nur zu bestimmten Menschen freundlich und fair ist, zwei Gesichter, zwei Charaktermasken, zwei personae, zusprechen – und uns entsprechend zu ihr, je nach Umgebung und Erwartung, wie zu ‚verschiedenen Personen‘ verhalten. So werden manche mit ihren Chefs privat nichts zu tun haben wollen. Die orakelartige Allgemeinheit von Hegels Formulierung des Personen-Prinzips vermeidet u. a. die Forderung nach einer ‚Verfahrensregel‘, wie sie Kant in der Version des Kategorischen Imperativs, der an die Universalisierbarkeit der Maxime der Handlung appelliert, unglücklicherweise zu geben versucht. Das führt allerdings in eine Debatte, wie sie hier nicht im Zentrum der Betrachtung steht.
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Sachsen oder Polen, Ungarn und leider inzwischen auch in Schweden und England, wie in einem bedingten Reflex abgrenzend, übervorsichtig oder gar feindlich auf Fremde und Ausländer zu reagieren.
V. Gleichheit und Gegenstand, Identität und Entität Identifizierungen oder Identifikationen sind Urteile, die prima facie Verschiedenes oder auf verschiedene Weise Gegebenes als gleich, als nicht zu Unterscheidendes, nicht zu Diskriminierendes beurteilen. Ein solches Urteil sagt in der Regel nicht, dass keine Unterscheidung möglich wäre, sondern dass keine Diskriminierung zu machen ist. Es wird damit negiert, dass gewisse mögliche Differenzierungen, die in der Tradition Spinozas als ‚Negationen‘ angesprochen werden, relevant bzw. wichtig oder zu empfehlen bzw. zu erlauben sind. Wo sie als richtig und wichtig anerkannt sind, sprechen wir von Unterschieden oder Verschiedenheiten. Man kann daher mit Hegel sagen, dass eine Identifizierung eine Negation der Negation ist. Man kann außerdem sagen, dass jede Identität oder Gleichheit das (ideale) Resultat einer Nichtdifferenzierung ist. Hegel fasst also eine Gleichheitsaussage mit vollstem Recht als Urteil über eine Ununterschiedenheit und nicht als Ununterscheidbarkeit auf. Damit hat unsere Überlegung die allgemeine logische Ebene erreicht, in der es um das Verständnis der Identität und von reflexiven Beziehungen eines Gegenstandes zu sich selbst und deren Konstitution geht, wie Hegel sie unter dem Titel des ‚Für-sich-Seins‘ thematisiert. Der Ausdruck steht für eine ganz allgemeine logische Kategorie oder Ausdrucksform Das allgemeine Problem der Identität wird seit G. Frege, B. Russell, L. Wittgenstein und P. F. Strawson auch unter dem Titel einer logischen Differenz zwischen SinnF und BedeutungF von Namenausdrücken oder Benennungen (‚singular terms‘) diskutiert. Es besteht darin, dass in einer Gleichung etwa der Form /=/ ganz offenbar zwei (bzw. mehrere) verschiedene Sachen als in einer gewissen Relation zu einander stehend ausgesagt werden, nämlich erstens die Ausdrücke und zweitens die Brüche. Diese Beziehung ist gerade eine solche der Kategorie des Für-sich-Seins. Das heißt, sie ist so, dass die Ausdrücke bzw. Brüche, die in der Relation stehen, als Repräsentanten eines einzigen, mit sich identischen, Gegenstandes verstanden werden können und müssen. Es ist allerdings zu beachten, dass Ausdrucksformen wie ‚der Ausdruck x‘, ‚der Bruch x‘ oder ‚die Zahl x‘ selbst namenbildende Abstraktoren bzw. abstraktive Nominatoren sind. Und es ist zu lernen, wie diese sprachlichen Operationen funktionieren. Das gilt, wie schon erwähnt, in einem noch viel dramatischeren Der Index F verweist auf Freges idiosynkratische, aber allgemein den Philosophen bekannte Terminologie.
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Maße für den allgemeinen abstraktions- und reflexionslogischen Gebrauch des definiten Artikels in Nominalisierungen der Art ‚das Ich‘ oder dann etwa auch ‚das Sein‘ und sogar ‚das Nichts‘, aber auch schon ‚der Löwe‘ oder ‚das Gerechte‘ bzw. ‚die Gerechtigkeit‘ oder ‚die Person X‘ bzw. ‚der Charakter / die Seele von X‘. Der Grundfehler der empiristischen Sprachphilosophie, der hier zu überwinden ist, ist die vorschnelle Deutung des definiten Artikels als Ausdruck einer Kennzeichnung (‚definite description‘). Wenn man den gegenstandbildenden Charakter des Artikels nicht kennt oder beherrscht, meint man, es werde über mystische Entitäten wie das Ich oder das Nichts, die Seele oder dem Geist, den Verstand und die Vernunft, den Charakter oder die Psyche gesprochen. Man sieht dann nicht, dass und wie hier bloß auf den Sinn von ‚ich‘ bzw. ‚nichts‘ oder dann auch ‚seelisch‘ und ‚psychisch‘, ‚verständig‘ und ‚vernünftig‘, ‚charakterlich‘ und ‚charaktergleich‘ thematisch explizit und daher in einer syntaktisch als Satzstandard etablierten Subjekt-Prädikat-Form reflektiert wird. Auch wenn wir z. B. von verschiedenen Seelen in einer Brust oder verschiedenen Persönlichkeiten oder Charaktertypiken bei einem einzigen menschlichen Individuum sprechen, dann spalten wir ihr Reden und Handeln nur in mehr oder minder disjunkte Klassen auf und sagen etwa, dass jemand als Vater liebevoll und einfühlsam sein kann, obwohl er das als Lehrer oder Vorgesetzter oder gar als politischer Entscheider gerade nicht ist.
VI. Kants Subjekt an sich und Hegels Für-sich-Sein Obwohl Kant als erster die Konstitution von Redegegenständen in das Zentrum philosophischer Reflexion gerückt hat, hat gerade er den Begriff des handelnden Subjekts und damit der Person mystifiziert – was Heidegger zum Anlass nimmt, in Sein und Zeit die Subjektivität des Subjekts (SuZ: ) unter dem Titel ‚Dasein‘ zum Thema zu machen. Bei Kant beginnt das Problem mit seiner idiosynkratischen, völlig eigenwilligen und auf mehrfache Weise irreführenden, Verwendung des Ausdrucks ‚an sich‘, etwa in der Phrase ‚Ding an sich‘. Mit ihr will sich Kant auf eine Sache so beziehen, als ob sie rein an sich selbst betrachtet werden könnte. Das heißt, er abstrahiert von unserem perzeptivischen, empirischen, Zugang. Wenn man das auf absolute Weise tut, bleibt gar nichts mehr übrig, noch nicht einmal ein variables x. Hegel sieht hier gegen Kant, dass ohne Angabe des Genus, des immer begrenzten, in diesem Sinn ‚endlichen‘ Gegenstandbereiches (z. B. der Zahlen oder der Tiere) gar keine wohldefinierten Variablen x und kein wohldefiniertes ‚es gibt ein x‘ oder ‚für alle x‘ gibt. Immerhin erkennt Kant in der Kritik der reinen Vernunft (B f./A ff.) das Problem der Rede über einen „Gegenstand überhaupt“ und damit der Mehrdeutigkeit des Ausdrucks ‚nichts‘ bzw.
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Bei jedem Gegenstand, in dessen begrifflicher Bestimmung die Formen der Anschauung oder des perzeptuellen Zugangs eine wesentliche Rolle spielen, spricht Kant davon, dass es sich um eine (‚bloße‘) Erscheinung, ein Objekt in der Welt der Phänomene handele. Dieser empirischen Welt, dem mundus sensibilis, stellt Kant eine Welt reiner Denkgegenstände, einen mundus intelligibilis, gegenüber. In der Rede über diese reinen Denkgegenstände soll von aller Anschauung abstrahiert werden. Das geht aber schon deswegen nicht, weil wenigstens die Ausdrücke für die Gegenstände (etwa für die Zahlen, aber auch für Gott und Götter und alle abstrakten oder reinen Gegenstände der Rede) in der Erscheinungswelt des Daseins als wiedererkennbare und reproduzierbare symbolische Formen bekannt sein müssen. Kant unterscheidet nun aber am Charakter eines menschlichen Subjekts – der bei mir hier generell ‚personales Subjekt‘ heißt – „den Charakter […] in der Erscheinung“ vom „Charakter des Dinges an sich selbst“ (KrV A/B) und erklärt weiter, das „handelnde Subjekt würde nun, nach seinem intelligiblen Charakter, unter keinen Zeitbedingungen stehen, denn die Zeit ist nur die Bedingung der Erscheinungen, nicht aber der Dinge an sich selbst.“ Diese Lehre Kants führt in extrem obskures Fahrwasser: „In ihm würde keine Handlung entstehen, oder vergehen, mithin würde es auch nicht dem Gesetz aller Zeitbestimmung, alles Veränderlichen, unterworfen sein: dass alles, was geschieht, in den Erscheinungen (des vorigen Zustandes) seine Ursache antreffe“, so dass „die Kausalität desselben“, also des Subjekts an sich und seines intelligiblen Charakters, „gar nicht in der Reihe empirischer Bedingungen“ stände, „welche die Begebenheiten in der Sinnenwelt notwendig machen. Dieser intelligible Charakter könnte zwar niemals unmittelbar gekannt werden […], aber er würde doch dem empirischen Charakter gemäß gedacht werden müssen, so wie wir überhaupt einen transzendentalen Gegenstand den Erscheinungen in Gedanken zum Grunde legen müssen, ob wir zwar von ihm, was er an sich sei, nichts wissen“ (KrV A/B). „Nach seinem empirischen Charakter würde also dieses Subjekt, als Erscheinung, allen Gesetzen der Bestimmung nach, der Kausalverbindung unterworfen sein […]. Nach dem intelligiblen Charakter desselben aber […] würde dasselbe Subjekt dennoch von allem Einflusse der Sinnlichkeit und Bestimmung durch die Erscheinungen freigesprochen werden müssen“ (KrV A /B).
‚nihil‘, freilich ohne es befriedigend zu lösen, was noch nicht einmal Frege und seinen Nachfolgern gelingt. Arthur Schopenhauers Metaphysik des Willens wird diesen Gedanken vollends ins Absurde führen, nämlich durch eine naturalistische Identifizierung des unerkennbaren Subjekts an sich mit einem Drang zu überleben, samt allerlei Begierden des Vor- und Unbewussten.
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Damit will Kant die transzendentale oder noumenale Freiheit des handelnden Subjekts als möglich beweisen: „Man würde von ihm ganz richtig sagen, dass es seine Wirkungen in der Sinnenwelt von selbst anfange, ohne dass die Handlung in ihm selbst anfängt“ (KrV A /B). Ich weiß nicht, wer sich mit diesen Sätzen zufrieden gibt, ich weiß nur, dass man das nicht tun sollte. Hegel erkennt entsprechend, dass und warum Kants Analyse von Zeit und Kausalität im Rahmen seiner Transzendentalen Ästhetik und erst recht die Logik des Verhältnisses von Wesen an sich und Erscheinung, mundus intelligibilis und mundus sensibilis, schon in den Grundbegriffen verfehlt ist. Dazu liest er die Phrase ‚an sich‘, lateinisch per se, griechisch kath’auto, mit vollem Recht ganz anders als Kant, nämlich als kategorialen Anzeiger, dass es um prinzipielle, das Sinnverstehen grundlegende, Erläuterungen oder Charakterisierungen des jeweiligen allgemeinen Gegenstands- oder Themenbereichs G, eines Genus oder eines besonderen Formtyps geht. Das Wort ‚Prinzip‘ verweist ja schon wie das griechische Wort archē auf einen den Sinn beherrschenden Anfang, eine allgemeine Grundlage, etwa auch einen prototypischen Normalfall. Bis heute verwenden wir ja auch die Floskel ‚im Prinzip‘ in der gleichen Bedeutung wie ‚an sich‘ und sagen etwa, dass Milch an sich bekömmlich sei, auch wenn es viele Menschen mit Laktose-Unverträglichkeit gibt. Auch um Hegels Analyse des Für-sich-Seins in seiner Bedeutung zu verstehen, hilft eine Rückübersetzung ins Lateinische weiter. Das Wort ‚pro‘ im Ausdruck pro se esse drückt wie das deutsche Wort ‚für‘ eine gewisse relationale Beziehung aus. Daher verweist gerade die Floskel ‚für sich‘ immer auf eine innere Beziehung von etwas auf sich selbst. Das aber heißt logisch, dass für eine Relation R der Kategorie des Fürsichseins in Bezug auf die je konkret unterstellte Gegenstandsidentität oder Gleichheit g=g* im betrachteten Gegenstandsbereich G folgende ‚begriffliche‘ Regel gilt oder erfüllt sein muss: Wenn N, N* Repräsentationen von G-Gegenständen sind und wenn sie in einer Relation R der Kategorie des Für-sich-Seins stehen, folgt, dass N=N* (in G) gilt. Als Regel oder Bedingungssatz gilt also für Relationen R der Kategorie des Fürsichseins: R(N,N*)→N=N*. Als Beispiel betrachte man die Beziehung n·k=m·l zwischen den Brüchen n/m und l/k. Sie definiert sogar die Gleichheit der rationalen Zahlen. Beziehungen des Für-sich-Seins stehen in absolutem Kontrast zu Beziehungen des Für-Anderes-Seins, zu denen z. B. auch die Relationen eines Dinges oder Wesens zu uns als ihren Betrachtern stehen. Für eine Beziehung R der Kategorie des Für-Anderes-Seins gilt die Regel: R(N,N*)→NǂN*. Das An-und-für-sich-Sein einer Sache thematisiert die konkrete Manifestation eines Arttyps etwa in einem erfolgreichen empirischen Weltbezug. Das Wort ‚konkret‘ signalisiert gemäß der Bedeutung des lateinischen Wortes concrescere das Zusammenwachsen von generisch-eidetischem An-sichSein, dem Allgemeinen, mit dem vereinzelnden Für-sich-Sein, der Identität der Sache für sich.
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Das Kapitel zu den Wesenheiten in Hegels Wesenslogik beginnt mit einer Anmerkung dazu, dass sich die Reflexionsbestimmungen der Gegenstände, die wir als Ursachen von Erscheinungen ansprechen oder als Träger sinnlich perzipierbarer Eigenschaften, in der Form von Sätzen präsentieren. Diese sagen aber nichts über gegebene Entitäten und Identitäten aus, sondern kommentieren die Konstitution der Gegenstände, die wir als Ursachen von Erscheinungen ansprechen. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Denkgesetz des so genannten ‚Leibnizprinzips‘. Es ist vielleicht die größte Leistung Hegels, dieses nicht mehr ontisch-metaphysisch, sondern bedeutungskonstitutiv zu begreifen. Es besagt dann nämlich, dass jede Identität als Verneinung von Verschiedenheiten angepasst sein soll an die im Gegenstandsbereich definierten prädikativen Unterscheidungen. Man denke als Beispiel an die Zahleigenschaften im Ausgang von der Zahlordnung oder an Dingrelationen im Ausgang von ihren Relativbewegungen. Nur vermöge der zugehörigen Technik der Abstraktion von Unterschieden in Äquivalenz- oder Gleichgültigkeitsbeziehungen gibt es gemeinsame Bezugnahmen auf Gegenstände oder Objekte. Zentral ist dabei Hegels Einsicht, dass jede ‚objektstufige‘ Rede von Unterschieden und Verschiedenheiten, dann auch von Ungleichheit und Gleichheit der jeweiligen Individuen oder Einzelwesen, reflexionslogisch konstituiert ist und dabei ein normatives Element enthält: Es wird versichert, jedenfalls gesagt, dass wir so und so unterscheiden (oder eben nicht unterscheiden) sollen. Zunächst ist das Leibnizprinzip also ein rein formales Schema. Es ist das substitutive Rechnen mit Gleichungen, welche der definitorischen Konstitution der Identität so genannter Entitäten als benennbarer Gegenstände zugrunde liegt. Die Substitutionsregel ‚Wenn N=M und A(N) gilt, dann gilt auch A(M)‘ ermöglicht zu Wenn man die zu treffenden Unterscheidungen in einem System Σ von Prädikaten A etwa auf der Basis einer Liste von Grundprädikatoren und der Bildung formallogisch komplexer einstelliger Aussageformen A(x) definiert, wie wir dies aus Freges Logik kennen, dann sollten die Identifikationen, die wir durch Gleichheitsaussagen der Form t=t‘ zwischen namenartigen Termen oder benennungsartigen Repräsentanten von Gegenständen ausdrücken, nie ‚gröber‘ sein, als die durch die Klassifikationen A(x) im System Σ definierbaren Differenzierungen. Das gerade sagt die eine Richtung des Leibnizprinzips, nach welchem wir von t=t‘ und A(t) zu A(t‘) übergehen können. Umgekehrt lässt sich zu einem System Σ eine gröbste noch zulässige Gleichheit definieren durch die Bedingung: t=t‘ gelte als wahr (in Bezug auf Σ) genau dann, wenn es keine Aussageform A(x) in Σ gibt, so dass A(t) wahr ist, A(t‘) aber nicht. Die so definierte Gleichheit artikuliert dann eine formale Identität im Sinne der Negation der Negation Hegels. Um das Verfahren ins Laufen zu bringen, muss übrigens noch gar kein voller Begriff des Gegenstandes vorausgesetzt werden. Die Gegenstände, über die wir reden, sind also nicht schon vor der Fixierung des relativen Unterscheidungsbereich Σ geben, also auch nicht unabhängig vom Reich des ‚Begrifflichen‘. Sondern sie werden erst durch ein begrifflich gefasstes System Σ von Unterscheidungen und dem dazu gehörigen Urteilen definiert. Wenn man mit Hegel ein solches System Σ als Ganzes einfach ‚Begriff‘ nennt, kann man unter Verwendung traditionaler Ausdrucksformen sagen, dass jeder Gegenstand den Begriff Σ ‚enthalte‘. In diesem Rahmen erscheint Kants Konstitution der Dinge als Beschränkung der Dingaussagen auf solche Sätze, die in passender Weise invariant gegen die Dinggleichheit ( je zur betreffenden Zeit) sind. Dabei ist z. B. die räumliche Verschiedenheit, genauer: die ‚Repulsion‘, ein unterscheidendes Dingprädikat.
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sammen mit der Symmetrieregel ‚Wenn N=M gilt, so gilt auch M=N‘ allererst, auf verschiedene Weisen auf Dasselbe Bezug zu nehmen. Diese Regeln bilden die Grundlage von allem objektstufigen Für-sich-Sein und jeder perspektiven- und situationsübergreifenden Bezugnahme auf ‚objektive‘ Gegenstände. Eine Entität oder ein Gegenstand ist seiner Form gemäß formaler Referent von Repräsentationen und Präsentationen. Dabei produzieren wir Repräsentationen im symbolischen Handeln, etwa im Sprechen. Eine Präsentation ist etwas, was gezeigt wird. Weltbezüge verlangen entsprechende Zuordnungen zwischen dem Denken (Sprechen) und dem Zeigbaren der Anschauung. Die entsprechende Gleichheit des Bezugs ist über eine Relation des metastufigen Für-sich-Seins zwischen den möglichen Benennungen passend zu einem System von Prädikaten und Relationen des Für-Anderes-Seins definiert. Je ich bin daher, um das relevanteste aller Beispiele zu nennen, Subjekt nicht bloß als hypokeimenon, als Objekt meiner Rede über mich, sondern auch als Subjektim-Vollzug: als Sprecher, der seine eigene Rede als Selbstaussage oder Versicherung über sich selbst anerkennt und für andere als anerkennenswert deklariert. Auf die Frage, wer es ist, der spricht, antwortet die Angabe eines realen oder fingierten personalen Subjekts, das im Fall der Verwendung der Pronomen ‚ich‘ und ‚mich‘ mit dem Objekt, dem Satzgegenstand, auf eine bestimmte Weise identisch ist, auch wenn die Zugänge der Selbst-Bezugnahme verschieden sind: Ich als performatives Subjekt bin mir im Vollzug des Sprechens und Handelns präsentisch unmittelbar, absolut, gegeben. Das Ich oder die Person, über die ich etwas aussage, ist dagegen auch als Satzgegenstand ‚ich‘ benannt und es wird von mir gesagt, dass die (personalen) Aussagen des Prädikats auf mich als (personales) Subjekt oder als leibliches Individuum zutreffen. Was das im Detail alles heißen kann, muss hier aus Platzgründen offengelassen werden. Dabei ist das Innere des Mentalen oder subjektiven Geistes metaphorisch zu lesen, wie Hegel in seiner Analyse von Inhalten und jedem Form- und Inhaltsverstehen klar erkennt. Es geht dabei vorzugsweise um modale Dispositionen und Vermögen.
VII. Unterschiede im Ich Ohne dass wir festhalten, welche Unterscheidungen und Äquivalenzbewertungen relevant sind, geraten wir in den (sophistisch-skeptizistischen) Widerspruch, dass ‚alles verschieden‘ sei. Es gibt dann keine Gleichheit oder Identität außer dem sinnleeren A = A. Dass ‚alles‘ mit ‚sich‘ identisch sei, oder dass alles ist, was es ist, wie Bischof Butler so schön sagt, lässt sich durch die Gleichung A =A noch nicht einmal ausreichend ausdrücken. Entsprechend sinnleer ist dann auch Fichtes Formel Ich = Ich.
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Dabei hat schon die etwas mysteriöse Überschrift „Aufhebung des Werdens“ in Hegels Seinslogik beim Übergang zum Kapitel „Dasein“ einen impliziten Bezug zu Heraklit. Aufgehoben wird der ‚Widerspruch‘ in dem Gedanken: „In die gleichen Ströme steigen wir und steigen wir nicht, wir sind es und sind es nicht.“ In allem, was eine Zeit lang da ist, kommt das scheinbar flirrende Werden zu einem relativen Stillstand. Im Unterschied zum dauernd neuen Zufluss neuen Wassers und einer stetigen Verschiebung des Flussbetts z. B. des (‚kleinen‘) Mäanders (bei Ephesus) bleibt der Fluss als ganzer mit sich identisch. Auch wir bleiben Individuen, wie immer wir uns geändert haben, wenn wir zu verschiedenen Zeiten an den Fluss kommen. Heraklit weiß z. B. auch längst, dass es verschiedene Gleichheiten sind, wenn wir von der gleichen Bahn der Walkschraube sprechen, obwohl wir zwischen einem Zu- und Aufdrehen unterscheiden, gerade so wie wir im Fall von Wegstrecken die gerichteten Strecken oder Vektoren unterscheiden. In eben diesem Sinn sprechen wir von einem gleichen Fluss (etwa dem Mäander oder der Donau) und unterscheiden an ihm z. B. den jeweiligen Wasserschwall, der gerade vorbeifließt, oder auch die verschiedenen Namen und Benennungen (wie Danuvius und Ister). Heraklits Paradoxien sind also als Erinnerungen an die längst bekannte Technik des Unterscheidens und Nichtunterscheidens zu lesen.
Heraklit (Frgm. a): „Potamois tois autois embainomen te kai ouk embainomen, eimen te kai ouk eimen.“ Heraklit (Frgm. ): „hodos eutheia kai skolie“ bedeutet nicht „gerader und krummer Weg“, wie noch Bruno Snell ‚wörtlich‘ übersetzt, ohne den Gedanken aus dem Thema heraus zu verstehen, sondern unterscheidet die Rechts- von einer Linksdrehung. In Fragment ist der Gedanke klar: „hodos anō katō mia …“: „Der Weg nach oben und nach unten [oder auch: hin und her] ist ein und derselbe.“ In der Analytischen Philosophie des . Jahrhunderts wird Freges Unterscheidung zwischen Bedeutung und Sinn nicht in ihrer Variabilität und generischen Allgemeinheit, sondern ‚absolut‘ verstanden, so also, als gäbe es vorab definierbare Bedeutungs- bzw. Sinngleichheiten. Damit werden die kontextuellen und situationstypenabhängigen Festsetzungen übersehen. Es präsupponiert zwar die Rede von der BedeutungF von Namen eine bestimmte Gegenstands-Gleichheit. Die Rede von ihrem Sinn aber sollte dann immer noch auf variable Möglichkeiten feinerer oder gröberer Sinngleichheitsbestimmungen verweisen. Daher ist der Versuch einer ‚flächendeckenden‘ Definition ‚des Sinns‘ eines (namenartigen) Ausdrucks (etwa in der Form der ‚Intension‘ oder gar ‚intensionalen Isomorphie‘ bei Carnap) insofern irreführend, als die Unterscheidung zwischen SinnF und BedeutungF nur relativ ist, was freilich Frege selbst noch nicht klar genug gesehen und erläutert hat. Die Ausdrücke ‚die Bedeutung von X‘ und ‚der Sinn von X‘ sind Abstraktoren, die in Abhängigkeit von einer im Redebereich G gesetzten BedeutungsFgleichheit den Bezugsgegenstand von X und über eine implizit unterstellte Sinnäquivalenz den Sinn von X als Reflexionsgegenstand erzeugen.
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VIII. Identität als Homogenität? Das Wort Identität ist heute in aller Munde, auch wenn die Leute nicht genau wissen, was sie mit ihm sagen, noch nicht einmal, was sie mit ihm sagen wollen. Das Thema Identität spaltet sich dabei auf in die folgenden Teilthemen. Es geht a) um die Gleichheit von innerweltlichen Dingen und Sachen, samt der Dauer ihrer Identität, b) um das Problem der Identität und Existenz abstrakter Gegenstände, c) um die Frage nach der Ich-Identität oder der Identität der Person bei sich verändernden Zeiten und Umständen, sogar bei sich veränderndem ‚Charakter‘, und d) um die Metapher der Identität, die heute für die Identifizierung von Personen oder Bürgern mit einer Gruppe oder einem Volk, einer religiösen Bewegung oder einer Kultur steht, und damit gar nicht bloß meine Identität, sondern unsere anspricht, nicht von einem Ich, sondern einem Wir spricht. Letzteres ist z. B. überall der Fall, wo von nationaler Identität die Rede ist. Dabei gibt es durchaus wichtige Strukturzusammenhänge der verschiedenen Gebräuche des Wortes ‚Identität‘ – was ja auch nicht zu verwundern ist, da man ohne analoge Übertragungen figurative Gebräuche von Wörtern gar nicht verstehen würde. Es geht dabei nie darum, diese impliziten Metaphern und Analogien zu kritisieren oder gar abzuschaffen – auch wenn Hobbes, Hume, Lichtenberg und die Philosophen der ‚Analytischen Bewegung‘ das versucht haben. Es geht vielmehr darum, die analogische Form explizit zu machen. Dabei ist eine Analogie – das muss immer wieder gesagt werden, da hier zumeist Falsches gelehrt wird – nur sekundär eine Proportionsgleichheit oder gar eine bloße Ähnlichkeit. Primär heißt ana logon, dass man sich das Verständnis ‚je nach dem Ausdruck‘ entwickeln muss. Wegen der im Ausdruck zum Teil vorartikulierten Relationen, die von einem Fall auf einen anderen zu übertragen sind, ist eine Analogie weit genauer als eine bloße Metapher oder eine Ähnlichkeit, bei der man das, was ähnlich sein soll, erst noch zu bestimmen hat. Freilich ist neben dem fast sinngleichen Wort ‚Form‘ und den es definierenden Formgleichheiten – dem eidos Platons, das als innere oder semantische Form auch auf den Inhalt eines Begriffsworts und damit auf Begriffe verweist – kein Wort für eine Reflexion auf wis Hegels Vorliebe für Dreiteilungen und sogar die Verbindung mit der Trinität, also der theologischen Dreieinigkeit von Gottvater, Gottessohn und Heiligem Geist, ist tiefer begründet, als oberflächliche Leser meinen. Hegel operiert mit allen verfügbaren figurativen Tropen, von der Metapher und Strukturanalogie bis zur dialogisch-dialektischen Ironie. Gottvater steht dabei für die menschheitsgeschichtliche Entwicklung des Begriffs als generisch-eidetisches Allgemeinwissen im Sinn-
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senschaftliche Erklärungen und logisch-philosophische Analysen so wichtig wie ‚Struktur‘. Einige der analogen Zusammenhänge der vier schon grob differenzierten Gebrauchsweisen des Wortes ‚Identität‘ können wir nun in kurzen Merksätzen auflisten. . Jede Rede von der Identität einer Sache setzt eine gewisse Homogenität der Sache, samt ihrer Kontinuität voraus, wozu auch Äquivalenz und Gleichwertigkeit verschiedener ‚Teile‘ oder ‚Momente‘, auch ‚Aspekte‘ gehören. Das Homogene ist dabei schon dem Wortlaut nach von gleichem Geschlecht. Das Homogene hat z. B. gleiche ‚Gene‘. Die Rede von einem Kontinuum verweist auf einen Zusammenhang und eine Stetigkeit in allem Übergang und allen Entwicklungen der Sache. . Wie bei allen analogisch-figurativen Übertragungen gilt es, das Angemessene und das Unangemessene zu unterscheiden. Das wird im Fall der Rede über Identität besonders im Blick auf die mitausgesagte Homogenität sogar sozialkulturell und politisch unmittelbar relevant. Denn es treten jetzt gleich auch schon Fragen der genetischen Volksgruppe oder Rasse, jedenfalls implizit, auf. . Der Nationalismus ist nicht nur Folge des Imperialismus des . Jahrhunderts, sondern eines darwinistischen Biologismus. In diesen Vulgärdarwinismus eingemischt ist bis heute die Illusion der Homogenität als Bedingung von Gruppenidentität. Das begründet auch ein gewisses Ressentiment des Landes gegen die Stadt, des Ruralen gegen das kosmopolitische Urbane, und zwar weltweit. Unter dem Slogan der Wiederfindung nationaler Identität, der Rückgabe Frankreichs an die Franzosen, Englands an die Englishmen und Amerikas (‚du nord‘) an die Amerikaner (nicht etwa die Indianer, sondern an deren Eroberer unter Ausschluss von rezenten Zuwanderern) zeigen sich solche Phänomene des Aufstandes des flachen Landes gegen die Stadt. Die Anhänger von Donald Trump in den USA entsprechen daher der PEGIDA-Bewegung und der ‚Alternative für Deutschland‘ in unserem Land oder dem ‚Front National‘ in Frankreich. Dabei will es die Ironie der Dumpfheit, dass die vermeintliche Verteidigung des christlichen Abendlandes hierzulande weder weiß, dass das Christentum seit seiner Gründung durch Paulus (übrigens anders als die Petrus- und Jakobus-Gemeinde in Jerusalem) eigentlich die Urbanität des römischen Reiches verteidigt, noch, wie das Abendland in dieser römischen Tradition steht. Wer das Deutsche oder Französische, Britische, Nie-
verstehen, das uns einzelnen Menschen über den logos, seinen Ausdruck, vermittelt ist, wie schon Heraklit sagt, auf den die Logos-Theologie des Johannesevangeliums ebenso zurückgeht wie der Neuplatonismus bei Plotin oder Origenes. Der Menschensohn steht prototypisch für eine gute Einzelanwendung der Begriffe, der Heilige Geist für die dabei immer nötige besondere Urteilskraft.
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derländische, Polnische oder Russische als Identität gegen das Europäische oder auch gegen eine zu Unrecht verteufelte ‚Globalisierung‘ verteidigen will, weiß nicht, was er tut. . Was aber meint man positiv, wenn man sagt, man identifiziere sich mit der Universität und vielleicht auch gleich mit der Stadt Leipzig, oder dem Land Sachsen? Und was sagt einer, der im Bayrischen Fernsehen erklärt ‚Ich bin der Sepp und da bin ich daheim‘? Offenbar drückt die Rede von Identität und Identifizierung kurz und knapp die Teilnahme an einem gemeinsamen Leben und Lebensprojekt aus. Es geht um die Anerkennung sowohl des Wertes bzw. der Werte einer Lebensform oder eines Kulturprojekts, als auch um eine Haltung bzw. ein gefühlartiges Selbsturteil über die Anerkennung dieser Teilnahme. . Eben daher gehört auch die Rekonstruktion und Explikation von Geschichte zur Identität im Selbstverständnis derer, die so reden. Sie vergegenwärtigt die Entwicklung, an der man teilnimmt, teilzunehmen meint oder teilnehmen möchte. Der berühmte genius loci wirkt über derartige ‚Identifizierungen‘. Dabei ist die Entwicklung der Institution, des Ortes, der Region als Lebensraum Seinesgleichen, also für sich und die Seinen selbst das Projekt. Heimat wird so zum anderen Wort für regionale Identität und Identifizierung. . Es ist aber der Vorrang des allgemeinen, globalen, urbanen ‚Wissens‘ vor dem lokalen, ruralen, provinziellen ‚Meinen‘, der Vorrang der Objektivität vor einer gefühlten Realität, des positiven Rechts samt seiner politischen Kontrolle und Anerkennung vor jeder bloß kommunitarischen Gruppen- oder religiösen Binnenmoral zu verteidigen. Diesen Vorrang anzuerkennen, fällt den intuitiv urteilenden Mitgliedern ruraler und religiöser Gemeinschaften und dann auch den selbsternannten ‚nichtstaatlichen‘ Vereinigungen zur Weltverbesserung naturgemäß schwer, gerade auch allen selbsterklärten Appellen an eine ‚schweigende Mehrheit‘. In schlechter Kopie von Montagsdemonstrationen ruft man in einem entsprechenden Volksauflauf oder schreibt in Twitter-Gruppen ‚Wir sind das Volk‘. Hegels Polemik gegen alle Frommen, welche in abgrundtiefer Selbstgerechtigkeit „Herr! Herr!“ rufen, ist dazu völlig analog (GW : f.). . Über die formalen und begrifflichen Analysen und Kanonisierungen von Reflexionsformen und Reflexionstermini wie ‚Subjekt‘ und ‚Person‘ hinaus reicht Hegels Einsicht, dass wir volle Personen erst sind in Anerkennung der Bedeutung des Staates als Rahmen jeder Urbanität. Der Staat ist das System aller rechtlich stabilisierten Institutionen und damit die eigentliche Vermittlung zwischen Person und Menschheit, nicht die bloß individuelle Moral binärer Kooperation von Ich und Du. Dieser Grundgedanke eines paulinischen Christentums, sozusagen als radikalisierte
Individuum, Subjekt, Person
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Entwicklung des Lutheranismus, ist durchaus moderner und wohl auch zukunftsträchtiger, als die sich ihrer vermeintlichen Moderne allzu sichere Gegenwart weiß. Literatur Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. [GW] ff. Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hamburg. Heidegger, Martin. [SuZ] . Sein und Zeit. Tübingen. Heraklit. . Fragmente, herausgegeben von Bruno Snell. Zürich/Darmstadt. Kant, Immanuel. [KrV] . Kritik der reinen Vernunft, herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Darmstadt. Lichtenberg, Georg Christoph [Sudelbücher] /. Schriften und Briefe II, herausgegeben von Wolfgang Promies. München. Parfit, Derek. . Reasons and Persons. Oxford. Pindar. . Die Dichtungen und Fragmente. Edition Ludwig Wolde. Leipzig. Strawson, Peter F. . Individuals. London et al. [dt.: . Einzelding und logisches Subjekt. Suttgart].
Francesca Menegoni DER BEGRIFF DER ACHTUNG FÜR DIE PERSON BEI KANT UND HEGEL
I. Die Achtung als Beziehung In den aktuellen Debatten über Themen der Ethik und der Sozialphilosophie erscheinen einige Begriffe besonders häufig: Darunter treten in enger Verbindung zueinander die Anerkennung, das Vertrauen und die Achtung hervor. Gerade aufgrund ihrer innigen Wechselbeziehung hilft die Vielschichtigkeit eines jeden dieser Begriffe bei der Klärung des semantischen Reichtums und der Wertekomplexität. In diesem Beitrag werde ich mich auf die Erklärung des Begriffs der Achtung konzentrieren, um dessen Verbindung zur Anerkennung und zum Vertrauen auf der Grundlage von genauen Angaben zu zeigen, die in der praktischen Philosophie von Kant und Hegel zu finden sind. Unter dem begrifflichen Profil deutet die ‚Achtung‘ auf eine Gefühlsart oder eine Haltung hin, die eine besondere Form der Beziehung bezeichnet. Wenn wir uns nämlich danach fragen, was dieses Wort bedeutet, bemerken wir sofort das Bedürfnis, näher zu erklären, ob wir an Achtung vor jemandem oder etwas denken, das heißt wir denken an eine Beziehung. Was für eine Art Beziehung? Eine symmetrische oder asymmetrische Beziehung? Eine vertikale oder horizontale Beziehung? Eine einseitige oder wechselseitige Beziehung? Eine erste Antwort auf diese Fragen bekommen wir von dem, was wir als den Gegenstand der Achtung betrachten. Man spricht von Achtung vor der Autorität oder Respekt für die Umwelt, für Tiere, für Personen und für das Andere. Hier breitet sich die Liste aus wie ein Fächer und schließt einerseits die Achtung für ethnische, kulturelle und religiöse Minderheiten und andererseits die Achtung für Menschen in Schwierigkeiten (z. B. die Achtung für Behinderte, für Kranke, für Migranten und für Immigranten) ein. Sei es die Achtung vor Wesen, die sich vom Menschen unterscheiden – wie im Falle des Respektes für die Umwelt, für die Überreste der Vergangenheit und für Kunstwerke – oder die Achtung für die Menschen, der Begriff scheint prima facie eine Haltung zu bezeichnen, die aus dem Inneren einer Beziehung zwischen Ungleichen auftritt und sich in passivem Sinne als Ehrerbietung gegenüber etwas oder jemandem und in aktivem Sinne als rücksichtsvolle Sorge offenbart. Vgl. dazu Hill Jr. (; ); Darwall (); Mordacci (). In diesem Aufsatz greife ich Hegel-Studien Beiheft · © Felix Meiner Verlag · ISSN -
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Diese asymmetrische Beziehung ist offensichtlich im Falle des Respektes für die Umwelt oder für Kunstwerke: Es handelt sich um eine Haltung, die eine Reihe von Verhalten erzeugt, in denen es keine Wechselseitigkeit gibt. Die rücksichtsvolle Sorge zum Schutz der Kunst- und Kulturschätze wird uns gegenüber nicht erwidert: Deshalb bezeichnet der Begriff eine einseitige Beziehung, die vertikal verläuft. Bei der Achtung vor Menschen ist die Situation jedoch komplexer, weil sie sowohl zu einer asymmetrischen und einseitigen wie auch zu einer symmetrischen und wechselseitigen Beziehung führen kann. Die erste Beziehungsform ist die geläufigste. Die Achtung vor jemandem, den wir aufgrund seiner Aufgaben, Fähigkeiten oder Autorität als übergeordnet anerkennen, muss weder horizontal noch wechselseitig sein. Dazu ist es nicht nötig, nur der politischen Philosophie zugehörige Begriffe ins Spiel zu bringen, wie die Autorität oder die Souveränität, denn es genügt, daran zu denken, was täglich an den meisten Arbeitsplätzen geschieht, an denen die vorherrschenden Beziehungen – mit wenigen Ausnahmen – stark asymmetrisch und vertikal sind. Aufgrund dieser Betrachtungen haben einige Interpreten die hierarchische Natur der Achtung hervorgehoben, die sich oft als eine Haltung der formellen Befolgung zeigt, der aber keine tatsächliche Beachtung der Person entspricht (vgl. Moradacci , ff.). Im weiteren Verlauf meines Beitrags möchte ich mich kritisch mit diesen Interpretationen auseinandersetzen, ausgehend von zwei Arten, das Thema der Achtung im Rahmen der klassischen deutschen Philosophie anzupacken. Dazu werde ich auf die voneinander abweichenden Vorschläge von Kants Moralphilosophie und Hegels sozialpolitischem Denken eingehen, um zu zeigen, dass in den beiden Perspektiven der Begriff der Achtung in einer wesentlichen, von der gemeinsamen Zugehörigkeit der beiden Denker zur Neuzeit bestimmten Kontinuität aufgefasst wird, die Grundlage verschiedener ethischer Modelle darstellt.
II. Die Achtung als symmetrische und wechselseitige Beziehung Die genaueste Definition der Achtung als eine von Symmetrie und Wechselseitigkeit bestimmte Beziehung stammt zweifellos von Immanuel Kant, der in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre“ von den Tugendpflichten gegen andere Menschen handelt und schreibt: „Ein jeder Mensch hat rechtmäßigen Anspruch auf Achtung von seinen Nebenmenschen, und wechselseitig ist er dazu auch gegen jeden anderen verbunden“ (MdS, AA VI: ). In diesem Zusammenhang, der zu den Anwendungsschriften der Neunziger Jahre gehört, greift
einige strukturell abgeänderte Betrachtungen wieder auf, die in Menegoni () dargelegt worden sind.
Der Begriff der Achtung für die Person bei Kant und Hegel
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Kant auf einige tragende Begriffe der praktischen Philosophie zurück, die im vorhergehenden Jahrzehnt umrissen worden waren, als er zum Beispiel hinzufügt: „Achtung, die ich für andere trage, oder die ein anderer von mir fordern kann (observantia aliis prestanda), ist also die Anerkennung einer Würde (dignitas) an anderen Menschen, d. i. eines Werts, der keinen Preis hat, kein Äquivalent, wogegen das Objekt der Wertschätzung (aestimii) ausgetauscht werden könnte“ (MdS, AA VI: ). Die Anerkennung der gleichen Menschenwürde führt in einem stark von den Idealen der Aufklärung inspirierten Rahmen dazu, den Begriff der Menschlichkeit selbst als Würde zu definieren, sodass man nicht sagen muss, dass die Menschlichkeit eine Würde hat, denn das, was man besitzt, kann verloren gehen oder uns genommen werden, sondern dass die Menschlichkeit eine Würde ist: „Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von anderen noch so gar von sich selbst) bloß als Mittel, sondern muß jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle andere Weltwesen, die nicht Menschen sind und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt“ (MdS, AA VI: ). Die Verleugnung der Würde des einzelnen Menschen stimmt also mit der Verleugnung der Menschlichkeit selbst überein. In der Philosophie Kants ist der Begriff der Achtung also eng mit dem der Würde der Person verbunden, eine Würde, die dadurch bestimmt wird, dass kein Individuum jemals nur als ein einfaches Mittel betrachtet werden darf, sondern immer auch als Zweck betrachtet werden muss, wie in der zweiten Formulierung des kategorischen Imperativs behauptet wird: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (GMS, AA IV: ). Auf der Grundlage dieser Voraussetzungen ist die ganze praktische Philosophie Kants als eine Ethik der Achtung bezeichnet worden, die in der Idee der Menschenwürde eine normative Quelle findet (vgl. Löwith ). Kants Definitionen erlauben uns, von einer einfach beschreibenden Betrachtung der Achtung als Gefühlsart oder Ehrerbietungshaltung zu einer bewertenden Betrachtung überzugehen. Andererseits ist Kant darin der Erbe einer Tradition, die ihre Wurzeln in die Antike schlägt, denn die Aufmerksamkeit, die Beachtung, die Wertschätzung und die rücksichtsvolle Sorge für denjenigen, der die Würde besitzt, immer auch als Zweck und nicht nur als Mittel zu gelten, sind in verschiedenen Kulturen und Sprachen zugegen. Dazu reicht es darauf hinzuweisen, dass in der lateinischen Kultur dem Wort ‚Achtung‘ observantia und reverentia entsprechen. Insbesondere bedeutet reverentia Anstand, rücksichtsvolle Furcht, aber auch und vor allem attentio, eine Aufmerksamkeit, die aestimatio (Wertschätzung) erzeugt und sich als cura (Berücksichtigung) zeigt. Reverentia ist nämlich ihrerseits die Übersetzung der griechischen Wörter aidós und eulábeia. Das erste bezeichnet rücksichtsvolle
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Furcht gegenüber dem Heiligen und der díche, die sich als rechtschaffendes Verhalten sich selbst und den anderen gegenüber zeigt; das zweite bezeichnet auf nicht unähnliche Art Vorsicht und Gottesfurcht. Kants Auffassung, die Achtung und Würde unlösbar mit der Wertschätzung des Menschen verbindet, der immer auch als Zweck und niemals nur als Mittel betrachtet werden muss, fügt sich demnach in diese Tradition ein, deren Kontinuität bis in die Neuzeit führt und den Gipfel des Bewusstseins in der Aufklärung findet. Das, was Kants Auffassung von dieser Tradition abgrenzt, ist die Definition des Gegenstands der Achtung, welches nur das moralische Gesetz sein kann. Diese Ausschließlichkeit hat Kants Ethik sofort den bekannten Kritiken des Formalismus und Rigorismus ausgesetzt. Kant definiert nämlich die Pflicht als die Notwendigkeit einer Handlung, die aus Achtung vor dem moralischen Gesetz ausgeführt wird: „Nur das, was bloß als Grund, niemals aber als Wirkung mit meinem Willen verknüpft ist, was nicht meiner Neigung dient, sondern sie überwiegt […], mithin das bloße Gesetz für sich, kann ein Gegenstand der Achtung und hiermit ein Gebot sein. Nun soll eine Handlung aus Pflicht den Einfluß der Neigung und mit ihr jeden Gegenstand des Willens ganz absondern, also bleibt nichts für den Willen übrig, was ihn bestimmen könne, als objektiv das Gesetz und subjektiv reine Achtung für dieses praktische Gesetz, mithin die Maxime, einem solchen Gesetze selbst mit Abbruch aller meiner Neigungen Folge zu leisten“ (GMS, AA IV: f.). Die Achtung vor dem moralischen Gesetz ist der einzige Beweggrund, der der Handlung einen moralischen Wert verleihen kann, vielmehr ist sie „die Sittlichkeit selbst, subjektiv als Triebfeder betrachtet“ (KpV, AA V: ). Demnach ist die Achtung für das Gesetz nicht die Ursache des Gesetzes, sondern die Wirkung des kategorischen Imperativs auf das moralische Subjekt, und besteht aus einem Gefühl, das nicht von einer äußeren Ursache bestimmt wird, sondern das Ausdruck der Autonomie eines vernünftigen und für seine Handlungen verantwortlichen Wesens ist. Das moralische Gesetz entstammt nämlich keiner äußeren oder dem Menschen übergeordneten Autorität, sondern es liegt in seiner Vernunft selbst und schreibt ihm ein Verhalten vor, damit er die Menschlichkeit der Person immer als Zweck und niemals nur als Mittel betrachtet. Deshalb definiert Kant die Achtung als ein Gefühl besonderer Natur, das von der freien Unterwerfung unter ein Gesetz hervorgerufen wird, das der Vernunft selbst entstammt und deshalb apriorisch ganz erkannt werden kann (KpV, AA V: ). Die Achtung, die jeder sich selbst und den anderen schuldet, ist nichts Anderes als die Achtung vor dem Gesetz, das in ihm wohnt (revere legem), durch ein ebenso allgemeines wie formales Prinzip. Erst zu einem späteren, sozusagen hergeleiteten Zeitpunkt wendet sich die Achtung für die moralische Grundlage an den, der dafür Vgl. Forcellini (). Zur moralischen Relevanz des Begriffs der Achtung und der darin enthaltenen Bedeutungen (Berücksichtigung, Respekt, Rücksicht, Wertschätzung) vgl. Wolf ().
Der Begriff der Achtung für die Person bei Kant und Hegel
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ein Vorbild darstellt. Dieses konkrete Beispiel ist die Person, eben weil die Person Trägerin eines nicht relativen Wertes ist, da sie dazu fähig ist, immer als Zweck und nicht nur als Mittel betrachtet zu werden: „Alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur Achtung fürs Gesetz (der Rechtschaffenheit etc.), wovon jene uns das Beispiel gibt“ (GMS, AA IV: Anm.). Als Person betrachtet ist der Mensch über jeden Preis erhaben, da er eine Würde besitzt, und diese Würde, die der Menschlichkeit identisch ist, ist das, was ihm gestattet, sich mit Seinesgleichen auseinanderzusetzen und sich ihnen ebenbürtig zu fühlen. Das ist der Grund, warum Kant zufolge die Sachen, im Gegensatz zu den Personen, nicht Gegenstand der Achtung sein können. Die vom Menschen verschiedenen Wesen können Anziehung, Bewunderung, Erstaunen oder auch Furcht hervorrufen, aber niemals Achtung, eben weil sie einen relativen Wert und somit einen Preis, aber keinen inneren Wert besitzen, das heißt sie haben keine Würde: „Achtung geht jederzeit nur auf Personen, niemals auf Sachen. Die letzteren können Neigung, und wenn es Tiere sind (z. B. Pferde, Hunde etc.), so gar Liebe, oder auch Furcht, wie das Meer, ein Vulkan, ein Raubtier, niemals aber Achtung in uns erwecken“ (KpV, AA VI: ). Deshalb ist die Beziehung der Achtung zu diesen Sachen asymmetrisch und ohne Wechselseitigkeit. Wie schon erwähnt, sind die Dinge beim Menschen komplexer. Auch im Menschen gibt es Eigenschaften, die einen Marktpreis haben (zum Beispiel seine Fähigkeiten bei der Arbeit) oder einen Liebhaberpreis (zum Beispiel die künstlerische Kreativität), aber nur die moralischen Eigenschaften (zum Beispiel sein Wort halten) haben laut Kant einen unbedingten Wert und verdienen deshalb Achtung (GMS, AA IV: f.): Allein der Mensch als Person betrachtet, d. i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht bloß als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d. i. er besitzt eine Würde (einen absoluten innern Wert), wodurch er allen andern vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt, sich mit jeden Anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann. (MdS, AA V: f.) Die Würde der moralischen Person liegt demnach darin, die Quelle des Gesetzes selbst zu sein. Die Fähigkeit, Achtung vor einem Gesetz zu empfinden, das er sich selbst gibt und das den Beweggrund seiner Willkür darstellt, definiert im Menschen seine Persönlichkeit. Letztere, die eins ist mit seiner Freiheit, erhebt den Menschen sowohl über die Tierheit, die ihn als lebendigen Organismus kennzeichnet, als auch über die Menschlichkeit, die ihm kraft der Vernunft zusteht (RS, AA VI, –). Die Persönlichkeit bezeichnet also in Kants Perspektive die Spezifizität eines vernünftigen und zurechnungfähigen Wesens, denn nur ein freies Wesen ist dazu berufen, seine Handlungen zu verantworten.
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Dank ihres Formalismus hat Kants Ethik ein für allemal den Unterschied zwischen dem, was einen relativen Wert und somit einen Preis hat, und dem, was einen inneren Wert besitzt, das heißt eine Würde, festgelegt. Während all das, was einen Preis hat, unsere Bewunderung erwecken kann, aber niemals Gegenstand der Achtung ist, steht die Achtung nur der Person zu, denn diese bietet ein konkretes Beispiel des moralischen Prinzips, da sie dessen unbedingten Charakter teilt und ihre Betrachtung zum Horizont der Zwecke und nicht der Mittel gehört. Es ist somit richtig, im praktischen Gefühl der Achtung die Grundlage der Kantischen Ethik zu sehen. Allgemeiner betrachtet verschafft dieser Begriff jedoch Zugang zu dem, was im Menschen als phaenomenon der sinnlichen Natur entzogen wird. Die Person als moralisches Subjekt, das Gegenstand der Achtung ist, ist der Ort, an dem die phänomenische und die noumenische Ordnung zusammenleben. In diesem praktischen (niemals pathologischen) Gefühl sind beide Bedeutungen des Wortes Achtung enthalten, sowohl die aktive als auch die passive: Die Achtung ist nicht nur passive Beachtung des Gesetzes, welches Ausdruck der Autonomie der moralischen Person ist, sondern sie ist das, was den Willen zur rechtschaffenen Handlung als Beweggrund bestimmt. Man könnte einwenden, dass dieser Polarität aktiver und passiver Bedeutung jedoch keine symmetrische und wechselseitige Beziehung entspricht, da diese Situation, wenn das moralische Gesetz in dem, der es als sein eigenes anerkennt, ein Gefühl der Achtung erweckt, keine Wechselseitigkeit impliziert: Wenn man das moralische Gesetz nämlich als allgemeines und unbedingtes Prinzip betrachtet, wird es von der Errichtung der Beziehung zum einzelnen moralischen Subjekt weder vervollständigt noch vermindert. Es wird demnach nicht in eine Beziehung der Wechselseitigkeit verwickelt, jene Wechselseitigkeit, die hingegen für diejenigen gilt, die dieselbe Würde teilen und somit einander gleich sind. Anhand des Begriffs der Achtung vor dem moralischen Gesetz scheint Kant die Besonderheit eines unbedingten metaphysischen Prinzips auszudrücken, das gleich wie der unbewegliche Motor von Aristoteles eine Beziehung zu sich aktiviert, ohne in die Beziehung selbst verwickelt zu werden. Auf diesen Einwand kann man jedoch entgegnen, indem man darauf aufmerksam macht, dass diese fehlende Bedingung der Wechselseitigkeit und Asymmetrie für das objektiv betrachtete moralische Prinzip, nicht jedoch für die subjektive Seite gilt. Wer nämlich aus Achtung vor dem Gesetz handelt, drückt in seiner Handlung die freie Unterwerfung unter ein Prinzip aus, das aus seiner Vernunft selbst hervorgeht und folglich nichts anderes als seine Würde ausdrückt. Wer an dieser Würde teilhat und deren Typus verkörpert, das heißt ein fassbares Beispiel dafür liefert, erlebt die Achtung als wechselseitige und symmetrische Beziehung, und auf dieses Gefühl gründet die Gleichheit zwischen den moralischen Personen.
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Die Möglichkeit, in Kants Auffassung die objektive von der subjektiven Perspektive der Achtung zu unterscheiden, wird paradoxerweise von jenem Element gegeben, auf das sich die Kritiken der Postkantianer am meisten konzentriert haben, und zwar von dem formalen Charakter des praktischen Prinzips, das von der allgemeinen Formel des kategorischen Imperativs ausgedrückt wird. Kant schreibt in der Tat in der Grundlegung: Die Gesetzgebung selbst aber, die allen Wert bestimmt, muß eben darum eine Würde, d. i. unbedingten, unvergleichbaren Wert haben, für welchen das Wort Achtung allein den geziemenden Ausdruck der Schätzung abgibt, die ein vernünftiges Wesen über sie anzustellen hat. Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur (GMS, AA IV: ). Wenn der universale und unbedingte Wert des moralischen Gesetzes an sich betrachtet keine wechselseitige Beziehung zu denjenigen, die es bewusst und frei unterwirft, zu erlauben scheint, besteht die Wechselseitigkeit in Wirklichkeit zwischen den Personen, die den Typus jenes Prinzips verkörpern und somit eine konkrete Eingebung davon vorweisen. Nun ist auf solche Weise eine Welt vernünftiger Wesen (mundus intelligibilis) als ein Reich der Zwecke möglich und zwar durch die eigene Gesetzgebung aller Personen als Glieder. Demnach muß ein jedes vernünftige Wesen so handeln, als ob es durch seine Maxime jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der Zwecke wäre (GMS, AA IV: ). Auf diese Weise verwandelt sich die scheinbar existierende asymmetrische Beziehung zwischen dem formalen, allgemeinen Gesetz, das Gegenstand der Achtung ist, und den moralischen Subjekten, die es beachten, in eine Verbindung der Wechselseitigkeit zwischen den Personen, die das Gefühl der Achtung als Gesetzgeber eines „Reiches der Zwecke“ vereint.
III. Die Achtung als Anerkennung Die Kultur nach Kant erweitert den Begriff der Achtung und der Würde, den die Kantische Ethik dem moralischen Subjekt vorbehält, wobei die Notion der Wechselseitigkeit unter Einführung eines neuen begrifflichen Elementes entwickelt wird: die Anerkennung. Hegels Philosophie geht einen entscheidenden Schritt weiter über Kant hinaus in diese Richtung. Diese Loslösung von Kant wird ausgehend von einer radikalen Veränderung in der Definition der Person ausgedrückt, die nun nicht mehr als für seine Ent Zu den theoretischen Entwicklungen dieses Themas vgl. Korsgaard ().
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scheidungen und Handlungen verantwortliches moralisches Subjekt betrachtet wird, sondern im Wesentlichen als Rechtssubjekt, dessen Wert mit der Anerkennung von Seiten anderer Rechtssubjekte verbunden ist. In dieser neuen Perspektive bedeutet die Beachtung der Person Achtung für all das, was sie besitzt, angefangen bei den Sachen, bei den Objekten, denen sie das Siegel ihrer Individualität aufgedrückt hat, bei ihren Fähigkeiten und Tätigkeiten, bis hin zur Achtung für das Leben in allen seinen Formen. Mit der besessenen Sache, wenn sie einmal als ‚meine‘ bezeichnet wird, behauptet die Person nämlich ihren freien Willen und ihre persönliche Identität, denn das, was sie im Laufe ihrer Existenz erzeugt, unterscheidet sich nicht von ihrer Persönlichkeit. Es darf also nicht verwundern, dass das gesamte Gebäude der sozialen und politischen Philosophie Hegels auf einen einzigen Imperativ gründet, der besagt: „sey eine Person und respectire die andern als Personen“ (GW ,: §). Das bedeutet: Respektiere all das, was in ihrem Besitz ist, angefangen bei ihren körperlichen und geistigen Fähigkeiten und bei all dem, was sie mit ihrer Individualität und ihrer Arbeit geprägt haben. Hierbei ist die Achtung für das Andere als Person eins mit der Anerkennung des Anderen, auch wenn diese Anerkennung im Einklang mit den Eigenschaften des Rechts auf einer formellen Ebene bleibt (GW ,: ). Das Subjekt des Rechts ist die Person, die sich der Freiheit ihres Willens bewusst ist und versucht, ihn in der Beziehung zu anderen Willen zu verwirklichen. Vom Begriff der Persönlichkeit rühren alle Bestimmungen des Zivil- und Strafrechts her, vom Recht auf „Sachen“ (Eigentum, Gebrauch, Veräußerung, Vertrag) bis zur Definition von dem, was der Persönlichkeit schadet (Unrecht, Betrug, Verbrechen). Das Recht „auf Sachen“ ist das, was die Beziehungen zwischen Rechtssubjekten vermittelt. Folglich berührt der Schaden, wenn einer Person Unrecht widerfährt, nicht direkt die Würde der Person, sondern er berührt sie indirekt durch die besessene Sache (GW ,: ). Auf den Imperativ „sei eine Person und respektiere die anderen als Personen“ stützen sich alle rechtlichen Bestimmungen, ausgehend von den Vertragsformen, die auf der Unterscheidung von dem, was veräußerlich ist, und dem, was unveräußerlich ist, gründen. Hegel definiert als veräußerlich das, was der Person äußerlich ist, während die unveräußerlichen jene Güter sind, die der Persönlichkeit selbst angehören: allen voran die Freiheit und das Leben. Folglich kann ein Arbeiter seine körperlichen und geistigen Energien nur für einen begrenzten Zeitraum veräußern, denn das, was ein Individuum im Laufe seiner ganzen Existenz erzeugt, unterscheidet sich nicht von seiner Person: Von meinen besondern, körperlichen und geistigen Geschicklichkeiten und Möglichkeiten der Thätigkeit kann ich einzelne Productionen und einen in der Zeit beschränkten Gebrauch von einem andern veräußern, weil sie nach dieser Beschränkung ein äußerliches Verhältnis zu meiner Totalität und Allgemeinheit er-
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halten. Durch die Veräußerung meiner ganzen durch die Arbeit concreten Zeit und der Totalität meiner Production würde ich das Substantielle derselben, meine allgemeine Thätigkeit und Wirklichkeit, meine Persönlichkeit zum Eigentum eines andern machen (GW ,: §). Mit der Feststellung dieses Prinzips wiederholt Hegel im Übrigen mit anderen Worten etwas, das Kant bereits in der Metaphysik der Sitten schrieb: Durch einen Vertrag kann sich niemand zu einer solchen Abhängigkeit verbinden, dadurch er aufhört, eine Person zu sein; denn nur als Person kann er einen Vertrag machen […]. Er kann sich also nur zu der Qualität und dem Grade nach bestimmten Arbeiten verbinden […], ohne sich dabei zum Gutsunterthan (glebae adscriptus) zu machen, als wodurch er seine Persönlichkeit einbüssen würde (MdS, AA VI: ). Trotz dieser nicht erklärten Schuld gegenüber der Kantischen Philosophie überwiegen bei Hegel jedoch die Vorbehalte gegenüber einer Auffassung, die seinen ältesten Überzeugungen zufolge durch eine unüberwindbare Teilung der besonderen Interessen und der allgemeinen Prinzipien entkräftet wird. Schon in seinen Jugendschriften behauptete Hegel der Kantischen Ethik gegenüber nämlich polemisch, dass es keinen Unterschied dazwischen gibt, wenn man den eigenen Herrn außerhalb seiner selbst oder im Inneren des eigenen Bewusstseins hat, denn da, wo das Gesetz – sei es moralisch, bürgerlich oder religiös – eine Herrschaftssituation einführt, setzt es sich als Gegenstand einer Achtung durch, die als jene Furcht empfunden wird, die in einer asymmetrischen Beziehung zwischen Ungleichen gilt. Dieses Prinzip wird auch in den Habilitationsthesen bekräftigt, die der Dissertatio De orbitis planetarum (Jena ) Pro licentia docendi rite obtinenda vorausgeschickt werden (GW : f.). Insbesondere die XII. These – Moralitas omnibus numeris absoluta virtuti repugnat – fasst die Kritik an einer abstrakten und unbestimmten Moralität zusammen, die sich der konkreten Ausübung der Tugend widersetzt. Der abstrakten und formellen Moralität wird die „moralische Wissenschaft“ gegenübergestellt, deren Grundlage in der X. These zum Ausdruck kommt: Principium scientiae moralis est reverentia fato habenda. Diese Grundlage ist für Hegel wie auch für Kant die Achtung. In diesem Fall handelt es sich um die Beachtung, die einem Prinzip zusteht, das nicht weniger allgemein und notwendig ist als der kategorische Imperativ Kants: das Schicksal. Um den Sinn der reverentia fato habenda zu verstehen, muss man jedoch vorausschicken, dass das Schicksal – ein Begriff, der in den Jugendschriften und in den frühen Jenaer Aufsätzen oft erscheint – als jene Kraft definiert wird, die immer dann ausbricht, wenn sich das, was ein Teil ist, ablöst und dem Ganzen, dessen Teil es ist, entgegenstellt. „Schiksal ist das Gesetz selbst, das ich in der Handlung (diese
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sey Übertretung eines andern Gesezes) aufgestellt habe, in seiner Rükwirkung auf mich“ (GW : f.); es ist „die gleiche Rükwirkung der That des Verbrechers selbst, eine Macht die er selbst bewafnet, eines Feindes, den er selbst zum Feinde machte“ (GW : ). Kraft dieser Definition verbindet der junge Hegel in seinen Studien unterschiedslos das Schicksal des jüdischen Volkes, das Schicksal des Christentums und das Schicksal seines Gründers, der dazu berufen war zu wählen, ob er sich seinem Volk unterwerfen und somit seine Einheit mit dem Göttlichen opfern, oder ob er es zurückweisen und für diese Trennung mit dem Leben bezahlen sollte. Hegel schreibt nämlich, dass Jesus sich dafür entschied, aus Liebe zur Menschheit seinem Volk entgegenzutreten, und diese Liebe wurde sein Schicksal: Jesus bekämpfte nicht nur einen Theil des jüdischen Schiksals, weil er nicht nur von einem andern Theil desselben befangen war, sondern stellte sich dem Ganzen entgegen […]; auch sein erhabener Versuch, das Ganze des Schiksals zu überwinden, mußte darum in seinem Volke fehlschlagen, und er selbst ein Opfer desselben werden (GW : ). Der Begriff des „Schicksals“ übernimmt so in Hegels Perspektive die Bedeutung einer dialektischen Bewegung, kraft derer sich die Ablösung oder die Entgegenstellung eines Elementes zum Ganzen, dessen Teil es ist, gegen letzteres wendet und damit sein Ende bestimmt. Die bekannteste Entwicklung dieser Dynamik ist in der Schrift von über das Naturrecht enthalten und wird auf den Seiten der Phänomenologie des Geistes wieder aufgegriffen, die in der Interpretation von Sophokles’ Antigone dem Zusammenstoß von menschlichen Gesetzen und Blutgesetzen gewidmet sind. Insbesondere die auf den Seiten der Schrift über das Naturrecht beschriebene „Tragödie im Sittlichen“ setzt einen ersten Versuch um, ein Verhältnis zu verwirklichen, das zugleich Unterordnung und Autonomie ist, der zweiseitigen Seinsart der Achtung in aktivem und passivem Sinn gemäß. In der „Tragödie im Sittlichen“ stoßen zwei gleichermaßen berechtigte Seiten aufeinander; beide sind einer dem anderen gegenüber als objektive und subjektive Freiheit im Recht. Das ist der Kampf, in dem sich Kreon und Antigone oder die Stadt Athen und Sokrates einander gegenüberstehen, ein „tragisch“ definierter Gegensatz, weil er für keinen der Kontrahenten einen Sieg hervorbringt, sondern ein jeder stellt für den anderen „das ernste Schiksal“ dar (GW : ). Das Aufgreifen einer besonderen Bedeutung vom Thema des Schicksals gestattet, Missverständnisse über die Art, wie der Begriff der „reverentia fato habenda“ als Grundlage der moralischen Wissenschaft aufgefasst wird, zu vermeiden. Hegel beabsichtigt mitnichten, diese Grundlage einer Unterwerfungshandlung auszuliefern, sondern will im Begriff des Schicksals, wenn auch in einer alles andere als unmittelbar deutlichen Form, die Notwendigkeit der bewussten Anerkennung von Seiten des Besonderen ausdrücken, dass es etwas Früherem und Bedingendem angehört. Diese Zugehörigkeit kann nicht angenommen oder abgelehnt werden.
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Einer Hegels gesamtes Werk ununterbrochen durchziehenden Interpretation zufolge trägt die antike Ethik das ganze Gewicht der individuellen Verantwortung sowohl der Annahme als auch der Ablehnung. Die reverentia fato habenda zwingt den Einzelnen, der mit seiner Handlung die Ablösung vom Ganzen hervorgerufen hat, um sich zum Beginn eines neuen Ganzen zu erheben, dazu, sich in dem wiederzuerkennen, was er ist, das heißt Individuum und Teil: Dagegen ist Krankheit und der Anfang des Todes vorhanden, wenn ein Theil sich selbst organisiert, und sich der Herrschaft des Ganzen entzieht, durch welche Vereinzelung er es negativ afficirt, oder er gar zwingt, sich allein für diese Potenz zu organisiren, wie wenn die dem ganzen gehorchende Lebendigkeit der Eingeweide sich zu eigenen Thieren bildet, oder die Leber sich zum herrschenden Organ macht, und die ganze Organisation zu ihrer Verrichtung zwingt (GW : ). Deshalb hat die Achtung dem Schicksal gegenüber die Vernichtung des Machtwillens des Besonderen zur Folge und schafft die Voraussetzung für die Wiederzusammensetzung einer neuen Ordnung, die auf Wechselseitigkeit und Gleichheit gründet, eine Ordnung, die nicht entstehen kann, wenn ein Teil – sei es der besondere Wille eines Einzelnen, einer Kirche oder eines Staates – Oppositionsund Herrschaftsbeziehungen einrichtet. In den Schriften, die der Studienzeit und der Abfassung der ersten Aufsätze folgen, begibt sich Hegel auf einen Weg, der ihn zu einem wesentlich geringeren Interesse als Kant an den Prinzipien einer scientia moralis führt, da er sich vielmehr um die Verwirklichung dieser Prinzipien sorgt. Von dieser Sorge rührt der wiederholte Vorwurf gegenüber der Auffassung Kants her, sich auf eine formelle und abstrakte Ebene eingestellt zu haben. Ein unüberwindbarer Sprung trennt in seinen Augen die Allgemeinheit des moralischen Prinzips, die der Formel des kategorischen Imperativs anvertraut ist, von der Besonderheit der konkreten Handlungen. In Bezug auf letztere, wenn es darum geht, die Beziehung zwischen Einzelnen und sozialpolitischen Institutionen positiv zu bestimmen, rücken wieder die Begriffe der wechselseitigen Anerkennung, Beachtung und rücksichtsvollen Sorge ins Feld, die traditionell in der weiten Notion der Achtung enthalten waren. Hegel fasst seine politische Botschaft in den der Sittlichkeit gewidmeten Paragraphen der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften zusammen, wo er bekräftigt, dass es keine Bildung und Verwirklichung des Individuums gibt, wenn es keine Zusammenarbeit an einem allgemeinen Werk gibt, und es gibt kein allgemeines Werk, wenn das Bewusstsein und die Verwirklichung des individuellen Selbst fehlen (GW : § ff.). Die Voraussetzungen für diese Verbindung zwischen verschiedenen Instanzen sind in dem Begriff einer gedoppelten Arbeit enthalten (GW : §): Einerseits zielt diese Arbeit darauf, die Einzigartigkeit der Person anhand des Rechts zu schützen
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und ihr Wohl zu fördern; andererseits soll sie verhindern, dass die einzelnen Handelnden einen unkontrollierbaren zentrifugalen Prozess ins Leben rufen. Diese gedoppelte Arbeit, die eine der Grundlagen der sozialen und politischen Philosophie Hegels darstellt, stützt sich auf die wechselseitige Anerkennung des Rechts der sittlichen Substanz und der Einzelnen, so dass sich jeder, wie schon in der Schrift über das Naturrecht vorweggenommen, in einer lebendigen Beziehung zum Anderen befindet und für den Anderen das ernste Schicksal darstellt. Ebenso wie sich das Lebendige durch Wechselseitigkeit und Interaktion zwischen dem ganzen Organismus und den ihn bildenden Teilen auszeichnet, so dass der eine nicht ohne die anderen bestehen kann, wird das sittliche Leben von der Interaktion zwischen Einzelnen und sozialen und politischen Institutionen gestützt. In dieser Perspektive, die das politische Ideal der platonisch-aristotelischen Philosophie wieder aufgreift, muss jedes Individuum die Möglichkeit bekommen, in der Gemeinschaft, der es angehört, einen Status innezuhaben, es muss sich bilden können und ist erst dann wirklich jemand, wenn es als Mitarbeiter am allgemeinen Werk anerkannt wird und daran auch wirklich arbeitet (GW : §). Falls diese Anerkennung erfolgt, tritt der glückliche Fall auf, in dem die Institutionen (von der Familie bis hin zur bürgerlichen Gesellschaft mit den Arbeiterverbänden, den Gerichten und den Regierungen) die Rechte der Einzelnen fördern, welche sich anerkannt fühlen und diese Anerkennung mit einer Haltung des Vertrauens und der Mitarbeit erwidern (GW : §). „Die Gesinnung der Individuen ist das Wissen der Substanz und der Identität aller ihrer Interessen mit dem Ganzen, und daß die andern Einzelnen gegenseitig sich nur in dieser Identität wissen und wirklich sind, ist das Vertrauen, – die wahrhafte, sittliche Gesinnung“ (GW : §). Dort, wo diese wechselseitige Anerkennung nicht stattfindet, wo sich die verschiedenen sozialen Pathologien zeigen und die Einzelnen sich nicht anerkannt und beschützt fühlen von einem System, in dem die parteiischen Interessen überwiegen, wird die von Symmetrie ausgezeichnete Beziehung unterbrochen und die Achtung in der Wechselseitigkeit fällt weg. Unter Wiederholung der Lehre von Spinozas Tractatus theologico-politicus behauptet Hegel, dass so, wie der vom Selbstbewusstsein der Gemeinschaft getrennte Einzelne laut seine Rechte äußern, sie aber nicht geltend machen kann, ebenso eine Regierung, die nicht die Besonderheit der Einzelnen schützt, ihre Rechtmäßigkeit verliert. Das Wegfallen eines geteilten und anerkannten Wertes bestimmt eine radikale Veränderung in den bestehenden Beziehungen, macht Platz für das Auftauchen heldenhafter Tugenden und weiht einen neuen geschichtlichen Weg ein. Nur die wechselseitige Anerkennung der jeweiligen Rechte und Pflichten gestattet sowohl dem Einzelnen als auch der politischen Gemeinschaft, sich ihrer jeweiligen Identität voll bewusst zu werden. Auf diese Weise verwandelt sich in der sozialen und politischen Philosophie des späteren Hegel die reverentia in
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eine Wechselseitigkeitsverbindung zwischen Subjekten, die sich in der alltäglichen Wirklichkeit und in den Ereignissen der Weltgeschichte wechselseitig anerkennen.
IV. Schluss Das ist nicht der geeignete Moment, um die Grenzen von Hegels politischer Philosophie hervorzuheben, die einerseits noch in den Prinzipien der klassischen antiken Philosophie, welche mit Aristoteles das Prinzip der Vorrangigkeit des Ganzen im Vergleich zu den Teilen behauptet, und andererseits in den Prinzipien der Freiheit verwurzelt ist, die das moderne Recht untermauern. Man kann dennoch nicht die Auswirkung dieses Denkens verleugnen, sowohl in der direkt auf Hegel folgenden sozialen und politischen Philosophie, angefangen bei Karl Marx, als auch in der jüngsten Debatte zwischen Individualismus und Kommunitarismus, so wie auch nicht zu verleugnen ist, dass sich diese Debatte größtenteils um das Thema der Anerkennung der Würde der Person und der Rechte der Gemeinschaft dreht, gerade weil die Individuen von ihren gesellschaftlichen Beziehungen ebensosehr definiert werden wie von ihrer Persönlichkeit. Auf philosophischer Ebene ist diese Frage mit einer Vielzahl an Perspektiven angepackt worden, die zahlreiche Theorien über das Verhältnis zwischen individuellem und allgemeinem Wohl hervorgebracht haben. Im Rahmen dieser zahlreichen Interpretationshorizonte hat sich die weitgehend geteilte Idee durchgesetzt, nach der ein gutes Gelingen des allgemeinen, also kollektiv von mehreren Individuen verwirklichten Werkes ohne die Selbstverwirklichung der Individuen selbst durch ihre Teilnahme an diesem Werk nicht möglich ist. Diese Idee, die in den Klassikern des wirtschaftlichen und philosophischen Denkens der Neuzeit bis zu Hegel erscheint, findet ihre Bestätigung in den psychologischen Untersuchungen und Theorien der letzten Jahre bezüglich des positiven Managements und des organisierten Wohlbefindens. Das Bewusstsein der Ziele der Organisation in den dafür arbeitenden Individuen zeigt sich, diesen Theorien zufolge, in einer größeren Zufriedenheit der Individuen selbst und in einer größeren Leistung. Das organisierte Wohlbefinden impliziert also das Wohlbefinden der Individuen, und eine der Möglichkeitsbedingungen dieses Wohlbefindens ist die Zufriedenheit, die die Individuen ihrer Arbeit abgewinnen. Das setzt voraus, dass sich die arbeitenden Subjekte der Bedeutung der Organisation und des Sinnes ihres Wirkens in deren Innerem bewusst sind, und dass sie sich in ihrer Würde anerkannt fühlen (vgl. Menegoni et al. ). Die Achtung kann nur innerhalb einer kreisförmigen, durch Symmetrie und Wechselseitigkeit ausgezeichneten Struktur zu tatsächlicher Anerkennung werden. Hegel hat diese Struktur mit einer treffenden Formel ausgedrückt, die das Ergebnis der Anerkennung bestätigt, die erfolgt, wenn man sagen kann: „Ich, das Wir, und
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Wir, das Ich ist“ (GW : ). Es macht nichts, wenn zu diesem Ergebnis keine phänomenologische Gestalt gelangt: nicht die Begierde, die ihre Befriedigung in etwas Äußerem sucht, nicht das Bewusstsein des Knechts, der sich in den Erzeugnissen seiner Arbeit nicht wiederfindet, und nicht das unglückliche Bewusstsein, das in eine wandelbare und endliche unwesentliche Seite und in eine wesentliche und unwandelbare Seite entzweit ist, die es jenseits seiner selbst projiziert; die Dialektik Knecht-Herr selbst erzeugt keinerlei tatsächliche Anerkennung, da sie eine Beziehung der Ungleichheit verewigt, in der der Herr von der Arbeit des Knechts für die Befriedigung seiner Bedürfnisse abhängt und der Knecht gezwungen ist, nicht für sich selbst, sondern für den Herrn zu arbeiten. Dennoch formuliert „Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist“ auf unverwechselbare Weise das Modell einer Anerkennung, die kreisförmig unter den mit gleicher Würde ausgestatteten Subjekten erfolgt, und veranschaulicht eine durch perfekte Symmetrie und Wechselseitigkeit ausgezeichnete Beziehung. Die von der sozialen und politischen Philosophie Hegels gelieferten Hinweise ermöglichen so, eine Antwort auf die Fragen zu geben, von denen wir ausgegangen sind, als wir uns fragten, was für eine Beziehung von der Achtung gebildet wird, eine symmetrische oder eine asymmetrische, eine vertikale oder eine horizontale, eine einseitige oder eine wechselseitige. Aus Hegels Interpretationsbild scheint die Weisung hervorzutreten, dass der Begriff der Achtung, wenn er auch weniger behandelt wird als in der Kantischen Lehre, das ist, was die Anerkennung begründet und das Vertrauen in eine positive Beziehung bewirkt, die nicht anders als symmetrisch, horizontal und wechselseitig sein kann. Aus dem Italienischen von Nina Meyer
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Jean-François Kervégan KONSTITUTION DER SUBJEKTIVITÄT UND INSTITUTIONEN Das „Recht der Welt“
Es wird heutzutage grundsätzlich angenommen, dass die subjektive Identität (die mit der biologischen Individualität selbstverständlich nicht zu verwechseln ist) eine komplexe Konstruktion bzw. Konstitution voraussetzt, die manche theoretischen Schwierigkeiten verursacht. Dies gilt selbstverständlich für die psychische Individualität (das ‚Ich‘), welche eine Reihe von Bildungs- und Erziehungsprozessen, vorerst aber eine Selbstkonstruktion voraussetzt. Dies gilt auch für die moralische Individualität: ihre Herausbildung (d. h. der Zugang zur ‚Autonomie‘ der normativen Bewertung und der Handlung) erfordert eine schwierige, nicht nur individuelle, sondern kommunikative Universalisierungs- und Distanzierungsarbeit, die z. B. Jürgen Habermas im Anschluss an Piaget und Kohlberg intensiv erforscht hat (Habermas , ff.; , ff.). Es gibt also gute Gründe anzunehmen, dass auch die soziale und politische Individualität bzw. Subjektivität das Ergebnis eines Bildungsprozesses ist, dessen Erfolg es uns ermöglicht, in einer vorgegebenen sozialen und politischen Welt unsere Lebensführung (manchmal scheinbar oder irreführend) ‚in die Hand zu nehmen‘, d. h. auch auf die Welt zu wirken. Diese Welt konstituiert und verändert sich ständig durch die komplexe Interaktion von Individuen bzw. von Individualitätsansprüchen, die sich durch ‚normal‘ gewordene Vorstellungen und Praktiken realisieren. Dieses isolierte Streben nach subjektiver Individualität tritt jedoch öfters in Konkurrenz mit anderen ähnlichen conatus, so dass die Realisierung eines jeden subjektiven Existenzanspruchs die ebenso legitimen Ansprüche von weiteren werdenden Subjekten oder die Bildung eines kollektiven ‚Wir‘ bremsen oder verhindern kann. Sinn und Bedeutung der Konstitution der Individualität wären jedoch nicht mit einer ausführlichen Beschreibung der Prozesse erledigt, wodurch die Subjektivität sich entfaltet und eine verallgemeinernde Bewusstseinsform erreicht. Mit Ausnahme der empiristischen und utilitaristischen Positionen (die eigentlich ein breites Spektrum einnehmen!) wird gewöhnlich angenommen, dass diese Konstitution eine Dimension beinhaltet, die die empirische Bildung von historisch bestimmten singulären ‚Ichheiten‘ gleichzeitig ermöglicht und übertrifft, das heißt eine apriorische oder transzendentale Dimension. Infolgedessen muss eine universelle, Siehe die Auflistung der daraus entstandenen Schwierigkeiten in Descombes (). Hegel-Studien Beiheft · © Felix Meiner Verlag · ISSN -
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apriorische Gestaltung der Subjektivität, zum Beispiel (aber nicht notwendig) ein ‚transzendentales Subjekt‘, vorausgesetzt werden, um die Herausbildung von individuellen empirischen Subjekten sinnvoll beschreiben und sich in der unendlichen Vielfalt der Gestalten der Subjektivität orientieren zu können. ‚Ich‘ bin auf einmal ein psychologisches Individuum, ein moralisches Subjekt, ein in einer normativ strukturierten geschichtlichen Welt lebender socius, ein mit Mitmenschen konfrontierter Mensch. Ebenso wie ‚ich‘ versuchen diese Menschen ihre eigene psychische, moralische, soziale und politische Identität in einer mehr oder weniger gemeinsamen Welt zu erwerben, worüber ihre Bewertungen mit meiner eigenen nicht notwendig, vielleicht sogar selten übereinstimmen. Dann muss man mit Charles Taylor nach dem jeweiligen Anteil des ‚Transzendentalen‘ und des ‚Geschichtlichen‘, des Apriorischen und des Empirischen, des Universellen und des Partikulären in der Konstitution der Individualität fragen, wobei die Frage der Gliederung dieser beiden Dimensionen selbst historisch eingebettet ist, da sie erst im Kontext der ‚Moderne‘ entstehen konnte. Dem Naturalismus gegenüber ist festzustellen, dass das ‚Ich‘ kein Ding, kein Objekt, sondern ein niemals gegebenes, aber von der Kohärenz eines ‚Lebens‘ stets vorausgesetztes System von Akten ist; wie Hegel sagt: „Was das Subject ist, ist die Reihe seiner Handlungen“ (GW ,: §). Diese Handlungen, in erster Linie die Sprechakte, sind jedoch nicht monologischer Art, da sie vielmehr in „webs of interlocution“ vernetzt sind (Taylor , ). Damit aber diese Netze angemessene, möglichst koordinierte Leistungen schaffen, müssen sie unabhängig von einem sozio-empirischen Kommunikationskontext strukturiert sein, so dass, wie gesagt, eine gewisse apriorische Dimension vor den zufälligen Leistungen jenes vernetzten Systems stets vorausgesetzt ist; es ist also richtig, mit Taylor das Bestehen eines „transcendental embedding of independence in interlocution“ festzustellen (Taylor , ). Obwohl ich hier nicht darauf abziele, Taylors Sources of the Self zu besprechen bzw. zu kritisieren, bemerke ich beiläufig, dass dieses ‚embedding‘ für sein Vorhaben wesentlich ist: es ist nicht nur entscheidend, um die Genese der modernen Identität zu beschreiben, sondern auch um den moralischen Relativismus zu bekämpfen. Für Taylor ist dieser Relativismus eine Folge der herrschenden, deontologisch-prozeduralen Behandlung der moralischen Fragen (etwa bei Kant, Rawls oder Habermas), die durch die Parole ‚Vorrang des Gerechten vor dem Guten‘ zusammengefasst ist. Wie andere, oft als ‚Kommunitaristen‘ bezeichnete Philosophen (Michael Sandel, Michael Walzer u. a.) will Taylor eine Rehabilitierung der ‚qualitativen Unterscheidungen‘ vornehmen und damit eine Siehe Taylor (). Der Beitrag ist eine Antwort an Paul Ricœur, der in seinem eigenen Beitrag zum selben Band eine Diskrepanz zwischen dem ersten, die „Universalien der Sittlichkeit“ behandelnden Teil von Sources of the Self und den weiteren, eine Genealogie des modernen ‚Self‘ darstellenden Teilen unterstreicht (Ricœur ).
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substantielle Theorie der Güter, sogar der ‚hypergoods‘ entwickeln, welche auf einer bestimmten geschichtlichen Ebene unsere moralisch-sittliche Identität homogen strukturieren. Die verschiedenen Verknüpfungsmodelle von historischen und transzendentalen Argumenten in der Beschreibung der persönlichen, moralischen und sittlichpolitischen Identität sind höchst scharfsinnig (Taylor a, ff.). Wie auch immer, das darin enthaltene Problem ist heikel genug. In der Tat, auch wenn man Taylor (der selbst eine Angabe von Ricœur übernimmt) zustimmt, dass das Transzendentale nicht „ungeschichtlich“, sondern „transgeschichtlich“ ist (Taylor , ), ist es keineswegs einfach – so Ricœur –, in der „Historizität der modernen Konstruktion des Ichs“ die „transgeschichtliche Struktur der moralischen Erfahrung“ herauszusuchen (Ricœur , ), ohne auf schwere metaphysische Begrifflichkeiten der klassischen deutschen Philosophie zu rekurrieren, welche – zum Beispiel im Werk Hegels – eine solche Präsenz des Unzeitlichen in der Geschichte begründen wollen (GW : ff.). Es ist durchaus zu erwarten, dass sich ein solcher Versuch dem Verdacht aussetzt, gegen den von Leo Strauss und anderen denunzierten heutigen ‚Positivismus‘ und ‚Historismus‘ eine veraltete philosophia perennis und mutmaßlich ewige moralische Ansichten zu rehabilitieren. Es muss also ein Ausweg gesucht werden, um von dieser ganz spezifischen Verknüpfung vom Universellen und Partikulären innerhalb der singulären Subjektivität eines historisch situierten, mit unendlich vielen individualisierenden Prädikaten ausgestatteten Bewusstseins Rechenschaft zu geben. Meiner Ansicht nach darf man dafür einen von seinen ‚schwersten‘ systematisch-spekulativen Voraussetzungen weitgehend entleerten, also einen thin Begriff des objektiven Geistes einsetzen, anstatt dessen thick Konzeption bei Hegel selbst zu verwenden. Ist ein solcher freier ‚Export‘ eines in der Systematik Hegels tief eingewurzelten Begriffs legitim? Aus Hegels Sicht sicherlich nicht, weil der Begriff des objektiven Geistes von denen des subjektiven und des absoluten Geistes untrennbar ist. Einerseits kommt der objektive Geist aus der ganzen Entwicklung des subjektiven Geistes her; so erklärt sich die folgende merkwürdige Aussage in der Einleitung der Ein ‚hypergood‘ ist ein Gut, das „not only [is] incomparably more important than others but provides the standpoint from which these must be weighed, judged, decided about“ (Taylor , ff.). Transzendentale Argumente im Sinne Taylors sind diejenigen, die von einem Erfahrungskontext ausgehend zu einer stärkeren Folge („stronger conclusion“) als ihr Ausgangspunkt führen. Siehe insbesondere Hegel ([Hoffmeister] , ): „Was wahr ist, ist ewig und an und für sich, nicht gestern und nicht morgen, sondern schlechthin gegenwärtig, ‚itzt‘ im Sinne der absoluten Gegenwart. In der Idee ist, was auch vergangen scheint, ewig unverloren. Die Idee ist präsent, der Geist unsterblich; es gibt kein Einst, wo er nicht gewesen wäre oder nicht sein würde, er ist nicht vorbei und ist nicht noch nicht, sondern er ist schlechterdings itzt.“ Die Unterscheidung von thick concepts und thin concepts ist meines Wissens nach von Bernard Williams eingeführt worden (Williams ).
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Rechtsphilosophie: „Der Begriff des Rechts fällt daher seinem Werden nach außerhalb der Wissenschaft des Rechts, seine Deduction ist hier vorausgesetzt und er ist als gegeben aufzunehmen“ (GW ,: §). Andererseits setzt die kontrafaktische Versöhnungsperspektive der Lehre vom objektiven Geist die Garantie des absoluten Geistes, und zwar der Religion und der Philosophie, voraus, wie es sich aus dem letzten Paragraph der Grundlinien klar ergibt (GW ,: §). Der Begriff des Geistes als „d[er] zu ihrem Fürsichsein gelangte[n] Idee“ und die Unterscheidung vom ‚endlichen‘ und ‚unendlichen‘ Geist ist unabhängig von der Metaphysik Hegels, insbesondere der Logik, schwerlich zu verstehen (GW : §§ u. ). Eine ‚nicht-metaphysische‘ – also: untreue – Aneignung des Begriffs des objektiven Geistes zum Zweck einer institutionellen Deutung der Konstitution der Subjektivität scheint mir jedoch weder unmöglich noch unfruchtbar, weil sie zur Überwindung gewisser Aporien einer ‚monologischen‘ Philosophie der Subjektivität zugunsten einer holistischen Metaphysik des Sozialen beitragen kann (Pettit ). Charles Taylors Werk ist ein treffendes Beispiel für eine solche ‚anti-atomistische‘ Anwendung von Hegels Begrifflichkeit. Taylor ist der Meinung, dass Hegels „ontology of Geist“ „close to incredible“ geworden ist (Taylor , , ). Er behauptet jedoch, dass seine holistische Auffassung der Gesellschaft „much superior to the atomistic conceptions of some of Hegel’s liberal opponents“ ist (Taylor , ), und stützt sich darauf in seinen eigenen Beiträgen zur Philosophie der Sozialwissenschaften. Taylor zufolge sind intersubjektive Bedeutungen, und zwar nicht so sehr die aus der Konvergenz von schon bestehenden individuellen Meinungen entstandenen „shared meanings“, sondern vielmehr die aus einer „consciousness which is communally sustained“ stammenden „common meanings“, „constitutive of the social matrix in which individuals find themselves and act“ (Taylor b, , ; Taylor a). Über Taylors bedeutenden Beitrag zum holistischen Verständnis der Gesellschaft und der Individualität hinaus darf man mutmaßen, dass eine nach dem Muster der Hegel’schen Lehre des objektiven Geistes konzipierte ‚institutionelle Wende‘ der Sozialphilosophie und politischen Philosophie zuträglich wäre; sie könnte nämlich Fragen aufwerfen, die für die ‚atomistische‘ Hauptströmung der gegenwärtigen Philosophie der Subjektivität schwierig formulierbar sind, weil sie mit ihren Grundvoraussetzungen über das menschliche Handeln und dessen Ursachen und Wirkungen unvereinbar sind. Zum Beispiel kann man in diesem Rahmen die schon von Durkheim aufgeworfene Hypothese formulieren, dass nicht nur Individuen, sondern auch Kollektive, noch bestimmter: Institutionen, in dem Sinne ‚denken‘, dass sie den Vorstellungsraum bestimmen, in dem Individuen sich dadurch konstituieren, dass solche Institutionen ihren Handlungen die einheitliche Bedeutung eines Lebensprojekts verleihen können (Durkheim [] , – ; siehe Pettit ). In diesem Sinn darf man mit Vincent Descombes von einem „Geist der Institutionen“ sprechen,
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wobei Institutionen als „Arten des Denkens sowie des Handelns“ zu konzipieren sind (Descombes , – , insb. ). Die von Descombes vorgeschlagene ‚soziologische‘ Umdeutung des Begriffs des objektiven Geistes ebnet uns insofern diesen Weg, als sie die Existenz einer kollektiven oder vielmehr institutionellen Rationalität geltend macht, die sich jedoch erst durch die Vorstellungen individueller Subjekte ausdrückt (Descombes , S. – ; sowie ; ; ; ). Sein Vorhaben entfernt sich tatsächlich erheblich von Taylors Ansichten, obzwar beide zugunsten eines Holismus des Geistes den „spontanen Atomismus des modernen common sense“ zurückweisen (Descombes , ). Taylor interpretiert Hegels Lehre des objektiven Geistes als eine „expressive“ Theorie, die dank eines „holism of meaning“ eine neue Auffassung der Intersubjektivität oder vielmehr der Gemeinschaft mit sich bringt (Taylor b); ein expressiver Akt ist keine bloße Manifestation einer vorher bestehenden Subjektivität oder sogar einer Inter-Subjektivität: „What is made manifest is not exclusively, not even mainly, the self, but a world“ (Taylor c, ). Seinerseits schlägt Descombes eine Sozialontologie vor, die „die Rechte des objektiven Geistes“ gegen und über diejenigen des subjektiven Geistes rehabilitiert (Descombes , ). Meiner Meinung nach gibt uns solch eine Hervorhebung der ‚Sinnesinstitutionen‘ ein mächtiges Mittel an die Hand, um das vorher skizzierte Paradox der Subjektivität zu lösen. Es handelt sich überhaupt nicht darum, die Subjektivität im Ozean eines ‚Supergeistes‘ zu ertränken, sondern vielmehr darum, „den Anteil des Unpersönlichen im Persönlichen“ zu beschreiben und dadurch die institutionelle Konstitution der Ichheit zu klären (Descombes , ). Im Aufsatz „Y a-t-il un esprit objectif ?“ (Gibt es einen objektiven Geist?) betrachtet Descombes das Beispiel der Sprache, um eine ‚institutionelle‘ Deutung des Hegel’schen Begriffs des objektiven Geistes zu begründen, welcher ich im Großen und Ganzen zustimme. Der diskursive Gebrauch der Sprache veranschaulicht nämlich vortrefflich die von Hegel dem objektiven Geist zugeteilten Eigenschaften. Die Sprache ‚existiert‘ nur durch Aussagen von sprechenden Subjekten; dennoch bestimmt und reguliert sie die Produktion von sinnvollen und pragmatisch adäquaten Sprechakten, ohne dass ein komplettes, aktuelles Bewusstsein ihres normativen Systems von ihnen gefordert ist. Jeder Sprechakt, also jeder Sprecher, wirkt übrigens auf das Gesamtsystem der Sprache ein, welche nach Saussures bekannter Definition ein „System von Unterschieden“ ist (Saussure , ), und bei deren Entwicklung mit. Subjektivität und Objektivität, ‚Kreis der Notwendigkeit‘ und ‚Freiheit‘ sind in einem einzelnen Akt vereint: In einer solchen Beschreibung der Sprache ist tatsächlich das paradoxe Zusammentreffen der Bestandteile des objektiven Geistes als eines Prozesses enthalten. Es ist also keineswegs verwunderlich, dass Hegel selbst zu der Metaphorik der Sprache (zusammen mit derjenigen der Arbeit) greift, wenn er in der Phänomenologie des Geistes
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die institutionelle Dynamik der Konstitution der subjektiven Individualität als eine Leistung des objektiven Geistes beschreibt: Wie der Einzelne in seiner einzelnen Arbeit schon eine allgemeine Arbeit bewusstlos vollbringt, so vollbringt er auch wieder die allgemeine als seinen bewussten Gegenstand; das Ganze wird als Ganzes sein Werk, für das er sich aufopfert und eben dadurch sich selbst von ihm zurückerhält. – Es ist hier nichts, das nicht gegenseitig wäre, nichts, woran nicht die Selbständigkeit des Individuums sich in der Auflösung ihres Fürsichseins, in der Negation ihrer selbst, ihre positive Bedeutung, für sich zu sein, gäbe. Diese Einheit des Seins für Anderes oder des sich zum Dinge Machens und des Fürsichseins, diese allgemeine Substanz redet ihre allgemeine Sprache in den Sitten und Gesetzen eines Volks; aber dies seiende unwandelbare Wesen ist nichts anderes als der Ausdruck der ihr entgegengesetzt scheinenden einzelnen Individualität selbst; die Gesetze sprechen das aus, was jeder Einzelne ist und tut; das Individuum erkennt sie nicht nur als seine allgemeine gegenständliche Dingheit, sondern ebensosehr sich in ihr oder [sie] als vereinzelt in seiner eigenen Individualität und in jedem seiner Mitbürger. In dem allgemeinen Geiste hat daher jeder nur die Gewissheit seiner selbst, nichts anderes in der seienden Wirklichkeit zu finden als sich selbst; er ist der anderen so gewiss als seiner. – Ich schaue es in allen an, dass sie für sich selbst nur diese selbständigen Wesen sind, als ich es bin; ich schaue die freie Einheit mit den anderen in ihnen so an, dass sie wie durch mich, so durch die anderen selbst ist. Sie als Mich, Mich als Sie. (GW : ) Wie es sich aus dieser Stelle ergibt, kommt das ‚Paradox‘ der Sprache in jeder Gestaltung des objektiven Geistes, das heißt in jeder Institution im weiten Sinne des Wortes vor: Teilelement und Struktur bilden sich reziprok, so dass die Frage nach ihrem jeweiligen Rang in einer Reihenfolge insofern ungeeignet ist, als erst der Prozess ihrer reziproken Konstitution, das heißt die als ‚Institution von…‘ dynamisch verstandene Institution, die Struktur (die ‚Sprache‘) sowie das Element (die ‚Sprechakte‘, die ‚Sprecher‘) unendlich produziert und verwandelt. Wie Descombes betont, ist es also wichtig, den ‚objektivierten Geist‘, und zwar die materiellen Spuren einer vorgegebenen subjektiven oder intersubjektiven Intentionalität, vom ‚objektiven Geist‘ proprio sensu zu unterscheiden, der „keine Spur der Anderen in unserem Wahrnehmungsfeld, sondern die Anwesenheit des Sozialen in jedem Geist ist“, und zwar unter der Form der „stabilsten Gewohnheiten, der grundlegendsten Ideen, der festesten Gepflogenheiten“ einer Gesellschaft (Descombes , ). Marcel Mauss hat diese Eigenart der Institutionen ausgezeichnet beschrieben:
Der Unterschied zwischen dem objektiven Geist und dem objektivierten Geist ist in Les insti-
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Was ist nämlich eine Institution? Eine schon instituierte Gesamtheit von Akten und Ideen, die die Individuen vor sich finden, und die sich vor ihnen aufdrängt. Es gibt keinen Grund, dieses Wort wie üblich nur hinsichtlich der sozialen Grundanordnungen zu benutzen. Unter ‚Institution‘ verstehen wir die Gewohnheiten, die Vorurteile und Aberglauben ebenso wie die politischen Verfassungen und die grundlegenden Rechtsgebilde: alle diese Phänomene teilen nämlich dieselbe Natur, unter ihnen gibt es nur Gradunterschiede. (Mauss/ Fauconnet [] , ) Hier stoßen wir jedoch auf einen Umstand, der die Richtigkeit und Tragweite des bisher hervorgehobenen Paradigmas der Sprache beschränken könnte. Wenn alles das, was den ‚objektiven Geist‘ ausmacht, das heißt nicht nur die mit der Persönlichkeit ausgestatteten Institutionen, sondern alles, was unter dem Begriff ‚Institution‘ im breiten Sinne verstanden werden kann, die vorher beschriebenen Eigenschaften enthält, dann müssen vielleicht zwei Arten von Institutionen unterschieden werden, die man wie Maurice Hauriou als ‚Sach-Institutionen‘ und ‚Personen-Institutionen‘ beschreiben könnte. Der französische Wortführer der Institutionslehre, Maurice Hauriou, unterscheidet nämlich die „institutions-personnes“, d. h. diejenigen, die wie ein Verband keine bloße ‚Rechtssache‘ sind, sondern objektiv auf die Individualität und Persönlichkeit zielen, und die „institutions-choses“, die wie z. B. das Eigentum oder der Vertrag dazu unfähig sind (Hauriou [] ; Hauriou [] , ff.). Um die Vieldeutigkeit der Wörter ‚Person‘ und ‚Sache‘ zu vermeiden, werde ich lieber von virtuellen und aktuellen Institutionen sprechen. Unter virtuellen Institutionen verstehe ich diejenigen, deren Eigenschaften erst durch die Handlungen von schon bestehenden oder sich dadurch konstituierenden Subjekten (bzw. Rechtspersonen) aktuell werden; unter aktuellen Institutionen verstehe ich diejenigen, die sich selbst zur Subjektivität (bzw. Persönlichkeit) erheben, indem sie gewisse Akte wie Rede, Kommunikation, Normenerzeugung und -durchsetzung ausführen. Als Beispiele von virtuellen Institutionen kann man das Eigentum, die Währung, den Vertrag, den Markt oder die Sprache erwähnen. Eine Gewerkschaft, eine Kirche, eine Partei, der Staatsapparat oder eine seiner Abteilungen (die Justiz, die Universität…) sind hingegen aktuelle Institutionen, weil sie Bedeutungen, Vorschriften und Verbote aus sich selbst schaffen bzw. auslösen; sie sind, wie man üblicherweise sagt, ‚moralische Personen‘. Solche Betrachtungen setzen natürlich voraus, dass die Frage ‚Kann man anderen Wesen als menschlichen Individuen Gedanken, Vorstellungen usw. sinnvoll zuweisen?‘ positiv beantwortet wird. Ich glaube, dass eine ‚schwache‘ oder erweiterte Definition des Denkens, die dem Hegel’schen Begriff tutions du sens anhand einer Kritik von Sartre und Merleau-Ponty dargestellt (siehe Descombes , – ).
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der Vorstellung als einer „Metapher der Gedanken und Begriffe“ im Großen und Ganzen entspricht, in diese Richtung führt. Wie die aktuellen Institutionen erzeugen die virtuellen Institutionen vielleicht keine Gedanken stricto sensu, keine mit einem bestimmten Geltungsanspruch versehenen Aussagen, sondern eine Reihe von mehr oder weniger expliziten Vorstellungen, die einen Sinnhorizont für die Aussagen und Praktiken der im Rahmen der jeweiligen Institution handelnden Subjekte ausmachen. Die Kirche betet nicht, ebenso wie die Sprache nicht spricht; aber die Institution Kirche definiert den Horizont des für ihre Gläubigen Wünschenswerten, zu Fürchtenden, kurz des Vorstellbaren. Darüber hinaus denken überhaupt gewisse, möglichst alle aktuellen Institutionen als Quasi-Subjekte. Solch eine Behauptung ist keine bloße Metapher. Gewisse Institutionen bestimmen nicht nur den Vorstellungs- und Bedeutungshorizont, innerhalb dessen Individuen sinnvolle Handlungen und Sprechakte durchführen können, sie erzeugen auch, aber auf unpersönliche Weise, Sinninhalte, Normen, Regelungen, die die Individuen durchsetzen, übertreten, umwandeln usw., aber auf jeden Fall voraussetzen. Deshalb ist nicht nur das Handeln, sondern auch der Existenzmodus der Individuen als werdender Subjekte von dem Institutionennetz bedingt. Hier finden wir das Wesen des objektiven Geistes als einer „zweiten Natur“ im Sinne Hegels (GW ,: §, §): Er ist kein ‚objektivierter‘, aus den vorgegebenen einzelnen Geistern herausfließender kollektiver Geist, sondern vielmehr die immer schon daseiende sittliche ‚Welt‘, die nach Hegel ihr ‚Recht‘ durchsetzt, indem sie die Konstitution und die werdende Autonomie der einzelnen Subjektivität gleichzeitig ermöglicht und begrenzt. Bei Hegel umrahmt und beschränkt nämlich das „Recht der Welt“, also die Sittlichkeit, das in der Sphäre der Moralität herrschende „Recht des subjektiven Willens“ (GW ,: §). Noch ein Umstand muss erwähnt werden: Die (virtuellen oder aktuellen) Institutionen des objektiven Geistes sind selbst voneinander abhängig. Um die Determinante der Individuierung sozialer Subjekte zu begreifen, muss also nicht nur die eigene ‚Komplexität‘ der verschiedenen Institutionen, d. h. ihre Eigenschaft der Selbsttranszendenz (das Ganze ist immer größer als die Summe seiner Teile), sondern auch ihre ‚Interkomplexität‘ berücksichtigt werden. Erst der objektive Geist im Ganzen (den kein ‚monadologischer Standpunkt‘ ausführlich widerzuspiegeln vermag), das bedeutet das ‚hyperkomplexe‘, vernetzte System der (virtuellen sowie aktuellen) Institutionen, ist imstande, die Bedingungen der psychologischen, moralischen, sozialen und politischen Individualität auszulösen, indem es die Kohärenz und Regelmäßigkeit eines Bündels von Vorstellungen, Glauben und Akten bestimmt, die einem und demselben ‚Subjekt‘ zugewiesen Siehe Hegel, GW : § Anm.: „Vorstellungen überhaupt können als Metaphern der Gedanken und Begriffe verstanden werden. Damit aber, daß man Vorstellungen hat, kennt man noch nicht deren Bedeutung für das Denken, d. h. noch nicht deren Gedanken und Begriffe.“
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werden können. Die Konstruktion der subjektiven Identität setzt Institutionen voraus, die stabile Gefühle der Zugehörigkeit hervorrufen, ohne die das moderne Individuum, wie der ‚bourgeois‘ im Sinne Rousseaus, ‚nichts‘ wäre: „Ce sera un de ces hommes de tous les jours; un Français, un Anglais, un Bourgeois; ce ne sera rien“ (Rousseau [] , ). Die in der Moderne erforderte Form der selbstbewussten Individualität beruht auf Institutionen und Zugehörigkeitsgefühlen; sie ist jedoch nicht ihr mechanisches Ergebnis. Meine Identität folgt keineswegs eindeutig aus meinen objektiven Eigenschaften und meiner Lage im Feld der sozialen Institutionen. Deshalb bin ich nicht ‚aus Natur‘ frei, sondern werde frei, insofern ich diese institutionelle Einwurzelung meiner Individualität erkenne und übernehme. Ich bin dann frei im groben Sinn des Wortes, da ich durch jene strukturellen Eigenschaften nicht vollkommen bestimmt bin: Es gibt immer einen Spielraum für die Unbestimmtheit, die Kontingenz, also für das, was man unter Freiheit üblicherweise versteht. Ich bin aber frei auch in dem anspruchsvollen Sinn, den das Wort ‚Freiheit‘ im Kontext der Hegel’schen Spekulation erhält: Wenn Freiheit ‚Bei-sich-Sein-imAnderen‘ bedeutet, d. h. wenn sie „die Negativität [ist], insofern sie sich zur höchsten Intensität in sich vertieft und selbst, und zwar absolute, Affirmation ist“ (GW : § Anm.), dann entsteht die wirkliche Freiheit der Subjektivität durch die bildende Verinnerlichung des in den Institutionen, Sitten und Gewohnheiten abgelegten objektiven Geistes. Mit Hegels Worten: Durch diese Arbeit der Bildung ist es aber, dass der subjektive Wille selbst in sich die Objektivität gewinnt, in der er seinerseits allein würdig und fähig ist, die Wirklichkeit der Idee zu sein. (GW ,: § Anm.) Jene Verinnerlichung „incline sans nécessiter“, bewegt ohne zu zwingen (Leibniz [] , Buch II, Kap. , ), denn die sittlich-politische Freiheit besteht nicht in einer bloßen Zustimmung der Individuen zu einer in den Institutionen verkörperten Notwendigkeit; sie besteht vielmehr in einer produktiven Konfrontation mit, manchmal sogar in einem Kampf gegen die schon instituierten Formen ihres heteronomen Lebens, die auf die Probe des „pouvoir constituant“, der „imaginären (Selbst)institution“ gestellt werden müssen (Castoriadis ; Castoriadis ). Der Institutionalismus bedeutet nicht die Aufopferung der von Kant prinzipiell berechtigten autonomen Subjektivität; er erinnert uns vielmehr daran, dass die Subjektivität einer Konstitution bzw. einer Institution (im aktiven Sinn des Wortes) bedarf und dass die Triebfeder jener Konstitution ebenso objektiver (sozialer) als auch subjektiver Natur ist.
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JEAN-FRANÇOIS KERVÉGAN
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Sally Sedgwick MAINTAINING INDIVIDUALITY IN HEGELIAN ETHICAL LIFE
In the Philosophy of Right, Hegel divides his tale of the progressive development of the human will into three chapters (Abstract Right, Morality and Ethical Life) corresponding to what he identifies as the three moments of the will (particularity, universality and individuality) (GW ,: §§ – ). He argues that the highest moment of the will and hence the most adequate form of freedom, is realized in ethical life. In ethical life, the will understands itself no longer either as a pure particular or as a pure universal; it has achieved the moment of “individuality [Einzelheit]”. We commonly associate becoming an individual with a process of separation. The genuine individual successfully carves out a unique identity for herself. She is able to do this, we typically suppose, by setting herself apart from others. The fullydeveloped or mature individual generates her identity out of her own resources; she resists allowing her sense of who she is to be defined or determined by anyone else. Arguably, however, Hegel offers us a different model of the developmental process that culminates in individuality. According to his model, we become individuals largely by means of our connections to others. In the Philosophy of Right, the progression to individuality is a movement in the direction of higher self-consciousness and freedom, and for Hegel, this is a movement that in significant respects is towards rather than away from others. The kind of individuality attained in ethical life requires the institutions of the state which regulate all spheres of social existence. It is a form of individuality that rests on a foundation of social dependency. It is reasonable to worry that this Hegelian emphasis on connection incurs an unacceptably high cost. If my identity is substantially dependent upon my social connections and upon institutions of the state, with what justification can I claim to be the master of that identity? Why should I assume that I possess genuine in Except when otherwise indicated, all Hegel quotations in this essay are from his Grundlinien der Philosophie des Rechts (GW ,). Occasionally, I quote from the “additions [Zusätze]” and therefore also rely on the Suhrkamp edition of this work (TWA ). Since the “additions” were compiled from notes taken by Hegel’s students, they must be taken with a grain of salt (see TWA : ). Translations of Hegel’s German are my own although I have benefitted from consulting the H.B. Nisbet translation of the Elements of the Philosophy of Right (Hegel [] ). Hegel-Studien Beiheft · © Felix Meiner Verlag · ISSN -
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dividuality at all? Moreover, if “the determinations of the will of the individual acquire an objective existence” only “through the state”, as Hegel says, how can any particular will be expected to achieve a critical perspective on the state – the kind of perspective necessary to evaluate it and possibly challenge its authority (§ A)? These worries have a long history, and they cannot be easily brushed aside. Whether they pose a serious threat to Hegel’s philosophy depends at least in part on what he builds into his concept of individuality. The line of interpretation I defend in this paper is guided by the following questions: What if the kind of individuality Hegel is charged with sacrificing to the state is an individuality that, in his view, does not and could not exist? That is, what if the individuality that critics of Hegel seek to preserve is on his account a mere abstraction? And what if the state to which Hegel is allegedly willing to sacrifice individuality is likewise an abstraction, a social whole that in his view can have no “actuality [Wirklichkeit]”? We can indeed find passages that suggest that the worries I outlined a moment ago are misplaced. Consider, for example, Hegel’s remark in the Introduction to the Philosophy of Right that the third and highest moment of the will, “individuality”, unifies the other two moments, “universality” and “particularity”. The kind of individuality that he takes to be achieved in ethical life retains particularity in a certain respect; nonetheless, in individuality, as he defines it, particularity and universality are somehow not wholly opposed. More precisely, in individuality, the moments of universality and particularity, are revealed to be, as he says, “abstractions” (§): Every self-consciousness knows itself as universal, as the possibility of abstracting from everything determinate, and as particular, with a determinate object, content, end. These two moments, however, are only abstractions […] (§). In another remark, Hegel notes that although particularity and universality may sometimes seem to be separated, they are in fact “bound up with and conditioned by each other” (§ A): These criticisms have recently been laid out with great subtlety in a paper by Birgit Sandkaulen () who discovers “ambivalence” in Hegel’s view of the individual in the Logic and Philosophy of Right. She worries that Hegel’s tendency to reduce the individual to a mere “mode” or “accident” of the state – at least in some discussions – perhaps renders the status of the individual quite “precarious” (Sandkaulen , ). If the individual is just a mode of the state, then there would seem to be no significant difference between it and “ethical institutions” (Sandkaulen , ). The defense of Hegel I defend here shares much in common with that of Franz Grégoire (, – ). Grégoire’s paper is a critical response to J. Maritain’s interpretation of Hegel (Maritain ). Perhaps the most famous (or infamous) expression of the concern about “totalitarian” tendencies of Hegel’s view of the state in the Anglophone tradition is that of Karl Popper (/). This is a discussion of Civil Society, where particularity and universality appear to become separated.
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Although the one appears to do exactly the opposite of the other and thinks that it can exist only by holding the other at a distance, each nevertheless has the other as its condition (§ A; emphasis added). These passages suggest that if we are to understand Hegel’s account of the unique conception of individuality that the will is able to achieve in ethical life, we need to be clear about the sense in which he identifies the will’s other two moments as abstractions. Implied by Hegel’s progressivist reading of human history is the idea that the human will develops in the direction of an ever more adequate understanding and expression of its freedom. The individual of ethical life is a particular will with a unique identity, but it knows that it is not a pure particular. It is in other words aware of the extent to which its desires and passions are made possible by the state. The individual of ethical life knows, in addition, that the state is not a pure universal. It understands that the state is indebted for its nature and origin to the needs and interests of its citizens. Precisely because the individual will of ethical life possesses this knowledge of the nature of the state, it does not experience the state as an alien force that cannot be trusted to reflect and respect its interests. In Section I of this paper, I argue that insofar as we identify “individuality” with “pure particularity”, we have no reason to worry that individuality is sacrificed in ethical life. We need not worry, because the mature self-consciousness as Hegel conceives it appreciates that there is no such thing as pure particularity. Hegel gives us various arguments in the Philosophy of Right for why we should be wary of identifying individuality with pure particularity, and I discuss two such arguments. In Section II, I turn my attention to Hegel’s account of the nature of the ethical state. I argue that, in dedicating itself to the laws of the ethical state, the individual or citizen does not surrender itself to a pure universal. Rather than a pure universal, the ethical state is for Hegel dependent for its nature and origin on the needs and interests of its citizens. The ethical state reflects those needs and interests of its citizens by its very nature. I conclude in Section III by considering a passage from Hegel’s Encyclopedia that seems to make trouble for my interpretation.
I. The Individual is not a Pure Particular To begin, let’s consider the kind of disposition Hegel associates with agents who have attained what he describes as the highest form of freedom, agents who are citizens (Bürger) of the ethical state. As I noted a moment ago, Hegel holds that the truly ethical agent has arrived at the moment of “individuality [Einzelheit]”. Hegel tells us that the citizen of the ethical state feels “at home [einheimisch]” with himself (§). Although the citizen seeks to satisfy his own needs and in-
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terests, he limits his pursuits with reference to the ends of the state – ends that are universally valid and that as such serve the interests of all. The citizen of the ethical state willingly limits himself in this way because he has acquired the political disposition of “patriotism [Patriotismus]”; he trusts that his interests can be fulfilled only in the ethical state (§§, A). In Hegel’s words, the patriot is persuaded that his “substantial and particular interest is preserved and contained in the interest and end of an other (here, the state) […]” (§). Clearly, then, achieving individuality, in Hegel’s technical sense, involves giving ourselves over to something larger than ourselves, to an ethical state. But what kind of disposition explains an agent’s willingness to do so, and how is it possible that the individual agent is able to feel “at home” in such a state, as Hegel says? In this connection, Hegel’s discussion of the disposition of love is illuminating, for he describes ethical life, at least in its “initial existence”, as “something natural in the form of love and feeling [Empfindung]” (§ A). In its “first moment”, love is a feeling of emotional connection, as is most apparent in the relationship between parents and their newborn child. In its most natural form, love is immediate, given by nature, and not a product of choice. The infant or young child experiences an immediate affective attachment to its parents; initially, it is not even aware of itself as a distinct person. Its first consciousness of itself as having an identity is as a family “member [Mitglied]” (§). As a young child grows up, it increasingly seeks to carve out a more expansive identity for itself. It desires differentiation or particularization, and this demands separation from its family – an at least partial rupture of that initial emotional connection. Crucially, particularization on Hegel’s analysis comes about not by means of a retreat into solitude but by the forging of connections, connections not given by birth. As I just mentioned, Hegel describes the uniquely ethical disposition as a form of love, but it is love that is no longer in its “natural form” (§ A). He gives us an example of this kind of love in his treatment of the bond between partners of an ethical marriage. Although the marital bond “contains the moment of feeling” (§§, A), it is formed for the purpose of satisfying more than just the physical needs or passions of the parties involved. In ethical marriage, each partner respects the other as a person, that is, as a free and rights-bearing agent. Each appreciates, furthermore, that there is an ethical dimension to the union itself. In a genuinely ethical marriage, the “substantial factor” is the “spiritual” bond. The bond is spiritual insofar as it includes the “consciousness” of each party of the union “as a substantial end” (§). Now, it is true that Hegel goes on to tell us that there is, in ethical marriage, a “renunciation [Aufgebung]” on the part of both partners of their “independent existence [Fürsichseins]” (§ A). This remark might tempt us to infer that he holds that partners in such a marriage renounce their separate identities overall. But Hegel has nothing this radical in mind. In a later passage, he more precisely characterizes
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the kind of individuality he takes to be given up or surrendered in ethical marriage. It is not that partners wholly surrender their individuality; rather, they renounce a certain conception of their individuality. Hegel explains that in a marriage that is truly ethical, the “standpoint of contract [Vertragsstandpunkt]” is abandoned, a standpoint according to which each person is assumed to be a “self-sufficient unit [selbständige Persönlichkeit]” (§). In an ethical marriage, we relinquish the idea that the union is nothing other than an agreement between the “arbitrary” wills of “immediate self-sufficient persons”, an agreement that entitles each party to use the other for the satisfaction of contingent physical and psychological needs (§§, A). The genuinely ethical marriage, as Hegel describes it, is much more than this. In an ethical union, I am not just an arbitrary will [Willkür] seeking the state’s permission to use another person to satisfy my particular and contingent ends. In this relationship of “self-conscious love” (§), I instead recognize that I can only truly fulfill myself as an individual, strictly speaking, through connection to another person. In my mature love as a self-conscious adult, “I find myself in another person”; I “gain recognition in this person, who in turn gains recognition in me” (§ A). The point worth emphasizing is that Hegel wants us to understand the disposition of the citizen of the ethical state along similar lines. Although he asserts that in the state, love is “no longer present”, his message is that the disposition that binds the citizen to the state cannot be described as love as a mere “feeling [Empfindung]” (§ A). In common with partners of an ethical marriage, ethical citizens or patriots willingly and self-consciously limit their self-interest in the service of something larger than themselves. The patriot knows that her state is ethical and that its content is thus “rational” (§). She is confident that her interests will acquire “objective existence [objektives Dasein]” in such a state (§§ A, ). Her patriotism is not an expression of love as a mere feeling, but it is akin to the “selfconscious love” that binds partners of an ethical marriage. So far, we can conclude that although the development of the ethical disposition indeed requires for Hegel some kind of surrender of individuality, the nature of that surrender needs to be carefully qualified. We capture Hegel’s view more accurately when we say that the will that is ethical gives up a certain conception of its individuality. The ethical disposition thinks of itself not as a mere arbitrary will seeking the satisfaction of its contingent drives and purposes. The citizen of the ethical state appreciates that its fellow citizens are rights-bearing persons; it has come to genuinely care about them as well as about the state itself. For this reason, it The arbitrary will [Willkür] is for Hegel a will governed by contingent and self-interested drives [Triebe] and inclinations [Neigungen] (§). It is the “will and spirit as particular individual” (§§, ). Arbitrariness, he writes, is “contingency in the shape of the will” (§). Like the partner of an ethical marriage, the patriot appreciates that her “substantial and particular interest is preserved and contained in the interest and end of an other” (§).
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wills the universal. As Hegel puts it in one passage, the “individual” even finds his “liberation [Befreiung]” in performing the duties of the ethical state (§). Of course, Hegel has much more to say about conditions that need to be in place if a will is to become an individual in his technical sense. Since my aim here is to offer evidence that he is skeptical about the idea of the will as a pure particular, I want to briefly consider some of those conditions. A moment ago, I mentioned that Hegel describes the maturing adult as seeking to achieve differentiation or particularization not by separating himself from his natural family and retreating into isolation, but by establishing new attachments. The process of differentiation occurs as a will sets out to satisfy its various needs, only some of which are straightforwardly given by nature. Since we are animals, we cannot survive without nourishment and shelter. As thinking animals, however, we have other needs as well. To gratify our vanity, for instance, we aim to set ourselves apart from others of our species. Our maturation is wound up with the desire to be identified not just as a member of humanity, but as a creature with highly specific tastes and preferences. We want to be recognized as belonging to some particular religious or philosophical group, as exhibiting unique tastes in clothes, music, hobbies, and as having special talents and aptitudes. In discussing the way in which the maturation process is accompanied by the multiplication of needs, Hegel makes the following provocative observation: As a person’s needs become more “particularized”, he says, those needs become “more abstract” (§). Our needs are highly complicated precisely because we are creatures possessing thought or understanding, creatures capable of shaping our thoughts and actions by generating endlessly complex social conventions and categories of differentiation. These categories prescribe how we should dress, what and when we should eat, which God to worship and which vocations and avocations to pursue (§). The sophisticated rational animal is not satisfied quenching her thirst with a glass of water; she demands flavored water or Perrier. She wants more than a mere roof over her head; if she can afford it, she will use her home as a means of self-expression. Perhaps she’ll adorn it with crimson-colored walls; perhaps she’ll add a matching leather couch. For thinking, social creatures like us, these more fine-grained categories of differentiation derive not from nature but from society. Nature determines that I am endowed with thought and therefore also agency, but nature does not make me a farmer, an entrepreneur, a member of a specific social class, or a connoisseur of this or that kind of wine. Nor do I craft these latter categories all by myself. Far from that, in fashioning my unique identity, I invariably draw on norms and classi Hegel’s treatment of the conditions and nature of the political disposition of patriotism (Patriotismus) merits more discussion than I can give it here. For a recent excellent treatment, see JeanFrançois Kervégan (, esp. –).
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fications that are artefacts of the culture in which I happen to live. My determinate particularity is in this way a product of my connections to others. As Hegel writes in his discussion of the multiplication of needs, “everything particular [alles Partikulare] takes on a social character” (§ A). As my needs become more “particularized”, they become “more abstract”. From the process of the multiplication and differentiation of needs, we discover the respect in which “universality” is the “ground and necessary form of particularity” (§).
II. The Ethical State is not a Pure Universal Up to this point, we’ve addressed the worry that citizens of Hegelian ethical life pay an unacceptably high price for their patriotism since their patriotism would seem to require them to sacrifice their individuality. My main goal in the previous section was to suggest that a least a certain version of this worry is misplaced. It is misplaced if it rests on the assumption that Hegel considers the individual to be a pure particular. For Hegel, the patriot of the ethical state does not surrender her pure particularity, because she has no such particularity to surrender. Individuals in ethical life have achieved a certain developmental maturity and self-understanding. One thing they understand is that their uniqueness, their particularity, is not pure; it rests on a basis of social dependency. Back in my introductory paragraphs, however, I suggested that a certain worry about the nature of the Hegelian universal (in this context, the state) is similarly unfounded. The worry is that the Hegelian ethical state is utterly external or alien. It is a body or power that lords over and controls – but cannot be trusted to reflect the interests of – its citizens. If citizens willingly submit to the state and its institutions, according to this line of interpretation, it must be because they have suspended their capacity to stand back from and critically evaluate their state. This charge of course raises large questions about the nature and origin of the Hegelian universal. Narrowing our focus to the Philosophy of Right, it raises questions about the nature and origin of the Hegelian ethical state and its institutions. I want to suggest that a proper interpretation of the Hegelian state should be guided by a passage I highlighted at the beginning of this essay. This is the passage in which Hegel warns us against taking the categories of universality and particularity as wholly separate or opposed. Hegel remarks that if we conceive of these categories in this way (that is, as effectively “pure” or “abstract”), we ignore how each is “bound up with and conditioned by each other” (§ A). So, not only should we resist treating the person as a pure particular, we should also not interpret the universal as utterly separate from the particular and as thus capable of “abstracting from everything determinate” (§). The universal in the form of the Hegelian ethical state must thus in some way be indebted to particularity for its nature and
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origin. Minimally, the state must itself depend on the desires and passions of its citizens. If this interpretation is on track, it may help us explain Hegel’s confident claim that the subject of the ethical state does not experience its laws as “something alien [Fremdes]” but rather “bears spiritual witness” to those laws “as to its own essence […]” (§). To make this line of thought more concrete, it will help to consider Hegel’s description of how ethical life conceives of one of its institutions, namely education. He prefaces his remarks on education with the warning that we misunderstand its nature and role, in ethical life, if we take it to be “purely external and associated with corruption” (§). How, then, are the educational institutions of ethical life, as Hegel portrays them, not “external”? Hegel observes that, initially, a child unreflectively absorbs norms actually observed by her family. Her family encourages some of her behaviors and discourages others. The child learns that she cannot always get what she wants, and that her actions have consequences. She learns that acting on her immediate inclinations is not in every instance the best policy, and that it is in her self-interest to sometimes coordinate her needs with those of others. The child comes to appreciate the advantages of making long-term versus merely short-term calculations about the consequences of her actions and the reactions they may provoke. She develops the ability to abstract from her own immediate needs and reflect on the goals and capacities of others. A couple of points are particularly worth highlighting here. First, the kind of education Hegel is interested to describe does not occur in a vacuum. A child grows up in a normative setting; her thoughts and behaviors are shaped by the reinforcements and penalties, first of her immediate family, and then of larger social circles including more formal educational institutions. Second, her education to maturity involves learning how to think. The child learns to abstract her attention from her immediate needs and consider the possible consequences of satisfying them; she learns to self-consciously tame her impulses by codes of conduct and to compare and coordinate her own interests with those of others. She increasingly orients herself towards the future. In learning to think, she develops a proficiency for comparing, and critically evaluating, codes of conduct. Hegel describes the mature educated person or individual of ethical life as a selfconscious critical thinker, capable of evaluating normative schemes and of generating new ones, should old schemes fail to be effective. In this way, as he puts it, particularity “works its way upward [heraufgebildet]” to universality, and the universal “comes into existence” (§). Indeed, we can read the entire Philosophy of Right as Hegel’s effort to describe the way in which norms of modern western moral and political thought emerge in response to the conflicts and challenges that confront agents enjoying ever-increasing levels of freedom and self-consciousness. Agents suffering from the violence and insecurity of a “state of nature”, for instance,
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learn from the inconveniences of such a condition that they are better off submitting to the governance of a certain kind of state, a state that is reasonably effective in the non-arbitrary enforcement of impartial laws. This lesson is not generated out of nowhere; it is the result of conflict. Agents discover that the norms already in place (those operative in a state of nature) cannot secure their freedom. Agents thus confront the task of replacing one set of norms with another. They learn, furthermore, that a state is more likely to command the respect of its citizens and thereby secure peace if its citizens see their interests reflected in its laws and institutions. Minimally, this occurs if laws of the state serve the interests of all rather than of merely some. The point I wish to stress is that the universal (in this case, the ethical state and its institutions) doesn’t for Hegel come into being independently of the needs and interests of agents. Rather, the universal gets generated in response to those needs and interests. Norms reflected in the state’s institutions (including education) are neither deduced from some Platonic heaven nor derived from a faculty of pure reason that is somehow capable of abstracting away “everything determinate”. Norms of the state are indebted to particularity in that they emerge in response to situational challenges faced by willing subjects. In this way, the universal “receives its content” from particularity, as Hegel says (§). To express this point differently, this is how the realm of the actual makes possible our idea of the rational. Crucially, agents enjoying the freedom and self-consciousness available in ethical life appreciate that the state is not a pre-given structure that need not reflect and be responsive to their demands. Precisely because citizens of ethical life know this about their state, they willingly limit their pursuits with reference to its laws. Rather than experience those laws as “something alien”, citizens bear “spiritual witness” to them as “to [their] own essence” (§). III. Conclusion The interpretation I have just defended might evoke the response that it doesn’t sufficiently explain passages in which Hegel seems to suggest that the ethical state is indeed an alien structure which demands the unreflective allegiance of its citizens. One such passage appears in his discussion of ethical life in the Encyclopedia. There, Hegel tells us that the agent of the ethical state looks upon the state as her “absolute aim”, and performs her duties unthinkingly, that is, “without selective reflection [ohne wählende Reflexion]” (Encyclopedia, GW : §). This passage could be The contingency (“arbitrariness”) involved in the satisfaction of needs “generates universal determinations within itself” (§ A). “[I]t is from particularity that universality receives both the content which fills it and its infinite self-determination” (§). See Sandkaulen’s discussion of this passage (Sandkaulen , ).
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taken to imply that the citizen of the Hegelian ethical state suspends her capacity for criticism and allows herself to be wholly shaped and governed by an alien other. What reasons are there for not interpreting the passage in this way, and why doesn’t the passage therefore undercut the interpretation I have been defending? I conclude this essay by addressing these questions. If we carefully consider the particular context in which this passage occurs, we can see that it is not as threatening to my interpretation as we might at first think. In this discussion in the Encyclopedia, Hegel’s objective is to contrast the uniquely “ethical” disposition with that of the “moral” subject, the subject conceived from the standpoint he refers to as “morality [Moralität]”. On his characterization, the “moral” framework is committed to a specific metaphysics of human nature, one that has implications for how we understand the nature of our inclinations or passions and our reason. In a nutshell, from the perspective of “morality”, inclinations and reason are considered to be wholly independent or heterogeneous sources of norms and motivation. From this perspective, distinctively practical laws have their origin in reason alone. The agent of “morality” is inescapably confronted, then, with a certain kind of choice: a choice between two wholly independent and irreducible principles of action. On the one hand, she seeks to satisfy the demands of inclination, that is, to secure her own happiness or welfare (Encyclopedia, GW : §). On the other, her reason commands her to aim at the right and the good – to will the universal. The “moral” agent must perpetually weigh these distinct grounds for action. Because inclination and reason, as she understands them, yield entirely separate principles for action, she cannot expect that her passions or inclinations can ever take over reason’s role as the source of practical normativity. Given the metaphysical commitments of the moral point of view, there can be no such harmony between the demands of welfare and of duty. The moral subject cannot escape the predicament of therefore always having to rely on “selective reflection”. She must continually ask herself: “Are my inclinations consistent with the commands of reason or morality? If not, should I resist acting from them?” In contrast, the citizen or individual of ethical life is not forced to choose between the either/or of welfare and duty, and thus does not suffer from this kind of motivational disharmony. The citizen of ethical life rejects the metaphysical assumptions of the standpoint of “morality”; for her, a unity between inclination and reason is possible. The ethical agent understands that universal (the state) is not an alien power, wholly independent of the passions and inclinations of its citizens; Should it happen that in a given instance the two principles prescribe identical courses of action, this will be a happy accident (Encyclopedia, GW : §). “The good thus becomes a mere ‘may happen’ for the agent, who can therefore decide on something opposed to the good, can be wicked” (Encyclopedia, GW : §).
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she understands that the state – qua ethical – is necessarily already a reflection of those passions and inclinations. From her vantage point as a citizen of ethical life, she acknowledges that the state is indebted for its origin and nature to the needs of its citizens. She knows that the state indeed comes into being in response to those needs. Not only that, she trusts that, as those needs change, there will likewise be change in laws of the state. This is why Hegel tells us in the above-quoted remark that the citizen’s obedience to laws of the ethical state does not require “selective reflection”. If the state is genuinely “ethical”, then its citizens are not forced to choose between the either/ or of welfare and duty. Their disposition towards the state will be one of trust, and they will be willing to put their welfare in its hands. Although a child’s initial trust of its parents is blind, the trust that the citizen places in the ethical state, on Hegel’s account, is hard won. The citizen of ethical life doesn’t suffer from the “moral” agent’s fate of perennially having to ‘select’ either welfare or duty, but nor is her “faith and trust” in the state unreflective or blind. The citizen’s trust in the ethical state, in Hegel’s words, “arises with the emergence of reflection”; it “presupposes representations and distinctions [Vorstellungen und Unterschied]” (§). The citizen’s trust of the ethical state, then, rests on knowledge. This Hegelian point is apparent already in the first sentence of the section “Ethical Life”. There, Hegel writes that, “Ethical life” is the “Idea of freedom as the living good which has its knowledge and volition in self-consciousness […]” (§). Paragraphs later, when he tells us that the ethical state is the “actuality of concrete freedom”, he describes individuals not as unreflectively submitting to an alien or external force, but as “knowingly and willingly” recognizing the “universal” (the state) as a reflection of who they are, that is, as “their own substantial spirit” (§). It has not been my aim in this essay to suggest that the ethical state as Hegel portrays it in fact possesses all the features we might hope to discover in a liberal democratic system. Instead, I have argued that once agents achieve the level of selfconsciousness and freedom enjoyed in ethical life – once they are “individuals” in Hegel’s technical sense – they are in a position to appreciate that their state, rather than “alien” or “external”, is a reflection of themselves and a product of their own willing. Individuals of ethical life know that their state is not a pure universal. They know that their state is no more a pure universal than they, as willing subjects, are pure particulars. For a useful condensed discussion of Hegel on the difference between “moral” and “ethical” consciousness, see Houlgate (, – ). To the arguments I have presented here, Houlgate adds further compelling reasons for thinking that Hegelian ethical life is not a “recipe for the slavish submission of oneself to the dictates of the state or society” (Houlgate , ). See the many passages in the Philosophy of Right in which Hegel describes the freedom achieved in ethical life as a freedom (or self-liberation) that is based in knowledge (e. g. GW ,: §§ , , , ).
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Andreas Arndt INDIVIDUALITÄT BEI HEGEL UND MARX
„Fast alle Opposition gegen Hegel ging von dem Vorwurf aus, daß in seiner Philosophie das Individuum unterdrückt werde.“ (Ottmann , ; vgl. auch Schmitz ; Rózsa u. ) Dieser Feststellung ist auch heute nichts hinzuzufügen. Auch die postmoderne Hegelkritik hat dessen Philosophie als eine Art Maschine zur Erzeugung von Identität verstanden, die Differenzen einebne. Der Vorwurf betrifft nicht nur die Realphilosophie Hegels, genauer: seine Theorie der Sittlichkeit, sondern sieht die vorgebliche Depotenzierung der Individualität und des Besonderen bzw. Einzelnen schlechthin (mit Adorno: des Nichtidentischen) als Konsequenz eines Vorrangs des Allgemeinen an, wie er nicht nur in der Wissenschaft der Logik begründet, sondern durch einen Panlogismus auch über das ganze System hinweg befestigt werde. So einseitig und im Einzelnen vielfach schlicht irrig diese Auffassung auch ist, so kann sie auf der anderen Seite aber auch nicht dadurch entkräftet werden, dass Hegel zum Denker der Individualität in einem starken Sinne stilisiert wird; dem steht schon der Aristotelismus Hegels entgegen, der Individuen immer als schon vergesellschaftete Individuen versteht. Weshalb kommt es zu dieser Uneindeutigkeit? Und was bedeutet sie für das Problem selbst? Diesen Fragen an Hegel werde ich mich zunächst zuwenden (I). Im Anschluss daran gehe ich auf die junghegelianischen Versuche ein, die tatsächliche oder vermeintliche Ambivalenz Hegels aufzulösen (II), um schließlich zu zeigen, dass und wie Marx in der Reaktion auf diese Versuche zu einer im Grunde hegelianischen Auffassung zurückfindet, mit allen Ambivalenzen, die sich im Denken Marx’ erneuern (III). I. Für Hegel sind die Menschen zwar schon immer vergesellschaftet, aber die Form dieser Vergesellschaftung ist nicht invariant und ändert sich entscheidend vor allem mit dem Eintritt in die Moderne. Als den Wendepunkt identifiziert Hegel die Ausbildung der Subjektivität: „Das Recht der Besonderheit des Subjects, sich befriedigt zu finden, oder, was dasselbe ist, das Recht der subjectiven Freyheit macht den Zur Kritik dieser Auffassung vgl. Hada (). Hegel-Studien Beiheft · © Felix Meiner Verlag · ISSN -
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Wende- und Mittelpunkt in dem Unterschiede des Altertums und der modernen Zeit. […] Dieß Princip der Besonderheit ist nun allerdings ein Moment des Gegensatzes, und zunächst wenigstens eben so wohl identisch mit dem Allgemeinen, als unterschieden von ihm“ (GW ,: § Anm.). Die eingangs festgestellte Uneindeutigkeit im Verhältnis des Individuums (des Subjekts) zum Allgemeinen tritt hier sofort in der Form des Gegensatzes hervor. Das betrifft zunächst die gegensätzliche Verfasstheit der Moderne selbst. Die Ausbildung der Subjektivität innerhalb der Gesellschaftlichkeit und ihre Vertiefung in sich führen einerseits zur Stärkung der Individualität, lockern aber andererseits auch das gesellschaftliche Band zwischen den Individuen, ohne damit freilich die Gesellschaftlichkeit aufheben zu können: letztere – das gesellschaftliche Allgemeine – wird den Individuen gegenüber vielmehr abstrakt und zu einer äußeren Macht. Damit ist eine Figur der Entfremdung bezeichnet, die in den nachhegelschen Diskursen eine entscheidende Rolle spielen wird. Hegel diagnostiziert diese Situation der Moderne, die in der Verselbständigung der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber dem Staat ihren sichtbarsten Ausdruck findet, als deren innere Zerrissenheit, ohne – so meine These – hierfür eine wirkliche Lösung zu finden. Auf der einen Seite unterstreicht er das Recht der Subjektivität, nur das anzuerkennen, was das Ich als vernünftig einsieht; auf der anderen Seite kritisiert er eine sich selbst mit dem Allgemeinen identifizierende Subjektivität – wie sie vor allem in der Romantik ausgeprägt sei – als eine Art von sozialpathologischer Hypostasierung von Subjektivität (vgl. Jaeschke , – ). Dem entspricht im Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft und Staat auf der einen Seite die Anerkennung der bürgerlichen Gesellschaft als unverzichtbarer Freiheitsphäre für die Besonderheit und auf der anderen Seite die Warnung davor, ihr das politische Gemeinwesen, den Staat, auszuliefern. Hegels Position lässt sich nicht nach einer Seite hin – Individualität oder (gesellschaftliche) Allgemeinheit – auflösen, denn schon von ihrer Grundlage her – unabhängig von der Widersprüchlichkeit der Moderne – ist sie als ein dialektisches ‚sowohl … als auch‘ angelegt. Ein zureichendes Selbstverständnis und eine zureichende Selbstbeschreibung des ‚Ich‘ hängen nämlich nach Hegel davon ab, dass es sich als Moment einer Totalität versteht. Das entspricht auch Hegels Auffassung, dass dem Selbstbewusstsein keine unmittelbare Selbstbeziehung zugrunde liegt, sondern ein reflektiertes Selbstverhältnis durch die Beziehung auf Andere bzw. Anderes (vgl. Arndt , ff.). Diese Auffassung impliziert, unabhängig von der erwähnten Zerrissenheit der Moderne, einen Widerspruch. Wenn die Identität des ‚Ich‘ nur in einer Beziehung auf Anderes gedacht werden kann, dann kommt in dieser Reflexionsfigur der spinozistisch inspirierte Grundsatz „omnis determinatio est negatio“ zum Tragen, dem Hegel „unendliche Wichtigkeit“ zuschreibt (GW : ). Das heißt, dass es zur Bestimmung von etwas nicht ausreicht, dieses in seiner Identität mit sich zu fixieren, wobei die Bestimmung dann gewöhnlich einer
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Entität als dem logischen Subjekt eines Urteils beigelegt wird. Bestimmtheit ist vielmehr Negation alles Anderen zu dieser Bestimmtheit, das durch eben diese Bestimmtheit ausgeschlossen wird. Diese Beziehung ist wesentlicher Bestandteil der Bestimmtheit und damit der Identität selbst. Das Andere, das negiert wird, negiert aber umgekehrt auch die Bestimmtheit dessen, was es negiert. Wenn also die anfängliche Bestimmtheit die negative Beziehung auf Anderes als wesentlichen Bestandteil ihrer Identität hat, so ist ihr die Beziehung auf dasjenige wesentlich, was sie selbst negiert. Etwas ist also in seiner Bestimmtheit nur mit sich identisch, indem es seine eigene Negation einschließt, oder es ist nur als Widerspruch. Es ist meines Erachtens offenkundig, dass das Verhältnis von Individuum und Allgemeinheit und damit Individualität überhaupt nach Hegel unter der Form des Widerspruchs zu denken ist. Dies dürfte auch mit ein Grund dafür sein, dass Vielen dieses Verhältnis uneindeutig zu sein scheint, denn der Widerspruch ist nach Hegel gar nicht aufzulösen, sondern nur zu beherrschen. Das spekulative Denken besteht, der Wissenschaft der Logik zufolge, gerade darin, „daß das Denken den Widerspruch und in ihm sich selbst festhält, nicht aber, daß es sich […] von ihm [dem Widerspruch, A.] beherrschen und durch ihn sich seine Bestimmungen nur in andere oder in nichts auflösen läßt.“ (GW : ) Das hat Folgen auch für die realphilosophische Problematik. Zum einen bedeutet es, dass das Verhältnis, welche bestimmte Form es auch immer haben mag, in keinem Falle in eine widerspruchsfreie Harmonie übergehen kann, in der das Individuelle bruchlos mit dem Allgemeinen konvergiert. Solche Sozialromantik ist Hegel fremd – und er ist in diesem Punkt realistischer als viele seiner ‚linken‘ Kritiker. Zum anderen hat Hegels Auffassung des Widerspruchs die Möglichkeit zur Konsequenz, dass der Widerspruch von den gesellschaftlichen Individuen auch praktisch nicht ‚festgehalten‘ werden kann, sondern umgekehrt die Individuen von ihm beherrscht werden. Ein solcher Zustand droht in der bürgerlichen Gesellschaft, deren innere Dynamik nach Hegel sozial destabilisierend wirkt, wenn sie sich selbst überlassen bleibt. Bereits in seinem Aufsatz Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts von / hatte Hegel geäußert, das „System der sogenannten politischen Oekonomie“, sei „ganz in der Negativität und in der Unendlichkeit“ befangen und gehe „auf die Quantität und die Bildung zu immer größerer Differenz und Ungleichheit“, weshalb es von der Sittlichkeit im Ganzen „ganz negativ behandelt werden, und seiner Herrschaft unterworfen bleiben muß […]. Um zu verhindern, daß es sich nicht für sich constituire, und eine unabhängige Macht werde, […] muß das sittliche Ganze es in dem Gefühl seiner innern Nichtigkeit erhalten“ (GW : f.). Das bedeutet freilich nicht – dies wäre wiederum eine einseitige Auflösung des Widerspruchs überhaupt – die Selbständigkeit der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber dem Staat aufzuheben. Die bürgerliche Gesellschaft nämlich ist als Freiheitssphäre für Hegel unverzichtbar; als aufgehobene Moralität kommt in ihr das Recht der Besonderheit der Individuen zur Geltung. Dem prinzipiellen Gewinn
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an persönlicher Freiheit steht freilich die Tatsache entgegen, dass die bürgerliche Gesellschaft nicht in der Lage ist, diese Freiheit auch allen Individuen zukommen zu lassen. Diese Entwicklung führt zum Verlust der rechtlichen Gesinnung beim armen und beim reichen „Pöbel“ und wird damit zur Bedrohung der rechtlichen Grundlagen des Staates. Diese Zuspitzung ist eine mögliche Folge davon, dass das „System der Bedürfnisse“ Hegel zufolge nur eine Sphäre der „formellen Allgemeinheit“ und Äußerlichkeit darstellt (GW ,: § ). Da diese nur formelle Allgemeinheit aber Ermöglichungsbedingung der in dieser Sphäre auszulebenden individuellen Freiheit ist, muss einerseits das Recht der Besonderheit gegen das Allgemeine verteidigt werden, jedoch zugleich auch der Anspruch des Allgemeinen – des politischen Gemeinwesens – gegen die Verselbständigung der Besonderheit. Wie dieser Widerspruch zu beherrschen sei, dafür hatte Hegel indes keine wirkliche Lösung. Wenn die bürgerliche Gesellschaft gleichsam Spielraum der individuellen Freiheit auf der gesellschaftlichen Ebene sein soll, zugleich aber durch deren Eigendynamik große Teile der Bevölkerung von der Betätigung ihrer Freiheit in dieser Sphäre ausgeschlossen werden, wie Hegel erkannte, dann hat der Widerspruch eine Form angenommen, in der er nicht mehr beherrscht wird, sondern die gesellschaftlichen Individuen beherrscht. Birgit Sandkaulen (a, f.) hat mit Recht darauf verwiesen, dass Hegel die Erhebung des Besonderen zum Allgemeinen dem anvertraut, was er ‚Bildung‘ nennt und innerhalb der Grundlinien der Philosophie des Rechts zunächst innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft verortet. Dabei unterstelle er jedoch, dass die Entzweiung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft bereits aufgehoben sei und gerate schließlich dazu, die Affirmation des Bestehenden an die Stelle einer der Logik des Bildungsprozesses entsprechenden kritischen Reflexion des bestehenden Allgemeinen zu setzen. Bei Hegel heißt es hierzu: „Das einfache Verhalten des unbefangenen Gemüthes ist, sich mit zutrauensvoller Überzeugung an die öffentlich bekannte Wahrheit zu halten, und auf diese feste Grundlage seine Handlungsweise und feste Stellung im Leben zu bauen.“ (GW ,: ; vgl. dazu Sandkaulen b, – ) Hegel selbst trägt damit dazu bei, seiner Philosophie den Anschein der Versöhnung mit dem Bestehenden zu geben und die Annahme zu bekräftigen, das
Im § der Grundlinien der Philosophie des Rechts heißt es dazu, es „vermehrt sich die Anhäufung der Reichthümer […] auf der einen Seite, wie auf der andern Seite die Vereinzelung und Beschränktheit der besondern Arbeit und damit die Abhängigkeit und Noth der an diese Arbeit gebundenen Classe, womit die Unfähigkeit der Empfindung und des Genusses der weitern Freyheiten und besonders der geistigen Vortheile der bürgerlichen Gesellschaft zusammenhängt.“ (GW ,: ) Ruda () hat diese Ambivalenz im Verhältnis zur bürgerlichen Gesellschaft herausgearbeitet. Vgl. auch Arndt (, ff.). Vgl. dazu GW ,: : „Reflexion – Recht – Moralitæt – abstracte Momente – Herabfallen in die Besonderheit […]. Dem Particularen (Abstracten –) Form der Allgemeinheit – nur Form“.
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absolute Recht der Subjektivität gelte dann doch nur für das absolute Subjekt und seinen irdischen Stellvertreter – den Staat.
II. Die Entwicklung der nachhegelschen Philosophie, deren Komplexität noch nicht wirklich erforscht ist, arbeitet sich vielfach an dieser Problematik ab, wobei – so meine These – deren eigentliche Grundlage, die Unausweichlichkeit des Widerspruchs, der nur zu beherrschen, nicht aber zu beseitigen ist, aus dem Blick gerät. Dies gilt, wie bereits angedeutet, auch für den jungen Marx, während er ab in der Kritik der Junghegelianer eine neue Position einnimmt, die ihn nolens volens wiederum in eine größere Nähe zu Hegel bringt, auch wenn Marx selbst seinen neuen Standpunkt als das Ergebnis eines Abschieds von der Philosophie verstehen will. Da es mir hier vor allem um Marx geht, möchte ich die junghegelianischen Debatten nur durch einige Streiflichter soweit verdeutlichen, dass die Marx’sche Neupositionierung als Resultat eines Prozesses der Kritik (der zugleich Selbstkritik ist) erkennbar wird. Das Problem des Verhältnisses des Individuellen zum Allgemeinen wird nach Hegel zunächst weniger politisch-gesellschaftlich als vielmehr bewusstseinstheoretisch zum Thema gemacht, wobei im Streit um Hegels Religionsphilosophie zumeist das religiöse Bewusstsein im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Hierfür ist noch einmal auf Hegel zurückzugehen. In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie in der Fassung der sogenannten Freundesvereinsausgabe heißt es: „Es ist eine neue Epoche in der Welt entsprungen. Es scheint, daß es dem Weltgeiste jetzt gelungen ist, alles fremde gegenständliche Wesen sich abzutun und endlich sich als absoluten Geist zu erfassen […]. Der Kampf des endlichen Selbstbewußtseins mit dem absoluten Selbstbewußtsein, das jenem außer ihm erschien, hört auf.“ (TWA : ) Das korrespondiert mit Hegels eigenen Worten in der „Vorrede“ zur Phänomenologie des Geistes: „Der Geist wird aber Gegenstand, denn er ist diese Bewegung, sich ein anderes, d. h. Gegenstand seines Selbsts zu werden, und dieses Andersseyn aufzuheben. Und die Erfahrung wird eben diese Bewegung genannt, worin das Unmittelbare […] sich entfremdet, und dann aus dieser Entfremdung zu sich zurückgeht, und hiemit itzt erst in seiner Wirklichkeit und Wahrheit dargestellt, wie auch Eigenthum des Bewußtseyns ist.“ (GW : ) Wenn das endliche Selbstbewusstsein mit dem allgemeinen Selbstbewusstsein – dem Sich-selbst-Erfassen des Geistes im absoluten Geist – konvergiert, dann ist, zumindest im Bewusstsein, das einzelne Individuum mit dem Allgemeinen versöhnt. Vgl. Jaeschke (a, ff.); zu den politischen Implikaten des Streits um die Religionsphilosophie vgl. Jaeschke (a, f.).
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Diese Versöhnung im Bewusstsein wird von Hegel auch als Aufhebung der Entfremdung gedacht, jedoch aus der Perspektive des absoluten Geistes, nicht des endlichen Selbstbewusstseins. Das gibt dem junghegelianischen Diskurs das Thema der Entfremdungsgeschichte vor, wirft aber auch systematische Probleme auf, die in diesem Diskurs nicht zureichend aufgenommen werden. Die Aufhebung der Entfremdung vollzieht der Geist, „indem er sich selbst als absoluten Geist weiß; und dies weiß er in der Wissenschaft. Der Geist produziert sich als Natur, als Staat; jenes ist sein bewußtloses Tun, worin er sich ein Anderes, nicht als Geist ist; […] nur in der Wissenschaft weiß er von sich als absolutem Geist, und dies Wissen allein, der Geist, ist seine wahrhafte Existenz.“ (TWA : ) Hegel denkt offenbar die Aufhebung der Entfremdung deshalb vom absoluten Geist her, weil nur hier – und letztlich nur in der Wissenschaft der Logik – so etwas wie eine reine Selbstbezüglichkeit statthat: die Selbstbezüglichkeit des Begriffs im reinen Denken. Für das Verhältnis des subjektiven zum objektiven Geist gilt das aber nicht; hier bleibt eine konstitutive Fremdheit bestehen, weil das endliche Selbstbewusstsein und damit das Individuum sich immer nur in der Beziehung auf Anderes, das es nicht ist, zu konstituieren und zu realisieren vermag. Und auch in Bezug auf den absoluten Geist bleibt ein Moment der Fremdheit insofern bestehen, als das endliche Selbstbewusstsein sich als Moment und Träger des absoluten Selbstbewusstseins in ihm wiederfinden, nicht aber schlechthin mit ihm identifizieren kann. An dieser Konstellation wird deutlich, dass aus der konstitutiven Widersprüchlichkeit des Selbstverhältnisses und damit des Selbstbewusstseins der Individuen eine konstitutive Fremdheit folgt, die jeder Romantik einer vollständigen Aufhebung der Entfremdung entgegensteht. Auf der anderen Seite erreicht der Geist die absolute Selbstbezüglichkeit auch nur in der absoluten Idee und ist selbst noch in Kunst und Religion mit Anderem, der Sinnlichkeit, kontaminiert. Er hat aber auch im reinen Denken die ihm entfremdete Realität nicht getilgt, denn der Begriff – in letzter Konsequenz die absolute Idee – hat kein apartes Dasein außerhalb von Natur und Geist. Die absolute Form – die Form des sich als Begriff erfassenden Begriffs in der absoluten Idee – ist eben darum auch nur formell (GW : ). Sie beruht, wie es im § der Enzyklopädie heißt, auf der Möglichkeit des Geistes, „von allem Aeußerlichen und seiner eigenen Aeußerlichkeit, seinem Daseyn selbst [zu] abstrahiren“ (GW : ). Das impliziert, wie am Ende der Wissenschaft der Logik, die Rücknahme der Abstraktion im Sich-Aufschließen („Entschließen“) der Idee zur Realität, in der sie sich zu finden hat. Der Bezug der Idee und mit ihr des absoluten Geistes auf die Realität der Natur und des Geistes ist ihr notwendig eingeschrieben (vgl. Arndt a). Hierbei kann der absoluten Idee ein kritisches Potential gegenüber dem Bestehenden gerade aus der Spannung zur Realität erwachsen (vgl. Gerhard ). Der nachhegelsche Diskurs unterläuft diese Komplexität, indem er – wenn auch wiederum nur im Denken, wie Marx spotten wird – jede Ambivalenz tilgen will.
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Die Entfremdungsgeschichte wird neu erzählt, aber nun aus einer neuen Perspektive, nämlich der der menschlichen Gattung. Dabei wird die Aufhebung der Fremdheit des Geistes vom absoluten in den objektiven Geist verlagert; sie soll jetzt in der Weise real werden, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse für die Individuen jede Fremdheit verlieren, Individuelles und Allgemeines auf der gesellschaftlichen Ebene vollkommen zur Deckung kommen. In Anlehnung an die romantische Figur individueller Allgemeinheit (vgl. Arndt , – ) ließe sich daher von einer geschichtsphilosophisch begründeten Entfremdungsromantik sprechen. Diese Geschichtsphilosophie bezieht sich nicht mehr auf Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, die vielmehr zunehmend als defizitär angesehen werden, sondern auf die Phänomenologie des Geistes (vgl. Arndt , – ). In der Konsequenz wird dann das Schlusskapitel der Phänomenologie über das absolute Wissen als Befreiung vom Gegensatz des Bewusstseins als Antizipation einer nichtentfremdeten, den Individuen vollkommen durchsichtig gewordenen Gesellschaft verstanden. Der junge Marx will in diesem Sinne in den ÖkonomischPhilosophischen Manuskripten () den „Communismus“ als „wahrhafte Auflösung allen Widerstreits“ verstehen (MEGA I/, ) und noch Adorno partizipiert an dem junghegelianischen Missverständnis, wenn er Hegels Absolutes als Utopie in den Dienst nehmen will: „Das Absolute […] wäre das Nichtidentische, das erst hervorträte, nachdem der Identitätszwang zerging“ (Adorno , ). Die gegenüber Hegel in dem nachhegelschen Diskurs erfolgten Verschiebungen konzentrieren sich auf zwei Punkte, die eng miteinander verbunden sind. Das ist zum einen die realphilosophische Transformation des Entfremdungskonzepts. Subjekt der Entfremdung ist nicht mehr der absolute Geist, wie er sich schließlich in der absoluten Idee erfasst und dadurch die Entfremdung in der Wissenschaft als Wissen des Absoluten von sich überwindet, sondern die menschliche Gattung, die in ihrer Entwicklung alle Fremdheit des Allgemeinen gegenüber den Individuen tilgt. Da dieser Vorgang sich auf der realphilosophischen Ebene und nicht mehr nur im Wissen des Absoluten von sich abspielt, wird damit zugleich auch die Widerspruchsproblematik im Endlichen entschärft. Indem die Struktur des Absoluten als absolute Selbstbezüglichkeit in der Selbstentzweiung in die endliche Realität gelegt wird, verliert der Widerspruch im Endlichen die Härte der Unhintergehbarkeit und wird in einer wiederhergestellten Unmittelbarkeit des Individuellen und Allgemeinen entschärft. Ludwig Feuerbach bezieht in seinem Wesen des Christentums () noch eine Position, die sich – entgegen späteren Erinnerungen des alten Friedrich Engels – in „Da kam Feuerbachs ‚Wesen des Christenthums‘. Mit einem Schlag zerstäubte es den Widerspruch, indem es den Materialismus ohne Umschweife wieder auf den Thron erhob. […] Man muß die befreiende Wirkung dieses Buchs selbst erlebt haben, um sich eine Vorstellung davon zu machen. Die Begeisterung war allgemein: Wir waren alle momentan Feuerbachianer.“ (MEW , )
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großer Nähe zu Hegel bewegt. Er unterscheidet wie Hegel zwischen dem individuellen und dem allgemeinen Selbstbewusstsein, nur dass er letzteres nicht in die Idee, sondern in die menschliche Gattung setzt. Aber auch das markiert für sich noch keine Differenz zu Hegel, denn der absolute Geist ist, wie Walter Jaeschke zu Recht betont, „Geist von unserem Geist – auch wenn er weit über unsere endliche, individuelle Geistigkeit hinausgeht“ (Jaeschke b, ). Die Differenz zwischen Individuum und Gattung ist für Feuerbach gerade der Einsatzpunkt der Religion: „Kein Individuum ist vollkommen adäquat seiner Gattung, aber nur das menschliche Individuum ist sich bewußt des Bruchs zwischen der Gattung und dem Individuum; im Gefühle dieses Bruches wurzelt die Religion.“ (FGW : ) Die Unhintergehbarkeit dieses Bruchs bedeutet, dass die Überwindung der Entfremdung durch die Dechiffrierung des religiösen Bewusstseins als menschliches Selbstbewusstsein die konstitutive Fremdheit des individuellen Selbstbewusstseins nicht tilgt; in diesem Sinne gibt es, wie Feuerbach später schreibt, auch „keinen Egoismus ohne ‚Communismus‘“ (FSW : ), sondern das Individuum kann ein zureichendes Selbstbewusstsein nur dann gewinnen, wenn es sich zugleich als Moment eines Allgemeinen, der Gattung, versteht. Der entscheidende Unterschied zu Hegel besteht darin, dass Feuerbach das Verhältnis des Individuums zum Allgemeinen nur in Bezug auf den absoluten, nicht auf den objektiven Geist zum Thema macht und damit den Eindruck erweckt, mit der Anknüpfung des individuellen Selbstbewusstseins an das der Gattung seien die Probleme im Wesentlichen gelöst. Gegen solche Illusionen wird Marx sich in der Deutschen Ideologie richten, aber sie haben mit Hegel nichts zu tun. Bruno Bauer, und damit beginnt der Aufstieg des romantischen Entfremdungsparadigmas, verschleift dann die Differenz, die Feuerbach für unhintergehbar hielt. Die philosophische Kritik, die Bauer als ‚Kritik des Bestehenden‘ versteht, zielt auf die Verwirklichung eines reinen Selbstbewusstseins, in dem Individuelles und Allgemeines ununterscheidbar sind. In der Konsequenz möchte er dann schließlich auch den Begriff der menschlichen Gattung ganz eliminieren (Bauer [] , f.). Max Stirner (i. e. Johann Caspar Schmidt) wird auf dieser Linie in seinem Buch Der Einzige und sein Eigentum, das Ende erschien und sogleich der Zensur zum Opfer fiel, die Konsequenz ziehen, die Individualität gegenüber der Allgemeinheit überhaupt zu verabsolutieren und sich, seinem Selbstverständnis nach, damit von aller Philosophie zu verabschieden: „Ich bin weder Gott, noch der Mensch, weder das höchste Wesen noch Mein Wesen, und darum ist’s in der Hauptsache einerlei, ob Ich das Wesen in mir oder außer Mir denke“ (Stirner [] , ). Die Hegel’sche Problematik war damit völlig beseitigt, aber auch Die Verwirklichung dieses reinen Selbstbewusstseins sei „die letzte That einer bestimmten Philosophie, welche sich darin von einer positiven Bestimmtheit, die ihre wahre Allgemeinheit noch beschränkt, befreien muß“ (Bauer , XXI).
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das an den Gattungsbegriff geknüpfte Konzept einer Entfremdungsgeschichte, wie es Moses Hess und Karl Marx noch vertreten hatten, in seinen Grundfesten erschüttert. Und eine solche Erschütterung hatten die Zeitgenossen durchaus verspürt; so etwa kam Friedrich Engels etwa zu dem positiv gemeinten Urteil, Stirner sei ein „in Materialismus und Empirismus umgeschlagener Idealist“, der mit dem Egoismus als Prinzip zu recht die Abstraktion des menschlichen Gattungswesens angreife. Marx teilte diese Einschätzung nicht, sah in der Folge aber Klärungsbedarf. Diese Klärung erfolgte in den Manuskripten zu dem unter dem Titel Deutsche Ideologie bekannten Publikationsprojekt, das Marx und Engels zwischen Oktober und September verfolgten. Im Mittelpunkt der Kritik steht Stirner, dem aber zugestanden wird, dass „Gattung“, aber auch „die Gesellschaft als Subjekt“ nur spekulative Abstraktionen seien, während es darauf ankomme, Geschichte auf einer empirischen, nicht-spekulativen Grundlage zu verstehen (vgl. MEGA I/: ). Diese Kritik verbindet sich – auf der Linie der veröffentlichten Streitschrift von Marx und Engels gegen Bruno Bauer und andere (Die Heilige Familie. Kritik der kritischen Kritik, MEW : – ) – mit einem stark empiristisch grundierten „Materialismus“, der Denken als Ausfluss und Ausdruck der materiellen Lebensprozesse der gesellschaftlichen Individuen verstehen will. Die Kritik am junghegelianischen Denken, das sich zu diesem Zeitpunkt schon weit von Hegel entfernt hat, verbindet sich auf eine vielfach undurchsichtige Weise mit einer generellen Kritik an ‚der‘ Philosophie überhaupt und auch an Hegel. Tatsächlich revidiert und differenziert Marx seine Auffassungen in der Durchführung seines Projekts der Kritik der politischen Ökonomie in den folgenden Jahrzehnten auf vielfache Weise, jedoch nicht die grundsätzliche Kritik an einer von jeder Empirie losgelösten Verselbständigung des Denkens in der Philosophie, die ursprünglich auf die Junghegelianer gemünzt ist, jedoch auch Hegel treffen soll. Die Möglichkeit der Ausarbeitung und des Einsatzes philosophischer Denkmittel bleibt damit ein blinder Fleck im Marx’schen Denken.
III. Der Sache nach stellt Marx gegenüber den junghegelianischen Diskursen die Komplexität der Hegelschen Problematik in Bezug auf das Verhältnis des Individuellen zum Allgemeinen in wesentlichen Punkten wieder her, indem er – beginnend mit seinen Manuskripten zur Kritik der Grundlinien der Philosophie des „An Marx“ (. . , MEGA² ,: ff.); in einem nicht überlieferten Brief widersprach Marx, worauf auch Engels sein Urteil revidierte (vgl. „an Marx“, um den . . , MEGA², ,: ). Vgl. hierzu die „Einführung“ (MEGA I/, – ).
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Rechts von (MEGA I/: – ) – die Vermittlung in der Sphäre dessen, was Hegel den objektiven Geist nennt, ins Zentrum rückt: die Kritik der politischen Ökonomie hat weitgehend die Sphären der bürgerlichen Gesellschaft und des Staats bei Hegel zum Gegenstand. Dagegen fällt die Beziehung des objektiven zum absoluten Geist der Kritik an der von Marx behaupteten Verselbständigung des Denkens und insbesondre des Logischen bei Hegel zum Opfer. Allerdings bleibt dieses Verhältnis, wenn auch weitgehend abgeschattet, anwesend, indem Marx für seine Kritik der politischen Ökonomie mehr und mehr ausdrücklich die dialektische Methode Hegels mobilisiert, die bei Hegel ihre systematische Begründung und Darstellung zum Schluss der Wissenschaft der Logik in der absoluten Idee findet. Der blinde Fleck im Denken Marx’ hat Folgen für die Bestimmung des Verhältnisses des Individuums zum Allgemeinen. Dies zeigt sich besonders deutlich im Blick auf die Entfremdungsromantik. In seinem Manuskript Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von wirft Marx Hegel vor, dass er „das Allgemeine nicht als das wirkliche Wesen des Wirklich Endlichen, d. i. Existirenden, Bestimmten betrachtet oder das wirkliche Ens nicht als das wahre Subjekt des Unendlichen.“ (MEGA I/: ) Damit werde die eigentliche Vermittlung der Wissenschaft der Logik aufgebürdet: „Der konkrete Inhalt, die wirkliche Bestimmung erscheint als formell; die ganz abstrakte Formbestimmung erscheint als der konkrete Inhalt. […] Nicht die Rechtsphilosophie, sondern die Logik ist das wahre Interesse. […] Nicht die Logik der Sache, sondern die Sache der Logik ist das philosophische Moment.“ (MEGA I/: ) Die realphilosophische Vermittlung ‚wirklicher‘ Extreme werde daher über die inadäquate logische Form des Vernunftschlusses konstruiert. Dies führt zu einem Auseinandertreten von Wesen (Vernunftschluss) und erscheinender Wirklichkeit (realer Gegensatz). Das Begreifen, so markiert Marx seinen Gegensatz zu Hegel, „besteht aber nicht, wie Hegel meint, darin, die Bestimmungen des logischen Begriffes überall wieder zu erkennen, sondern die eigenthümliche Logik des eigenthümlichen Gegenstandes zu fassen.“ (MEGA I/: ) Offen bleibt, von welchem Allgemeinen oder sogar Unendlichen hier die Rede ist. Die mit Bruno Bauer einsetzende Verschleifung des Individuellen (bzw. Endlichen überhaupt) mit dem Allgemeinen (bzw. Unendlichen) wird dadurch jedenfalls nicht ausgeschlossen und auf dieser Linie erfolgt dann auch die Ausrufung des „Communismus“ als Überwindung aller Gegensätze: „er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreits des Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Nothwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung.“ (MEGA I/: ) Dies gilt selbst für das individuelle Bewusstsein: „Mein allgemeines Bewußtsein ist nur die theoretische Gestalt dessen, wovon das reelle Gemeinwesen, gesellschaftliche Wesen, die lebendige Gestalt ist“ (MEGA I/: ). Dass das allgemeine Bewusstsein als Bewusstsein des Allgemeinen über das gesellschaftliche Allgemeine hinausgehen und dadurch letzteres, in wel-
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cher Form auch immer, als endlich und zugleich sich in Differenz zum Allgemeinen überhaupt begreifen könnte – diese Einsicht bleibt dem jungen Marx verschlossen. Damit entgeht ihm auch, dass die Aufhebung der Entfremdung allein im Selbstverhältnis des Absoluten, die er als scheinbare Vermittlung und Harmonisierung realer Widersprüche versteht, auch ein kritisches Verhältnis zur Realität zumindest ermöglicht, indem sie einen vernünftigen Umgang mit Widersprüchen im Endlichen erfordert, auch wenn diese grundsätzlich nicht abzuschaffen und in rein selbstbezügliche Strukturen aufzuheben sind. Marx’ geäußerte Annahme, dass dies in der Realität möglich sei, ist daran gemessen illusionär. Auch der spätere Marx bewegt sich noch in der Nähe zur Entfremdungsromantik, wenn er im ersten Band des Kapital ein Gegenbild zur kapitalistischen Warenproduktion entwirft: „Stellen wir uns endlich, zur Abwechslung, einen Verein freier Menschen vor, die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben. Alle Bestimmungen von Robinson’s Arbeit wiederholen sich hier, nur gesellschaftlich, statt individuell.“ (MEGA II/: ) Hier wird, entgegen der bereits in der Deutschen Ideologie ausgesprochenen Warnung, die Gesellschaft – jedenfalls die postkapitalistische – als ein Subjekt betrachtet. Dabei ist jedoch zu unterstreichen, dass hinter solchen fragwürdigen Formulierungen bei Marx keine Prävalenz des gesellschaftlichen Allgemeinen bzw. des ‚Kollektivs‘ steht, sondern im Gegenteil eine Prävalenz des Individuellen: Marx denkt Gesellschaft unter den Bedingungen der Moderne, wie Hegel, von den gesellschaftlichen Individuen her. Schon im Manifest der Kommunistischen Partei heißt es: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ (MEW : ) Die Priorität ist deutlich, und in Umkehrung Feuerbachs ließe sich das auf die Formel bringen: „kein Kommunismus ohne Egoismus“. Hierfür lassen sich bis hin zum späten Marx eindeutige Belege anführen (vgl. Arndt b). Mit Hegel geht Marx davon aus, dass Individualität und Subjektivität sich in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften geschichtlich herausbilden und in der Moderne das Individuum als frei anzusehen sei; in den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie (/) heißt es hierzu: Je tiefer wir in der Geschichte zurückgehen, je mehr erscheint das Individuum, daher auch das producirende Individuum als unselbstständig, einem grössern Ganzen angehörig. Erst in dem t Jhh., in der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ treten die verschiednen Formen des gesellschaftlichen Zusammenhangs dem Einzelnen als bloses Mittel für seine Privatzwecke entgegen, als äusserliche Nothwendigkeit. Aber die Epoche, die diesen Standpunkt erzeugt, den des vereinzelten Einzelnen, ist grade die der bisher entwickelsten gesellschaftlichen
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(allgemeinen von diesem Standpunkt aus) Verhältnisse. Der Mensch ist im wörtlichsten Sinn ein ζῶον πολιτιϰόν, nicht nur ein geselliges Thier, sondern ein Thier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann. (MEGA II/: ) Marx’ Kritik am Kapitalismus richtet sich nicht gegen das Individualitätsprinzip der Moderne, sondern dagegen, dass im Kapitalismus die Freiheit des Individuums aufgrund sachlicher Abhängigkeiten in Unfreiheit umschlage: Nicht die Individuen sind frei gesezt in der freien Concurrenz; sondern das Capital ist frei gesezt. […] Diese Art individueller Freiheit ist daher zugleich die völligste Aufhebung aller individuellen Freiheit und die völlige Unterjochung der Individualität unter gesellschaftliche Bedingungen, die die Form von sachlichen Mächten, ja von übermächtigen Sachen – von den sich beziehenden Individuen selbst unabhängigen Sachen annehmen. (MEGA II/: – ) Auch die Rede vom „Verein freier Menschen“ im Kapital unterstreicht die Priorität individueller Freiheit bei Marx. Marx orientiert sich hierbei wohl vor allem an den „Kooperativfabriken der Arbeiter“, innerhalb derer „der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit“ aufgehoben sei, „wenn auch zuerst nur in der Form, daß die Arbeiter als Association ihr eigner Kapitalist sind, d. h. die Produktionsmittel zur Verwerthung ihrer eignen Arbeit verwenden.“ (MEGA II/: (Kapital, Bd. , Druckfassung)) Dieses Modell reicht jedoch für die Vermittlung gesellschaftlicher Allgemeinheit in einer „auf individueller Freiheit gegründete[n] gesellschaftliche[n] Production“ (MEGA II/, ) nicht hin. Unklar bleibt, wie die interne basisdemokratische Struktur („Association“) der Kooperativen erhalten werden kann, wenn die Kooperativen wiederum im Rahmen einer gesamtgesellschaftlichen Regulierung und Kontrolle der Produktion miteinander zu kooperieren haben, und unklar bleibt weiterhin, ob die assoziierten Kooperativen an Stelle der vormaligen bürgerlichen Gesellschaft treten oder schon Organisationsformen des Staatlichen sind. Hierzu findet sich bei Marx keine wirklich tragfähige Aussage, was nicht nur daran liegt, dass er mit Hegel grundsätzlich auf die Antizipation einer seinsollenden Welt verzichtet und sie das Nähere der Zeit (Hegel) bzw. der wirklichen Bewegung (Marx) überlassen; es liegt auch daran, dass Marx die im Rahmen des Projekts der Kritik der politischen Ökonomie geplante Untersu Die Philosophie, so Hegel, sei „ein abgesondertes Heiligthum und ihre Diener bilden einen isolirten Priesterstand, der mit der Welt nicht zusammengehen darf und das Besitzthum der Wahrheit zu hüten hat. Wie sich die zeitliche, empirische Gegenwart aus ihrem Zwiespalt herausfinde, wie sie sich gestalte, ist ihr zu überlassen und ist nicht die unmittelbar praktische Sache und Angelegenheit der Philosophie.“ (Hegel , ) „Der Communismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Communismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung.“ (MEGA I/: )
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chung zu den Institutionen des modernen Staates nicht geleistet hat. Gerade deshalb kommt einer wenig beachteten Passage in den Manuskripten zum geplanten dritten Band des Kapital besondere Bedeutung zu, in der Marx den assoziierten Individuen einen Eigentumstitel zuspricht. Die Negation des kapitalistischen Privateigentums, so heißt es hier, stelle nicht das individuelle Privateigentum wieder her, „wohl aber das individuelle Eigenthum auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Aera: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst producirten Produktionsmittel“ (MEGA II/ : ). Leider hat Marx nicht hinreichend präzisiert, was unter individuellem Eigentum zu verstehen sei. Hierbei kann es sich jedenfalls nicht um individuelles Eigentum an Konsumtionsmitteln handeln, denn dieses bedarf keiner Wiederherstellung; zudem setzt es das gemeinschaftliche Eigentum an Produktionsmitteln (einschließlich der Erde) voraus. Offenbar bezieht sich die Kategorie darauf, dass der einzelne Arbeiter als Individuum ein Eigentumsrecht besitzt, das ihm zwar nicht das Recht der individuellen Aneignung der Produkte, sehr wohl aber der individuellen Mitbestimmung über die Art und Weise der Produktion und Distribution gibt. Es ist der Rechtstitel, der den Vorrang des Individuums gegenüber dem Kollektiv auch auf der Ebene der Produktion und Distribution garantiert, ohne den Gemeinbesitz des Kollektivs anzutasten. Dieses individuelle Eigentum bedeutet also, kurz und zugespitzt formuliert, das Recht der Individuen gegenüber allen kollektiven Organen, wirkungsvoll mitbestimmen zu können; es zielt auf demokratische Kontrolle und Arbeiterselbstverwaltung.
IV. Hegel und Marx sind wohl bis heute die herausragendsten und wirkungsmächtigsten Diagnostiker der Moderne. Diagnostiker, denn beide kommen darin überein, auf Entwürfe einer seinsollenden Realität zu verzichten, in welcher der Riss, der die modernen Gesellschaften spaltet, überwunden wäre. Das ist ihre Stärke. Beide kommen aber auch darin überein, eine durch das Utopieverbot gar nicht erforderte Zurückhaltung zu üben, wenn es darum geht, das künftig zu lösende Problem klar zu benennen. Hegel, und Marx hat dies zumindest gespürt, bleibt ambivalent in seiner Bestimmung moderner Individualität, indem er – faktisch vielleicht mit Recht – der Ausübung des Rechts der Subjektivität in der Anerkennung des Bestehenden mißtraut und eher auf das „Verhalten des unbefangenen Gemüthes“ setzt, „sich mit zutrauensvoller Überzeugung an die öffentlich bekannte Wahrheit zu halten“ (GW ,: ). Nun sollte Marx nicht unterstellt werden, er wolle den Individuen solches Zutrauen an die öffentlich be Einen Versuch, dieses Defizit zu beheben, hat jüngst Márcio Egídio Schäfer () vorgelegt.
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kannte Wahrheit etwa einer Partei oder Weltanschauung abverlangen. Die Aufgabe jedoch, wie „ [f]reie Individualität, gegründet auf die universelle Entwicklung der Individuen“ (MEGA II/: ) theoretisch und praktisch zur Geltung zu bringen sei, bleibt bei ihm ungelöst. In der Sache ist in kritischer Anknüpfung an beide, Hegel wie Marx, über sie hinaus zu denken.
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Majk Feldmeier „…DAS FURCHTBARE DARIN, SICH SELBST UNSTERBLICH ZU DENKEN“ Kierkegaards Referenz auf Jacobi in Stadien auf des Lebens Weg
Warum lügen Sie? Sie, die Sie die Welt beschreiben wollen, wie sie ist, weshalb beschreiben ausgerechnet Sie eine Welt, die so nie existiert hat? „So erinnere ich es“, sagte ich schließlich. „[…] es ist meine Geschichte, die ich erzähle […].“ Karl Ove Knausgård, Kämpfen
Einleitung Stadien auf des Lebens Weg, veröffentlicht und damit gerade einmal zwei Jahre nach dem Debut Entweder ‒ Oder bereits der Abschluss seines im engeren Sinne dichterischen Werks, blieb zu Kierkegaards Lebzeiten wenig beachtet. Hat es postum an Wirkmacht gewonnen, so dürfte dies nicht zuletzt „In Vino Veritas“, dem ersten von insgesamt drei Hauptstücken dieser Schrift zu verdanken sein. Dabei ging Kierkegaard besonders dieses Stück anfangs schwer von der Hand. In einem mit „Bericht“ überschriebenen Papier vom . August heißt es: Mit „In Vino Veritas“ will es nicht laufen. Ich schreibe Einzelnes ständig um und um, aber das stellt mich nicht zufrieden. Im Grunde glaube ich, dass ich allzu viel über die Sache nachgedacht habe, und dadurch ist meine Stimmung etwas unfruchtbar geraten. Hier in der Stadt lässt sich das nicht schreiben, ich muss also reisen. Jedoch ist es vielleicht kaum wert, fertig geschrieben zu werden (SKS,/Pap. V A ). Eine längere Reise unternahm Kierkegaard nun jedoch noch nicht; erst hielt er sich erneut für einige Zeit in Berlin auf. „Fertig geschrieben“ wurde „In Vino Veritas“ letztlich aber doch und ist, in großem Kontrast zur Unzufriedenheit seines Verfassers, vielleicht ganz recht als „das einzige dialektische Kunstwerk der euro-
Kierkegaards Papiere werden unter Verwendung der Sigle SKS für Søren Kierkegaards Skrifter und unter Verwendung der Sigle Pap. für Søren Kierkegaards Papirer sowie, falls vorhanden, in deutscher Übersetzung unter Verwendung der Sigle DSKE für die Deutsche Søren Kierkegaard Edition zitiert. Da dieses Papier noch nicht in deutscher Übersetzung vorliegt, handelt es sich hierbei um meine eigene Übersetzung. Ich danke Volker Mrogenda, der mir, hier wie anderswo, eine große Hilfe war. Hegel-Studien Beiheft · © Felix Meiner Verlag · ISSN -
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päischen Literatur“ bezeichnet worden, „welches bei dem Versuch, zu Platons Symposion ein Gegenstück zu liefern, nicht gescheitert ist“ (SLW,VIII). Dieses sogenannte ‚Gastmahl der Pseudonyme‘ ist bei aller Anlehnung an sein antikes Vorbild nun jedoch in der Tat vor allem ein Gegenstück. Nicht nur ist das Thema der in einer Waldgegend vor Kopenhagen angehobenen Reden, anders als noch in Athen, explizit die Liebe als „ein Verhältnis zwischen Mann und Weib“ und nicht der „Eros im griechischen Sinne“, d. h. die homosexuelle Liebe (SKS,/SLW,). Es ist zudem und vielmehr die über alle Geschlechterverhältnisse hinausreichende Rolle des Individuums als dem geliebten und selbst liebenden Gegenüber gleichberechtigter Partner innerhalb eines solchen Liebesverhältnisses, die Kierkegaard mit dem Gespräch des Gerichtsrats Wilhelm und seiner Frau beim Morgentee gegen die platonische Vorstellung einer Vollendung der Liebe in der mystisch-metaphysischen Schau des Schönen betont – eines Schönen, das „weder an einem einzelnen Lebenden, noch an der Erde, noch am Himmel“ erscheint, sondern „an und für und in sich selbst ewig überall dasselbe“ ist (a-b): „Over against the divinitized and transfigured Socrates at the end of the Symposium“, so schreibt Robert L. Perkins, Kierkegaard offers the mortal and incarnate love of a man and a woman as the expression of their humanity. Against Diotima, Kierkegaard shows that the vision of beauty is not an intellectual and mystical vision transcending the senses and existence but is rather in the face, voice, and presence of the beloved (Perkins , ). * Eine solche Betonung des Konkreten und Individuellen geht für Kierkegaard stets einher mit der Betonung der besonderen zeitlichen Verfasstheit des Menschen als Horizont seiner Freiheit (vgl. Grøn ). So heißt es bereits in der ersten der Erbaulichen Reden von , es sei ein „Zeichen für des Menschen Adel“ (SKS,/ ER,), „daß er sich mit dem Zukünftigen beschäftigen kann“ (SKS,/ ER,): „denn gäbe es kein Zukünftiges, so gäbe es auch kein Vergangenes, und gäbe es weder etwas Zukünftiges noch etwas Vergangenes, so wäre der Mensch unfrei wie das Tier, sein Haupt wäre zur Erde gebeugt, seine Seele gebunden im Kierkegaards Schriften werden unter Verwendung der Sigle SKS für Søren Kierkegaards Skrifter sowie in deutscher Übersetzung nach den Gesammelten Werken unter Verwendung folgender Siglen zitiert: ER = Zwei erbauliche Reden , Abt. /Bd. ; ER = Drei erbauliche Reden , Abt. / Bd. ; AUN = Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken, . Teil, Abt. ,/Bd. ; BA = Der Begriff Angst, Abt. /Bd. ; CR = Christliche Reden , Abt. /Bd. ; EO – , Entweder – Oder, . Teil u. Teil, Abt. – /Bd. – ; KT = Die Krankheit zum Tode, Abt. / Bd. ; PB = Philosophische Brocken/De omnibus dubitandum est, Abt. /Bd. ; SLW = Stadien auf des Lebens Weg, Abt. /Bd. .
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Dienste des Augenblicks“ (SKS,/ER,). Und , in der Abschließenden Unwissenschaftlichen Nachschrift zu den Philosophischen Brocken, entwirft deren pseudonymer Verfasser Johannes Climacus sein Konzept menschlicher Existenz gerade vor diesem Hintergrund von Zeitlichkeit und Freiheit. Nicht auf Platons „hohe[r] See des Schönen“ (d), sondern „auf dem weiten Meere, allwo alles um ihn wechselt, wo die Wogen aufstehen und ins Grab sinken“, unternimmt der Einzelne seine Reise, wenngleich er „nicht nieder in die Fluten“, sondern „auf zu den Sternen“ schaut (SKS,/ER,). Die Beantwortung gerade auch metaphysischer Fragen, so lässt sich dieses Bild mit Johannes Climacus deuten, ist stets aus der Perspektive des konkreten Menschen zu unternehmen, dem sich diese Fragen aus seinen ebenso konkreten Lebensumständen heraus überhaupt erst stellen: Was kann es nützen, zu erklären, wie die ewige Wahrheit ewig zu verstehen ist, wenn der, der die Erklärung gebrauchen soll, verhindert ist, sie in der Weise zu verstehen, nämlich dadurch, daß er existierend ist, und der nur ein Phantast ist, wenn er sich einbildet, sub specie aeterni zu sein? (SKS,/AUN,) Indem es des Menschen genuine Bestimmung ist, gerade nicht, bzw. nicht ausschließlich ewig, sondern gerade auch in seinem Bezug zur Ewigkeit „dialektisch […] in Richtung auf die Zeit“ und damit dem Anspruch der Freiheit in Form eines „besondere[n] geschichtliche[n] Werden[s]“ (SKS,/PB,, meine Hervorhebung) überantwortet zu sein, bedarf es also einer solchen Erklärung: „Wie die ewige Wahrheit innerhalb der Bestimmung der Zeit zu verstehen ist von dem, der, weil er existiert, selbst in der Zeit ist“ (SKS,/AUN,, meine Hervorhebungen). So geht es letztlich auch in der Religion, der Kierkegaards Aufmerksamkeit im Kern immer gilt, gerade nicht um eine Weltabgewandtheit zugunsten einer vielleicht sogar mystischen Hinwendung zu Gott. Vielmehr ermöglicht die Hin- und Zuwendung Gottes zum Menschen, so Kierkegaards Auffassung, gerade erst dessen eigentliches Verständnis seiner selbst und der Welt. Auch und gerade soll „[d]ie Erwartung einer ewigen Seligkeit“ – das heißt dies auf das spezifisch christliche Heilsversprechen hin gewendet – „einem Menschen helfen sich selbst zu verstehen in der Zeitlichkeit“ (SKS,/ER,, meine Hervorhebungen). Und so wird auch dem religiös-christlichen Menschen in Rücksicht auf das konkrete, nicht zuletzt auch eigene Leben nicht so sehr die Ewigkeit als vielmehr „die Zeit selbst“ (SKS,/AUN,, meine Hervorhebungen) zur eigentlichen Aufgabe.
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* „Wie hältst du es mit der Zeit?“ (Sandkaulen , ) – dies ist, wie Birgit Sandkaulen zeigt, die Frage, mit der sich in der Tat auch, und ganz ähnlich zu Kierkegaard, die Herausforderung auf den Punkt bringen lässt, die die ‚Doppelphilosophie‘ Friedrich Heinrich Jacobis, sein „Spinoza und Antispinoza“ (JWA ,: ), für die großen Systemkonstrukteure der klassischen deutschen Philosophie, allen voran für Hegel und Schelling, unablässig und bis zuletzt darstellte. Und so bekennt Kierkegaard, der in je eigener Weise gerade auch diesen beiden, Hegel und Schelling, mit Leidenschaft entgegentrat, nicht von ungefähr eine besondere Verbundenheit mit dem Denken Jacobis. Denn nicht nur wusste dieser bereits das „Geheimnis der Zeit“ als dasjenige, „was wir alle so gern erforschen möchten“ (zit. n. Schumacher , ), sondern, mehr noch, die Kategorie des Werdens explizit und in engster Verknüpfung mit dem Phänomen individueller Freiheit und der zeitlichen Verfasstheit menschlichen Lebens gegen eine verabsolutierte Rationalität in Stellung zu bringen, die gerade, so sein Vorwurf an Spinoza, in ihrem Anspruch einer „natürlichen Erklärung des Daseyns endlicher“ und darin „succesiver Dinge“ (JWA ,: ) scheitern muss (vgl. Sandkaulen , – ). „Ich leugne nicht“, so schreibt Climacus in der Nachschrift entsprechend, daß mich Jacobi des öfteren begeistert hat, […] er ist der Protest der Beredsamkeit eines edlen, unverfälschten, liebenswerten, reichbegabten Geistes gegen das systematische Einklemmen des Daseins, das siegreiche Bewußtsein und das begeisterte Kämpfen für die Überzeugung, daß die Existenz längere und tiefere Bedeutung haben muß als die paar Jahre, in denen man sich selbst vergißt über dem Studium des Systems (SKS,/AUN,). Während die Bezugnahme auf zentrale Argumente und Figuren Jacobis in den Climacus-Schriften in der Kierkegaard-Forschung, wenn auch längst nicht ausführlich behandelt, so doch zumindest bemerkt worden ist (vgl. Rasmussen ), findet die Jacobi-Referenz in den Stadien, mit der ich mich im Folgenden beschäftigen möchte, bisher keinerlei Erwähnung. Dabei kann gerade diese, über die Frage nach der systematischen Anverwandlung Jacobi’scher Denkfiguren hinaus, nicht nur ein helleres Licht auf Kierkegaards Verhältnis zu dieser ‚grauen Eminenz hinter dem deutschen Idealismus‘ (vgl. Theunissen , ) werfen, das noch zu sehr im Dunklen liegt. Sie kann zudem als ein bedeutsames Interpretament insbesondere der „Vorerinnerung“ des pseudonymen Verfassers von „In Vino Veritas“, William Afham, dienen. Denn mit Blick auf diese Referenz lässt sich deutlich machen, inwiefern hier nicht nur () eine eigene Theorie der Erinnerung expliziert, sondern () ein entsprechender Akt des Erinnerns selbst vollzogen wird, sodass sich gerade mit Jacobi das auch für Kierkegaard Wesentliche der Freiheit in der „Tiefe des Individuums“ (SKS,/SLW,), so Afham in den Stadien, oder, wie es der
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Gerichtsrat Wilhelm in Entweder – Oder ausdrückt, in der „bindenden Gewalt der Persönlichkeit“ (SKS,/EO,), allererst aufzeigen lässt.
I. Kierkegaards Theorie der Erinnerung im Horizont der Frage nach personaler Identität Anders als die bereits zitierten Erbaulichen Reden Kierkegaards und die gemäß dem Charakter ihres pseudonymen Verfassers „in des Gedankens Dienst“ (SKS,/ PB,) abgefassten und darin gar nicht so ‚unwissenschaftlich‘ anmutenden Climacus-Schriften, schlagen die Stadien einen eigenen Weg der Beschäftigung mit der ‚eigentlichen Aufgabe der Zeit‘ ein. Nicht nur ist Zeit eigens Motiv der Dichtung selbst, insofern die Kontinuität des platonischen Gastmahls, das mit nahezu denselben Teilnehmern anknüpft an ein vorangegangenes Trinkgelage (vgl. a-b), ins Gegenteil verkehrt und an die Einmaligkeit des Augenblicks gebunden wird – sogar ein „Einreißkommando“ (SKS,/SLW,) gehört zur Ausstattung, „denn nichts ist unangenehmer“, so Johannes der Verführer, „als ein teures Andenken“ (SKS,/SLW,). Mehr noch ist „In Vino Veritas“ als ein Ganzes hineingestellt in die übergeordnete Fragestellung nach dem Verhältnis von Gedächtnis und Erinnerung als zu unterscheidende Organisationsformen menschlicher Zeitlichkeit. Die Rechtfertigung für einen solchen Ansatz findet sich wie im Falle der thematischen Ausrichtung auf die Liebe im Symposion selbst. Zu Beginn des Dialogs wird Apollodoros, der im Folgenden den Inhalt der Reden wiedergibt und weitere Geschehnisse des Gastmahls schildert, mit der Frage konfrontiert, ob er selbst „bei jener Gesellschaft zugegen“ gewesen sei (b), oder ob sein Wissen nur aus zweiter Hand stamme. Indem er letzteres bejaht – „ein gewisser Aristodemos, ein Kydathenaier“ habe ihm davon erzählt (b) – ist die Frage jedoch schnell wieder vom Tisch und es beginnt der eigentliche Bericht. Ähnlich wie Kierkegaard das Liebesthema des Symposions zum Aufhänger seiner eigenen, sachlich ganz anders gearteten Erörterungen nimmt, stellt er seinem Gastmahl zunächst ebenfalls die Frage nach der Quelle des hier präsentierten Wissens und damit nach der Glaubwürdigkeit des Berichterstatters, dem hier zu Wort kommenden Pseudonym William Afham, voran. Diese Frage wird nun jedoch in einem eigenen Vorwort, der „Vorerinnerung“ Afhams, nicht nur sehr viel ausführlicher diskutiert, als dies bei Platon der Fall ist. Indem Afham zunächst und bei näherem Hinsehen bereits hier in nicht gerade unmissverständlicher Formulierung behauptet, mit dem folgenden Text „ein Begebnis, das ich erlebt habe, für die Erinnerung einzulösen, d. h. aufzuzeichnen, was bereits längere Zeit dagelegen hat als vollständig dem Gedächtnis und teilweise auch der Erinnerung gegenwärtig“ (SKS,/SLW,), sodann aber – vielleicht nur auf seine Rolle als
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bloßer Beobachter hinweisend, zugleich aber im Leser den Keim des Zweifels setzend – davon spricht, an jenem Gastmahl teilgenommen zu haben, „ohne Teilnehmer zu sein“ (SKS,/SLW,), markiert die Frage nach der Glaubwürdigkeit nur den Beginn der Entfaltung eigenständiger und vom eigentlichen Gastmahl losgelöster Überlegungen. Diese führen mittels der Unterscheidung von Gedächtnis und Erinnerung die Behandlung einer Frage fort, die bereits in Entweder – Oder Gegenstand des dort inszenierten Gesprächs zwischen dem Ästhetiker A und dem Gerichtsrat Wilhelm war, namentlich die Frage nach den Konstitutionsbedingungen personalen Selbstseins.
* Diese Zuordnung ist zunächst einmal nicht neu. Gedächtnis und Erinnerung – diese Organisationsformen menschlicher Zeitlichkeit werden seit Beginn der Neuzeit unter der Überschrift personaler Identität diskutiert. Personale Identität wird hier nicht mehr, wie noch bei Platon und in bestimmter Weise bis hin zu Descartes, von einer immateriellen Seelensubstanz her verstanden, sondern zunehmend als ein kontinuierlich sich verändernder Prozess der Verhältnissetzung bestimmter physikalischer und/oder psychologischer Elemente (vgl. Martin/ Barresi ). Und es ist der Sache nach durchaus dieser Kontext eines relationalen und darin anti-substantialistischen Verständnisses personalen Selbstseins, in den hinein Kierkegaard die Autoritätsfrage des Symposions transferiert und innerhalb dessen ihr eine sehr viel gewichtigere Stellung zukommt als noch in Platons Gastmahl. Kierkegaard steht hier dem Personkonzept der angelsächsischen Philosophietradition zunächst einmal näher als einer ‚kontinentalen‘ Philosophie der Subjektivität, wie er – und dies sei nur nebenbei gesagt – an anderer Stelle eine auf den ersten Blick vielleicht ähnlich verwunderliche Nähe zum Empirismus aufweist (vgl. Perkins , ff.; vgl. auch Schulz ). Inwiefern? Hinsichtlich der noch immer aktuellen Frage, was eine metaphysische (zunächst im Gegensatz zu einer juristischen und moralischen) Person konstituiert, ist die Antwort John Lockes an Einfluss schwer zu überbieten. Eine Person, so lautet Lockes klassische Definition in An Essay Concerning Human Understanding, „is a thinking intelligent Being, that has reason and reflection, and can consider it self as it self, the same thinking thing in different times and places“ (Locke [] , ). Während in dieser Definition die Einheit des Selbstbewusstseins über Zeit und Raum hinweg betont wird, ist es im Folgenden jedoch vorrangig die Zeit, der für Locke die entscheidende Rolle in der Bestimmung personaler Identität zukommt:
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For as far as any intelligent Being can repeat the Idea of any past Action with the same consciousness it had of it at first, and with the same consciousness it has of any present Action; so far it is the same personal self. For it is by the consciousness it has of its present Thoughts and Actions, that it is self to it self now, and so will be the same self as far as the same consciousness can extend to Actions past or to come (Locke [] , , meine Hervorhebungen). Von Lockes Überlegungen, und wohlgemerkt von denjenigen seiner Kritiker ausgehend, hat sich nicht nur eine weitverzweigte Diskussion sogenannter memory theories of personal identity entfaltet. Auch die Betonung der Kontinuität des Bewusstseins mit Blick auf die Möglichkeit zukunftsgerichteter Intentionalität im Rahmen umfassenderer psychological theories of personal identity hat hier ihren Ursprung. Zwei Punkte gilt es jedoch eigens zu betonen, um den besonderen Charakter der Kierkegaard’schen Überlegungen zu erfassen, mit denen er sich auch gleich wieder von Locke entfernt. Wie zu Beginn umrissen, entwirft auch Kierkegaard innerhalb seines Gesamtwerks eine Konzeption personalen Selbstseins, die bestimmt ist durch, so George Connell, „a complex temporal bi-directionality“ (Connell , ). Anders jedoch als Locke und viele der in Locke’scher Tradition stehenden Theorieansätze behandelt Kierkegaard nun jedoch erstens nicht die Frage nach der diachronen Einheit einer Person. Er fragt nicht nach der Fortdauer und damit nach der Möglichkeit einer Re-Identifikation einer Person zu verschiedenen Zeiten, sondern vielmehr danach, so hat es Marya Schechtman in The Constitution of Selves – wohlgemerkt ohne Rücksicht auf Kierkegaard – beschrieben, was eine Person als diese Person charakterisiert und damit von anderen Personen unterscheidbar macht. Diese sogenannte characterization question of personal identity verlangt in der Regel nach einer sehr viel komplexeren Antwort als die sogenannte reidentification question: When we ask whether a person at t is the same person as the person at t the answer should be quite simply ‚yes‘ or ‚no‘. […] With many questions of characterization, however, the requirement of all-or-nothingness does not apply. If, for instance, we ask whether P believes X or desires Y, the answer might be a simple ‚yes‘ or ‚no‘, but it might also be a longer story. We could be told ‚he believes X, but only half-heartedly‘ or ‚she says she wants Y, but she certainly doesn’t seem to be very actively pursuing it‘ or ‚he believes X, but I bet if you pressed him he would be willing to give it up‘ or ‚her desire for Y is the driving force of her existence, it is what her whole life is about‘ (Schechtman , ). Die Komplexität einer möglichen Antwort auf die Frage nach dem Charakter einer Person im Unterschied zur vergleichsweise simplen Antwort auf die Frage nach ihrer Identität verweist auf den Umstand, dass hier eine sehr viel reichere Auffas-
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sung dessen zur Debatte steht, was personales Selbstsein letztlich ausmacht. Auch Kierkegaard wusste, dass sich der Charakter einer Person nicht durch dessen diachrone Einheit, sondern durch die Ausbildung bestimmter Eigen- und damit auch Leidenschaften in der Aneignung vergangener Erfahrungen als meine Erfahrungen konstituiert. „[A] person creates his identity“, so die zentrale These Schechtmans, „by forming an autobiographical narrative – a story of his life“, sodass, so Schechtman weiter, „[a]n identity in the sense of the characterization question, is not […] something that an individual has whether she knows it or not, but something that she has because she acknowledges her personhood and appropriates certain actions and experiences as her own“ (Schechtman , ; ). Personales Selbstsein in diesem Sinne ist narratives und darin aktives Selbstsein und damit nicht ‚bloß‘ zeitlich strukturiert. Es gründet vielmehr auf einer, so Stephen Crites, „‚tensed‘ temporality of past, present and future which qualifies a human form of existence from the indefinite succession to which all physical things are subject“ (Crites , , meine Hervorhebung). Es hat eine Geschichte, in deren Aneignung ein Individuum „sich zu der Identität mit sich selbst bekennt“ (SKS,/ EO,, meine Hervorhebung) und „allein durch diese Geschichte“ (SKS,/ EO,) die Person wird, die es ist. Kierkegaard erkennt darüber hinaus zweitens die fundamentale Unzulänglichkeit einer ausschließlich objektiven Erklärung personalen Selbstseins, insofern es sich hier, ganz analog zu den von Johannes Climacus angestellten Überlegungen zum Begriff subjektiver Wahrheit überhaupt, um eine Frage wesentlich subjektiven Interesses handelt, die keiner Perspektive „sub specie aeterni“ zugänglich ist. Nach Kierkegaards Auffassung, so lässt sich mit Patrick Stokes sagen, ist die Frage nach personalem Selbstsein in ihrem Kern sogar ausschließlich a personal and existential one, which can only be asked here and never from an atemporal nowhere. If that’s the case, then what secures persistence of selves across time and what secures my co-identity with my past and future selves are two different questions – and in the context of the existential problem of personal identity, Kierkegaard suggests, that there is something wrong with any attempt to envision selfhood from the outside, either outside from the individual subjectivity or outside of the present moment (Stokes , ). Damit wird zugleich deutlich, dass eine Trennung von zumindest metaphysischer und moralischer Person – für Locke selbst ist die Frage nach personaler Identität letztlich sogar von explizit juristischem Belang – eine in bestimmter Hinsicht allzu Die Frage, in welcher Weise Kierkegaard eine Art von narrativistischer Konzeption personalen Selbstseins vertritt, war und ist seit den letzten Jahren Gegenstand komplexer Diskussionen, die hier nicht abgebildet werden können. Ich möchte lediglich auf die Plausibilität des durchaus nicht unumstrittenen Grundgedankens hinweisen, dass er das tut. Vgl. dazu v. a. Davenport/Rudd (); Davenport (). Kritik an diesem Ansatz übt v. a. Lippitt ().
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künstliche ist, „for this would vacate the position of irreducibly existential moral concern that motivates the question in the first place“ (Stokes , f., meine Hervorhebungen). Nicht nur geht es hier nämlich um die Deskription menschlichen Personseins; vielmehr steht dieses in seiner fundamentalen Qualität gerade auf dem Spiel und verwandelt sich für Kierkegaard in eine für den Einzelnen wesentlich normative Kategorie. Wenn es wahr ist, was Anti-Climacus in Die Krankheit zum Tode schreibt: dass nämlich „[d]ie größte Gefahr“, mit der sich der Mensch konfrontiert sieht, diejenige ist, „sich selbst zu verlieren“ (SKS,/ KT,, meine Hervorhebung), dann liegt darin zugleich die nicht minder große Gefahr der eigenen Unfreiheit begründet. Denn „was ist denn dies, mein Selbst“ (SKS,/EO,), fragt der Gerichtsrat Wilhelm, indem es nicht nur das minimale und darin rein passive Einheitsmoment der Vielfalt menschlicher Erfahrungen ist (vgl. Stokes ), sondern sich vielmehr aktiv zu diesen Erfahrungen als seiner Geschichte bekennt und gerade darin überhaupt erst zu einer Person wird? Die Antwort gibt Wilhelm prompt selbst: „[E]s ist das Abstrakteste von allem, welches doch in sich zugleich das Konkreteste von allem ist – es ist die Freiheit“ (SKS,/EO, f., meine Hervorhebung).
* Das von Anti-Climacus auf die berühmte Formel gebrachte Selbst als „ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält“ (SKS,/KT,), beschreibt schon der Ästhetiker A als einen zeitlich strukturierten Reflexionsprozess, als ein in Form des Erinnerns und Hoffens mögliches Gegenwärtigwerden seiner selbst (vgl. SKS, f./EO,). Damit greift er der Kritik seines älteren Freundes Wilhelm vor, dessen Schreckensvorstellung eines sich in eine Vielfältigkeit auflösenden Selbst (vgl. SKS,/EO,) er durchaus auch im Blick hat, wenn er sich, mit weniger Ernst und sehr viel ironischer als der Gerichtsrat, auf die Suche nach dem „Unglücklichsten“ begibt. Dieser, sollte er denn jemals gefunden werden und sein noch leeres Grab bewohnen, muss – und hierin spricht A in eigenen Worten den bereits zu Beginn hervorgehobenen Fokus Kierkegaards auf die Zeitlichkeit des Menschen aus – innerhalb der „Grenzlinie“ von Geburt und Tod gesucht werden, denn, so A, „der Tod ist aller Menschen gemeinsames Glück“ (SKS,/ EO,). Das phantastische Wesen eines Unsterblichen steht hier und insgesamt, dies wird sich später noch deutlicher zeigen, nicht zur Diskussion. Anders aber als A, für den das Erinnern (erindring) ganz allgemein den Modus des Verhältnisses eines Individuums zur Vergangenheit bezeichnet, unterscheidet Afham hier sehr viel genauer zwischen Gedächtnis (hukommelse) und Erinnerung (erindring), bzw. im Gedächtnis behalten (at huske) und erinnern (at erindre), und stellt damit zuallererst dasjenige begriffliche Instrumentarium bereit, das es erlaubt,
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das menschliche Selbst als ein narratives und darin normatives Reflexionsverhältnis verstehen zu können. Damit wird neben der allgemeinen zeitlichen Strukturiertheit des Menschen, der schon mit Stephen Crites angesprochenden „indefinite succession to which all physical things are subject“, die über die Organisationsform des Gedächtnisses in der Tat, so Elisabeth Gräb-Schmidt, „psychologisch beschrieben werden kann“ (Gräb-Schmidt , ) und für Wilhelm damit der Philosophie zugehört – und Locke ist in diesem Sinne ganz Philosoph –, mit der Erinnerung gerade dasjenige, qualitativ zu unterscheidende Phänomen der „inwendigen Tat“ sichtbar gemacht, das der besonderen „‚tensed‘ temporality“ entspricht und sich als „der Freiheit wahres Leben“ zumindest für den Gerichtsrat Wilhelm der psychologisch-philosophischen Beschreibung gerade entzieht (SKS,/EO,). Afham hingegen wagt den Versuch einer solchen Beschreibung. Entsprechend der Verschiedenheit einer aus der Perspektive der dritten Person gestellten Frage nach Fortdauer und Re-Identifikation einer Person von einer aus der Perspektive der ersten Person zu stellenden Frage nach den entscheidenden Charakteristika, die das personale Selbstsein eines Individuums für dieses Individuum selbst kennzeichnen, gilt es zunächst hinsichtlich der Funktionsweise von Gedächtnis und Erinnerung zu unterscheiden. So schreibt Afham: „Sich erinnern ist nimmermehr das Gleiche wie im Gedächtnis haben. Man kann z. B. eine Begebenheit gut und gern bis in die kleinste Einzelheit hinein im Gedächtnis haben, ohne sich deshalb ihrer zu erinnern“ (SKS,/SLW,). Die Genauigkeit des Gedächtnisses geht einher mit dessen Gleichgültigkeit, resultierend aus der schieren Quantität des Behaltenen, von dem man das eine oder andere durchaus und ohne Probleme wieder vergessen kann: „Das aber, dessen man sich erinnert, ist nicht so gleichgiltig gegen die Erinnerung wie das im Gedächtnis Gehabte gleichgiltig ist gegen das Gedächtnis“ (SKS,/SLW,). Es ist deshalb nicht gleichgültig, da es sich, anders als bei dem eindirektionalen und in diesem Sinne „unmittelbar[en]“ (SKS,/SLW,) Gedächtnisverhältnis von Subjekt und Objekt, bei der Erinnerung um ein Reflexionsverhältnis handelt, das die erinnerte Begebenheit in ihrer Bedeutsamkeit für den sich Erinnernden in Stellung bringt. Damit zielt der Unterschied zwischen Gedächtnis und Erinnerung über die schlichte Funktionsweise hinaus auf die existenzielle Dimension, die diesen Organisationsformen zukommt bzw. abgeht. Man kann sich eigentlich, so Afham entsprechend, „nur des Wesentlichen erinnern“, denn „[d]as Wesentliche ist“, anders als das unwesentlich im Gedächtnis Behaltene, „nicht allein bedingt durch sich selbst, sondern auch durch sein Verhältnis zu dem Betreffenden“ (SKS,/SLW,, meine Hervorhebungen). Ein solch wesentliches Verhältnis zu dem Betreffenden liegt dann vor, wenn die zur Diskussion stehende Begebenheit eine bedeutsame Rolle innerhalb des narrativnormativen Prozesses der eigenen Selbstwerdung einnimmt, die bis in die Gegenwart andauert, wenn sie mithin, um einen Ausdruck A’s zu gebrauchen,
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„entschiedene Realität“ (SKS,/EO,) für den sich Erinnernden gehabt hat und immer noch hat, sodass sich dieser nicht verlöre in Nostalgie, sondern als er selbst „gegenwärtig [werde] in der Vergangenheit“ (SKS,/EO,, meine Hervorhebung). Eine solch „entschiedene Realität“ wird in der Erinnerung – dies geht aus dem zuvor gesagten klar hervor, ist nichtsdestotrotz einer eigenen Betonung wert – ausschließlich für den sich Erinnernden in Stellung gebracht. Die Bewältigung der ‚eigentlichen Aufgabe der Zeit‘, wie sie sich als narrativ-normativer Prozess der Selbstwerdung über den Weg des sich Erinnerns gestaltet, ist letztlich eine einsame Tätigkeit: Eine Genossenschaft der Erinnerung gibt es eigentlich nicht. […] Was das Gedächtnis anlangt, kann man sich gut und gern zusammentun zu gegenseitigem Beistand. In dieser Hinsicht sind Festmahlzeiten und Geburtstagsfeiern, Liebespfänder und teure Andenken zweckmäßig, ebenso wie daß man in ein Buch Streifen einlegt, um im Gedächtnis zu behalten, wo man aufhörte, und mittels der Streifen sicher zu sein, daß man das ganze Buch durchgelesen hat. Die Kelter der Erinnerung hingegen muß jeder für sich allein treten (SKS,/ SLW,). Eine solche intertemporale Selbstrelation in der Erinnerung kann also gar kein neutrales Abrufen einer in der „Kladde“ (SKS,/SLW,) des Gedächtnisses akkurat verzeichneten Information durch ein quasi-buchhalterisch unbeteiligtes Subjekt sein, das sich gut und gerne ersetzen ließe. Es ist evaluativer Bestandteil des Konstitutionsprozesses der eigenen Person und darin gleichermaßen bereits unvertretbarer Ausdruck ihrer selbst. In der Identifikation mit einer Begebenheit in meiner Vergangenheit geht es, anders als in einer bloßen Identifikation einer Begebenheit als eine Begebenheit in meiner Vergangenheit, nicht nur um die Korrektheit der Referenz, sondern um die (positive oder negative) Bewertung eines Ereignisses oder Zustands, damit einhergehend aber vor allem auch um die Frage nach der Relevanz dieses Ereignisses oder Zustands (und der entsprechenden Bewertung desselben) für mein eigenes Selbstbild (vgl. Quante , ff.). So ist zwar das Gedächtnis durchaus Bedingung für Erinnerung, wenngleich für sich selbst genommen „lediglich eine dahinschwindende Bedingung“ (SKS,/SLW,); die entscheidende, ein personales Selbst im Sinne einer characterization question konstituierende Qualität kommt etwas im Gedächtnis Behaltenem jedoch nur durch die „Weihe der Erinnerung“ (SKS,/SLW,) zu, denn nur in der Erinnerung, nicht im Gedächtnis, kann ich mir selbst zum Problem werden. Die Erinnerung sieht sich mit einem Zweifel konfrontiert, der ebenso wenig wie auf die Korrektheit der Referenz auf objektives Wissen abzielt. Sie ist eine Form der „Idealität“, die, wie Afham schreibt, „als solche […] ganz anders anstrengend und verantwortlich [ist] als das gleichgiltige Gedächtnis“ (SKS,/SLW,). Sie stellt nicht den Versuch dar, eine reale Begebenheit in die idealen Kategorien des Denkens von vorrangig „wahr“
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und „falsch“ einzusortieren, und ist deshalb nicht primär ein „Akt der Erkenntnis“, sondern gehört „d[em] Ethische[n]“ an, insofern dasjenige, „dafür ich mich dabei interessiere, […] ich selbst [bin]“ (Pap. IV B :/PB,). Ihre „Idealität“ ist der normative Anspruch eines narrativen Ganzen und damit des personalen Selbstseins an den Einzelnen, der diesem Anspruch wiederum nur im realen Vollzug erinnernder Lebenspraxis gerecht werden kann. So wird „[d]ie Erinnerung […] einem Menschen den ewigen Zusammenhang im Leben bewahren und ihm sicherstellen, daß sein irdisches Dasein uno tenore wird, ein einziger Atemzug, und aussagbar in einem einzigen Atemzug“ (SKS,/SLW,). Jedoch geht es dem sich Erinnernden nichtsdestotrotz um ein Wissen, nämlich um subjektives und damit ethisches Wissen, das sich gründet auf einer den Zweifel und die Gefahr des Sich-selbstverlierens stets neu überwindenden Gewissheit des eigenen Personseins. Erinnerung, so bemerkt neben Patrick Stokes auch Robert E. Wood, „involves concern for the whole of one’s life“; und mehr noch: „Knowledge as recollection is the struggle to hold one’s life together as a whole as time flows by and one, like a child, is immersed in the present moment“ (Wood , ; , meine Hervorhebungen). Der über die gesamte Lebensspanne drohenden Gefahr des kindlich-selbstverlorenen Eintauchens in den Augenblick muss der wohlgemerkt ebenso über die gesamte Lebensspanne hinweg zu kultivierende „poetische[] Fernblick“ (SKS,/ SLW,) des Alters entgegengehalten werden, denn: „The distance provided by old age is what allows one to bind one’s life together in recollection and to bring the relevant past to bear upon the deepening of our relation to what is present“ (Wood , ). „Statt zu sagen: ‚Alter vergißt nicht, was Jugend lernt‘“, so schlägt Afham vor, „könnte man vielleicht sagen: ‚was das Kind im Gedächtnis behält, des erinnert sich der Greis‘“ (SKS,/SLW,).
Elisabeth Gräb-Schmidt weist darauf hin, dass dies die trotz der Beschränktheit auch dieser pseudonymen Perspektive gültige Erkenntnis des Gerichtsrats Wilhelm bleibt: dass sich die „Problematik der Wahl“ daraus ergibt, „nicht irgendetwas zu wählen, sondern sich selbst. […] [D]amit steht der Ethiker inmitten des Widerspruchs, der die Existenz vom bloßen Denken unterscheidet.“ Diese Erkenntnis bleibt deshalb gültig und ist für Kierkegaards Denken über Entweder – Oder hinaus von größter Relevanz, da sich in ihr diejenige Schwierigkeit ausdrückt, die „den Überschritt vom Ethischen zum Religiösen aus[zeichnet]“ (Gräb-Schmidt , ). Auf diesen Punkt, wie er sich in seiner besonderen Zuspitzung auf das Problem der Unsterblichkeit ausgestaltet, komme ich ganz zuletzt zu sprechen. Das ethische Wissen um das eigene Personsein ist damit eine solche Form des Wissens, zu der M. G. Piety als deren Beispiel m. E. ganz richtig auch das religiöse Wissen zuordnet, wenn sie schreibt: „All knowledge, for Kierkegaard, is a result of reality having been brought into relation to ideality. There are two ways, however, in which this can be done. Reality can be represented in the abstract, or ideal categories of thought, or ideality can be brought into relation to reality by coming to concrete expression in the life of the knower. The first type of relation is exemplified in scholarly and scientific knowledge, where the knower represents concrete reality in conceptual terms. The second type of relation is exemplified in religious knowledge.“ (Piety , ; vgl. auch Piety )
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II. Die eschatologische Dimension personalen Selbstseins – Jacobi und „das Furchtbare darin, sich selbst unsterblich zu denken“ Den sechsundvierzigjährigen Jacobi einen Greis zu nennen, ist sicher übertrieben. Nichtsdestotrotz war ihm der „poetische Fernblick“ des Alters bereits eigen, als er sich anlässlich der zweiten Auflage seiner Spinozabriefe erinnerte, dass man es bei den darin sich ausdrückenden „sonderbaren […] Ansichten“, zu denen „mein kindischer Tiefsinn […] mich im achten oder neunten Jahre [brachte]“ und „die mir bis auf diese Stunde ankleben“, mit „nehmlich jene[m] Sonderbare[n]“ zu tun hat, das als Grundimpuls nicht nur diese Schrift, sondern seine gesamte Philosophie bestimmen sollte: mit eine[r] von allen religiösen Begriffen ganz unabhängige[n] Vorstellung endloser Fortdauer, welche mich in dem angezeigten Alter, bey dem Nachgrübeln über die Ewigkeit a parte ante, unversehens mit einer Klarheit anwandelte, und mit einer Gewalt ergriff, daß ich mit einem lauten Schrey auffuhr, und in eine Art von Ohnmacht sank. Eine sehr natürliche Bewegung zwang mich, sobald ich wieder zu mir selbst kam, dieselbige Vorstellung in mir zu erneuern, und der Erfolg war ein Zustand unaussprechlicher Verzweiflung. Der Gedanke der Vernichtung, der mir immer gräßlich gewesen war, wurde mir nun noch gräßlicher; und eben so wenig konnte ich die Aussicht einer ewigdauernden Fortdauer ertragen (JWA ,: ). So hatte vor allem der „Status Controversiæ“ des Pantheismusstreits, den die Veröffentlichung der Spinozabriefe nach sich zog und im Zuge dessen Jacobi mehrfach und dem Doppelcharakter seiner Philosophie gemäß in nicht unwesentlichem Sinne den „Adovocatum diaboli“ der Metaphysik Spinozas gab (JWA ,: ), seine Voraussetzung also gerade in dieser ihm „gräßlichen“ Vorstellung einer „ewigdauernden Fortdauer“. Ihr entsprang der „Verstande“, in dem Jacobi, wie er selbst beschreibt, „die Parthie des Spinozas genommen hatte“ (JWA ,: ), nur um von dort, von der Rekonstruktion des „Geist[es] des Spinozismus“ (JWA ,: ) ausgehend, diesem allererst widersprechen zu können. Damit war jedoch sein gesamtes Denken eine Bewegung „einzig und allein von spekulativer Philosophie gegen spekulative Philosophie, oder richtiger, von reiner Metaphysik gegen reine Metaphysik“ (JWA ,: , meine Hervorhebungen), „[u]nd das dem eigentlichen, nicht dem sprüchwörtlichen Sinne nach: in fugam vacui“ (JWA ,: ).
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* Kierkegaard war mit diesen Überlegungen wohlbekannt, und diese Bekanntschaft darf als ein Hinweis auf die Ausführlichkeit seiner Lektüre der Schriften Jacobis verstanden werden. Afham referiert nun in bestimmter Weise auf exakt diese Überlegungen und macht Jacobi damit in zweifacher Hinsicht zum Gewährsmann für die von ihm vorgestellte Theorie der Erinnerung. Denn erstens stellt die hier referierte Stelle aus der „Beilage III“, wie oben beschrieben, selbst eine Erinnerung im Sinne Afhams dar. Dies ist deshalb noch einmal zu betonen, da sich hierin, über die dezidierte und darin zuweilen auch kritische Auseinandersetzung mit spezifischen Argumenten Jacobis hinausgehend – diese hat in anderen pseudonymen Schriften ihren Ort –, Kierkegaards Anliegen einer prinzipiellen Würdigung von Jacobis denkerischem Ansatz als solchem einmal mehr Ausdruck verschafft. Dem mit dem Mittel der Erinnerung auszutragenden „struggle to hold one’s life together as a whole“ entdeckt Kierkegaard auch hier. Zweitens wird Jacobi in der Weise zum Gewährsmann für Afhams Theorie der Erinnerung, dass Afham sich selbst an Jacobis Erinnerung erinnert und damit, seinem Erinnerungskonzept gemäß, einen ihr seiner Meinung nach wesentlich inhärenten Gedanken expliziert, der nun jedoch nicht Jacobis, sondern die Pointe seiner eigenen Erörterungen darstellt. Drei Aspekte sind hier von Belang. Alles bisher Dargestellte impliziert erstens, dass das Erinnern als Aneignung der eigenen Vergangenheit, anders als das Gedächtnis, zugleich auch Interpretation derselben ist, sodass, wie Hans Feger bemerkt, die „Intention, die einer (vergangenen) Erfahrung Ausdruck geben will“, auch in ihrer hier präsentierten Manifestation als Text, „über die bloße Reproduktion hinaus, zu einer Neubeschreibung von Wirklichkeit“ wird (Feger , , meine Hervorhebung). Indem sich Erinnerung so als eine „Kunst des Lesens“ des eigenen Lebens erweist (vgl. Feger , , Anm. ), wundert es nicht, dass auch die Erinnerung an diese konkrete Lektüre Jacobis nicht dem Anspruch der Korrektheit unterliegt. Dass es sich also überhaupt um eine Erinnerung und nicht um eine Gedächtnisleistung handelt, unterstreicht Kierkegaard entsprechend durch die Einfügung zweier ‚Fehler‘, von denen der eine sofort ins Auge sticht. So schreibt Afham zunächst Jacobis Namen in beiden Fällen seiner Erwähnung schlichtweg falsch, nämlich „Jakobi“ (SKS,/ SLW,). Hier darf man Kierkegaard getrost Absicht unterstellen, da er anderenorts, sowohl in seinen pseudonymen Schriften als auch in seinen Notizen, – und ganz im Gegenteil zu anderen wiederkehrenden Referenzen auf z. B. Trendelenburg, dessen Namen Kierkegaard kontinuierlich falsch schreibt – sehr wohl mit der korrekten Schreibweise vertraut ist. Der zweite ‚Fehler‘ ist nun nicht mehr so Und so handelt es sich bei Afhams Vorwort in der Tat um eine „Vorerinnerung“ („Forerendring“).
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offensichtlich; ein genauer Blick in den Jacobi’schen Text ist vonnöten, um ihn auszumachen. Er ist aber gerade deshalb noch sehr viel weniger ‚bloßes‘ Stilmittel. Vielmehr zielt er auf den für Kierkegaard entscheidenden Punkt, indem er nämlich offenlegt, inwiefern – und d. h. hinsichtlich welchen Gedankens, den Kierkegaard folglich als für Jacobi wesentlich ansieht – der Lektüre Jacobis „entschiedene Realität“ zuzuschreiben ist, sodass sie es überhaupt wert ist, erinnert und nicht vielmehr vergessen zu werden. Afham schreibt: [S]oviel ich sehe, ist Jakobi der Einzige, bei dem man Äußerungen findet über das Furchtbare darin, sich selbst unsterblich zu denken. Zuweilen war es ihm, als müsse ihm der Gedanke der Unsterblichkeit, falls er ihn im einzelnen Augenblick etwas länger festhalte, den Verstand verwirren (SKS,/SLW,). Nun ist es für Jacobi, wie aus der „Beilage III“ ersichtlich wird, nicht der Gedanke an die „Unsterblichkeit“, sondern an eine – dies legt zunächst die Wortwahl nahe – sehr viel unpersönlicher gedachte „ewigdauernde Fortdauer“, der ihm so „gräßlich“ ist. Hier scheint Afham den Punkt Jacobis zu verdrehen. Denn in der Tat ist es gerade ein am Unpersönlichen orientiertes Denken, das Jacobi in nuce vorgebildet sieht in dieser „ewigdauernden Fortdauer“ – ein Denken also, das er in seinen verschiedenen Formen, angefangen bei der „reinen Metaphysik“ Spinozas bis hin zur absoluten Subjektivität Fichtes, als ein in letzter Konsequenz fatalistisches bzw. nihilistisches Programm entlarvt und dem er deshalb vehement zu widersprechen nicht müde wird. Denn nur vom Konkreten und Individuellen her ist der Sache der „reinen Metaphysik“ beizukommen, und d. h., so schreibt er noch in Ueber eine Weissagung Lichtenbergs, vom Menschen her als „[e]in Unvergleichbares, ein Eines für sich“, das dieser ist „durch seinen Geist, den eigenthümlichen, durch welchen er der ist, der er ist, dieser Eine und kein anderer“ (JWA : ) – vom Menschen her als Person. Und , im Jahr seines Todes, bekräftigt er diesen Gedanken noch einmal und bestätigt erneut, dass es stets die eigene Person war, aus deren Perspektive er gedacht hat und nicht anders hat denken können. Seine Philosophie ist in diesem Vgl. dazu ausführlich Jacobis „Brief an Fichte“ von (JWA ,: – ). Vgl. auch Sandkaulen . Dass sich Jacobis Konzept der Person, wenngleich abzielend auf „das existenzielle Bewußtsein persönlicher Identität“, auf nicht unerhebliche Weise insbesondere darin von demjenigen Kierkegaards unterscheidet, dass ein solches Bewusstsein für Jacobi nicht stets neu zu verwirklichendes (und zumeist sogar verfehltes) Ideal, sondern „als ‚bleibendes und in sich seiendes‘ die wesentliche Voraussetzung dafür darstellt, daß ich eine Was-Identität“, also eine Identität im Sinne der Re-Identifikation, „reflexiv überhaupt ausbilden kann“ (Sandkaulen , ), kann vernachlässigt werden, da es Kierkegaard hier, wie gesagt, nicht um eine dezidierte Auseinandersetzung mit Jacobi’schen Argumenten geht – im Übrigen ebenso wenig, wie es ihm in der dritten der Christlichen Reden von mit dem Titel „Gedanken, die hinterrücks verwunden – zur Erbauung“ um eine dezidierte Auseinandersetzung mit Paulus geht, wenn er in bemerkenswerter Parallelität zum hier diskutierten Fall und, wie Emanuel Hirsch kommentiert, in für sein Denken bezeichnender Weise „die Unsterblichkeit an die Stelle der Auferstehung schiebt.“ (CR,, Anm. )
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Sinne eine „[v]on jeher“ (JWA ,: ) einheitliche und gerade darin erst vollends „persönliche“, die „nicht nach Wahrheit überhaupt […,] sondern nach einer bestimmten, Kopf und Herz befriedigenden Wahrheit“ (JWA ,: ) strebt. Auch und gerade in Bezug auf die Religion, die, so Jacobi in ähnlicher Formulierung wie Kierkegaard, „den Menschen zum Menschen macht, und allein ihn über das Thier erhebt“ (JWA ,: ), „fragt meine Philosophie: wer ist Gott; nicht: was ist er?“ (JWA ,: ) So verdreht Afham zwar den Punkt in diesem Sinne, glaubt zweitens aber gerade in der Umwandlung des unpersönlichen Begriffs der „Fortdauer“ in den die Person betreffenden Begriff der „Unsterblichkeit“, Jacobi recht zu tun. Und damit liegt er – dies deuteten die obigen Bemerkungen bereits an – der Sache nach nicht völlig falsch. Denn blickt man auf die Fortsetzung der angeführten Textstelle aus den Stadien, wird klar, dass hier mithilfe dieser gegen Jacobis Originalwortlaut eingefügten Formulierung im Verbund mit Jacobi gegen eine Form verabsolutierter Rationalität, wie sie Kierkegaard in der hegelianistischen Philosophie und Theologie seiner Zeit verkörpert sah, Einspruch erhoben werden soll, da diese das in der Unsterblichkeit adressierte Individuum gerade verkennt, indem sie versucht, ihm dessen Unsterblichkeit zu beweisen – so wie Spinoza, der für Jacobi als Paradigma einer solchen Rationalität gilt, es bereits verkannte, indem er versuchte, des Menschen Handlungen als „natürliche Dinge, die den allgemeinen Gesetzen der Natur folgen“ (Ethica praef), zu verstehen. Liegt denn der Horror, den Jacobi verspürte, etwa darin begründet, „daß Jakobi nervenschwach gewesen ist?“, fragt Afham und antwortet mit unnachahmlicher Ironie: Ein starker Mann, der an der Hand eine Hornhaut bekommen hat allein dadurch, daß er jedesmal, wenn er die Unsterblichkeit bewies, einen Hieb auf Katheder oder Kanzel tat, spürt von solch einem Schrecken nichts, gleichwohl versteht er sich ja auf die Unsterblichkeit, denn eine Hornhaut haben bedeutet ja auf Lateinisch sich auf etwas sachdienlich verstehen (SKS,/SLW, f.). Sehr viel nüchterner formuliert Vigilius Haufniensis das Problem in Der Begriff Angst:
Den im folgenden Zitat mit den Ausdrücken „Katheder“ und „Kanzel“ nur angedeuteten zeitgeschichtlichen Hintergrund, vor dem Kierkegaard insbesondere auch seine Auseinandersetzung um den Begriff der Unsterblichkeit führt, beleuchtet ausführlich Marks . Auch Kierkegaard zieht die Linie seiner Rationalitätskritik zurück bis zu Spinoza, indem Johannes Climacus die sachliche Wurzel des Problemcharakters eines systematischen Beweises der Unsterblichkeit in der Tatsache ausmacht, dass „alles systematische Denken sub specie aeterni“ geschieht, sodass es sich sowohl bei dem Beweis der Unsterblichkeit als auch bei dem Beweis der Existenz Gottes um „eine Tautologie und einen Missbrauch der Worte“ handelt (SKS,/AUN,), die, so zeigen es die Philosophischen Brocken, in Spinoza maßgeblich vorgezeichnet sind (vgl. SKS,/ PB, f., Fn.).
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Welche außerordentlichen logischen und metaphysischen Anstrengungen sind nicht in unserer Zeit gemacht worden, um einen neuen, einen erschöpfenden, einen schlechthin richtig aus allen früheren Beweisen zusammengefügten Beweis für die Unsterblichkeit der Seele zu führen, und merkwürdig genug, während dies geschieht, nimmt die Gewißheit ab. Der Gedanke der Unsterblichkeit trägt in sich eine Macht, in seinen Folgen ein Gewicht, in seiner Bejahung eine Verantwortung, welche vielleicht das ganze Leben auf eine Weise umschaffen werden, die man fürchtet. Also befreit und beruhigt man seine Seele, indem man seinen Gedanken anstrengt, um einen neuen Beweis zu führen (SKS, f./BA, f.). Jacobi, so kann man nun den Grund für Kierkegaards Würdigung benennen, scheut die hier benannte Furcht nicht. Daraus ergibt sich nun aber zuletzt drittens – und hierin laufen die zuvor genannten Punkte zusammen und bilden die eigentliche Pointe des Textes –, dass Jacobi, so wie sich Afham an seine Worte erinnert, in der Zusammenführung des Unsterblichkeitsgedankens mit dem Konzept der Narrativität personalen Selbstseins diejenige Erkenntnis ausspricht, die Kierkegaards eigene ist: dass sich gerade in dieser Zusammenführung die wesentliche Struktur wechselseitiger Bedingtheit von narrativ-normativem Selbstsein der Person und deren Bewusstsein der eigenen Unsterblichkeit offenbart. Denn es gilt: „Daß das Leben uno tenore sei, ist die Bedingung für menschliche Unsterblichkeit“ (SKS,/SLW,), insofern nämlich in der narrativ sich konstituierenden Person überhaupt erst dasjenige Subjekt sich finden lässt, das die Verantwortung, die, wie Vigilius schreibt, in dem Gedanken der Unsterblichkeit liegt, bejahen kann. Und es kann dies nur deshalb, weil sein Selbstsein als Person nicht schlichtweg gegeben, sondern normativ im Prozess lebenspraktischer Aneignung wiederum stets aufs Neue zu verantworten bleibt. Andersherum ist es aber gerade das Bewusstsein der eigenen Unsterblichkeit, dass diejenige Perspektive bereitstellt, von der aus eine solch lebenpraktische Verantwortung und mithin die ‚eigentliche Aufgabe der Zeit‘, von der schon viel die Rede war, in ihrem existenziellen Ernst erfahrbar ist – in einem Ernst, der auf diese Weise ein wesentlich eschatologischer ist. Unsterblichkeit ist somit, so formuliert es Johannes Climacus, „gerade die Potenzierung und höchste Entwicklung der entwickelten Subjektivität“, indem die Frage nach ihr erst dann „recht auftreten“ kann, „wenn man recht subjektiv werden will“ (SKS,/AUN,). Gefragt wird dann nämlich danach, wo „diese so dialektisch-schwierige Stelle zu finden“ ist, „die die Einheit von Unendlichkeit und Endlichkeit“ (SKS,/AUN,) im Endlichen des menschlichen Lebens, in der „Grenzlinie“ von Leben und Tod, möglich macht. Und diese Frage, bzw. das sich kontinuierlich fortsetzende Fragen, in dem der Mensch sein „Unsterblichkeitsbewusstsein festhält“ (ebd.), ist für Climacus wie für Kierkegaard, dasjenige „Handeln“ des „existierende[n] Subjekts“ (SKS,/
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AUN,), das dessen Verantwortung zugleich als dessen Freiheit kennzeichnet (vgl. Wrathall ). „[E]thisch kulminiert alles in der Unsterblichkeit“ (SKS,/AUN,), denn – dies darf nicht missverstanden werden: „Unsterblichkeit ist nicht Fortsetzung des Lebens, nicht so ein ins ewig Endlose fortgesetztes Leben, nein, Unsterblichkeit ist die ewige Scheidung zwischen den Gerechten und den Ungerechten“ und als solche „das Gericht“ (SKS,/ CR,), mit dem sich der existierende Mensch im Festhalten seines Unsterblichkeitsbewusstsein jeden Tag aufs Neue konfrontiert sieht, und das damit den eigentlichen Inhalt der christlichen Verheißung ewiger Seligkeit als Hilfe für den Menschen, „sich selbst zu verstehen in der Zeitlichkeit“, ausmacht: Es soll nicht gefragt werden nach der Unsterblichkeit, ob es sie gibt, nein, die Frage soll sein, ob ich auf solche Art lebe, wie es meine Unsterblichkeit von mir verlangt. Man soll nicht reden von der Unsterblichkeit, ob es sie gibt, sondern darüber, was meine Unsterblichkeit von mir verlangt, über meine ungeheure Verantwortung, daß ich unsterblich bin. (SKS,/CR,; Übers. leicht modifiziert) Literatur Connell, George. . „Four Funerals: The Experience of Time by the Side of the Grave“. In: International Kierkegaard Commentary: Prefaces/Writing Sampler and Three Discourses on Imagined Occasions, herausgegeben von Robert L. Perkins, – . Macon. Crites, Stephen. . „Pseudonymous Authorship as Art and as Act“. In: Kierkegaard. A Collection of Critical Essays, herausgegeben von Josiah Thompson, – . Garden City. Davenport, John J., und Anthony Rudd, Hgg. . Kierkegaard After MacIntyre. Essays on Freedom, Narrative and Virtue. Chicago/La Salle. Davenport, John J. . Narrative Identity, Autonomy, and Mortality: From Frankfurt and MacIntyre to Kierkegaard. New York. Feger, Hans. . „Leben, um davon zu erzählen – erzählen, um zu leben. Narratives Verstehen bei Sören Kierkegaard und Paul Ricoeur“. In: Erzählende Vernunft, herausgegeben von Günter Frank u. a., – . Berlin. Gräb-Schmidt, Elisabeth. . „Das Gleichgewicht zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen in der Herausarbeitung der Persönlichkeit (I): Das Versteckspiel des Lebens und der Ernst der Authentizität“. In: Søren Kierkegaard: Entweder – Oder, herausgegeben von Hermann Deuser und Markus Kleinert, – . Berlin/Boston. Grøn, Arne. . „Time and History“. In: The Oxford Handbook of Kierkegaard, herausgegeben von John Lippitt und George Pattison, – . Oxford. Jacobi, Friedrich Heinrich. [JWA] ff. Werke, herausgegeben von Klaus Hammacher und Walter Jaeschke, Hamburg. Kierkegaard, Søren. [SKS] – . Søren Kierkegaards Skrifter, herausgegeben von Niels Jørgen Cappelørn u. a. Kopenhagen.
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Ágnes Heller BEITRÄGE ZUR PHILOSOPHIE DER AUTOBIOGRAPHISCHEN ERINNERUNG
Erinnerung war in der Philosophie von Anfang an eine der wesentlichsten Fragen. Es war immer klar, dass alles, was wir wissen, aus der Erinnerung stammt, und die Erinnerung aus der Erfahrung. Die Frage, die schon am Anfang gestellt wurde, betrifft die Quelle des Wissens, die Erfahrung selbst. Die ersten Philosophen experimentierten mit drei verschiedenen Hypothesen: Sokrates mit der Hypothese, dass alles, was wir wissen, schon in unserem Verstand gespeichert ist. So müssen wir uns bemühen, das gespeicherte Wissen mit Hilfe des Denkens aus unserem Verstand oder unserer Seele herauszuholen. Sokrates (wenn man Platons Bericht Glauben schenken darf) identifizierte das Vermögen des Wissens, das Vermögen der Erfahrung, mit der Quelle des Wissens selbst. Alle Wahrheiten waren so Vernunftwahrheiten. Platon selbst hat aber entdeckt, dass das Vermögen der Erinnerung selbst nicht das Erinnerte erschafft, dass dieses Vermögen die sogenannte Materie der Erinnerung nicht produziert, obwohl ohne dieses Vermögen überhaupt keine Erfahrung möglich ist. So experimentierte Platon mit der Idee, dass einige menschliche Seelen schon vor der Geburt etwas von der Wahrheit, das Licht des wahren Wissens, gesehen haben und sich später an das bereits Gesehene erinnern. Das heißt, er nahm eine Art von autobiographischer Erinnerung (der Seele) als Vorbedingung des wahren semantischen Wissens an. Das sogenannte semantische Wissen kommt immer aus der Erfahrung. Die zentrale Frage aller Erkenntnistheorie, nämlich wie ich weiß, dass mein Wissen wahres Wissen und was die Garantie der Wahrheit meines Wissens ist, stellt sich allein hinsichtlich der semantischen Erinnerung. Wahrheit oder Unwahrheit, Stimmigkeit oder Unstimmigkeit des Wissens kann man in diesen Fällen überprüfen. Das heißt, Wissen, das aus der semantischen Erinnerung stammt, kann man verifizieren oder falsifizieren. Das tun auch alle Lehrer in der Schule. Wenn z. B. ein Schüler die Frage nach der Hauptstadt der Türkei mit ‚Istanbul‘ beantwortet oder ein Gedicht schlecht aufsagt, wird der Lehrer ihn korrigieren. Die sogenannten Vernunftwahrheiten dagegen, z. B. die von Aristoteles bestimmten logischen Grundgesetze, sind keine Resultate der Erinnerung, weil sie nicht aus der Erfahrung stammen. Deswegen wurde auch die Existenz Gottes einst als eine eingeborene Vernunftidee vorgestellt.
Hegel-Studien Beiheft · © Felix Meiner Verlag · ISSN -
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ÁGNES HELLER
Um zu wiederholen: Die Philosophie war schon immer mit der semantischen Erinnerung beschäftigt, weil es nur hier um die Wahrheit geht. Auch in der sogenannten pragmatischen Erinnerung geht es nicht um wahr/unwahr, sondern um richtig/unrichtig, gelungen/misslungen. Man tut etwas, was man praktiziert hat, ohne nachzudenken, sozusagen ‚instinktiv‘, z. B. wenn man schwimmt. Man sagt, dass der Leib ‚sich erinnert‘. Die autobiographische Erinnerung war eher ein Stiefkind der Philosophie und blieb es mit einigen Ausnahmen bis zur Neuzeit, wo die Identität der individuellen Persönlichkeit thematisiert wurde. Locke entwickelte die Theorie, dass die Identität der Menschen in ihrer autobiographischen Erinnerung besteht. Autobiographische Erinnerung ist das Privateigentum der Einzelmenschen. Der Mensch ist identisch mit seinen Erinnerungen, niemand hat Zugang zu diesen Erinnerungen außer ihm selbst. Was wir erlebt haben, wie wir es erlebt haben, das hat uns ‚geschaffen‘, das sind wir selbst, das ist unser Selbst. Leibniz widerlegte Locke in seinen Nouveaux Essais. Er erwähnte einen Fall von Amnesie, das Beispiel eines Menschen, der nicht wusste, wie er heißt, wer er ist und wo er ist. Doch seine Nachbarn wussten es, sie kannten seinen Namen, seine Vergangenheit, sie haben seine ‚Identität‘ wiederhergestellt. Was die Frage der Identität betrifft, würde ich sagen, dass beide recht haben. Es gibt nämlich eine subjektive Identität, die tatsächlich, wie es Locke darstellte, durch die Erinnerungen eines Menschen konstituiert wird. Und man kann auch über eine objektive Identität sprechen, die von Anderen konstituiert wird, in der Weise, wie Andere einen Menschen kennen, ihn sich vorstellen oder sich etwas von ihm erwarten. Ich kann nur erwähnen, dass Sartre und Beauvoir eher mit Leibniz einverstanden waren und so weit gingen zu behaupten, dass mindestens das gesellschaftliche Wesen eines Menschen vom Blick der Anderen bestimmt ist. (Z. B. bestimmt der Blick der Antisemiten jemanden als einen Juden, der Blick der Männer jemanden als eine Frau.) Ich werde am Ende des Textes zu dieser Frage noch einmal zurückkehren. Zuerst will ich jedoch die Grundfrage, die Frage der autobiographischen Erinnerung, betrachten. Wir alle tragen in unserer Psyche einige starke Gedächtnisspuren. Diese Gedächtnisspuren sind in unserem Unbewussten oder Vorbewussten gespeichert. Sie sind mit tausend anderen zusammen in unserem Kurzzeitgedächtnis (short term) entstanden, doch sie sind, im Gegensatz zu anderen Erlebnissen, auch in unserem Langzeitgedächtnis (long term) aufbewahrt. Voraussetzung dafür ist, dass ein starker emotionaler Input diese Erfahrungen zum Überleben fähig macht. Andere Eindrücke verschwinden dagegen, weil sie durch weitere kurzlebige Eindrücke im Gedächtnis ersetzt werden. Die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses ist nämlich begrenzt. Wenn es überfordert wird, ist eine Art der gelehrten Borniertheit die Folge.
Beiträge zur Philosophie der autobiographischen Erinnerung
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Alle Menschen tragen in ihrer Psyche vielfältige Gedächtnisspuren, doch kontinuierliche Erinnerung gibt es nicht. Das ist einfach auch schon deswegen ausgeschlossen, weil nur einige besondere Spuren im Langzeitgedächtnis gespeichert werden. Diese sporadischen Erinnerungsspuren werden miteinander in einer Erinnerungskette verbunden, in einer Geschichte, die einer sich selbst oder anderen über seine Vergangenheit erzählt. So entsteht die autobiographische Erinnerung, die Locke ‚Identität‘ nannte. Ich sagte, dass die Gedächtnisspuren in eine Geschichte zusammengebunden sind. Doch ein Mensch erzählt über sich nicht nur eine einzige Geschichte. Ich möchte sagen, dass er auch nicht zweimal genau dieselbe Geschichte über sich selbst erzählt, ganz zu schweigen von den Geschichten, die man den Anderen erzählt. Erstens binden wir nicht immer dieselben Spuren zusammen, und nie alle Spuren. Einige Spuren sind tief im Unbewussten verankert und kommen nie, zumindest nicht in direkter Weise, ans Licht. Doch auch die vorbewussten Spuren haben nicht immer das gleiche Gewicht: in einer Situation eher die eine, in einer anderen Situation eher die andere. Ich werde meinem Geliebten, meinem Boss, meinen Eltern, Kindern, Freunden, Bekannten, Kollegen, Feinden nicht die gleiche Geschichte erzählen, und auch nicht dieselbe denselben in verschiedenen Situationen. In meiner Jugend finde ich andere Kindheitserlebnisse erinnerungswürdig als im Alter. Der Standpunkt der autobiographischen Erinnerung ist immer die Gegenwart. Die Gegenwart ist sozusagen das Ziel der Geschichte. Die Geschichte, die wir uns selbst (oder Anderen) erzählen, ist ein Roman: ein solcher Roman, in dem die gegenwärtigen Erlebnisse, Ideen, Erwartungen die Geschichte mitbestimmen. Wenn ein enttäuschter Marxist seine Weltanschauung in Richtung des Liberalismus verändert, werden andere Erlebnisse wichtig für ihn als zuvor. Wenn jemand ein Künstler wird, dann werden solche Erlebnisspuren aus seiner Kindheit in die autobiographischen Narrative eingefügt, in denen der zukünftige Künstler sich schon zeigt. Auch eine moralische Erschütterung kann die autobiographische Erzählung verändern, z. B. wenn man etwas bereut oder auf etwas plötzlich stolz wird, was man zuvor als schamvoll empfunden hat. Autobiographische Narrative können aus dem einfachen Grunde weder wahr noch unwahr sein, dass niemand sie überprüfen kann. Nur die semantischen Aspekte einer autobiographischen Erinnerung kann man überprüfen. Wenn z. B. jemand über den großen Einfluss eines Gedichts auf sein Leben spricht und die erwähnten Zeilen zitiert, kann man ihm zeigen, dass die erwähnten Zeilen nicht aus diesem, sondern aus einem anderen Gedicht stammen. Das beweist aber nicht die Unwahrheit des Narrativs, nämlich dass es getreu das wiedergab, woran er sich erinnerte. Es kommt natürlich auch vor, dass etwas, was man über jemanden gesagt hat, als eine Erinnerungsspur gespeichert wird, z. B. wenn eine Mutter ihrem Kind erzählt, was sie im Alter von drei Jahren getan oder gesagt hat, kann das auch als eine
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authentische Erinnerung gespeichert sein. Wenn man ein solches Erlebnis in die autobiographische Geschichte einfügt, kann man auch nicht von Lüge reden, es ist ohnehin nicht überprüfbar. Doch man kann, wenn auch nicht über wahre und unwahre, so doch über echte und unechte autobiographische Narrative sprechen. Wie ich schon erwähnt habe, erzählt jemand sein eigenes Leben immer auf verschiedene Weisen. Das heißt, man kann die Gedächtnisspuren auf verschiedene Weisen zusammenknüpfen, einige auch auslassen, andere in den Vordergrund stellen. Wie man die Geschichte erzählt, hängt von den Erzählern, von den Adressaten und von der Situation ab. Wann kann man dann überhaupt von unechten Narrativen sprechen? Wenn man die Tatsache, dass subjektive Erlebnisse nicht überprüfbar sind, missbraucht. Das kommt meistens vor, wenn jemand die autobiographischen Narrative als Mittel für ein praktisches/pragmatisches Ziel absichtlich benutzt, sei es, um sich eine reiche Braut zu gewinnen, eine gute Stellung zu bekommen oder einiges in seiner Vergangenheit zu vertuschen. Ich meine ‚absichtlich‘ und nicht ‚der dichterischen Phantasie folgend‘. Ob die Anderen die Unechtheit einer autobiographischen Erzählung auch ohne andere Informationsquellen entdecken können, hängt von ihrer Menschenkenntnis ab. Die autobiographischen Narrative sind eine Art der Selbstpräsentation. Man stellt die Geschichte zusammen, um den gesellschaftlichen Erwartungen, mindestens bis zu einem gewissen Grade, zu entsprechen. Kurz: Es gibt eine ständige Wechselwirkung zwischen der subjektiven und der objektiven Identität. Menschen wollen im Allgemeinen so erscheinen, wie man es von ihnen erwartet. Um zu Simone de Beauvoir zurückzukehren: Die Welt der Männer hat immer etwas von den Frauen erwartet, so wollten die Frauen dieser Erwartung entsprechen. Dieser Wunsch führte dazu, dass etwas aus dem Kurzzeitgedächtnis im Langzeitgedächtnis gespeichert wurde, und hatte auch einen Einfluss darauf, wie ein Mädchen ihre autobiographische Geschichte erzählte. Ich möchte wiederholen, dass wir alle unsere Lebensgeschichten aus der Gegenwart erzählen. Das heißt, eine Frau von fünfzig Jahren wird ihre Lebensgeschichte ausgehend von ihrem fünfzigsten Jahr erzählen, doch als sie achtzehn Jahre alt war, hat sie dieselbe aus der Perspektive einer Achtzehnjährigen erzählt. Die früheren Erzählungen können auf die späteren einen größeren oder kleineren Einfluss haben. Das hängt nämlich auch von den späteren Gedächtnisspuren ab. Gedächtnisspuren fügt man in die Geschichte immer so ein, dass der Erzähler als ein ‚Erfolg‘ aus der Geschichte hervorgeht, nicht notwendig im gesellschaftlichen Sinne, denn es ist auch ein Erfolg, wenn man schon weiß, dass alles vergebens gewesen war. Dann weiß man nämlich mehr, als man vorher wusste. Ich habe die Frage der autobiographischen Erinnerung mit den Gedächntisspuren eingeleitet. Kurz kehre ich zu ihnen zurück.
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Die Gedächtnisspuren sind immer Interpretationen. Auch ein Gefühl wird interpretiert, sei es Furcht oder Freude. Es ist die Stärke der Interpretation, dazu beizutragen, dass genau diese und nicht andere Eindrücke im Unbewussten oder Vorbewussten gespeichert werden. Wir fühlen immer etwas über etwas. Wir freuen uns über etwas, wir fürchten uns vor etwas. Seit wir eine Sprache beherrschen, können wir die Erlebnisse benennen und auch beschreiben. Wir erleben etwas im Verhältnis zu Anderen, anderen Menschen, anderen Dingen. Über diese Dinge und Menschen wissen wir im Moment des Erlebnisses etwas, und wir wissen etwas anderes und mehr über sie, wenn wir uns erinnern, wenn wir die eine oder andere Spur in unsere Narrative einfügen. Wir fürchteten uns vor einem Anderen, wir freuten uns wegen etwas anderem. Wer sind diese Anderen? Es gibt eine Gemeinsamkeit zwischen Traum und autobiographischer Erinnerung. Im Traum gilt die Logik nicht. Weder der Satz der Identität und Nichtidentität noch Kausalität oder Teleologie. Die Differenz zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, Notwendigkeit und Zufalligkeit gibt es auch nicht. Zudem sind die Naturgesetze nicht gültig. Doch die Materie des Traums, das heißt die Materie, mit der die Traumlogik arbeitet, wird nicht im Traum selbst produziert. Sie kommt meistens von bewussten Erlebnissen, aber auch von unbewussten Gedächtnisspuren, von denselben Spuren, aus denen wir unsere autobiographische Erzählung zusammenknüpfen. So gibt es eine Art von Wechselwirkung zwischen Traumerlebnis und autobiographischer Erinnerung. In Träumen können solche Spuren immer wieder vorkommen, die wir nicht in unsere autobiographische Erzählung eingefügt haben. Die Geschichte, die wir über uns selbst uns selbst und auch Anderen erzählen, dient auch dazu, unser geistiges Gleichgewicht zu erhalten. Das setzt auch das Vergessen voraus. Einige Gedächtnisspuren zu verdrängen, durch andere zu ersetzen, kann das Gleichgewicht, wie wir von Freud wissen, zerstören. Selten sprechen wir über das Gegenteil: Einige Gedächtnisspuren muss man vergessen, um die Identität des Ego bewahren zu können. Auch werden Spuren, die im Traum erscheinen, immer interpretiert oder wiederinterpretiert. Wie oder bis zum welchem Grade das zur Selbstbewahrung wichtig ist, kann man nur im Einzelfall entscheiden. Die in die autobiographische Erinnerung eingereihten Gedächtnisspuren sind von den in Träumen erlebten Gedächtnisspuren verschieden. Schon aus dem einfachen Grund, dass das träumende Ich und das Ich des Traumes nicht nur verschieden sind, sondern das eine von dem anderen unabhängig ist. Mein waches Ich kann nicht entscheiden, was mein Traum-Ich machen soll, und mein waches Ich ist nicht dafür verantwortlich, was mein Traum-Ich getan hat. Mein Traum-Ich ermordete viele Menschen, doch ich schlafe in meinem Bett und habe niemandem Leid angetan. Der Erzähler der autobiographischen Erinnerung ist jedoch verantwortlich für die Taten seiner Vergangenheit. Er ist er, sie ist sie, kein anderer,
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keine andere. Meistens kann ich die vergangenen Erlebnisse nicht nur verbalisieren, sondern auch in der Sprache der Alltagslogik ausdrücken. Meine Träume kann ich nicht in die Kette eines einheitlichen Narrativs zusammenfügen, doch ich tue genau das mit meinen autobiographischen Erinnerungen, wie sporadisch sie auch sind. Ich habe von verschiedenen Aspekten autobiographischer Erinnerungen gesprochen. Sie hängen vom Alter der Erzähler ab, von den neuen Erlebnissen der Erzähler, von ihren Adressaten, von der Situation, in der man die Geschichte erzählt (den Fall der Unechtheit lasse ich aus). Viele Fragen sind jedoch bisher nicht berührt worden. Auch die wichtigste nicht: ob die Identität selbst auch eine Nicht-Identität ist, ob das Selbst eine Einheit ist, ob jede Geschichte dasselbe Selbst erzählt? Wir wissen schon, dass wir auf die Frage nicht dieselbe Antwort geben können wie im Fall der Träume. Das träumende Ich ist für die Taten des Traum-Ichs nicht verantwortlich, weil beide ganz verschieden sind. Das Traum-Ich träumt nicht und erzählt auch keinen Traum, nur das träumende Ich träumt und erzählt. Doch wenn das träumende Ich über das Traum-Ich spricht, sagt es auch ‚ich‘, z. B. ‚ich bin gestorben, ich lag in dem Sarg‘. In einem autobiographischen Narrativ kann man das sicher nicht sagen. Doch ist das Selbst, das erzählt, mit dem erzählten Selbst identisch? Eine Frau erzählt von der Geburt ihres Kindes, wie weh es tat, doch sie fühlt kein Weh. Sie erinnert sich an die Freude, die sie beim Treffen ihres Geliebten fühlte. Doch der Geliebte hat sie sehr bald verlassen. Die Freude, an die sie sich erinnert, kann nicht dieselbe Freude sein. Sie kann sich auch erinnern, wie sie einen Mann liebte, doch sie liebt ihn nicht mehr. Sie kann sich an ihre alte Liebe erinnern, doch dasselbe kann sie nicht fühlen. Jemand liest wieder einen Roman, der in der Jugend den größten Eindruck auf ihn machte. Man erinnert sich an dieses Jugenderlebnis, doch findet man dieses Buch nun blöd und langweilig. Man kann nicht mehr dieselben Gefühle haben, eher wird man über sich selbst lachen. Mehr noch: In allen erwähnten Fällen reinterpretiert man auch das ursprüngliche Erlebnis. Wiederinterpretieren heißt auch verändern. Das erinnerte Erlebnis bleibt in der Erinnerung nicht das ursprüngliche Erlebnis. Das heißt: Kein ursprüngliches Erlebnis kann man erneut erleben, auch dann nicht, wenn man noch einmal von demselben entzückt ist, z. B. von derselben Bach-Motette. Da die Situationen, in denen man dieselbe Motette hört, verschieden sind (zum ersten Mal etwas hören, es schon gehört haben, mit anderen Sängern hören etc.), sind auch die Hörerfahrungen nie dieselben. Doch – und das ist vielleicht das Wichtigste – eine Persönlichkeit ist nicht einheitlich. Mein Selbst besteht aus mehreren ‚Selbsten‘, die manchmal einen Krieg gegeneinander führen. Das wussten die Philosophen immer, deswegen sprachen sie über die verschiedenen ‚Teile‘, besser: die verschiedenen Funktionen, der Seele. Auch Hamlet sprach davon, als er sich bei Laertes mit den Worten
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entschuldigte, dass nicht er selbst, sondern nur seine Wut Laertes beleidigt hätte. Es ist wahr, es gibt einen sogenannten ‚Kern der Persönlichkeit‘. Wenn es eine solchen nicht gäbe, könnten wir nicht so oft einem sagen ‚ich erkenne Dich nicht mehr‘. Das heisst, ‚Du, wie ich Dich kenne, Du hast nicht so gesprochen oder gehandelt‘. Doch weil kein Mensch transparent ist, und wir auch uns selbst nie ganz kennen, können wir in unvorhersehbaren Situationen plötzlich so handeln, wie wir es von uns selbst nie geglaubt oder vorgestellt hätten: schlechter, besser oder einfach nur anders. Schriftsteller wussten das immer (siehe z. B. Shaws Drama The Devil’s Disciple). Das ist auch ein Grund, weshalb jemand seine Lebensgeschichte auf so verschiedene Weisen erzählt. Nicht nur die Narrative werden verändert, auch die Interpretationen der verschiedenen Erlebnisspuren. Ich kehre jetzt zu den Erlebnisspuren zurück. Es gibt eine authentische Interpretation der ursprünglichen Erlebnisse, zumindest sollten wir das voraussetzen. Obwohl ich jetzt nicht über die subjektive Identität des Individuums rede, ist die ursprüngliche Interpretation selbst nicht subjektiv, weil wir eben nicht uns selbst, nicht unser eigenes Selbst, interpretieren, sondern den Eindruck eines Anderen auf unser Selbst, unsere Wechselwirkung mit diesen Anderen. Auch wenn wir die ursprüngliche Spur nicht verbalisierten (z. B. weil wir zwei Jahre alt waren, oder aus anderen Gründen), werden wir sie doch in unsere Narrative immer verbalisiert einfügen. Aus diesem Blickwinkel ist es egal, ob ich mich an eine Wolke oder einen Lichtstrahl erinnere. Ich sage ‚ein Lichtstrahl erschien, ich freute mich‘ oder ‚ich sah eine Wolke am blauen Himmel und war froh‘, in beiden Fällen verbalisiere ich das Erlebnis. Ein Erlebnis, das ich nicht vergesse, ich meine, das ich oft aus dem Vergessen, wie Spinnröslein, erwecke. Schon auf dieser elementaren Ebene ist mein subjektives Erlebnis mit kollektiven Erinnerungen und mit dem kulturellen Gedächtnis verschmolzen. Ich habe z. B. einen kleinen Bär zu meinem ersten Geburtstag bekommen. Meine Eltern gaben mir den Bär. Ich erinnere mich an den Bär, meine Eltern auch. Wir können miteinander darüber reden. Wenn ich schon sprechen kann, werde ich mit meinen Eltern diese Geschichte besprechen, ich werde ihnen sagen, wie ich diesen Bär liebte, sie werden mir sagen, dass sie nach meiner Krankheit mir einen kleinen Freund schenken wollten. So erfahre ich etwas, was ich nicht erlebte (die Motivation meiner Eltern), und sie erfahren etwas, was sie nicht fühlten, meine Liebe zu dem Bären. Damit habe ich das kollektive Gedächtnis beschrieben. Kollektiv ist das Gedächtnis derer, die ein Ereignis zusammen erlebt haben, doch alle auf eine andere Weise. Ob es sich um ein Liebespaar, um Schulkameraden, um Besucher desselben Theaters zu derselben Zeit handelt, immer geht es um dasselbe. Sie können sich zusammen erinnern. Die Erinnerung des einen wird die Erinnerung des anderen bereichern oder aber auch die Illusionen, die ein anderer mit dem Ereignis ver-
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bindet, zerstören und spätere Interpretationen des Erlebnisses verändern, jedoch nicht den Charakter der Erinnerung selbst. Was man kulturelles Gedächtnis nennt, ist einer der grundlegenden Stoffe der primären autobiographischen Erinnerung. Nicht nur grundlegend für die Zusammenstellung der Narrative, auch für die Interpretation der ursprünglichen Gedächtnisspuren. Was man kulturelles Gedächtnis nennt, ist ein Netz der Texte, Geschichten, Ideen, Phantasien und Überzeugungen einer Gemeinde, einer Gemeinschaft, eines Volks, einer Gruppe, die bzw. das ihre Identität konstituiert, die von ihren Mitgliedern getragen und vermittelt wird, wie z. B. die Epik Homers für die Griechen, die Tora für die Juden, das Neue Testament für die Christen, die Constitution für die Amerikaner. Wie diese Aufzählung zeigt, kann eine Gruppe, ein Volk, eine Gemeinschaft verschiedene Texte in ihrem kulturellen Gedächtnis speichern. Es gibt unter ihnen einige dominante, wie auch einige untergeordnete Erzählungen. Die dominanten Erzählungen können wir Meistererzählungen nennen. Die Meistererzählungen konstituieren die Identität vieler Gruppen und Völker. Meistererzählungen beeinflussen die Einbildungskraft in einer direkten und indirekten Weise bis zu einem gewissen Grad, so dass die, die unter ihrem Einfluss stehen, etwas denken oder erleben, überhaupt nicht wissen, dass sie die Interpretation einer Meistererzählung lesen oder hören. Zwei Meistererzählungen bestimmten und bestimmen bis zur heutigen Zeit die Phantasie und auch die Sprache der Europäer und auch der sogenannten ‚westlichen‘ Kulturen im Allgemeinen. Das sind die Bibel und die Griechisch-Römische Philosophie samt ihren politischen Institutionen. Wenn man bei Kant als Bestimmung der Aufklärung vom Ausgang aus unserer selbstverschuldeten Unmündigkeit liest, fällt es wahrscheinlich nur wenigen auf, dass dieser Satz eine Bibelparaphrase ist. Das europäische Denken hat nie seine altgriechischen Wurzeln vergessen, und auch nicht die athenische Demokratie oder das lateinische senatus populusque romanus. Die verschiedenen Arten und Formen des kulturellen Gedächtnisses der Völker und der Religionen, ihre verschiedenen Geschichten, Mythen, Riten, Vorurteile, konstituieren die Identität dieser Völker, dieser Gruppen und nicht die der anderen. Auch wenn die Meistererzählungen sich nur langsam verändern, wenn überhaupt, verändern sich die Interpretationen dieser Erzählungen in der Moderne relativ schnell. Das zeigt sich gleich in der Beschreibung, der Verbalisierung der Grunderlebnisse selbst. Jeanne D’Arc wurde von Engeln angesprochen, die Engel sagten ihr, was sie tun soll. Dass Hamlet mit dem Geist seines Vaters sprach, sein Grunderlebnis, wurde von seinen Zeitgenossen nicht in Frage gestellt. Heute müsste man etwas Technisches erfinden, um die Szene glaubwürdig zu machen, obwohl sie damals de facto glaubwürdig gewesen ist. Es waren nämlich Zeiten, in
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denen verschiedene, auch abgeschiedene Geister zum Menschen sprachen, in denen man ein Grunderlebnis ursprünglich so verstand und interpretierte. Man glaubt oft, was man wünscht, oder etwas, vor dem man sich fürchtet. Das gilt auch für die Erinnerungsspuren. Einer erinnert sich an eine Geste und interpretiert sie als etwas Günstiges oder als etwas Bedrohendes. In der Wiedererinnerung können wird dieselbe gespeicherte Interpretation verändern und korrigieren. Das passiert häufig, wenn wir eine fremde Welt, eine fremde Kultur und so auch die Gesten am Anfang missverstehen. Wie ich es versprach, kehre ich am Ende meines Textes zum Verhältnis der objektiven und subjektiven Identität zurück. Wenn ein Selbst sich präsentiert, weiß es etwas über sich selbst, kennt sich selbst bis zu einem gewissen Grade durch seine Erinnerungen mitsamt ihren Interpretationen. Es weiß auch bis zu einem gewissen Grade, wie die Anderen es sehen, was (bestimmte) Andere von ihm erwarten. Ich meine bestimmte Andere, denn unterschiedliche Andere, wie Familienmitglieder, der Geliebte, Freundinnen, der Boss, können von einem etwas anderes erwarten. Doch gibt es auch eine gesellschaftlich dominante Erwartung, eine homogene in traditionellen Gesellschaften und eine heterogene in der Moderne. Auch in der modernen Welt bemühen sich die Menschen, nicht geizig oder eifersüchtig oder böswillig in den Augen der Anderen zu erscheinen, auch wenn sie wissen, dass sie es sind. Das Anpassen der subjektiven Identität an die objektive kann man manchmal als Hypokrisie beschreiben, manchmal eher als Takt. Das Zusammenfügen der beiden Identitäten bedeutet in ethischer Hinsicht das Zusammenfügen zweier moralischer Autoritäten, nämlich den Blick der Anderen und die innere Stimme. Die Sprache der inneren Stimme (Gewissen) folgt aus der autobiographischen Geschichte. Meine eigene Geschichte, wie ich sie mir selbst erzähle, kann ‚ja‘ oder ‚nein‘ in Entscheidungssituationen sagen. ‚Ich‘, das Subjekt der Erzählung, sagt die Stimme, kann das nicht tun, ohne mich selbst (meine subjektive Identität) zu verlieren, ich kann dann nicht mehr in den Spiegel schauen. Oder ‚Ich‘, das heißt meine ‚objektive Identität‘, darf oder kann ich nicht verlieren, ich kann die Erwartungen meiner Freunde, meiner Heimat etc. nicht enttäuschen, ich will nicht, ich kann nicht mit der Schande weiterleben. Menschen sind immer auch Schauspieler, doch wenn sie Glück haben oder in glücklichen Zeiten leben, können sie die Rollen so spielen, dass dieses Spiel ihrer ‚subjektiven Identität‘ keinen Schaden zufügt. Oder sie können, wie es die alten Epikureer oder moderne Menschen in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre getan haben, in kleinen Gemeinschaften von Auserwählten leben, mit denen sie auch die ‚objektive Identität‘, das heißt die Erwartung der Anderen, wesentlich teilen. Die uralte Frage, ob man sich selbst belügen kann, werde ich hier nicht beantworten, nur eine Antwort andeuten. Denn ich müsste erst die Frage stellen, was
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Lüge ist, ob Lüge immer bewusst oder auch unbewusst sein kann, und das würde mich zu weit führen. Ich habe mit Recht vorausgesetzt, dass die Frage ‚wahr oder unwahr?‘ im Falle der autobiographischen Narrative keinen Sinn hat, wenn man annimmt, dass der Erzähler das erzählt, an was er sich erinnert. Und dass man es nicht überprüfen kann. Können wir aber annehmen, dass die Erzählung wahr ist? Sicher nicht, denn wir können genauso annehmen, dass der Erzähler lügt. Er lügt uns an. Woher aber können wir wissen, dass er sich nicht selbst belügt? Wir können es natürlich nicht wissen. Man kann das nur annehmen, weil man annehmen kann, dass Menschen im Allgemeinen mit sich selbst in Frieden leben wollen. Nicht nur in den Augen der Anderen, auch in ihren eigenen Augen wollen sie besser erscheinen als sie sind. Autobiographie ist auch eine Art von Rechtfertigung. Ein Mensch rechtfertigt sich für sich selbst, wenn auch nicht immer. Manchmal ist es eher eine Art von Selbsterniedrigung. Heutzutage ist Autobiographie eine Mode geworden. Alle Politiker, Schriftsteller, Sänger, Sportler, Schauspieler, Künstler, alle ‚öffentlichen Figuren‘ (und nicht nur sie) schreiben oder diktieren ihre Autobiographie. Wir sind alle gleich wichtig geworden in den Augen aller Anderen, wir sind Spione und Texte in der Welt des öffentlichen Klatsches.
Oliver Koch „DAS ICH ABER IST GRUNDSÄTZLICH EIN VEREINZELTES“ Wolfgang Cramers Überbietung des transzendentalen Idealismus als Ontologie des konkreten Subjekts „Individualität ist die Wurzel der Intelligenz und aller Erkenntnis; ohne Individualität keine Substanzialität, ohne Substanzialität überall nichts.“ Mit diesen gegen Fichtes Wissenschaftslehre gerichteten Worten formuliert Friedrich Heinrich Jacobi den Kern seines Einspruchs gegen den transzendentalen Idealismus. Jacobis Kritik verbindet dabei die Frage des Verhältnisses von transzendentaler, unpersönlich-allgemeiner Subjektivität und konkreter Individualität mit der Frage nach dem Verhältnis von Idealismus und Realismus, bewusstseinsimmanenter Wirklichkeitskonstitution und bewusstseinsunabhängigem Sein. Dabei plädiert er für ein (letztlich moralisch-praktisches) Primat der konkreten individuellen Person gegenüber der erkenntniskonstitutiven allgemeinen Subjektivität. Nur weil ich mir meiner eigenen Wirklichkeit und derjenigen der Welt, in der ich mit Anderen bin und handle, unmittelbar gewiss bin, kann ich, so Jacobi, die Welt und mich selbst auch im Modus begrifflich-allgemeinen Wissens erfassen (vgl. Koch ). Dieser systematische Einspruch im Namen der individuellen, sich im praktischen Handeln als real erfahrenden Person bildet, wie vor allem Birgit Sandkaulen in vielen Publikationen gezeigt hat (s. u. a. Sandkaulen ; ), ein ganz entscheidendes Motiv für die Abfolge einander überbietender Systementwürfe in der nachkantischen Philosophie, bei Fichte selbst ebenso wie bei Schelling und Hegel. Doch bleibt Jacobis Kritik nicht die einzige philosophische Mobilisierung des Individuums gegen die transzendentale Subjektivität. Auch gegen den Neukantianismus wird in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts die Frage der Individualität systematisch in Stellung gebracht. Im Gegensatz zu seinem philosophischen Lehrer Hönigswald, aber auch zu Husserl und dem frühen Heidegger, die letztlich selbst noch auf dem Feld einer transzendentalen Konstitutionstheorie verbleiben, ist es dabei vor allem die bis heute wenig beachtete Philosophie Wolfgang Cramers, die die Frage nach dem Verhältnis von transzendentaler Subjektivität und konkreter Individualität erneut mit einem entschieden realistischen philosophischen Programm verbindet. Folgerichtig sucht Cramers Philosophie, die selbst zunächst wesentlich der Opposition gegen den Neukantianismus und einer kritischen Analyse Kants entstammt, zunehmend die Auseinandersetzung mit den philoso Brief Jacobis an Jean Paul am . März (JBW I,: ). Hegel-Studien Beiheft · © Felix Meiner Verlag · ISSN -
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phischen Systementwürfen um , vor allem mit Fichte und Hegel. Offenbar ohne nähere systematische Bekanntschaft mit Jacobi teilt Cramer dabei zwei wesentliche methodische Strategien der Kritik am transzendentalen Idealismus: Auch Cramers Verteidigung des Realismus versucht, realistische Motive bei Kant selbst für die Kritik am transzendentalen Idealismus fruchtbar zu machen. Zugleich greift Cramer dafür ganz wesentlich außer auf Leibniz’ Monadenlehre vor allem auf Spinozas Substanzmetaphysik zurück. Dabei verbindet Cramer die ausdrückliche Würdigung der spinozanischen Metaphysik als konsequenteste Form eines Inhärenz- bzw. Alleinheitsmodells mit einer prinzipiellen Kritik, die wiederum ähnlich ansetzt wie Jacobis eigene, philosophiegeschichtlich äußerst einflussreiche Auseinandersetzung mit Spinoza mehr als Jahre zuvor: Cramer versucht nachzuweisen, dass Spinozas Metaphysik aus prinzipiellen Gründen unfähig ist, die Kontingenz und Zeitlichkeit und damit auch die endliche Freiheit der Modi als existierende Einzelne, mithin die Möglichkeit einer Ethik einzuholen (Sp
Der späte Cramer deutet seine eigene Philosophie dabei selbst ausdrücklich als Alternativunternehmen zu Fichtes Wissenschaftslehre. Während Fichte eine von „zwei Möglichkeiten, von Kant aus weiter zu denken“, gewählt und sich zu Recht „als den Vollender des transzendentalen Idealismus“ als einer Theorie reinen bzw. absoluten Wissens gewusst habe, gehe er selbst den einzig möglichen anderen konsequenten Weg. Der Realismus Cramers halte an der vom Erleben bzw. Vorstellen unabhängigen Wirklichkeit fest, indem „das nach Kant unerkennbare Moment des Andersseins des transzendentalen Subjekts bestimmt“ werde (NL ). Während Fichtes Wissenschaftslehre das Subjekt als Singuläres dabei zum bloß Nichtigen erkläre und damit zum Verschwinden bringe (NL f./), besteht Cramers Grundanliegen im Nachweis, dass die Transzendenzvermeinung des Subjekts nur verständlich wird als Tat eines sich selbst als wirklich gewissen Einzelnen. Cramer setzt sich wiederholt, aber stets nur rhapsodisch mit Hegel auseinander und deutet dessen Philosophie dabei als Spielart des Alleinheitssystems, als „ausgeführten Spinozismus“ (AK ). Zu Cramer und Hegel siehe Reisinger () sowie Lambrecht (). Die einzige ausdrückliche Bezugnahme auf Jacobi findet sich erst im Nachlass und greift Jacobis berühmte Auseinandersetzung mit Kants Ding an sich in der Beylage zum transscendentalen Idealismus im David Hume auf (NL ), mit der bereits der frühe Cramer in der Sache übereinstimmt. Cramers auf fünf Bände angelegtes, jedoch unvollendetes philosophisches Hauptwerk „Die absolute Reflexion“ beginnt daher mit einer Monographie zu Spinoza (Spinozas Philosophie des Absoluten, ). Während sich der Rückgriff auf Leibniz’ Monadenbegriff bereits bei Cramers Lehrer Hönigswald findet, ist seine Berufung auf Spinoza durchaus originell. Denn wie in den er Jahren Jacobis emphatische, wenn auch kritische Bezugnahme auf Spinoza eine Unzeitgemäßheit und Novität darstellte, so gilt dies in gewisser Weise auch im Falle Cramers. Er selbst hebt ausdrücklich hervor, dass es sich bei seinem Buch um die erste (deutschsprachige) Untersuchung zu Spinoza seit mehr als Jahren handle, die gegen die Meinung der Zeit, der Spinoza für „absonderlich und für passé“ gelte, die Größe Spinozas anerkenne und sein philosophisches System systematisch ernst nehme (Sp ). Und mehr noch: Gerade Spinoza wird Cramer trotz aller Kritik zum zentralen Zeugen für die systematische Notwendigkeit einer Metaphysik. Cramer verweist dabei selbst ausdrücklich auf die Analogie seines Verständnisses und Vorgehens zur Debatte um , namentlich auf Fichte, Schelling und Hegel. Schon diese hätten ihr Philosophieren mit der Auseinandersetzung mit Spinoza begonnen, weil dieser der paradigmatische „Repräsentant“ der „radikalen Einheitsthese“, „daß Alles Eines ist“, sei, also die „konsequenteste Form der Alleinheitsphilosophie“ entwickelt habe (AK /).
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, ). Spinoza habe das Zeitliche und Kontingente vielmehr in notwendige, kategorial-allgemeine, d. h. azeitliche Bestimmungen aufgelöst und in einen bloßen Schein verwandelt. Diese Diagnose ist in Cramers Augen auch auf die Systementwürfe des sogenannten deutschen Idealismus übertragbar. Anders als Jacobi, der ihm bei dieser Übertragung wiederum vorangegangen war, hält Cramer aber im Einklang mit Fichte, Schelling und Hegel gleichwohl am methodischen Standard begrifflich-struktureller Analyse und dem Ideal eines philosophischen Systems fest. Die Einsicht der jüngeren Forschung in die konstitutive Bedeutung Jacobis, sowohl der von ihm ausgelösten Spinoza-Renaissance als auch der im Namen des individuellen Daseins der Person entwickelten Kritik am transzendentalen Idealismus, hat der Erschließung und Bewertung der Entwicklung der nachkantischen Philosophie in den letzten Jahren eine entscheidende neue Perspektive eröffnet. Es ist gerade diese Perspektive, die es erlaubt, so meine These, Cramers Philosophie als einen verspäteten, aber durchaus eigenständigen Beitrag zu dieser systematischen Debatte zu betrachten. Im vorliegenden Aufsatz soll zunächst einmal erwiesen werden, dass und inwiefern die Frage der Individualität des Subjekts das Grundproblem Cramers und damit das systematische Bindeglied darstellt, das die unterschiedlichen Ebenen seiner Philosophie zusammenhält. Dabei wird sich zugleich ein differenzierter Begriff der Individualität zeigen, der mit der ‚Einzelheit‘, der ‚Unteilbarkeit‘ und der ‚Einmaligkeit‘ drei grundlegende Momente umfasst. Zugleich wird sich allerdings als ein entscheidendes Problem erweisen, ihnen im Rahmen der methodischen Grundentscheidungen Cramers allen gleichermaßen gerecht zu werden – und damit schließlich auch dem Individuumsein des singulären Subjekts als solchem. I. ‚Erleben‘ als Tätigung eines konkreten transzendentalen Subjekts In Cramers Philosophie lassen sich drei Ebenen oder Topoi unterscheiden, die argumentativ aufeinander aufbauen und in der Sache eine Aufdeckung von Voraussetzungen darstellen. Wesentlich zusammengehalten werden sie dabei, so eben meine These, von der Idee der Subjektivität als einer genuin endlich-zeitlichen, individuellen: (I) Ausgangspunkt Cramers ist eine intensive Auseinandersetzung mit Kants Erkenntnislehre. Diese dient einerseits der Verteidigung einer tran Cramers Diagnose liegt dabei eine durchaus differenzierte Sicht zugrunde. Diese bestreitet nicht die von Spinoza konzipierte (doppelte) begriffliche Gründung der endlichen Modi in der Substanz. Sie behauptet aber, dass diese Art der Gründung der Singularität und Zeitlichkeit des endlichen Modus, d. h. ihrer Existenz als zu Bestimmende nicht gerecht werden könne, insofern die Spinozas Konzept ausmachende Identifizierung von causa und ratio die Wirklichkeit der Zeit und des zeitlichen Werdens in der Substanz tilge (vgl. Sp /) und in den „bloßen Schein“ der imaginatio verwandle (Sp ).
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szendentalidealistischen Konstitutionstheorie des Bewusstseins bzw., mit Cramer und allgemeiner gesprochen, des ‚Erlebens‘. Andererseits evoziert sie als substantielle Kritik am Subjektivitätsbegriff Kants aber (II) die Überschreitung des transzendentalen Idealismus hin zu einer von Cramer ‚transzendental‘ genannten Ontologie der konkreten Subjektivität. Diese gründet nach Cramer (III) schließlich notwendig in einer ‚Theorie des Absoluten‘ als einer allgemeinen Philosophie der Bestimmtheit überhaupt. Auch deren Gestalt wird wesentlich durch das Ernstnehmen des Problems des Zeitlich-Endlichen, d. h. des singulären Subjekts, bestimmt, wodurch sie programmatisch als Alternative zu den Systemen Spinozas, Fichtes, Schellings und Hegels auftritt. Indem Cramer die Eigengesetzlichkeit des Geistigen verteidigt und annimmt, dass sich Bewusstsein nicht zu einem Sein außer ihm, nicht auf Nicht-Geistiges „hinbeziehen“ könne (NL ), vertritt er unter Berufung auf Kant in der Epistemologie eine produktionsidealistische Theorie der Gegenstandkonstitution; es ist das Vorstellen als Aus-sich-Beziehen, das sich seine idealen Inhalte, das Vorgestellte, „zeugt“ (NL ). Erlebnisse und Erlebtes, Gedanken und Gedachtes sind m. a. W. nur für und durch ein transzendentales Subjekt, das sie sich mit absoluter Spontaneität produziert. Cramers systematisches Interesse gilt dabei vor allem einer ganz besonderen und grundlegenden Fähigkeit des Subjekts: der Fähigkeit zum „Transzendieren zum Sein außer …“ (NL ), d. h. dem Umstand, dass der vom Subjekt als Korrelat seines Erkennens gesetzte Gegenstand als ‚Gegenstand an sich‘, als Nichtvermeintes, als wirklich und unabhängig vom erkennenden Subjekt Existierendes gesetzt werde. Bereits in seinen frühen Schriften setzt Cramer daher in seiner Auseinandersetzung mit dem transzendentalen Idealismus an Kants Begriff der Affektion bzw. Sinnlichkeit an. Denn dieser bedeute, so argumentiert Cramer wiederum ähnlich wie bereits Jacobi im David Hume (vgl. JWA ,: /), ein Vermögen der wirklichen Gegebenheit eines Gegenstandes. In der Sinnlichkeit erfahre ich einen Gegenstand als einen mir, dem von ihm Affizierten und ihn Erlebenden, äußerlichen und daher auch mich selbst als ein (von ihm verschiedenes) räumlich bestimmtes, endliches Wesen. Im Begriff der Sinnlichkeit setze mithin Kant selbst eine „Bestimmtheit“, „die weder Subjektivität noch Bestimmtheit für ein Subjekt, d. i. Vorstellung bzw. Vorgestelltes“ als Grund der Affektion und damit auch des Gegenstandes als Erscheinung voraus (M ) – d. h. als ‚Ding an sich‘. Proble-
Cramers Verwendung des Begriffes ‚transzendental‘ setzt sich aufgrund seines realistischen Anliegens hier aber ausdrücklich von Kant ab: „Transzendental“ nenne er ein Subjekt oder ein Bewußtsein, „sofern es zum Sein an sich transzendiert.“ (NL ) Im Nachlass unterscheidet Cramer hingegen zwischen Kants Sinnlichkeitsbegriff und seiner ‚eigentlichen‘ Bedeutung: „Das Wort ‚Wahrnehmung‘ oder ‚Sinnlichkeit‘ sagt [bei Kant] nicht das, was wir darunter verstehen. […] Das selbstverständliche Wissen ist so gründlich liquidiert, daß jede
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matisch daran ist nach Cramer jedoch, dass das ‚Ding an sich‘ Kants für prinzipiell unerkennbar, als ein unbekannter Grund der Affektion gilt. Er bedürfe vielmehr einer positiven Bestimmung, um das Charakteristikum der Sinnlichkeit, ein Hinnehmen eines Gegebenen zu sein, erklären zu können (M ). Weil Philosophie sich als radikales Fragen nach Gründen nicht beim bloßen Voraussetzen beruhigen könne, dürfe diese positive Bestimmung jedoch keine dogmatisch behauptete oder unmittelbar gefühlte sein. Auch als eine vermeintlich unmittelbar bekannte Voraussetzung sei die Annahme eines ‚Ding an sich‘ als Grund der Affektion selbst eine Bestimmung im Modus des als An-sich-für-unsGesetztseins (vgl. M ). Wegen dieses konstitutiven Für-uns-Seins jedes Gegenstandsbewusstseins ist nach Cramer der Weg zur ansichseienden Realität über die Gegenstandsgewissheit versperrt. Zum Verständnis des Transzendenz- bzw. Realitätsbewusstseins bedürfe es daher einer Analyse des ‚Für-uns‘ bzw. des ‚Für-sich‘ selbst. Cramers Ausweg aus dem Problem der Gegebenheit und des ‚Ding an sich‘ bei Kant ist mithin, hier stimmt Cramer mit Fichte überein, eine Radikalisierung der Frage nach den Strukturen der Subjektivität (vgl. M ). Dass das Bewusstsein seinen Gegenstand als „Nichtgegenstand“, als von ihm unabhängiges Reales meint (I ), lässt sich nach Cramer nur aus dem Ich begreifen und legitimieren. Dies setze aber voraus, dass zunächst die „Wahrheit des Ist-Gedankens ‚Ich‘“ gesichert sei, also bewiesen werde, dass der Gedanke ‚ich denke‘ ein ursprünglich legitimer Transzendenzgedanke ist, d. i. ein unmittelbar und „ursprünglich wahrer Gedanke“ (I ), in dem Denkakt und Gehalt, Für-Es und An-Sich, Denken und Sein untrennbar verbunden sind. Nach Cramer nimmt die (idealistische), mit dem Gedanken ‚ich denke‘ äquivalente Behauptung, dass alles Bestimmte nur Bestimmtes für ein Bewusstsein sei, „im Bestimmtheit-für-Sein Bestimmtheit in Anspruch, die nicht Bestimmtheitfür“ ist, d. h. Subjektivität, für die die Bestimmtheit-für ist (M ). Etwas als (bloßen) Gedanken oder als Erscheinung zu bestimmen, setze m. a. W. bereits ein vom Gedanken Verschiedenes voraus, das wegen des sonst wirksamen unendlichen Regresses, so Cramer, selbst nicht Gedanke sein kann, obwohl es uns nur in Gedanken zugänglich ist. Im Gedanken ‚ich denke‘ oder ‚Das ‚Ich (denke …)‘ ist (nur) Gedanke‘ ist mithin eine Bestimmtheit, genauer: ‚etwas von einer Bestimmtheit‘, der Bestimmheit ‚Denken(der)‘, gedacht, das die Voraussetzung dafür bildet, dass ich Gedanken inklusive des Gedankens ‚ich denke‘ hervorbringen kann: das Ich selbst, das den Gedanken ‚zeugt‘. Mit dem transzendentalen Ich gibt es also nach Cramer mindestens ein Bestimmtes-an-sich, ein Reales. Das transzendentale Ich als ursprünglich reales ist jedoch, so Cramer in entscheidender Korrektur an
Vokabel, die Kant gebraucht und an den Wortgebrauch des natürlichen Bewußtseins anklingt, einer Übersetzung bedarf.“ (NL )
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Kant und Fichte, aber auch an Husserl (I , Gb ) kein anonymes allgemeines. Das (transzendentale) Ich als reines, nichtempirisches, nichtvereinzeltes zu deuten, sei „eine Konstruktion, eine falsche Abstraktion“, die auf der Verwechselung des Ich mit seinem Begriff beruhe (M f.). Das (transzendentale) Ich, das denkt und „sich im Beziehen als Identisches herstellt“ (M ), ist vielmehr ein konkret bestimmtes, einzelnes Ich (Gl , I ); das „Ich denke“ ist ein „vereinzeltes Denken“ (Gl ). Cramers Argumentation für die Realität und Singularität des transzendentalen Subjekts beruft sich dabei nicht auf eine unmittelbare Existenzgewissheit eines emphatischen ‚cogito sum‘ oder einer praktischen Handlungserfahrung. Da sich das Ich nach Cramer vielmehr nur vermittelt im Gedanken erkennen kann, die Selbstgewissheit des Subjekts also konstitutiv auf den Begriff ‚Ich‘ als einer allgemeinen Bestimmung angewiesen ist, erfolgt der Nachweis vielmehr durch eine begrifflich-strukturelle Reflexion auf die Natur des Denkens von Bestimmtheit, d. h. auf die Relation zwischen einer allgemeinen Bestimmung und einem möglichen (numerischen) Viel von Singulären, die als ‚Fall von …‘ von dieser Bestimmung sind. Sich als Ich zu erkennen, bedeutet eben, sich als etwas von einer bestimmten Natur oder Art zu wissen. (Art-)Begriff und Gegenstand, Prinzip und Prinzipiiertes, Bestimmtheit und Bestimmbares sind nach Cramer aber kategorial und ontologisch verschieden. Während die Artung ein Allgemeines für ein mögliches Viel von zu Bestimmenden sei, sei ein zu Bestimmendes ein Individuelles. „Einzelnes ist in einem ausgezeichneten Sinne das Bestimmbare und kann niemals eine Bestimmung werden.“ (IuK ) Existenz bzw. ein Existierendes ist Dies muss nach Cramer, recht betrachtet, in dem Maße ebenso für Kants „anonyme Subjektivität“ gelten, wie Kant selbst dieser Denken und Anschauen zuschreibe (Gb ). – Auch im Nachlass insistiert Cramer erneut darauf, dass Kants Unterscheidung von transzendentalem und empirischem Ich, „wie man auch die Sache wendet, im Zusammenhange der Gedanken Kants unverständlich“ bleibe (NL ). Verständnisprobleme bei Theoremen, wie der Rezeptivität der Anschauung, dem Sich-Zurechnen-Können von Erscheinungen durch ein Subjekt, für das sie Erscheinungen sind, oder bei der für Kants Moralphilosophie konstitutiven Annahme einer Pluralität von Subjekten, ließen sich nur „beseitigen, wenn das der Theorie Kants zugrundeliegende transzendentale Subjekt ein Subjekt ist, singuläres Subjekt, eines unter anderen und somit nicht das.“ (NL ) Cramer erkennt zwar an, dass mir das ‚dass‘ und das ‚wie‘ meines Erlebens bzw. Vorstellens „unmittelbar evident“ ist (M ). Philosophie als Denken frage allerdings nach der „Artung“ des Erlebens und ihrer „Bestimmtheit“ (M ), nach der Struktur des Erlebens bzw. Bewusstseins. Auch wenn nach Cramer wirklich existierend nur die Einzelnen, d. h. die vielen möglichen einzelnen ‚Fälle von …‘ sind, dürfen die Allgemeinbestimmungen nicht bloß als Abstraktionsbegriffe, d. h. als „eine Schöpfung des Verstandes eines einzelnen Subjektes“ verstanden werden (IuK ). Unmittelbar gilt dies nach Cramer für den Begriff des Subjekts selbst, sofern das sich als Subjekt tatsächlich denkende Subjekt als Einzelnes, nicht selbst durch sein subjektives Denken zu einem Fall von Denken bzw. Subjektivität gemacht haben könne: „Denn eben dasjenige, daß das Allgemeine zeugt, das Subjekt, ist ein Subjekt und ein Subjekt, das Verstand ist, also ein Einzelnes von allgemeiner Bestimmtheit, welche allgemeine Bestimmtheit nicht von ihm selbst gezeugt sein kann.“ (IuK ) „Der Lehre vom eidos ist nicht zu entgehen, soll irgendein Singuläres existieren.“ (Gb )
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nicht begrifflich auflösbar, d. h. nicht denkbar, sondern als Faktisches, Kontingentes, Zeitliches bloß vermeinbar, auch wenn es zugleich den Bezug auf Bestimmung, auf sein Vermeintwerden immer voraussetzt. Mit dieser Argumentation hat Cramer einen ersten Begriff von Individualität gewonnen: Individualität als Einzelheit. Individuen im Sinne von Einzelnen sind nicht durch einen je spezifischen „Inbegriff von Prädikaten“ charakterisiert (IuK ) bzw. nicht durch die Ungleichheit ihrer Prädikate voneinander unterschieden. Zwei Einzelne können unbeschadet ihrer individuellen Differenz sich in allen ihren Prädikaten vollständig gleichen. Einzelnes zu sein bedeutet mithin eine rein numerische Differenz, das bloße ‚dass‘ des zu Bestimmenden. „Im Gedanken ‚Ich‘ ist“, so Cramer affirmativ an Kants ‚ich denke‘ anschließend, „nichts als bestimmungslose Existenz gewußt“ (NL ). Weil Individuierung des Einzelnen mithin ein qualitätsloses Unterscheiden sei, bleibe es der Ableitung und dem Begreifen aus allgemeinen Bestimmungen entzogen und könne daher „allein durch Geben“ sein (Sp ). Diese Gegebenheit ist nach Cramer das Wesensmerkmal des Einzelseins. Auf ihr allein beruhe die Verschiedenheit zweier Einzelner, d. h. „die absoluten Aktionen [ihres Gebens] sind verschieden.“ (IuK ) II. Die ‚transzendentale Ontologie‘ als Theorie der Individualität Die Individualität des Subjekts erschöpft sich aber nicht im Gegebensein, im Existieren als ein durch allgemeine Bestimmungen Bestimmbares, im Einzelsein. Zwar ist das Ich als Einzelnes nach Cramer methodisch insofern ausgezeichnet, als es den einzigen Fall einer ursprünglich gerechtfertigten Transzendenzvermeinung darstellt – eben deshalb, weil alle Vermeinung selbst intrinsisch schon das Sein des Vermeinenden voraussetze. Hinsichtlich des Begriffs der Individualität als Einzelheit, als bloß numerische Differenz gilt dieser jedoch nicht allein für das Ich, sondern für jeden Gegenstand als ‚Fall von …‘. Die Analyse des Subjekts als individuell-wirkliches verlangt daher weitere grundlegende Bestimmungen, die die transzendentale Ontologie als „Theorie von der ontologischen Konstitution der Subjektivität“ entwickelt (Gl ). Nach Cramer besteht diese Bestimmung wesentlich in der zeitlichen Verfassung des singulären Subjekts. Dass das Ich in seiner transzendentalen Funktion, wie Kant gezeigt habe, die Erscheinungswelt-für-uns in der Anschauungsform der Zeit ideal produzieren kann, setzt nach Cramer eine ursprüngliche Zeitlichkeit des Subjekts, das die Erscheinungen hat, voraus, die selbst nicht Anschauungsform im kantischen Sinne sei: „Tätigung […] ist Zeitlichkeit, Zeit als Tun von Zeit.“ (M ) Diese Cramer bestreitet mithin den Erfolg von Kants Versuch, die äußere Zeitlichkeit, d. i. die Ordnung der Abfolge äußerer Erscheinungen, aus dem inneren Sinn, der Ordnung der Abfolge der
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Zeit aber, „die Subjektivität ist, ist nicht Form der Erscheinungen, nicht Form eines inneren Sinnes, nicht ‚Form für‘,“ sondern „transzendental real“, „eine Bestimmung des Subjekts an sich selbst“ (M ). Der Vollzug des Denkens und Vorstellens als Beziehen von Vorstellungen (Zeiterleben) ist mithin eine wirkliche Zeitordnung eigener Art, eine Identität des Subjekts als „Dauer“ (NL f.). Die reale Zeitlichkeit des erlebend-tätigen Hervorbringens der Welt als Erscheinung und des Subjekts selbst als sich begrifflich-bewusstes steht nach Cramer aber „in notwendiger Beziehung zu einem anderen Modus der Zeit, der äußeren Zeit“ (M ); sie ist m. a. W. konstitutiv an eine räumlich-zeitliche Ordnung, an die allgemeine Zeitordnung der Natur, „in der das Subjekt qua Nicht-Bewußtsein existiert“ (NL ), gebunden. D. h. zeitlich ist das (genuin einzelne transzendentale) Subjekt als leibliches, als leibgeistige Einheit. Leib- bzw. Körperlichkeit ist das (nach Cramer bei Kant unbestimmt bleibende) Andere der Subjektivität selbst. Damit ist der Begriff der Individualität als Einzelheit dahingehend fortbestimmt, dass ‚Gegebenheit‘ Gegebenheit in der äußeren raum-zeitlichen Ordnung bedeutet. Diese ist das „Vereinzelungsprinzip“ (M ), insofern das individuelle Existieren als Fall von Individualität betrachtet wird. Individuell im Sinne des Einzelseins ist das Subjekt mithin aufgrund der notwendigen Beziehung auf seinen Leib (vgl. M ); es ist individuiert „in Bezug auf seine Zeit-Raum-Stelle“ (M ). Indes ist mit der leibgeistigen Einheit des Subjekts noch ein zweites Moment des Individualitätskonzepts benannt: der Aspekt der Unteilbarkeit: Ein Individuum ist ein „unteilbares Einzelnes“ (IuK ). Individuumsein in diesem Sinne meint strukturell nicht ein bloßes Aggregat aus gleichartigen Vielen, sondern einen Zusammenhang, in dem jeder Teil Moment des Anderen und des Ganzen ist. Es ist
Vorstellungen, zu begreifen oder abzuleiten. Denn nicht nur bleibe der Kausalzusammenhang als Abfolge in der empirischen Welt, insofern er eine stets inhaltlich bestimmte Regelhaftigkeit darstelle, unverstanden (NL , vgl. M f.). Falsch (und offenbar Grund des diagnostizierten Fehlschlags) ist für Cramer auch Kants Analogisierung von innerer und äußerer Wahrnehmung, äußerer Sinnlichkeit und innerem Sinn. Der Begriff des Subjekts als Erscheinung im inneren Sinn impliziere die ungereimte Annahme eines „dem sich erscheinenden Ich“ korrespondierenden, den inneren Sinn affizierenden ‚Ich an sich‘. Ungereimt sei dies aber deshalb, weil dieses nichterscheinende ‚Ich an sich‘, prinzipiell unerkennbar sein muss und damit kein vom sich erscheinenden Ich mit sich identifizierbares Ich sein kann (M ). Der Nachweis dieser These beruft sich wiederum nicht auf eine ursprüngliche, unmittelbar gewisse Zeiterfahrung, sondern erfolgt erneut durch begriffliche Analyse des Verhältnisses von Allgemeinbestimmung und dem Fall-von-Kategorie-Sein, genauer: dem Fall von Subjektsein. Dieser für Cramers Projekt systematisch entscheidende Schritt bereitet ihm jedoch erhebliche Schwierigkeiten. Sowohl die Beweisversuche in Die Monade wie auch die bereits revidierten Nachweise in der Grundlegung einer Theorie des Geistes dafür, dass das ideale ‚Zeugen‘ des Subjekts den Leib und damit die äußere raum-zeitliche Ordnung als Vereinzelungsprinzip voraussetze, weist Cramer selbst wiederholt als ungenügend und fehlerhaft zurück (Gl ff.; NL). Entscheidender Ausgangspunkt für alle Versuche, auch einen letzten im Nachlass geführten (NL ff.), ist indes jeweils die konstitutive Individualität des ideal tätigenden Subjekts.
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„differenzierte Einheit“, „Vielfalt in der Einheit“ (M ). Denken und Körperlichkeit sind m. a. W. zwar nach Cramer kategorial verschieden, aber grundlegend und konstitutiv verbunden: Das Subjekt als Erleben „ist untrennbar auf seinen Organismus bezogen“ (M ); Erleben ist „Beziehen mit Bezug auf seine Bindung an seinen Organismus“ (M ). Oder wie Cramer auch sagt: Erleben ist vom Leib „determiniert“ (I ). Allein durch die „Hinsicht auf seine Determination“ durch den Organismus, sei ein „Zeugen“ von Perzeptionen als „gegebene Vorstellungen“, d. h. als rezeptive, möglich (Gl ). Nehme ich bspw. einen Stuhl wahr, bedeutet das nach Cramer, ich produziere die Vorstellung eines Stuhles als Gegenstand für mich und die ihn rezeptiv gebenden Sinneseindrücke ‚in Bezug auf‘ die physiologische Reaktion meines Auges auf einen eintreffenden Lichtstrahl, die beide selbst keine Erscheinungen sind. Dies gilt ebenso für die ideale „Produktion seiner Vereinzelung“, insofern ‚Erleben‘ ‚Zeugen‘ mit „Bezug auf das Individuumsein“, d. h. das Zeugen seiner Leiblichkeit, ist, das er als Körper in der raumzeitlichen Ordnung der Welt ist (M ). Cramer bestreitet dabei jegliche Trennung, wie sie im Gedanken eines Verursachungsverhältnisses zwischen Reiz und Sinneseindruck bzw. Vorstellung angenommen ist: Unsinnig sei es zu sagen, „es bestünde zwischen den Prozessen im Organismus und dem Erleben ein uns unbekannter kausaler Zusammenhang, den wir nie werden ergründen können. Wer so spricht, der hat schon Erleben und Organismus von einander getrennt“ (M ). Ebenso weist Cramer aber eine metaphysische Begründung der Einheit von Geist und Körper im Sinne von Leibniz’ prästabilierter Harmonie (M ) oder Spinozas Parallelismustheorem (Sp ff.) als bloße theoretische Verlegenheitslösung zurück. Gegen alle diese letztlich auf dualistischen Voraussetzungen beruhenden Theoreme plädiert Cramer für die unvermittelte Einheit der geistigen und leiblichen Vollzüge; das Individuum sei ein „ursprünglicher Zusammenhang“, ein „untrennbares Ganzes von Erleben und Organismus“: „Der Organismus ist Organismus des Individuums und das Erleben ist Erleben des Individuums. Man kann nicht nach dem Zusammenhange noch fragen, wenn das eine wie das andere nur unter der Bedingung des Zusammenhangs das eine und das andere ist.“ (M f.) Diese ursprüngliche Einheit des Individuums in seinen realen Vollzügen gilt nach Cramer nicht nur für die ideal-zeugende Tätigkeit des Erlebens, sondern auch für die praktische Aktivität, das Handeln des Individuums in der Welt durch seinen Leib: „Die volle und ganze Wirklichkeit ist das Tun der Monade, das monadische Verfügen über ihre Glieder.“ (M ) Daher sei auch die Frage, „wie es möglich sei, In diesem Sinne ist es nach Cramer ein wesentliches Defizit der Ontologie wie der Selbstbewusstseinstheorie Spinozas, dem „uns selbstverständlichen Wissen um den eigenen Körper“, der ursprünglichen „Possessivität des Körpers, seiner Zugehörigkeit zu mir“ nicht gerecht werden zu können (Sp , vgl. auch /). Ohne die Possessivität lasse sich aber auch die uns ebenso selbstverständlich gewisse Fähigkeit zu handeln nicht begreifen (Sp ).
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daß der ‚Geist‘ den Körper bewegen kann“, vollkommen unsinnig. Denn vielmehr sei das Tätige immer das „Individuum, das seiner Glieder mächtig ist“ und daher als leibliches handelt (M ): „Die ganze und volle Wirklichkeit des Tuns ist: ich greife, ich gehe, ich spreche.“ (M ) Aber auch mit dem Moment der Unteilbarkeit und der Einsicht in die leibgeistige Einheit des Individuums ist nach Cramer der Begriff der Individualität noch nicht erschöpft. Denn Voraussetzung dafür, dass das Individuum als leibgeistiges Wesen in den Naturzusammenhang handelnd eingreifen kann, sei die Fähigkeit, „sich als Individuum zu solchem Eingriff [zu] bestimmen“ (M ). Dies kann es nur dadurch, dass, wie vor allem der späte Cramer herausarbeitet, die Bedeutung von Individualität neben Einzelheit und Unteilbarkeit noch ein drittes Moment umfasst: Individualität als Einzigkeit bzw. Einmaligkeit des Einzelnen. Hierbei handelt es sich nach Cramer nicht um die Individuierung durch die „Raum- und Zeitstellen“, die ein Einzelnes qua Körperlichkeit einnimmt (IuK ). Aber ebensowenig beruhe die Individualität als Einmaligkeit, das hat sie mit der Einzelheit gemeinsam, auf „Ungleichheit“ (IuK ) oder individuellen Wesenseigenschaften, einem „Prädikatensystem“, das nur einem einzigen Subjekt zukomme (IuK /). Einzigartig, sich individualisierend ist ein Subjekt nach Cramer vielmehr durch den Akt des Selbstbeziehens bzw. Sichbestimmens. Ein Subjekt als Sichbestimmen ist als Fall der Kategorie Sichbestimmen ein Einzelnes; ein Einzigartiges ist es hingegen darin, dass jedes Einzelne, das Sichbestimmen ist, im Sichbestimmen „auf sich durch sich selbst bezogen ist, auf sich, das Einzelne“, und daher zugleich „anderes Einzelnes, das Sichbestimmen ist, als anderes und nicht als sich“ sich bezieht (IuK ). Jedes Einzelne, obwohl es wie vieles andere Einzelne auch ein Fall von Sichbestimmen ist, zeichnet sich nach Cramer m. a. W. selbst im konkreten realen Sichbestimmen für sich besonders aus. Es „spürt“ sich in allen Empfindungen, die es hat (IuK ). Seine Einmaligkeit ist gerade „dieses Innere selbst“ und entzieht sich als solches aller objektiven Bestimmung. Als reales Sichbeziehen ist ein Individuum ein einmaliges „Zentrum der Konzentration“, das sich das von ihm Verschiedene als ‚seine‘ Welt konzentriert (IuK ). Dieses Sichbestimmen im Modus der „Weltkonzentration“ ist nun nach Cramer nichts anderes als das ‚Erleben‘, das „Tätigen von Vorstellungen“. „Das Gezeugte ist aus dem Zeugenden bezogen, um dem Zeugenden zu sein.“ (IuK ) Während Individualität als Einzelheit prinzipiell allen bestimmten Gegenständen als ‚Fall von …‘ zukommt und Individualität als Unteilbarkeit allen lebendigen Wesen, ist Einmaligkeit daher erlebenden Wesen vorbehalten. Ein Individuum, das sich seines Sichbeziehens und damit seiner Individualität als seinem Wesensmerkmal bewusst ist, das also sich als sichbeziehend bezieht, d. h. das denken und sich denken kann, ist nach Cramer schließlich ein ‚Ich‘ oder eine ‚Person‘ (vgl. M /). Ein Ich ist sich bewusst, ein Fall von Ichheit zu sein, kann sich also über den allgemeinen Begriff des Ich und des Individuums auf sich be-
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ziehen. „Das Ich also ist sich dessen bewußt, ein Ich zu sein. Das Ich ist ein Ich und ist sich ein Ich. […] Ein Ich repräsentiert Ich und repräsentiert sich Ich.“ (M ) Aber Bedingung dafür bleibt seine die Einmaligkeit ausmachende Zentriertheit, die „nun, wenn auch begrenzt, das Kategorienreich selbst noch konzentriert“ (IuK ). Schon in Kants ursprünglich-synthetischer Einheit der Apperzeption, insofern in dieser die Identität des Ich als „Tätigen des Ich“ bestimmt sei (M ), sieht Cramer die ursprüngliche Zentriertheit erkannt, wenn sie auch fälschlicherweise einem allgemeinen Ich zugeschrieben wird. „Das Ich, das sich im Beziehen als Identisches herstellt, ist natürlich nicht der Begriff vom Ich, über den ich nachdenke, sondern das denkende individuelle Ich.“ (M ) Und nur als sich zentrierendes Ich hat ein Individuum „persönliche Freiheit“, Bewusstsein seines Tunkönnens und damit die Fähigkeit des willentlich-vorsätzlichen Wirkens als leibgeistiges Individuum (M ). Auch für Cramer gilt damit hinsichtlich des Sichbeziehens zunächst einmal, was Birgit Sandkaulen (, ) überzeugend für Jacobi gezeigt hat: Kants Einsicht in die zentrale Bedeutung eines nicht begrifflich bestimmbaren Fürmichseins wird dahingehend korrigiert, dass Cramer gegen die unpersönlich-allgemeine transzendentale Subjektivität in der kritischen Anverwandlung Leibniz’ das genuin singuläre Sein des Subjekts betont. Zugleich zeigt sich genau an dieser Stelle dann aber auch die entscheidende und grundlegende Differenz zwischen Cramer und Jacobi. Jacobis Schriften legen als Konsequenz dieser Korrektur den Akzent auf die der begrifflich-objektiven Analyse prinzipiell unzugängliche, nur in der Innenperspektive des konkreten Subjekts gegebene Gewissheit des ursprünglichen Fürsichseins eines Einzelnen, „die irreduzible Qualität der Jemeinigkeit einer Person“ und thematisieren diese im Modus des ‚Enthüllens‘ eines ursprünglichen Selbstgefühls. Obwohl (ausdrücklich zumindest der späte) Cramer ebenso die Unvertretbarkeit der Innenperspektive des Sichbeziehens und ihre konstitutive Bedeutung für das singuläre Subjekt als singuläres anerkennt, bleibt seine Behandlung des individuellen Subjekts als Einzigartiges bzw. Sichbeziehen hingegen gleichwohl – wie schon zuvor diejenige Leibniz’ (vgl. Sandkaulen , ) – ein objektiver Zugriff. Denn Cramers Philosophie als ganze fokussiert methodisch auf die allgemeinbegrifflich-strukturelle Reflexion des Verhältnisses von Bestimmtheit und zu Bestimmendem und thematisch auf die Objektivität der Welt als allen Subjekten gemeinsame (und daher auch die Harmonie ihrer je gezeugten, sich konzentrierten Welten garantierenden) Vereinzelungsordnung der Subjektivität. Cramer insistiert zwar wiederholt auf die Notwendigkeit, zwischen allgemeinem Begriff bzw. der Struktur des Individuumseins und wirklichem Individuumsein als Sandkaulen , . Die Charakterisierung seines philosophischen Anliegens als „Daseyn zu enthüllen“ findet sich bereits in Jacobis in den Spinozabriefen mitgeteiltem Gespräch mit Lessing (JWA ,: ).
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je einmaliges zu unterscheiden. Er bekommt das Individuumsein methodisch aber nur im Sinne des Einzelnen in den Blick, insofern dieser in der strukturellen Beziehung von Allgemeinbestimmung und ‚Fall von…‘ wenigstens als das Andere des Begriffs erfasst werden kann. Wie es für das einzelne Subjekt selbst ist, dieses singuläre zu sein, das als solches auf seine Welt sich bezieht, lässt sich auf diese Weise jedoch nicht thematisieren, weshalb das individuelle Fürmichsein in Cramers transzendentaler Ontologie auffallend ortlos bleibt.
III. Das Absolute und das Individuum Dieser doppelte Befund, Cramers systematische Ausrichtung am Problem des singulären Subjekts und das methodisch begründete Verfehlen eines entscheidenden Aspekts des Individuumseins, spiegelt sich schließlich, so soll abschließend noch kurz skizziert werden, auch in Cramers Entwurf einer metaphysischen Begründung der transzendentalen Ontologie wider. Denn dass das transzendentale Subjekt kein anonym-allgemeines bzw. absolutes, sondern ein Einzelnes ist, zeigt nach Cramer die Notwendigkeit seiner metaphysischen Gründung auf. Als Einzelnes könne das Subjekt nämlich nicht allein aus sich sein. Zugleich greife die Annahme seiner bloßen Faktizität für das Denken zu kurz. Vielmehr müsse ein Grund seines Seins angenommen werden. Damit setze es letztlich aber etwas voraus, was als letzter, absoluter Grund selbst nicht Einzelnes in diesem Sinne sei. Und weil Individuumsein von Cramer, wie gesehen, methodisch in der Relation von Bestimmtheit und zu Bestimmendem erschlossen wird und daher seiner mehrfachen Bedeutung zum Trotz vorrangig als Einzelnes thematisiert wird, bedeutet dies, dass die Ontologie der singulären Subjektivität auf eine Theorie des Absoluten als einer Theorie der Möglichkeit von Bestimmtheit, d. h. vom Begriff überhaupt verweist. Cramers metaphysische Logik steht damit vor der zentralen Aufgabe, einen Begriff des Absoluten zu entwickeln, der das Einzelne als solches ernst nimmt und der Zeitlichkeit individuellen menschlichen Daseins, das sich als freies und als leibgeistige Einheit weiß, gerecht wird. Nicht wegerklären, wie es Cramer für Spinoza und den sogenannten deutschen Idealismus diagnostiziert, sondern beantworten müsse die Philosophie m. a. W. die Frage, wie aus dem Absoluten als dem Prinzip aller Bestimmtheit heraus Zeitlich-Kontingentes, d. i. Einzelnes, seiendes Bestimmtes, das nicht notwendige begriffliche Bestimmtheit, sondern von einer begrifflich (kategorialen) Bestimmtheit ist, sein könne. Das Absolute muss nach Cramer daher nicht nur als immanentes Prinzip eines streng logisch „in sich zusammenhängenden Bestimmtheitskreises“ verstanden werden, sondern ebenso als transzendentes Prinzip des Zeitlich-Kontingenten (AuM f.; vgl. Sp f.), das dieses aus sich freilässt und zur Selbständigkeit bestimmt (vgl. Sp ). Oder aus Sicht
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des Endlichen: Dieses muss etwas sein, das „notwendig durch das Absolute […], aber nicht mit ihm notwendig“, nicht sein Moment ist, d. h. ein „nur mögliches Erzeugnis“ des Absoluten (AK ). Das Zeitlich-Endliche, so Cramer, ist notwendig aus dem Absoluten, falls es existiert; es muss aber nicht existieren. Existieren tue es nur als „freie Folge“, als „freie Tat Gottes“ (M ). Wie schon bei Spinoza ist daher das Absolute nach Cramer in zweifacher Weise Grund des Endlichen: Es ist ewiger und notwendiger Grund, weil es Grund der allgemeinen Bestimmungen ist, die das Endliche zu einem so und so bestimmten machen. Als ‚freie Tat‘ ist es zugleich aber auch Grund der Bestimmbarkeit des Endlichen durch die allgemeinen Bestimmungen, d. h. Grund seines Daseins und Wirkens. Anders als im Spinozismus soll dies jedoch so gedacht werden, dass das Absolute dabei ausdrücklich auch Grund seiner zeitlichen Singularität und Kontingenz als solcher ist. Ausdruck dieses gegen den Inhärenzgedanken Spinozas, aber auch Hegels gerichteten Anspruchs ist die Bestimmung des Verhältnisses von Absolutem und Singulärem als Schöpfungsakt: „Nur aus Schöpfung der Welt ist die Welt zu verstehen. Die Welt als Schöpfung zu verstehen, das ist eine Erkenntnis, ein wirklicher Schritt zu auf Gründe. Diese Erkenntnis ist viel tiefer gegründet als alle wissenschaftliche Erkenntnis.“ (M ) Die Welt als freie Schöpfung Gottes ist bei Cramer also der bewusste und systematisch notwendige Verzicht auf den begrifflich-begründenden Aufschluss des Verhältnisses von Absolutem und Endlich-Individuellem im Sinne des zu Bestimmenden, des Unbestimmten. Denn ein solcher Aufschluss würde in Bestimmtheiten verbleiben und auch das zu Bestimmende nur als Bestimmtes erfassen. Voraussetzung dafür ist nach Cramer aber ein in sich differenzierter Begriff des Absoluten selbst, dessen Momente im Gegensatz zu Spinoza nicht als Identität, sondern als ein durch es selbst in sich bestimmtes Bestimmtheitsgefälle zwischen seiner bestimmenden und seiner bestimmten Bestimmtheit, Prinzip und Prinzipiiertem, Essenz und Existenz verstanden werden. Im absoluten Grund selbst sei „noch die Differenz von Bestimmungen und dem, worauf sich letztlich alle Bestimmungen beziehen“, das Moment des Unbestimmten bzw. der Bestimmbarkeit, das nicht mehr Bestimmung ist, auch nicht die „Bestimmung, nicht Bestimmung zu sein“ (Gb f.). Soll das endliche Bestimmte, das einzelne Seiende als Folge aus der absoluten Bestimmung nicht dadurch letztlich ganz verschwinden, wie Cramer ausdrücklich bei Hegel und Spinoza diagnostiziert, dass die Unterscheidung von Kategorie und kategorial Bestimmtem selbst bloß eine der kategorialen Form ist (AuM ), muss m. a. W. bereits im Absoluten die Ordnung kategorialer Bestimmung und damit des Denkens transzendiert werden: Das Absolute muss „in sich selbst eine Differenz von absolutem Denken und möglicher absoluter Aktion sein. Das wieder erfordert, daß das Absolute sich selbst mit Notwendigkeit in das Moment der Möglichkeit differenziert, aus welchem Moment das Absolute mögliche Aktion ist. Die Aktion des Absoluten, die grundsätzlich,
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d. h. aus der Notwendigkeit des Absoluten selbst, vom absoluten Denken verschieden ist, ist ein Geben.“ (IuK ). Das Absolute ist nach Cramer nicht nur Selbstdenken, sondern entäußert sich als „Agere“ (Gb ), „setzt etwas von seiner Kraft in eine Form für ein mögliches Geben von Individuen von Form.“ (IuK ) Damit muss, so Cramer, aber die unbedingte Gültigkeit des Satzes vom zureichenden Grunde aufgehoben sein. Statt von einem letzten selbstgründenden Grund (causa sui) habe die Metaphysik ein „Grundloses“, einen gänzlich unbegründeten Grund, ein vom Selbstbestimmen „nicht erst durch es selbst gesetztes Moment des Seins“ im Absoluten anzunehmen als Ausgang seiner Selbstdifferenzierung (Sp /). Insofern das Grundlose als Transzendierung des Satzes vom Grunde gilt, darf es nach Cramer nicht als „etwas gedacht w[e]rd[en], das ist“, sondern muß als „Undenkbare[s] stehen gelassen werden“. Allerdings hat sich diese „Selbstaufgabe des Denkens“ gegenüber dem grundlosen Moment des Absoluten noch „im Denken selbst“ auszuweisen: „Es ist noch die ratio, welche sich durch die Irrationalität Grenzen setzt.“ (Gb ) Cramer ringt zeitlebens um die konkrete begrifflich-konzeptionelle Umsetzung dieser zunächst einmal programmatischen Überlegungen zur metaphysischen Rechtfertigung des Individuellen als Einzelnes und äußeres Zeitliches, letztlich ohne zu einer ihn selbst befriedigenden abschließenden Form zu finden. Die Frage, inwieweit in den verschiedenen Skizzen und Versuchen erfolgversprechende Ansätze vorliegen und ob bzw. inwiefern sich diese substantiell von zum Teil verwandten Versuchen in der nachkantischen Philosophie, wie Schellings Experimentieren mit einem ‚Ungrund‘, unterscheiden, bedarf andernorts einer eingehenden Analyse. Zwar zeigen alle diese Ansätze Cramers Verständnis dafür, dass sich das freie Handeln, Gottes und des Einzelnen, und damit die Gründung des Einzelnen in Gott der begrifflich-bestimmenden Behandlung und damit dem Wissen in dem Maße prinzipiell entzieht, wie es diesen in allgemeine Bestimmungen und bloß logische Verhältnisse verwandelt. Zugleich gilt nach Cramer eben jedoch genauso, dass das, was „nicht Begriff werden“ kann, dieses NichtBegriff-Sein „sich [nur] mittels des Begriffs“ ist (Gb ), weshalb Philosophie als begrifflich-kategoriale Analyse von Bestimmtheit überhaupt verfahren muss. Für eine solche bleibt es jedoch, unabhängig von ihrer konkreten Ausgestaltung, prinzipiell zweifelhaft, ob sie die entscheidende systematische Forderung gegen philosophische Systeme wie die Spinozas und Hegels erfüllen kann, die Differenz von Bestimmtheit und zu Bestimmendem nicht selbst als eine der kategorialen Form, d. h. als begriffliche Bestimmtheit zu erfassen. Deutlich zeigt sich diese vermutlich unauflösliche Schwierigkeit an Cramers These von der Zeitlichkeit des Absoluten selbst als Voraussetzung dafür, das endliche, individuelle Zeitliche als im Absoluten gegründet denken zu können: Denn mit dem Zeitmoment des Absoluten, seiner eigenen „qualifizierten Zeit“ (Sp ) ist nach Cramer gerade nicht Zeitliches gemeint, „wenn Zeitliches das ist, was anfängt und endet“ (Sp ),
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sondern „nunc stans oder Ewigkeit“ (Gb f.). Wie, ja vielmehr ob das Ewige Grund des Zeitlichen als Zeitliches sein kann, steht bei Cramer dann aber noch genauso infrage wie in der von ihm dafür kritisierten Philosophie Spinozas. Doch selbst wenn einem von Cramers verschiedenen Lösungsversuchen ein tragfähiger Ansatz zur metaphysischen Rechtfertigung des Individuellen, insofern es als Einzelnes, als qualitätsloses numerisches Viel in einer räumlich-zeitlichen Vielheitsordnung betrachtet wird, gelänge, bliebe gleichwohl festzuhalten, dass auch die Theorie des Absoluten das für die Individualität des konkreten Subjekts so entscheidende Moment des Fürmichseins nicht als solches in den Blick nimmt. Zwar gilt auch für das Absolute Cramers, dass es wie die Monade bzw. das endliche singuläre Subjekt ein „Beziehen auf sich“ ist (M ). Beide sind, insofern sie daher ursprünglich hervorbringende sind, „in ihrem unendlichen Abstand verwandt“: „Die vereinzelte Monade ist der urhebenden ‚ebenbildlich‘.“ (M ) Einmaligkeit im Sinne einer individuellen, sich von anderen dabei zugleich unterscheidenden Zentrierung qua Fürmichsein kommt dem Absoluten bei Cramer aber nicht zu, so dass auch mein mich als Einmaliges hervorbringendes Beziehen auf mich, das Cramer, wie gesehen, durchaus anerkennt, in der Theorie des Absoluten genauso ortlos bleibt wie in der transzendentalen Ontologie. Wie Cramer hatte bereits Jacobi im Namen des singulären Ich Spinozas Metaphysik der Inhärenz eine Metaphysik des Bruches, die sich als Schöpfungs- und Ähnlichkeitsverhältnis von Absolutem und endlichem Individuum artikuliert, entgegengesetzt und sie dabei zugleich als Alternative zu den Systementwürfen der nachkantischen Philosophie intendiert. Wie im Falle des Sichbeziehens bzw. Fürmichseins erfolgen die Gemeinsamkeiten zwischen Jacobi und Cramer, so zeigt damit auch Cramers Metaphysik, jedoch im Rahmen grundsätzlich verschiedener konzeptioneller Ansätze: Bei Jacobi folgt der Schöpfungs- und Ähnlichkeitsgedanke aus der Überzeugung, dass Spinozas Inhärenzmodell auf der Einsicht gründet, dass das das Wesen der Rationalität ausmachende Prinzip ‚a nihilo nihil fit‘ jeden „Uebergang des Unendlichen zum Endlichen“ ausschließt (JWA ,: ). Daher verzichtet Jacobi konsequenterweise ausdrücklich auf jeden Versuch einer systematisch-begrifflichen Erklärung und Herleitung des Individuellen aus dem Absoluten: „hier, wo jeder, auch der entfernteste Versuch, durch Analogien einer wirklichen Einsicht näher zu kommen, dem Irrthum entgegen schreitet,“ so Jacobi in der Zulage „An Erhard O.“ in Eduard Allwill’s Briefsammlung, sei „der hart anthropomorphisierende Ausdruck, als offenbar symbolisch, der Vernunft […] der liebste“ (JWA : f.), ja der einzig angemessene. Zwar wendet sich auch Cramer gegen Spinozas Leitgedanken, jedoch nicht durch einen generellen, sondern durch einen in sein philosophisches System integrierten Verzicht, d. h. als systematische Integration einer gegenüber Hegel radikaler und unbezüglich gedachten Negation (vgl. Gb ; Sp ), als Integration des „Irrationalen“ ins Logisch-Begriffliche selbst (Gb ). Für Cramers Metaphysik wird die Schöpfungs- und Ebenbildlichkeitsidee
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m. a. W. zum Ausdruck eines alternativen, als Theorie der begrifflichen Bestimmtheit entwickelten Systementwurfs, dem anders als Spinoza und Hegel die Gründung des Endlichen im Unendlichen, des Einzelnen im Allgemeinen dadurch gelingen soll, dass das Absolute selbst als der ‚absolute Unterschied‘ von kategorialallgemeiner Bestimmung und dem nichtkategorialen Sein als zu Bestimmendem, von Qualität und Unbestimmtem begriffen wird (vgl. Gb /).
Literatur Cramer, Wolfgang. [M] . Die Monade. Das philosophische Problem vom Ursprung. Stuttgart. – [Gl] . Grundlegung einer Theorie des Geistes. Frankfurt am Main. – [AK] . Das Absolute und das Kontingente. Frankfurt am Main. – [I] – . „Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus“. Kant-Studien : – . – [AuM] – . „Aufgaben und Methoden einer Kategorienlehre“. Kant-Studien : – . – [IuK] . „Individuum und Kategorie“ In: Einsichten. G. Krüger zum . Geburtstag, – . Frankfurt am Main. – [Sp] . Spinozas Philosophie des Absoluten (Die absolute Reflexion, Bd. ). Frankfurt am Main. – [Gb] . Gottesbeweise und ihre Kritik (Die absolute Reflexion, Bd. ). Frankfurt am Main. – [NL] . Die absolute Reflexion. Schriften aus dem Nachlaß. In Verbindung mit Titus Oliver Cramer herausgegeben von Konrad Cramer. Frankfurt am Main. Jacobi, Friedrich Heinrich [JBW] ff. Briefwechsel – Nachlaß – Dokumente, herausgegeben von Walter Jaeschke und Birgit Sandkaulen. Stuttgart. – [JWA] ff. Werke, herausgegeben von Klaus Hammacher und Walter Jaeschke. Hamburg/Stuttgart-Bad Canstatt. Koch, Oliver. . Individualität als Fundamentalgefühl. Zur Metaphysik der Person bei Jacobi und Jean Paul. Hamburg. Lambrecht, Rainer. . „Die Hegel-Kritik Wolfgang Cramers. Das Sein als der Punkt der Differenz“. Hegel-Jahrbuch : – . Reisinger, Peter. . „Wolfgang Cramers Destruktionsversuch der Hegelschen Dialektik“. In: Metaphysik nach Kant? Stuttgarter Hegel-Kongreß , herausgegeben von Dieter Henrich, – . Stuttgart. Sandkaulen, Birgit. . Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München. – : „‚Individuum est ineffabile‘. Zum Problem der Konzeptualisierung von Individualität im Ausgang von Leibniz“. In: Individualität. Genese und Konzeption einer Leitkategorie humaner Selbstdeutung, herausgegeben von Wilhelm Gräb und Lars Charbonnier, – . Berlin. – . Jacobis Philosophie. Über den Widerspruch zwischen System und Freiheit. Hamburg.
Jürgen Stolzenberg ÜBER HUMOR
I. Humor als Phänomen sui generis Überall ist von Humor die Rede: Soziologie, Psychologie, Anthropologie, Ethnologie, Pädagogik, Medizin und Pflegewissenschaft, Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft, Medienwissenschaften, Geschichtswissenschaft, Religionswissenschaft, Psychotherapie, kognitive Psychiatrie, sie alle sind zu nennen, und schließlich auch die Neurologie – allerdings werden die experimentellen Untersuchungen der Neurologie dadurch erschwert, dass man beim Lachen den Kopf nicht still halten kann. In Betrieben und Unternehmen ist der Humor-Coach an die Seite des Managementberaters gerückt. Und in der akademischen Lehre wird, gestützt auf die Gelotologie, die Wissenschaft vom Lachen, für Humor als „Alternative zur gähnenden Lehre“ geworben. Diese breite, bunte und verwirrende Fülle zeigt sich bei einem Blick in die seit erscheinende interdisziplinäre Zeitschrift Humor: International Journal of Humor Research. Bei einem zweiten Blick fällt aber noch etwas anderes auf. Der hier anzutreffende Begriff von Humor ist nicht nur auffallend weit, unüberschaubar komplex und verwirrend heterogen, sondern höchst einseitig. Das lässt sich wie folgt zeigen. Der Breite der Anwendung des Ausdrucks ‚Humor‘, die die moderne Humorforschung auszeichnet, entspricht der Umstand, dass ‚Humor‘ offenkundig als ein allgemeiner Oberbegriff verwendet wird. Er umfasst eine kaum überschaubare Menge von Phänomenen, die genauer als ‚Witz‘, ‚Spott‘, ‚Ironie‘ oder ‚Komik‘ zu bezeichnen sind. Deren gemeinsames Merkmal besteht darin, Lachen oder ein Lächeln hervorzurufen. Mit der extensionalen Breite geht die intensionale Armut einher: Mehr als eine Lachfunktion wäre mit dem Humorbegriff nicht zu verbinden. Diesem Befund entspricht nicht nur die in der modernen Humorforschung häufig anzutreffende These, dass der Humorbegriff sich gehaltvoll gar nicht definieren lässt, sondern auch die weitere, daraus unmittelbar abgeleitete These, „Alternativen zur gähnenden Lehre: Humor in der Wissensvermittlung“– so eine Seminarankündigung im Zentrum für Hochschuldidaktik (DiZ) im September (https://diz-bayern.de/ programm/aktuelles-programm). Humor. International Journal of Humor Research (Ford et al. ff.). Vgl. auch: Handbook of Humour Research, Vol. I: Basic Issues, Vol. II: Applied Studies (McGhee and Goldstein ) und Encyclopedia of Humor Studies (Attardo ) sowie Humor Scholarship. A Research Bibliography (Nilsen ). Hegel-Studien Beiheft · © Felix Meiner Verlag · ISSN -
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dass mit dem Begriff des Humors gar kein eigenständiges, begrifflich identifizierbares Phänomen gemeint sein kann, weil es ein solches Phänomen gar nicht gibt. Dass mit dieser These etwas nicht stimmt, zeigt die folgende Überlegung. Sie geht von einem sprachlichen Befund aus. Der Ausdruck ‚humorvoll‘ wird als ein Attribut verwendet, das den soeben genannten Phänomenen zugeschrieben wird. So spricht man von einem humorvollen Lachen und grenzt es von anderen Formen des Lachens wie einem verächtlichen oder spöttischen Lachen ab. Man spricht auch von einer humorvollen Ironie im Unterschied zu einer verletzenden, oder, wie man sagt, beißenden Ironie. Versteht man diese Phänomene nun als Fälle bzw. Anwendungen des Oberbegriffs ‚Humor‘, dann müsste man bereit sein, zwischen humorvollen und humorlosen Phänomen zu unterscheiden, was begriffslogisch unmöglich ist, wenn alle Phänomene Fälle von Humor sein sollen. Einige Phänomene wären solche Fälle, andere nicht. Der Fehler liegt darin, dass Humor ausschließlich in der Funktion eines ubiquitären Oberbegriffs verwendet wird. Dass eine solche Verwendung der Bedeutung der eben genannten Formulierungen nicht angemessen ist, ist offensichtlich. Unter einem humorvollen Lachen versteht man ein Lachen, in dem sich eine bestimmte geistige Haltung, eine innere Einstellung zur menschlichen Praxis ausdrückt. Und daraus folgt, dass die logische Funktion des Humorbegriffs nicht darin aufgeht, nur ein Oberbegriff zu sein. Der Humorbegriff bezeichnet vielmehr ein Phänomen sui generis. Versteht man Humor, wie es inzwischen weit verbreitet ist, als gleichbedeutend mit Ausdrücken wie comedy, comic, joke, wit, ridiculous, laughable, amusement, that’s funny und vielen anderen ähnlichen Ausdrücken, dann wird dem Humorbegriff seine phänomenerschließende Kraft genommen. Und damit wird denn auch ein neuzeitlicher begriffs- und theoriegeschichtlicher Zusammenhang ausgeblendet, in dem Humor zuerst als eigenständiges, höchst facettenreiches Phänomen menschlichen Lebens entdeckt und konzeptualisiert worden ist. Davon soll im Folgenden die Rede sein.
II. Humour und Humor Seit dem . Jahrhundert sind im Englischen die Ausdrücke good humour und bad humour geläufige Kennzeichnungen, die einen geistigen Habitus beschreiben, der sich in Stimmungen und Launen manifestiert. Darin ist noch die Herkunft des Ausdrucks ‚Humor‘ erkennbar. In der aus der antiken Medizin tradierten und bis Siehe hierzu den kritischen Überblick über Methoden der modernen Humordiskussion in Sindermann (, ff.). Die folgenden begriffslogischen Überlegungen greifen Sindermanns Ausführungen zu „Humor als Oberbegriff“ (Sindermann , ff.) auf. Eine begriffsgeschichtliche Rekonstruktion bietet Hörhammer (); vgl. auch Schüttpelz ().
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zum Beginn des . Jahrhunderts wirkungsmächtigen Humoralpathologie und Anthropologie bezeichnet ‚Humor‘ bzw. ‚Humores‘ die vier angenommenen Körpersäfte Blut, Schleim (Phlegma), gelbe Galle und schwarze Galle. Die Kombination der Eigenschaften der vier Grundelemente Feuer/heiß, Wasser/ feucht, Luft/kalt und Erde/trocken mit den vier Körpersäften liegt, je nach Dominanz einer der vier Humores, der Lehre von den Temperamenten sanguinisch, cholerisch, phlegmatisch und melancholisch zugrunde. Eine unausgewogene Mischung der Körpersäfte, heute würde man wohl sagen: ein gut funktionierender Stoffwechsel, galt seit der Antike als Ursache nicht nur für Krankheiten, sondern auch für einen labilen geistigen Habitus, der als good humour oder bad humour bezeichnet wurde (vgl. Schmidt-Hidding , ). Eine davon unterschiedene erweiterte, in der Folge dominant werdende Bedeutung von humour bezieht sich nicht mehr nur auf die psychosomatische Grunddisposition, sondern auf ein auffälliges, nonkonformistisches Verhalten, das sich in einer gewissen Exzentrizität eines Charakters, besonderen Ticks und Marotten in der Kleidung, beim Sprechen und im Gebaren ausprägt, das sich der Lächerlichkeit aussetzt und insbesondere in der Komödie zur Zielscheibe von Satire, Spott und Hohn wird. Ben Jonsons berühmte satirische Komödie Every Man out of His Humour aus dem Jahre ist in dieser Hinsicht klassisch zu nennen, und sie hat diese Auffassung von Humor in England bis weit über das . Jahrhundert hinaus geprägt (vgl. Schmidt-Hidding , ). Der Ausdruck humorous wird in der Folge zum Oberbegriff eines abnormen, exzentrisch-närrischen Verhaltens, das lächerlich wirkt, und das oft genug mit dem Gefühl einer spöttischen Überlegenheit auf Seiten dessen, der da lacht, gegenüber dem, der verlacht wird, verbunden ist. Ein grundlegender epochaler Wandel in der Auffassung von Humor vollzieht sich in den theoretischen Diskursen des . Jahrhunderts, des Jahrhunderts der Aufklärung. An die Stelle von Spott und Satire und der Haltung des Verlachens tritt ein humanes, von Zuneigung und Liebe getragenes Wohlwollen, das den exzentrischen Charakter nunmehr in seiner Eigenart wahrnimmt und akzeptiert und ihm durchaus edle und gütige Herzensempfindungen – very generous benevolent sentiments of heart – zuerkennt (vgl. Schüttpelz , ). Beispiele hierfür sind die Transformationen der Deutung der Figuren eines Falstaff und Don Quichotte, bei denen die moralisch verwerflichen bzw. überspannten Charakterzüge nunmehr ein wohlwollendes Verständnis finden (vgl. Hörhammer , f.). Humor wird zu einer Form der Sympathie, die aller Exzentrizität und Normwidrigkeit zum Trotz von der Überzeugung der prinzipiellen Vernünftigkeit und moralischen Güte des Menschen getragen ist, eine Überzeugung, die insbesondere durch die aufklärerische Theologie und Moralphilosophie verbreitet wird. Ihm entspricht ein tolerantes, wohlwollend-gütiges Lachen, ein Lachen ohne Bosheit.
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III. Laurence Sterne – „… it addes something to this Fragment of Live“ Unter denen, die ihrem Jahrhundert ein solches humorvolles Lachen gelehrt haben, ist vor allem Laurence Sterne und sein Roman The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentlemen zu nennen. Hier prägen sich die very generous benevolent sentiments of heart sowohl in den Figuren als auch in der literarischen Darstellung aus. Die Figuren, unter ihnen der verschrobene Landpfarrer Yorick, der, in gewissen Zügen ein Selbstporträt Sternes, nicht zufällig den Namen des Narren in Shakespeares Hamlet trägt und wie Don Quichotte auf einem mageren Klepper namens Rosinante reitet, deren Magerkeit er teilt, so dass sie beide, wie er meint, wie Zentauren eigentlich aus einem Stücke seien – solche Figuren sind „Rollenträger des Humors“ (Schmidt-Hidding , ), und zwar in dem Sinn, dass sie nicht nur wegen ihres Verhaltens von anderen belächelt und zugleich geachtet und geliebt werden, sondern selber auch bereit sind, mit anderen über sich selbst zu lachen. Humor ist bei Sterne nicht nur das Prinzip der literarischen Darstellung, die sich in der verwirrend unkonventionellen, diskontinuierlichen und selbstreflexiven Erzählweise mit zahlreichen Digressionen, Assoziationen, thematischen Verschlingungen und Verschränkungen verschiedener Zeitebenen ausprägt, Humor erscheint hier auch als Prinzip der geistigen Haltung, die dem Roman zugrunde liegt. Es ist die Betrachtung einer Welt, deren Ordnung durch das Handeln nonkonformistischer Sonderlinge zwar gestört wird, aber doch nicht aus den Fugen gerät. Dass dies nicht geschieht, dass dem Kontingenten, Abseitig-Ideosynkratischen und Normwidrigen eine eigenständige Bedeutung mit Blick auf das umfassende, stets als sinnvoll begriffene Ganze des Lebens zuerkannt wird, dafür sorgt der humanitär gesonnene Humor, der zum Ausdruck des toleranten und freiheitlichen Geistes der europäischen Aufklärung wird. In diesem, aber nicht nur in diesem Sinne nannte Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches, dem Buch für „freie Geister“, Laurence Sterne den „freiesten Schriftsteller aller Zeiten“ (KSA : f.). Mit den genannten Merkmalen gewinnt der moderne Humorbegriff eine Kontur, die ein eigenständiges Phänomen in den Blick bringt. Doch ist er damit noch nicht hinreichend beschrieben. Wesentliche Züge sind zu ergänzen. Man findet sie in der Widmung, die der Autor Sterne ([] , ; dt. Übers. , ) seinem Roman vorangestellt hat. Der Autor, so heißt es da, lebt und schreibt in einem Nebenwinkel des Königreichs – „in a bye corner of the kingdom“ –, unter einem abseits und einsam gelegenen Strohdach – „in a retir’d thatch’d house“ – und im ständigen Bemühen, sich gegen die Beeinträchtigung einer schlechten Gesundheit und anderer Übel des Lebens zur Wehr zu setzen, mit einem fröhlichen, heiteren Sinn – „in a constant endeavour to fence against the infirmities of ill health and other evils of life – by mirth“. Denn, so lautet die offensichtlich über die Eigenart der literarischen Darstellung weit hinausreichende Begründung, er sei fest davon überzeugt, dass, so oft der Mensch lächelt, aber noch mehr, wenn er lacht,
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dadurch diesem Fragment des Lebens etwas hinzugefügt wird, oder: es um etwas vergrößert wird: „being firmly persuaded that every time a man smiles, – but much more so, when he laughs, it addes something to this Fragment of Life“. Hier ist mehreres bemerkenswert: Beschrieben wird, unter Anspielung auf die aus der Philosophie der Antike bekannte Lebensform der vita contemplativa, eine Haltung, die das Ganze des menschlichen Lebens in den Blick nimmt, und die insofern als Welt-Humor bezeichnet werden kann. Sie ist zum einen durch die geographische und geistige Distanznahme und dem aus dieser Distanz auf die Übel der Welt gerichteten Blick charakterisiert, zum anderen durch Distanz zu sich selbst, aus der die eigene Gebrechlichkeit und die Widrigkeiten des Lebens in den Blick genommen werden, hier auf eine übrigens leicht erkennbare, ihrerseits humoristisch gefärbte hypochondrische Weise. Die finale Bemerkung, die Bemerkung, dass dem Fragment des Lebens mit dem humorvollen Lachen etwas hinzugefügt wird, ist offenbar die zentrale Aussage. Will man ihren Gehalt etwas genauer beschreiben, dann wäre das Folgende zu sagen: Humor erscheint als eine geistige Haltung, deren Leistung darin besteht, auf die Unvollkommenheit, Endlichkeit und Gebrechlichkeit, mit einem Wort, auf die Kontingenz des menschlichen Lebens in einer bestimmten Weise zu reagieren, nämlich so, dass das Fragmentarische des Lebens auf die Idee von einem damit kontrastierenden integralen Ganzen, das hier im Übrigen gar nicht näher charakterisiert wird, in der Weise bezogen wird, dass es die Idee dieses sinnhaften Ganzen in jeweils gebrochener Gestalt an ihm selber repräsentiert – und in dieser Beziehung ‚vergrößert‘ wird. Auf diese Weise gewinnt es einen positiven Wert. Unter dieser Perspektive hat das Lachen des Humors einen doppelten, besser gesagt, einen doppelbödigen Gehalt. Es ist Ausdruck der Einsicht, dass die Inkongruenz zwischen dem Fragmentarisch-Defizienten und dem integralen Ganzen unter den Bedingungen der Endlichkeit nicht aufgelöst werden kann. Zum anderen drückt sich in ihm die Einsicht aus, dass unter dieser Perspektive der Schmerz der Endlichkeit ein Stück weit gemildert werden kann. Das Lachen des Humors ist daher eher ein Lachen unter Tränen, ein Lachen, das, wie es im Vorwort weiter heißt, zumindest einen Augenblick die Schmerzen vergessen lässt.
Der Kölner Witz vom Tünnes, der sich immer wieder, in genau bemessenen Pausen, mit einem Hammer auf den Finger schlägt und auf die besorgte Frage seines Kumpels Schäl, warum er das denn tue, mit einem schmerzlich-verklärten Lächeln zur Antwort gibt, dass es ein so schönes Gefühl sei, wenn der Schmerz nachlasse („et es e su schön Jeföhl, wann’t dann ophöt“), erscheint als die volkstümlich-derbe, hintersinnig-selbstreflexive, ihrerseits humorvolle Interpretation eben dieses Sachverhalts: der schmerzlindernden Haltung des Humors. Den Witz erzählt Heinrich Lützeler (, ).
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IV. Jean Paul – Humoristische Subjektivität Lassen sich mit Blick auf Laurence Sterne die wesentlichen Merkmale, die den modernen Humorbegriff auszeichnen, präzisieren, so kann von einer eigenständigen Theorie gleichwohl nicht die Rede sein. Es ist die epochale Leistung und das Verdienst Jean Pauls, im sachlichen Anschluss an Laurence Sterne in seiner Vorschule der Ästhetik ([] ) als erster den Ansatz einer systematisch begründeten Theorie des Humors entwickelt zu haben. Sie hat die Diskussion über Jahrzehnte bestimmt. Der sachliche Anschluss ergibt sich aus der zitierten Bemerkung Laurence Sternes, dass das Lachen des Humors dem Fragment des Lebens etwas hinzufügt, es um etwas vergrößert, wodurch es, so darf man hinzufügen, einen positiven Wert erhält. Diese Bemerkung erfährt durch Jean Paul eine neue, subjektivitätstheoretisch begründete Interpretation. Jean Pauls Theorie des Humors ist, wie der von ihm selbst geprägte Titel lautet, eine Theorie humoristischer Subjektivität (Jean Paul [] , §, ff.). Damit trägt sie dem Sachverhalt Rechnung, dass Humor eine geistige Haltung oder Einstellung ist, die von einem Subjekt unterhalten wird. Hinsichtlich der Methode der Begründung der neuen Theorie folgt daraus, dass die Haltung des Humors aus der subjektiven Perspektive, der Perspektive der Ersten Person, erklärt werden muss. Genau das tut Jean Paul, und zwar auf folgende Weise. Da die Rede von einer Vergrößerung des Fragments den Bezug auf die Idee von einem integralen Ganzen einschließt, bietet sich der in der idealistischen Philosophie, in deren Rahmen Jean Paul sich bewegt, gebräuchliche Terminus der Unendlichkeit an. Ihm ist der Begriff der Endlichkeit korreliert, der im vorliegenden Kontext die Existenzweise eines konkreten individuellen Subjekts beschreibt. Soll nun die Idee der Repräsentanz des Ganzen in Gestalten der Endlichkeit als eine Leistung humoristischer Subjektivität verstanden werden können, dann muss sie auch sich selber als den Urheber dieser Idee begreifen. Das heißt, sie muss sich selber als Urheber der Inkongruenz zwischen dem endlichen und unendlichen Aspekt und der Repräsentanz des Unendlichen im Endlichen zugleich begreifen. „Folglich“, so lautet die entscheidende Aussage in der Jean Paul’schen Skizze einer Theorie humoristischer Subjektivität, „folglich setze ich mich selber in diesen Zwiespalt […] und zerteile mein Ich in den endlichen und unendlichen Faktor und lasse aus jenem [dem endlichen] diesen [den unendlichen] kommen.“
Zu Jean Pauls Theorie des Humors in seinen Romanen und der Vorschule der Ästhetik vgl. neuerdings Koch (, bes. – ; dort auch neuere Literatur), aus der älteren Literatur zu Jean Pauls Theorie des Humors vgl. Profitlich () und (), sowie Oschatz (). In der Nähe der Humortheorie Jean Pauls hält sich auch die Studie von Ritter (, bes. ff.).
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Und weiter heisst es: „Da lacht der Mensch, denn er sagt: ‚Unmöglich! Es ist viel zu toll!‘“ (Jean Paul [] , §, ). Dieses Lachen ist die Reaktion auf ein Verfahren, das, wie es Jean Paul ausdrückt, in Form eines „umgekehrten Erhabenen“ mit der „kleinen Welt“, die die je eigene ideosynkratisch verfasste, endliche und begrenzte Lebenswelt ist, die „unendliche Welt auszumessen und zu verknüpfen“ unternimmt (Jean Paul [] , §, ). Das dabei aufkommende Lachen ist indessen kein spöttisch-verächtliches Lachen. Es ist ein tiefgründig-verstehendes, den Zwiespalt nicht überspielendes Lachen. Ihm eignet, so Jean Paul ([] , §, ), „noch ein Schmerz und eine Größe“. Der Schmerz und die ernsthafte Größe dieses Lachens, „die tragische Maske“, wie Jean Paul ([] , §, ) es nennt, unter der die humoristische Subjektivität auftritt, haben einen doppelten Grund: zum einen die Einsicht, dass der Kontrast zwischen beiden Perspektiven nicht zu überwinden und insofern selber unendlich ist; zum anderen die Idee, dass in der je begrenzten Gestalt des Lebens ein wenn auch verzerrtes Bild des „Glanzsaale[s] und des Sternenhimmel[s] der Unendlichkeit“ (Jean Paul [] , §, ), wie Jean Paul es metaphorisch ausdrückt, wahrgenommen werden kann. Unter dieser doppelten Perspektive befreit das Lachen des Humors ‚für einen Augenblick‘ von der existenziellen Härte des nicht zu tilgenden Kontrasts beider Ansichten.
V. Realismus des Gefühls Tritt man einen Schritt zurück und fragt nach dem theoretischen Kontext, aus dem die Annahme jener Dimension des Unendlichen systematisch gerechtfertigt werden kann, dann sieht man sich an die Philosophie Immanuel Kants, genauer Kants Theorie der Vernunft, verwiesen. Als eine indirekte Bezugnahme auf Kants Lehre von den Ideen der Vernunft ist es zu verstehen, wenn Jean Paul ([] , §, ) von einem „unendlichen Kontrast zwischen den Ideen (der Vernunft) und der ganzen Endlichkeit selber“ spricht, von dem die Theorie des Humors ihren Ausgang nehme. Unter einer Idee der Vernunft versteht Kant bekanntlich eine begriffliche Vorstellung, die sich auf ein umfassendes Ganzes bezieht. Begriffe von Ideen, so lässt sich sagen, sind Projekte der Vernunft, denen aufgrund ihrer universalen Allgemeinheit eine Abschlussfunktion zukommt: Mit ihnen findet die der menschlichen Vernunft von Natur aus innewohnende Suche nach Rechtfertigungsgründen für ihre theoretischen und praktischen Überzeugungen eine letzte Antwort. Beispiele sind die Idee von Gott als das „Wesen aller Wesen“ (AA V: ) oder die Idee der Freiheit als Autonomie als oberstes Prinzip der Sittlichkeit. Kants berühmtes Diktum: „Aus so krummem Holz, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden“ (AA VIII: ), ist ein Beispiel für den unendlichen Kontrast zwischen der Idee der Vernunft, hier ist es die Vernunftidee
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der Freiheit als Prinzip moralischer Autonomie auf der einen Seite, und der Endlichkeit der menschlichen Existenz samt ihren je individuellen Neigungen, Vorlieben, Bedürfnissen und Trieben auf der anderen Seite, die das Tun und Lassen bestimmen und mit dem, was moralisch geboten ist, oftmals konfligieren. Und es ist zugleich ein Beispiel für die Haltung des Humors des Humoristen Kant, der mit einem leisen und weisen Lächeln die Gebrechlichkeit und Endlichkeit der menschlichen Natur betrachtet und zugleich die Würde, die dem Menschen als moralischem Wesen zukommt, anerkennt, die ihm einen, wie es bei Kant heißt, „unbedingten, unvergleichlichen Wert“ verleiht (AA IV, ). In diesem Kontext hält sich Jean Pauls Theorie des Humors. Ein entscheidender und tiefgreifender Dissens darf indessen nicht übersehen werden. Er betrifft die Existenz der Gegenstände, auf die sich die Ideen der Vernunft beziehen und ihre personale Zugangsweise. Während für Kant Vernunftideen Begriffe sind, denen, eben weil sie Totalvorstellungen sind, kein Gegenstand der Erkenntnis in Raum und Zeit entspricht, ist die Wirklichkeit von Vernunftideen Jean Paul zufolge in der Weise eines unmittelbaren Gefühls zugänglich. Jean Pauls Theorie des Humors hat ihr epistemologisches Fundament genauer in dem, was man einen Realismus des Gefühls nennen kann. Dem liegt der auch von Friedrich Heinrich Jacobi, Jean Pauls Cicerone in Sachen Philosophie, vertretene Gedanke zugrunde, dass es gewisse ideelle Gegenstände gibt, von deren Existenz eine unmittelbare und zweifelsfreie Gewissheit besteht, die sich in der Form eines Gefühls ausdrückt, ein Gedanke, den auch Fichte, wohl von Jacobi inspiriert, sich zu eigen gemacht hat (vgl. GA I,: ff.). Die Art des Gegebenseins dieser Gegenstände im Modus eines individuell erlebten und authentisch beglaubigten Gefühls wird als Anzeige darauf interpretiert, dass ihnen eine nicht nur subjektivideale, sondern eine davon unabhängige reale Existenz zukommt. So ist die Idee moralischer Autonomie wirklich im Gefühl des Gewissens, das als Kriterium der Moralität von Handlungen dient. Und auch die Idee eines Grundes, aus dem das fragmentarisch-endliche Leben seine letzte Rechtfertigung erhalten kann, erscheint in Form eines Gefühls, das den Gehalt dieser Idee auf eine unbedingte, Sinn verbürgende Instanz bezieht. Dafür steht neben anderen der Name Gott bzw., so Jean Paul, die „Idee einer unendlichen Gottheit“ (Jean Paul [] , §, ). Dieser Idee erweist der Humor seine Reverenz. Der Konzeption eines Realismus’ des Gefühls liegt Jean Pauls Bemerkung zugrunde, dass wir stets „auf etwas Reales“ dringen, das das „Ur-Letzte und Ur-Erste“ genannt wird, ein Reales, „das wir nicht schaffen, sondern finden und genießen und das zu uns, nicht aus uns kommt“ (Jean Paul [] , : III. Kantate-Vorlesung: Über die poetische Poesie). Das erklärt noch einmal die für den Humor grundlegende, nicht zu überwindende Der Humor, so drückt es Jean Paul ([] , §, ) in der Vorschule der Ästhetik aus, verlässt „den Verstand […], um vor der Idee fromm niederzufallen“.
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Spannung zwischen dem endlichen und unendlichen Aspekt der menschlichen Existenz. Der von Jean Paul ([] , ) sogenannte „Realismus unserer Gefühle“ begründet auch die Überzeugung, dass die Wirklichkeit des Lebens sich zureichend gar nicht durch Leistungen vernünftigen Denkens, und das heißt auch, durch ein geschlossenes System der Vernunft erschließen lässt, sondern „überall ein Übergewicht des Realen“ bleibt (Jean Paul [] , ). Das Übergewicht des Realen ist denn auch der Grund dafür, dass das, was wir suchen, „weniger die Erklärung, als die Ergänzung unseres Wesens“ ist (Jean Paul [] , ). Genau das, nicht die unmögliche rationale Erklärung, sondern die Ergänzung unseres endlichen, je individuellen Wesens, oder, wie es bei Laurence Sterne hieß, die Vergrößerung des Fragments des Lebens, leistet der Humor. VI. Sören Kierkegaard – Humor und Glaube Jean Paul hat die humortheoretischen Diskurse seiner Epoche und darüber hinaus nachhaltig inspiriert. Das gilt auch für die Humortheorie Sören Kierkegaards. Man muss fragen, wie sie sich zu derjenigen Jean Pauls verhält. Der Humor Kierkegaards, vor allem in den inhaltlich wie darstellungsästhetisch höchst komplexen Überlegungen des Humoristen Johannes Climacus in der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift zu den Philosophischen Brocken ([] ), ist dadurch charakterisiert, dass er die Sphäre des Endlichen nicht verlässt, sondern in ihr verharrt, und zwar im Bewusstsein davon, dass der Schmerz über das Leiden und die Hinfälligkeit der Existenz mit zum Existieren gehören, dass sie wesentlich andauern und insofern auf eine existenzielle Grunderfahrung verweisen. Humor, so notiert bereits der junge Kierkegaard in seinem Tagebuch, „ist nicht ein ästhetischer Begriff, sondern Leben“ (Kierkegaard [ – ] , ). Dem ist genauer nachzugehen. Humor erscheint in der Sicht Kierkegaards als eine spezifische Möglichkeit zu leben, präziser, eine Form der Reaktion im Umgang mit der Grundverfassung der conditio humana. Sie ist antagonistischer Natur: Sie besteht in der Erfahrung von Glück und Not, von Zuversicht und Verzweiflung, Erfolg und Scheitern, Selbstbestimmung und Abhängigkeit, um nur einige Aspekte zu nennen. Diese Antagonismen lassen eine zweifache Reaktion zu: die Reaktion des Komikers, der sich von den unauflösbaren Widersprüchen durch Ironie entlastet, und die tragische Reaktion, die Reaktion des von Kierkegaard (GW IV: – ) sogenannten „Ritters der Resignation“, der an den Widersprüchen und ihrer Unauflösbarkeit leidet und zugrundegeht (vgl. Bongardt , ). Der Humor, der „reife“ Hu Zu Kierkegaards Theorie des Humors vgl. Rugenstein (, ff.). Zum Verhältnis Jean Paul – Kierkegaard vgl. Kleinert (, – ).
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mor, hält ein Gleichgewicht zwischen dem Komischen und Tragischen, indem er die Erfahrung der konfligierenden Wechselfälle des Lebens nicht ins LächerlichUnbedeutende zieht, an ihnen aber auch nicht zerbricht, weil er ihre Unausweichlichkeit und existenzielle Last zwar ernst, aber nicht zu wichtig nimmt und in einem versöhnlichen Scherz zu relativieren vermag. Gerade darin besteht Kierkegaard zufolge jedoch die Begrenztheit des Humors. Der Humor begreift Leiden zwar als Existenzial, „[a]ber an diesem Punkt“, so Kierkegaard (GW II: f.), „macht dann der Humorist die betrügerische Wendung und widerruft das Leiden in der Form eines Scherzes. […] Er rührt im Schmerz das Geheimnis der Existenz an, dann aber geht er wieder nach Hause.“ Das Geheimnis der Existenz, von dem hier die Rede ist, besteht darin, dass das Leiden eine unaufhebbare Grunderfahrung menschlichen Lebens ist. Leiden meint genauer die Erfahrung, dass beides, Glück und Not, Widerfahrnisse sind, die nicht in unserer Macht stehen. In diesem umfassenden Sinn ist Leiden das unhintergehbare Faktum des Lebens zu nennen. Das begreift der Humor, aber, so könnte man mit Kierkegaard sagen, er will es nicht wahrhaben, er will sich existenziell nicht darauf einlassen, ja, so Kierkegaard (GW II: f.), es ist ihm „nicht der Mühe wert, sich darauf einzulassen“. Deswegen macht er kehrt – und geht wieder nach Hause. Und dort hält er sich in einer „Doppelreflexion“ auf (vgl. Rugenstein , ff.; hier zit. n. S. , Anm. ), so lautet Kierkegaards Ausdruck, die zwischen dem existenziellen Pathos, dem Tragischen, und einer reflektierten Komik hin und her oszilliert. Würde er sich auf das Leiden wirklich einlassen, dann, so Kierkegaard, würde er erkennen, dass in dem Existenzial Leiden noch ein anderer und tiefgründigerer Sachverhalt zum Ausdruck kommt, der durch die Begriffe Schuld und Sünde zu beschreiben ist, die der menschlichen Existenz von Grund auf eingeschrieben sind. Und dann würde er die Bedeutung eines anderen Faktums erkennen, des Faktums nämlich, dass er sich nicht aus eigener Kraft von seiner Schuld befreien kann. Dies kann nur von einer ihm unendlich überlegenen, göttlichen Macht ausgehen, die dem, der an sie und an die Erlösungstat des Gottessohnes glaubt, die Schuld vergibt. Zu dieser Einsicht gelangt der Humor nicht, vorher dreht er bei, kehrt um und bleibt bei sich. Daher ist der Humor das „letzte Grenzzeichen (terminus a quo) in bezug auf das christlich Religiöse“, dessen Lebensform dem Humor nicht zugänglich ist (GW X: ).
Es verwundert nicht wenig, in einer Tagebuchnotiz Kierkegaards die These formuliert zu finden, dass gerade im Christentum das Humoristische liege, und dass dies in einem Satz ausgedrückt werde, in dem gesagt wird, dass die Wahrheit im Geheimnis verborgen ist (hen mysterion apokryphe). Damit sei nicht etwa gemeint, dass sie sich in einem Geheimnis findet. Dass sie im Geheimnis verborgen ist, das sei die Lebensanschauung, „welche die Klugheit der Welt im höchsten Grade humorisiert, und damit von der geläufigen Auffassung Abstand nimmt, dass „die Wahrheit im Geheimnis offenbart zu sein [pflegt]“ (Kierkegaard [ – ] , ).
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Man kann fragen, und dies ist in der Forschung auch geschehen, ob Kierkegaards Beschreibung des Humors und seines Verhältnisses zum Glauben wirklich zu überzeugen vermag. Der Humor, so Kierkegaard, ist „der höchste Bereich des Komischen“ (GW II: ), eben deswegen ist er auch „nicht wesentlich von der [dem Bereich des Komischen zugeordneten] Ironie verschieden“ (GW I: ). Denn wie die Ironie ist der Humor wesentlich durch ein Sich-Zurücknehmen, eine in Distanz tretende Haltung charakterisiert. Diese den Humor charakterisierende Distanz erlaubt indessen eine andere als die eben vorgestellte Interpretation. Sie führt den Humor aus der Zugehörigkeit zum Bereich des Komischen heraus und in den des Glaubens hinein. Und damit gelangt sie wieder in die Nähe der Humorkonzeption Jean Pauls. Befreit man den Humor aus seiner Zugehörigkeit zum Bereich des Komischen, dann liegt er nicht, wie Kierkegaard es sieht, immer nur vor dem Glauben, sondern ist mit ihm aufs engste verbunden: Der Glaube selber nämlich kann das Fundament eines von Humor getragenen Verständnisses der conditio humana sein. Er erlaubt es, die Endlichkeit und Gebrechlichkeit der menschlichen Natur durchaus ernst, aber nicht tragisch-ernst zu nehmen. Denn die vom Glauben getragene Heilsgewissheit sieht das endliche menschliche Leben unter der Perspektive der Zugehörigkeit zu eben jenem ‚Glanzsaal und Sternenhimmel der Unendlichkeit‘, wie Jean Paul die Idee einer ‚unendlichen Gottheit‘ metaphorisch umschrieben hat. Unter dieser Perspektive erscheinen die Konturen des endlichen, gebrechlichen und schuldhaft beladenen Lebens gleichsam in einem weicheren, milderen Licht, dessen Quelle nicht aus dem Leben selber stammt, das an ihm aber seinen sichtbaren Widerschein hat. Das ist die Haltung des Humors, der sich vom Komischen emanzipiert hat. Der zu sich selbst gekommene Humor oszilliert nicht zwischen einem existenziellen Pathos und einer Distanz nehmenden Komik, die immer vor dem Glauben stehen bleibt. Vielmehr hält er die beiden absolut unterschiedenen Sphären – das leidvoll-kontingente Leben und die im Glauben erfahrene Heilsgewissheit – zusammen. Aus der Reflexion auf den Einheitssinn dieser beiden wechselseitig sich bedingenden Sphären gewinnt der Humorist seine Stärke und sein humanes Lächeln, in dem gleichwohl, mit Jean Paul zu sprechen, noch ein Schmerz und auch eine Größe liegen: ein Schmerz, weil das Leiden nicht negiert, sondern als Grunderfahrung des Lebens anerkannt wird, und eine Größe, die aus dem unerschütterlichen Vertrauen auf die Wirklichkeit einer Dimension kommt, die dem endlichen Leben unendlich überlegen ist, die gleichwohl in ihm präsent ist und aus der es seine letzte Rechtfertigung erhält. Das verstehende Lächeln des Humors erscheint dann als Ausdruck einer Haltung, die von der Einsicht getragen wird, dass es für die Wirklichkeit und Wirksamkeit der Einheit dieser „Der Humor ist nicht der Glaube, sondern liegt vor dem Glauben […]“ (GW XVI: ). Zum Verhältnis Religion und Humor vgl. Dober () sowie Thiede ().
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beiden absolut unterschiedenen Sphären kein rationales Prinzip, keine ratio sufficiens, gibt. An die Stelle einer theoretischen Erkenntnis dieses Einheitssinns tritt eine dem kontingenten Leben und seinen individuell gebrochenen Erscheinungsformen sympathetisch zugewandte Gestimmtheit, die sich in einem verstehenden Lächeln äußert. Diese paradoxe, logisch unbegreifliche, und deswegen zu Recht irrational zu nennende Einheit beider Sphären ist im Glauben als Faktum präsent und in ihm wirksam: Sie grundiert das Leben. Der Humor, der mit dem Glauben verbunden ist, ist daher Ausdruck der Gewissheit von der Wirklichkeit und Wirksamkeit einer rational unverfügbaren Einheit absolut unterschiedener Sinndimensionen. In dieser Einheit weiß das endliche und zerbrechliche Leben sich geborgen, und in ihr erhält es seinen Glanz und seinen unendlichen Wert.
VII. Konstellationen nach Jean Paul und Hegel Nicht nur in theoriegeschichtlicher, sondern auch in systematischer Hinsicht ist es lohnend, den Linien der Diskussion, die von der auf Jean Paul zurückweisenden Konzeption eines Welt-Humors ausgehen, noch ein Stück weit zu folgen. Das soll im Folgenden geschehen. Die der Sache nach an Jean Paul anschließenden humortheoretischen Diskurse sind bis heute weitgehend terra incognita geblieben. Dabei gäbe es einiges zu entdecken. Sie bilden eine theoretische Formation, auf die die Methode einer Konstellationsforschung angewendet werden kann. Sie geht dem argumentativen Zusammenhang miteinander vernetzter Debatten nach, die sich mit Bezug auf einen gemeinsamen Problemkern entfaltet haben. Die HumorDebatten der idealistischen und nachidealistischen Epoche bilden eine solche Konstellation. Sie spannt sich zwischen zwei Theoriezentren auf: der Humortheorie Jean Pauls und der Philosophie Hegels, die hier ins Spiel kommt. Das Interessante und systematisch Brisante dieser Konstellation ist in mehreren polemisch aufeinander bezogenen Formationen zu sehen. Die erste Formation besteht darin, dass Hegel den Humor in seiner Ästhetik einseitig als eine literarische Darstellungsweise thematisiert und ihn, mit einem tadelnden Blick insbesondere auf Jean Pauls dichterisches Werk, aufgrund der Dominanz einer in seiner Sicht übersteigert subjektiven, die Objektivität des Stoffs tendenziell auflösenden Darstellungsweise einer recht unfreundlichen Kritik unterzieht (TWA : ). Die zweite, dem entgegengesetzte Formation besteht darin, dass einige Schüler Hegels den von Jean Paul theoriefähig gemachten Begriff des Humors mit den operativen Mitteln Hegels, aber gegen Hegels Kritik, als eine eigenständige geistige Haltung zu rehabilitieren suchen. Dies geschieht indessen, und dies ist die dritte Formation, zugleich in einer kritischen Auseinandersetzung mit Jean Paul. So verbindet sich in dieser Konstellation die Kritik der Humortheorie Jean Pauls mit einer impliziten Hegel-Kritik, die beide auf dem begriffli-
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chen Terrain der Hegel’schen Philosophie ausgetragen werden. Man muss fragen, wie das zugeht und ob das gut geht. Um es gleich zu sagen: Es geht nicht gut, und es kann auch nicht gut gehen. Die Begründung lautet kurz gefasst wie folgt. Den beiden Zentren der Konstellation liegen einander ausschließende begriffliche Modelle zugrunde. Sie lassen sich schlagwortartig durch den Gegensatz zwischen der unaufhebbaren Differenz von unbedingter Idee und vielfach bedingter Erscheinung auf der einen Seite, ihrer behaupteten Einheit auf der anderen Seite beschreiben. Dem entspricht auf der einen Seite die Betonung des Kontrasts zwischen der Sphäre des je individuellen, fragmentarisch-defizienten menschlichen Lebens und der Idee eines integralen, Sinn verbürgenden Ganzen, eines Kontrastes, der durch die Haltung des Humors nicht aufgehoben, sondern gleichsam nur entschärft und existenziell erträglich gemacht wird. Die andere Seite wird durch Hegels Konzept des Geistes dominiert. Ihm liegt bekanntlich der Gedanke einer vollständigen Darstellung und Objektivierung der Idee im Bereich der Erscheinung zugrunde. Diese Idee liegt auch Hegels weniger geläufigem, systematisch wichtigen Begriff eines objektiven Humors zugrunde. Im Gegenzug zu dem des kritisch gefassten subjektiven Humors bezeichnet Hegels Begriff des von ihm nur zögernd sogenannten objektiven Humors die Synthesis einer vollständigen Durchdringung der subjektiven Darstellungsweise und der objektiven Verfassung der Realität und ihrer Gehalte. Sie kann sich in der Sicht Hegels allerdings „nur partiell […] etwa nur im Umfange eines Liedes oder nur als Teil eines größeren Ganzen äußern“ und kommt auch über ein „empfindungsvolles Sich-Ergehen des Gemüts in dem Gegenstande […], eine [bloß] subjektive geistreiche Bewegung der Phantasie und der Herzens“ nicht hinaus (TWA : ). Goethes West-östlicher Divan vermag auf diese Weise, so Hegel, „die Seele hoch über alle peinliche Verflechtung in die Beschränkung der Wirklichkeit hinaus[zu]heben.“ (TWA : ) Ob dies eine dem Gehalt und der Eigenart der Goethe’schen Dichtung angemessene Deutung ist, sei dahingestellt. Es ist klar, dass das Phänomen des Humors, wie es Laurence Sterne und Jean Paul wahrgenommen und beschrieben haben, und auch wie es oben, unter kritischer Bezugnahme auf Kierkegaard, skizziert worden ist, unter dem Modell des Hegel’schen Geistbegriffs keine angemessene Interpretation finden kann. Denn nicht die ungebrochene, versöhnliche Darstellung der Idee in der Erscheinung, sondern die Brechung und das Wissen um die nicht zu überwindende ontologische Differenz beider ist die Signatur des hier zur Darstellung gebrachten Humors. Und so kann auch der Geistbegriff Hegels gar nicht sinnvoll gegen die Humortheorien, die sich von Sterne und Jean Paul herschreiben, in Stellung gebracht werden, weil der Hegel’sche Geistbegriff das, worauf er zielt, gar nicht trifft. Dies lässt sich mit wenigen Zügen anhand der folgenden Beispiele verdeutlichen. Ohne in eine direkte Diskussion mit Jean Paul, den er mehrmals nennt, einzutreten, beschreibt der Junghegelianer Arnold Ruge in seiner nicht zufällig so
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genannten Neuen Vorschule der Ästhetik unter der Leitung des Hegel’schen Geistbegriffs im Blick auf die weltgeschichtliche Bedeutung des Christentums, die, so Ruge, in der „Versöhnung des Endlichen und Ewigen“ bestehe, ausschließlich die harmonisierende Funktion des Humors, insofern er die Erscheinungen des Individuellen bescheiden, versöhnlich und „mit Liebe begleitet“ (Ruge [] , ). Darin sieht Ruge den „paradiesische[n] Friede[n] erreicht“ (Ruge [] , ). Eine Gegenposition hierzu nimmt der Spätidealist Christian Hermann Weiße ein, indem er gegen Ruges Harmonisierung und, was bemerkenswert ist, auch gegen den Totalitätsanspruch des Hegel‘schen Geistbegriffs die abgründig-tragische Dimension und die nicht aufzulösende „Negativität des Humors“ (Weiße [] , ) einklagt. Sie ist und bleibt die Folie, vor der der Humor „den Keim des von ihm angestrebten unendlich erhabenen Ideales erblickt“ (Weiße [] , ). Wiederum auf der Basis des Hegel’schen Geistbegriffs löst der weithin und ganz zu Unrecht vergessene Hegelianer Friedrich Theodor Vischer Jean Pauls humoristischen Kontrast zwischen dem endlichen und unendlichen Aspekt auf dem Wege eines wenngleich schmerzhaft durchlebten Prozesses der Selbsterkenntnis auf, an dessen Ende die Haltung eines wahrhaft freien Humors stehen soll, in dem die individuell durchlebten Dissonanzen sich in einer allgemeinen intersubjektiven Anerkennung auflösen sollen, die das Fundament eines freien Staatslebens sein soll, um, wie Vischer, von einer politisch-utopischen Vision beflügelt, mit rhetorischem Pathos und in einer nun politisch gefärbten Variante des Hegel’schen objektiven Humors ausführt, „sich den Genuss ihrer unendlichen Freiheit [zu] geben“ (Vischer [ – ] , ). An die Stelle jenes dem Endlichen verpflichteten, deswegen stets gebrochenen Welt-Humors tritt mit einer solchen Konzeption der Vereinigung Freier und Gleicher eher das von Schiller visionär gefeierte Gefühl der Freude, unter deren sanftem Flügel alle Menschen Brüder werden. Dafür steht der Jean Paulsche Welt-Humor nicht ein. Damit sind die Konturen einer Konzeption von Humor deutlich geworden, deren systematische Bedeutung dem entspricht, was Immanuel Kant auf den letzten Seiten seiner Kritik der reinen Vernunft unter dem Titel eines Weltbegriffs der Philosophie beschrieben hat. Der Weltbegriff der Philosophie betrifft das, so Kant, „was jedermann notwendig interessiert“ (KrV B). Das, was jedermann notwendig interessiert, ist die Frage, auf welchen letzten Zweck das menschliche Leben ausgerichtet sein soll. Und die diesbezüglich entscheidende Frage lautet, noch einmal mit Kant: „Ist ein Gott?“ (KrV B). Der Humor, von dem in den vorstehenden Überlegungen die Rede war, der von Jean Paul sogenannte WeltHumor, entspricht dem kantischen Weltbegriff der Philosophie. Er reagiert auf das, was jedermann notwendig interessiert und worin der letzte Zweck des menschlichen Lebens zu setzen ist. Auf die Frage „Ist ein Gott?“ antwortet der Humor nach
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dem Weltbegriff wohl mit einem Ja, aber dieses Ja ist nicht der Ausdruck einer objektiv gültigen Erkenntnis, mit der er sich von der Welt und ihren peinlichen Verflechtungen in die Beschränkung der Wirklichkeit abwendet und nach Hause geht. Es ist vielmehr eine Affirmation, die aus der Einsicht kommt, dass das menschliche Leben sich nicht aus seiner empirisch wahrnehmbaren Verfassung allein verstehen lässt und im Sinne eines gelingenden Lebens geführt werden kann. Die die menschliche Lebensführung grundierende Haltung des Humors ist ohne den Bezug auf eine Dimension nicht denkbar, die in der Tradition der klassischen Philosophie am Unverfänglichsten als Dimension des Unbedingten bezeichnet werden kann. Darauf verweist der Humor, der dem endlichen, gebrechlichen und zerbrechlichen Leben mit einem Lächeln ein Stück hinzufügt. Dabei gesteht er den Hiatus irrationalis, um hier ein Wort des späten Fichte zu verwenden, zwischen der Sphäre jenes Unbedingten und der Sphäre seiner je konkreten, endlichen und vielfältig gebrochenen Erscheinung ein. Eben daraus gewinnt er seine Stärke. Die Philosophie des Humors des . Jahrhunderts hat diesen Gedanken nicht überboten. Die moderne Humorforschung hat ihn schließlich aus dem Blick gebracht.
VIII. Der lachende Demokrit und der weinende Heraklit Die letzte Etappe des Streifzugs durch Formationen des modernen Humorbegriffs soll ein humoristisches Nachspiel aus dem Bereich der antiken Literatur und Bildenden Kunst sein, das in sachlicher wie historischer Sicht ein Vorspiel ist. Die dramatis personae sind der lachende Demokrit und der weinende Heraklit. In kontrastierenden, aber komplementären Rollen verkörpern sie das Lachen unter Tränen, das für die Haltung des Humors charakteristisch ist. Hier finden sich einige der Elemente, die in der modernen Humorforschung im Vordergrund stehen. Der ionische Naturphilosoph Demokrit gilt als der ‚lachende Philosoph‘ (vgl. Rütten , ). Als primäre Quellen für diese Typisierung werden eine verlorene Schrift Demokrits über die physiologischen Ursachen des Lachens – Peri gélotos – und die sogenannte Euthymia-Lehre genannt, die in Demokrits Schrift Peri Euthymies – „Über die Seelenruhe“ – überliefert ist. Mit ihnen bekennt sich Demokrit zu einer harmonisch-heiteren, durch positive Lustgefühle gesteigerten Gemütsstimmung als dem höchsten menschlichen Gut. Während Cicero in De oratore Demokrit in Zusammenhang mit der Theorie des Witzes als prominenten Naturforscher und Spezialisten für die Physiologie des Lachens zitiert, tritt er unter Vgl. hierzu Buck (, bes. Kapitel I.: „Democritus ridens et Heraclitus flens“, ff.) sowie Rütten (, bes. ff.) und Müller (). Vgl. Rütten (, ) und die Diskussion der Herkunfts-, Rezeptions- und Interpretationsgeschichte von Ciceros Erwähnung Demokrits sowie die damit verbundene Problematik der Kennzeichnung Demokrits als lachenden Philosophen.
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der dichterischen Regie des Horaz in der Rolle des distanzierten zeit- und gesellschaftskritischen Satirikers auf, dessen spöttisches Lachen sich an der Dekadenz der Spätzeit der römischen Republik bzw. der beginnenden römischen Kaiserzeit, insbesondere an der Sensationslust des Theaterpublikums entzündet (Rütten , f.). Mit Seneca, vermittelt über dessen Lehrer Sotion, erhält der lachende Demokrit einen Partner in der Figur des weinenden Heraklit (Rütten , f.). Beide durchschauen die Gebrechlichkeit, die Torheiten und die Fehler der Menschen, der eine verlacht sie spöttisch, der andere beweint sie, aus Mitleid. Die klassische Stelle aus Senecas Schrift De ira – „Über den Zorn“ – lautet übersetzt wie folgt: So oft Heraklit ausgegangen war und so viel[e] Menschen rings um sich elend leben, vielmehr elend zugrunde gehen gesehen hatte, weinte er und empfand Mitleid mit allen, die ihm fröhlich und glücklich begegneten, in seiner milden, aber allzu schwachen Gesinnung: auch er selbst gehörte zu den Beklagenswerten. Demokrit dagegen soll sich niemals ohne Lachen in der Öffentlichkeit gezeigt haben; so sehr schien nichts ihm ernsthaft von dem, was ernsthaft betrieben wurde. Mit Seneca erhält die Dualität von Lachen und Weinen vor dem Hintergrund der stoischen Ethik und Affektenlehre zum ersten Mal eine Deutung, derzufolge sie als komplementäre Seiten einer ihre einseitige Ausübung überwindenden Grundhaltung erscheinen, die dem Ideal des stoischen Weisen, der Ataraxie, der abgeklärt-heiteren Gelassenheit entspricht. Als deren modernes begriffliches Äquivalent erscheint der Humor. Der Philosoph, der das Spiel auf der Bühne der Welt betrachtet, soll denen, die das Stück, das man Leben nennt, spielen, eine Hilfe sein. Er soll, so sieht es Seneca, für das Vertrauen darauf werben, dass das Spiel weitergeht und insgesamt gut endet. So ist der Philosoph derjenige, der sich maskiert. Seine Maske zeigt ein heiteres Gesicht, die das stets präsente Wissen um die Not, die Vergänglichkeit und Hinfälligkeit des Lebens verbirgt. Dem Lachen des Demokrit sind die Tränen des Heraklit beigemischt. Das Lachen als Maske des seine Tränen verbergenden Philosophen, das ist der Typus des stoischen Weisen, und das ist auch die Haltung des Humors.
„Heraclitus quotiens prodierat et tantum circa se male viventium, immo male pereuntium viderat, flebat, miserebatur omnium qui sibi laeti felicesque inter deplorandos erat. Democritum contra aiunt numquam sine risu in publico fuisse; adeo nihil illi videbatur serium eorum quae serio gerebantur.“ Bemerkenswert ist, dass Lachen und Weinen hier als weise Überwindung der Macht der Affekte gelten, wie der Fortgang des obigen Zitats zeigt: „Ist da für Zorn ein Ort, wo entweder alles lächerlich ist oder beweinenswert? Nicht wird zürnen der Weise den Fehlenden.“ („Isticcine irae locus est ubi aut ridenda omnia aut flenda sunt? Non irascetur sapiens peccantibus.“; Seneca, De ira, II, , f.). Vgl. hierzu Rütten (, f.). Das antithetische Verhältnis Demokrit/Heraklit ist auch in Senecas Schrift Peri Euthymies – „Über die Seelenruhe“ – thematisch.
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Bemerkenswert ist, dass in der Folge die von Seneca entworfene Einheit dieses Typus aufgelöst wird und erst in der Moderne mit Jean Paul und die an ihn anschließende Tradition eine neue, subjektivitätstheoretisch begründete Fassung erhält. Die Auflösung wird sichtbar in einer Radikalisierung der Gestalt des Demokrit und des demokritischen Lachens. Dies geschieht durch eine Überblendung der Gestalt des Demokrit mit den aggressiveren Zügen des Kynikers Diogenes von Sinope. Bereits in der Antike wurde Demokrit eine Geste zugeschrieben, die ihn mit Diogenes verbindet. Das ist das bekannte obszöne Zeigen des ausgestreckten Mittelfingers, eine Geste, die sich ursprünglich gegen die Macht der Dämonen richtete. Der Satiriker Juvenal beschreibt das Verhalten Demokrits in diesem Sinn wie folgt: Ja, er [Demokrit] verlachte die Sorgen und auch die Freuden der Menge, Manchmal auch ihre Tränen, und hieß das drohende Schicksal sich zum Henker zu fügen und wies ihm den schamlosen Mittelfinger. Diese Geste wird, etwa bei Diogenes Laertius, auch Diogenes zugeschrieben (s. hierzu Rütten , ). Sie drückt den provokativen Affront gegen gesellschaftliche Konventionen und Normen aus; zugleich will sie ein Plädoyer für eine befreite Sinnlichkeit sein. Diese Geste wird von dem in der Kunstgeschichte wenig beachteten Maler Johan Pauwelzson Moreelse ([?]–), Sohn des Malers Paul Janzsoon Moreelse ( – ), in die Gebärdensprache des . Jahrhunderts übersetzt: als Faustschluss mit ausgestrecktem erstem und viertem Finger, bekannt unter dem Namen Mano cornuta, Devil horns (‚Teufelshörner‘), Teufels- oder Satansgruß (Abb. ). Hier erscheint Demokrit als jugendliche Renaissance-Gestalt, die mit einem spitzbübisch-spöttischen, ja diabolischen Lachen mit eben dieser Geste auf den Globus, über den sie sich beugt, zeigt. Es ist die Haltung der „astronomischen Ansicht des Welttreibens“, wie Jean Paul es nannte, der in der Nachfolge Juvenals die Züge der kynischen Weltsicht und Lebenshaltung, das schamlos-provokante Verspotten von Heuchelei und Widersinn im Treiben der Welt, eingeschrieben werden. Die Verbindung Demokrits mit dem Kyniker Diogenes wird sinnenfällig in einem zeitgleichen Bild von Hendrick ter Brugghen ( – ; Abb. ), das den Titel „Mann mit Hund“ trägt, aber offensichtlich den ‚kynischen‘ bzw. ‚hündischen‘ Philosophen Diogenes darstellt, in einer bereits in der Antike erwähnten, in gewisser Weise schamlosen und ungepflegten Aufmachung, die demonstriert, dass „Ridebat curas nec non et gaudia volgi, interdum et lacrimas, cum Fortunae ipse minaci mandaret laqueum mediumque ostenderet unguem.“ (Juvenal: Satiren, Edition Lorenz , ). Erwähnenswert ist, dass bei Juvenal zum ersten Mal im Bereich der Satire Demokrit und Heraklit als Paar auftreten (vgl. Müller , ).
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ihm die geltenden ethischen Werte nichts bedeuten. In der Kleidung, der entblößten Schulter und dem spöttischen Lachen ähnelt dieser Diogenes dem Demokrit Moreelses – und der Darstellung des Demokrit ter Brugghens. Im Kontrast dazu steht der „Weinende Heraklit“ des Johan Moreelse (Abb. ), der, ebenfalls über den Globus gebeugt, angesichts der menschlichen Schwächen, Dummheit und Irrtümer verzweifelt die Hände ringt. Dass beide, der lachende Demokrit und der weinende Heraklit, zusammengehören und die komplementären Seiten einer Weltsicht darstellen, wenngleich noch nicht in der sie verbindenden neuen Einheit, die die Einheit der Haltung des modernen Humors wäre, zeigt das Bild von Johan Moreelse (Abb. ). Als Kommentar mag das folgende antike Epigramm gelten. Es endet mit Fragen, deren Beantwortung dem humorvollen Leser überlassen sei: Weine über das Leben noch mehr, Herakleitos, als zu Lebzeiten! Heut ist das Leben ja wohl jammererregend wie nie. Lache über das Leben, Demokritos, mehr noch als früher! Heut ist das Leben ja wohl lächerlich-spaßhaft wie nichts. Ich aber blicke auf Euch und frage mich, zwischen Euch stehend: Wie soll ich zugleich mit dir weinen, wie zugleich mit dir lachen?*
Zur näheren Diskussion der Berührungspunkte der Lehren Demokrits und Diogenes’ etwa im materialistischen Charakter der Lehre von der Autarkie und der Haltung der Heiterkeit sowie der Rolle der literarischen Gattung der römischen Satire bei Juvenal und Lukian vgl. Rütten (, ff.). τὸν βίον, Ἡράκλειτε, πολὺ πλέον ἤπερ ὅτ᾽ ἔζης,δάκρυε: νῦν ὁ βίος ἔστ᾽ ἐλεεινότερος.τὸν βίον ἄρτι γέλα, Δημόκριτε, τὸ πλέον ἢ πρὶννῦν ὁ βίος πάντων ἐστὶ γελοιότερος. εἰς ὑμέας δὲ καὶ αὐτὸς ὁρῶν, τὸ μεταξὺ μεριμνῶ,πῶς ἅμα σοὶ κλαύσω, πῶς ἅμα σοὶ γελάσω. (Anthologia Graeca , , Beckby ()). Die letzte Zeile folgt dem Übersetzungsvorschlag von Rütten (, , Anm. ). Zu diesem Epigramm und seiner Bedeutung für die Tradierung des Topos vom lachenden Demokrit und weinenden Heraklit vgl. auch Rütten (, ff.). * Der vorliegende Text ist die in Teilen überarbeitete Fassung meiner Abschiedsvorlesung an der Philosophischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg vom . Juli .
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Abbildungen
Abb. : Johan Pauwelszon Moreelse (? – ): Der lachende Demokrit
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Abb. : Hendrick ter Brugghen ( – ): Mann mit Hund [Diogenes]
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Abb. : Johan Pauwelszon Moreelse (? – ): Der weinende Heraklit
Abb. : Johan Pauwelszon Moreelse (?–): Demokrit und Heraklit
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Guido Kreis DAS MUSIKALISCHE SUBJEKT
Am Ende der vorletzten Klaviersonate von Franz Schubert wird der Fluss des musikalischen Geschehens durch eine Sequenz von mehreren dicht aufeinander folgenden Pausen derart konsequent und vehement zersetzt, dass Abschluss und Einheit des Satzes und damit des musikalischen Werkes insgesamt radikal infrage stehen. In der Abfolge dieser Pausen konstituiert sich Schuberts Klaviersonate als musikalisches Subjekt. Unter einem musikalischen Subjekt verstehe ich ein musikalisches Werk, das sich in seinem Verlauf auf sich selbst bezieht und dabei zugleich selbst thematisiert. Diese Interpretationshypothese möchte ich in den folgenden Überlegungen begründen. Ich werde zunächst anhand einer Detailanalyse der Pausensequenz in Schuberts vorletzter Klaviersonate erläutern, inwiefern dieser Passage Selbstbezug und Selbstthematisierung zugesprochen werden kann; die Grundlage dieser Überlegungen wird eine Unterscheidung mehrerer Arten von Pausen in der Musik sein (I). In einem zweiten Schritt diskutiere ich einige der Anforderungen, die Schuberts Pausensequenz an die ästhetische Erfahrung stellt; hier wird insbesondere die Unterscheidung von musikalischem Scherz und musikalischem Ernst eine Rolle spielen (II). Im dritten Abschnitt werde ich meine Verwendung des Ausdrucks ‚musikalisches Subjekt‘ durch Abgrenzung gegen verschiedene andere Verwendungsweisen präzisieren; in diesem Zusammenhang verteidige ich meine Interpretationshypothese insbesondere gegen den naheliegenden Einwand, dass Musik aufgrund ihrer nicht-sprachlichen und nicht-darstellenden Verfassung als Zeichensystem gar kein Medium der Selbstreflexion sein kann (III). In einem kurzen abschließenden Teil werde ich als weiteres Beispiel eine Passage aus dem Kopfsatz von Schuberts letzter Klaviersonate vorstellen (IV).
I. Schuberts musikalische Pausen Manchmal, wenn man Musik hört, bricht das, was man hört, einfach ab, obwohl es noch nicht zuende ist. Dann ist eine Pause eingetreten, und das ist häufig Anlass zur Überraschung. Ein sehr spezielles Beispiel ist der Contrapunctus XIVaus der Kunst der Fuge von Bach. Das Stück besteht aus drei auf einander folgenden Einzelfugen mit drei verschiedenen, gegeneinander abgesetzten Themen: zunächst ein langHegel-Studien Beiheft · © Felix Meiner Verlag · ISSN -
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GUIDO KREIS
sames, siebentöniges Thema in langen Notenwerten, dann ein fließendes Thema in einer durchgehenden Achtelbewegung, und schließlich als drittes Thema das B A C H-Thema. Im Anschluss an die drei einzelnen Fugen geht das Stück in einen Durchführungsteil über, in dem die drei Themen zum ersten Mal zusammen gespielt, und zwar übereinander gelegt werden. Nach genau sieben Takten bricht die Musik ab. In Aufführungen dieses Stücks, die notengetreu wiedergeben, was Bach im Manuskript notiert hat, ist dieser Abbruch unmittelbar nachzuvollziehen. Wer das zum ersten Mal unvorbereitet hört, erschrickt. Der unvermittelte Abbruch der Musik hat aber eine einfache Erklärung. Wenn man das Originalmanuskript der Kunst der Fuge zurate zieht, findet sich genau an dieser Stelle der von Carl Philipp Emmanuel Bach hinzugefügte Eintrag: „Über dieser Fuge, wo der Name B A C H im Contrasubject angebracht worden, ist der Verfasser gestorben.“ Der Komponist hat das musikalische Werk aus letztlich kontingenten Gründen nicht abschließen können. Es ist ein für das Werk selbst äußerlicher Umstand, der den Abbruch der Musik schlüssig erklärt. Ich schlage vor, diese Stelle als Beispiel für einen ersten Typus von Pausen in der Musik zu nehmen, und zwar für die unmusikalischen Pausen. Dass die Fuge hier abbricht, hat keinen musikalischen Grund; es ist der Fuge selbst ganz äußerlich. Wo die Pause eintritt, ist die Musik aus kontingenten Gründen zuende. In der unmusikalischen Pause fehlen sowohl die Klangereignisse als auch die Musik. Deshalb sind derartige Pausen auch gar keine musikalischen Pausen im engeren Sinne. Dennoch ist es nützlich, dieses Phänomen des unmusikalischen Abbrechens als Kontrastfolie im Blick zu behalten. Die normalen musikalischen Pausen sind rhetorische Pausen. Der Ausdruck ‚rhetorisch‘ ist dabei metaphorisch gebraucht. Das Klanggeschehen eines Musikstücks wird hier in Analogie zur menschlichen Rede gesetzt und als musikalische Redeweise aufgefasst. Die menschliche Rede enthält normalerweise immer auch Pausen: Kurze Pausen zwischen Sätzen oder Satzteilen, manchmal sogar zwischen Worten, indizieren Zäsuren; sie verdeutlichen die syntaktische Gliederung und markieren die Sinneinheiten. Ohne derartige Pausen könnten die sprachlichen Ausdrücke und ihre Bedeutung nicht oder nur schwer ausgedrückt und verstanden werden, wie man an den Sprachen merkt, in denen sie nicht oder nur selten vorkommen (wie etwa dem Dänischen). Pausen können in der menschlichen Rede auch gezielt als rhetorisches Mittel des Ausdrucks, der Betonung oder der Spannungserzeugung verwendet werden; dann sprechen wir von rhetorischen Kunstpausen.
Vgl. die letzte beschriebene Seite von Beilage zu Bachs Originalmanuskript der Kunst der Fuge, Staatsbibliothek zu Berlin, Mus.ms. Bach P /, Faszikel , Blatt recto. Eine digitalisierte Kopie dieser Seite findet sich online unter (letzter Zugriff am . März ).
Das musikalische Subjekt
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Vergleichbares finden wir auch in der Musik. Die häufigsten rhetorischen Pausen sind die Prägnanzpausen. Hinreichend kurze Pausen setzen zum Beispiel Akzente im Verlauf einer Melodie, die der Prägnanz dienen. Jede staccato artikulierte Note in einer Melodie führt im Effekt eine (wenn auch noch so kleine) Pause in den Fluss ein. In dem Lied „Kuckuck, Kuckuck, ruft’s aus dem Wald“ pausiert die Melodie zweimal unmittelbar hinter den beiden Kuckucksrufen für je eine Zählzeit, nicht nur, um den Kuckucksruf in den Dreiertakt einzubinden, sondern auch, um den Ruf plastisch herauszustellen. Im ersten Teil des „Neugierigen“ aus der Schönen Müllerin setzt Schubert die einzelnen Phrasen durch Achtelpausen ab („Ich frage keine Blume,/ ich frage keinen Stern“); hier dienen die Pausen nicht nur der plastischen Gliederung, sondern sind darüber hinaus auch expressiv relevant: Sie drücken das zurückhaltende Zögern des neugierig Fragenden in seiner Rede aus. Im Unterschied zu den ganz in den normalen Fluss der Musik integrierten Prägnanzpausen gibt es aber auch noch, als zweite Art der rhetorischen Pausen, die musikalischen Kunstpausen. Um die Eigenart dieser Pausen besser verständlich zu machen, ist es nützlich, direkt in die vorletzte Klaviersonate (A-Dur, D ) von Schubert einzusteigen, und zwar in den letzten Satz (Rondo: Allegretto). Um die Pausen, die in diesem Satz vorkommen, besser verständlich machen zu können, skizziere ich kurz seinen Verlauf. Es handelt sich um ein zeittypisches klassisches Rondo mit einer dreiteiligen symmetrischen Anlage. Im ersten Teil folgt auf das Rondo-Hauptthema, das Thema des Refrains (Beispiel ), ein Mittelstück, das Couplet, mit einem eigenen zweiten Thema; anschließend wird der Refrain wiederholt. Nach diesem ersten Teil folgt ein freier Durchführungsteil, der das Material fortführt. Anschließend wird der gesamte erste Teil in variierter Form wiederholt; eine kurze Coda schließt sich an. Zu den interessanten Pausen kommt es ganz am Ende des Rondos, und zwar zum ersten Mal genau im Übergang des Couplet-Teils in das letzte Auftreten des Refrains (Beispiel ). Nach den letzten variierten Erscheinungsformen des Couplet-Themas kommt es zur einer ersten langen Pause (Takt ), in deren Anschluss dann das Refrain-Thema wiederaufgenommen wird. Diese erste Pause ist eine typische musikalische Generalpause, allerdings ungewöhnlich inszeniert. In Takt wird auf dem dritten Viertel in der rechten Hand eine einfache auftaktige Kadenzfigur mit der Dominante (E-Dur) begonnen, die auf die erste Zählzeit des folgenden Taktes zuläuft und dort in der Tonika (A-Dur) aufgelöst wird. Sie wird einmal wiederholt (Takte – ). Auf der dritten Zählzeit von Takt wird die Eine prägnante Analyse des Satzes findet sich bei Godel (, – ); vgl. auch die Analyse von Fisk (, – ). Ich zitiere Schubert nach der Neuen Ausgabe sämtlicher Werke: Franz Schubert, Werke für Klavier zu zwei Händen, Band : Klaviersonaten III, hrsg. v. Walburga Litschauer (Kassel u. a., ). Lucas Amoriello danke ich herzlich für hilfreiche Diskussionen im Zusammenhang mit seinen Arbeiten zur Zeitstruktur der Musik bei Schubert und Mahler.
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Beispiel : Schubert, Sonate A-Dur D , . Satz: Rondo, Takte – (Thema). © BärenreiterVerlag
Figur ein drittes Mal begonnen, so dass hier erneut der Übergang in die Tonika zu erwarten ist. Dieser Übergang bleibt allerdings aus: Takt bleibt auf der Dominante stehen, die Musik bricht unvermittelt ab. Auf der nun folgenden Generalpause, über der eine Fermate notiert ist, liegen mehrere unaufgelöste Spannungen: die durch die Kadenzfigur erzeugte harmonische Spannung, die durch die auftaktige Figur erzeugte metrische Spannung, und die durch die Logik des Ablaufs erzeugte Spannung der zweiten vollständigen Wiederholung der Figur. Wie stark diese Spannungen sind, kann man sich durch ein leicht zu realisierendes Experiment verdeutlichen: Angenommen, Schubert hätte auf der ersten Zählzeit von Takt die Kadenzfigur erwartungsgemäß in A-Dur aufgelöst und dann eine Pause von genau derselben Länge folgen lassen, wie sie sich in der tatsächlich notierten Version findet; dann hätten wir es mit zwei akustisch identischen Pausen zu tun, die von aufmerksamen Hörern dagegen dennoch völlig unterschiedlich wahrgenommen würden – die im Experiment erklingende Pause wäre eine ruhige,
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entspannte Stille, die bei Schubert tatsächlich notierte Pause dagegen eine angespannte und mit Spannung geladene Pause. In der notierten Version wird die Kadenzspannung erst nach der Generalpause, in Takt mit dem Wiedereinsatz des Refrain-Themas in A-Dur, aufgelöst. Dieser Wiedereinsatz verspricht die normgerechte Weiterführung und Abrundung des musikalischen Verlaufs durch das dritte Element der symmetrischen Struktur Refrain – Couplet – Refrain. Damit wird auch die durch die Störung der Logik des musikalischen Ablaufs erzeugte Spannung aufgelöst. Die Generalpause setzt einen deutlichen Einschnitt zwischen den beiden Formteilen des Rondos und hat damit eine architektonische Funktion. Diese Pause ist eine exemplarische musikalische Kunstpause. Einerseits fehlen die Klangereignisse: Nichts wird gespielt, nichts erklingt. Andererseits haben wir es aber nicht mit einer Abwesenheit der Musik selbst zu tun, denn das Fehlen des Klangs übernimmt zwei genuin musikalische Funktionen: die Steigerung der unaufgelösten Spannung und die Verdeutlichung der formalen Zäsur. Die Pause gehört zur Musik und ist deshalb eine musikalische Pause, eine Kunstpause also, so wie man auch in der gesprochenen Rede von einer Kunstpause spricht. Das ist die in der funktionsharmonisch gebundenen Musik häufigste Art der musikalischen Pause. Das Ausbleiben von Klang betont hier die harmonischen, metrischen und architektonischen Eigenschaften eines Musikstücks; es zerstört die Musik nicht, es macht sie allererst prägnant; es löst die musikalische Form nicht auf, es affirmiert sie vielmehr. Vor diesem Hintergrund ist es nun möglich, das Ungewöhnliche und Außerordentliche des weiteren Verlaufs des Finalsatzes von Schuberts vorletzter Klaviersonate zu verstehen. Denn die soeben diskutierte Generalpause ist nur erst die erste in einer ganzen Serie von Pausen. Der Refrain des Rondos, der nach dieser Generalpause einsetzt, wird kurz darauf noch fünf weitere Male von jeweils ganztaktigen Pausen unterbrochen und von ihnen geradezu zerstört. Diese Pausen sind offensichtlich von ganz anderer Art als die musikalische Kunstpause in Takt . Sie fragmentarisieren den Refrain und zerstören auf diese Weise die bisher entwickelte musikalische Logik dieses Satzes. In den Takten bis (Beispiel ) wird die erste achttaktige Periode des Refrain-Themas in der Haupttonart A-Dur begonnen (die Passage entspricht exakt den Takten – aus Beispiel ). Sie bricht aber schon nach vier Takten mit einer zweiten Pause ab (Takt ). Diese Pause ist im Gegensatz zur ersten unmotiviert und desintegriert. Sie hat keine erkennbare metrische, harmonische oder Elizabeth Hellmuth Margulis hat ein solches Experiment mit Bezug auf eine analog komponierte Generalpause in Schuberts Moment musical c-moll (Nr. aus der Sammlung D , Takt ) vorgeschlagen (vgl. Margulis a, – ; b, – ). Darauf hat auch August Gerstmeier (, ) in einer Analyse dieser Stelle aufmerksam gemacht. Er deutet die auffällige Häufung der Generalpausen bei Schubert als Ausdruck der Zerstörung der biedermeierlichen Idylle (vgl. Gerstmeier , u. f.).
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Beispiel : Schubert, Sonate A-Dur D , . Satz: Rondo, Takte – . © Bärenreiter-Verlag
architektonische Funktion im gegebenen Kontext. Die erste Periode des RefrainThemas ist aus zwei miteinander korrespondieren viertaktigen Phrasen gebildet,
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die nur im Zusammenhang eine abgeschlossene musikalische Einheit bilden (Beispiel , Takte – ). Der Abbruch dieser Periode nach den ersten vier Takten vermag deshalb den Aufbau der Periode und ihrer Teilphrasen nicht zu verdeutlichen, er stört und desintegriert ihn vielmehr. Das hat Folgen: Anschließend setzt zwar ganz richtig die zweite viertaktige Phrase der ersten Periode des RefrainThemas ein, aber in signifikant verrutschter Form, nämlich eine Oktave höher, pianissimo, und nach a-Moll gewendet. In Takt gleitet die Phrase nach F-Dur ab und bricht nach drei Takten (anstelle der geforderten vier Takte) unvermittelt ab mit einer dritten Pause (Takt ). Anschließend setzt der nächste Refrain-Teil mit der zweiten achttaktigen Periode ein, erneut in F-Dur, die aber nach vier Takten wiederum unvermittelt abgebrochen und von einer vierten Pause abgelöst wird (Takt ). Zwar ist die nach dem harmonischen Abgleiten hier erstrebte Tonika – F – in Takt tatsächlich erreicht und durch eine überleitende rhetorische Doppelschlagfigur dort auch betont worden. Die erneute Unterbrechung verweigert aber den Abschluss der Periode und führt dazu, dass die Doppelschlagfigur nach der Pause, in Takt , in hoher Lage sequenziert, fast zum Ersterben gebracht und ergebnisoffen abgebrochen wird. Sie wird von einer fünften Pause abgelöst (Takt ). Takt ist ein isolierter, von ganztaktigen Pausen eingerahmter Einzeltakt, die kleinste Einheit in diesem Auflösungsprozess. Die fragmentarisierte Anlage der Takte – legt die folgende Beschreibung nahe: der Abbruch der klingenden Musik durch unvermittelte Pausen führt zu Irritationen und Abschweifungen des von der bisherigen Logik vorgegebenen und erwartbaren Verlaufs, die ihrerseits mit erneut unvermitteltem Abbruch und weiteren Pausen beantwortet werden, was wiederum weitere Irritationen nach sich zieht, bis der musikalische Fluss auf einen einzelnen isolierten Takt reduziert ist. Die Zerstörung des musikalischen Verlaufs an vier einzelnen Stellen (Takte , , und ) ist nun derart gehäuft aufgetreten, dass irgendwo hier, entweder in dieser fünften oder in der folgenden sechsten Pause, die Zerstörung des ganzen musikalischen Verlaufs gefährlich nahekommt. Man könnte Takt , der in einen harmonisch offenen verminderten Septakkord mündet, so hören, dass er die offene Frage nach dem Fortgang des Werks insgesamt stellt, und die fünfte Pause so, dass sie die Beantwortung dieser Frage verweigert. Die Antwort, die der weitere musikalische Verlauf in den folgenden fünf Takten faktisch gibt, ist besonders subtil. Denn die Musik scheint in Takt noch einmal Tritt zu fassen. Das Doppelschlagmotiv erscheint jetzt a tempo in der Haupttonart A-Dur – eine Stelle, die wie eine Korrektur der verirrten Variante in Takt wirkt. Das wird zum Anlass dafür, die zweite Periode des Refrain-Themas mit dessen zweiter Teilphrase ordnungsgemäß fortzusetzen. Die Takte – (Beispiel ) entsprechen exakt den Takten – der Exposition des Themas zu Beginn des Satzes (Beispiel ). Die Gefahr des völligen Zusammenbruchs scheint
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also gebannt zu sein. Aber der Schein trügt – denn auch diese Phrase, die letzte Phrase des Refrains, kommt nicht zum Abschluss, sondern bleibt am Ende von Takt erneut in der Dominante stecken und führt in eine sechste Pause (Takt ). Sie zerstört die scheinbar erfolgreiche Restitution des Refrains. Schubert lässt es also nicht beim Abbruch des Fortgangs in Takt bewenden. Er präsentiert vielmehr vier Takte lang die Möglichkeit eines doch noch abgerundeten Schlusses und entlarvt diesen dann durch einen erneuten Abbruch und eine erneute Pause als illusorischen Schein. Die sechste ganztaktige Pause in Takt manifestiert damit den Auflösungs- und Fragmentarisierungsprozess durch ausdrückliche Absage an den Abschluss als einen unwiderruflichen. Die vier Takte – klingen im Nachhinein als Zitat eines der herkömmlichen Erwartung nach geforderten Abschlusses, der nun aber abwegig geworden ist. Die Musik kann nicht mehr ordnungsgemäß zum Ende kommen. Dazu steht keineswegs im Widerspruch, dass es jenseits dieser sechsten Pause dann tatsächlich weiter und sogar zuende geht. Denn die Auflösung durch die Presto-Coda hat einen gewaltsamen und erzwungenen Charakter, als ob sich der musikalische Verlauf mit letzter Kraft zusammenreißen müsste, um überhaupt noch die Sache zu einem halbwegs geordneten Abschluss zu bringen. Da es sich zudem um die finale Phase einer langen, ausgedehnten Sonate handelt, steht nicht nur der Abschluss des letzten Satzes, sondern der des gesamten Werkes infrage. Dazu passt auch die Beobachtung, dass die sechs abschließenden Takte der Coda dieses Finalsatzes die sechs Eröffnungstakte des ersten Satzes der Sonate variierend wiederaufnehmen (vgl. auch Fisk , – ). Das Problem des Endes des Finalsatzes greift auf die gesamte Sonate über. Die Schlussformel variiert die Eröffnungsformel: ein Ende, das zugleich als erneuter offener Aufbruch gehört werden kann. Die Sequenz dieser fünf Pausen ist durch den bisherigen Verlauf der Sonate nicht direkt vorbereitet, weder im Finalsatz noch in den vorhergehenden drei Sätzen. Im dritten Satz gibt es im ersten Scherzo-Teil eine Generalpause (Takt ), die aber eindeutig eine gliedernde Funktion hat. In der Exposition des Kopfsatzes kommt es im Verlauf des Seitensatzes zu einer ganztaktigen Pause (Takt ), die eine ergebnislos abbrechende, durchführungsartige Steigerungsperiode vom Wiedereintritt des Seitenthemas trennt und insofern eine architektonische, die Gliederung verdeutlichende Funktion hat; die Pause kehrt in der Reprise an der korrespondierenden Stelle wieder (Takt ). Im Schlussteil des ersten Satzes ist zudem die Reprise von der Coda durch eine ganztaktige Generalpause getrennt (Takt ). Alle diese Pausen sind rhetorische Kunstpausen im Sinne der Generalpause in Takt des vierten Satzes; sie indizieren möglicherweise eine Anfälligkeit des musikalischen Verlaufs für unerwartete Abbrüche, aber kaum die Möglichkeit einer ganzen Abfolge von musikalischen Aussetzern. Das erschütterndste Ereignis im bisherigen Verlauf der Sonate war eine Sequenz von vier gewalttätigen Fortissimo-Schlägen im Mittelteil des zweiten Satzes gewesen (Andantino, Takte –
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, gefolgt von vier schwächeren Forteschlägen in den Takten – ). Schubert hatte nach diesen Schlägen jeweils eine Pause in der Länge von zwei Achteln, ohne Verlust des durchgehenden Metrums, notiert, aber realisieren lassen sich die Schläge nur mit nachfolgenden Generalpausen. Aber diese Pausen sind Schockstarren nach den Gewaltakzenten, sekundäre Folgen anderer ausbruchsartiger Ereignisse. Die Zersetzung des musikalischen Gewebes geschieht hier durch die Schläge, nicht durch die Pausen. Am Ende des vierten Satzes ist es dagegen die lautlose Gewalt der Pausen, die zur Zerstörung des Ablaufes führt. Man könnte die Pausensequenz als Echo der Schlagsequenz, die zerbrechende Pausenabfolge als Negativgestalt der niederschmetternden Schlagabfolge hören, aber ein solcher Zusammenhang über mehrere Sätze hinweg ist durch den musikalischen Verlauf der Sonate nur schwer zu belegen. Die klassische symmetrisch-ausgewogene Architektur und Harmonik des Refrains im Schlusssatz wird durch die Pausen zersetzt, zerstört, desintegriert. Am Ende steht der Fortgang des ganzen Werks auf dem Spiel. Die Schubert-Pause, die ich hier behelfsweise einführen möchte, zeichnet sich dadurch aus und ist dadurch definiert, dass sie nicht lediglich eine einzelne Stelle in einem musikalischen Werk zerschneidet (obwohl sie natürlich immer nur an einer einzelnen Stelle vorkommen kann), sondern das ganze Werk selbst, genauer gesagt die gesamte bis zu dieser Pause führende musikalische Ordnung. Die Schubert-Pause ist einerseits nicht wie Diese Passage ist häufig als Ausdruck eines in seiner Existenz gefährdeten und verzweifelnden musikalischen Subjekts gedeutet worden (etwa von William Kinderman , f.). Das ist allerdings nicht der Sinn, in dem ich den hier diskutierten Schubert-Passagen den Status eines musikalischen Subjekts zuschreiben möchte. Ich deute diese Passagen nicht als Ausdruck eines imaginären musikalischen Subjekts und seiner Zustände (etwa Verzweiflung), sondern als Passagen, in denen sich der musikalische Verlauf auf sich selbst bezieht und dabei zugleich selbst thematisiert und daher selbst ein musikalisches Subjekt ist. Mehr dazu unten in Abschnitt III. Darin ähneln sie anderen berühmten Gewaltereignissen in Schuberts Musik, die ebenfalls Abbruch und Schockstarre nach sich ziehen, vor allem der katastrophenartigen Passage (Takte – ) im zweiten Satz der C-Dur Sinfonie (D ), die mit einem verminderten Septakkord im vollem Orchester im dreifachen forte endet (Takt – ) und anschließend in eine Generalpause mündet (Takt ). Vgl. die Analyse dieser Stelle bei Stolzenberg (, – ). Das scheint auch nicht am Refrain-Thema selbst zu liegen, das Schubert mit leichten Veränderungen aus seiner Klaviersonate in a-Moll (D ) übernommen hat, wo es das Thema des zweiten Satzes (Allegretto quasi andantino, Takte – ) ist. In diesem Satz hat das Thema keine selbstzerstörerischen Konsequenzen. Allerdings könnte man einen Zusammenhang mit dem Finalsatz dieser Sonate vermuten, der, nach der Zählung von Gerstmeier (, ), Generalpausen „in vergleichbarer Dichte“ enthält. Aber diese Spur führt nicht weiter, denn die Pausen in diesem Satz haben ausnahmslos strukturverdeutlichende und gliedernde Funktion. Das unterscheidet das Rondo-Finale von Schuberts vorletzter Klaviersonate auch vom RondoFinale von Beethovens Sonate Nr. in G-Dur, op. Nr. . Auf die Analogien zwischen den beiden Sätzen, insbesondere hinsichtlich der Schlusspassagen (vgl. die Takte – bei Beethoven mit den Takten – bei Schubert), ist wiederholt hingewiesen worden (vgl. etwa Riezler , ; Cone , – ; Rosen , – ). Gewiss radikalisiert Schubert die Idee eines Dissoziationsfeldes, die bei Beethoven bereits latent angelegt ist. Aber die (General-)Pausen an der korrespon-
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die rhetorische Kunstpause. Sie setzt nicht lediglich eine Zäsur, und sie verstärkt auch nicht lediglich die Spannung, denn sie hat relativ zu der melodisch-harmonisch-architektonischen Ordnung des musikalischen Werks keine Funktion und zerstört sie vielmehr. Eine musikalische Generalpause wie die erste der diskutierten Pausen (in Takt ) unterbricht das Gewebe des musikalischen Verlaufs (der Beginn der Pause ist in die bisherige Textur nicht integriert, sondern unterbricht sie vielmehr); dagegen etabliert die Sequenz der folgenden fünf Pausen ein Gewebe aus Unterbrechungen: Musik als unterbrochene Musik. Die Schubert-Pause ist aber andererseits auch nicht wie die außermusikalische Bach-Pause, denn es handelt sich nicht um einen äußerlichen Eingriff in die Musik. Im Gegensatz zum Abbrechen der Bach-Fuge ist die Schubert-Pause eine intentionale Pause, ein komponierter Abbruch. Die Schubert-Sonate könnte an dieser Stelle komplett abbrechen wie die fragmentarische Bach-Fuge – aber eben nicht aus äußerlichen Gründen, sondern aus der inneren Anlage des musikalischen Werks selbst heraus. Deshalb führt die Erfahrung der Schubert-Pause folgerichtig auf die Erfahrung genau dieser inneren Anlage des musikalischen Werks selbst. Das ist eine weitreichende Interpretationshypothese, die ich im nächsten Schritt durch eine Analyse der von den Schubert-Pausen geforderten ästhetischen Erfahrung stützen möchte.
II. Die ästhetische Erfahrung musikalischer Pausen Was muss man hören, und wie muss man hören, um eine musikalische Pause überhaupt hören zu können? Zunächst scheint klar zu sein, dass jedes atomistische wahrnehmungspsychologische Modell bereits am Phänomen der musikalischen Generalpause scheitern muss. Wenn es so wäre, dass wir unsere Wahrnehmung einfach nur aus atomaren Sinnesdaten sukzessive zusammensetzten, dann würden wir im Falle einer musikalischen Pause auch einfach nur nichts, nämlich keine Klangereignisse, damit aber eben auch keine Musik mehr hören. Unter diesen Voraussetzungen könnten wir aber überhaupt nie eine musikalische Pause als musikalische Pause hören, sondern immer nur als Nicht-Musik. Noch viel weniger könnten wir unter diesen Voraussetzungen manche Pausen als entspannte Stille, andere Pausen dagegen als spannungsgeladene Stillen hören. Also werden wir wenigstens ein holistisches Gestaltwahrnehmungsmodell ansetzen müssen: Musikalische Pausen sind ‚prägnante‘ Phänomene, in denen die Stille Rückbezüge zum gerade Erklungenen und Vorverweise zum möglicherweise Kommenden enthält. Ich muss also aktiv werden und dreierlei tun: Ich muss hören, dass jetzt nichts
dierenden Stelle bei Beethoven sind rhetorische Pausen, keine Schubert-Pausen im hier eingeführten Sinne.
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erklingt, ich muss mich daran erinnern, was gerade eben noch zu hören war, und ich muss eine Erwartung dessen ausbilden, was als Nächstes erklingen wird. Musikalische Pausen sind darüber hinaus aber auch klassische Beispiele für ästhetische Leerstellen. Es handelt sich um Stellen, die den musikalischen Verlauf durch das Ausbleiben von Klangereignissen unterbrechen und die auf diese Weise die Rezipienten dazu auffordern, selbst aktiv zu werden und auf die Stille mit Erinnerung und Erwartung so zu reagieren, dass die scheinbaren Unterbrechungen gerade als integrale Bestandteile des musikalischen Verlaufs gehört werden können. Eine notwendige und fundamentale Bedingung dafür, Schuberts Pausen in diesem Sinne zu hören, besteht darin, sie nicht als Effekt eines äußeren Zufalls zu hören. Ich muss also zum Beispiel registrieren, dass sie nicht auf das Konto des Pianisten gehen (dass der Pianist sich nicht verspielt hat oder durch lautes Husten im Publikum aus dem Konzept gebracht worden ist und deshalb abgebrochen hat). Damit nehme ich bereits (vielleicht zum ersten Mal) die gesamte Aufführungssituation als solche wahr, inklusive meines eigenen Zuhörens. Anders gesagt: eine notwendige Bedingung zum Hören der Schubert-Pausen besteht in der Realisierung eines Selbstbezugs. Ich muss mich in meiner Wahrnehmung der Pausen auf die Aufführungssituation und auf meine eigene Wahrnehmung beziehen. Dies wird zugleich so erfahren, dass sich die Musik auf ihre eigene Aufführungssituation und damit auf sich selbst bezieht. Ein Musikstück, dass seinen Fortgang durch eine Serie von nicht durch diesen Verlauf motivierten Pausen unterbricht, macht auf sich selbst aufmerksam. Es bezieht sich auf sich selbst, und die Pausen müssen auch so gehört werden, dass es sich durch sie auf sich selbst bezieht. Dass sich ein Musikstück auf sich selbst bezieht, ist dabei keineswegs ungewöhnlich, sondern eine ganz alltägliche Angelegenheit in der Musik. Eine natürliche Quelle des Selbstbezugs von Musik, auch von rein instrumentaler, ist die Aufführungssituation jedes musikalischen Stückes. Jede Aufführung kann völlig natürlicherweise immer auch so gehört werden, dass nicht nur das aufgeführte Stück, sondern auch die Eigenart und Qualität der Aufführung bewusst wahrgenommen werden. Das Spiel von Virtuosen ist immer auf sich selbst bezogen, weil die Ausstellung der instrumentellen Fertigkeiten hier selbst Zweck der Aufführung ist oder doch wesentlich dazugehört. Die Kontrabassisten können während der Aufführung ihre Instrumente Pirouetten drehen lassen – ein Zirkuskunststück, das nicht zwingend zur Musik selbst gehören muss, aber in der Aufführungssituation Diese Hypothese kann durch wahrnehmungspsychologische Testreihen einfach und effektiv empirisch belegt werden (vgl. Margulis a, – ). Vgl. Iser (, ): „Leerstellen […] bezeichnen weniger eine Bestimmungslücke des intentionalen Gegenstandes bzw. der schematisierten Ansichten als vielmehr die Besetzbarkeit einer bestimmten Systemstelle im Text durch die Vorstellung des Lesers. Statt einer Komplettierungsnotwendigkeit zeigen sie eine Kombinationsnotwendigkeit an.“ Iser nimmt hier kritisch auf die Theorie der Unbestimmtheitsstellen bei Roman Ingarden (, ) Bezug.
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dennoch seine Wirkung nicht verfehlt. In seinem Singspiel Zar und Zimmermann läßt Albert Lortzing, in der seinerzeit populären Arie des van Bett aus dem ersten Aufzug („O Sancta Justitia!“), das tiefe F, auf das die Arie zuläuft, das van Bett selbst aber nicht mehr zu singen vermag, vom Fagott spielen, während es in der Partitur heißt: „Sperrt den Mund auf als sänge er das tiefe F.“ Manche Darsteller des van Bett führen die Pointe noch fort und bedanken sich auf offener Bühne beim Kollegen im Orchestergraben. Die musikalische Aufführungssituation erlaubt diese Form musikalischer Scherze natürlicherweise, und jeder dieser Scherze ist selbstbezüglich. Dass sich ein Musikstück auf sich selbst bezieht, ist, wie die Beispiele illustrieren, keine besonders aufregende Angelegenheit. Durch den Selbstbezug in der rein instrumentalen Musik wird nichts in der Musik und ihrer Rezeption verstört oder zerstört, etwa im Sinne einer Desillusionierung. Rein instrumentale Musik kann gar keine Illusion erzeugen, weil sie nichts repräsentieren kann. Kant schildert die Zufriedenheit von Gästen in einem Landgasthof, die glauben, in einem nahegelegenen Gebüsch eine Nachtigall zu hören, obwohl es in Wahrheit der Wirtsbursche ist, der den Vogelruf mit Schilf oder Rohr nachahmt (Kant, Kritik der Urteilskraft, AA V: § , f.). Kant legt nahe, dass die Entdeckung des Betrugs zugleich die Desillusionierung der ästhetischen Erfahrung wäre. Aber diese Art von Desillusionierung ist keine musikalische, weil die bloße Imitation der Nachtigall keine Aufführung von Musik ist. Niemand, der Le merle noir von Messiaen hört, unterliegt der Illusion, eine Amsel zu hören. Musikaufführungen sind als solche artifiziell. Selbst die Beispiele von Oper in der Oper, etwa in der Ariadne auf Naxos, sind ihrem selbstbezüglichen Charakter nach nie desillusionierend, weil von vorneherein nie die Illusion aufkommen kann, dass singende Menschen das, was sie nach Auskunft dessen, was sie singen, darstellen sollen, auch wirklich tun. Das bedeutet nicht etwa, dass die Oper nicht in eine Phantasiewelt entführen kann. Aber wie das Beispiel von Strauss zeigt, tut es der Entführung in eine Phantasiewelt keinen Abbruch, wenn wir wahrnehmen und wissen, dass es sich um eine Phantasiewelt handelt. Selbstbezug ist eine völlig normale Angelegenheit aller musikalischen Aufführungen. Er hat daher auch keinen störenden Einfluss auf ihre Rezeption. Ohne aktives prägnantes Hören und ohne die Realisierung eines Selbstbezuges in ihrer Wahrnehmung kann man die Schubert-Pausen nicht hören. Das allein ist aber noch nicht hinreichend. Das kann man sich anhand des Finalsatzes von Haydns Streichquartett in Es-Dur op. Nr. (Hob. III: ) klarmachen. Das Ende dieses Satzes (Beispiel ) weist auf den ersten Blick eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem
Dazu ausführlich Scruton (, – ).
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Ende des Finalsatzes von Schuberts vorletzter Klaviersonate auf. In beiden Fällen handelt es sich um ein Rondo, und in beiden Fällen kommt es beim letzten Einsatz des Refrain-Themas, also an der gleichen Stelle in der jeweiligen Architektur des Satzes, zu einer auffälligen Serie von musikalischen Pausen. Dennoch funktionieren die Haydn-Pausen ganz anders als die Schubert-Pausen. Haydn eröffnet den Schlussteil seines Rondo-Satzes mit der kompletten Gestalt des Refrain-Themas (Takte – ). Es erklingt hier exakt so, wie es am Anfang des Satzes exponiert worden war. Nach einer Generalpause (Takt ) kommt es zu einem kurzen Adagio-Einwurf, einer dramatisch inszenierten Rezitativstelle mit zwei parallelen Phrasen, in denen die erste Violine in Seufzer-Motiven abwärts steigt ( jeweils eine Variante der Melodielinie aus den Takten und ). Nach einer weiteren, kürzeren Generalpause (auf dem dritten Achtel in Takt ) wird dann das komplette Refrain-Thema im ursprünglichen presto-Tempo erneut wiederholt – allerdings werden die vier zweitaktigen Teilphrasen des Themas, seine Grundbausteine, nun durch jeweils zwei Pausentakte unterbrochen (Takte – , – und – ). Unmittelbar nach dieser durch Pausen unterbrochenen Wiederholung des Themas schreibt Haydn dann vier volle Takte als Generalpause vor (Takte – ). Daran schließt sich, pianissimo, eine letzte Wiederholung des zweitaktigen Themenkopfes an. Unmittelbar dahinter steht in der Partitur „Fine“; der Satz ist also an dieser Stelle zuende. Die Pausen wirken aufgrund des hohen Tempo des Satzes im Effekt weniger einschneidend als die Schubert-Pausen. Sie scheinen auch zunächst eher die Architektur des Themas offenzulegen als es zu zerstören. Die Bausteine des Themas werden durch die Pausen nicht desorganisiert, in entlegenere Tonarten transponiert oder anderweitig irritiert; sie erscheinen vielmehr in exakt derselben Gestalt wie bei der ersten Exposition des Themas am Anfang des Satzes und bei der Wiederholung in den Takten – (mit der Ausnahme der vierten Phrase, die in den Takten – leicht modifiziert wird). Vollständig aus dem bisherigen Verlauf heraus fallen nur die letzten sechs Takte des Satzes. Die viertaktige Generalpause spielt ganz offensichtlich mit der Erwartung der Zuhörer, dass das Stück genau an dieser Stelle, nach der pausendurchsetzten Wiederholung des RefrainThemas, zuende ist. Die viertaktige Pause soll ganz offensichtlich von den Ausführenden genau so lange ausgehalten werden, bis im Publikum das erste Klatschen einsetzt. In genau diesem Moment muss dann die letzte Wiederholung des Themenkopfes gespielt werden. Die Zuhörer sind damit in eine Falle getappt, die in der Musik sorgfältig angelegt und vorbereitet worden ist. Haydn hat sich einen musikalischen Scherz erlaubt. Im englischen Sprachraum hat das Streichquartett dementsprechend den Beinamen „The Joke“. Die musikalische Dramaturgie Ich zitiere den Satz nach der Ausgabe: Joseph Haydn, String Quartets, Opp. and (Mineola, [=Nachdruck der von Wilhelm Altmann herausgegebenen Eulenburg-Ausgabe]).
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Beispiel : Haydn, Streichquartett Es-Dur op. Nr. (Hob. III: ), . Satz, Takte – .
dieser Stelle lebt ersichtlich von der Aufführungs- und Rezeptionssituation und deren Konventionen. Wir erkennen auch die beiden Voraussetzungen für das Pausen-Hören wieder: die Aufforderung zum aktiven prägnanten Nachvollziehen der Pausen, das hier bewusst in die Irre geführt wird, und die Realisierung des Selbstbezugs der Aufführungssituation und des musikalischen Werks im musikalischen Scherz. Nun wäre Haydn nicht Haydn, wenn nicht auch hinter diesem musikalischen Scherz zugleich musikalischer Ernst lauerte. Gemessen an den Anforderungen der
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Rondo-Form liegt das musikalische Problem dieses Satzes beim Hauptthema. Es handelt sich um ein Thema, das in jeder seiner vier Teilphrasen und in seiner Gesamtgestalt auf Offenheit angelegt ist. So hatte es sich auch im bisherigen Verlauf des Satzes erwiesen, in denen es zu vielfältigen Kombinationen der Bausteine gekommen war. So angemessen aber das Thema in seiner Offenheit für die unendliche Variation auch sein mag, so sehr liegt in dieser Offenheit doch auch ein musikalischer Mangel begründet. Es kann von selbst nicht zu einem Ende führen, das in ihm zwingend angelegt wäre. Haydns Rondo-Satz stellt damit das Problem, wie sich mit einem derartigen Thema das Ende des Satzes herbeiführen lässt. Die Antwort, die Haydn im Modus des Scherzes gibt, hat doch auch einen ernsten Kern: Das Thema lässt sich überhaupt nicht abschließen. Das faktische Ende des Satzes besteht aus einer weiteren Wiederholung des ersten Hauptbausteins seines Themas, der in seiner Offenheit immer weiter fortgeführt werden könnte. Er ist ein Auftakt, kein Abbruch, wird hier aber dennoch dezisionistisch zum Abbruch verwendet, weil irgendwann einmal faktisch Schluss sein muss, und weil die Falle, die in der vorangegangenen viertaktigen Generalpause angelegt worden war, es auch tatsächlich erlaubt, diese letzte offene Phrase als finale Äußerung des Satzes zu hören. Auch hier liegt die Parallele zu Schuberts vorletzter Klaviersonate auf der Hand, die, wie gesehen, mit einer Variante der Eröffnungsformel, in diesem Fall allerdings der des ersten Satzes, schließt. Der Ernst hinter Haydns Scherz liegt also in dem Problem, wie sich ein musikalisches Werk mit einem folgerichtigen Ende zu einem integralen Werk abrunden kann. Dieser Ernst geht auch im Auflachen der Zuhörer über die musikalische Falle am Ende nicht ganz verloren, aber er spielt nicht die Hauptrolle. Als musikalischer Scherz gehört, ist die Stelle Selbstbezug, aber noch nicht Selbstthematisierung und Selbstreflexion. Die Schubert-Pausen machen mit dem Scherz der Haydn-Pausen durch und durch Ernst. Die Gefahr des Nicht-Enden-Könnens löst sich hier nicht scherzhaft im Lachen auf. Damit stellt sich auf der Ebene der Wahrnehmung aber unwillkürlich die Frage, ob das aufgeführte Werk nur ein ungereimtes stockendes Gebilde ist. Das musikalische Werk (oder jemand anderes durch dieses) provoziert mich durch die Inszenierung der Pausen und fordert mich dazu auf, die Frage nach dem Enden-Können der Musik zu stellen. Auf diese Weise wird das Problem des Enden-Könnens, und damit der integralen Einheit des musikalischen Werkes, in meiner Rezeption selbst thematisch. Dazu muss ich eine komplexe geistige und nicht lediglich sinnliche Leistung vollbringen. Die prägnanten Relationen der fünf Pausen am Ende des Finalsatzes der vorletzten Klaviersonate sind Relationen nicht Vgl. Taruskin (, – ) und Steinbeck (, ). Die Grenzen sind hier allerdings fließend. Eine Form des musikalischen Scherzes, die mit der
Selbstreflexion des musikalischen Genres oder Stils arbeitet, ist die Parodie; vgl. Wolfs (, – ) Analyse von Mozarts Divertimento „Ein musikalischer Spaß“ für zwei Violinen, Viola, Baß und zwei Hörner, KV (Titel von Mozart).
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mehr nur zur lokalen Umgebung, sondern zum gesamten Satz: zu seinem bisherigen Verlauf und zu seinem voraussichtlichen Ende – einem Ende, das jetzt gerade infrage steht. Die Sequenz der Pausen fordert mich dazu auf, explizit eine konkrete Konzeption der bisherigen Ordnung des Werks zu entwerfen, um wahrnehmen zu können, dass es diese Ordnung ist, die durch die Pause infrage gestellt wird. Um das aber als einen beabsichtigten, innerlich musikalischen Bruch hören zu können, muss ich meine erste Konzeption zugleich aber auch korrigieren und in eine umfassendere Idee integrieren: Ich muss eine antizipierende Konzeption einer höherstufigen Ordnung dieses Werkes ausbilden, innerhalb derer die Infragestellung des musikalischen Zusammenhangs erster Ordnung als eines ihrer sinnvollen Momente vorgesehen ist. Ohne diese kognitiv anspruchsvolle Leistung, ohne die Ausbildung, Korrektur und Neubildung zweier unterschiedlicher, aber miteinander verbundener Ideen von der musikalischen Ordnung des gehörten musikalischen Werkes kann ich die Schubert-Pausen nicht als solche hören. Das bedeutet aber, dass das musikalische Werk in den Schubert-Pausen nicht lediglich auf sich selbst in einfacher Weise Bezug nimmt. Es nimmt vielmehr in der Weise auf sich selbst Bezug, dass es sich dabei zugleich thematisiert. Es bezieht sich nicht lediglich auf sich selbst, sondern es bezieht sich auf sich selbst als sich selbst. Viele Sachen beziehen sich auf sich selbst, ohne sich zugleich dabei zu thematisieren. Selbstbezug ist ein natürlicher Vorgang aller lebendigen Organismen oder auch vieler Musikstücke in ihren Aufführungssituationen. In den Schubert-Pausen aber bezieht sich das musikalische Werk auf sich selbst und thematisiert sich zugleich als ein Werk, bei dem infrage steht, ob es sich mit einem folgerichtigen Ende zu einem integralen Werk abrunden kann. Das musikalische Werk mit den Schubert-Pausen thematisiert auf diese Weise nicht etwas Allgemeines oder Abstraktes oder etwas von ihm Verschiedenes, zum Beispiel die Möglichkeiten der Klaviersonate nach Beethoven, die Herrschaftsverhältnisse im Frühkapitalismus oder eine Lebenskrise des Komponisten. Alle diese Dinge sind auf die eine oder andere Weise mit dieser Musik in Verbindung gebracht worden, aber diese Dinge werden nicht in den Schubert-Pausen von Schuberts vorletzter Klaviersonate von dieser Musik thematisiert. Auch der Vorschlag, dass es sich bei Schuberts Schlüssen um „ein Stück selbstreflexiver Vorführung des Prinzips des Schließens“ handelt, würde angesichts der konkreten musikalischen Sachverhalte noch zu weit ausgreifen. Dieses musikalische Werk thematisiert in diesen Pausen vielmehr genau dieses musikalische Werk, in dem die Pausen vorkommen und das sie zu zerstören drohen, mitsamt dessen musikalischer Ordnung und Abschließbarkeit, und damit thematisiert es sich selbst. Etwas aber, das sich auf sich selbst bezieht, indem es sich zugleich thematisiert, ist, in der fundamentalen Bedeutung dieses Wortes, ein So Steinbeck (, ) anhand einer überblickshaften Besprechung anderer Finalsätze bei Schubert.
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Subjekt. In den Schubert-Pausen konstituiert sich das musikalische Werk als musikalisches Subjekt. Aber diese These bedarf der Qualifizierung.
III. Musik und Subjektivität Der Ausdruck ‚musikalisches Subjekt‘ wird in verschiedenen Weisen verwendet. () In der musikalischen Fachterminologie seit dem ausgehenden Mittelalter bezeichnet der Ausdruck ‚Subjekt‘ (und seine verschiedenen sprachlichen Formen und Übersetzungen) zunächst dasjenige, was der Musik oder ihren Gattungen im allgemeinen oder einem Musikstück im besonderen zugrunde liegt, also ihr jeweiliges Thema. Diese Verwendungsweise hat Vorläufer in der antiken Rhetorik. Aristoteles sagt in seiner Rhetorik-Vorlesung (III , a – ), dass die sprachliche Form einer Rede nur dann über Angemessenheit verfügen kann, wenn sie dem Hypokeimenon dieser Rede entspricht. Mit dem Ausdruck ‚Hypokeimenon‘ ist hier die der Rede zugrundeliegende Sache, ihr Thema, gemeint. Insbesondere in der Theorie des kontrapunktischen Satzes ist das musikalische Subjekt diejenige melodische Figur, die der kontrapunktischen Arbeit zugrunde liegt. In einer Fuge ist das musikalische Subjekt nach dieser Redeweise das Fugenthema, das Kontrasubjekt dagegen das Gegenthema, der Kontrapunkt. Dementsprechend wird der Contrapunctus XIV aus der Kunst der Fuge von Bach im Originaldruck eine „Fuga a Sogetti“ gennant, denn es handelt sich um eine Tripelfuge mit drei verschiedenen musikalischen Subjekten, also Fugenthemen. Diese Redeweise vom musikalischen Subjekt hat ganz offensichtlich nichts mit Subjektivität zu tun; daher kollidiert sie semantisch mit derjenigen modernen Ausdrucksweise, nach der ein Subjekt ein menschliches Individuum mit all seinen Gedanken, Gefühlen und sonstigen geistigen Zuständen ist. () Ganz entsprechend setzt sich daher auch in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts eine alternative musikalische Redeweise durch, nach der das Thema der Musik ihr Objekt, das musikalische Subjekt hingegen der musikalische Mensch ist, also derjenige, der Musik komponiert, spielt oder rezipiert. Auch diese Redeweise ist in unserem Kontext aber nicht hilfreich, denn sie entfernt den Subjektbegriff vom musikalischen Werk und überträgt ihn auf die menschlichen Individuen, die mit musikalischen Werken zu tun haben. () Demgegenüber gibt es aber auch eine dritte, häufig inexplizite Redeweise, nach der das musikalische Subjekt als heuristische Idee zur Erschließung der sinnvollen Einheit eines musikalischen Werkes selbst begriffen wird. Subjektiv in Vgl. zu Einzelheiten und Nachweisen für die im folgenden diskutierten ersten beiden Verwendungsweisen von ‚musikalisches Subjekt‘ ausführlich den Artikel „Subiectum/ sogetto/ sujet/ Subjekt“ von Schmalzried ().
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diesem Sinne ist ein musikalisches Werk dann, wenn sein musikalischer Verlauf Strukturelemente enthält, die sich genau dann als sinnvolle Momente in ein einheitliches Ganzes integrieren lassen, wenn wir sie funktional als Erscheinungsweisen eines Subjektes hören und interpretieren. Hermann Danuser hat die Einführung eines „imaginären psychischen Subjekts der Musik“ vorgeschlagen, „an dem sämtliche Gefühlsbestimmungen und Charaktere eines musikalischen Prozesses hafteten“ (Danuser , ). Carl Dahlhaus (, ) hat die Konstruktion eines solchen ‚ästhetischen Subjekts‘ in der Musik mit der Konstruktion des Erzählers im Roman und des lyrischen Ichs im Gedicht verglichen. Während es allerdings im Falle literarischer Werke stets das Auftauchen des Ausdrucks ‚ich‘ (und seiner grammatischen Formen) ist, der zur Konstruktion eines erzählenden oder lyrischen Ichs veranlasst, müssen es zumindest im Fall der rein instrumentalen Musik andere, genuin musikalische Sachverhalte sein, die einen vergleichbaren Schritt motivieren. Albrecht von Massow nennt als Beispiele den unvermittelten und, gemessen an herkömmlichen Hörgewohnheiten, überraschenden Wechsel von musikalischen Ausdrucksgestalten, die unter anderem in Rhythmus, Melodik, Dynamik und Agogik so stark differieren, dass sie als einheitlich sinnvolle musikalische Gesamtgestalt nur dann begriffen werden können, wenn wir sie als Ausdruck eines musikalischen Subjekts mit unbeschränkter „ästhetischer Verfügungsgewalt“ auffassen. Paradigmatische Musikformen in diesem Sinne sind die freie Klavierphantasie, wie sie etwa Carl Phillip Emmanuel Bach in die Musik des . Jahrhunderts eingeführt hatte, die klassische und romantische Sonatensatzform in der Sinfonie, und allgemeiner alle musikalische Formen, die mit der Idee einer logischen Entwicklung der Musik arbeiten, insofern sie dazu veranlassen, ein musikalisches Subjekt dieser Entwicklung zu unterstellen. Ein einfaches Beispiel kann das Gemeinte veranschaulichen. In einer Analyse des langsamen Satzes des Streichquartetts in D-Dur op. von Haydn beschreibt Jürgen Stolzenberg das Kopfmotiv des Themas als Entwicklung eines Spannungsbogens: Die Melodie beginnt nach einem Quartauftakt auf dem Grundton, führt im ersten Takt auf die Quinte hinauf und wieder zum Grundton hinunter, springt dann im zweiten Takt, begleitet von einem Harmoniewechsel in die Subdominante, in die Oktave des Grundtons und kehrt in den beiden folgenden Takten in einer ruhigen Bewegung zum Ausgangspunkt zurück. Von diesem Spannungsbogen und seinem Erleben beim Hören sagt Stolzenberg dann: „Ihm entspricht […] die Vorstellung einer Intentionalität, deren Richtung sich nach außen und in der Absicht, ein Ganzes zu umfassen, aufspannt […], eine Bewegung, die sich dann aber wieder zurücknimmt“, und dieser intentionale Gehalt wird als „Trauer der Resignation“ gedeutet und mit Melancholie identifiziert (Stolzenberg , f.). Massow (, – ). Dies ist der leitende Sinn von ‚musikalisches Subjekt‘, der in von Massows Analysen moderner Musik unterstellt wird.
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Entsprechend heißt es von einem punktierten Motiv der ersten Geige einige Takte später: Es „erscheint wie eine expressive Geste, die mit dem Vorstellungsgehalt Entsagung, Abschied, aber auch mit so etwas wie Trost verbunden werden kann“ (Stolzenberg , f.). Im Lichte einer solchen Deutung korrespondieren (‚entsprechen‘) den musikalischen Sachverhalten intentionale Zustände eines imaginären musikalischen Subjekts. Der musikalische Verlauf wird gedeutet, als ob (‚erscheint wie‘) er Ausdruck der Gefühlszustände eines imaginären musikalischen Subjektes sei. Ein so gedeutetes musikalisches Werk ist selbst kein Subjekt. Aber wenn wir es so hören, als ob es Ausdruck eines Subjekts sei, dann hören wir die Details seines musikalischen Verlaufs, etwa der Melodieführung und der Harmoniewechsel, als einheitlich sinnvollen Gesamtzusammenhang. Die Idee eines musikalischen Subjekts in diesem Sinne ist die Idee eines lediglich imaginären Subjekts, das weder mit den jeweiligen Musikstücken selbst noch mit deren Komponisten oder Interpreten identisch ist. Es dient lediglich heuristisch als Modell zur Erschließung der Einheit des Gesamtzusammenhangs aller musikalischen Details, oder, wie man auch sagen kann, zum Nachvollzug des Sinns eines jeweiligen Musikstücks. () Den genannten drei Verwendungsweisen des Ausdrucks ‚musikalisches Subjekt‘ gegenüber möchte ich eine vierte Ausdrucksweise vorschlagen, die von Kants fundamentaler Bestimmung des Subjekts in der Kritik der reinen Vernunft ausgeht. Kant sagt dort an einer zentralen Stelle: „Das: Ich denke, muss alle meine Vorstellungen begleiten können“ (Kant, KrV B ). Das bedeutet, dass ich von allen meinen Vorstellungen denken können muss, dass sie meine Vorstellungen sind. Dieser Grundsatz der Selbstzuschreibbarkeit aller meiner Vorstellungen impliziert eine bestimmte Auffassung davon, was ein Subjekt ist, nämlich etwas, das sich auf seine Vorstellungen in der Weise beziehen kann, dass es sie als seine Vorstellungen reflektiert. Ein Subjekt ist etwas, das sich nicht lediglich auf sich selbst in der Weise eines einfachen Selbstbezuges bezieht, sondern auf sich selbst (genauer: auf seine Vorstellungen) als sich selbst (genauer: als seine Vorstellungen), also im Sinne eines bewussten und reflektierten Selbstbezugs. Ich werde für die einfache Form des Bezuges auf sich selbst den Ausdruck ‚Selbstbezug‘ beibehalten, für den bewussten und reflektierten Selbstbezug dagegen den Ausdruck ‚Selbstreflexion‘. Jeder Fall von Selbstreflexion ist ein Fall von Thematisierung seiner selbst: Indem ich mich selbst reflektiere, denke ich nach Kant von meinen Vorstellungen, dass sie meine sind, und thematisiere mich auf diese Weise als jemanden, der diese Vorstellungen hat. Ein musikalisches Subjekt in diesem Sinne ist ein musikalisches Werk, das sich auf sich selbst in der Weise bezieht, dass es sich dabei zugleich selbst thematisiert. In diesem Sinne ist die vorletzte Klaviersonate von Schubert ein musikalisches Sub Dazu Becker (, – ) und Vogel (, – ).
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jekt, wie die voraufgegangene Analyse zeigen sollte. In der Abfolge von Pausen in den Takten – des letzten Satzes bezieht sie sich auf sich selbst als ein Werk, bei dem infrage steht, ob es sich mit einem folgerichtigen Ende zu einem integralen Werk abrunden läßt. In dieser Abfolge von Pausen bezieht sich diese Sonate auf sich selbst und thematisiert sich dabei zugleich. Diese Verwendung des Ausdrucks ‚musikalisches Subjekt‘ ist in einem zentralen Punkt verschieden von der zuletzt diskutierten Idee eines imaginären musikalischen Subjekts. Ein im Lichte dieser Idee gedeutetes musikalisches Werk ist selbst kein Subjekt, sondern wird als Ausdruck eines imaginären musikalischen Subjekts verstanden. Im Lichte des Selbstreflexionsmodells wird die vorletzte Klaviersonate von Schubert dagegen nicht lediglich so verstanden, als ob sie sich auf sich selbst in der Weise bezöge, dass sie sich dabei zugleich thematisiert, sondern so, dass sie sich tatsächlich selbst reflektiert. Sie ist infolge der Sequenz der Schubert-Pausen, im Lichte dieser Deutung, selbst ein musikalisches Subjekt. Die Übertragung von Kants Subjektbegriff auf musikalische Werke ist allerdings alles andere als unproblematisch. Kants Analyse der Selbstreflexionsstruktur macht das deutlich, denn sie stellt hohe Anforderungen an Selbstreflexion. Wenn ich gerade denke, dass Schuberts vorletzte Klaviersonate vier Sätze hat, dann lautet der korrespondierende Fall von Selbstreflexion: ‚Ich denke, dass Schuberts vorletzte Klaviersonate vier Sätze hat.‘ Wenn ich diese Sonate gerade höre, dann lautet der korrespondierende Fall von Selbstreflexion: ‚Ich höre die vorletzte Klaviersonate von Schubert.‘ Selbstreflexion hat nach Kant also eine propositionale Struktur, in der bestimmte vorstellungsbezogene Prädikate auf das logische Individuum angewendet werden, das sprachlich durch das Personalpronomen der ersten Person ausgedrückt wird. Im Lichte dieser Probleme hat Matthias Vogel explizit die Frage gestellt, ob Musik ein Medium der Selbstreflexion sein kann, und sie mit Entschiedenheit verneint. Er nennt drei notwendige Bedingungen für Selbstreflexion: Sie muss eine „Komponente der Bezugnahme, eine Komponente der Prädikation und ein Bewusstsein von der Bezugnahme und dem Gehalt der Prädikation“ enthalten (Vogel , ). Keine dieser Bedingungen aber könne die Musik erfüllen, denn „Musik stellt weder Mittel der Bezugnahme noch der Prädikation bereit und auch keine, mit denen ein Subjekt der Reflexion sich die Referenz und Bedeutung von Äußerungen oder Äußerungsbestandteilen vergegenwärtigen könnte.“ (Vogel , ) Diese Argumentation ist allerdings, wie ich im folgenden ausführlich zeigen möchte, zu restriktiv, weil sie zwei entscheidende Modifikationen außer Acht läßt: Es gibt nicht-propositionale Analoga für Selbstbezug und Selbstthematisierung, und zwar auch in Musik, und zudem ist jede Zuschreibung von Selbstreflexion anderen gegenüber stets von der Interpretation von deren Verhalten, insbesondere von deren Verwendung von sprachlichen oder anderen Zeichen in gegebenen Kontexten abhängig. Wenn jemand zu mir im Gespräch über Schubert sagt: ‚Mir
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kommt gerade der Gedanke in den Sinn, dass Schuberts vorletzte Klaviersonate vier Sätze hat‘, dann ist diese Äußerung im gegebenen Kontext ein hinreichender Grund für mich, meinem Gesprächspartner Selbstreflexion zuzuschreiben. Er nimmt mit der flektierten Form des Personalpronomens der ersten Person auf sich selbst Bezug, und er thematisiert sich zugleich als Denker eines bestimmten Gedankens. In genau dieser Weise drücken wir normalerweise Selbstreflexion aus. Aber die Zuschreibung von Selbstbezug und Selbstthematisierung anderen gegenüber ist nicht zwingend an das Medium der Sprache gebunden. Dafür sind Bilder gute Beispiele. Stellen wir uns ein Bild (ohne Kunstanspruch) vor, das sich selbst als Kopie enthält: In diesem Bild befindet sich ein Bild, in dem dieses Bild zu sehen ist. Das Bild steht in einer Relation zu sich selbst, die mit den Mitteln der bildlichen Darstellung realisiert ist. Bilder mit Kunstanspruch inszenieren einen derartigen Selbstbezug auf eher subtile und indirekte Weise. Velázquez’ Gemälde Las Meninas, einer der Klassiker der selbstreflexiven Malerei, stellt im linken Vordergrund die Rückseite eines großformatigen Gemäldes dar und daneben einen Maler, der an diesem Gemälde arbeitet. Er schaut dem Betrachter von Velázquez’ Gemälde direkt in die Augen; nach der Logik der Darstellung malt er also gerade das, was sich vor dem Gemälde Las Meninas an der Position des Betrachters befindet. Das bedeutet, dass wenigstens eine der in Velázquez’ Gemälde dargestellten Sachen (das Gemälde, dessen Rückseite zu sehen ist) in Relation zu Velázquez’ Gemälde steht und damit dieses indirekt in einer Relation zu sich selbst, die mit den Mitteln der bildlichen Darstellung realisiert ist. Darüber hinaus thematisiert sich das Gemälde zugleich, und zwar wiederum mit bildnerischen Mitteln. Es zeigt etwa, um nur ein einfaches Beispiel zu nennen, den höfischen Kontext seiner eigenen Entstehung und Verfassung und thematisiert sich damit selbst als feudale Repräsentation. Im Medium der bildnerischen Darstellung gibt es nicht-propositionale Analoga sowohl für Selbstbezug als auch für Selbstthematisierung. Musikalische Werke sind allerdings weder sprachliche noch darstellende Zeichensysteme. Rein instrumentale Werke können nicht zu sich ‚ich‘ sagen, und selbst in musikalischen Werken, in denen der Ausdruck ‚ich‘ vorkommt (etwa in Schuberts Winterreise), bezieht er sich nicht auf dieses musikalische Werk. Auch die Integration von Kopien ihrer selbst scheidet für musikalische Werke (im Unterschied zu bildlichen Darstellungen) als Mechanismus des Selbstbezugs aus. Denn eine Passage in einem musikalischen Werk, die notengetreu dem bisherigen musikalischen Verlauf entspricht, ist eine Wiederholung dieses Verlaufs, aber nicht dessen Darstellung als Kopie. Die Wiederholung der Exposition in einem Sonatensatz verhält sich zu deren ersten Durchgang nicht wie eine Kopie zum Original, sondern ist einfach eine Wiederholung. Auch die Wiederaufnahme der Themen in der Reprise ist eine teils wiederholende, teils variierende Fortführung des (erststufigen) musikalischen Verlaufs und nicht (höherstufige) Musik über Musik.
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Dennoch gelingt es der Musik in Schuberts vorletzter Klaviersonate, sowohl Selbstbezug als auch Selbstthematisierung zu realisieren. Die Sonate nimmt auf sich selbst Bezug, indem sie wiederholt aufhört und wieder anfängt. Die SchubertPausen, die durch den bisherigen musikalischen Verlauf nicht rhetorisch oder funktional motiviert sind, werden als mögliches Ende des Werks ins Spiel gebracht. Nicht-musikalische Pausen haben in der Musik eine Funktion wie die Rahmen bei bildlichen Darstellungen. Der Beginn eines musikalischen Werks unterbricht eine nicht-musikalische Stille, die nach seinem letzten Ton wieder eintritt. Schubert inszeniert die kritischen Pausen als Möglichkeit einer derartigen rahmenden Stille, die das Ende der Sonate markierte. In jeder der fünf Pausen in den Takten , , , oder (Beispiel ) könnte die Sonate abbrechen und zu Ende sein. Im Unterschied zur Tripelfuge aus der Kunst der Fuge, die aus äußeren Gründen abbricht, bedeutete ein unvermittelter Abbruch der Schubert-Sonate freilich ein Scheitern des musikalischen Werkes, denn er wäre durch den musikalischen Verlauf nicht innerlich motiviert. Aber Schubert läßt die Musik nach jeder der fünf Pausen wieder einsetzen und nimmt so die Rahmung, die Gefahr, dass in ihnen die Musik zuende ist, wieder zurück. Damit integriert Schubert das Ende der Sonate selbst in die Sonate als deren drohende Gefahr. So gelingt es der Sonate, mit einem musikalischen Mittel auf sich selbst Bezug zu nehmen. Dieses Mittel ist einfach und radikal: Die Musik hört unvermittelt auf, markiert damit ihr eigenes Ende, und nimmt es wieder zurück. Der spezifische Kontext der Pausensequenz im Schlusssatz von Schuberts vorletzter Klaviersonate erlaubt es allerdings, diese Abfolge einbrechender musikalischer Stille nicht nur als Selbstbezug, sondern auch als Selbstthematisierung zu hören. Das liegt daran, dass die Möglichkeit eines unmotiviertes Abbruchs der Musik nicht nur einmal, sondern fünf Mal hintereinander ins Spiel gebracht wird. Auch wird diese Möglichkeit nicht wie bei Haydn in einen musikalischen Scherz aufgelöst, sondern ernsthaft ins Spiel gebracht. Auf dem Spiel steht damit die Alternative von Scheitern des Werkes oder folgerichtiger Abrundung zu einem integralen Werk. Damit thematisiert sich die Sonate als ein musikalisches Werk, deren folgerichtiger Abschluss infrage steht. Und mehr noch: Der Witz der Schubert-Pause ist, dass sie die gesamte bislang aufgestellte musikalische Ordnung zerstört und zum Abbruch bringt. Da es sich aber nicht um einen äußerlichen Abbruch handelt, muss die Schubert-Pause dennoch eine spezifische musikalische Funktion haben. Diese Funktion kann sie aber nicht innerhalb der bisherigen, sondern nur im Rahmen einer höherstufigen Ordnung haben, in der die Zerstörung der ersten Ordnung selbst ein integrales Moment ist. Es zerstört seine musikalische Ordnung, setzt sie damit ex post als die bis dahin gültige musikalische Ordnung, und gibt sich damit zugleich eine neue Ordnung. Das Werk stellt in der Pause seine gesamte (bisherige) Selbstidentität in Frage und erlangt umgekehrt eine neue, komplexere, höherstufige Identität.
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Allerdings realisiert sich die Selbstthematisierung der Sonate auf besondere Weise. Menschliche Subjekte thematisieren sich selbst, indem sie in einem selbstbezüglichen Gedanken denken, dass sie einen bestimmten Gedanken denken. Das können sie auch in einem entsprechenden selbstbezüglichen Satz ausdrücken und sagen. Beides ist der Musik unmöglich: Sie enthält keine Gedanken, in denen Prädikate auf Individuen angewendet werden, und sie kann auch nichts über sich selbst aussagen, weil sie nicht sprachlich verfasst ist. Bilder können auf sich selbst Bezug nehmen und sich dabei zugleich thematisieren, indem sie zum Beispiel den Kontext ihrer Entstehung und Verfassung mit bildnerischen Mitteln repräsentieren. Auch das ist der Musik unmöglich, denn sie kann überhaupt nichts repräsentieren, auch nicht sich selbst. Die ‚als‘-Hinsicht, in der sich Schuberts Sonate thematisiert, die Hinsicht also, nach der ihr folgerichtiger Abschluss zu einem integralen Werk infrage steht, sagt sie weder mit sprachlichen noch mit musikalischen Mitteln aus, und sie stellt sie auch nicht mit musikalischen Mitteln dar. Auf welche Weise aber thematisiert sich die Sonate dann in dieser Hinsicht? Indem sie durch ihren musikalischen Verlauf, durch die Sequenz von unvermittelten Pausen und Lehrstellen, in uns, den Interpreten und Rezipienten, den Gedanken provoziert, dass in diesen Pausen der folgerichtige Abschluss zu einem integralen Werk infrage steht. Sie thematisiert sich selbst in unserem Zu-EndeDenken der in ihr angelegten Provokation. Schuberts Musik vollendet ihre eigene Selbstreflexion in der Reflexion der Interpreten und Rezipienten über diese Musik. Sie denken und sprechen aus, was die Musik selbst weder denken noch aussagen noch darstellen kann, aber sie tun dies, weil sie der Aufforderung folgen, die in der Sequenz der Schubert-Pausen musikalisch angelegt ist. Diese Deutung schreibt musikalischen Kunstwerken ein bestimmtes Potential zu: Sie können eine Selbstflexion enthalten, die sich in der Reflexion der Interpreten vollendet. Diese Auffassung ist in der frühromantischen Theorie des Kunstwerks als Medium der Reflexion auf den Begriff gebracht worden. Weil dieser Begriff des Reflexionsmediums eine Interaktion zwischen Werk und Interpreten enthält, kann Schuberts vorletzte Klaviersonate ein Medium der Reflexion in diesem Sinne sein. Diese Auffassung von musikalischen Werken ist weder Animismus noch Mystizismus. Denn Kunstwerke sind von Subjekten für Subjekte, also im intersubjektiven Verkehr, produzierte Werke. Die Selbstthematisierung der Musik in Schuberts Pausensequenz funktioniert in einem engen und spezifischen Kontext der Verwendung einer ungewöhnlichen musikalischen Zeichenfolge vor dem Hintergrund der etablierten Konventionen der Interpretation musikalischer Zei Vgl. die Rekonstruktion von Walter Benjamin: „Kritik ist also gleichsam ein Experiment am Kunstwerk, durch welches dessen Reflexion wachgerufen, durch das es zum Bewußtsein und zur Erkenntnis seiner selbst gebracht wird. […] Das Subjekt der Reflexion ist im Grunde das Kunstgebilde selbst, und das Experiment besteht […] in der Entfaltung der Reflexion, d. h. für den Romantiker: des Geistes, in einem Gebilde.“ (Benjamin [] , f.)
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chen auf einem bestimmten historischen Stand. (In einer Kultur zum Beispiel, die von der Konvention bestimmt wird, dass musikalische Werke grundsätzlich nur bruchstückhaft, abrupt irgendwo einsetzend und abrupt irgendwo absetzend, aufgeführt werden, würde die Aufforderung nicht funktionieren.) Die Realisierung einer Selbstthematisierung in der Musik ist, wenn überhaupt, immer vom jeweiligen spezifischen Kontext der Verwendung einer einzigartigen musikalischen Zeichenfolge abhängig, denn nur in einem solchen Kontext können es die musikalischen Werke schaffen, in ihren Rezipienten ihre Selbstthematisierung zu Ende denken zu lassen. Selbstthematisierung in der Musik ist immer einzigartig. Ob sie vorliegt, ist daher immer nur im Einzelfall zu entscheiden. Das bedeutet nicht, dass sie dies lediglich im Licht der Interpretation eines Rezipienten tut und nicht etwa auch an sich. Die Unterscheidung eines ‚für uns‘und eines ‚an sich‘-Aspektes ist im Falle von Kunstwerken leer und gegenstandslos, denn es gibt bei Kunstwerken kein An sich. Alle ästhetischen Eigenschaften weist ein Kunstwerk stets nur im Lichte der Interpretation eines Rezipienten in ästhetischer Einstellung auf. So ist auch ein musikalisches Kunstwerk nicht etwa ein vor allen Aufführungen und Interpretationen ein für alle Male in seinen ästhetischen Eigenschaften festgelegtes Gebilde. Die Existenzweise von Schuberts Klaviersonate ist, wie das Leben aller musikalischen Werke, aufführungs- und interpretationsabhängig und unabschließbar prozessual, denn sie lebt und wächst in den Aufführungen, in denen sie realisiert, und in den Interpretationen, in denen sie gedeutet wird (vgl. Wellmer , – ). Auch ein musikalisches Subjekt ist sie immer nur im Lichte einer Interpretation. Und wie plausibel auch immer diese Interpretation begründet sein mag oder nicht, sie ist als Interpretation selbstverständlich weder verpflichtend noch alternativlos.
IV. Noch einmal Schubert Das möchte ich abschließend an einem weiteren Beispiel von Schubert noch einmal veranschaulichen, und zwar an der Exposition des Kopfsatzes der letzten Klaviersonate (B-Dur, D ). In der vorletzten Klaviersonate taucht die ent Wolf (, – ) schlägt allerdings zwei allgemeine Mechanismen der Selbstreflexion in der Musik vor: auffällige intentionale Abweichungen von etablierten Standardpraktiken und intermusikalische Bezugnahmen (etwa Zitate). Nach Wolf sind dies (wegen des nicht-verbalen und nichtdarstellenden Charakters des Zeichensystems Musik) die beiden einzigen möglichen Mechanismen der Selbstreflexion in der Musik. Im Lichte dieser Unterscheidung ist die Pausensequenz bei Schubert klarerweise Selbstreflexion durch Abweichung von der etablierten Standardpraxis. Eine knappe, aber informative Analyse des Satzes findet sich bei Godel (, – , – , – u. – ). In der Auffassung der tragenden Formteile der Exposition weiche ich von Godel allerdings ab.
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scheidende Sequenz der Schubert-Pausen am Ende auf und stellt die Ordnung retrospektiv infrage. In der letzten Klaviersonate taucht die entscheidende Schubert-Pause bereits ganz am Anfang auf, am Ende des ersten Durchgangs der Exposition, und stellt die musikalische Ordnung also bereits vorblickend infrage. Das Problem wird also radikalisiert. Die Exposition beginnt mit der Einführung des ersten, gesanglichen Themas, das am Ende von einem Triller auf dem tiefen Ges der Kontraoktave heimgesucht wird, einem hässlichen Fleck, der am Fortgang der Musik klebt und den der Satz nicht mehr los wird. Der Triller hat auch unmittelbar architektonische Konsequenzen: Bereits nach dem zweiten Ansatz des ersten Themas moduliert die Musik nach Ges-Dur, der zu dem Triller gehörenden Tonart, und der zweite Teil der Exposition, zu dem in den Takten – übergeleitet wird, steht bis Takt in fisMoll, der enharmonisch verwechselten Moll-Variante von Ges-Dur. In Takt erklingt zum ersten Mal das zweite Thema, dessen auftaktiger Beginn mit der fallenden Terz an die „Nebensonnen“ aus der Winterreise erinnert („Nun sind hinab die besten zwei“). Am Ende der Entwicklung des zweiten Themas moduliert der Satz nach F-Dur in den dritten Teil der Exposition. Ab Takt bildet eine durchgehende Triolenbewegung mit akkordischer Unterstützung eine Art drittes Thema. Die Sache kommt allerdings recht bald ins Stocken. Die in Takt noch frei fließende Triolenbewegung gerät drei Takte später in Repetitionsfiguren, die die gesamte Bewegung zunehmend mechanischer werden lassen. Ab Takt wird der musikalische Verlauf durch eingeschobene Pausen immer mehr gehemmt. Alle diese Pausen sind musikalische Kunst- und Generalpausen, also keine unmotivierten Schubert-Pausen wie die fünf Pausen am Ende der vorletzten Sonate. In ihrer Häufung führen diese Pausen allerdings hier dazu, dass der musikalische Fluss ins Stocken gerät und zum Abbrechen tendiert. In Takt scheint sich die Musik noch einmal aufzuschwingen und die Dissoziation hinter sich zu lassen (Beispiel ). Aber der Eindruck täuscht. Die Bewegung wird im dritten Takt erneut abgebrochen, und nun verstärkt sich der Prozess der musikalischen Dissoziation. Der musikalische Fluss ist verloren gegangen, die Abbrüche und Pausen mehren sich, auf die Infragestellung des Fortgangs antwortet die Musik zweimal sogar einsam einstimmig (in Takt und in den Takten f.). In der ersten Klammer bricht die Musik vollständig aus. Dreimal hintereinander nimmt die Musik einen vergeblichen Anlauf: Eine nervöse Figur aus Zweitongruppen läuft sich jeweils stockend in einem ausgehaltenen Akkord leer, beim Vgl. zur harmonischen Analyse des Satzes auch von Massow , – . Von Massow sieht in diesem Satz das Prinzip am Werk, „mehrere Grundtonarten gegeneinander und gegen ihr herkömmliches formales Gewicht auszuspielen“, und deutet dies als „das hoffnungslose Verwirrspiel einer entteleologisierten Existenz“ (Massow , ). Schuberts Musik wird hier wiederum als Ausdruck eines imaginären musikalischen Subjekts und seiner Zustände gedeutet. Godel (, ) spricht hier treffend von einem „Auflösungsfeld“.
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Beispiel : Schubert, Sonate B-Dur D , . Satz: Molto moderato, Takte – . © BärenreiterVerlag
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dritten Mal fortissimo und mit größtmöglicher Vehemenz. Es folgt, ebenfalls fortissimo, der Triller auf dem tiefen Ges der Kontraoktave. Er hat in dieser Extremlage des Klaviers, aus rein materialen Gründen, und zumal in dieser Lautstärke und Vehemenz, einen martialischen Effekt. Ihm eignet unabweisbar das Geräuschhafte von Lachenmanns musique concrète instrumental, was aber freilich in diesem Kontext den Übergang von Musik in Nicht-Musik zu indizieren scheint: den Übergang erst in Lärm, dann in völlige Stille. Wir sehen jetzt rückblickend, dass es dieser Triller ist, der musikalisch für den radikalen Auflösungsprozess verantwortlich war. Auch das musikalische Material der ersten Klammer, das auf den ersten Blick gar nichts mit dem bisherigen Verlauf zu tun hat, ergibt sich aus dem Triller: Die Zweitongruppen kreisen manisch um den Ton Ges, den Ton des Trillers. Der Triller war aber auch bereits von Anfang an, seit der Einführung des ersten Themas, ein ständiger Begleiter des musikalischen Verlaufs gewesen. Die scheinbar ruhige, gleichmäßige, liedhafte Entwicklung hatte also von vorneherein den Keim des Untergangs in sich, aber dieser Untergang kommt erst hier, am Ende der Exposition, der Realisierung nahe. Was nun folgt, die Generalpause am Ende der ersten Klammer, ist deshalb wieder eine echte Schubert-Pause. Die Musik steht in der größten Gefahr, die einem musikalischen Werk überhaupt widerfahren kann: Es könnte nie mehr weitergehen, für immer stillstehen oder zuende sein, obwohl es doch gerade erst angefangen hat. Es ist dann aber nicht zuende, es kommt vielmehr zur Wiederholung der Exposition. Beim Wiedereinsatz des gesanglichen ersten Themas wird der ganze ungeheuerliche Selbstauflösungsprozess retrospektiv noch einmal bewusst. Beim zweiten Durchgang fehlt zwar am Schluss das Material der ersten Klammer, aber das Thema hat seine gesangliche Unschuld verloren, und fortan steht die Infragestellung unwiderruflich hinter der Musik. Ich hatte betont, dass Schuberts Sonate ein musikalisches Subjekt immer nur im Lichte einer Interpretation ist, und dass diese Interpretation (als Interpretation) weder verpflichtend noch alternativlos ist. So natürlich auch hier. Es ist keineswegs unmöglich, den soeben beschriebenen Dissoziationsprozess in der Aufführung und in der Deutung zu glätten und zu harmonisieren, auch wenn jeder solcher Versuch durch das Geschehen in Takt , den lärmenden Triller auf dem tiefen Ges, auf eine harte Probe gestellt wird. Tatsächlich ist auch die Ungeheuerlichkeit dieser Passage auf den meisten mir bekannten Einspielungen dieser Sonate gar nicht nachzuvollziehen, weil die Interpreten in der Regel die Glättung vorziehen. Alfred Brendel argumentiert zum Beispiel vehement dafür, in Schuberts Sonatensätzen die Wiederholung der Exposition grundsätzlich wegzulassen: „Auch dort, wo der Komponist einige Takte der Rückleitung, die zum Beginn des Satzes führen, eigens komponiert hat, ist damit ein Wiederholungszwang nicht immer Eine Ausnahme ist die Einspielung von Andreas Staier (Schubert, The Late Piano Sonatas, Teldec Classics ) auf einem zeittypischen, in Wien hergestellten Hammerflügel von .
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gegeben. In Schuberts B-Dur-Sonate […] verzichte ich auf diese Überleitung mit besonderem Vergnügen: So ohne jede logische oder atmosphärische Beziehung steht dieser zuckende Ausbruch da, als hätte er sich aus einem fremden Stück in die großartige Harmonie des Satzes verirrt.“ (Brendel , f.) Und an anderer Stelle: „Die herbste Enttäuschung bedeutet jedoch das Auftreten des Trillers im fortissimo; Schubert stellt hier ein Ereignis, das sonst stets in geheimnisvolle Entfernung gerückt bleibt, lärmend in den Vordergrund.“ (Brendel , , vgl. auch ) Das ist eine erstaunliche Reaktion. Freilich ist die Folgerung, die Brendel hier zieht, auch unabhängig von der Interpretation der Dissoziationspassage skandalös, denn der Verzicht auf die Wiederholung der Exposition und damit der Wiedergabe der ersten Klammer führte zwangsläufig zur Zerstörung der Architektur des musikalischen Werkes. Aber immerhin indiziert Brendels Abscheu vor dem Triller indirekt den selbstzerstörerischen Charakter dieser Passage und hat darin ihren Wahrheitsgehalt. Im Dissoziationsprozess am Ende des ersten Durchgangs der Exposition bezieht sich Schuberts Musik auf sich selbst und thematisiert sich als eine Musik, deren folgerichtiger Abschluss zu einem integralen Werk bereits ganz am Anfang infrage steht. Sie konstituiert sich damit als musikalisches Subjekt in dem hier vorgestellten und verteidigten Sinne.
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ZU DEN AUTORINNEN UND AUTOREN
Charles Larmore ist W. Duncan MacMillan Family Professor of the Humanities und Professor of Philosophy an der Brown University in Providence, Rhode Island. Brady Bowman ist Associate Professor of Philosophy an der Pennsylvania State University in State College, Pennsylvania. Peter Rohs ist Professor em. für Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Daniel Elon ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum. Luca Illetterati ist ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Padua. Johannes-Georg Schülein ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum. Luca Corti ist Post-Doctoral Fellow an der Universität Padua, der University of Chicago und der Universität Paris I (Panthéon-Sorbonne). Pirmin Stekeler-Weithofer ist Seniorprofessor für Theoretische Philosophie an der Universität Leipzig. Francesca Menegoni ist ordentliche Professorin for Philosophie an der Universität Padua. Jean-François Kervégan ist Professor für Philosophie an der Universität Paris (Panthéon-Sorbonne). Sally Sedgwick ist Professorin für Philosophie an der Boston University in Boston, Massachusetts.
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ZU
DEN
AUTORINNEN
UND
AUTOREN
Andreas Arndt ist Professor für Philosophie (i.R.) an der Humboldt-Universität zu Berlin. Majk Feldmeier ist Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum. Ágnes Heller war emeritierte Professorin für Philosophie an der New School for Social Research in New York. Oliver Koch ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Jürgen Stolzenberg ist Professor em. für Geschichte der Philosophie an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg. Guido Kreis ist Associate Professor für Philosophie an der Universität Aarhus.